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German Pages 392 Year 2020
Sieglinde Borvitz (Hg.) Prekäres Leben
Edition Kulturwissenschaft | Band 204
Sieglinde Borvitz (Akademische Rätin) lehrt Romanistische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Romanische Literaturen des 19. bis 21. Jahrhunderts, visuelle Kultur und Medienästhetik, Biopolitik und Gouvernementalitätsstudien.
Sieglinde Borvitz (Hg.)
Prekäres Leben Das Politische und die Gemeinschaft in Zeiten der Krise
Für die Förderung des Projekts danken wir dem Deutschen Akademischen Austauschdienst und der Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
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Inhalt
Grußwort Elio Menzione......................................................................................................... 9
Einleitung − Prekäres Leben Das Politische und die Gemeinschaft in Zeiten der Krise Sieglinde Borvitz .................................................................................................... 11
Precarious Lives: a Reflection on the Ontology of the Present José Luis Villacañas Berlanga ..................................................................................37
Bioökonomische Gouvernementalität und neue Formen (politischer?) Subjektivierung Laura Bazzicalupo .................................................................................................59
Die Unsicherheit regieren: Neoliberalismus und prekäres Leben Rodrigo Castro Orellana .......................................................................................... 71
Resonanz, Autonomie und prekäre Zeit Ein phänomenologischer Ansatz Alice Pugliese ....................................................................................................... 87
Krise als Regierungskunst und Prekarität als Lebensform Dario Gentili ........................................................................................................ 101
The Space of Mediation between Critical States and the Ghost of Capital Valerio Rocco Lozano ............................................................................................ 119
Das prekäre Subjekt: Mehr als ein Schauplatz neoliberaler Macht? Zur Bedeutung von Psychopolitik und Nekropolitik für prekäres Leben im Kontext der europäischen Finanzmarktkrise Alexandra Rau ..................................................................................................... 131
The Other Side of the Law: a Feminist Approach to Power and Crisis Economy Andrea Righi........................................................................................................ 147
Contemporary Resistance in the South: Towards a New Economy of Law María Luciana Cadahia ......................................................................................... 163
Zeit, Raum, Kraft: Prekarität und Subjektivierung Marco Assennato .................................................................................................. 177
Zur Doppellogik der Gegenwart: Spatial turn und Zeichen der Zeit Giacomo Marramao ...............................................................................................195
Gouvernementale Techniken und Bewegungen der Revolte Salvo Vaccaro ...................................................................................................... 219
Die Universität als Knowledge Factory Zwischen New Public Management, Forschung als Zeitarbeit und Produktion prekären Humankapitals Pietro Maltese...................................................................................................... 241
Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling Neue Räume der Kreativität und des Widerstands zwischen Zeugenschaft, Performance und Ausnahmezustand im Tunesien des demokratischen Übergangs Anna Serlenga ..................................................................................................... 261
Die Relationalität des Prekären Zu einer Ökologie der Rahmung Stephan Trinkaus ................................................................................................ 285
The Production of Vulnerability: Heritage of Sovereignty and Decolonizing Solidarity Daniel Blanga Gubbay ........................................................................................... 303
Geographies of the Mediterranean Plural Subjects in the Diaspora Giulia de Spuches ................................................................................................. 311
Prekäre Räume Körper, Verletzbarkeit, Widerstände Chiara Giubilaro ...................................................................................................321
Persona oeconomica in der Medienkommunikation Wider die Anästhetisierung für neue Räume der Medialität Vittoria Borsò ..................................................................................................... 335
Update On Contemporary (Neoliberal) Governmediality Samuel Sieber..................................................................................................... 355
Das Bild der Abjektion Antonio Rivera García ........................................................................................... 369
Autorinnen und Autoren ............................................................................... 385
Grußwort Elio Menzione
Wir leben in einer Zeit, die uns ein hohes Maß an Flexibilität und Reflexion in unserem Lebensalltag abverlangt. Wir sind aufgefordert, Position zu beziehen in einem Umfeld, das sich sehr schnell wandelt. Europa und die Welt befinden sich nach der Krise im Jahr 2008 trotz zwischenzeitlicher Entspannung in einem steten Zustand der Krisenbewältigung. Diese Entwicklungen, welche von den Medien aufmerksam begleitet und zum Teil auch instrumentalisiert werden, beherrschen heute die Politik. Sie muss neben der ökonomischen Krise auch ein politisches Ungleichgewicht bewältigen, dessen Tragweite sich derzeit noch nicht abschätzen lässt. Ich erinnere dabei nur an die Ukraine, an den nicht enden wollenden Nahost- und Syrien-Konflikt und die akute Frage der Flüchtlingspolitik, der sich Europa angesichts der zahlreichen Krisenherde in der Welt stellen muss. Gegenwärtige Diskurse über Armut, Beschäftigung und prekäre Lebensumstände gerade der jungen Generation werden nicht selten mit dem Argument mangelnder Alternativen und der Übernahme von Verantwortung durch jeden Einzelnen neutralisiert. Derzeit versucht jedes Land diese krisenbedingten Entwicklungen auf nationaler Ebene abzuwenden. Hier ist jedoch gemeinsames Handeln gefordert, das innerhalb eines geordneten legislativen und institutionellen Rahmens – und hier meine ich unser gemeinsames europäisches Haus – Reformen und die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte weiter voranbringt. Die Ergebnisse der Wahl zum Europaparlament im Jahr 2014 – der ersten seit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon – haben gezeigt, dass die Europäer eine Vereinfachung der Gesetzgebung und eine der aktuellen historischen und politischen Situation angepasste Neuverteilung der Kompetenzen verbunden mit einem deutlichen Bürokratieabbau fordern. Um dem demokratischen Auftrag einer Wahl entsprechen zu können, brauchen die europäischen Bürger eine Annäherung an die europäischen Institutionen und ein klares Verständnis ihrer Organisation und Funktionsweise. Man muss dieser Wahl zugute halten, dass sie Europa seinen Bürgern wieder näher gebracht hat. Mit der Wahl sind die Prioritäten der Bürger wieder ins Zentrum der politischen Gespräche in Brüssel wie auch in den 28
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Hauptstädten gerückt, sodass insbesondere Wachstums-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik nicht mehr als Gegensätze betrachtet werden. Es muss ein Europa des Vertrauens geben, das Alternativen für alle Generationen bieten kann – eine Priorität der Italienischen EU-Ratspräsidentschaft, die im zweiten Halbjahr 2014 begonnen hat. Italien ist sich seiner Rolle und der Verantwortung angesichts der Bedeutung des europäischen Projekts bewusst und hat es sich daher in der Amtszeit der Ratspräsidentschaft zur Aufgabe gemacht, Bildungssysteme und Arbeitsmarktregelungen zu verbessern und der jungen Generation Zukunftsperspektiven zu garantieren. Konkret bedeutet das, Programme gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit, Maßnahmen zur Förderung von Bildung und Forschung wie auch zur Förderung innovativer Ideen junger Unternehmer sowie Programme für den Bürokratieabbau zu verabschieden. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang das Fundament der Kulturpolitik. Sie führt uns Gemeinsamkeiten vor Augen und ermöglicht transkulturelle Kommunikation. In diesem Sinne ist sie ein wichtiges Element der Friedens- und Außenpolitik Europas. Die Grundrechte jedes Einzelnen zu wahren, bedeutet außerdem, auch die Flüchtlings- und Asylpolitik fest im Blick zu behalten, Europas Rolle in dieser Hinsicht auf internationaler Ebene noch klarer zu definieren und es als wichtigen verlässlichen Partner zu etablieren. Die europäischen Mitgliedstaaten können diese Herausforderungen meistern, wenn sie geeint vorgehen. Achtung und Dialog sind daher wichtige Schlüsselbegriffe, die auch von den Medien kommuniziert werden müssen. An die Stelle gegenseitiger Schuldzuweisung müssen Verständnis und Offenheit treten. Italien versteht sich hierbei als Vermittler, um kontroverse Interessen im Sinne der Einheit zusammenzuführen. Ziel ist die Erhaltung einer stabilen Struktur der Institutionen, die allen Bürgergenerationen Europas Vertrauen und Sicherheit geben kann. Ich danke den Veranstaltern der Tagung Prekäres Leben: Frau Prof. Dr. Vittoria Borsò, Herrn Prof. Dr. José Luis Villacañas Berlanga und Frau Jun.-Prof. Dr. Sieglinde Borvitz sowie der Gesellschaft der Freunde und Förderer der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf e. V., ohne deren Unterstützung uns dieser Band heute nicht vorliegen würde. August 2014 Elio Menzione, Botschafter der Italienischen Republik
Einleitung − Prekäres Leben Das Politische und die Gemeinschaft in Zeiten der Krise Sieglinde Borvitz
De precaria conditio: Dispositive gouvernementaler Subjektivierung und ihre Auswirkungen Folgt man der Etymologie, so bezeichnet der Begriff ›prekär‹ jene unsichere und instabile Kondition, die auf inständiges Bitten hin und allein in Abhängigkeit vom Willen Anderer gewährt wird. In jedem Falle schwingt in ihm bereits schon in der Antike eine existentielle Notion mit. Das Adjektiv ›prekär‹ im Sinne von »schwierig, heikel«1 (Kluge 2012), welches über das französische précaire im 18. Jahrhundert Eingang in die deutsche Sprache gefunden hat (vgl. Kluge 2012), stammt vom lateinischen precarius (»eigentlich ›zum Bitten gehörig‹«, Kluge 2012; »durch Bitten = Betteln = Gefällig erlangt«, Schwenk 1827: 617), welches seinerseits vom Nomen prex (Bitte, Gebet, Wunsch, Verwünschung) beziehungsweise dem Verb precari, precor (beten, bitten) herrührt.2 Das römische Recht etwa kennt den Ausdruck precarium für die »widerrufbare, auf Bitten hin erfolgende Einräumung eines Rechts, das keinen Rechtsanspruch begründet« (Duden 2019). Das precarium sichert in rechtlicher Hinsicht den Besitzstand und Zugriff auf das zum vorübergehenden Nießbrauch 1
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»Die Bedeutung ›heikel, schwierig‹ als zusätzliche Charakterisierung und Verallgemeinerung von Situationen, in denen etwas nur auf Bitten hin gewährt wurde« (Kluge 2012). Kluge nennt zudem die Verwandtschaft zum germanischen ›Frage‹, welches sich ausgehend von der indogermanischen Wurzel p(e)reḱ (fragen) über das lateinische precor hin zum altfranzösischen fregia und dem althochdeutschen fraga hin entwickelt (vgl. Kluge 2012). In diesem Sinne sind die Adjektive wie ›fraglich‹ und ›fragwürdig‹ (vgl. Kluge 2012) für unsere Betrachtungen von Interesse. Schwenk vermutet einen, wenn auch nicht gesicherten, Nexus zwischen pretium (Wert, Preis, Lohn) und prex (Bitte, Gebet, Wunsch, Verwünschung) über das griechische φρά ζω (phrasso), »so daß Sprechen der Grundbegriff ist; doch ist dies nur eine sehr unsichere Vermutung« (Schwenk 1827: 617). Schwenkt notiert: »pretium scheint mit prex, ecis verwandt und das Fordern der Grundbegriff von Bitte und Preis« (Schwenk 1827: 617). Walde (1954), Vaniček (1977), André/Ernout/Meillet (1979) und der TLL bestätigen Schwenks Vermutung jedoch nicht.
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überlassene Gut und betont die hierarchische Stellung der Vertragspartner, welche grundsätzlich auf einer Schuldlogik – und damit einer Schuldenökonomie – basiert: Das römische precarium ist im klassischen Recht und vermutlich seit jeher ein Besitzvertrag, mit dem sich der Prekarist dem Geber unterordnet, indem er sich durch sein bittweises Ersuchen auf eine Stufe mit Räubern und Dieben stellt. […] Seine Einordnung als freigiebiges Verhältnis ist lediglich formal und kennzeichnet bloß die Beschränkung seiner Wirkung auf den Schutz des Gebers. […] Das precarium ist kein leih- oder leihähnliches Verhältnis, das geeignet wäre, der Sachoder Nutzungsüberlassung einen schuldrechtlichen Rahmen zu geben. Stattdessen bildet es lediglich eine Ergänzung zu einem solchen Schuldverhältnis und hat die Funktion, die Rechtsposition des Gebers besitzrechtlich abzusichern. (Harke 2016: 105) Der Bittsteller ‒ in den Worten Harkes »der Prekarist«, aber in unseren ›der Prekäre‹3 ‒ lebt eine sozioökonomische Partizipation von unbestimmter Dauer, über ihm schwebt das Damoklesschwert einer drohenden Verknappung und des unmittelbaren Entzugs. Seine fragliche Kondition – Unsicherheit, Instabilität und nicht zuletzt Abhängigkeit – wirft zugleich aber auch die Frage nach der Würde des Bittenden auf, da ihm in diesem Kontext asymmetrischer Machtverhältnisse die Egalität verwehrt bleibt. In jenem eigentümlichen Zustand einer etwaigen augenblicklichen Suspension von Rechten beziehungsweise Teilhabe und somit einer permanenten Bedrohung seiner Lebensgrundlagen erweist sich der Prekäre als verletzlich und leicht verwundbar. Mehr noch: »[I]ndem er sich durch sein bittweises Ersuchen auf eine Stufe mit Räubern und Dieben stellt« (Harke 2016: 105), indem er sich also auf die gleiche Ebene mit jenen begibt, die auf Kosten anderer die Ordnung der polis gefährden, affirmiert er nicht nur den Nomos – einen Nomos schmittscher Prägung, als dass dieser auf der Landnahme beziehungsweise auf Eigentum gründet und dieses schützt (vgl. Schmitt 1995) –, sondern er spricht sich selbst die Würde und damit seinen Stellenwert als vollwertiges Mitglied der polis – und damit des oikos – ab.4 Seine Selbsterniedrigung im Bitten um Teilhabe situiert sich dabei im Spannungsverhältnis von Stigma und Selbststigmatisierung 3 4
Zur sprachlichen Vereinfachung wird im vorliegenden Text die männliche Sprachform verwendet; sie soll als generalisierend und geschlechtsneutral zu verstehen sein. Für das moderne Individuum, das »Eigentümer-Individuum« (Castel 2011: 335), dessen Herausbildung ab dem 17. und 18. Jahrhundert mit der des Privateigentums korreliert, erklärt Castel: »In der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 hat [das Privateigentum] den Rang eines unveräußerlichen und heiligen Rechts. […] In den Anfängen der Moderne ist also das Eigentum nicht nur ein ›bürgerlicher‹ Wert, kein bloßes Klassenprivileg. Es ist die Bedingung der Möglichkeit von Bürgerschaft. Der negative Beweis ist der Status der völlig Eigentumslosen, vielmehr ihr gänzlich fehlender Status. Sie sind schlicht und einfach keine
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(vgl. Goffman 1975), von Erniedrigung und Selbstherabsetzung, von Beschämung und Scham. Folgt man dieser Logik, so steht der Prekäre per se bereits stets in jemandes Schuld, wirtschaftlich und moralisch.5 Genauer betrachtet nimmt er sich als eine Figur und als Resultat der Verknappung aus, vorausgesetzt man geht davon aus, dass die Ökonomie auf der Verwaltung knapper Güter basiert und ein spezifisches Verhalten anzureizen imstande ist (vgl. Robbins 1969; Hahn 1987; Luhmann 1988).6 Wie anhand des Etymons zu sehen ist, handelt es sich im Falle der Prekarität mitnichten um ein modernes Phänomen; es hat sie zu jeder Zeit gegeben. Dennoch ist sie vor allem in den letzten drei Jahrzehnten erneut in den Fokus der Forschung gerückt und insbesondere seit der globalen Wirtschafts- und Systemkrise von 2007/2008 nicht mehr aus den öffentlichen Debatten wegzudenken. Gerade im westlichen Kulturraum werden die Lebens- und Arbeitswelt verstärkt als fragil und anfällig wahrgenommen; als gängiger Referenzhorizont dieser Auffassung dient die Sicherheit der Wohlstandsgesellschaft, wie sie sich im Zuge des Wirtschaftsbooms herausgebildet hat, dessen Einbruch die Flexibilisierung auf allen Ebenen ab den 1970er Jahren7 markiert. Die aktuelle, vor allem soziologische, Prekaritätsforschung setzt genau bei diesem sozioökonomischen Wendepunkt an.8 Dabei wird Prekarität oft im Sinne eines Knapperwerdens von Arbeit9 in den Industriestaaten verstanden, eingeläutet durch die Stagnation des fordistischen Systems und den Übergang zum postfordistischen Produktions- und Arbeitsregime. Die herkömmliche Diagnose lautet: Erwerbsarmut durch Teilzeitarbeit, Niedriglohnjobs, befristete Beschäftigungen, Zeitarbeit, Gelegenheitsjobs, subventionierte Beschäftigung, die Pauperisierung von Arbeitenden (etwa die working poor, deren Monatseinkommen nicht zur Sicherung der Grundbedürfnisse ausreicht; vgl. Ehrenreich 2003) und steigende Arbeits-
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wirklichen Individuen in dem Sinne, in dem die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte das Individuum heiligt und anerkennt« (Castel 2011: 336). Aus der reichen Fachliteratur zur Schuld-Schulden-Logik sei hier exemplarisch verwiesen auf Lazzarato (2012), Macho (2014), Ponzi/Scheibenberger et al. (2017). Lionel Robbins konstatiert: »Economics […] is concerned with that aspect of behaviour which arises from the scarcity of means to given ends. […] It assumes that human beings have ends in the sense that they have tendencies to conduct which can be defined and understood […] [The] scarcity of means is so wide as to influence in some degree almost all kinds of conduct […]« (Robbins 1969: 24, 25). Zur Vertiefung siehe Gentili (2018b). Zum postfordistischen Paradigma siehe Marazzi (2013) und Sennett (2005) zur Flexibilisierung. Einen Überblick über die verschiedenen Positionen geben zum Beispiel Marchart (2013b) und Motakef (2015). Henses Klassifikation der Dimensionen von Prekarität unterscheidet verschiedene Facetten der »Erwerbsprekarität« und »Prekarität der Arbeit« (Hense 2018: 40). Dörre hingegen identifiziert neun Dimensionen der Des-/Integration durch Arbeit (vgl. Marchart 2013a: 21).
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losigkeit haben zu einer Zunahme von sozialer Ungleichheit und zu einer »Metamorphose[] der sozialen Frage« (Castel 2000) beigetragen, deren »Chiffre« (Hense 2018: 27) die Prekarität ist. Dies erweist sich allerdings nur als eine Facette eines weitaus komplexeren Phänomens. Marchart etwa differenziert drei Prekaritätsbegriffe. So versteht er Prekarität erstens eng gefasst als »sozialtechnisch zu bewältigendes, randständiges Phänomen (›Unterschichtendebatte‹, teilweise ›Exklusionsdebatte‹)«, zweitens in einem »weite[n]« Sinne als »eingrenzbares und an das Lohnverhältnis gekoppeltes Phänomen einer sich ausweitenden ›Zone der Verunsicherung‹« sowie drittens als eine »umfassende[]« »Prekarisierungsgesellschaft«10 mit nur »schwer eingrenzbare[n] Merkmalen« (Marchart 2013a: 24), in welcher die zweite Dimension lediglich symptomatisch auf die gesamtgesellschaftliche Situation verweise (vgl. Marchart 2013a: 25). Entsprechend betrifft Prekarität nicht allein den Bereich der Erwerbsarbeit, sondern erweist sich als ein ubiquitäres, schichtenunabhängiges Phänomen11 mit Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Dieser Auffassung schließen sich die Beiträge dieses Bandes an. Sie diskutieren Prekarität im Lichte der Gouvernementalitätsstudien und begreifen sie in einem Klima der Verknappung als »Teil einer neuartigen Herrschaftsform, die auf der Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt« (Bourdieu 2004: 111). Das subjektive Movens, sich jenem Zustand zu beugen – Bourdieu fasst ihn mit dem Begriff »Flexploitation« (Bourdieu 2004: 111) und erkennt in ihm das »Produkt eines politischen Willens« (Bourdieu 2004: 110) ‒, ist insbesondere die Angst vor Instabilität und einer damit einhergehenden Infragestellung der auf Arbeit basierenden Werteordnung der »Arbeitsgesellschaft«12 (Schäfer 2013: 359). Vor dem Hintergrund der Unsicherheit avanciert Angst zum Stimulus (vgl. Schäfer 2013: 363) und zur Kraft, die das animal laborans13 antreibt. In diesem Zusammenhang erweist sich Prekarität als Prinzip der neoliberalen Gouvernementalität, wie es Michel Foucault in seinen Vorlesungen am Collège de France darlegt (vgl. Foucault 2004a; 2004b); nämlich als sich reproduzierende, informelle Formen des Regierens (vgl. Bröckling et al. 2000: 29), die »das ›strategische Feld beweglicher, veränderbarer und reversibler Machtverhältnisse‹ [bilden], 10 11
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Siehe hierzu etwa auch Marchart (2013b), Contarini/Marsi (2015), Contarini/Jansen/Ricciardi (2015), Armano/Bove/Murgia (2017). Auch Castel bemerkt: »Prekarität und Prekarisierung bezeichnen somit Prinzipien des Brüchigwerdens, die sich nicht auf die unteren Schichten der Gesellschaft beschränken, sondern die verschiedensten sozialen Gruppen betreffen. Zugleich aber, und das ist kein Widerspruch, berührt Prekarität insbesondere die am stärksten benachteiligten Schichten« (Castel 2009: 31). Schäfer datiert den Beginn ihrer Herausbildung auf das 17. Jahrhundert (vgl. Schäfer 2013). Zu dieser Begrifflichkeit im Werk Hannah Arendts, insbesondere der Vita activa, siehe Mahrdt (2011).
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in dessen Innersten sich die Typen der Verhaltensführung oder der ›Führung des Verhaltens‹ einrichten« (Sennelart 2004: 484).14 Foucault skizziert die gouvernementale Subjektivierung wie folgt: Die Machtform gilt dem unmittelbaren Alltagsleben, das die Individuen in Kategorien einteilt, ihnen ihre Individualität zuweist, sie an ihre Identität bindet und ihnen das Gesetz einer Wahrheit auferlegt, die sie in sich selbst und die anderen in ihnen zu erkennen haben. Diese Machtform verwandelt die Individuen in Subjekte. Das Wort ›Subjekt‹ hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist. In beiden Fällen suggeriert das Wort eine Form von Macht, die unterjocht und unterwirft. (Foucault 2005: 244f.) In seinem Doppelstatus als sub-iectum, also als zugleich freies und unterworfenes Subjekt, bleibt das Individuum jedoch im souveränen Status der Gouvernementalität gefangen. Er ist es, der die doppelte Funktion der Subjektivierung – die Unterwerfung und das transversale exercice de la liberté vonseiten eines Subjekts, welches nur vermeintlich über einen freien Willen verfügt – verunmöglicht. Entsprechend muss daran erinnert werden, dass selbst divergierende Selbsttechniken und Gegenverhalten in den gleichen gouvernementalen Rahmen eingeschrieben bleiben, da sie wiederum andere, neue Formen der Subjektivierung hervorbringen. Anders gesagt unterliegt das System einem immunitären Paradigma, seine Funktionsfähigkeit wird dadurch gesichert, dass dieses ihm gefährliche Elemente »durch Einschluss innerhalb [seiner] Grenzen« (Esposito 2004: 15) neutralisiert.15 Die Ausübung einer gouvernemental konditionierten beziehungsweise gelenkten Freiheit vonseiten des Subjekts ist demzufolge grundlegender Bestandteil dieser Kunst des Regierens (vgl. Bröckling 2017; Borsò 2013). Eine solche Lenkung und Neutralisierung diagnostiziert José Luis Villacañas Berlanga in seinen Überlegungen zur Ontologie der Gegenwart, die unsere Publikation eröffnen. Er konstatiert, dass die Prekarität inzwischen zur alleinigen Lebens14 15
Zum Begriff der Gouvernementalität siehe u.a. Foucault (2000; 2004a; 2004b) sowie die Übersichtsdarstellung von Bublitz (2014). »Die dialektische Figur, die sich so abzeichnet, ist jene einer ausschließenden Einschließung beziehungsweise einer Ausschließung durch Einschließung. Das Gift ist vom Organismus nicht dann besiegt, wenn es aus ihm heraus gestoßen wird, sondern wenn es in gewisser Weise zum Teil von ihm wird. Wie schon gesagt: die Immunitätslogik verweist auf eine NichtNegation, auf die Negation einer Negation« (Esposito 2004: 15). Immunität ist also »die innere Grenze, welche die Gemeinschaft durchschneidet, indem sie sie auf sich selbst zurückfaltet, in einer Form, die sich zugleich als konstitutiv und destitutiv auswirkt: die sie konstituiert – oder rekonstituiert –, eben indem sie sie destituiert« (Esposito 2004: 17). Vgl. Borsò (2014a; 2014b).
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form avanciert und dem Umstand geschuldet sei, dass keine alternative Modalität im Denken der Lebenswelt bestehe, die eine Distanzierung von den Prinzipien des Neoliberalismus und der damit einhergehenden Subjektivierung erlaube. Zu dieser Pattsituation hätten nicht zuletzt auch die Degradierung und der institutionelle Rückbau der Geistes- und Sozialwissenschaften beigetragen, da so zunehmend kulturelle und theoretische Instrumente vernichtet werden. Diese nämlich würden es ermöglichen, den Kapitalismus als Modalität zu erkennen und so mit der »Absolutheit der Wirklichkeit« (40) zu brechen, wie er mittels der auf Faktizität basierenden Wesensbestimmung einer als Block – und somit totalitär – wahrgenommenen Gegenwart hervorgebracht werde. Entsprechend sei der Kapitalismus zur Natur des Anthropozäns geworden und gerade seine Naturalisierung verhindere, ihn einem Legitimitätstest zu unterziehen; Krisen seien lediglich ein Dispositiv zyklischer Erneuerung und Immunisierung.16 Die diesem Kontext genuine Lebensform sei der homo oeconomicus, der zugleich auch ein prekäres Subjekt ist. Seine unhinterfragte Affirmation des Neoliberalismus erfolge ungeachtet seines ökonomischen Performativitätsgrads, auch wenn Letzterer einen Darwinismus einläute, der anhand von Erfolg oder Scheitern maßgeblich über Würde und Wert des Subjekts entscheide und dessen Selbstbild formt. Die sich global manifestierende Zersetzung von politischer Gemeinschaft koinzidiere mit der Betonung der globalen Dimension des Finanzkapitalismus. Sowohl die ökonomische als auch die politische Sphäre seien dabei nach einem Terrorprinzip organisiert, das den Eindruck von systemischer Totalität verstärke und das neoliberale Subjekt durch Angst und Hoffnungslosigkeit in eine Schockstarre versetze, die es zur Handlungsunfähigkeit verdammt, so dass die Prekarität des Lebens in dieser Theologie der Ökonomie zwangsläufig als alternativlos erscheint. Michel Foucault hat das Interessenssubjekt, das »unternehmerische Selbst« (Bröckling 2007), das vor allem auf seine ökonomische Subsumtion, auf sein Potential als Humankapital hin zu denken ist, als Dreh- und Angelpunkt der gouvernementalen Subjektivierung ausgemacht. Der Konflikt hat sich in das Innere des Subjekts hineinverlegt. Im Kontext eines sich stets steigernden Wettbewerbs unter Gleichen richtet sich dieser ›Unternehmer seiner selbst‹, welcher Knecht und Herrn in einer Person vereint (vgl. Han 2014: 14), strategisch und antizipativ auf künftige Marktentwicklungen aus. Diese neue Ontologie, so unterstreichen im vorliegenden Band auch Bazzicalupo, Rau und Castro Orellana, wird von der neoliberalen Gouvernementalität angereizt, gefördert und durch das Begehren und die Vulnerabilität des Lebens regiert, indem dieses einer Bewertungslogik unterstellt wird, die das ursprünglich von der Gouvernementalität verliehene Empowerment zugunsten (selbst-)disziplinierender Schuldmechanismen zunehmend aushebelt und verdrängt. Das unternehmerische Ich übernimmt das naturalisierte und 16
Zum Dispositiv der Krise siehe Gentili (2018a; 2018b) sowie seinen hiesigen Beitrag.
Einleitung − Prekäres Leben
idealisierende Imaginäre des Neoliberalismus, seine Selbstregierung und –optimierung folgt der Selektion und Bewertungslogik von Wettbewerb und Markt. Als persona oeconomica untersteht das unternehmerische Ich also insofern einer gouvernementalen Subjektivierung oder »ultrasubjectivation«17 (vgl. Dardot/Laval 2009: 437), als dass es die neoliberale Rationalität vollkommen verinnerlicht hat und die Prinzipien einer umfassenden In-Arbeit-Setzung des Lebens unhinterfragt lebt. Regiert wird das Subjekt dabei über seine Psyche, mithilfe der ›Psychopolitik‹ (vgl. Rau 2010; Han 2014).18 »Economics are the method. The object is to change the soul« (Thatcher zitiert nach Dardot/Laval 2009: 412) – derart pointiert hat Margret Thatcher seinerzeit diese Form der Regierung der Seelen formuliert, welche die Mechanismen des Biokapitalismus ergänzt.19 Die Erhebung des Markts zur obersten, alleinigen und zugleich unbeständigen Entscheidungsinstanz führt zur vollkommenen Prekarisierung untereinander konkurrierender, psychologisch flexibler Singularitäten und zu einem spekulativen, ansteckenden und variierenden Imitationsverhalten, wie Bazzicalupo in ihrem hiesigen Aufsatz erläutert. Genau diese Dynamik halte sie in einer Kondition der Unbestimmtheit gefangen. Diese neue Subjektivität verfüge über keinen sie konstituierenden Antagonismus, so dass auch eine politische Subjektivierung schwierig sei. Ihr Zusammenschluss als politische Subjekte erfolge allenfalls spontan und sei ebenso wie sie prekär: Diese situative, lokale Selbstregierung verbleibe innerhalb des gouvernementalen Rasters und negoziiere mit anderen Entitäten, so dass Bazzicalupo letztlich in diesem Nebeneinander unterschiedlicher Mächte »Mosaikstücke einer neuen Demokratie, aber auch Spuren einer totalen Macht« (67) erkennt. Dass sich Denken und agency des immunisierten Ichs trotz vielfältiger, quasi unbegrenzter Wahlmöglichkeiten kaum von denen der anderen unterscheiden, ist also der gouvernementalen Normalisierungslogik geschuldet. Die Freiheit, so Rodrigo Castro Orellana in seinem Essay, enthülle einmal mehr ihr Wesen als zivilisatorisches Artefakt. Dies gründe insbesondere auf dem Umstand, dass die Schuldenökonomie und Prekarisierung des Lebens als Dispositiv und Sicherheitstechnik 17
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Dardot und Laval identifizieren »une subjectivation par l’excès de soi sur soi ou encore par le dépassement indéfini de soi. […] C’est en quelque sorte une ›ultrasubjectivation‹ qui n’a pas pour fin un état ultime et stable de ›possession de soi‹, mais un au-delà de soi toujours repoussé, et qui est de plus constitutionnellement ordonné, dans son régime même, à la logique de l’entreprise, et, au-delà, au ›cosmos‹ du marché mondial« (Dardot/Laval 2009 : 437). Zu den Auswirkungen der ubiquitären Prekarisierung auf die psychische Verfasstheit des Individuums siehe etwa Ehrenberg (2015) und zur »Müdigkeitsgesellschaft« Han (2010). Im Biokapitalismus wird »Wert nicht allein aus dem arbeitenden, als stoffliches Arbeitsmittel agierenden Körper [produziert], sondern es ist der Körper in seiner Gesamtheit, dem Wert extrahiert wird« (Vanni Codeluppi zititiert nach Marazzi 2010: 45).
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neoliberalen Regierens fungiere: Die Anreizung einer diffusen Angst vor Unsicherheit diene als Unterwerfungsstrategie mit dem Ziel der erhöhten Wertabschöpfung, der Bevölkerungskontrolle und der Erhaltung des neoliberalen Systems in seiner jetzigen Spielart zu Lasten eines irreversibel geschwächten Staats. Die Privatisierung von systemischen Widersprüchen, Kosten und Gefahren führe zu einem nun individuellen Risikomanagement und dazu, dass das Leben des Einzelnen zunehmend monetarisiert werde. Insofern stelle das Generieren von Unsicherheit nichts weiter als eine neoliberale Regierungstechnologie zur Neutralisierung des Konflikts und eine Naturalisierung der gouvernementalen Logik dar, welche darauf abziele, mithilfe des Markts aus der Marktlogik resultierende Probleme zu lösen. Der Performanzkult der Leistungsgesellschaft (vgl. Ehrenberg 1999) und die Anreizung zum konstanten dépassement de soi gelten omnes et singulatim. Hierbei, so erörtert Vittoria Borsò in unserem Buch, fungiere die persona oeconomica ‒ also das durch imaginäres Empowerment geschaffene, neoliberale Interessensubjekt ‒ als eine ontologische Modalität, die grundlegend für die Konstitution der polis oeconomica sei, da sie das prekäre Subjekt erst hervorbringe. Prekarität und Performativität seien also zwei Seiten derselben Medaille, die in der an sich instabilen und fragilen persona oeconomica eingeschrieben sind. Das autonome, unternehmerische Subjekt konstituiere sich im Akt der Autorisierung, der seiner Kapitalisierung als Person zugrunde liege; dieses ökonomische Empowerment bilde zugleich die Schwelle für die Würde der Person und es ist die Performativität des Subjekts, welche die Dignität definiere oder im Falle eines Scheiterns abspreche. Der Status und die Würde der persona oeconomica, so Borsò weiter, seien an sich unbeständig und prekär, ihre Kondition »riskiert [jederzeit], sich ins Schlechte zu verkehren« (342). Da das hierarchisierende Dispositiv der ›Person‹ die Unbestimmtheit schließe, seien die persona oeconomica und ihr negatives Korrelat, die Nicht-persona oeconomica, in einem geschlossenen Kreislauf gefangen, der keine Relationalität zulasse, sondern sich durch eine anästhetisierende, spiegelhafte Medialität auszeichne. Übernimmt man diese Sicht, so erweisen sich etwa die von Castel identifizierten Formen des hypermodernen Individuums ‒ »Individuen im Übermaß (individus par excès)« und »bloße Individuen (individus par défaut)« (Castel 2011: 347)20 ‒ ledig20
»Individuen im Übermaß« sind Castel zufolge solipsistische, narzisstische Subjekte, »die wichtige Merkmale der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation ins Extrem treiben: die Entkollektivierung, die Entinstitutionalisierung, den Aufstieg des Individualismus, der sich mit einer Abwendung von Zugehörigkeiten und gemeinen Werten verbindet. […] Das Individuum im Übermaß scheint mir eine Form der Entkopplung von oben herzustellen, die den Einzelnen aus seinen kollektiven Bindungen herausfallen oder heraustreten lässt, weil sie gewissermaßen bis zum Überdruß verwirklicht sind« (Castel 2011: 353f.). »Als ›bloße Individuen‹ bezeichne ich […] diejenigen, denen die nötigen Mittel fehlen, um ihre individuelle Freiheit tatsächlich zu übernehmen. […] Sie treten auf der Stelle, festgenagelt auf ein und
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lich als zwei Ausprägungen des prekären Subjekts. Sie stellen zwei Pole ein und derselben Entwicklung dar, auf der einen Seite die erfolgreichen Performer und auf der anderen die zu (Selbst-)Ausgrenzung und zu sozialer Unsichtbarkeit verdammten Gescheiterten (vgl. Le Blanc 2009). Für alle Subjekte gilt jedoch, dass ihnen in der ständigen Projektion auf ein besseres Morgen, welches sich letztlich als eine ernüchternde Wiederkehr des Ewiggleichen ausnimmt, sowohl ein erfülltes Leben in der Gegenwart, als auch die Zukunft selbst abhandenkommen. Entsprechend versteht Alice Pugliese in unserer Publikation unter Prekarität eine durch die postfordistischen Arbeitsbedingungen hervorgerufene »Organisation der objektiven Zeit« (95), welche auf die innere Zeitlichkeit tiefgreifend einwirke und letztlich das Erleben einer intra- sowie intersubjektiven Resonanz verhindere, die sowohl für die Überführung von Erfahrung in eine sinnvolle, konstitutive Evidenz als auch für die aktive Entfaltung eigenen kreativen Potentials notwendig seien. Die so angestoßene Entfremdungserfahrung, die sich im Wesentlichen auf drei Ebenen äußere, die die existentielle Struktur der Zeit bestimmen (die Fragmentierung der Zeithorizonte durch die prekären Arbeitsbedingungen, die abstrakte Simultaneität der Technologie und die Verzerrung des intergenerationellen Austauschs), könne unter Umständen eine »radikale Entsubjektivierung« (98) nach sich ziehen, die sich in Form eines erstarrten Bewusstseins sowie einer Unfähigkeit zu Verantwortung und Bezugnahme manifestieren könne. Daher »droht [die Prekarität] schließlich ihre eigenen anthropologischen Voraussetzungen zu zerfressen: Flexibilität wandelt sich in Starre, Kreativität in Fixierung von Identität« (98). Die auf ökonomischer, sozialer und individueller Ebene erlebte Krise verweise, so Puglieses Fazit, auf den »strukturellen Widerspruch zwischen der menschlichen Existenz und den aktuellen sozialen Bedingungen« (98). Bereits diese ersten Ausführungen machen deutlich, dass sich die Prinzipien des divide et impera und des »Vereinheitliche und herrsche« (Bourdieu 2004: 208) als Regierungstechnologien einer »gouvernementale[n] Prekarisierung« (Lorey 2011; 201221 ) ergänzen, auch wenn es zunächst paradox klingen mag. Versteht man jedoch unter Vereinheitlichung die erfolgreiche Implementation einer Ontologie und unter divide die Spaltung von Gemeinschaft und Auflösung traditioneller Formen politischer Subjektivierung, so offenbart sich ihre Komplementarität. Sie zeigen, inwiefern die anthropologische Mutation zu einer Dislozierung des Sozialen und
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denselben Raum und in einer ewigen Gegenwart. Sie leben in einer Äußerlichkeit, mit allen möglichen Begegnungen, die aber sporadische Ereignisse sind und planlos bleiben, weil ihnen das Fundament von notwendigen Mitteln fehlt, um die Gegenwart zu stabilisieren und die Zukunft zu antizipieren« (Castel 2011: 356f.). In Anschluss an Judith Butler (2005; 2010) unterscheidet Lorey (2011) »drei Dimensionen des Prekären«: erstens ein ontologisch existentielles Prekärsein, zweitens Prekarität als Ordnungskategorie zur sozialen Inklusion- beziehungsweise Exklusion, drittens die gouvernementale Prekarisierung.
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zu einer Gemeinschaft pluraler Singularitäten (vgl. Nancy 2016; Reckwitz 2017) geführt hat, deren ontologisches Fundament in einer irreduziblen Prekarität der persona oeconomica besteht.
Res publica: Krise und Konflikt Die bezüglich der Subjektivierung skizzierten Mikropolitiken der Macht finden sich auch auf der Makroebene wider. Sie nähren das Gefühl einer als krisenhaft erfahrenen Gegenwart. Inwiefern die Krise als effizientes biopolitisches Dispositiv und als Instrument neoliberaler Regierungskunst fungiert, erläutert Dario Gentili in unserem Konvolut. Ausgehend vom Verständnis der Krise als Moment der Entscheidung über Tod und Leben beim Verlauf einer Krankheit werde stets alternativlos Partei zugunsten des Lebens ergriffen. In dieser Hinsicht lasse sich das Zusammenfallen der wirtschaftlichen, medizinischen und politischen Dimension konstatieren, als dass das Dispositiv der Krise den Konflikt regiere und neutralisiere, da es eine bereits vorgeordnete Entscheidung impliziert. Entsprechend, so Gentili, ließen sich der Ausweg aus der Krise − also die Heilung und Rückkehr zu einer vorgängigen Ordnung − und die Produktion der Krise nicht mehr von einander unterscheiden. Daher nähmen sich die zyklischen Krisen des Kapitalismus als eine ewige Wiederholung der Gegenwart aus, welche durch ein Außerkraftsetzen des politischen Konflikts gekennzeichnet ist. Die Politik des Staates stehe allenfalls im Dienste der ökonomischen Selbstregierung des Marktes, verfüge aber über kein eschatologisches Ziel mehr. Die dem Krisendispositiv entspringende und in ihm gefangene Lebensform ist die Prekarität, als einzig mögliche Form der politischen Subjektivierung. Erst ein anderes Verständnis von Konflikt im Sinne eines immanenten, konstituierenden con-fligere als Zusammenführung verschiedener Formen des Lebens (statt ihrer Trennung) erlaube, diese Dynamik zu überwinden und eine Politik des Lebens anzustoßen. Die Entwicklungen des letzten Jahrzehnts haben uns die Funktionsweise eines solchen Krisendispositivs anschaulich vor Augen geführt. Das ›Erdbeben‹, welches Unternehmen, Bürger und Staaten erschütterte, wenn nicht gar ihnen den Boden unter den Füßen entzog, begann 2007/2008 und wandelte sich binnen kürzester Zeit von einer Finanz-, in eine Wirtschafts- und schließlich in eine Staatsschuldenkrise, die sowohl die Nationalstaaten als auch die internationalen Beziehungen ins Wanken brachte und das gesellschaftliche Klima – geprägt durch einen erstarkenden Populismus verschiedener politischer Couleur als Abfuhrreaktion auf die steigende Verunsicherung – hat rauer werden lassen. Die unkontrollierbare Eigendynamik der Abläufe hat viele schnell von einer Vergesellschaftung von Risiken und einer Privatisierung von Profiten vonseiten der Finanzwelt und der Ökonomie sprechen lassen. Bereits seit einiger Zeit warnt man zudem vor einer neuen Kri-
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se, die weit heftiger als die letzte ausfallen soll. Anleger versuchen ihr Kapital zu ›retten‹, fliehen von Anleihen in vermeintlich ›sichere‹ Werte wie Edelmetalle, Immobilien, Land und Bodenschätze. Doch all dies führt nur zu einem: Die nächste Blase ist vorprogrammiert und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie platzt und die Weltwirtschaft erneut erzittert.22 Zittern lässt Regierungen und Bürger auch das Wort ›Schulden‹, ein Begriff, der in den letzten Jahren in den öffentlichen Debatten omnipräsent ist. Schuldenuhren, die ›in Echtzeit‹ die Verschuldung einzelner europäischer Länder anzeigen23 , sind nur ein Symptom für die grassierende, profunde Verunsicherung von Millionen von Menschen, die ihrerseits in einer irreduziblen Prekarität gefangen sind. Der »homo debitus«, dessen Kapital seine Bonität ist, ist allgegenwärtig; er ist die Lebensform der Spätmoderne (vgl. Lazzarato 2012: 109, 62). Doch die Wirtschaftskrise und ihre Nachwehen haben auch den nationalstaatlichen Überbau und das Konzept ›Staat‹ an sich in einen kritischen Zustand versetzt, wie Valerio Rocco Lozano in seinem hiesigen Essay darlegt. Der Staat sei nicht allein durch eine Schuld-Schulden-Ökonomie mit globalen Verstrickungen geschwächt, sondern ebenso nekropolitischen Politiken ausgesetzt, die durch eine von Dritten diktierte Austeritätspolitik und neoliberale Rosskur seine ökonomische Unabhängigkeit und Souveränität in einem bis dato nie gekannten Ausmaß untergraben. Das Gespenst des [Finanz-]Kapitals (Vogl 2010) geht um. Zwischenstaatlichen Konflikten, die sich im 21. Jahrhundert in Form von Wirtschaftskriegen äußern (Steuern statt Waffen), liege jedoch ein tieferer Konflikt zwischen Märkten und Staaten zugrunde, mit letalen Verschränkungen von Rettern und Geretteten. Übersehen werde hierbei die eigentümliche Pattsituation des Staates: Zum Organ einer formalen Verwaltung degradiert stehe er zwischen internationalen Forderungen und denen seiner eigenen Bürger und sieht sich der Gefahr ausgesetzt, entweder isoliert und somit verletzlich zu sein oder aber seine Basis zu verlieren. Er sei zweifach vulnerabel. 22
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In seiner Darlegung der Mythen der Krise verurteilt Flassbeck das eingefahrene Denken und Handeln von Nationalregierungen und Europäischer Union als eine Unfähigkeit, »komplexe wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, und […] mangelnde Bereitschaft, sie unideologisch in Politik umzusetzen« (Flassbeck 2012: 57). Provokant äußern Flassbeck und Steinhardt: »Was bis heute nicht verstanden wird: Die wirtschaftliche Theorie hinter dem Liberalismus ist nicht nur an manchen Stellen unzureichend und verbesserungsbedürftig. Nein, diese ›Theorie‹ […] ist prinzipiell nicht in der Lage, die Dynamik eines marktwirtschaftlichen Systems zu verstehen, und daher ungeeignet, um aus ihr valide politische Handlungsempfehlungen abzuleiten« (Flassbeck/Steinhardt 2018: 9). Daher seien eine »neue internationale Finanzarchitektur« auf globaler Ebene (Flassbeck/Steinhardt 2018: 370) und eine Revision des wirtschaftstheoretischen Fundaments zwingend nötig, so der von 2003 bis 2012 »Chefvolkswirt der Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen« (Flassbeck/Steinhardt 2018: Einband). Laut der Schuldenuhr des Bundes der deutschen Steuerzahler (2019) hat Deutschland etwa fast zwei Billionen Euro Schulden; zur europäischen Schuldenuhr siehe Smava (2019).
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Als neue Form politischer Subjektivität und Partizipation haben die globalen Massenproteste mit ihrer Forderung eines strukturellen Wandels jedoch eine Alternative zur Verwaltung der res publica aufgezeigt und einen Mediationsraum zwischen den atomisierten Individuen und der politisch-ökonomischen Governance geöffnet, welcher nun durch die neuen politischen Bewegungen besetzt werden müsse, um einen Strukturwandel institutionell anzustoßen. Doch wie wahrscheinlich ist eine solche Umkehr der asymmetrischen Machtbeziehungen und die hier von Rocco Lozano geforderte Renaissance des Staates angesichts der »Souveränitätseffekt[e]« der Ökonomie als »politische Entscheidungsmacht« (Vogl 2015: 8) auf Politik und Gesellschaft?24 Haben die Auswirkungen opaker Governanceprozesse nicht schon längst gezeigt, dass derjenige »[s]ouverän ist, wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln mag und sich als Gläubiger letzter Instanz platziert« (Vogl 2015: 251)? In ihrem Beitrag erörtert Alexandra Rau dies am Beispiel der Folgen der Finanzmarktkrise für Griechenland, dem Experimentierfeld für einen Ausweg aus jener Krise des Kapitals, und beobachtet eine Überlagerung verschiedener Machtpolitiken. So erfolge die Produktion von prekärem Leben nicht allein durch den Neoliberalismus, sondern vielmehr in Verbindung mit Machttypen wie Psychound Nekropolitik. Erweise sich die Psyche als Punkt, an dem sich Herrschafts- und Selbsttechniken kreuzen, und somit als Instrument der Subjektivierung, Normalisierung und gouvernementaler Regierbarkeit, so markiere die Austeritätspolitik der Troika eine Form der Nekropolitik, welche Existenzen hervorbringt, »die die Form von ›Tod-im-Leben‹ annehmen« (140). Gerade diese doppelte Destruktion von Leben, sowohl auf psychischer als auch auf materieller Ebene, trage aber auch das Potential für widerständige Praktiken und Kritik in sich, denn dort, wo das Subjekt am verletzlichsten sei, liege auch die nötige Kraft für den Widerstand und die Wiedereinforderung der eigenen Würde. Das Szenario, welches sich uns eröffnet, ist zugegebenermaßen wenig verheißungsvoll. Dies macht die Frage nach Fluchtlinien umso dringender. Daher sollen 24
Vogl vertritt folgende These: »[…] im modernen Finanzwesen [konzentriert sich] eine politische Entscheidungsmacht, die abseits von Volkssouveränitäten und unter Umgehung demokratischer Prozeduren agiert. Im Laufe der letzten dreihundert Jahre hat sie den Charakter einer ›vierten Gewalt‹ angenommen, in der sich die Bildung von Kapitalmacht nicht von der Aktivierung von Machtkapitalien sondern lässt. Die aktuelle Dominanz des Finanzregimes wird somit als jüngste Spielart einer Ökonomisierung des Regierens begriffen, die sich in aggressiven Kopplungen zwischen politischen Gefügen und Privatkapital, in der effizienten Verknüpfung von Markt und Macht manifestiert. Die notorische Gegenüberstellung von Wirtschaft und Politik erweist sich als Legende des Liberalismus und reicht nicht hin, um die Genese und die Gestalt moderner Machtausübung zu fassen« (Vogl 2015: 8). Siehe hierzu beispielsweise auch Flassbeck (2012; 2018), Mezzadra/Fumagalli (2010).
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nun verschiedene Ansätze zum einem Andersdenken res publica skizziert werden, wie sie einige Autoren unserer Publikation vorschlagen. Es ist deutlich geworden, dass der gegenüber den Institutionen gehegte Misskredit von einem Verlust an Kredibilität, Autorität und Legitimität politischer Repräsentanz zeugt, welche die res publica angesichts zunehmend poröser Strukturen, fließender Grenzen und geschwächter Souveränität nur unzureichend zu verwalten vermag. Um seiner Funktion als Mediationsinstanz in der hypermodernen Gesellschaft wieder mehr gerecht zu werden, sei es, so Andrea Righi in seinem hiesigen Artikel, notwendig, dass der Staat einer anderen Logik folge als die Wirtschaft und der Finanzkapitalismus. Angesichts des Imperativs von Selbstentfaltung, Selbstsorge und pseudobefreiendem Konsum, der, wie bereits erwähnt, der gouvernementalen Rationalität und einem vollkommenen In-Arbeit-Setzen des Lebens gehorcht, bedürfe es einer neuen Semantik und einem Raum der Politik. Die Krise habe die Notwendigkeit eines anderen konzeptuellen Fundaments offengelegt, eines Fundaments, so Righi, das sowohl Nominalismus als auch die statische Darstellung von Grenzen, verstanden als Unmöglichkeit und Verbot, ablehne zugunsten einer stabilen Basis von Gemeinschaft und res publica, die der anomischen, inkonsistenten und inkommensurablen Dimension der Gegenwartsgesellschaft Rechnung trage. Anstatt wie bisher einer Logik der lex paterna zu folgen, solle der Verwaltung und Organisation des oikos eine maternalistische Symbolik zugrunde liegen. Als zirkuläre Matrix des Lebens – sie gibt und erhält das Leben bedingungslos – favorisiere sie, statt der linearen und unendlichen Akkumulations-, Maximierungs- und Wettbewerbslogik der Schuldenökonomie, ein konnektives, interkommunikables und egalitäres Miteinander, das im Gegensatz zum hierarchischen Machtgefälle von Gläubiger und Schuldner stehe.25 Dieser veränderte Blick auf den Ursprung bringe ein Differenzsubjekt hervor: eine aus der Spannung zwischen Vernunft und Trieb geborene Singularität, die sich aus ihren Beziehungen zu anderen heraus entwickele. Ihr Subjektivierungsprozess gestalte sich als ein Kontinuum, das kontingenten und nicht totalisierbaren Erfahrungen Raum gebe. María Luciana Cadahia hingegen widmet sich im vorliegenden Band dem Dispositivbegriff. Begreift man das Gesetz als Dispositiv, so stellt sich Cadahia zufolge die Frage, ob und inwiefern dieses imstande ist, sich selbst für neue Formen der Mediation zu öffnen, die nicht der Logik von Kontrolle und Disziplin unterliegen. Eine Möglichkeit sieht Cadahia darin, das Dispositiv statt seiner negativ-privativen 25
Für eine Ökonomie, die zugleich auf einer anderen Logik des Miteinanders basiert, schlägt Latouche eine freiwillige Wachstumsrücknahme (décroissance) vor (vgl. Latouche 2006: 17). Für das in der Postwachstumsgesellschaft geforderte Umdenken postuliert er acht Strategien: réévaluer, reconceptualiser, restructurer, redistribuer, relocaliser, réduire, réutiliser, recycler (vgl. Latouche 2006: 155-240). Vor allem aber gelte es, sich das Imaginäre wiederanzueignen beziehungsweise dieses zu öffnen, da dieses durch die (neo-)liberale Ideologie vereinnahmt worden sei (vgl. Latouche 2006: 160).
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Notion im Sinne einer ästhetischen Disposition zu denken, ist es doch gerade die Ästhetik, welche die Darstellung der Welt als eine Trennung von Form und Leben, als einen Konflikt zwischen beiden begreift, ohne zwangsläufig ein Herrschaftsverhältnis des einen über das andere zu begründen. Dabei sei es der Konflikt, der eine politische Öffnung und Transformation der Repräsentation ermögliche. Die aus dieser konfliktiven Spannung resultierende affirmative Differenz erlaube, das Dispositiv als eine Form sinnlicher Mediation zu begreifen, welche die Politisierung des Gesetzes offenlege und problematisiere. Gerade die Diskrepanz von Legalität und Legitimität, wie sie die sozialen Bewegungen anklagen, bilde die Grundlage für eine Kritik des Gesetzes, welche die Vorbedingung für dessen nicht-disziplinären Gebrauch – und somit für die Überwindung des Souveränitäts- und Immunitätsprinzips – darstelle. Diese neue Beziehung zu einem nun prekären Gesetz bringe ein neues Ethos mit sich, welches andere Formen der Affirmation des Lebens hervorbringe. Für eine Aufwertung des Potentials der »Multitude des Prekariats« (Hardt/Negri 2013: 17) plädiert hingegen Marco Assennato in seinen hiesigen Überlegungen, die kritisch an Bourdieus bereits dargelegte Diagnose anschließen. Assennato begreift den Prekären als ein Subjekt der differentiellen Inklusion, er sei Teil der produktiven Maschine. Gerade weil diese liminale Figur einer Flexibilisierung und Vervielfältigung von Arbeit und deren Ausdehnung auf den Reproduktionsbereich gehorche, sei sie keineswegs arm, sondern reich, da vielfältig und heterogen. Die Prekarisierung von Arbeit sei eine Strategie, »das Dispositiv der absoluten und relativen Mehrwertproduktion elastisch und verhandelbar zu machen« (143); trotz befristeter oder prekärer Arbeitsverhältnisse seien die spezifischen Arbeitsbedingungen dabei beständig, denn der subjektive Produktionsraum entspreche dem Reproduktionskreislauf, ohne dass sich die erbrachte Leistung mit herkömmlichen Rastern messen ließe. Entsprechend sollte Prekarität nicht in Begriffen der Unterwerfung gedacht werden, sondern der Prekäre auch als ein produktives Subjekt, da seine Kraft und der von ihm erzeugte Überschuss einen notwendigen Gegenpol zum Kapital bilden – und es ist Letzteres, das seiner bedarf, um sich selbst aufzuwerten. In dieser Lesart gelte es, eine positive Ontologie hervorzubringen, die imstande sei, Emanzipation und Subjektivierung zusammenzudenken, Praktiken jenseits des Flexploitation-Diskurses zu implementieren und eine radikale Demokratie zu begründen. Auch Giacomo Marramao zufolge ist ein neues Verhältnis von Raum und Zeit erforderlich, um die Doppellogik der konfliktiven Hypermoderne zu überwinden, denn die Globalisierung habe paradoxerweise sowohl zu einer Verdichtung als auch zu einer Heterogenisierung von Raum (De- und Reterritorialisierung) und Zeit (gleichzeitige Ungleichzeitigkeit) geführt, woraus die Entuniversalisierung gesellschaftlicher Beziehungen rühre. Die Wandelbarkeit und das Anpassungsvermögen des globalen Kapitals, dessen Herrschaftslogik konzentriert und dessen
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Organisations- und Kontrollformen zugleich diffus seien, habe, so Marramao in seinem Essay, zur Herausbildung einer Vielzahl von unterschiedlichen Kapitalismen geführt, wobei die entfremdende, zweischneidige Logik der globalen Hypermoderne den unstillbaren, der Produktions- und Akkumulationslogik verhafteten Genussfetischismus einem fundamentalistischen Identitätsfetischismus gegenüberstelle. Letzterer zeichne sich durch den Konflikt zweier verschiedener Identitätslogiken aus (Kommunitarismus vs. wettbewerbsorientierter Individualismus). Die diesen Subjektivierungen zugrundeliegende Problematik sei jedoch die gleiche; sie resultiere aus der Trennung der materiellen und symbolischen Ebene. Daher müsse, so Marramao weiter, insbesondere beim Imaginären angesetzt werden, um eine dynamische Interpretation der Gegenwart zu ermöglichen und Identität auf globaler Ebene zugunsten eines »Universalismus der Differenz« (215) zu konzipieren. Erst dies erlaube es, die Identität zu entmystifizieren und die symbolische Funktion der Politik zu erneuern: »als Sinnhorizont des individuellen und kollektiven Handels, als gemeinsamer Raum, in dem die Generationen aufeinandertreffen und sich kollektive Subjekte des Wandels konstituieren« (215). Es gelte also, die diasporadische Identität zugunsten einer Neubelebung von Gemeinschaft zu ersetzen. Einen solchen Versuch stellen zweifelsohne die zivilgesellschaftlichen Proteste dar, die sich seit der Jahrtausendwende zunehmend Gehör verschaffen und angesichts von Postdemokratie (vgl. Crouch 2008) und politischer Repräsentationskrise eine basisdemokratische Mitbestimmung einfordern.26 All jene »postidentitäre[n] soziale[n] Bewegungen« (Marchart 2013a: 220)27 sind Ausdruck der »Abstiegsgesellschaft« (Nachtwey 2016), opponieren sie doch gegen die neoliberale Prekarisierung und »regressive Modernisierung« (Nachtwey 2016: 11) des Postwachstumskapitalismus. Zu den Effekten der Ökonomisierung und Dislozierung des Sozialen zählt ebenso eine Entdemokratisierung28 und der Verlust des Gemeinen. Für die res publica einzutreten, muss daher heißen, der »tragédie du non-commun« (Dardot/Laval 2014: 14) entschlossen entgegenzutreten und der erfolgreichen Instauration der neoliberalen Rationalität und ihrer Ontologie das Gemeine als Kategorie und als 26
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Eine ausführliche Analyse zur 2001 in Mailand gegründeten EuroMayDay-Bewegung bietet Marchart (2013a), zu den indignados siehe Cadahía/Duque (2013), Sánchez Cedillo (2011), Galcerán (2011), zu den Occupy-Bewegungen etwa Kaun (2016) sowie allgemeiner gefasst Nachtwey (2016: 181-233). »Postidentitär sind sie in dem Ausmaß, in dem ihre Identität, die Ziele ihrer Politik und die Subjektivierungsform ihrer Akteure einem konstanten Prozess der (Selbst-)Befragung unterworfen sind« (Marchart 2013a: 220). Zur Entdemokratisierung vgl. zum Beispiel Dardot/Laval (2009: 426), Lazzarato (2012), Machart (2013a; 2013b), Flassbeck/Steinhardt (2018) oder etwa Stéphane Hessels (2011a; 2011b) Appelle zu Empörung und Engagement.
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unveräußerliche Entität entgegenzusetzen, ohne dabei überholte Gesellschaftsmodelle zu reaktivieren.29 Eine solche Suche nach neuen politischen, ökonomischen und identitären Konstrukten attestiert Salvo Vaccaro in unserem Sammelband all jenen Protestbewegungen, welche sich in den letzten beiden Dekaden auf globaler Ebene gezeigt und gegen »die unauflösliche Verflechtung von staatlicher Politik und ökonomischem Finanz-Neoliberalismus« (234) aufbegehrt haben. Trotz ihrer starken Heterogenität erkennt er Analogien, so dass er sie als ein in latenter Entwicklung begriffenes Gesamtphänomen versteht, das sich lediglich punktuell und lokal manifestiert. Als Formen alternativer politischer Partizipation und kollektiven Empowerments bilden sie einen Gegenpol zur »Unwirksamkeit der Macht des demos« (220) und opponieren gegen jene »postdemokratische Verschiebung« (220), wie sie biopolitische Governance-Prozesse mit dem Ziel maximaler, bioökonomischer Systemeffizienz und gouvernementaler Regierbarkeit hervorgebracht haben. Alldem setzten sie deliberative Formen der Teilhabe und eine präfigurative Politik entgegen, welche auf eine Zerstreuung und Kontrolle der Macht, jedoch nicht auf deren Ergreifung abziele. Gekennzeichnet seien diese Bewegungen durch folgende Merkmale: ihr Wesen als offenes, soziales Experiment, eine physische Wiederaneignung von Räumen, der verweigerte Dialog mit den Institutionen, denen sie ihre Legitimität absprechen, sowie der Einsatz libertärer Methodologien. Es gehe ihnen darum, in einer als krisenhaft erfahrenen Gegenwart den Konflikt zu leben, anstatt diesen zu neutralisieren. In diesem Sinne leben diese zivilgesellschaftlichen Initiativen eine »Politik einer Entunterwerfung (desubjugation)« (Butler 2009: 224f.), welche »sich den Vorgehensweisen der Macht im Moment ihrer Erneuerung entgegenstellt und sie herausfordert« (Butler 2009: 234). Ihr Aufbegehren ist Kritik und Akt zugleich, der sie aus der eigenen Unmündigkeit heraustreten und die neoliberale Veridiktion hinterfragen lässt. Ihre Kritik ist somit die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung. (Foucault 1992: 15) 29
Dardot und Laval sehen im commun den Kampfbegriff gegen die allumfassende Privatisierung und den Neoliberalismus sowie zur Suche nach neuen Formen von Demokratie: »En ce sens, ce terme de ›commun‹ désigne […] l’émergence d’une facon nouvelle de contester le capitalisme, voire d’envisager son dépassement. C’est aussi une manière de tourner définitivement le dos au communisme étatique« (Dardot/Laval 2014 : 16). In ihrem Postskriptum zur Revolution im 21. Jahrhundert zeigen sie anhand von zehn Punkten die Facetten des commun auf, wobei sie das unveräußerliche Gemeine als politisches und ökonomisches Prinzip begreifen (vgl. Dardot/Laval 2014 : 569-583).
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Zu jenen zahlreichen Unfügsamen zählen auch jene Studierenden und Forscher, die 2008 und 2010 in Italien gegen die Hochschulreform protestierten, die, so Pietro Maltese in unserem Buch, den strukturellen Zusammenhang von Krise und Governance deutlich werden lasse. Angesichts der Überführung in beziehungsweise Angleichung von öffentlichen an Unternehmensstrukturen sei die Universität zur Wissensfabrik im Zeichen eines regulierenden und zugleich entpolitisierenden New Public Management und einer übergreifenden Produktion prekären Humankapitals avanciert. Governanceprozesse dienten dazu, so Maltese, Legitimitätsund Rationalitätskrisen entgegenzuwirken und angesichts des Verschwindens von Alternativmodellen nicht in Kurzschlussreaktionen zu verfallen. Doch die unternehmerischen Narrative sowie die applizierten betriebswirtschaftlichen Modelle und Raster würden den Spezifika des Hochschulwesens nicht gerecht, sowohl im Hinblick auf das produzierte Wissen im Sinne eines Guts, als auch auf Tätigkeiten und Abläufe, schon allein, da sie sich einer konkreten Mess- und Quantifizierbarkeit entziehen. In ihrer Kritik der neoliberalen Veridiktion optiere die Onda anomala für Selbstorganisation und Selbstbildung, denn Wissen keinen Tausch-, sondern einen Gebrauchswert dar. Ein anderes Bild ergibt sich in Anna Serlengas hiesigem Aufsatz zu den Aufständen in Tunesien. Der sogenannte Arabische Frühling sei, so Serlenga, vom Westen nicht als komplexe und facettenreiche Wirklichkeit unterschiedlicher und spezifischer Gesellschaften wahrgenommen worden. Die homogenisierend-folklorisierende Darstellung knüpfe an koloniale Narrative an und verkenne die transnationalen Auswirkungen der Ereignisse. Tunesien sei durch einen immer wieder verlängerten Ausnahmezustand in autoritäre und repressive Strukturen zurückgefallen und oszilliere zwischen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und einem unbestimmten demokratischen Prozess. Im Hinblick auf die von ihr analysierten Ästhetisierungspraktiken des politischen Widerstands betont Serlenga, dass Theaterperformances im öffentlichen Raum das Band der Gemeinschaft, wenn auch nur flüchtig, wiederherstellen könnten und zeigen, inwiefern sich sowohl der Körper als auch der Raum in ihrer spezifischen Materialität als Schlachtfeld verschiedener Gesellschaftsentwürfe ausnehmen.
Relationen – Rahmungen: Re-Flexionen des Prekären Wie bereits hinsichtlich der Dispositive, welche die persona oeconomica und das prekäre Subjekt hervorbringen, deutlich wurde, ist Prekarität grundlegend an die Effekte von Relationen und Rahmungen gebunden, bestimmen doch diese die dignitas precaria in all ihrer Ambivalenz: Verletzlich wird das Subjekt erst in seiner Beziehung zu anderen.
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Dies wird verständlicher, folgt man Stefan Trinkaus’ vorliegender Argumentation. Ausgehend von Butlers Begriff ›precariousness‹, verstanden als unaufhebbare, »grundsätzliche Gefährdetheit und Verletzbarkeit des Lebendigen« (285), entwickelt er seine Überlegungen zur Rahmung als einer Ökologie, welche die Wechselbeziehungen zwischen dem Subjekt und seiner Umwelt gestaltet. Hierbei exkludiere oder fixiere der Rahmen die Prekarität nicht, sondern entspreche einem Prozess des Haltens von Subjekt und Welt in ihrer Unbestimmtheit, Fragilität und Vulnerabilität. Dieser bilde die Möglichkeitsbedingung von Selbst und Gemeinschaft, als dass er miteinander in Mediation stehende Entitäten schaffe. Der Rahmen sei zugleich Rahmung und Entrahmung. In diesem Sinne verweisen precariousness und Rahmung gegenseitig aufeinander und erlauben eine »Öffnung auf ein ›Anderssein‹, ein Werden« (291). Jenes Anderssein sei jedoch nicht voll fassbar, so dass eine inkommensurable nothingness die Gemeinsamkeit aller Entitäten darstelle. Gerade diese nothingness (der Begriff zeigt klar die Unmöglichkeit, diese Inkommensurabilität in begriffliche Kategorien zu überführen und somit wahrnehmbar zu machen), diese »Unintegriertheit« (293) und Ungerichtetheit begründe die Erfahrung von Subjektivität und sei auch Voraussetzung für Bindung und somit Kultur. Gemeinschaft gestalte sich somit in Form einer Beziehung und eines ›Zusammensein-Mit‹ verschiedener pluraler, prekärer und sich stets aktualisierender Singularitäten. Entsprechend sei auch diese Gemeinschaft sowohl eine »Gemeinschaft der Prekären« (300), als auch »eine prekäre Gemeinschaft« (300), welche die »scheinbare Negativität« (300) der nothingness affirmiert. Überaus konkret wirkt sich die Produktion von Prekarität und von Souveränität als deren Kehrseite im Zusammenhang mit den jüngsten Migrationsphänomenen aus, denn im Nachgang der Krise von 2007/2008, verstanden als ein »Prozess multipler Denormalisierung« (Link 2013: 199), haben sich identitäre Konstrukte weltweit als sehr brüchig erwiesen. Davon zeugen die verschärften, teils populistischen Debatten, welche die bereits gefühlte Krise verstärken, die Gesellschaften weiter spalten und sich in Fundamentalismen kondensieren, wie Marramao in seiner oben genannten Erörterung ausführt. Angesichts der umstrittenen, ambivalenten und auf Abschottung abzielenden europäischen Migrationspolitik reflektiert Daniel Blanga Gubbay in unserem Buch über die unterschwellige Dynamik von Solidarität. In seinem Beitrag vertritt er die These, dass Politik auf der Produktion von Vulnerabilität fuße, da diese die Voraussetzung für Souveränität sei. Beide, sowohl das verletzliche, ›nackte‹ Leben als auch der Grad und die Beständigkeit einer souveränen Macht, bedingen einander. Insofern erweise sich Verletzlichkeit, oder besser gesagt das Verletzlichmachen von Leben, als eine Form der Kontrolle. Werde sie auch mit Dankbarkeit entgegengenommen, so etabliere Solidarität nichtsdestotrotz ein Abhängigkeitsverhältnis, das sich vor diesem Hintergrund als ein Ausdruck einer kolonialistischen Machtrelation ausnimmt, welche die Selbstkonzeption des Westens als zivilisierte Gesellschaft
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alimentiere. Diese paternalistische Fürsorge sei jedoch nichts weiter als ein weiter fortbestehendes, okzidentales Hegemonialdenken, das es zu überwinden gelte. Entsprechend stellt sich nicht nur die Frage nach dem Status von Migranten, sondern auch nach deren gesellschaftlicher Teilhabe, wie sie Giulia de Spuches in ihrem Artikel erörtert, in welchem sie verschiedene Perspektiven und Herausforderungen der Nord-Süd-Beziehungen trassiert. So stehe der Norden vor einer doppelten Herausforderung: sowohl vor der Konzeption und Umsetzung einer auf die Sicherheit der Festung Europa abzielenden Politik des refoulement, als auch vor der Integration von Migranten. Diese Dynamik von Inklusion und Exklusion vertiere um den Begriff der (Staats-)Bürgerschaft (citizenship) und die damit konzedierten Rechte, kurz, um die institutionelle Zuschreibung von Gleichheit beziehungsweise die Nivellierung der Wertigkeit von Leben und somit von Prekarität. Angesichts der pluralen und liquiden Identität der Diaspora könne Integration nur gelingen, wenn migrantische Narrationen Eingang ins kollektive Gedächtnis finden. Solange der Westen jedoch davon ausgehe, migrantische oder diasporische Positionen bereits zu kennen und ihnen so de facto Unmündigkeit zuschreibe, werde sich, so de Spuches, die bestehende Schieflage nicht beheben lassen. Zudem bedeute, dem Anderen aufmerksam zuzuhören, nicht nur ihm einen Platz einzuräumen, sondern ebenso sich gegenüber der eigenen Geschichte verantwortlich zu zeichnen und sich mit Letzterer erneut auseinanderzusetzen. Eine solche Konfrontation müsse auch hinsichtlich des Raums erfolgen, wie Chiara Giubilaro in ihrem Essay vorschlägt. Anstatt diesen als ein Produkt der Begrenzung und Schließung zu begreifen, wie es die naturalisierte Kategorie des absoluten Raums nahelegt, die bis dato unser Imaginäres geprägt habe, sei vielmehr von einer prekären, da relationalen Geographie auszugehen. Dabei sei der Raum nicht einfach als Produkt von Relationen zu begreifen, sondern als eines des Ereignisses: Es seien unvorhersehbare Relationen und Interaktionen von Singularitäten, die den Raum hervorbringen, affizieren, destabilisieren und problematisieren. Dieser plurale und zugleich prekäre Raum eröffne durch die Zurschaustellung und Verletzbarkeit eine produktive Dimension: die des Politischen. Denn erst die aus dem Ereignis des Anderen resultierende Instabilität und Prekarität geben Gelegenheit, die Gültigkeitsbedingungen von Sinn zu hinterfragen und neu zu auszuhandeln. Geknüpft ist eine solche Erzeugung und Negoziation von Sinn an Medialität, also an die dispositivspezifische Konfiguration von Kommunikation. Dabei sei es die funktional-integrative, homogenisierende Kommunikation der Globalisierung und der Weltgesellschaft, die Vittoria Borsò in ihrem Beitrag als Konnektivität be-
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zeichnet, in der sich das narzisstische Interessenssubjekt herausbilde und dem Diktat des Markts folge.30 Zweifelsohne sind die digitalen Medien integraler Bestandteil dieser konnektiv-gouvernementalen ›Maschine‹, dekonstruieren sie doch traditionelle Konzepte des Politischen und lassen die politische Gemeinschaftserfahrung prekär werden, wie Samuel Sieber in seiner hiesigen Abhandlung herausstellt. Ihr Versprechen, durch Vernetzung Gemeinschaft wiederherzustellen, eine optimierte Selbstentfaltung ihrer Nutzer und generell eine Komplexitätsreduktion und Vereinfachung des Lebens zu fördern, entlarvt Sieber in diesem Zusammenhang als Whitewashing von Ökonomie und Marketing, denn als Instrumente der Subjektivierung, datenbasierter User-Kontrolle und individuell abgestimmter Marketingstrategien seien sie Teil eines komplexen Sicherheits- beziehungsweise Monitoringapparats und sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht produktiv. Diese effektive sowie doppelbödige Verschränkung von medialen und politischen Regierungstechnologien fasst Sieber mit dem Begriff ›Gouvernemedialität‹, welcher die Orchestrierungsprozesse verschiedener medialer Dispositive meint, die sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene die Regierung des neoliberalen unternehmerischen Subjekts anreizen. Essentiell und prototypisch für die gegenwärtige Governemedialität sei die flexible und dynamische Konfigurierbarkeit der digitalen Medien, deren treffendste Metapher und effektivstes Dispositiv das Update sei. Erst das Update erlaube sowohl dem unternehmerischen Selbst als auch dem unternehmerischen Medium, welche beide fragmentarisch, unvollständig und variabel seien, die für das einwandfreie Funktionieren nötige und nie abgeschlossene Aktualisierung und Optimierung und integriere sie auf diese Weise in neoliberale Wertschöpfungsprozesse. Die Offenheit, Konfigurierbarkeit und Variabilität von Medialität bestimme zugleich die Möglichkeitsbedingung – und die ihr inhärente politische Potenz –, punktuell und zugleich prekäre (politische) Gruppierungen sowie eine alternative, widerständige Ästhetik hervorzubringen, bevor diese, haben sie einmal Form angenommen, von der gouvernemedialen Logik absorbiert werden. Solch ästhetische Fluchtlinien seien jedoch nur möglich, so Borsò in diesem Band, wenn kodifizierte Rahmungen gesprengt und eine die Relationalität bedingende, sinnlich-materielle Unbestimmtheit wiederhergestellt würden, wie es nur die ästhetische Mediation der Kunst vermag. Allein diese könne durch die spezifische Konfiguration der Wahrnehmung, das Lebendige wieder in seine Unbestimmtheit, Instabilität, Vulnerabilität und Öffnung gegenüber dem Anderen zurückzuführen und die Subjektivität als Schlachtfeld erkennbar werden lassen. 30
Manufacturing consent, so bezeichnet Chomsky von einer anderen Warte aus die Produktion von Konsens durch die Massenmedien (vgl. Chomsky 2003).
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Eine solche Entnaturalisierung und Entunterwerfung erörtert Antonio Rivera García in seinem Aufsatz anhand verschiedener Darstellungen des prekären Lebens. Entgegen Nussbaums Position, welche den moralischen, rechtlichen und politischen Gebrauch des Abjekten vollkommen ablehnt und daran die gesellschaftliche Fortschrittlichkeit misst, plädiert er anhand verschiedener Beispiele aus Kino und Bildkritik für dessen künstlerischen Einsatz, um ethischer Missbilligung Ausdruck zu verleihen. Die Politik der Kunst bestünde darin, eine unversöhnliche Konflikthaftigkeit zu Tage treten zu lassen, welche letztlich ein Prekärhalten des Sinns nach sich ziehe. Zur Inszenierung von Prekarität identifiziert Rivera García verschiedene Modi der Distanznahme und Überwindung filmischer Illusion: einerseits die Restituierung der Würde existentiell prekärer Menschen, indem sie und ihr Umfeld, aber auch Tragisches getreu dargestellt und mit einer Suche nach ästhetischer Schönheit verbunden werden; andererseits eine »Kunst der Grausamkeit« (379), wie er sie in den unerträglichen Bildern von Pasolinis Salò exemplifiziert sieht, die metaphorisch »die Abjektion in der zeitgenössischen Welt« (384) und somit moralische Prekarität sichtbar machen. Insofern zeigen diese Re-Flexionen des Prekären die grundlegende Nähe von Ontologie, Materialität und Ästhetik auf und schließen den thematischen Kreis, den die Aufsätze dieses Sammelbandes umreißen. An dieser Stelle möchte ich den Beiträgerinnen und Beiträgern danken, die im Dezember 2013 an der Düsseldorfer Tagung Prekäres Leben: Empörung und (Un-)Verständnis in den Medien teilgenommen und mir ihre Artikel zur Publikation anvertraut haben. Dass das Erscheinen des Buches längere Zeit in Anspruch genommen hat, ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass elf der dreiundzwanzig Beiträge zu übersetzen waren.31 Aus diesem Grunde sei den Übersetzerinnen und Übersetzern Vittoria Borsò, Maximilian Boßeler, Hans Bouchard, Daniel Fliege, Matthias Edeler, Alice Kilgariff-Vighi, Mara Nogai, Britta Köhler und Lilja Walliser gedankt. Einige von ihnen waren auch intensiv an der Manuskriptredaktion beteiligt: Gedankt sei hier besonders Britta Köhler, Hans Bouchard und Francesca Cavaliere. Für die großzügige Förderung der Tagung und der Publikationen danke ich dem Deutsch-Akademischen Austauschdienst und der Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität. Ferner gilt mein Dank dem damaligen Botschafter Italiens, S. E. Elio Menzione, welcher die Schirmherrschaft für die Veranstaltung übernahm und daher diesen Band mit einem Grußwort eröffnet. 31
Zur besseren Nachvollziehbarkeit wurden fast alle fremdsprachlichen Quellen ins Deutsche übertragen. Die Zitate im Fließtext und in den Fußnoten stammen, soweit nicht anders vermerkt, von den Übersetzern und Übersetzerinnen und sind unter Angabe der fremdsprachlichen Originalquelle im jeweiligen Literaturverzeichnis zu finden.
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Precarious Lives: a Reflection on the Ontology of the Present José Luis Villacañas Berlanga
Ever since Foucault’s The Birth of Biopolitics (Foucault 2008), the assessment and critique of what is called neoliberalism1 has been an important subject of analysis for humanities and social sciences scholars. At this stage, we know that the triumph of neoliberalism, as well as the reduction of humanity’s essential nature to that of homo economicus, may lead to the end of social sciences and humanities. Therefore, in the capacity of contextualizing, analyzing, criticizing and defeating this hegemonic form of self-consciousness scholars in this field are rising to the challenge their final fate. We must not be naive in the face of this issue: neoliberalism implies something more than a form of governance and power; it implies a form of subjectification in which the humanities and social sciences no longer have any function for self-responsibility, as everything has been reduced to the idea that it must hold an economic value. A notable consequence of Foucauldian ›care for the 1
The issue of neoliberalism has been tackled from diverse viewpoints. An approach which explicitly follows Foucault’s lines can be found in Michael A. Peters, as can be seen in chapter 4, »Foucault, Neoliberalism and the Governance of Welfare« (Peters 2001: 73ff.). The economic left has also made approaches, such as the book by Alfredo Saad-Filho and Deborah Johnston Neoliberalism: a critical reader (Saad-Filho/Johnston 2005), up to manifestations within the specifically cultural sphere, such as the book by Patricia Ventura, Neoliberal Culture: Living with American Neoliberalism (Ventura 2012). For her part, Aihwa Ong considers that neoliberalism, at its core, is »a technology of government« which seeks to rationalize »governing and self-governing in order to ›optimize‹« and in this way it is a method of sovereignty and exceptionalism, and not so much an erosion of this concept (Ong 2006: 3ff.). Of course, the great intellectuals have not been left out of this debate: Noam Chomsky in Profit over People: Neoliberalism and Global Order defines neoliberalism »not only as an economic system, but as a political and cultural system as well« (Chomsky 1999: 9), or David Harvey, A Brief History of Neoliberalism, which at the time already made a reference to »Neoliberalism with ›Chinese Characteristics‹« (Harvey 2005: 120ff.). The collection led by Susan Braedley and Meg Luxton, Neoliberalism and Everyday Life (Braedley/Luxton 2010), contains interesting pieces such as the one by Meg Luxton, »Doing Neoliberalism: Perverse Individualism in Personal Life« (Luxton 2010: 163-184). In the Francophone world, Laval and Dardot (2009; 2014) have also written on the subject.
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self‹ as a tool for struggle against this form of hegemonic governance resides in the notion that this struggle implies an understanding of the University as a form of alternative subjectification which does not lead to individualism as an ideology. In the following essay, I will investigate this basic intuition and use it to define the status of this present which is characterized by ›precarious lives‹. I obviously do not wish to ignore the extensive literature about this concept, which has been carefully examined at length in social sciences.2 However, here I wish to propose a conceptual approach, which seems to me to be essential and to do so we must first make some preliminary observations and clarifications. 2
The most representative example is the book by the economist Guy Standing, The Precariat. The New Dangerous Class (Standing 2011), which defines the »precariat« as »a class-for-itself«, against the »salariat« with an inclination to imitate the old rhetoric of the proletariat. Standing considers the new class as the bearer of »the agency of a politics of Paradise« (Standing 2011: 3). This class has its own agenda in the form of a political utopia, a »Good Society«. To do so, the class has to stop listening to »populist politicians and neo-fascist messages« (Standing 2011: 25). These can seduce the class and prevent it from becoming a class-in-itself (cf. Standing 2011: 152). This seduction is where the »precariat« could turn into the starting point for politics from hell (cf. Standing 2011: 154). Standing tends to see the precariat as the millions of humans »around the world without an anchor of stability« (Standing 2011: 1). Immigrants thus are the core of this class, making it analogous with the image of »primitive rebels« (Standing 2011: 3). As phenomenon derived from globalization, the »precariat« is a worldwide or global class. However, there is evidence that allows us to distinguish between the »precariat« and immigrants, given that the spatial instability is not the principal feature of precarious lives. In a certain way, Standing easily dismisses the relationship between »precariat« and the One Dimensional Man (Marcuse 1964). I believe that the greatest weakness of Standing’s book is that he does not analyse neoliberalism’s structure at any time. Thus he falls into a noticeable myopia: he invokes the new class’ emancipatory potential without analysing the power structure and domination device underpinning the structure. More recently and more critical is the collective work Precariat: Labour, Work and Politics (Johnson 2015), where a series of debates and responses reviews all the main questions concerning this concept. The work has a clear tendency to connect it to the concept of the masses, the place where we should see the specific cases of the precariat’s emancipatory potential. In this sense, Angela Wigger’s work has responded to Standing’s idea that the »precariat« has contributed to the emergence of the Tea Party (cf. Wigger/Buch-Hansen 2011). In any case, these studies continue to be anchored to an excessively spatial sense of precariousness, employing the metaphor of the lack of squares, places, localities, et cetera. In reality, his new definition of »precariat« no longer makes reference to spatial relations but rather, positively, to »a combination of distinctive relations of production, distinctive relations of distribution and distinctive relations to the state« (Standing 2013: 547). Thus, the point is not only insecurity in the workplace but also the »absence of occupational identity, the inability to define and retain control over an occupational narrative or trajectory« (Standing 2013: 548). But above all he highlights the new status of »denizens« compared to that of »citizens«. In his book A Precariat Charter: From Denizens to Citizens, Standing (2014) proposes an entire, clearly republican, program to mediate between neoliberalism and classical labourism.
Precarious Lives: a Reflection on the Ontology of the Present
First, I will point out that it is necessary to introduce the problem of precarious lives into the most basic context of temporality. For this purpose, I will identify a fundamental aspect of the constitution of time and its relevance for the constitution of subjectivity. I will defend the need to make the metaphor of time more important and more general than the spatial metaphor. The time metaphor can illustrate that the precariousness of life can also affect all those who are well situated in space. It is remarkable that Standing begins his statement by alluding to the fact that his concept depends on the neoliberal context (cf. Standing 2013). He believes that the ›profician‹ establishment, the corporate workers, will best bear this type of government since they continue to receive more benefits than wages and thus are more implicated in neoliberal goals, thereby having less need for the State. In the first section, I will contend that this minimized temporality takes place through a reduction of intentionality, an expansion in latency and an elimination of the legitimacy of the options within the context of today’s expert capitalism. Legitimacy is the reflective motion through which societies confront their own contingency and is thus the self-awareness of their modality. Without legitimacy, there is no modality and without modality there is nothing other than reduced temporality. In the second chapter, I note that humanities and social sciences cannot give up on this field of modality as a lost cause. In response to that, I will approach the specific nature of the living environment offered by capitalism. In chapter four, I will concentrate on using contemporary scholarly discussion with the objective of neoliberalism, as it is only from this basis that we can arrive at an adequate concept of precarious lives.
Original Temporality and Latency First of all we must distinguish between neoliberalism, capitalism and globalization. We could even say that this differentiation is necessary in the sense that it is a gesture which has now become a form of protest. As is natural, exercising the will to distinguish, whether or not with these abstract distinctions, certainly implies a conceptual task. Distinguishing aims to introduce a wedge to break down the indistinct character of the present as an imposing and compact piece, this wedge is the basic premise to neutralise its totalitarian intentions. Compactness, as Miguel Abensour has shown, forms the architecture of totalitarianism. It has a tendency toward erecting imposing forms that blind with their evident presence (cf. Abensour 2013).3 However, unlike the city that dreamed to host Hitlerʼs parades below Speerʼs halls, the model that inspires Abensour under discussion here is conceptual compactness. This is the pure, stripped-down articulation of the present ›as it is‹, a 3
For a reflection on the work of Abensour, cf. Villacañas/Pinilla Cañadas (2015).
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block without fissures. It is the specific form of building the totality of the present. This is not even about presenting reality as a necessity; rather it is the reduction of all modality to stripped-down facticity, considered as an impregnable continuum, something which is beyond the realm of possibility, necessity, existence or latency. Distinguishing is the first activity of a person who does not wish to be blinded by this compactness. Through Kant, we have come to know what this operation involves. To distinguish is to judge, to differentiate; it is therefore necessary to create distances. We know that the Kantian categories of modality are specific to reflection. The imposing affirmation of the facticity as the sole relationship with that which exists, implies overwhelming intelligence within the framework of a vague and elusive, asphyxiating and authoritarian, being. On the contrary, we know that reflection cannot open a path without the creation of distances. This is where social sciences and humanities play their role as they are the only mediums that remain for us to create the pathos of distance. In turn, these sciences, due to their inevitable comparative methodology, are the only institutional devices to introduce distinctions of modality (possible, necessary, real, latent) and thus are able to rupture the absolutism of reality. Subjectivity is only possible where there is modality. Wherever only facticity emerges, everything is reduced to the pure present of that which is, regardless of whether this reveals continual differences. Only reflective distance creates modality. Social sciences and humanities, which have inherited complex, anthropologically-rooted capacities, have always had these functions, breaking down that which is presented as absolute. In this sense we can state clearly: without modality, the term ›precarious lives‹ makes no sense. It could not even be proposed. Precariousness is thus a mode, without modality the conditions to articulate this term do not exist. As I have previously demonstrated (cf. Villacañas 2012a), echoing the reflections by Gumbrecht on the Broad Present (Gumbrecht 2014), forms of modality, as reflective operations, have entered into crisis due to the consequences of the acceleration of time as analysed by Koselleck (cf. Koselleck 2000). However, contrary to what Koselleck’s analysis could imply, the consequence of the acceleration of time contains the other side of what Gumbrecht calls the »broad present« (Gumbrecht 2014), whose phenomenology consists of the past continually bursting into the present, without having stopped being the past and the present. Rather it installs itself comfortably in the intransitive communication of acceleration, which thus devours all the differences, thereby minimizing them until making them compatible with this broad present. I have claimed that this experience constitutes a return to the original temporality which was highlighted by Eugen Fink in his works on Husserl (cf. Bruzina 2004). This form of original temporality safeguards the structure of intentionality and endows it a meaning for the now-time. However, its specific form does not
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require the latent dimensions of retention and protension to be activated, given that the significant now-time no longer includes any transcendental significance. The significance of the now-time is full, it exhausts itself in its minimum sense, hosts retentions and protensions, but only in the sense in which its minimalism is easily incorporated into an accelerated and intransitive chain in its entirety – only as long as it is never questioned. This does not give rise to creating memories and expectations, in this sense, it does not generate identity or history. It is obvious that we are describing the temporality of consumption. Consumption does not question its meaning, its context, origin or offer, and therefore whoever consumes has no reason to activate the latencies, which provide its signifying framework. There is no reason to transform the latencies of retention and protension into memory and expectation and no sense in creating what we would call in Koselleck’s terms Erfahrung. Blumenberg said that the supply of new products for consumption does not need legitimacy outside its own presence. This lack of legitimacy, this immediate use, is what we link to the experience of freedom that Foucault speaks of. In these conditions, by dominating precisely the now-time, it dominates above all the modality of the present – it requires latency to remain latent enclosed in its obscurity. The activation of reflection, which transforms latency into experience, with its memory and expectations, has no place. From a phenomenological point of view, this is called the broad present, since everything can return; from the experiential perspective, however, this may take the form of acceleration. The dominion of this imposing mass of latency, which only fulfils the minimum function of the significance of now, constitutes the fundamental elective affinity between this form of conscience adapted to consumption and the infantilization of life. As we have known since Freud, from the moment the Oedipus complex begins until puberty, humans undergo a powerful latency phase. This in turn determines a naive opening to the present, and a devouring curiosity. In a certain way, this allows human infants to forget themselves and to grasp for objects carefree, without affecting the pleasure principle. The ontology of the present likewise speaks to us about an equally devouring and carefree curiosity, this curiosity cannot focus on anything, limiting the capacity for self-identification and thus to an infantilization of life without a constructive identity horizon. Perhaps this is the structure of temporality that we will call ›precarious lives‹.
Capitalism, Lifeworld and Nature As Hans Blumenberg has shown us, that which we call the ›lifeworld‹ is a concept whose ontological form is built in such a way that it is intentionality related outside of all modality (cf. Blumenberg 2010). As such, consumption in a broad sense implies participation in the intransitive communication inherent to information. No
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intentionality is an end in itself, but rather its meaning depends on being inside the communications process. Ultimately, this allows us to speak about how human beings enjoy a specific lifeworld that we can call capitalism. As such, it tends towards proliferation of that which we take for granted, of the latency among so much latency, of intentionality which needs no reflection, of that which contains nothing problematic. No one is required to reflect on capitalism in order to consume – we only need to enter the communicative circuit of intentionality called advertising, its legitimacy is not at risk. It is important to begin by discussing conceptual distance. Capitalism is our lifeworld and for a long time, the lifeworld notion required successful adaptation and was inseparable from the dominion of nature. We can say however that the lifeworld which is created through capitalism is peculiar: it is a lifeworld, but not the lifeworld. Thus, capitalism, far from being the medium of adapting to nature, now constitutes nature for us. We know today that capitalism is the nature of a specific stage of the human era, the one we call the Anthropocene. Social sciences and humanities, which allow us to characterize the eras, cannot exist without organizing a more complex time than the one we expressed in the first chapter. They record the broadest arc of memory and remembrance, the broadest program of comparison, in the sense that they seek to establish the difference between the previous geological eras and the present in order to show how human action, projected onto the dawn of capitalism, has transformed the nature of the Earth. In this way, the Anthropocene category has potential; it can show that we no longer have the possibility to tackle the topic of natural sciences without a specific time frame and thus, by transforming the notion of nature, the distances between natural sciences and social sciences and humanities become shorter. This impossibility of considering the Earth outside of human action as ordered by the production of capital characterizes the Anthropocene. This allows us to intensely characterize the present as we have done: capitalism is our nature. Our adaptation to this nature makes up a lifeworld. This means that a body of evidence and our preconceptions are not questioned; they are not submitted to the test of legitimacy. As nature, capitalism is the provider and also a catastrophic nature force. As such, the notion of adaptation has meaning and therefore, as in all lifeworlds, we cannot survive in the capitalist lifeworld without beginning to endow ourselves with reflection as the absolutism of reality becomes evident in its catastrophic dimension. In effect, capitalism, as nature, gives and takes away. However just as we are surprised by the catastrophes created from the mass of ignorance about the millions of factors involved in the facticity of natural causes, we are also surprised by the crises of capitalism, for which at the core we essentially only have one answer: Ignoramus et ignorabimus. We call this communicative catastrophe, which follows the existential catastrophe of capitalist facticity in ›crisis‹. As such, it shows us the fragility of the lifeworld that capitalist expertise can aspire to build. However, there
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is a peculiar aspect of the catastrophe, concerning the lifeworld where it occurs: its basic suppositions and those of the nature that forms it are not questioned. In reality, this is less surprising than it might seem at first glance. Nothing of that stability in a lifeworld has been forgotten. The production of the lifeworld through images, magic, myths, religions, expertise, accumulates in the human past. These are latent as experiences and can be ›activated‹ at any moment, depending on the pressure of the absolutism of reality. The reason for this is that no lifeworld is completely stable and, as such, no lifeworld is related with another in terms of absolute progress. Furthermore, no lifeworld is ever abandoned completely, especially before another device can generate a stabilized alternative world. The consequence is that the strata of time march to the beat of the stabilized lifeworlds. As long as there is no alternative lifeworld available, the old one will maintain many of its suppositions unchallenged. Concerning capitalism, one does not need to resort to Schumpeter to remember that it is not threatened by its crises (cf. MacCraw 2007). Capitalism, as nature, is endowed with its own immunity from the lifeworld’s tenacity. Instead, it is fed from the fruits of its catastrophes, which in turn are its own most intense evolutionary hurdles. Just as volcanoes destroy the fields and enrich the soils where vines and pistachios grow, the critical capitalist eruption prepares the terrain for a new accumulation and for its stabilization.
Neoliberalism Capitalism in the Anthropocene era is, by necessity, globalization. As such, it affects the entire Earth, not only because the communicative process, which we have entered into, has a global nature, but rather because the physical process of producing capital affects the entirety of the Earth’s material, both the dead and living organic matter. Thus it determines not only the lifeworld for humans but also the lifeworld for all the other species and life forms on Earth. As Heidegger would recognize, in accordance with Weber, the entirety of the Earth’s material content is already submitted to the productive calculus of capital, from the surface waters to the polar icecaps (cf. Heidegger 2000: 15f.) – there can be no doubt that capitalism is global. It is this way because we have entered into the Anthropocene era, into the synthesis of capitalism and nature. However, our relationship with capitalism is, like our relationship with nature, complex. As consumers we behave according to the circulation of goods ‒ reduced now almost to equal communicative circulation ‒ as with a nature taken completely for granted, whose representation we can maintain in a state of latency, without reflecting or building any experience upon it. Capitalism’s expertise is in charge of eliminating our expectations in the sense that supply dominates over demand. However, in the sense that capitalism is shown to us as catastrophic in nature, impregnated with crises, curiously we do
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not reflexively doubt all the previous perfect preconceptions. We are not capable of activating the complexity of modality’s gaze. In effect, we do not consider capitalism ‒ as certainly we have considered nature since humans first developed technology ‒ in the category of need in such a way that if we could control it within its laws and its possible conditions, we would be able to control its crises. Thus, we could contemplate the field of necessity as the basis of possibility and effectiveness. Once we could establish the difference of this modality, the lifeworld would enter into crisis from its foundations. The question of legitimacy would re-enter the conversation and the consequence would be the need for another adjustment, which would then be pierced by the pathos of distance. However, whatever its facilitating dimension is, regardless of its catastrophic dimension, it seems that we do not introduce modality into the sphere of capitalism. This continues to be our opaque lifeworld, an object that seems completely opaque to theory, full of preconceptions and suppositions that all aspire toward ›naturalization‹. With it we reach the verification of Foucault’s theses concerning the ideal representation of capitalism: that capitalism becomes natural, a sort of naturalization of human action. Anthropology, from Plessner’s homo sconditus (cf. Plessner 1976)4 to Gehlen’s human being without instincts (cf. Gehlen 1993) to Blumenberg, does not contradict this statement – although anthropology doesn’t support it either. Humans do not have a nature, as all Post-Nietzscheans have said,5 we only have history. But in reality, all human aspiration through the eternal return was to be able to say something else. As humans do not have a nature, one is manufactured. This manufactured nature is capitalism. However, since Husserl we have known that lifeworld is a category that is only truly forged for its abandonment, so that the original foundation of the theory arises from its crisis (cf. Blumenberg 2008: chapter I). Yet, the crisis in which capitalism manifests itself is the opposite of all theories, this is where its dimension as a communicative catastrophe comes from. If the crisis of the lifeworld allows for the emergence of a modality that distinguishes between that which subsists as necessary, compared with that which disappeared as possible, then we do not have these capacities with the crises of capitalism – we can only insist on that which is taken for granted. Just when the original lifeworld wins out, humans have a horizon, a difference between necessity and possibility. Only in this mundane structure of modality is subjectivity conceded a role linked with possibilities: a practical role. In the crisis of capitalism, on the contrary, all the autonomic recidivism seems to be activated, which reduces human action and its possibilities to impotence. The fatalism of facticity is the imposition of that taken for granted, of that which cannot be conceived in another manner. 4 5
Cf. Habermas’ review of his works in Perfiles filosóficos politicos (1986). Important among them is Ortega y Gasset (1942).
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Now we must ask ourselves what is it that occurs so that the crisis of the lifeworld of capitalism does not initiate reflection, does not distinguish between necessity and possibility, does not generate a world, and does not allow for practical subjectivity as the facilitator of indeterminacies. What is it that determines that we remain attached to the capitalist lifeworld as a set of preconceptions that demonstrates its efficacy and its compact enforceability? This is specifically its representation as the nature of things: the fact that it encompasses the validity of nature. When the old adaptation to the original lifeworld was broken, humans were able to make adjustments that consisted of telling stories, creating myths and personifying nature. We are now at the end of the process, human action has been transfigured into nature. The type of temporality and subjectivity that requires adaptation based on latency is incapable of memory and expectation. There is no human history to tell. Since Weber’s theory (cf. Weber 2006), nobody today knows how to articulate a history concerning the new naturalized capitalism. In the current crisis, no one can formulate a history of human action – everything appears as a natural process. The experts who have uselessly observed the crisis’ huge mathematical figures – those who handle big data – are physicists or mathematicians. There is no narrative myth into which we can include the emergence of our now autonomised nature. In reality, the old attempt to narrate a history of capitalism (as Marx did) had to start from initial accumulation, something similar to the original foundation which allowed Husserl to enunciate the history of theory (cf. Husserl 1950: 142). Now, starting from the new Anthropocene era, the only origin that substitutes capitalist accumulation is the anthropological emergence of the revolution inside the life of the Earth. As such, neoliberalism is the mental and ideological construct that perfectly adapts human subjectivity to this epochal understanding and aspires to close the lifeworld of capitalist expertise and to stabilize it as nature: neoliberalism considers the capitalist device as natural. It denies that there is something different apart from an effective compact mass. It rejects any reflection that allows modality to be introduced into our relationship and, as though it were diagnosing the manner of adaptation to capitalism as part of our biological adaptation, it proposes homo economicus as the only type of human being which is fully adapted to life in the Anthropocene. In this way, it prepares us for its crises by closing the reflective force concerning the production of modality and the emergence of forms of affirming subjectivity, whether beneath the mythical form or beneath the form of theory. To do so, neoliberalism only needs to propose homo economicus as an absolute. This means that now only economic prowess distinguishes the success of adaptation, whereas before it was biological prowess that distinguished those who survived from those who perished. In this way, the failure to adapt implies the appeal to a fatal and natural destination without remission. In both cases human beings disappear, engulfed by abrasive forces. This completes the reduction of biopolitics to econo-politics, given that the notion of life is here overtaken and fully deter-
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mined by the collection devices created by econo-politics. Human beings are converted into cyborgs, better adapted to suffering a permanent stabilized crisis as nature. The individual who adapts best is no longer selected by biological prowess but rather by the best homo economicus.
Precarious Lives With this we have once again engaged that which we appeared to have left behind in the lifeworld pervaded by culture: Darwinism. In this way, success and failure without remission are introduced into our natural world. This type of success and failure occurring in econo-politics is what we call ›precarious lives‹. We must do away with the misunderstanding that precarious lives concern the lives who fail in the realm of econo-politics – this is not the case. Precarious lives are lives fully adapted to econo-politics, to the representation of capitalism as nature, to the mental horizons of neoliberalism, regardless of whether or not they have a high level of adaptation. They are precarious not because the lifeworld of capitalism and consumption leaves them on the periphery as incapable organisms, but rather because they do not have an alternative modality when faced with the imposing facticity of econo-politics. Precariousness does not have to do with failure or success, but rather with the reduction of all reflection allowing us to create distances from the capitalist nature. They are precarious – just like the lives that faced nature without the mediation of distance, reflection, elaboration and refuge. This is where the need to eliminate all cultural tools and all forms of consolation and compensation arises. They are precarious lives because they are lives situated at the starting point of the cultural evolution without having an opening to begin the cultural evolution. As such, the lifeworld which neoliberalism forges has its own defenses against being overthrown. While Husserl called the intentional attitudes of the lifeworld prepropositional, the production of a lifeworld so stabilized that its failures are seen as part of its nature condemns us to remain in these intentional attitudes (cf. Cairns 2013: 7). The implicit function of ›yes‹ and ›no‹ cannot emerge in theoretical propositions endowed with the truth. The precariousness of life has to do with the regression of the ›yeses‹ and ›nos‹ which only have success and failure as the intentional element, both equally poor in their brutality. This implies the erosion and destruction of subjectivity both in its capacity for self-affirmation and the cultural response to failure and success. One of the critics of Standing’s book tells us that on a trip through Wales giving conferences for the Labour party, he spoke with a man who was an example of a precarious life and he told the man of the book’s theory (cf. Standing 2013). The critic claimed that the fact that this man did not buy Standing’s theory was a criticism of the theory, Standing countered the critic with the anec-
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dote that thousands of emails and letters identified with his book. The two things, criticism and affirmation, are trivial, the position of the singular psychic apparatus before the world is indifferent concerning whether the econo-political process is something external and natural. Neoliberalism disseminates its evidence in spite of resistance by the psychic apparatus because it is something more than ideology and something more than domination: it has in its favour the proof of an automatized and irreversible capitalism. As such, it is important to state that neoliberalism is not a theory of capitalism – such a thing does not exist. Instead, Neoliberalism is a policy of subjectification. It seeks to destroy the notion of the subject, to eliminate the idea that any singular psychic apparatus encompasses a possibility of self-affirmation related with a possible modality and that its fulfilment can be turned into action. We can say that neoliberalism offers the framework for capitalist representation that favours this possibility in the sense that it uses the proof of capitalism as nature to form a subjectivity fully adapted to it. This theory of subjectivity is what we call the precarious life. Its features are not only described by the lack of modality, they are not only described this way because the lifeworld with its evidence is reduced to success or failure, but rather to a success and a failure that cannot be narrated or recounted as history. It has to do with the lack of distancing tools available to reach modality. We cannot separate from a sense of natural fatalism imposed by the compactness of an efficiency that leaves no remnants to create a horizon, a temporality, a distance from human activities. This is what we are going to investigate now.
Terror We must delve a bit deeper into the mechanisms through which neoliberalism destroys the source of subjectification and, with it, all active dimensions of human beings. Only this way we will see how the modality encompassed in the notion of precariousness becomes concrete. Upon theorizing, we provide an alternative to neoliberalism, regardless of whether there is one to capitalism. For this purpose it is not enough to recall what Weber and Polanyi already knew: the evolution of capitalism as automatism and as a natural machine (cf. Polanyi 2001), something Luhmann later elevated to the basis of his entire social ontology of systems (cf. Luhmann 1994: 43ff.), under the supposition that there were no longer any humans. As such, we must not forget that the concentration of the autopoietic power in the system and its subsystems was another way of extracting practical capacity from humans, as they were reduced to mere transmitters of information, perhaps something like observers on watch at the metaphorical border of the different subsystems. We must remember that this information always brings the news that the possibilities of the system reflect the impotence of human beings. In a certain way,
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the mechanism through which the lifeworld’s crisis provides no space for reflection capable of producing mythical or theoretical distances, was recorded by the founder of practical philosophy. This possibility of subjectification has always been deeply rooted in Aristotle’s thought. In fact, Aristotle indicated in Rhetoric (1383a, 14) that fear makes men deliberate, but he said something else that is usually forgotten: »Fear (phóbos) makes men deliberate (boluteutikoús), but no one deliberates about things that are hopeless (anelpíston)« (Aristotle 1967: 207). Capitalism and its crises produce fear, but neoliberalism produces despair – specific to the temporality of precarious lives. Its function is in proposing that all be subjected to econo-politics, all who participate in the precarious life barely have a choice as adaptation/lack of adaptation leaves no room for other options. There has been no better way to state clearly how human beings have been shipwrecked within neoliberal consideration than the idea that nobody deliberates or reflects on despair. In the midst of communications circulation, reflecting makes just as much sense as bracing during the moments of a shipwreck on the high seas. The difference is that this shipwreck has no spectator, the creation of distance by the social sciences and humanities has already produced an islet, raft, log or buoy from which those who only have fear can deliberate. This is so because the directors of capitalism are entrenched in neoliberalism. But then the fear of capitalism reaches a level to prevent deliberation and falls into despair, the relationship of human beings with the adaptation to the capitalist Anthropocene era proposed by neoliberalism can be best characterized, instead, as terror. In short, at the start of the second part On the Sublime and Beautiful, when Burke tackles the passions caused by the sublime, in his section dedicated to the Terror, the author states: »no passion so effectually robs the mind of all its powers of acting and reasoning as fear« (Burke 1839: 98). ›Fear‹ here is not only the Aristotelian phóbos, but also that terror produced by despair, which, as we have seen, robs us of the capacity to deliberate and act. We must remember that Burke defined terror as the principle that governs the sublime »either more openly or latently«, he also added that »to make any thing very terrible, obscurity seems in general to be necessary« (Burke 1839: 99). This is where the change from fear to terror takes place, when we do not know the complete extent of a danger or when we no longer create the distance necessary to perceive it, and as long as we do not have clear ideas, terror is the more probable passion than fear. At the end of his considerations, Burke proposes expanding the argument, which is still pertinent today: »Those despotic governments, which are founded on the passion of men, and principally upon the passion of fear, keep their chief as much as may be from the public eye« (Burke 1839: 100). We know the name of current despotic governments that hide from the eyes of mankind: governance. And we know that they are protected by the anonymity of the markets, rating agencies, the opaque circulation of capital and other machinery of obfuscation. As such, in the course of an enlightening thought process,
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Burke was able to show that, together with the ideas that produce terror, danger and other impressions that create a similar effect through mechanical causes, he knew »of nothing sublime, which is not some modification of power« (Burke 1839: 104). Thus, Burke linked power and terror, thereby expanding upon the Aristotelian topic of the paralysis of reflection. There is a power that inspires fear, because it is visible; yet there is a power that inspires terror, because it is invisible. We must remember that this is the original feeling when faced with the absolutism of reality. We are no longer in Hobbes’ argument that the power, which produces more fear than any other, is visible (cf. Hobbes 1968: 353f.); we are faced with a power which due to its invisibility, like the numinous power, produces terror. Neoliberalism not only turns capitalism into nature, it also makes capitalism numinous. Thus, the final representation of capitalism is one of capitalism as religion, as we are speaking of the most archaic religion, that which the precarious lives are once again facing. Neoliberalism is the self-presentation of capitalism as nature, led by an invisible power in all its stripped-down capacity to produce terror. Given that we are faced with a global condition, and given that this nature reaches everything human, this terror may be conscious or not, but it constitutes the ontology of the present, not the living of the present. There is no difference if experiencing this terror leads to paralysis or passivity, fatality and life as inert; or, if by contrast, it is the smiling euphoria of fortune. As long as we are faced with an absolutism of reality as domination, we will lead precarious lives. As far as this ontology is concerned, through the Anthropocene, to the dimensions of the Earth, precarious lives are those whose condition of ecological possibility is questionable and threatened. Believing that anyone can escape this deus mortalis, now converted in deus naturalis, and its capacity to produce precarious lives, is an error which pertains to the theology of choice. In reality, this deus does not know its own elect. It does not dispose of one. We must not ignore that Burke, in outlining the terror of domination, is in the end describing the Leviathan and that all his description is influenced by the Book of Job, someone whose experience is also one of a god that knows no elect. This is the representation of capitalism that neoliberalism seeks to promote. The future it outlines follows two groups of humans: one of the servants accelerated by this invisible automatism and one group trampled by this mechanism. However, the life of the neoliberalism’s actors is not any less precarious than the life of its victims. We do not need to wonder if power, by the mere fact of having it, eliminates the precariousness of life for those who wield it. Instead we must remember that the anonymous and invisible power that neoliberalism seeks to promote does not recognize personal power holders and that no singular person is safe. The servant of a terrible god is no less threatened by him than those that the god has already destroyed. Regarding this terror, which leaves no apparent escape for anyone, neoliberalism imposes its lack of modality. As such, we must consider Burke’s passages and state that we are interested above all in this topic, in the mechanism
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through which the crisis does not produce modality. Now we must return to the fact that fear itself produces deliberation, but terror does not. Here terror is the extreme fear that inspires despair. The difference is that fear has a face, but terror is anonymous. Neoliberalism’s fundamental aspiration is to rigidly link the defence of global capitalism with the production of terror through the anonymity of government, lacking both face and authority. Foucault’s analyses were made prior to the complex presentation of the phenomena. Foucault was very interested in maintaining the line of ideological continuity from liberalism with neoliberalism and their common appeal to the nature of things (cf. Foucault 2008). However, if we appreciate the phenomenon in its fullness, we understand that the production of catastrophes forms part of nature. The classic Spinozian treatment of the response to catastrophes was always the combination of two emotions, fear and hope (cf. Villacañas 2012b). Neoliberalism’s specific method of dealing with capitalism’s catastrophes is the administration of terror. Neoliberalism produces fear without hope; it creates a compact, solid, desperate fear, such that life remains purely inert. That life which is entrenched in a pure inert state is the precarious life and the entirety of humanity is in this condition. Terror is how human beings face despair and what makes a situation desperate is its direct confrontation, without cultural mediations to attain distance from or devices to intervene with the absolutism of reality. The specific aspect of the absolutism of reality is not the material content of the reality, but rather its condition of absoluteness. As such, in the 14th century, terror was inspired by the specific form in which theology presented the divine absolutism, the specific form of modernity’s evolution resides in the accelerated evolution of the presentation of the different candidates to reoccupy the space of reality absolutism (cf. Schmitt 1996; Ottmann 2003). Thus religious absolutism inspired terror in religious wars (the religion which consoled, also killed); later the absolutism of the nation (the community which united people, also killed); then the absolutism of class (the universal class which extended brotherhood, also killed); and lastly, the absolutism of race (one single human race, distilled from superior killers and inferior victims). The Saint Bartholomew’s Day Massacre, Robespierre’s Terror, the anarchist class struggle or the Holocaust’s ›Final Solution‹ create desperate situations where the only reaction available was not deliberation, but rather the reduction of humans to pure victim and executioner. Elevating the economic sphere, understood here as the global financial market, to absolute reality generates the absolutism of reality which, combined with despair, produces terror. This consists of a basic terror in the abysmal distance between human life and homo economicus. Life is never just life, it is never zoé. Precarious life is the terrorized confirmation that the biós, no matter its form of life, has no value when faced with its horrific translation into homo economicus. This experience of a biós, a life devoid of all value compared with the absolutism of economic value, is the despair that terrorizes and it is the re-
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duction to zoé, the archaic life, or the inert life. No modality or deliberation can be produced from this experience, but rather simply a predictable negativity, which promotes the totalitarianism of insurmountable effectiveness. We must clarify: only from the absolute character of the economic sphere reduced in turn to financial domination can the null value of remaining life arise. Crushed by this facticity, human life will continue in the anonymity of natural continuity, without temporal modality and therefore without expectations or hope. The absolute value of the economic sphere, understood as the global financial market, eliminates the public dimension and is built upon faceless dominion without authority. It will leave life’s terror in the anonymity of privacy, a terror which even those who participate in this domination from their limited liability companies cannot escape as singular and psychic apparatuses. Thus, the supposition that was implicit in Aristotle’s work comes to light: this deals with the public dimension of deliberation that fear causes against the private status of despair that terror causes. Thus, we reach the relevance of the depoliticized structure created by neoliberalism. This arises from the private condition in which all who cannot present themselves as homo economicus are condemned to as a consequence of the absolutisation of this sphere. The social phenomenology of this form of life, anchored in its stripped-down inertness, has been displayed by precise social analyses (cf. Becker 1976). The most relevant aspect of this situation, the truly important aspect for an ontology of the present, is not in these rich and varied sociological analyses. In reality, the decisive aspect is in understanding that, although capitalism is not an ideology, neoliberalism itself is, in that it imposes a representation of this capitalism as inevitable, beyond any modality. The absolutism of reality is present when all our cultural mediations to distance ourselves from that which threatens us have been diluted. In our historical situation, the irruption of the absolutism of reality is only possible through the conscious and meticulous dismantling of all the cultural tools at our disposal. Neoliberalism leads to the deconstruction of these forms of interposition as its final consequences; to do so, the terrain has been well prepared by thinkers who, in the footsteps of Heidegger and Deleuze, have dedicated themselves, with a symptomatic psychic frenzy, to dismantling all that had to do with institutions, to finally catch a glimpse at the Being. Now we are paying for the decades in which we used the studies of humanities and social sciences to destroy the theoretical tools that would allow us to submit capitalism to modality. When these tools are erased, neoliberalism only has to deal the final blow and leave everyone alone so that individuals are facing a reality against which there are no longer any concepts or tools to produce the required distances. Whatever may be the singular aspiration of the thinkers who took part in this program, there is hardly any room for doubt that they delegitimize all the cultural structures that could be used in confronting the absolutism of the reality that pressures us to remain in a capitalist lifeworld where
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we cannot feel protected; being in a place where we cannot leave and where we feel fear is the condition of terror. Terror eliminates deliberation, but the loss of cultural tools eliminates experience and makes terror insurmountable. As humanity has evolved due to previous latencies from previous experience being activated in situations of stress, in the ontology of the present encompassing precarious lives, after eliminating the cultural tools, there is no latent experience to activate or any supernumerary arsenal of learning to mobilize. Thus, finally, Canetti’s analyses from the 1940s elaborated upon in Crowds and Power (Canetti 1962) become significant again: The anonymous terror that dominates individual lives is the starting point for the transformation of the masses. Now we are only interested in concluding that private terror that Spinoza had predicted, sooner or later manifests as public terror. Today this transformation of the masses has a name: populism (cf. Villacañas 2015). As such, there is a relationship between neoliberalism and populism that must be researched with detail and care.
State of Exception The most important aspect of these structures, however, from a phenomenological point of view, is that neoliberalism always believed that the despair-induced terror caused by the entry of homo economicus (thus leaving human life outside of all recognized value) would not be elevated to public terror. This has to do with the incomprehensibly false genealogy of totalitarianism created by the founding fathers of neoliberalism. Here Hayek’s myopia is unparalleled, his idea – expressed in his famous book (cf. Hayek 1944)6 ‒ consisted of assuring that only the free market (and therefore the free market for capital) was a bulwark against totalitarianism, resisting attempts of all kinds of economic planning, whether Keynesian, Marxist or Nazi. Contrary to this diagnosis, studies such as Polanyi’s7 proposed that in fact, Nazism was the dawn of the dream of the free market utopia, a dream which Keynesianism did not succumb to, thus saving Western democracies (cf. Polanyi 2001). The populisms of our present time, faced with the absolutism of the economic sphere, raise up the absolutism of the political sphere with the idea that politicization protects us from the removal of the social life in favour of the economic life. But this shield does nothing other than respond to private terror with public terror (cf. Lezra 2010) – the profound ontological structure of precarious life is thus not altered. 6
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There are many modern editions of Hayek, including one which is presented as »The Definitive Edition« from the same publishing house in 2009, which includes relevant texts and documents. This argument can be found in the book by Dale (2010).
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In the sphere of the effects of the nature of things, public terror is not linked to the possibilities of action, but rather it accompanies the private terror of neoliberalism. This explains that famous populist actors such as Donald Trump are not only unable to change a single letter of neoliberal premises, but rather they intensify them because they know that each private terror that neoliberalism produces is one more degree of power for the public terror that they represent. This aspect is important in order to start dismantling the self-presentation of neoliberalism as the mere consequence of inevitable facticity of the absolute sphere of the market economy. No sphere of human action is elevated to absolute from the nature of things. Each sphere of action is elevated to absolute by action. The fact that the economic sphere has created a natural reality (capitalism) does not imply that this natural reality is elevated by itself to the absolute sphere. The life of human beings submitted to the nature of the savannah, in the original millennia at the dawn of humankind, did not mean that only life in the savannah was valuable. On the contrary, the absolutism of a reality implies building walls, distances, protections and this is what human beings have made in culture. Therefore, the key is in producing distances with regards to the natural reality of capitalism and this implies creating culture which makes capitalism into a modality. Only this way will capitalism stop imposing itself as an absolutism of reality. However, this implies providing ourselves with political, cultural, aesthetic, and religious tools capable of producing culture and thus forging mechanisms of interposition. In short, this means eliminating neoliberalism’s attempt to destroy all cultural tools, to remove all value to other spheres of action, and to present capitalism as an absolutism of reality whose capacity to produce terror knows no consolation. This implies confronting this self-presentation that attempts to impose the conception that broad sectors of public and political life merely administer things. That is to say, in spite of having a political nature, public administration is reduced to merely handling supposedly natural laws. However, the aspects belonging solely to neoliberalism do not reside in claiming that global economic governance acts as a simple notary for the nature of things. The specific aspect of neoliberalism is that it produces public terror sooner or later. In effect, over time neoliberalism promotes transforming the idea of the State such that the public sphere is conditioned by terror, but by a terror which presents another complex nature. In effect, the category of precarious lives arises from this other type of State terror that is not specifically economic. By proposing the title of her book with these words, Precarious Life: The Powers of Mourning and Violence, Judith Butler reacted to the public effects of the terrorist attacks of September 11, 2001, and attempted to associate the precariousness to the exhibition of indiscriminate terror that converted everyone into pure victims. Precariousness had to do with the »unbearable vulnerability« (Butler 2006: XI), the result of unexpected violence, dispossession and fear. In this sense, the community of terror is the true reference of Agamben’s frame-
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work in The Coming Community (Agamben 1993). What this understanding augured as an emancipatory dimension, was the same that Butler was already able to denounce as an unprecedented extreme of oppression. Injurability and aggression, which reduce every singular life to any victim, already appeared as »two points of departure for political life« (Butler 2006: XII). She did so by returning the nationalist discourse which immediately invoked »military violence and retribution« (Butler 2006: XII). No one can become another without being turned into a victim of an absurd violence. This produces private terror that is shortly elevated to the principle of a public terror. When Butler wrote her pioneering book, these phenomena were in their infancy and she confessed, with her intellectual honesty, »to not knowing how to theorize this interdependency« (Butler 2006: XIII) between globalization, private terror and public terror, which could affect the global political community. Undoubtedly, this strong sense of theoretical impotence was decisive enough for Butler to conduct her analyses toward classic proposals of psychoanalysis, the moral life and the liberal defence of dissent. However, in the present, the phenomena have started to become clearer and only call out for the appropriate observer to identify them. I have the feeling that the very designers of the model are ever more aware of the central elements of their strategy and that they proceed with an accelerated pace toward defining the pacts of the new device for the division of powers between the economic and political spheres, pacts which leave out all the old strategies of the Weberian politics of responsibility. As always, finding this division of power is the most powerful effort to figure out the basic structure of a historical moment.8 Therefore, with this we end the ontology of the present that I propose. Here we arrive at the most peculiar aspect of our ontology of the present. The terror that capitalism produces is submerged in the private sphere, while the terror that human beings produce is elevated at the start of public life and as a central element of politics. Combined, this terror dominates our lives. In a certain way the terror of terrorism, which converts us into mere victims, is the public symbol 8
I have applied this method to the rise of Christianity and the constitution of the Church’s power. Currently I am applying the same methodology to the configuration of the imperial power of modernity, which since the arrival of Carlos V and the Reformation, radically altered the division of powers that necessarily led to the modern system. Now I apply this methodology, forged long ago in Weberian analyses, to the present, in a manner that is removed from the ontological proposals by Deleuze and Foucault, which were based on an abstract ontology of diagrams, machines and totals devices. In reality, I do not believe that Weberian analyses can lead to a description of the total societal structure. As such, we must replace this supposed total machine with a phenomenology of the division of powers that constitute a device that is always in tension and unsolvable in a unitary logic. Regardless, we must characterize the imperial regimes such as those which seek to constitute a totality through definitive regulation and closure of the division of powers; cf. Villacañas (2016a; 2016b).
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that hides that we are already the same concerning economic terror. However, its public nature is decisive to serve as a bridge so that private terror can be translated and transformed into public terror that affects everyone by occupying the nature of the State. Of course, as lives are precarious, cultural resistance against this operation will be minimal. For the rest, this public terror shall fuse with the neoliberal framework and shall not touch the naturalized autonomy of capitalism; nor shall it improve the cultural arsenals that could block these phenomena. We must therefore place this transformation of the nature of public power ‒ such as terror that responds to terror ‒ within the complex phenomena named neoliberalism, and we must recognize that they of course have the ontology of precarious lives. As it could be no other way, neoliberalism as an ontological device presents that which pertains to any device: a division of powers. While global governance specializes in administering global economic laws, under the acceptance of the principle of absolute facticity, national politics and its classic standard bearer, the State, capitalizes on the irruption of the specific terror that humans produce for humans (terrorists, refugees, immigrants, insecurities) to respond with a general public terror. With this, the absolutism of reality is answered by the absolutism of the State, one terror with another, and together they create a humanity that cannot erect temporal or spatial distances from these phenomena. As Michel Balint saw long ago, we have here the mechanism of regression. This is not merely a pathway toward any part, but rather the collapse of all the structures to produce spatial and temporal distance (cf. Balint 1972). In this way, the terror of a capitalism converted into nature remains hidden compared to terror by humans and continues to grow, protected by the terror of the State. Deliberation cannot arise from here and the crisis is nothing other than an indefinite parenthesis, a stopover between these phenomena. It is the temporal context through which they manage to reach the consistency pertaining to their ontological effects. Neoliberalism’s ideological efficacy thus remains entrenched. Therefore, from this point of view, perhaps it is appropriate to clarify Butler’s analysis. Vulnerability displays the »fundamental dependency on anonymous others« (Butler 2006: XII) and Butler rightly recalls that no one can impede this dependence. No matter how sovereignty is reinforced, the principle of vulnerability shall remain intact and no matter how anonymous this other is, it shall always be human. In this way, looking over the source of terror ignores the production of terror inherent to capitalism’s nature, to direct it only toward the bearers of action: the terrorists. Humans are presented as the source of terror; unknown, anonymous, hidden, yet human – this is the point. The terror produced by the economic administration of things remains private, and in this way, we arrive to a basic asymmetry: the private terror of the economy underpins the global dimension of financial capitalism, while the public dimension of terrorism (and the other phenomena of human induced terror) fractures the dimension of the global political community. The consequence is very
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specific: the unity of the global market, the reinforcement of the States’ borders. The device of the division of powers demands: everyone should submit to global economic governance, everyone should aid the sovereign in the fight against terror and in the reinforcement of the borders against humanity. Global dominion of the Earth by capital, but fragmentation of the Earth into walls and checkpoints, because human beings are the bearers of terror. Thus we arrive at the key of the ontology of the present: a living neoliberal world which presents no alternative because the sphere of action that could offer an alternative (politics) is organized on the principle related to terror. This dominion of terror over these two spheres of economy and politics becomes lethal, as both should compensate each other (the economy to produce risk and politics to produce solidarity) and not intensify the same principal. This intensifying convergence reveals the fundamental coherence of our present. The result of this device requires all lives found within it to be precarious lives.
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Bioökonomische Gouvernementalität und neue Formen (politischer?) Subjektivierung Laura Bazzicalupo
Die Seelen regieren Man muss die als bioökonomisch bezeichnete Gouvernementalität in all ihrer Ambivalenz betrachten: Einerseits führt das von ihr hervorgebrachte Imaginäre zu Empowerment und zur Steigerung von Kreativität, aber auch zu einer Prekarisierung des Lebens, zu Flexibilisierung, Subjektivierung und Unterwerfung. Sie hat anthropologische Auswirkungen (vgl. Bazzicalupo 2006). Die folgenden Überlegungen kreisen um das Hervorbringen von Subjektivität und um die Regierung des Lebens. Dabei gilt es zu zeigen, inwiefern traditionelle Identitätsmechanismen zunehmend geschwächt werden und eine neue Art von Subjektivität produziert wird, die sich durch Wiederholung, Variation und Assoziierung auszeichnet und somit metonymisch und imitativ ist. Grund hierfür ist, dass die auf dem ödipalen Verbot gründende Gesellschaft nunmehr an ihr Ende gelangt ist. Doch dies setzt auch ‒ wie die aktuelle Wirtschaftskrise verdeutlicht ‒ disziplinierende und selbstdisziplinierende Schuldmechanismen in Gang, die sich dem Imaginären des Empowerment entgegenstellen und die Regierungsmacht der Bewertungslogik zeigen. Die Wirtschaftskrise wird so erzählt und angegangen, dass das neoliberale Fundament, dem sie zu verdanken ist, bestätigt und verstärkt wird. Sie hat diese Ambivalenz sichtbar gemacht und dazu geführt, dass wir am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn sich die Struktur der vom Neoliberalismus gepriesenen Subjektivität auflöst. Will man verstehen, inwiefern diese depressive Falte strukturell (und somit ontologisch) ist und warum sich die Politik zunehmend Schwierigkeiten gegenübersieht, so muss man den eigentlichen Ort in den Blick nehmen, an dem sich die bioökonomische Regierung ereignet. »Die Wirtschaft ist das Mittel, das Ziel sind die Seelen«, dies verlautbarte Margaret Thatcher auf markante und wirkungsvolle Art und Weise, ebenjene Frau, die die jetzige Phase neoliberaler Gouvernementalität einläutete. Dieser synthetische Ausspruch trifft den Begriff, mit dem Foucault die neue Macht beschreibt, exakt: Gouvernementalität, Regierung der Seelen, also ein Regieren, das sich psychischer Mechanismen bedient, die von innen heraus ei-
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ne Zusammenarbeit garantieren, sodass jedwede traditionelle Form von Politik als aus ihr resultierend und daher als nachgängig verstanden werden muss. Thatchers Ausspruch bringt ebenjene grundlegende und dramatische Veränderung, die damals auf die Politik übergriff, klar auf den Punkt: die fürchterliche Verschiebung des politischen Schauplatzes vom herkömmlichen Theater der Repräsentation hinein in die Seelen der Regierten. Auch dies ist Politik und sie ist wirksam, auch wenn sie unsichtbar bleibt. Während sich das Spektakel der Politik zu einer rein entleerten Darstellung herabqualifiziert, einflusslos, was die ökonomischen Mächte betrifft, und sich auf einen Stuhltanz medialer Fetische beschränkt, der jedweder dialektischer und materieller Kämpfe entbehrt, erweist sich der Konflikt zwischen den verschiedenen Mächten – also die wahre Bühne der Politik ‒ als subtil, als sub-tilis, als etwas, das sich unter der Oberfläche ereignet. Er liegt außerhalb des Blickfelds und kann nicht fokussiert werden. Der Konflikt hat sich in das Subjekt hineinverlagert, in die Dynamiken von Unterwerfung und Subjektivierung, derer die Instrumente der traditionellen Politik nicht habhaft werden konnten und die sich heute ganz anders gestalten als bisher angenommen. Das Identitätsprofil dieser neuen Subjektivität ist nicht markiert, nicht gezeichnet von jenen nur allzu deutlichen Kontrastlinien. Es ist mobil, oft auch labil. Dieser Subjektivität fehlt ein antagonistischer Zug, ihr Aufbegehren gegen das Gesetz (Autorität, Verbot, Name des Vaters oder das hegelsche Andere), ein Kontrast, der – im uns bekannten Identitätsdispositiv, von der Erkenntnisphilosophie bis hin zur Psychoanalyse – das anthropogene Begehren und den Bildungsprozess hervorbrachte. Doch auf diese Weise funktioniert der Mechanismus heute nicht mehr und das Fehlen eines subjektivierenden Antagonismus führt unter anderem dazu, dass die politische Subjektivierung problematisch wird oder zumindest andere Wege einschlagen muss: zweifelhafte und zwielichtige. Was ist aus dem Antagonismus und der kontrastiven Subjektkonstitution geworden? Hat ihr Untergang etwas mit den verbreiteten Flexibilisierungs- und Prekarisierungsphänomenen zu tun? Um hierauf zu antworten, müssen die bioökonomische Gouvernementalität und die gewandelte Subjektivierungsdynamik miteinander in Bezug gesetzt werden. Sowohl was die Arbeit betrifft – die ja im immateriellen Kapitalismus vor allem Produktion eines Novums bedeutet und somit mit dem Subjekt selbst zusammenfällt ‒, aber auch was die Wahrheiten angeht, die das Leben regierbar machen, lässt sich beobachten, dass sich nicht so sehr die Inhalte verändern, sondern vielmehr die Art der Subjektbildung selbst. Dabei handelt es sich um ein theoretisches Problem, das der soziologische Zugang der angelsächsischen Governmentality Studies außer Acht lässt, da er eine sehr vereinfachende technisch-progressistische Antwort auf die neoliberalen Gouvernementalitätspraktiken gibt (vgl. Dean 1999; Rose 1999).
Bioökonomische Gouvernementalität und neue Formen (politischer?) Subjektivierung
Arbeit/Bedürfnisse, Arbeit/Kapital? Diese Begriffspaare haben die politische Ökonomie und die Identitäten seit Langem außer Kraft gesetzt und umgekehrt: Wie alle totalisierenden metaphysischen Kategorien beschuldigt der Dekonstruktivismus sie, die Wirklichkeit zu beugen; der neoliberale Gesellschaftswandel entleert ihren Antagonismus. In der herrschenden Vorstellung manifestiert sich das Leben als dynamis, als konkrete Motivation, die auf die eigene Befriedigung zielt. Verhalten muss also ohne metaphysische, jenseitige und letztbegründende Hypothesen analysiert werden: empirisch und indem man das materielle Movens ausmacht, nämlich das Begehren, die Suche nach Befriedigung, die jedem Lebenden innewohnt, die anarchische Wunschmaschine, mannigfaltig und singulär. Die neue Ontologie, die vor nunmehr über dreißig Jahren aufkam und sich auf das Begehren stützt, ist skeptisch gegenüber jeder Form heteronomer Regierung. In der postfordistischen Vorstellung äußert sie sich durch Individuen, die Unternehmer ihrer selbst, dynamisch und kompetitiv sind; mit dem affirmativen und produktiven Begehren konvergiert auch die deleuzesche und neospinozianische Philosophie der Differenz.1 Es ist unabdingbar, mit diesen Bildern absoluter Immanenz abzurechnen, denn wenn sie auch unterschiedlich und dennoch auffällig parallel erscheinen, so verkehren sie doch Begriffe wie Mobilität und Unbegrenztheit in Instrumente, um traditionelle und kodifizierte Formen von Denken und Politik aufzulösen. Dies geschieht bar jeden Vorurteils ebenso wie bar jedweder Nostalgie. Dabei verschleiern sie aber auch nicht das ambivalente Nebeneinander mit jener Art flexibler und aufgelöster Subjektivierung, welche die neoliberale Gouvernementalität anreizt und fördert. Die Formen des Lebens, die aus einem derart kräftigen Schub zur Bejahung von Begehren und Selbstverwirklichung hervorgehen, sind in Wirklichkeit oft zerbrechlich und verletzlich. Dabei ist nicht zu vergessen, dass dies auch eine politische Subjektivierung problematisch macht. Es strebt also etwas danach, das Begehren zu regieren, und zwar indem es das Leben unterwirft und verletzbar macht.
Die Flexibilität des Lebens in der gouvernementalen Wirtschaftslogik Im Vergleich zur disziplinären Regierung im Fordismus (vgl. Fraser 2003) verzichtet die neoliberale Gouvernementalität auf einen direkten Zugriff auf das Leben und somit auch darauf, die Menschen in folgsame Subjekte zu verwandeln. Im Gegenteil: Sie fördert die Freiheit und die Selbstregierung des Einzelnen und überträgt ihm die Verantwortung für seine Gesundheit, eine angemessene Bildung, sei1
In der Zentralität des Begehrens konvergieren paradoxerweise sowohl marginalisierende und neoliberale Theorien (von Mises, Menger, Hayek) als auch die radikale Immanenzphilosophie Deleuzes. Zur Herausforderung dieses Nebeneinanders vgl. Deleuze/Guattari (1974).
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ne Arbeit und den Erfolg im Leben. Nichtsdestotrotz handelt es sich hierbei um eine Technik des Regierens. Wie funktioniert sie? Das Leben, oder besser gesagt die anarchische und produktive Wunschmaschine, wird nicht sich selbst überlassen, sondern entdeckt, dass sie von einer ›natürlichen‹ Strategielogik reguliert wird. Vergegenwärtigt man sich noch einmal die unsichtbare Bühne des Subjekts, an dem sich verschiedene Mächte und Wahrheiten verknüpfen, so erkennt man, dass die Kontrolle des Lebens nicht mehr ex ante durch eine disziplinierende Formung des Subjekts ausgeübt wird, sondern ex post über Konsens und eine gemeinsame Strategie- und Wettbewerbslogik. Letztere wird als natürliche Logik des Lebenden selbst verstanden und trägt die Züge eines biopolitischen Darwinismus. Genau dieser vergleichende und kompetitive bíos liefert beim Subjektivierungsprozess auch das idealisierende Imaginäre, den gespenstischen Spiegel, der die Zugehörigkeit zum System fördert; dieser bíos wird über die Selbstverwirklichung und die Aktualisierung der eigenen Potentiale in Umlauf gebracht und ist mit den anderen Konkurrenten in Wettbewerbsstrategien eingebunden. Die Übernahme ebenjenes Imaginären durch das Subjekt veranlasst dieses, sich selbst zu regieren, das eigene Talent und die eigene Produktivität selbst zu managen und den eigenen Erfolg in dem des Unternehmens zu erkennen. Das Scheitern jedoch wird als eigene Unzulänglichkeit erlebt: Die Verantwortung für das Scheitern fällt auf das Subjekt selbst zurück und straft es mit Frustration und Ausschluss aus der gesellschaftlichen Kommunikation, die umso schwerer wiegt, als es sich hierbei um einen Selbstausschluss und die Geringschätzung des eigenen Ichs handelt. Bildete sich das moderne Subjekt zuvor noch in der Auseinandersetzung und im Antagonismus mit dem Gesetz oder der Autorität heraus, wobei diesen Instanzen auch die Verantwortung für ein eventuelles Scheitern zufiel, so verlagern sich diese Mechanismen nun ins Innere des Individuums. Wie misst dieses Subjekt den Erfolg seiner Strategien? Auf dem Markt. Der Markt avanciert zum Maß und zur Wahrheit der Gesellschaft (vgl. Foucault 2006). Dabei muss jedoch eines klargestellt werden: Der als Wahrheitstest verstandene Markt bedeutet nicht die allgemeine, von der Kulturkritik gewöhnlich beargwöhnte Kommerzialisierung. ›Markttest‹ bedeutet vielmehr, dass auf dem Markt der Wettbewerb und eine differenzierende Bewertung gemessen werden. Diese Bewertungslogik kennt per Definition keine Gleichheit und unterscheidet sich somit von der egalitären juridischen und politischen Gesetzeslogik. Es gibt keinen Souverän, der, um mit Foucault zu sprechen, sterben macht und leben lässt, keinen Souverän, gegen den es legitim wäre, für die eigene Freiheit zu kämpfen. In der neuen biopolitischen Formel des ›Lebenmachen und Sterbenlassens‹ bezieht sich das Lebenmachen auf die neoliberale Aufforderung, die Wunschmaschinen spontan zu aktivieren. Das System verzeichnet den Erfolg dieser Wunschmaschinen und ihre Selbstverwirklichung, wenn sie sich bei der vergleichenden und selektiven Bewertung an der Spitze positionieren. Das Sterben-
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lassen hingegen ist eher eine Begleiterscheinung des Wettbewerbs für all diejenigen, deren Scheitern auf dem Markt zu einer Marginalisierung und Beschneidung ihres Ausdrucksvermögens geführt hat. Dieses Bild ergibt sich aus den von Exklusion und existentieller Prekarität gekennzeichneten persönlichen Lebensgeschichten all derer, die vom Markt ausgeschlossen wurden, auch wenn sie eigentlich integrierbar wären. Im Hinblick auf die von den Individuen unterbreiteten Vorschläge avanciert der Markttest zu einem entscheidenden Indikator für ihren Wert und bestimmt so ihre Orientierung beim Selbstmanagement. Ich wiederhole: Über den Wert entscheidet nicht irgendein souveränes Subjekt (und auch nicht die Big Corporations), sondern die Ausgeglichenheit der Nachfrage. Sie bestimmt den Trend auf einem (psychologisch) durch Erwartungen, Gerüchte und Spekulationen verunsicherten Markt. Dem Markt fehlt es an einer zentralen Entscheidungsinstanz. Und dies verändert auch die Subjektivierungsprozesse. Die aus der Wettbewerbslogik hervorgehende Ungewissheit verstärkt eher ein ansteckendes Imitationsverhalten, als dass es zu einem entgegensetzten Verhalten führte. Da vorab nicht ausgemacht werden kann, welche menschlichen Fähigkeiten später zweckmäßig sein werden, scheint es vorteilhaft, das kreative Potential sich selbst zu überlassen; fallengelassen werden diejenigen, die die instabile Wahrheit des Marktes von Mal zu Mal ausstößt. Es ist offensichtlich, dass dies dazu führt, dass die Position und Kompetenz der Subjekte vollkommen prekär werden. Übrigens hat die aus dem Wettbewerb hervorgehende Wahrheit mit der spontanen Harmonie und der ›unsichtbaren Hand‹ von Adam Smith nichts gemein. Es handelt sich einzig um die Markttendenz. In ihr konkurrieren und kreuzen sich individuelle Entscheidungen, aber auch die Auswirkungen institutioneller Macht; in ihr treffen zufällige und eigentümliche Intentionen und Handlungen aufeinander ebenso wie kollektive Reaktionen auf Ereignisse, die nicht zwingend wirtschaftlicher Natur sind. Es gibt keine objektiven und messbaren Parameter, so wie dies vielleicht noch beim materiellen Markt möglich war. Vielmehr handelt es sich um ein Spiel mit der Resonanz zwischen verschiedenen Vektoren und Botschaften, die zwischen Forderungen und Erwartungen ein labiles Gleichgewicht findet. Dieses ist ebenso instabil wie die Entwicklung der Märkte und die Meinungswerte in den Umfragen. Der Preis für all dies ist die geißelnde Instabilität des Arbeitsmarkts.2 Das Ziel eines jeden Akteurs – sei es der Einzelne, ein Unternehmen oder eine Institution – ist, sich strategisch in diese Mechanismen zu integrieren, um jedes Mal den höchsten Kredit, aber auch die maximale Glaubwürdigkeit zu erzielen. Die Gouvernementalität leitet nicht, noch diszipliniert sie das Verhalten. Sie vermittelt keine Inhalte, die schnell überflüssig werden könnten, 2
Lazzarato (2008) moniert, dass man von der politischen Ökonomie bis hin zu Marx selbst das wichtigste Produktionselement ignoriert habe: das Schaffen eines Novums, das Entstehen neuer Verbindungen und neuer Mittel.
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sondern zielt auf eine psychologische Flexibilisierung ab, auf Anpassungsfähigkeit, auf die Fähigkeit des Verlernens und auf Angleichung an äußere Umstände.
Kreativität durch Variation und wie man sie regiert Die neue Technik zur Regierung des Lebens fördert also eine Ontologie der Flexibilität, die die Menschen frei/begehrend lässt, sie aber auch einer dem Leben inhärenten Regel unterwirft, einem Wettbewerbs- und Strategieprinzip, das das Selbstmanagement leitet. Dieses Prinzip ist keine Substanz, sondern eine Logik, eine Modalität, und als solche ist sie ebenso unbestimmt und unbegrenzt wie auch der Gegenstand, auf den sie angewendet wird. Sie umfasst alles und jeden – jedweden Wunsch, jedes Gefühl, alles Lebende – und all dies muss ihr unterworfen werden (vgl. Cruikshank 1996). Zu beachten ist hierbei, dass Inklusionsfähigkeit und Unbestimmtheit, die, ganz anders als alte Identitätsformen, ja nicht programmatisch Formen des Lebens ausschließen, den Untergang der lacanschen Durchstreichung des Transzendenten darstellen. Es gibt keine Grenze, das heißt keine Bestimmung oder Schließung, so wie es weder ein Gesetz noch ein Verbot gibt: Auf diese Art entleert sich die Darstellung des Subjekts, das an die Dynamik der Negation und des Überschreitens (des Sich-über-die-Grenzen-Hinwegsetzens) gebunden war. Die pluralen Singularitäten – singulier pluriel, wie Nancy sagt –, die sich aufgrund von Wettbewerb und eines imitativen Nebeneinanders unmittelbar auf gesellschaftlicher Ebene äußern, sind insbesondere durch fehlende Identitätsgrenzen und durch eine spezifische Art der Individualisierung gekennzeichnet, wobei sich die Letztere nicht anhand von Gegensätzen, sondern horizontal durch Differenzierung und Variation ereignet.3 Was kennzeichnet also diese Variation, damit man noch von einem Subjekt sprechen kann? Da es ja kein vorgängig gegebenes Subjekt gibt, sondern die Tendenz zur optimalen Aktualisierung der virtuellen Fähigkeiten, löst die Produktion eines Novums ebenjene differenzierende Abweichung aus (die mit dem Subjekt zusammenfällt) und geht so über eine einfache Wiederholung hinaus (vgl. Lazzarato 2005). Humes Empirismus und Pragmatismus bieten begriffliche Instrumente, um dieses Novum zu denken: nicht als eine einsame und geniale Erschaffung aus dem Nichts heraus, sondern als Produktion von Differenzen und Variationen, als Anpassungsvermögen, als Modifikation sich wiederholender Assoziationen und – wie die Welt der Wissenschaft belegt – als Kombination von Kräften, als dynamische Kooperationsfähigkeit zwischen Einzelnen und Gruppen. Innerhalb dieser spontanen Koproduktion des Novums selektiert die Marktwirtschaft das Element, 3
Der wichtigste philosophische Bezug bleibt Deleuze (1992).
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welches später beim Konsumenten auf Zuspruch stoßen und standardisiert reproduziert wird. Unterdessen bringt die Anpassung vonseiten der kreativen Subjekte innovative Variationen hervor, um die wiederum statistisch veränderlichen Auswahlkriterien zu bedienen. Wenn der kapitalistische Wertschöpfungsprozess einerseits a posteriori auf die Kreativität der Wunschmaschine und des general intellect einwirkt, indem er Produkte auswählt, die einer statistisch vorhersehbaren (Ziel-)Gruppe gefallen werden, und wenn er andererseits den gesellschaftlichen Zuspruch zu diesen Produkten nicht nur annimmt, sondern bestrebt ist, ihn zu organisieren, dann wird klar, dass er ihn regiert. Gerade dieser Art des Managements fällt eine höchst strategische Rolle zu. Ich überlagere bewusst das Vokabular des postfordistischen Kapitalismus mit dem der Differenzphilosophie (Erschaffung, Wunschmaschine, Produktion und Reproduktion), da letztere die aktuelle ontologische Veränderung zu beschreiben vermag, auch wenn sie deren freiheitliche Dimension zu sehr betont. Wunsch und Glauben sind die Kräfte, in denen Dynamiken wie Tausch und Kooperation frei zirkulieren. Im Hinblick darauf fungiert die gouvernementale Vernunft als Relais; sie ähnelt Luhmanns Verständnis der organisatorisch-selektiven Rolle der Macht. Sie filtert die kreativen Ströme: Sie wiederholt sie, ahmt sie nach oder leitet sie um, sodass diese vom Kapital aufgewertet werden. Auf diese Weise misst die kapitalistische Wertschöpfung einer dem Sozialen immanenten Virtualität beziehungsweise Potenzialität ökonomischen Wert und Machteffekte zu. Durch die industrielle Reproduktion kanalisiert sie spontan und anarchisch erfundene Worte und Bilder (Medien). Das Verschwinden der repressiven Konstruktion von Subjektivität setzt Wellen von Kreativität frei, die sich horizontal per Nachahmung und Ansteckung ausbreiten und so nicht isolierte und instabile Formen der Subjektivierung hervorbringen. Allerdings werden diese Wellen der Kreativität gefiltert und organisiert, um in den wettbewerbsbasierten Wertschöpfungsprozess des Marktes einzugehen.4 Negri verherrlicht die dionysische Potenz und die Fruchtbarkeit dieses gemeinsamen Denkens (»pensiero comune«) beziehungsweise general intellect: Diese Kraft ist weder unmittelbar ökonomisch noch kann man sie sich aneignen, da sie nicht – wie Arbeit ‒ auf der Seltenheit und dem Opfer gründet, sondern, wie die Ökonomen sagen würden, rein affirmative »wachsende Erträge« ausdrückt (vgl. Hardt/Negri 2001). Die Hoffnung, diese Kraft den kapitalistischen Mechanismen entziehen zu können, um sie als Gemeingut zu nutzen, schwindet zunehmend. In der Tat stößt das Strategie- und Wettbewerbsprinzip das Novum in den Kanal der Wertschöpfung. Kreativität misst sich 4
Der aus der Variation hervorgehende Einfluss verändert nicht in der Tiefe, sondern über Imitation und Ansteckung: Esposito hat bereits das paradigmatische Wesen der Ansteckung in der Biopolitik erkannt (vgl. Esposito 2004).
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im Wettbewerb sowie im Austausch allgemeiner Gleichwertigkeit und Vergleichbarkeit. Die Variation (die ja nichts weiter ist als eine Wiederholung mit einer leichten Abänderung) verändert also grundlegend sowohl die Formen von Subjektivität als auch die Art und Weise, wie diese hervorgebracht werden: Sie setzt ihnen nichts entgegen, sie nimmt sie aber auch nicht in sich auf. Vielmehr entspricht sie einer Differenzierung, die sich auf etwas Neues, auf ein Ereignis hin öffnet, ohne dieses zu neutralisieren. Die flexiblen Anpassungspraktiken unterscheiden sich dabei sowohl von einer Fixierung auf Gegensätze als auch von Konformismus im engeren Sinne. Deleuze, aber auch Lazzarato, sehen in dieser Variationsbewegung das sich ereignende Virtuelle, den kreativen und lebendigen Übergang von der Auflösung zur Konstitution des Subjekts. Die Subjektivierung ähnelt einer Welle, einem Rhythmus, einer Falte, in der Hell und Dunkel zugleich vorhanden sind, ohne sich gegenseitig zu annullieren. Im Herzen der menschlichen Maschine scheint sich also die alles strukturierende Grenze, die alles begründende Negation, der Schlüssel der modernen (auch politischen) Subjektivierung aufgelöst zu haben. Unter dem Konvergenzdruck des postfordistischen Kapitalismus und der Immanenz des Begehrens zerfällt jedwede ontologische Grenze – beziehungsweise jedwede Territorialisierung, um mit Deleuze zu sprechen – in eine singuläre und schizophrene Mannigfaltigkeit: Statt einer Synthese handelt es sich dabei eher um eine Assoziation beziehungsweise Variation und statt einer Metapher um eine Metonymie. Die bioökonomische Gouvernementalität scheint sich also nicht in Disziplinierung zu äußern, da das ganze subjektive Bewusstsein wirkt, als sei es nach außen verlagert, in die Beziehung zwischen unabhängigen Machtinstanzen: Das System beschränkt sich darauf, die Ansteckung, die Nachahmung und Variation aus der Distanz zu organisieren. In Wirklichkeit aber ereignet sich die Regierung im Inneren: Es handelt sich um Selbstregierung. Der Konflikt – oder besser gesagt, die Herrschaft und nur selten ein Konflikt – liegt zwischen dem euphorischen Imaginären des lebenden Unternehmers seiner selbst, dem Imaginären des affirmativen und freiheitlichen Begehrens, und dem (lacanschen) Realen, dem nicht symbolisierbaren Rest, der Reibungen mit ebenjenem Bild hervorruft und nicht mit dem Konflikt zusammenfällt. Das Reale (in Bezug auf das Imaginäre, aber auch auf das Symbolische von sozialen Rollen und Identifizierungen) ist der Bruch zwischen dem ideologischen Gespenst des Humankapitals, das für die Anpassung ans System funktionell ist, und einer symptomatischen Frustration, dem Gespenst einer Niederlage im Wettbewerb, für die kein anderer mehr verantwortlich gemacht werden kann als der Einzelne selbst. Die schon verschwunden geglaubte Grenze kommt also erneut zum Vorschein: Sie ist keine ontologische Grenze, kein Übervater, sondern es handelt sich um jene selbstregulierende und unbegrenzte Modellogik, die dem Leben der Menschen die Form eines dauernden Wettbewerbs gibt und
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ihr Verhalten strategisch werden lässt. Denn – und die schwere aktuelle Krise zeigt dies – meistens verliert man, steht auf unsicherem Fuße, wird als mittelmäßig bewertet und früher oder später an den Rand gedrängt: Vor sich selbst erscheint man ungeeignet, nicht flexibel genug und absolut verletzlich.
Neue Formen (politischer?) Subjektivität Die Verschiebung der Politik, die sich vorher gewöhnlich als Kampf zwischen verschiedenen Gruppierungen und Interessen ausnahm, hinein in die Seele des Einzelnen, die nun voll und ganz der Selbstregierung untersteht, verhindert dementsprechend auch frontale Auseinandersetzungen. Wenn man es überhaupt schafft, dem symptomatischen Unbehagen Ausdruck zu verleihen, dann eher in Form verschiedener situativer und partieller Widerstände: Es sind Variationen eines sich wiederholenden Verhaltens, denen sich andere Subjekte anschließen, welche wiederum den Kontext verändern. Den leibnizschen Monaden der neuen neoliberalen Gouvernementalität, die sowohl vom smithschen Interessensausgleich als auch von der politischen Synthese ausgenommen sind, gelingt es nicht, den für den politischen Kampf notwendigen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen. Anschluss und Entkoppelung des Einzelnen ereignen sich vielmehr in verschiedenen Zwischenräumen: Er oszilliert zwischen der Unabhängigkeit der Monade und der Verschmelzung mit der Klasse (vgl. Tucci 2013). Daher müssen insbesondere diese Zwischenräume in Betracht gezogen werden: Sie sind symbolisch und sie gehen aus Momenten prekärer Transzendenz hervor (den verschiedenen Finanzkonjunkturen, einem Umfrageergebnis, aber auch aus dem situativen Zusammenschluss zu einer Protestbewegung bis hin zu Flashmobs). Diese Momente stellen prekäre Stabilisierungen dar, die imstande sind, Machteffekte hervorzurufen, die sich politisch auswirken. Jene Punkte prekärer Stabilität (und dergleichen sind auch die leeren Signifikanten des Populismus oder des Zinsspreads als Indikator des gemeinsamen Schicksals einer Nation) können solch spontane Zusammenschlüsse regieren, ohne über sie hinauszugehen. Sie können neue Formen der Subjektivität entstehen lassen, da sie selbst (und oft nicht vorsätzlich) von der Synergie verschiedener Verhaltensweisen bestimmt sind. Zweifelsohne erscheint die liberale Heteronomie als eine nicht beherrschbare Macht, die lediglich dem Anschein nach über etwas hinausgeht, hin zu einem Punkt der Aggregation, der mannigfaltige Mächte nebeneinander bestehen lässt: mögliche Mosaikstücke einer neuen Demokratie, aber auch etwaige Spuren einer totalen Regierung. Diese neuen Formen der Subjektivierung kreisen um diese Aggregationspunkte, anstatt sich von einem politischen hegemonischen Subjekt organisieren zu lassen, das eine Art aufopferndes und als unerträglich empfundenes Überschreiten
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verlangen würde. Es handelt sich also nicht um politische Subjekte, die durch die Repräsentation strukturiert werden. Diese neuen Formen (politischer?) Subjektivität sind vielmehr Experimente einer situativen, lokalen Selbstregierung, wobei diejenigen, die sich an der Basis engagieren, pragmatisch als »operative Funktion« (Deleuze 2000: 11) bezeichnet werden können.5 Sie sind keine externen Subjekte, die außerhalb beziehungsweise gegen das System stehen, sondern binnen-gouvernementale Entitäten, die mit anderen Mächten verhandeln (vgl. Chatterjee 2004). Zweifel bleiben dennoch. Jede dieser pluralen Singularitäten regiert sich selbst und wird zugleich regiert, ohne jedoch die eigene Unbestimmtheit zu verlassen; dabei betrachtet sie diese weiterhin als eine Variable, welche die eigene Aktualisierung ermöglicht. Es ist jedoch gerade ebenjene Aktualisierung, die im Zeichen der Optimierung die vitale Matrix, das bíos, wiederholt und fixiert und es so der kapitalistischen Wertschöpfung darbietet. Aus dem Italienischen von Sieglinde Borvitz
Literatur Bazzicalupo, Laura (2006): Il governo delle vite. Biopolitica ed economia, Rom/Bari: Laterza. Chatterjee, Partha (2004): The Politics of the Governed: Popular Politics in Most of the World, New York: Columbia University Press. Cruikshank, Barbara (1996): »Revolutions within: self-government and self-esteem«, in: Barry, Andrew/Osborne, Thomas/Rose, Nikolas (Hg.): Foucault and Political Reason: Liberalism, Neo-Liberalism and Rationalities of Government, London: UCL Press, S. 231-251. Dean, Mitchell (1999): Governmentality. Power and Rule in Modern Society, London: Sage. Deleuze, Gilles (1992): Differenz und Wiederholung, München: Fink. Deleuze, Gilles (2000): Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1974): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Esposito, Roberto (2004): Immunitas: Schutz und Negation des Lebens, Berlin: diaphanes. Foucault, Michel (2006): Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 5
In der Äußerlichkeit der Beziehungen, unabhängig von den Begriffen, die sie bezeichnen, kann jeder Begriff pragmatisch fluktuierende, variable und kontingente Beziehungen eingehen, ohne zwangsläufig auf eine Essenz rückzuverweisen, die nicht auch eine operative Funktion ist (vgl. Deleuze 2000: 11).
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Fraser, Nancy (2003): »From Discipline to Flexibilization? Rereading Foucault in the Shadow of Globalization«, in: Costellations, 2, S. 160-171. Hardt, Michael/Negri, Antonio (2001): Il lavoro di Dioniso, Rom: Manifestolibri. Lazzarato, Maurizio (2005): »Biopolitique/bioéconomie«, in: Multitudes, 3, 22, S. 5162. Lazzarato, Maurizio (2008): Le Gouvernement des inégalités. Critique de l’insécurité néolibérale, Paris: Éditions Amsterdam. Rose, Nikolas (1999): Powers of Freedom. Reframing political thought, Cambridge: Cambridge University Press. Tucci, Antonio (Hg.) (2013): (Dis)aggregazioni. Forme e spazi di governance, Mailand: Mimesis.
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Die Unsicherheit regieren: Neoliberalismus und prekäres Leben Rodrigo Castro Orellana Nicht das Geld ist im Menschen – innerhalb des Kreditverhältnisses aufgehoben, sondern der Mensch selbst ist in Geld verwandelt, oder das Geld ist in ihm inkorporiert. Die menschliche Individualität, die menschliche Moral ist sowohl selbst zu einem Handelsartikel geworden, wie zum Material, worin das Geld existiert. Statt Geld, Papier ist mein eignes persönliches Dasein, mein Fleisch und Blut, meine gesellige Tugend und Geltung die Materie, der Körper des Geldgeistes. Der Kredit scheidet den Geldwert nicht mehr in Geld, sondern in menschliches Fleisch und in menschliches Herz. Karl Marx (1968: 449)
In seinem Werk Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus verwendet Jürgen Habermas das Konzept des Staatsbürgerlichen Privatismus, um die Tendenz zur politischen Enthaltsamkeit der zeitgenössischen Kultur zu beschreiben, welche mit einer verstärkten Karriere-, Freizeit- und Konsumorientierung der Individuen verbunden wird (vgl. Habermas 1973: 55f.). Dieses Phänomen veranschaulicht eine Art des Zerfalls des öffentlichen Raumes, die charakteristisch für die jetzige Gesellschaft ist, sowie eine Auflösung des Staatsbürgertums zugunsten eines radikalen Individualismus. Es wird immer offensichtlicher, dass eine Form von Individualisierung geschaffen wird, welche den Rückzug des Subjektes in die Sphäre des Privaten beinhaltet. Dieser »narzisstische Rückzug ins Innere« (Beriain 1996: 211) zeigt sich in einer wachsenden Gleichgültigkeit des Subjektes gegenüber dem, was seine eigenen Interessen übersteigt.
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Sicherlich versprechen die neuen kommunikativen Netzwerke eine Welt der schnelleren und weitaus stärkeren Vernetzung zwischen den Subjekten. Es ist gar davon die Rede, die Subjekte ihrem lokalen Umfeld zu entreißen, um sie in die Erfahrung einer neuen ›globalen Agora‹ eintauchen zu lassen − diesen Gedankengang formuliert das Konzept der radikalen Demokratie bereits philosophisch und politisch. Nun versucht man, dieses zu etablieren, unter anderem indem die Praxis der Massenversammlungen reklamiert wird, was dank der Technologie und dem Aufkommen von neuen Formen der Bürgerbeteiligung möglich ist. Wir wollen an dieser Stelle weder gegen den Staatsbürgerlichen Privatismus polemisieren, noch diskutieren, ob Revolutionen neuerdings getwittert werden. Es geht hier vielmehr darum zu erkennen, dass es gegenwärtig eine Machtströmung gibt, die innerhalb der Gesellschaften wirkt, welche die Ratio der neoliberalen Regierungen verinnerlicht haben, und nicht darum, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, andere Ausprägungen jener Tendenz auszumachen oder gar andere Formen der Auseinandersetzung zu praktizieren. Die Strömung, auf die ich mich beziehe, entspricht dem Modus der Subjektivierung des globalen Kapitalismus, welcher sich meines Erachtens im Kontext der aktuellen europäischen Wirtschaftskrisen besonders profiliert. Daher sollen einige wichtige Elemente dieses Regimes der Subjektivität, welches sich in unserer späten Moderne entfaltet, beschrieben und das ihm innewohnende Problem der Prekarität herausgearbeitet werden.
Eine neue Form der Annäherung Die theoretischen Überlegungen zu den Logiken des Kapitalismus zeichnen sich durch eine Reihe von Unzulänglichkeiten aus, welche bisherige Diagnosen lediglich als unbefriedigende Entwürfe erscheinen lassen. Offenbar ist es unmöglich, eine adäquate Lesart der widersprüchlichen und heterogenen Entwicklung der neoliberalen Subjektivität zu liefern. Gegenüber dem Problem des Staatsbürgerlichen Privatismus versuchten Autoren wie beispielsweise Richard Sennett, Christopher Lasch oder Gilles Lipovetsky, die neue kulturelle Ordnung als eine Gesamtheit zusammenhängender Ausdrücke zu bezeichnen, welche dem Individualismus oder dem nihilistischen Narzissmus als dem Schicksal unserer Zeit, als einzigem allgemeinen Sinnprinzip folgen (vgl. Sennett 1980; Lasch 1991; Lipovetsky 1979). Dennoch scheint der Befund eines generellen Narzissmus nicht kompatibel mit dem polymorphen und fragmentarischen Wesen der neoliberalen Gesellschaften. Der gegenwärtige Kapitalismus hat kein zentrales Organ, von dem all seine Machtlogiken ausgehen, und auch die Prozesse der Subjektivierung haben unterschiedliche Inhalte, abhängig von ihrem politischen, ökonomischen und sozialen Kontext. In diesem Sinne schließt man durch die Untersuchung der Individualisierungsprozesse als Effekte einer bestimmten strukturellen Epoche (Postmoder-
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ne, Zeitalter der Leere, flüssige Moderne et cetera) die Analyse der Dynamiken aus sowie die Art und Weise, wie diese sich in vorherrschende Machtdispositive einfügen. Unter diesem Gesichtspunkt vernachlässigt man die Frage danach, welches die institutionellen Gewinne des Staatsbürgerlichen Privatismus sein könnten. Wieder andere Autoren, wie etwa Anthony Giddens, Ulrich Beck oder Zygmunt Bauman, haben eine Sozialtheorie zu den Modernisierungsprozessen entwickelt, welche die reflexiven Dynamiken des autopoietischen Ichs betont, das wiederum gesellschaftliche Räume und Räume für die politische Handlung konstruiert (vgl. Giddens 1993; Beck 2016; Bauman 2003). Dennoch ist die Verbindung, welche diese zwischen den individuellen und institutionellen Bereichen herstellen, immer noch zu opak und abstrakt und lässt somit die konkrete politische Funktionalität außer Betracht, welche den jeweiligen Individualisierungsprozessen zugeordnet werden könnte. Letzteres ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass einige soziologische Ansätze, genau wie die semiologischen Analysen Sennetts, für eine mehr oder weniger explizite Verteidigung eines politisch substantiven Raumes einstehen. Das bedeutet, dass diese Interpretationen ‒ sei es in Form einer gewissen Nostalgie gegenüber dem Verlust fundamentaler gemeinschaftlicher Bindungen oder mittels einer Dehistorisierung des Subjektbegriffs ‒ die Radikalisierung des Individualismus nach wie vor als etwas wertschätzen, das einer echten bürgerlichen Interaktion im Wege steht. Auf der anderen Seite sollten auch jene philosophisch-kritischen Theorien Erwähnung finden, welche die Normalisierungs- und Exklusionsprozesse betonen, die mit der Entwicklung des Kapitalismus zusammenhängen. Dabei denke ich beispielsweise an Lyotards Kritik der Homologisierung der Differenzen (vgl. Lyotard 1994), an die Verurteilung der Herrschaft der Technik vonseiten Heideggers (vgl. Heidegger 2004) oder an die Einschränkung der Lebensmöglichkeiten durch die technologisch-instrumentelle Vernunftlogik, welche von Adorno und Horkheimer beschrieben wird (vgl. Adorno/Horkheimer 2006). Diese und ähnliche Fragestellungen waren wichtig, um charakteristische soziale Dynamiken des 20. Jahrhunderts nachzuvollziehen. Wenn es jedoch darum geht, eine soziale Struktur zu beschreiben, welche durch die Produktion des Heterogenen wächst, erweisen sich bisherige Untersuchungen als unzureichend. Die Förderung von Differenzen und Eigenheiten ist ein fundamentaler Bestandteil des gegenwärtigen Kapitalismus. Deshalb kann eine Analyse, die die Arten der neoliberalen Subjektivierung beschreiben will, den besagten Sachverhalt nicht ignorieren. Entsprechend bedarf es einer neuen Form der Annäherung an das Problem der Individualisierungsprozesse in neoliberalen Gesellschaften. Die hiesige Hypothese nimmt dabei die Konzepte Michel Foucaults als zentralen Ausgangspunkt, die er in seinen Vorlesungen Sicherheit, Territorium, Bevölkerung und Die Geburt der Biopolitik am Collège de France (Foucault 2004a; 2004b) formuliert hat. Dabei handelt es sich um eine Reihe von Vorträgen − gehalten zwischen Januar 1978 und April 1979 −,
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die miteinander in Verbindung stehen und eine sehr wichtige Verschiebung in der machtpolitischen Analytik des französischen Autors darstellen. Ich möchte mich hierbei nicht mit der Exegese dieser Vorlesungen aufhalten, über die es bereits eine Vielzahl an kritischen Auseinandersetzungen in zahlreichen Sprachen gibt.1 Vielmehr beabsichtige ich, einige Begriffe zu gebrauchen, die Foucault in diesen Werken besonders in Bezug auf seine Analyse des Neoliberalismus verwendet, um die Art und Weise zu beschreiben, in der sich Subjekte innerhalb der jetzigen Gesellschaft selbst erfahren.
Die Gouvernementalität Eine der Hauptthesen aus den bereits genannten Vorlesungen Foucaults am Collège besagt, dass sich die Analyse der Regierungsformen besonders zur Interpretation von Machtbeziehungen eignet. In diesem Kontext wird der entscheidende Begriff ›Gouvernementalität‹ eingeführt, der es ermöglicht, die Macht als eine Kraft wahrzunehmen, die hauptsächlich daran interessiert ist, die Handlungen von Subjekten zu lenken. Es handelt sich daher nicht um eine Logik der Minimierung im Bereich der Verhaltensweisen von Individuen, sondern vielmehr um eine beschleunigte Multiplikation. Dieser Begriff erlaubt es, die Anreizung des individuellen und narzisstischen Interesses zu interpretieren, nicht als eine Dekomposition der politischen Ordnung oder als Entzug des öffentlichen substantiven Raums, sondern als Entwicklung einer neuen Politik, welche im Ich den Dreh- und Angelpunkt einer ungeschriebenen Regierungstechnik sieht. Eine unvollständige Beschreibung dieses Ichs führt dazu, es als autopoietische und reflexive Subjektivität zu verstehen, die das Ergebnis institutioneller und kultureller Dynamiken ist. In seiner Funktion als Komponente der gouvernementalen Rationalität tritt jedoch die scheinbare Selbstbestimmung des Ichs als eine Technologie der Regulierung zutage, die sich der Freiheit bedient, um das Individuum in ein Universum äquivalenter Handlungen einzuführen. Auf diese Weise ist das fließende und ambivalente Wesen der Gegenwart kein einfacher Mutationsoder Transformationsprozess eines angenommenen, mehr oder weniger aktuellen kulturellen Paradigmas. Vielmehr gehorcht es einem spezifischen Merkmal der Gouvernementalität, das sich als Aufbereitung des Mediums beschreiben lässt, in welches sich die möglichen Handlungen des Subjekts einschreiben lassen. 1
Aus der reichen Forschungsliteratur verweise ich unter anderen auf Arribas/Cano/Ugarte (2010), Lemm (2010), Castro-Gómez (2010), Tazzioli (2011), Lagasnerie (2012), Dean (2013), Oulc’hen (2014) sowie auf die Zeitschriftenausgaben Les néolibéralismes de Michel Foucault (2013) und Neoliberal Governmentality (2009).
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Die Regierung ist zu einem Umweltfaktor avanciert, und zwar dahingehend, dass sie die Atmosphäre beeinflusst, in welcher sich die Entscheidungen und das Verhalten der Individuen entwickeln und entfalten. Das Subjekt genießt daher die Ausübung seiner Freiheit innerhalb eines Systems, dessen Regeln von externen Akteuren, wie dem Markt oder anderen ökonomischen Gruppen, festgelegt und/oder aufgehoben werden. Es ist daher nicht notwendig, den Körper direkt einzubinden, um ein gewisses Verhalten zu garantieren; es reicht, den Kontext unseres Begehrens zu modifizieren, neue Anreize oder neue Hindernisse zu schaffen, um andere Verhaltensweisen und andere Diskurse in den Individuen zu entfalten. In diesem Sinne hat die smithsche Figur der ›unsichtbaren Hand‹ ihre Vollendung erreicht, als eine paradoxe Form, die nicht mit einem spontanen Gleichgewicht und der Harmonie des geschäftlichen Austauschs vereinbar ist. Die regierende ›Hand‹ versucht, sich hinter der natürlichen Ordnung der Dinge zu verstecken oder zu tarnen und zugleich das Subjekt für den Genuss der Auswahlmöglichkeiten innerhalb der bestehenden Optionen zu begeistern, ohne dass sich dieses der Einschränkungen, die seine Erfahrung behindern, bewusst wird. Angesichts der aktuellen neoliberalen Politik erweist sich Hayeks Definition der Freiheit als »Artefakt der Zivilisation« (Hayek 2003: 470) als umso gewichtiger. Es gilt, die Produktionsbedingungen der Freiheit zu garantieren, diese zu organisieren und zu konservieren, als handele es sich um eine Maschine, deren Ertrag von den externen Bemühungen des Systems abhängig ist. Entsprechend sind die Ausweitung des Konsums, die Entwicklung einer Kultur der körperlichen Pflege und Gesundheit, die Proliferation von Unsicherheiten und Risiken, die Diffusion psychotherapeutischer Techniken, der Zugang zu oder das Versperren von Verschuldungsmöglichkeiten, die Anreize zum darlehensbasierten Eigentumserwerb, die Erhöhung von Bildungskosten allesamt Formen individueller Subjektivierung. Das Konzept der Gouvernementalität erlaubt also die Interpretation wichtiger Phänomene der Gegenwartsgesellschaft von einem strategischen Standpunkt aus, der zeigen kann, wie diese Ereignisse im individuellen Leben wirken und wie sie dieses in etwas politisch und ökonomisch Ertragreiches verwandeln.
Neoliberalismus und Subjektivität Zusammengefasst lässt sich sagen, dass das wichtigste Element der neoliberalen Regierungstechnologie in der Produktion von Freiheit besteht oder, anders gesagt, in der Herausbildung von Subjektivität. In diesem Kontext lässt sich bestätigen, dass vorrangig ein ›immunisiertes Ich‹ modelliert wird, also eine strikt individuelle und isolierte Entität, geschützt vor jeglichem unregulierten äußeren Eingriff. Diese in permanenter Autoreferentialität gefangene Subjektivität wirkt wie eine
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Kraft, die lediglich an ihrer Selbsterhaltung interessiert ist. Somit sind davon ausgehend die Dislozierung des Sozialen und der Anreiz zum Wettbewerb als dieser Regierungstechnologie entspringende Phänomene zu verstehen. Auf der anderen Seite beinhaltet die ›immunisierte Subjektivität‹ eine Form der Autosubjektivierung, eine spezifische Selbstgestaltung des Subjektes. Letzteres folgt der Vorstellung eines Individuums, das sich selbst als verfügbares Kapital und als produktiver Raum für Reichtum und Wirtschaftlichkeit sieht. Auf diese Weise entsteht der ›Unternehmer seiner selbst‹, dessen Auftrag die ›ökonomische Selbstsorge‹ ist, und ein Markt von Produkten zur Selbstoptimierung (Körperpflege, Ernährung und Diät, Selbsthilfeliteratur, Psychotherapie, Coaching). Ein gutes Beispiel für den Begriff des ›persönlichen Kapitals‹ ist die Wertschätzung von Bildung und Wissen durch das Individuum. Tatsächlich wird von ihm erwartet, dass es im beruflichen Kontext in der Lage ist, permanent Entscheidungen zu treffen, wofür bestimmte Kompetenzen und Fähigkeiten notwendig sind, welche man sich im Lauf des Lebens anzueignen hat. Das Subjekt wird verleitet, eine bleibende selbst-gestaltende Beziehung einzugehen, welche im Hinblick auf die Qualität der gewählten Produkte und Fortbildungsprogramme mehr oder weniger effizient sein kann. Diese formativen Systeme multiplizieren sich gegenwärtig und folgen einer Rationalität, welche dazu führt, dass sich diese immer weiter in die Privatsphäre ausdehnen ‒ dank der neuen Technologien, die im häuslichen Bereich Einzug halten. Die dieser Rationalität zugrundeliegende Logik unterscheidet sich in keiner Weise von der Marktlogik in Hinblick auf beliebige Verbrauchsgüter. Letztlich ist es notwendig, in allen Bereichen des täglichen Lebens sich selbst und die eigene Lebensweise zu definieren, die dem Subjekt des Konsums zu eigen ist und sich mit der kulturellen Förderung von Differenzierung verbindet. Jedoch lässt dieses frenetische Verlangen nach einem Lebensentwurf paradoxerweise auch die Äquivalenz der jeweils ausgewählten Lebensweisen aufscheinen. Dieser letzte Aspekt erlaubt es, hier eine bestehende Normalisierungslogik zu beobachten. Die Freiheit ist nichts weiter als eine Wahl zwischen möglichen Entwürfen ‒ oder Lazzarato folgend: Sobald innerhalb der enormen Vielfalt an Alternativen des Marktes alles möglich ist, wird die Erschaffung des noch nie Dagewesenen unmöglich (vgl. Lazzarato 2006: 103). Die Freiheit wird somit zu einem offenen Prozess, um immer dasselbe auszuwählen. Das Individuum steht einer Auswahl gegenüber, die früher oder später unattraktiv wird, da sich die Produkte zunehmend gleichen, was die Erklärung für eine Ambivalenz sein kann, die sich stark auf die Subjektivität auswirkt.2 Das Individuum scheint zwischen einer genussvollen Erfahrung, welche in der Auswahl und den Wahlmöglichkeiten der eigenen Lebensentwürfe im »globalen Supermarkt« (Houellebecq 2001) besteht, und der Erfahrung von Beklemmung und 2
Vgl. hierzu auch den Beitrag von Bazzicalupo im vorliegenden Band.
Die Unsicherheit regieren: Neoliberalismus und prekäres Leben
Angst angesichts der Unsicherheiten einer Wirklichkeit zu schwanken, in der sich trotz ihrer Diskontinuität alles wie eine unermüdliche Wiederholung von bereits Bekanntem ausnimmt. Wir sind dazu angehalten, uns selbst zu erschaffen und so den Markt der Differenzierungen zu erweitern. Doch es ist auffällig, dass unsere Körper und Lebensweisen hierbei verdächtig ähnlich geworden sind. Dieses Paradoxon beschreibt die uns regierende Art der Freiheit: vermehrte Werbung für die kreative Selbstbestimmung des Humankapitals, stärkere Regulierung und Homogenität unserer Biographien als Konsumenten. Ähnliche Möglichkeiten, gleiche Pläne, dieselben Interessen. Der Geschmack ist zu etwas Monotonem geworden, dem jegliche Originalität fehlt. Dennoch repräsentieren all diese Phänomene nicht das unabwendbare Schicksal unserer Zeit. Man sollte das sich entfaltende Machtdispositiv betrachten, welches sich hinter der Produktionsdynamik des immunisierten und unternehmerischen Ichs versteckt. Dies bedeutet, den politischen Ertrag in den Blick zu nehmen, den die neoliberale Individualisierung zur Folge hat; anders gesagt gilt es, die Vorteile herauszustellen, die der Imperativ der Selbstverwaltung einem Herrschaftssystem bietet. Diesbezüglich stellt sich zunächst die Frage nach den Auswirkungen, was ein Verständnis von strukturellen gesellschaftlichen Problemen als streng persönliche Angelegenheiten erfordert. Es existiert eine Dynamik der Privatisierung der Widersprüche innerhalb der neoliberalen Regierungslogik, welche die soziale Dimension von Konflikten ausblendet und versucht, den Raum der intersubjektiven Beziehungen zu schädigen. Es handelt sich um eine wahrhaftige Maschinerie der Verheimlichung, welche sich auf das Primat der Selbst-Subjektivierung stützt und alles, was soziale Relevanz hat, in private Belange verwandelt. Die Spannungen dieses herrschenden Modells werden in Probleme umgewandelt, welche lediglich eine bessere Verwaltung des eigenen Selbst erfordern. So wird beispielsweise die ökologische Katastrophe, die die destruktive Expansion des Kapitalismus besonders hinterfragt, als ein Problem des persönlichen Gewissens und der individuellen Verantwortung angegangen. Anstatt die Produktionslogik und das Entwicklungsmodell infrage zu stellen, betont die Rhetorik die Eigenverantwortung eines jeden Erdenbewohners zum Schutze des Planeten − ein Diskurs, den die Industrie mittels Werbung für sich beansprucht. Ein weiteres Beispiel ist der immer relevanter werdende Begriff der ›Beschäftigungsfähigkeit‹. Die Analysen und Debatten bezüglich der strukturellen Ursachen von Arbeitslosigkeit innerhalb einer Gesellschaft weichen einer exklusiv subjektiven Beschäftigung mit dem Problem. Findet jemand keine Arbeit ‒ das bestätigt diese Logik ‒, so müsse er sich einer Evaluierung seiner eigenen Beschäftigungsfähigkeit innerhalb des entsprechenden Arbeitsmarktes unterzie-
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hen.3 Das heißt, wie Foucault bestätigt, dass er seine spezifische und persönliche »Kompetenz-Maschine« (Foucault 2004b: 314-320), seine Ertragsmöglichkeiten und seine Produktivität berücksichtigen muss. In erster Linie bedeutet dies, dass man über eine adäquate Ausbildung verfügt (Fremdsprachenkenntnisse, Beherrschung neuer Technologien und so fort), um so die Chance auf einen Arbeitsvertrag zu steigern. Das Problem liegt so gesehen nicht in den sozialen Variablen, welche beispielsweise die Existenz von Arbeitsplätzen bestimmen, sondern in der Selbstbestimmung des Subjekts, in seinem Lebensentwurf und dessen Optimierung, die dem Leben einen ökonomischen Wert verleihen.
Die Monetarisierung der Existenz Um die Funktionalität des Marktes als Grundprinzip der Regierung zu garantieren, scheint es vom Standpunkt der neoliberalen Rationalität aus betrachtet notwendig, eine ›Politik des Lebens‹ zu betreiben. Diese modelliert die Formen der Subjektivität, bereitet sie darauf vor, widerstandslos die Wettbewerbslogik zu übernehmen und dem Weltideal der Gesetze von Angebot und Nachfrage nachzueifern. In diesem Sinne stellt die neoliberale Gouvernementalität eine spezifische Konfiguration der Biopolitik dar. Innerhalb dieser Modalität sieht sich das Leben vollständig in der Rationalität des Marktes gefangen, welche einem Prozess folgt, den ich im Folgenden als ›Monetarisierung der Existenz‹ bezeichnen möchte. Es handelt sich dabei um eine Dynamik, mithilfe derer der gegenwärtige Kapitalismus innerhalb des Lebens der Menschen, in ihrer Wahlfreiheit und ihren Interessen, in ihren Körpern und in ihren Beziehungen zu sich selbst, einen Bereich des ökonomischen Ertrags schafft. Die Monetarisierung der Existenz besteht aus zwei zentralen Vektoren, die eng miteinander verknüpft sind: der Vermarktung von Gesundheit und der Unsicherheit. Auf der ersten Ebene haben wir es mit einer Industrie zu tun, die aus der Krankheit eine kommerzielle Variable macht, indem sie die Laborforschung bestimmt oder die Medikamente den Gesetzen von Angebot und Nachfrage unterwirft. Tatsächlich wird der pharmazeutische Markt nicht durch den Antrieb bestimmt, die jeweilige Krankheit auszulöschen oder Gesundheitsrisiken zu reduzieren, sondern vielmehr durch die Logik der sich multiplizierenden Erhaltung und Verwaltung von Leid und Unruhe. Besonders eines interessiert die Pharmaindustrie: die Existenz von Subjekten, deren pharmazeutisches Konsumverhalten sich stetig steigert. Entsprechend arbeitet die besagte Macht nur für jene, die sich 3
»Die Verantwortung fällt nicht auf die Prekarisierung des Arbeitsmarktes, sondern auf die Person, welche beschuldigt wird, keinen guten Lebenslauf zu haben oder sich selbst nicht gut verkaufen zu können« (Álvarez-Uría 2006: 137).
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ein Medikament leisten können, und nicht für kranke Menschen. Aufgrund dessen dreht sich der Gesundheitsmarkt nicht um die Achse Kranker/Krankheit, sondern um die möglichen Beziehungen, welche sich zwischen dem Pharmazeuten und den Bedürfnissen des sich selbst verwaltenden Individuums ergeben können. Depressive Krankheitsbilder, Angstzustände, Schlafstörungen und all jenes, was die organische und biologische Prekarität der menschlichen Existenz ausdrückt, wird zur fundamentalen Stütze eines Universums der finanziellen Spekulation. Auf der zweiten Ebene tritt die Vermarktung der Unsicherheit immer dann auf, wenn die physische Kontingenz des Subjekts von einem System bestimmt wird, welches vom Individuum eine gewisse Fähigkeit und Effizienz verlangt, um die eigenen Risiken zu managen. Dies trägt dazu bei, dass dieses seine existenzielle Prekarität annimmt und selbstständig die spezifischen Gefährdungen verwaltet, welche sein Leben bedrohen. Diese Technologie des Ichs öffnet den KonsumentenIndividuen einen ganzen Markt an Sicherheitsprodukten zum Schutz ihrer verletzlichen Existenzen (Lebensversicherungen, private Altersvorsorge, Haftpflichtversicherungen, Sicherheitsprodukte für den häuslichen Gebrauch). Man könnte meinen, dass die Selbstverwaltung der Risiken im Einklang mit der destabilisierenden Dimension der neoliberalen Subjektivierungsprozesse steht, in dem Sinne, als sie die Maßlosigkeit des Imperativs der Selbstsorge in einen unüberschaubaren Horizont an Alternativen und Möglichkeiten setzt. Trotzdem nimmt das Subjekt, welches sich von den Herausforderungen dieser Art von Freiheit überwältigt sieht, nicht die Rolle eines Antagonisten gegenüber den Werten dieser Rationalität ein. Wie Nikolas Rose bereits bemerkte, findet der Markt in Form von durch die Freiheit verängstigten Subjekten, also jenen, die nicht auf adäquate Weise ihr ›Humankapital‹ verwalten, ein ertragreiches Feld, was mit der Überwindung besagter Mängel zusammenhängt und die produktive Kontinuität des Ichs gewährleistet (vgl. Rose 1999). Genau in diesem Bereich sind die therapeutische Kultur, psychologische Dienstleistungen, Selbsthilfeliteratur sowie der Konsum von Psychopharmaka anzusiedeln. Die defizitäre Selbstverwaltung stellt somit keinen unerwünschten und problematischen Überrest beziehungsweise ein potentielles Ungleichgewicht dar, sondern sie liefert vonseiten der Nachfrage sehr nützliches ökonomisches Material, das wiederum durch einen Markt an Produkten geschaffen wird, die vorgeben, diese Unsicherheiten zu minimieren.
Schulden und Prekarität Wie bisher zu sehen war, zeigt Foucaults Analyse des Unternehmers seiner selbst sehr anschaulich, inwiefern die neoliberale Wirtschaft auf Subjektivierungsprozessen basiert. Es ist dennoch zu betonen, dass dieser Imperativ der Selbstverwaltung als Kapital zwei unterschiedliche Phasen durchlief. In der ersten war die neolibe-
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rale Individualisierung eng an die Produktion von Konsumenten und den ›Traum‹ von der Entproletarisierung der Menschheit gekoppelt. Als Konsequenz der zunehmend expandierenden Schuldenökonomie beginnt die neoliberale Technologie des Ichs dann im Kontext der ökonomischen Prekarisierung zu wirken. Folgt man Lazzarato, so scheint sich das Subjekt des gegenwärtigen Kapitalismus in der Gestalt von »verschuldeten Menschen« verkörpert zu haben, nämlich in einer neuen Form der ›Arbeit am Selbst‹, die ausgehend von der Beziehung Gläubiger-Schuldner operiert (vgl. Lazzarato 2012: 44). In dieser Logik ist der Unternehmer seiner selbst nicht verantwortlich für die Selbstverwaltung einer Potenzialität oder eines wesentlichen, zu ihm gehörenden Wertes, sondern für die Verwaltung von »Armut, […] Arbeitslosigkeit, Prekarität, Hartz IV, Niedriglohn […], als lägen hier die Rohstoffe und Investitionen des Individuums« (Lazzarato 2012: 58), die unser spezifisches Kapital als Mensch ausmachen. Das Managen von Unsicherheit entspricht somit unserer Selbstsorge als Humankapital. Die Verlagerung der Schulden vonseiten der Banken auf die Staaten und von letzteren auf die Bevölkerung macht es notwendig, über die Auswirkung von Schulden auf die Subjektivierung nachzudenken. Schulden sind nicht nur ein Kriterium, mit dessen Hilfe die aktuelle Wirtschaft funktioniert und sich organisiert, sondern sie verlangen außerdem nach einem »Prozess der Subjektivierung, der ›Körper‹ und ›Geist‹ gleichermaßen betrifft« (Lazzarato 2012: 52). So kann der ›verschuldete Mensch‹ abwechselnd die angebotenen Konsumerfahrungen und die emergente Wirtschaft des Wissens genießen, ist jedoch insbesondere dazu verdammt, die Prekarität, die Risiken und die Unsicherheiten zu ertragen, welche vom Staat externalisiert werden. Was bedeutet es in diesem Kontext, Schulden zu haben? Zunächst implizieren sie Spuren einer Vergangenheit, die das Individuum für die Macht vollkommen transparent machen. Schulden entfalten sich nur in einer Geste der persönlichen Verantwortung gegenüber einem Gläubiger, welcher somit die Macht über den Schuldner erlangt. Von diesem Zeitpunkt an ist das verschuldete Subjekt an eine Verpflichtung gebunden, an die es sich stets zu erinnern versucht und die ewig besteht, da die Rückzahlung der Schulden letztlich darauf hinausläuft, zu einem positiv bewerteten Schuldner zu werden, um in Zukunft wieder neue Schulden aufnehmen zu können. Der Schuldner schwankt zwischen der moralischen Verpflichtung seinem gegebenen Versprechen gegenüber (dem unterzeichneten Dokument) und dem Gewissen der persönlichen Schuld durch die Aufnahme der Schulden. Es ist daher nicht erstaunlich, dass heutzutage, angesichts der Staatsverschuldung innerhalb der Eurozone, auch der Begriff der Verantwortung mitschwingt. Wenn nun diese Verantwortung auf die Bürger übertragen wird, impliziert dies wiederum, dass wir alle verschuldet sind, jeder von uns ganz individuell, da – so sieht es der offizielle Diskurs – ›wir über unsere Verhältnisse gelebt haben‹.
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Wenn also Schulden Verpflichtung und Schuld produzieren, heißt das auch, dass sie eine Form der Subjektivierung festlegen. Wie bereits erwähnt, besteht Wahlfreiheit innerhalb der von der neoliberalen Rationalität entworfenen Optionen, was sich für den Fall des Schuldners als Möglichkeit von Freiheit übersetzen lässt, »aber seine Handlungen, sein Verhalten müssen sich im Rahmen abspielen, den die Schulden definiert haben und zu denen er sich vertraglich verpflichtet hat« (Lazzarato 2012: 43). Schulden gestalten die Existenz des Individuums: seine politischen Handlungen, sein ökonomisches Verhalten, sein Verhältnis zur Arbeit, seine Entscheidungen als Konsument. Sie beschneiden seinen Lebensraum gemäß der Verpflichtung, die Schulden zu begleichen. Daher stellen Schulden eine Kontrollmacht dar, die nicht auf Repressionen oder Ideologien zurückzugreifen braucht, da es bereits genügt, das ›Ethos‹ der Rückerstattung zu fördern oder anzuregen. Die Gläubiger-Schuldner-Beziehung bildet eine bestimmte Form der Regierung von Subjektivität innerhalb der neoliberalen Wirtschaftsordnung – ein Dispositiv, welches absolut entscheidend für das System ist. Ohne die Kontrolle und spezifische Hervorbringung von Formen des Lebens wäre das, was wir als Wirtschaft bezeichnen, unmöglich (vgl. Lazzarato 2012: 42). Und unter all diesen biopolitischen Mechanismen gibt es nichts Effizienteres als Schulden. Aus diesen Gründen sind Schulden nicht nur das passive Resultat ökonomischer Individualentscheidungen, sondern zugleich auch ein aktives Dispositiv zur Produktion von Gläubiger-Schuldner-Beziehungen, die in die Gesellschaft integriert werden. Im gegenwärtigen Neoliberalismus muss folglich jeder Mensch zum Schuldner gemacht werden. Auf der anderen Seite kann dieses Dispositiv der Schulden als Strategie zur Materialisierung einer Regierung der Unsicherheiten betrachtet werden. Das bedeutet, dass der Kreditmechanismus zunächst mit einer rationalen Kalkulation des Verhaltens und der möglichen Risiken des potentiellen Schuldners beginnt (Objektivierung der Zukunft), um in einem System zu enden, welches die Unentschlossenheit der kommenden individuellen Handlungen unterbindet (Enteignung der Zukunft). Das verschuldete Subjekt wird für die wirtschaftliche Vernunft und die politische Macht zu einer vorhersehbaren Größe. Da seine Existenz von der Tilgung abhängt, gibt es im Leben des Schuldners keinen Platz für Brüche oder Transgressionen. In diesem Sinne lässt sich bestätigen, dass Schulden eine Sicherheitstechnik neoliberalen Regierens sind, welche das Ende der Zeit als Raum des Unerwarteten garantieren. Diese Ergreifung der Zukunft entspricht dem Imperativ der Schuldentilgung und dem Lebensentwurf, den dieser voraussetzt, aber sie steht auch in Verbindung mit einem komplementären Element: Man kann nicht garantieren, dass man die Verpflichtungen erfüllen wird. Auf dieser zweiten Ebene lässt sich beobachten, wie das Kreditwesen ebenso wie die Regierung der Unsicherheit durch Dynamiken innerhalb der prekären Arbeitssituation verstärkt werden. Tatsächlich verhindern
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die Strategien der Prekarisierung, wie etwa Flexibilität am Arbeitsmarkt, Zeitarbeit oder Gehaltskürzungen, die Planung und Herrschaft über die persönliche Zukunft des Subjekts, da sie die Erfahrung einer flüchtigen und fragilen Gegenwart hervorrufen. Trotzdem behindert diese Prekarität nicht die Beziehung zwischen Gläubiger und Schuldner, sondern stimuliert vielmehr die Disziplin zur Rückzahlung dadurch, dass sich das Subjekt in größter Unterwürfigkeit an die raren und armseligen Zahlungsmöglichkeiten klammert, die ihm der Arbeitsmarkt bietet. In dieser Hinsicht sollte darauf hingewiesen werden – wie es bereits Pierre Bourdieu getan hat –, dass »Prekarität gar nicht das Produkt einer mit der ebenfalls vielzitierten ›Globalisierung‹ gleichgesetzten ökonomischen Fatalität ist, sondern vielmehr das Produkt eines politischen Willens« (Bourdieu 2004: 110). Wir haben es mit einem neuen Typus von Herrschaft zu tun, welcher sich der Produktion und Multiplikation von Unsicherheiten bedient, um Verständnis dafür zu erzeugen, dass der Arbeiter die Ausbeutung als seine persönlich bestmögliche Wahl akzeptiert. Bourdieu führt das Konzept der Flexplotation ein (vgl. Bourdieu 2004: 111f.), um diese rationale Führung von Unsicherheit zu beschreiben, die mittels eines scheinbar natürlichen Mechanismus einen Zustand der Unterwerfung und des Gehorsams erzeugt. Die Flexplotation wird auf der Ebene der Subjektivität zu einer abgewerteten Erfahrung, in der es nicht möglich ist, die eigene Existenz, die auf einigen minimalen Sicherheiten basiert, zu gestalten. Die Gegenwart gehört uns nicht, da Arbeitslosigkeit und Knappheit uns jederzeit treffen können und somit jegliche hoffnungsvolle Projektion einer Zukunft verhindert wird. Es ist also offensichtlich, dass prekäre Arbeitsverhältnisse einen diffusen Effekt verursachen, welcher nicht nur Unbeschäftigte, also Arbeitslose, sondern die Gesamtheit aller Arbeitenden betrifft. Auf ganz verschiedene Art und Weise sorgt das Modell dafür, dass diese Wahrheit nicht vergessen wird und dass sich diese ins Gedächtnis aller einbrennt. Arbeiten zu dürfen ist ein Privileg – üblicherweise ein kurzweiliges und instabiles, welches man uns zu pflegen und zu beschützen empfiehlt. Bauman fasst es wie folgt: »Die Botschaft lautet schlicht: Jeder ist potentiell überflüssig oder ersetzbar, so ist jeder verwundbar und jede soziale Position – wie hochstehend und machtvoll sie im Augenblick auch erscheint – auf längere Sicht gefährdet; selbst die Privilegien sind brüchig und bedroht« (Bauman 2000: 244). Es herrscht eine »atmosphärische Angst« (Bauman 2000: 248), welche sich in einem auffälligen Symptom äußert: in sozialer Demobilisierung und revolutionärer Apathie. Es handelt sich meines Erachtens um ein konkretes Problem des Überlebens, da dieses mit der Erhaltung des Status des Arbeiter-Schuldners, SchuldnerKonsumenten, Arbeitslosen auf Jobsuche et cetera einhergeht. Der ›verschuldete Mensch‹ verbindet die Möglichkeit der Existenzsicherung mit der fortbestehenden Teilnahme am Spiel des Marktes und der Flexplotation. Tatsächlich erweist sich
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die tägliche Angst innerhalb des prekären Lebens in letzter Instanz als Furcht, von einem System ausgeschlossen zu sein, welches keinerlei legitime Formalität aufweist. Und wie wir alle genau wissen, weil Hegel es uns bereits lehrte, ist die Furcht die Wurzel des knechtischen Bewusstseins. Wir werden auf eine immer effizientere Art und Weise durch die Maximierung unserer Erfahrungen von Unsicherheit und Risiken regiert: Uns beunruhigt die Zukunft, unsere Arbeit, unser Körper, unsere Gesundheit, unser Altern. Dies alles rechtfertigt, auf einer ersten Ebene, das Treffen von Konsumentscheidungen innerhalb des Sicherheitsmarktes, aber darüber hinaus drängt es das Individuum in eine Unterwürfigkeit, die nicht mehr aus einem explizit disziplinarischen Apparat resultiert, sondern aus der selbst getroffenen Wahl eines Menschen, welcher die radikale Prekarität annimmt. Auf diese Weise wird ein perfektes Zusammenspiel zwischen der Extrahierung eines Mehrwerts und der Kontrolle der Bevölkerung hervorbracht. Die Verarmung und ihre imminenten Regierungslogiken, welche den Prekarisierungsprozess begleiten, verbinden sich mit dem Versprechen des Kreditwesens auf Reichtum, wie Lazzarato bestätigt: Keine Lohnsteigerungen, weder in direkter noch in indirekter Form (Renten), dafür aber kreditgestützter Konsum (Pensionsfonds, private Versicherungen); keine Mieterrechte, aber Immobilienkredite etc.; kein Recht auf Schulausbildung, aber Darlehen, um Nachhilfe zu bezahlen; keine Vergemeinschaftung gegen Risiken (Arbeitslosigkeit, Gesundheit, Rente, etc.), aber Investitionen in die individuellen Versicherungen. (Lazzarato 2012: 99) Kurz gesagt: Weder Schulden noch Prekarisierung sind für das Wirtschaftswachstum von Nachteil. Sie sind regelrechte Motoren für die Intensivierung der Kapitalakkumulierung, die darüber hinaus ein Machtdispositiv und die spezifische Ausbeutung der neoliberalen Gesellschaften begründen. Von dieser Perspektive aus betrachtet lässt sich die letzte Wirtschaftskrise nicht als eine Chance interpretieren, welche eine wie auch immer geartete Hoffnung auf eine Transformation des Macht- und Ausbeutungsdispositivs birgt. Im Hinblick auf das Krisenmanagement entschieden sich die Regierungen vor allem, sich dieser Konjunktur zu bedienen, und sahen darin eine Gelegenheit zur integralen Entwicklung bis hin zu den letzten Konsequenzen des neoliberalen Programms. Ihre Bemühungen und Anstrengungen galten nicht der Einführung irgendeiner Form von alternativer Reflexivität innerhalb dieser Logik, sondern der Sicherung und Erhaltung des politisch-ökonomischen Schuldenregimes und der Prekarität (etwa mittels der Bankenrettung durch die eigenen Bürger, welche das System tragen). Man verfolgt das Ziel, dass sich dieses System selbst erhält. Und alles lässt darauf schließen, dass die neoliberale Regierungsvernunft bereit ist, sämtliche Grenzen zu überschreiten und selbst den Prozess der irreversiblen Schwächung des
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Staates in Kauf zu nehmen, obwohl dieser immer noch ein wichtiges Mittel zur politischen Kontrolle der Bevölkerung darstellt. Niemand weiß genau, inwieweit das ökonomisch-politische Regime beabsichtigt, die Gefahren, Risiken und Unsicherheiten zu vervielfachen. Als ideale Gesellschaftsordnung tendiert die Demokratie dazu, hinter dem Horizont glaubhafter Erwartungen zu verschwinden, während die potentielle Katastrophe zum eigentlichen Gesicht der Krise avanciert.
Epilog Die hegemoniale Intention der neoliberalen Regierungstechnologie wird deutlich durch ihre Disposition zur Annullierung und Neutralisierung jeglicher Form von Widerstand oder jeglichen Ereignisses, das die herrschende Rationalität auch nur im Geringsten infrage stellt. In diesem Sinne besitzt der Neoliberalismus die Eigenart, Lösungen aus der Logik des Marktes heraus für die Probleme zu entwickeln, die ebenjener Markt geschaffen hat. Dieser technokratische Diskurs verlangt die Liberalisierung verarmender Wirtschaften, verwandelt das Problem des Klimawandels in eine Möglichkeit zur Schaffung neuer Geschäftsmodelle oder nutzt die Finanzkrisen als ideale Gelegenheiten zur Spekulation oder Ausbeutung des Staates. Die neoliberale Gouvernementalität negiert jegliche Äußerlichkeit und zeigt somit ihren scheinbar ahistorischen Charakter, nämlich den Wunsch, die eigene Logik als die beste der möglichen Welten zu naturalisieren. Die Aufgabe des kritischen Denkens besteht also darin, entsprechend den Imperativen und Regeln der Monetarisierung der Existenz formale Räume zu identifizieren, zu entwerfen, zu fördern oder zu schaffen. Dies beinhaltet erstens eine Geste der radikalen Historisierung all der Diskurse und Praktiken, die zur neoliberalen Gouvernementalität gehören. Nur so können wir uns von den Strategien entfernen, die den jetzigen Zustand naturalisieren oder diesen als unvermeidbares Schicksal unserer Zeit präsentieren. Daher sollte die Kritik versuchen, die Regierungsformen von Individualität zu untergraben und Zonen der Destabilisierung und Orte des Protests zu errichten. Von diesem letzten Standpunkt aus gesehen gibt es einen paradoxen Umstand, den uns das Regime der neoliberalen Individualisierung in seiner Komplexität und zwingenden Macht offenbart. Man denke nur daran, dass die scheinbare Deterritorialisierung der globalen Märkte im Grunde begrenzt ist. Diese unvermeidbare Grenze fällt mit dem grundlegenden Bedürfnis des aktuellen Kapitalismus zusammen, Gewinne aus etwas zu erzielen, das so territorial und konkret ist wie das Leben der Subjekte selbst. Dennoch ziehen die flüchtigen Interessen des Kapitals nicht an uns vorbei, sondern durchdringen uns und verwandeln so die Subjektivität in ein Schlachtfeld.
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Wenn das Individuum von der Angst unterdrückt wird und sich nicht vorstellen kann, ein Leben außerhalb der Parameter des neoliberalen Dispositivs zu führen, dann muss unsere Hoffnung notwendigerweise auf der Geste der eigenen Subjektivität ruhen, welche die Schuldenlogik unterbricht. Es handelt sich dabei um eine Option für die Unbilden des Lebens, eine Bereitschaft zur Gefahr, die eigene Existenz zu riskieren, eine Aufsässigkeit, sich definitiv zum Zahlungsausfall zu bekennen. Entsprechend stellt sich die Frage, ob die Kritik, die uns dazu führt, uns eine solche Möglichkeit vorzustellen, auch dazu bereit ist, eine solche Entscheidung zu legitimieren und zu fördern. Aus dem Spanischen von Hans Bouchard und Natalia Abo-Naasse Alcántara
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Resonanz, Autonomie und prekäre Zeit Ein phänomenologischer Ansatz Alice Pugliese
Methodologische Einführung Die erste Frage im Rahmen einer phänomenologischen Untersuchung zum interdisziplinären Thema der Prekarität betrifft die Rolle und die Selbstrechtfertigung der Phänomenologie selbst in einem solchen Kontext. Während nämlich der französische Abzweig der von Husserl initiierten Philosophie – mit Sartre, MerleauPonty, Nizan und später Levinas – im heißen Kontext der Politik der Nachkriegszeit zur Stellungnahme gezwungen wurde und sich bald mit dem Existentialismus vermischte, blieb die Phänomenologie im husserlschen Sinne lange Zeit in scheinbar rein theoretischen und epistemologischen Fragen verfangen und somit fern von konkreteren politischen Themen. Erst in letzter Zeit ist das Interesse für die politischen Phänomene bis zur Verfassung von präzisen analytischen Beiträgen gewachsen (vgl. Bedorf 2010; Loidolt 2010). Der Beitrag der Phänomenologie geht dennoch über die spezifischen Analysen einzelner Wissenschaftler hinaus. Der phänomenologische Ansatz verspricht vielmehr die Ausarbeitung einer Methode für die Beobachtung und die Auslegung von Phänomenen, welche politische, soziale, historische Bedeutungen in sich tragen. Jene phänomenologische Methode charakterisiert sich als eine Erfahrungsanalyse. In dieser Hinsicht nähert sie sich gewissermaßen den Bemühungen der deskriptiven Soziologie an, die mit ihren Beobachtungen die Grundlage für die aktuellsten biopolitischen und bioökönomischen Ansätze liefert.1 In den 1910/11 gehaltenen Vorlesungen, die den Übergang Husserls von den Logischen Untersuchungen zu einer neuen Phase seiner Reflexion darstellen, bietet dieser seinen Zuhörern eine bündige Darlegung seines Anliegens: »Wir beschreiben, wie wohl zu beachten ist, nur das, was jedes Ich als solches vorfindet, was es direkt sieht oder indirekt in Gewissheit meint; und zwar soll diese Gewissheit eine solche sein, dass jedes Ich dieselbe in eine absolute Evidenz verwandeln kann« 1
Für eine kritische Forschungslinie im biopolitischen und bioökönomischen Bereich vgl. Borsò/Cometa (2013).
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(Husserl 1973: 114). Die Phänomenologie geht also von dem aus, was unmittelbar von jedem vorgefunden werden kann. Jeder von uns gilt als berechtigte Quelle von bedeutsamer Erfahrung. Doch gerade in dieser extremen Forderung nach Genauigkeit und Treue den Phänomenen gegenüber liegt die gravierende Gefahr der Zerstreuung. Sich mit dem Vorgefundenen auseinanderzusetzen, bedeutet nämlich »für jeden von uns etwas Verschiedenes« (Husserl 1973: 112). Das Problem der Phänomenologie als Beschreibung der Erfahrung besteht darin, sich nicht in der Mannigfaltigkeit der Gegenstände zu verlieren. Bereits in der zitierten Passage finden wir einen wichtigen Hinweis: Die phänomenologische Reflexion zielt nicht auf abgesicherte und gewisse Kenntnisse über bestimmte Gegenstände, sondern auf die Enthüllung des Verwandlungspotentials eines jeden Subjekts. Der Beobachter steht also im Vordergrund. Doch gilt er weder als letzte Instanz, was zum Relativismus führen würde, noch als austauschbare abstrakte Hypothese. Er charakterisiert sich vielmehr durch seine Fähigkeit, die objektbezogene Gewissheit in sinnvolle Evidenzen zu verwandeln. Das Ich fungiert weder als Schöpfer der Welt noch als bloßer Empfänger von Reizen. Die Phänomenologie betont vielmehr die transformative Macht der Erfahrung und legt diese als Leistung aus, das heißt als Erfahrung von jemandem und nicht nur von etwas. Das Erfahren erschöpft sich nicht in der äußeren Relation zwischen zwei vor-existierenden Polen, sondern erweist sich als Wandlungsphänomen, in dem subjektive und objektive Elemente zusammenfallen und gemeinsam aufgehen. Ab den Ideen bezeichnet Husserl diesen Zusammenhang mit dem Begriff der Konstitution, die auf die sinnstiftende Wirkung des Subjekts hindeutet (vgl. Husserl 1913). Doch gerade in den bereits zitierten Vorlesungen von 1910/11 lässt sich eine schlichte und sehr konkrete Darlegung der wirkungsvollen Eigentümlichkeit des Ichs finden. Husserl bezeichnet hier das Ich als »›das Ding‹, um welches sich eine ins Unbegrenzte fortgehende dingliche Umgebung gruppiert« (Husserl 1973: 113). Das Ich konstituiert die Welt nicht im Sinne, dass diese als bloße Projektionsfläche fungiert, sondern dass diese sich um es herum konzentriert und dadurch eine bestimmte Orientierung bekommt. Die permanente Leistung der Subjektivität besteht im Einprägen von Richtungen und Relationen in eine Umgebung, die sonst eine bloße Sammlung von Dingen wäre. Das ichliche Leben verwandelt die bloße Umgebung in einen sinnvollen Horizont und – erkenntnismäßig – die bloß subjektive Gewissheit in konstitutive Evidenz. Das bedeutet jedoch, dass die vollständige Entfaltung des subjektiven Lebens einen ins Unendliche fortgehenden Horizont braucht und zugleich die Möglichkeit voraussetzt, in einem solchen Horizont Stellung zu beziehen und als aktiv gruppierendes Zentrum zu wirken. Das Konstitutionspotential des Ich stellt das niedrigste, unbemerkte und doch unentbehrliche Niveau der subjektiven Autonomie
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dar, die in der Mitte der politischen und moralischen Debatte steht und uns einen phänomenologisch fundierten Zugang zum Problem der Prekarität bieten wird.
Fragestellung Zu Beginn meiner Untersuchung bin ich phänomenologisch an die Durchführung einer Epoché gebunden. Die bestehenden Vor-Interpretationen sollen außer Acht gelassen, ja eingeklammert werden, um die Erste-Person-Perspektive zu eröffnen. Das aktuell brennende Phänomen der Prekarisierung der Arbeits- und Lebensbedingungen wird zumeist als eine authentische Revolution empfunden, es wird als ein Prozess der Umwälzung von stabilen und vertrauten Lebensstilen beschrieben. Nun soll jedoch gefragt werden, ob nicht eine andere Interpretation möglich wäre. Sollte die Philosophie heute nicht vielleicht die durch Boethius inspirierte Aufgabe übernehmen, uns von der Angst zu befreien, die mit jeder Neuigkeit einhergeht, und die vielleicht unsere Wahrnehmungs- und Deutungsfähigkeit behindert? Könnten also die aktuellen prekären Existenzbedingungen als eine Krise von veralteten Lebens- und Sozialisierungsformen verstanden werden? Eine Krise, die zugleich die Herausforderung birgt, neue Formen des Da- und Mit-Seins zu entwickeln, die vielleicht sogar die Entwicklung einer authentischeren Gestalt des Subjektiven ermöglichen? Eine solch hoffnungsvolle Deutung des Prekären wird sich als eine irreführende Verschönerung der Lage erweisen, die überdies theoretisch unbegründet ist. Mein Beitrag zielt nicht darauf ab, empirische Fakten und Studien auszuwerten, die eine solche Auffassung des Prekären widerlegen oder bestätigen können, sondern die grundlegenden theoretischen Widersprüche aufzuzeigen, die diese These unterminieren. Ich möchte also zunächst die Strukturen der Subjektivität darlegen, die sich mit der erhofften konfliktlosen Integration des Prekären in das menschliche Leben als unverträglich erweisen.
Konstitution und Autonomie Die Phänomenologie geht von der Annahme aus, dass das subjektive Leben nur in und aus der Erfahrung heraus möglich ist. Die Synthesen, die in unserer Erfahrung stattfinden, sind für uns real beziehungsweise machen sie unsere gesamte und für uns einzig mögliche Realität aus. Diese grundlegende Leistung stellt eine fundamentale Vorform und Vorbedingung der personalen Autonomie dar. Meine These lautet, dass sich die Autonomie in der Phänomenologie als die stetige Performativität des Subjekts entfaltet. In jeder perzeptiven Leistung drückt sich konkret die Autonomie des Subjekts aus, indem dieses dadurch seine Welt und vor allem
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sich selbst erschafft. Jeder gestaltet dabei eine Umwelt von Bedeutungen und Relevanzen, die schließlich die einzige Welt ist, in der wir leben können. In diesem unendlichen Prozess konstituiert das Ich auch sich selbst. Die selbst-bezogene Seite dieser Dynamik, die die individuelle Lebensgeschichte ausmacht, ist von ihrer welt-konstitutiven Seite nicht zu trennen. Ich erkunde die Welt, indem ich mich selbst entdecke und gestalte. Die Relevanzen, die sich in meiner Wahrnehmung durchsetzen und an denen ich mich orientiere, weisen auf bestimmte Strukturen, Tendenzen und Bedürfnisse meiner Person hin. Die Autonomie stellt eine wesentliche Vorbedingung dieser komplexen Leistung dar. Nur in zweiter Instanz identifiziert sie die Dimension der Moral und der Institutionen. Zuvor – in genetischer Hinsicht beziehungsweise tiefer in einem existentiellen Sinn – bezeichnet die Autonomie den sinnstiftenden Selbstbezug, der mich selbst als Subjekt hervorbringt und begründet. Meine Substanz als Subjekt (natürlich nicht als organisches Wesen, sondern als Akteur, als Subjekt von Meinungen und Rechten, als Träger von Emotionen und Relationen) gründet auf meiner Fähigkeit, mich selbst auf die Probe zu stellen, indem ich meine Welt erteste. Meine Konsistenz ist die Konsistenz meiner Welt. Meine eigene subjektive Kohärenz fußt auf der Kohärenz meiner Beziehungen und Weltsichten. Meine Widersprüche wirken sich in den Spannungen und Spaltungen meiner Welt aus. Das darf weder als eine platte Projektion oder Spiegelung des Ichs auf die Welt noch als ein abstrakt metaphysischer Idealismus verstanden werden. Der Vergleich zwischen dem phänomenologischen Verständnis von Autonomie und der klassischen kantischen Definition lässt wesentliche Unterschiede hervortreten. Im Gegensatz zur alltäglichen Auffassung von Autonomie als Wahlfreiheit und als bewusste Teilhabe an Entscheidungen und Prozessen, die uns betreffen, greift Kant auf eine fundamentale Ebene zurück, die die Autonomie als Selbst-Normierung und Selbst-Regulierung versteht: Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten; alle Heteronomie der Willkür gründet dagegen allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Prinzip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen. In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objekte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muss, besteht das alleinige Prinzip der Sittlichkeit. (Kant 1913: 59) Nach Kant ist die Fähigkeit des Subjektes, sich selbst das Gesetz zu geben, von jeglicher äußeren, materiellen, empirischen Bedingung unabhängig. Die Autonomie eröffnet das Reich des Unbedingten. Kant sieht in der Unabhängigkeit des rationalen Verhaltens von der natürlichen Kausalität, die die dingliche Welt reguliert, das Hauptmerkmal des praktischen menschlichen Lebens.
Resonanz, Autonomie und prekäre Zeit
Obwohl die kantische Position für seine Formalität als phänomen- und lebensfern sowohl kritisiert als auch teilweise missverstanden worden ist, hat sie unleugbar die philosophische Debatte polarisiert und stellt nach wie vor einen der aktuellsten Ansätze in der angewandten Ethik dar.2 Husserl selbst wird sowohl in seinen epistemologischen Reflexionen als auch in seinen ethischen Versuchen stark von Kant beeinflusst.3 Sein authentisches Interesse gilt jedoch eher den Fundamentalstrukturen der Subjektivität als den Prinzipien der Moral. Seine Auffassung der menschlichen Autonomie wird also zugunsten eines tieferen Verständnisses des subjektiven Lebens grundsätzlich revidiert. Der Kern der kantischen Theorie bleibt jedoch unverändert: Wir sind, für uns und für die Anderen, keine einfache Gegebenheit, kein vorgefundenes Etwas, sondern ein Projekt und eine Aufgabe. Wir sind, indem wir uns selbst gestalten. Unser Wesen besteht in der komplexen Entfaltung der persönlichen Autonomie.
Resonanz Die oben skizzierte Parallelität zwischen Kant und Husserl sowie die Darlegung der Subjektivität als eine fortgehend selbst-konstitutive Aufgabe könnte eine stark voluntaristische Auffassung suggerieren. Es soll jedoch betont werden, dass das Ausleben unserer Autonomie weder unmittelbar in einen vor-gefassten globalen Entschluss noch in einen intellektualistisch abstrakten und idealen Selbstentwurf mündet. Die Selbst-Regulierung, die in der kantischen Auffassung im Vordergrund steht, wird in der Phänomenologie im Sinne der Selbst-Konstitution verstanden, also als die unerschöpfliche Aufgabe, für eine innere Übereinstimmung der eigenen Motive, Interessen, Kenntnisse, Wahrnehmungen et cetera zu sorgen. Eine solche unendliche Harmonisierung lässt sich effektiv durch den Begriff der Resonanz näher verstehen. Das Selbst erlebt in einer unbemerkten und vor-bewussten Weise4 eine permanente Resonanz seiner inneren Pluralität und seiner mannigfaltigen Beziehungen zur Welt. Nur dadurch entwickelt und bewahrt es seine fließende Identität. Die Resonanz impliziert das Mitschwingen eines schwingungsfähigen Systems, das 2
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Die Schule des Principlism zum Beispiel, die auf das klassische Werk von Childress/Beauchamp (1977) zurück geht und später unter anderem von Engelhardt (1996) revidiert worden ist, greift auf die kantische Auffassung der Autonomie zurück und macht sie zum Hauptprinzip des Umgangs zwischen Ärzten und Patienten. Vgl. Husserls Vorlesungen zur Ethik von 1908-1914 (Husserl 1988). Die Frage nach der Rolle des Unbewussten für die Funktion der inneren Resonanz reicht über die Grenzen dieses Beitrags hinaus, da sie eine umfassende Reflexion zum Verhältnis zwischen Philosophie, Phänomenologie und Psychoanalyse erfordert. Zu diesem Thema vgl. den ausführlichen Beitrag von Brudzińska (2012).
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– anders als ein einfaches Echo – nicht abschwächt, sondern die Anfangsanregung vervielfältigt. Wir konstituieren uns als autonome Subjekte nicht in einer lähmenden ständigen Selbst-Beobachtung. Unser Selbstbewusstsein sowie unsere Handlungsbereitschaft gründen vielmehr in einer unthematischen, spontanen Resonanz. Kein Umgang mit der Welt ist ohne eine konstante Rückbeziehung auf sich selbst möglich, auf die eigene Position und das Selbstbefinden, auf die Kohärenz und die Widersprüche der eigenen intentionalen Geschichte, auf die Spannungen und Bindungen, die eine solche Geschichte ausmachen. Dadurch erreichen wir den Vervielfältigungseffekt, der unserem inneren Leben jede Linearität nimmt. Es handelt sich um eine Resonanz, die wir nicht hervorrufen, sondern eben sind. Sie unterscheidet sich deswegen sowohl von der Reflexion auf sich selbst, als auch von jeder Form des Wissens, welches das Leben eher verhindern und verzögern als ermöglichen würde. Wir leben und vollziehen einfache und komplexe Tätigkeiten auf der unbemerkten Basis eines inneren und äußeren Echos, das unserem Leben eine eigentümliche Selbstbezogenheit und eine spezifische Realität verleiht. Real zu sein, bedeutet für die Subjekte, nicht bloß in der Raumzeitlichkeit präsent zu sein, sondern auch von einer sinnvollen Resonanz durchzogen zu werden. Diese spielt sich in einer inneren und in einer äußeren Dimension ab. Unser Wahrnehmen und Erkennen, Leiden und Tun hallt sowohl innerhalb unseres Bewusstseins wider als auch in den sozialen Kontexten, in die wir uns einordnen und in denen wir mit Anderen zusammenwirken. Die akustische Metapher des Nachhallens verweist auf das Phänomen der inneren sowie der physischen Stimme, die zugleich den inneren Dialog symbolisiert und das Hauptmedium der zwischenmenschlichen Kommunikation darstellt. Die soziale Resonanz ist ein sehr komplexes und differenziertes Phänomen. Sie spielt sich in den verschiedenen Zusammenhängen des kommunikativen Austauschs, der Zwischenleiblichkeit, der Mimik und Gestik ab. Sie dient der gemeinsamen Strukturierung des sozialen Raums und kann deswegen auf den Bereich der empirischen Untersuchungen der Soziologie, Anthropologie, Psychologie et cetera zurückgeführt werden. Die soziale Wirkung von Resonanzphänomenen lässt sich dennoch ‒ trotz ihrer offenkundigen Relevanz ‒ nicht per se verstehen, denn sie baut auf intrasubjektiven Prozessen auf und setzt bestimmte Strukturen und Funktionen der Subjektivität voraus, die zunächst zu klären sind.
Innere Zeitlichkeit Die intrasubjektive Resonanz ist von den Leistungen des Selbst-Bewusstseins zu unterscheiden. Es handelt sich nicht um eine bewusste Reflexion, die der Wahrnehmung oder der Handlung folgt und sie im Nachhinein beurteilt. Innere Reso-
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nanz kann vielmehr als eine innere Refraktion, als ein Echo oder eine Schallbrechung beschrieben werden. Es ist noch nicht der innere Dialog, der unser Leben oft begleitet, sondern das Bewusstsein, dass wir nie nur direkt und unmittelbar mit Dingen und Sachverhalten verschiedener Natur zu tun haben können, ohne dass diese eine Wirkung auf unsere innere Form ausüben. Unser Umgang mit den Dingen ist zugleich immer ein Umgang mit uns selbst. Das Widerhallen unserer Empfindungen und Tätigkeiten setzt eine innere Pluralität voraus. Um diesen alltäglichen Refraktionseffekt zu ermöglichen, darf das Bewusstsein weder als ein Monolith noch als eine lineare Kette von Handlungen und Fakten verstanden werden. Die phänomenologische Beschreibung kommt uns in diesem Punkt mit der Darstellung des Bewusstseins als einem einheitlichen und vernetzten Strom entgegen, der viele verschiedene Strömungen in sich trägt. Der Bewusstseinsstrom beherbergt die inneren Wirkungen und Gegenwirkungen von mannigfaltigen Trieben, Wollen, Erwartungen und Wahrnehmungen. Das ist allerdings kein rein empirisches Phänomen. Die phänomenologische Analyse identifiziert vielmehr die basale Vorbedingung dieser intrasubjektiven Selbstresonanz in Form einer inneren Zeitlichkeit. Wir leben in der Zeit. Wann? Wie lange? Ab wann? All dies sind zentrale Fragen unserer Kommunikation sowie unseres Selbst-Dialogs. Solche Fragen sind nicht selten durch einen eindringlichen emotionalen Ton geprägt und vermitteln zumeist mehr als nur ein Bedürfnis nach schlichten Informationen. Wir leben und planen in Kalendertagen und Stunden. Zeitpläne sind die meistgefragten, meistgefürchteten und stressbeladensten Dokumente, die jedem Projekt beizufügen sind. Doch wir leben nicht nur in dieser objektivierten, gemessenen, konventionellen Zeit. Die philosophische und existentielle Reflexion stellt vielmehr verschiedene Formen der erlebten, subjektiven Zeit heraus, die für uns ebenso lebenswichtig sind. Unser Körper zeigt zum Beispiel eine eigene Zeitlichkeit, die auf den immer wiederkehrenden Trieben und Bedürfnissen nach Erholung, Nahrung, Nähe und Kontakt beruht. Diese Dynamik charakterisiert sich als eine empirische Zeitlichkeit, die jedoch nicht bloß materiell und physiologisch ist. Jedes Bedürfnis wird vielmehr in unser Bewusstsein aufgenommen, es löst individuelle Reaktionen aus und lässt unsere singuläre Persönlichkeit jeweils unterschiedlich widerhallen. Jedes erfüllte oder unerfüllte Bedürfnis bestimmt die Subjektivität auf eigene Weise, lagert sich im Bewusstsein ab, biegt uns, stiftet Gewohnheiten und steuert dadurch einen wesentlichen Beitrag zu unserer Selbstresonanz bei. Im Anschluss an die augustinische Selbstbesinnung (vgl. Augustinus 1888) beschreibt die Phänomenologie überdies eine weitere Form der subjektiven Zeitlichkeit, die sich als Grundstruktur der Subjektivität erweist und deswegen eine universelle Gültigkeit beansprucht. Die tiefe Struktur des Erlebens besteht in einer gefühlten Zeitlichkeit, die die Erfahrung prägt. Jede Erfahrung präsentiert sich in
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der Form der Gegenwart, sie beschäftigt uns und füllt unsere aktuelle Erfahrung, sodass dadurch der Umfang dieser Gegenwart selbst bestimmt wird. Die evidente Gegenwärtigkeit der Erfahrung kann allerdings nicht ohne einen inneren Bezug zum Vergangenen bestehen. Jedes Erlebnis trägt einen Horizont von Vergangenheit in sich, der das Woher der Erfahrung bestimmt. Husserl beschreibt ein solches zeitliches Echo als einen »Kometenschweif«, der jeder Erfahrung anhaftet.5 Jede Erfahrung versinkt langsam in der Vergangenheit. Sie verschwindet damit nicht, sondern hallt wie eine Stimme nach, die aus der Vergangenheit heraus weiter fortwirkt, obwohl sie immer schwächer und schwächer wird. Unser Umgang mit dem, was erfahren wird, besteht notwendigerweise zugleich in einem Loslassen und einem Behalten, das Inhalte und Formen verwandelt. Eine solche Wandlung begründet die Möglichkeit selbst, etwas zu erleben und es in unser bewusstes Leben zu integrieren. Der wirkungsvolle Bezug auf die Vergangenheit stellt jedoch nur einen Aspekt der inneren Zeitlichkeit dar. Jede Erfahrung trägt ebenso einen Zukunftshorizont in sich, dank dessen sie sich nach vorne ausdehnt, vorgreift, antizipiert und einen Dialog mit künftigen Erfahrungen aufbauen kann. Die so antizipierten Möglichkeiten von Erfahrung sind keine bloßen Fiktionen, sie erschöpfen sich nicht in Phantasien. Sie geben vielmehr Orientierung und bedingen den weiteren Ablauf der Erfahrung selbst. Wir würden keinen Schritt machen, wenn in unserer Wahrnehmung nicht implizit erwartet würde, dass der Boden hält, dass die Gravitationsgesetze gelten und so fort. Jede Erfahrung trägt also Erwartungen in sich, ihr Sinn besteht oft sogar mehr aus Erwartungen als aus gegenwärtigen Kenntnissen. Die skizzierten Strukturen der Erwartung und des langsamen Schwindens der Erfahrung bilden zwei Nicht-Präsenzen, die jede gegenwärtige Erfahrung umgeben und ermöglichen. Sie bezeichnen leere Horizonte, die den notwendigen Resonanzraum für jede Erfahrungssituation darstellen. Diese zeitlichen Strukturen bieten den Resonanzraum für jedwedes Erlebnis und damit für ein sinnvolles Leben. Das menschliche, bewusste Wesen braucht eine solche virtuelle zeitliche Ausdehnung, damit sein Leben überhaupt Sinn ergeben und erfahrbar sein kann. Diese lebenswichtige innere Zeitlichkeit ist durch ihre Kontinuität und Flüssigkeit charakterisiert. Nichts bleibt im Bewusstsein isoliert und verbindungslos. Jede schwindende Erfahrung färbt auf die nachkommende ab und jede aktuelle nimmt weitere künftige Momente vorweg. Die Erfahrung fließt und verbindet. Damit unterliegt sie aber auch einem ständigen Wandel. Die innere Zeitlichkeit bezeichnet eine elementare, aber wesentliche kreative Kraft, die verhindert, dass unsere innere Welt erstarrt. Das subjektive Leben wurzelt in dieser primitiven Kreativität und definiert sich darüber. Nur dank der inneren Leerehorizonte der Antizipation 5
»Aber diese Jetztauffassung ist gleichsam der Kern zu einem Kometenschweif von Retentionen, auf die früheren Jetztpunkte der Bewegung bezogen« (Husserl 1966: 30).
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und des Schwindens kann der Prozess von fortgehender Umwandlung und Umgestaltung stattfinden, der ein sinnvolles Erfahrungsleben ausmacht. Nur dadurch können wir die Herausforderungen der Welt bewältigen, ohne zu zerbrechen oder zu resignieren. Nur dadurch werden diese als Etappe einer persönlichen Entwicklung integriert und erscheinen als Pfeiler unserer autonomen Selbstgestaltung. Doch dies ist das exakte Gegenteil der allgegenwärtigen Zeit-, Arbeits- und Stundenpläne, in denen wir die Zeit zerteilen und objektivieren. Sie beruht nämlich auf dem schöpferischen Potential der leeren inneren Horizonte; sie bedarf der Möglichkeit, sich in der Zeit auszudehen, auf künftige Erfahrungen vor- und auf die vergangenen zurückzugreifen. Wie lässt sich nun eine solche innere zeitliche Resonanz in Zeiten der prekären Arbeit, des flexiblen Lebens und der technologischen Gleichzeitigkeit ausleben?
Die Zeit der Prekarität Man könnte vermuten, dass die soeben skizzierte wesentliche Funktion der inneren Zeitlichkeit wie ein intimer Schatz und eine individuelle Ressource im inneren Leben aufbewahrt und behütet sei und dass der Strom der Erfahrung unbeirrbar immer weiter fließe. Doch unser Erfahrungsleben stellt primär einen Resonanzraum für alles dar, was uns begegnet. Umwelt und Umgebung, intersubjektive Verhältnisse und Interaktionen, Zwischenfälle und äußere Zäsuren bilden den unumgehbaren Stoff unseres Lebens und beeinflussen seinen Rhythmus. Die Prekarität lässt sich in diesem Rahmen als eine eigenartige Organisation der objektiven Zeit interpretieren, die tiefe Auswirkungen auf die innere Zeitlichkeit hat. Die objektive Zeitordnung gestaltet sich nicht bloß parallel zur subjektiven Zeit. Vielmehr lassen sich gravierende Interferenzen zwischen beiden herausstellen; sie weisen auf einen belastenden Konflikt hin. Da sie die Lebenskraft und Zeit der Menschen zum Zwecke der Produktion und des Profits bindet, zeitigt jede Arbeitsorganisation tiefe Auswirkungen auf das Leben von Individuen und Gemeinschaften. Wir sollten daher die Idealisierung von vergangenen, überwundenen oder marginalisierten Arbeitsweisen vermeiden, die eine unangemessene Bagatellisierung von früheren, aber nicht weniger gewaltsamen Formen der Ausnutzung mit sich brachten. Die aktuelle Flexibilisierung der Arbeitswelt weist allerdings manche Eigenheiten auf, die in direktem und konfliktbeladenem Gegensatz zur Struktur der inneren Zeitlichkeit und zu ihrer Funktion als Resonanzraum stehen. Das erste auffällige Element der aktuellen Lebensform besteht in der Fragmentierung der Arbeit, das heißt in der Forderung, nicht nur die eigenen Aufgaben, sondern die ganze Arbeitswelt immer wieder radikal zu ändern. Wiederholte Wechsel von Arbeitsbedingungen, -gebieten und Arbeitsorten gehören heute
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als mehr oder weniger passiv erlittene Tatsache zum Leben aller Beschäftigten. Wie Sennett gezeigt hat, bringt jeder Wechsel einen Abschluss mit sich (vgl. Sennett 1998). Die Lebenszeit verliert an Kontinuität und gestaltet sich als eine Kette von abgeschlossenen Momenten, die nicht miteinander in Verbindung stehen. Die vorhergehenden Erfahrungen versinken nicht mehr in einem sedimentierten Horizont, sondern verschwinden, da die gesamte Umgebung ihnen gegenüber jeweils fremd und unpassend geworden ist. Sie werden in der Mitgestaltung der aktuellen Erfahrung nicht mehr gefordert und entfremden sich deswegen wie tote und sinnlose Elemente. Der innere Zukunftshorizont, der auf der strukturierten und fundamentalen Erwartung von Kontinuität beruht, ist ebenso bedroht, besonders durch eine Arbeitsform, die strukturell aus einzelnen Projekten besteht. Mit Heidegger ließe sich sagen, dass solche Projekte die entscheidende »Entwurf«-Komponente verfehlen und sogar verhindern (Heidegger 1977: § 31, 145). Die Phantasie, die Selbstvorstellung und die Selbstprojektion in die Zukunft werden durch Arbeitsbedingungen verhindert, die weniger die eigentliche Zweckmäßigkeit der Arbeit als ihre bloße Endlichkeit im Blick haben. In der Durchführung der Aufgaben wird weniger das eigentliche Ziel der Tätigkeit beachtet, das zusammen mit ihren sonstigen Folgen in einer fernen Zukunft liegt, als die unmittelbare Möglichkeit, die Arbeit selbst in einer festgelegten Zeit auszuführen. Allerdings wird dadurch die Zukunftsperspektive nicht nur eingeschränkt, sondern auch wirkungslos. Sowohl im Hinblick auf die Zukunft als auch auf die Vergangenheit erweist sich die zeitliche Resonanz des Subjekts als blockiert, verhindert und erstarrt. Die Arbeitsorganisation erfordert einen ausschließlichen sowie blinden Fokus auf die Gegenwart, welche die Komplexität der inneren Resonanz des Ichs in seinen vergangenen und künftigen Dimensionen zugunsten der Unüberschaubarkeit und Flexibilität der aktuellen Marktbedingungen opfert. Ein zweiter Aspekt dieser negierten Resonanz verweist nicht auf eine Zäsur, sondern auf die Simultaneität, welche die aktuellen Arbeitsbedingungen erfordern. Dank der technologischen Infrastrukturen, die uns überall in Verbindung halten, decken sich Arbeits- und private Lebenszeit ohne weiteres. Das verlangt von jedem, zugleich an verschiedenen Orten zu sein, mit diversen Umgebungen zu interagieren, unterschiedliche Interaktionsmuster abzuspielen. Die Simultaneität, die im Bewusstseinsleben in Form der fortlaufenden Vertiefung von Erfahrung als Sedimentierung und Verkomplizierung der erfahrenden Momente erlebt wird, wird nun in den entgegengesetzten Formen der Vereinfachung, der Unverbindlichkeit, der unmittelbaren Deckung sowie schließlich des Kurzschlusses ausgelebt. Die Trennung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit ist nicht geduldet, um letztendlich viel tiefere Zäsuren in der eigenen Umwelt und inneren Zeitlichkeit zu verschleiern. Dem Arbeiter, der im Unternehmen sein Privates ausleben darf und dessen
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Privatssphäre vom Unternehmen mitgestaltet wird, bleiben die Abgründe verhüllt, die seinen Erfahrungsstrom durchqueren. Seine innere und soziale Resonanz als Subjekt wird dadurch nicht bloß geschwächt, sondern in die Äußerlichkeit verlagert und dadurch in eine Form von sozialer Abhängigkeit verwandelt. Die Anerkennung, die jedoch ein wichtiges Ziel von Kommunikation darstellt, verliert den Charakter der Prozesshaftigkeit und der Mediation, in die das Subjekt mit seinen verschiedenen inneren Komponenten involviert ist. Hingegen wird die Anerkennung als eine unmittelbare, einseitige und narzistissche Forderung ins Spiel gebracht, die den Prozess von Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung eher hindert als fördert. Ein letzter Aspekt geht auf die generative Bedeutung der Zeitlichkeit zurück. Sowohl die Psychologie als auch die Phänomenologie betonen die zentrale Bedeutung der generationsübergreifenden Interaktion für die Selbstkonstitution einer zeitlich veranlagten Subjektivität. Das Verhältnis zu älteren und folgenden Generationen und die eigene Positionierung sowie die Mechanismen der Anerkennung und Distanzierung, die in diesem Zusammenhang stattfinden, stellen keine kontingenten Faktoren der Selbstgestaltung eines Individuums und einer menschlichen Gruppe dar. Sie sind vielmehr unentbehrliche und unerschöpfliche Prozesse, die das Leben eines jeden Individuums tiefgreifend bestimmen. In der Beziehung mit der älteren Generation erleben wir Inhalte und Lebensstile von vergangenen und dennoch weiter wirkenden Zeiten. In der imaginativen Beziehung mit den künftigen Generationen finden wir ein Echo unserer aktuellen Wünsche und Erwartungen. Die Prekarisierung der Lebensbedingungen stoppt und verzerrt solche Prozesse, indem das traditionelle Aufeinanderfolgen der generationellen Aufgaben und Funktionen auf verschiedene Art und Weise suspendiert wird. Durch die Verlängerung der Arbeitszeit für die Älteren und die Verlangsamung des Zugangs zur Arbeitswelt für die Jüngeren entsteht eine trügerische Simultaneität, der keine Gleichwertigkeit zwischen den Generationen entspricht. Wir sind offenbar alle in derselben Weise zur Leistung aufgefordert. Scheinbar entsprechende Tätigkeitsund Konsummöglichkeiten werden allen versprochen. Dies führt jedoch nur zur Vervielfältigung von Rollen und Ansprüchen, ohne dass eine effektive intergenerationale Resonanz möglich wird.
Schlussbemerkung Die Fragmentierung der Zeithorizonte durch die prekären Arbeitsbedingungen, die abstrakte Simultaneität der Technologie und die Verzerrung des intergenerationalen Austauschs bilden drei Momente der Entfremdung, welche deutlich zeigen, wie sich Prekarität auf die existentielle Struktur der Zeit auswirkt. Eine sol-
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che Veränderung ist allerdings nicht bloß theoretischer Natur. Sie beeinflusst vielmehr die subjektive Fähigkeit, innere und soziale Resonanz zu erleben, sowohl in sich als auch gegenseitig nachzuhallen, sich zu vervielfältigen und damit das eigene kreative Potential zu entfalten. Die subjektive Autonomie wird dadurch so stark beansprucht, dass es fraglich wird, ob das eigentlich menschliche, rationale und sinnvolle Leben unter solchen Umständen im Wesentlichen bewahrt und weiter geführt werden kann, oder ob wir nicht vielmehr vor einer radikalen sowie bedrohlichen Entsubjektivierung stehen, die eine erschütternde Unfähigkeit zum Sich-Verantworten und zum Sich-Beziehen mit sich bringt. Es scheint, dass Baumans flüchtige Moderne (vgl. Bauman 2003: 6) die gravierende Nebenwirkung eines erstarrten Bewusstseins hervorgerufen hat, das in der bloßen Identität mit sich selbst verharrt, um sich nicht definitiv zu verlieren. Eine starre und vorweggenommene Identität blockiert jedoch die Selbstgestaltung und Selbstentfaltung der Persönlichkeit. Die personale Autonomie wird so eher zu einer defensiven Selbstqualifizierung und abstrakten Auszeichnung als zu einer Bedingung, die weitere Entdeckungen und Entwürfe ermöglicht. Die Prekarität droht schließlich, ihre eigenen anthropologischen Voraussetzungen zu zerfressen: Flexibilität wandelt sich in Starre, Kreativität in Fixierung von Identität. Unter diesem Gesichtspunkt scheint die letzte Wirtschaftskrise kein kontingentes Phänomen darzustellen, sondern ein Symptom des strukturellen Widerspruchs zwischen der menschlichen Existenz und den aktuellen sozialen Bedingungen.
Literatur Augustinus (1888): Bekenntnisse, Leipzig: Reclam. Bauman, Zygmunt (2003): Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beauchamp, Tom L./Childress, James F. (1977): Principles of Biomedical Ethics, New York/Oxford: Oxford University Press. Bedorf, Thomas (2010): Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Berlin: Suhrkamp. Borsò, Vittoria/Cometa, Michele (Hg.) (2013): Die Kunst, das Leben zu »bewirtschaften«. Biós zwischen Politik, Ökonomie und Ästhetik, Bielefeld: transcript. Brudzińska, Jagna (2012): »Depth Phenomenology of the Emotive Dynamic and the Psychoanalytic Experience«, in: Lohmar, Dieter/dies. (Hg.): Founding Psychoanalysis Phenomenologically. Phenomenological Theory of Subjectivity and the Psychoanalytic Experience, Dordrecht/Heidelberg/London/New York: Springer, S. 2352. Conrad-Martius, Hedwig (1959): »Die transzendentale und die ontologische Phänomenologie«, in: Taminiaux, Jacques/Van Breda, Herman (Hg.): Edmund Husserl
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(1859-1959). Recueil commémoratif publié à l’occasion du centenaire de la naissance du philosophe, Phaenomenologica 4, Den Haag: Martinus Nijhoff, S. 175-184. Heidegger, Martin (1977): »Sein und Zeit«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 2, Frankfurt a.M.: Klostermann. Husserl, Edmund (1966): Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893-1917), Husserliana X, Den Haag: Martinus Nijhoff. Husserl, Edmund (1973): Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil: 1905-1920, Husserliana XIII, Den Haag: Martinus Nijhoff. Husserl, Edmund (1988): Vorlesungen über Ethik und Wertlehre (1908-1914), Husserliana XXVIII, Dordrecht/Boston/London: Kluwer. Kant, Immanuel (1913): Kritik der praktischen Vernunft, Berlin: Akademie-Ausgabe. Loidolt, Sophie (2010): Einführung in die Rechtsphänomenologie. Eine historisch-systematische Darstellung, Tübingen: Mohr Siebeck. Sennett, Richard (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berlin-Verlag. Tristram Engelhardt, Hugo (1996): The Foundations of Bioethics, New York/Oxford: Oxford University Press.
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Krise als Regierungskunst und Prekarität als Lebensform Dario Gentili
Die Konzepte ›Krise‹ und ›Konflikt‹ wurden im Laufe der Wissenschaftsgeschichte zu einem einzigen Knoten festgezurrt und scheinen heute fast unauflösbar miteinander verbunden; daran beteiligt waren ganz unterschiedliche und allgemein anerkannte Wissenschaftsdisziplinen, von der Politikwissenschaft bis hin zur Philosophie, Medizin, Wirtschaft und der Psychoanalyse. An dieser Stelle soll jedoch nicht die Begriffsentwicklung von ›Krise‹ analytisch nachgezeichnet werden. Vielmehr entferne ich mich von ihren Anwendungen und Auslegungen in den verschiedenen Disziplinen, um mich auf das philosophische Dispositiv zu konzentrieren, das zu seinem bis heute anhaltendenden, derart übergreifenden und weit verbreiteten Gebrauch geführt hat. Am Ende seines Textes zum Konzept der Krise kommt Reinhart Koselleck in den Geschichtlichen Grundbegriffen auf die etymologische Analyse des Begriffs und den von ihm durchlaufenen zeitlichen wie auch fachspezifischen Bedeutungswandel zu sprechen (vgl. Koselleck 2004). Betrachtet man dessen griechischen Ursprung so scheint die Prägnanz seiner ursprünglichen Bedeutung zunehmend abgeschwächt worden zu sein und in der Moderne gar eine gewisse Unbestimmtheit erreicht zu haben. Vermutlich rührt seine so erfolgreiche und hohe Verbreitung aus dieser Unbestimmtheit. Kosellecks minutiöse Analyse des Krisenbegriffs kommt zu folgendem Schluss: »Krise« ist sowohl anschlussfähig wie anschlussbedürftig, sinnpräzisierend aber auch sinnsuchend. Diese Ambivalenz kennzeichnet den ganzen Wortgebrauch. »Krise« wird austauschbar mit »Unruhe«, »Konflikt«, »Revolution«, so wie das Wort, relativ vage, aufgerührte Stimmungs- oder Problemlagen umschreiben kann. (Koselleck 2004: 649) Wir verdanken der Moderne also ein formbares Konzept der Krise: Es wandelt sich je danach, worauf es angewendet und mit welchen Begriffen es in Verbindung gebracht wird. Die Assoziation der Begriffe ›Krise‹ und ›Konflikt‹ ist hierfür exemplarisch: Das Konzept der Krise nimmt hier die Bedeutung des Konflikts an und wird durch diesen geformt und von ihm durchdrungen. Diese von Koselleck aufgestellte
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These zur Beziehung von Krise und Konflikt soll hier nicht nur auf den Kopf gestellt werden. Vielmehr vertrete ich sogar die Meinung, dass die hohe Verbreitung des Begriffs Krise kein Indiz für dessen semantische Vagheit ist,1 sondern belegt, wie höchsteffizient sein Dispositiv ist.2 Diese höchste Effizienz kann gerade heute beobachtet werden, wo doch die Krise nunmehr zur Regierungskunst par excellence geworden ist. Dementsprechend können ausgehend von der Analyse des Dispositivs der aktuell gelebten Krise die heutzutage vorherrschende Machtform und der von ihr angestoßene Prozess politischer Subjektivierung bestimmt werden. In der Tat lässt sich die aktuelle Krise auf keine dieser historischen Formen zurückführen, die das Dispositiv der Krise in der Vergangenheit angenommen hat: weder auf die Krise der Staatsbürgerschaft, aus der das Volk als Subjekt hervorging, noch auf die Krise des Fordismus, welche die Aufstände der Arbeiterklasse nach sich zog. Insofern ist es von grundlegender Wichtigkeit, das Wesen der jetzigen Krise auszumachen, um mögliche politische Subjektivierungen und die Form jenes Konflikts, den sie mit sich bringt, bestimmen zu können. Wenn also die Macht für die zeitgenössische Gesellschaft und für die kapitalistischen Produktionsmodi eine biopolitische Ordnung festsetzt, dann gestaltet sich die aktuelle Krise gemäß einem biopolitischen Paradigma und die ihm entspringende Lebensform ist Prekarität.
Krisis Die Art und Weise, wie sich die Krise aktuell gestaltet, reicht bis weit in die Vergangenheit zurück. Daher ist es sinnvoll, wie auch Koselleck, vom griechischen Etymon des Krisenbegriffs auszugehen, um sein semantisches Feld vollauf nachvollziehen 1
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»Der Ausdruck [Krise] hat sich also nie zu einem klaren Begriff so weit kristallisiert, dass er trotz – oder wegen – seiner Vieldeutigkeiten als Grundbegriff der sozialen, ökonomischen oder politischen Sprache aufgefasst worden wäre« (Koselleck 2004: 624). Die dreigliedrige Definition des Dispositivbegriffs übernehme ich von Agamben, die er in Anlehnung an Foucault entwickelt: »a. [Das Dispositiv] ist eine heterogene Gesamtheit, die potentiell alles Erdenkliche, sei es sprachlich oder nichtsprachlich, einschließt: Diskurse, Institutionen, Gebäude, Gesetze, polizeiliche Maßnahme, philosophische Lehrsätze usw. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann. b. Das Dispositiv hat immer eine konkrete strategische Funktion und ist immer in ein Machtverhältnis eingeschrieben. c. Als solches geht es aus einer Verschränkung von Macht- und Wissensverhältnissen hervor« (Agamben 2008: 9). Da es sich hier nicht um ein Konzept oder etwas Bestimmtes, sondern um eine Beziehung handelt (eine »gesellschaftliche Beziehung« – so hat Marx übrigens auch das Kapital definiert, das dementsprechend bedingt durch sein Wesen mit »Dispositiven« arbeitet), sollte man nicht so sehr die Frage stellen, was ein Dispositiv ist, sondern eher, wie es funktioniert.
Krise als Regierungskunst und Prekarität als Lebensform
zu können. Im Griechischen bedeutet krisis unterscheidende Kraft, Trennung, Abspaltung, aber auch Entscheidung, Entschluss, Urteil, Wahl, Auswahl. Aus diesem semantischen Geflecht leite ich die ursprünglichere Gestalt des Dispositivs der Krise ab: Die Auswahl eines Aspekts, den die Trennung der krisis von einem anderen unterscheidet – der Versuch, die Krise zu lösen, über die Krise zu entscheiden –, bedeutet keinesfalls, die Krise zu verlassen, sondern als deren begründendes Element in ihrem Inneren zu verbleiben. Diese Anlage des semantischen Felds der Krise zeigt sich in verschiedenen Bereichen und Kontexten, in denen das Dispositiv diese anwendet und wirksam wird. Sicherlich muss man, wie auch Koselleck betont, die Historizität des Begriffs akkurat in Betracht ziehen, die von ihm durchlaufenen Veränderungen und Transformationen, indem man die Jahrhunderte und das spezifische Vokabular, in das er eingelassen wurde, durchquert. Übrigens handelt es sich bei der Annahme, dass durch den Eingang des Krisendispositivs in diesen Wortschatz spezifische Bereiche und spezifisches Wissen geformt worden seien – und nicht umgekehrt –, nur um eine Vermutung. Dennoch möchte ich auf genau dieser Vermutung beharren. Es ist außergewöhnlich, dass gerade einer der Bereiche, in denen heute der Krisenbegriff am häufigsten auftritt, nämlich die Wirtschaft, diesen erst im 19. Jahrhundert in sein Vokabular aufgenommen hat. Es ist kein Zufall, dass dies erst in einer Ära geschah – ebenjener Epoche, deren Hauptstadt, Walter Benjamin zufolge, Paris ist –, in der das ökonomische Wissen die Voraussetzungen für seine heutige Hegemonie gelegt hat. Ebenso wenig kann es sich nicht nur um bloße Suggestion handeln, dass die Verwendung des Terminus ›Krise‹ in der Wirtschaft dessen ursprüngliche griechische medizinische Bedeutung wieder aufnimmt: Krankheit, Ungleichgewicht, Diagnose und zugleich auch Prognose.3 Es reicht schon, sich vor Augen zu halten, dass das von Théophile De Bordeu verfasste Stichwort ›Krise‹ in Diderots und D’Alemberts Enzyklopädie noch 1754 als ein ausschließlich medizinischer Begriff wiedergegeben wird, der – gemäß der von Galenus in Anlehnung an Hippokrates’ Lehren vorgeschlagenen Definition – die juristische Bedeutung des Urteils aufnimmt. In der Medizin wird der Verlauf einer Krankheit beurteilt, die in dem Moment kritisch wird, wenn es zum Überlebenskampf, zum Konflikt zwischen Leben und Tod kommt: [Hippokrates] bezeichnet all dies als Krise, was eine Krankheit verändert. Er spricht bei Krankheit auch dann von Krise, wenn sie signifikant zu- oder abnimmt, wenn sie degeneriert und in eine andere Krankheit übergeht, oder selbst, wenn sie völlig 3
»Seit den vierziger Jahren durchzieht der wirtschaftlich eingefärbte Krisenbegriff alle gesellschaftskritischen Schriften […]. ›Krise‹ war geeignet, die verfassungsrechtlichen oder klassenbedingten, die von der Industrie, Technik und der kapitalistischen Marktwirtschaft hervorgerufenen Notlagen insgesamt als Symptome einer Krankheit oder Gleichgewichtsstörung unter einen Begriff zu bringen« (Koselleck 2004: 643).
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abbricht. Galenus behauptet, mehr oder weniger im gleichen Sinne, dass die Krise eine Veränderung der Krankheit zum Besseren oder zum Schlechteren ist; dies hat dazu geführt, dass viele Autoren die Krise als eine Art Kampf zwischen der Natur und der Krankheit gesehen haben; einen Kampf, bei dem die Natur gewinnen oder unterliegen kann: Sie haben sogar behauptet, dass der Tod in gewisser Hinsicht als Krise der Krankheit betrachtet werden kann. (De Bordeu 1966: 471) Über die Medizin hinaus lässt sich im alten Griechenland der Begriff ›Krise‹ auch im politischen Wortschatz finden, zum Beispiel in einigen wichtigen Passagen von Aristoteles’ Politik: »Gerechtigkeit wird dagegen im Staat verwirklicht, denn Recht ist die Ordnung der staatlichen Gemeinschaft, Gerechtigkeit aber bestimmt die Entscheidung (krisis) darüber, was rechtmäßig ist« (Aristoteles 2012: 7; 1253a: 35). Bei Aristoteles bezeichnet ›Krise‹ die Verbindung von Gerechtigkeit und Urteil: Sie ist die »Entscheidung darüber, was rechtmäßig ist«, und dessen, was es nicht ist. In sich trägt sie das Urteil im Sinne einer Entscheidung, die eingeschränkt ist und die auf das Erlangen oder auf das Erhalten einer als ausgeglichen, harmonisch und maßvoll angenommenen politischen Ordnung abzielt. Der politisch-juridische Sinn von krisis ist analog zu seiner medizinischen Bedeutung. Ist ein (organischer und politischer) Körper erst einmal aus dem Gleichgewicht geraten, so greift die krisis ein und entscheidet über den (Krankheits-)Verlauf, um erneut die Lebensfunktionen zu stabilisieren und die Ordnung wiederherzustellen: Diagnose und Prognose, Unterscheidung und Urteil. Die krisis trägt somit die Bestimmung des Kriteriums in sich, dem zu folgen ist, um sowohl den einzelnen als auch den politischen Körper dem Tode zu entziehen und dessen Gesundheit wiederherzustellen. In einer kritischen Situation bestimmen Unterscheidung und Abspaltung die zwei möglichen Krankheitsverläufe: Tod oder Rettung. Die Entscheidung zugunsten der Genesung und die Wiederherstellung des ursprünglichen Gesundheitszustandes ist folglich unumgänglich. Aber wem obliegt es, zu erkennen und zu entscheiden, was für die politische Gemeinschaft richtig – und somit gesund – ist? Wer entscheidet im Fall eines erkrankten und aus dem Gleichgewicht geratenen politischen Körpers, auf welche Ordnung sich die krisis bezieht und deren Rückkehr sie diagnostizieren soll? Aristoteles lässt keinen Raum für Zweifel: Krisis und krinein sind Teil der Kunst des Regierens und gehören somit zu den Aufgaben der Regierenden. In Aristoteles’ Politik ist dies – neben dem Erteilen von Anordnungen und dem Fällen von Entscheidungen, also der Verwendung der Krise – das Vorrecht desjenigen, der über die Stadt herrscht und folglich deren Ordnung aufrechterhalten muss, da er des Urteils fähig ist: [D]ie Handlungen eines Staates werden teils von den Regierenden, teils von den Regierten ausgeführt. Die Aufgabe des Regierenden ist dabei, Anordnungen zu erteilen und Entscheidungen (krisis) zu fällen. Um aber über Rechtsfälle zu urteilen (krinein) und die Ämter nach Verdienst zu besetzen, müssen die Bürger unterein-
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ander ihre Qualität kennen. Wo dies nicht der Fall sein kann, muß es ja um Ämter und Gerichtsentscheidungen (kriseis) schlecht bestellt sein. (Aristoteles 2012: 265; 1326b: 13-18)
In der Schwebe von Leben und Tod: die Krisen des Kapitalismus Innerhalb des Krisendispositivs ist der Konflikt das Symptom der Krankheit, welche die Ordnung befallen hat; zugleich stellt sie aber auch das erste Stadium einer möglichen Genesung dar, in dem Sinne, dass sie im kritischen Zustand das Urteilsvermögen und die Unterscheidung zwischen einem rettenden und einem tödlichen Verlauf in sich trägt. Der Konflikt stellt also die Möglichkeitsbedingung der Entscheidung dar, die – und dies ist grundlegend – nur auf die Gesundheit und Lebenserhaltung ausgerichtet sein kann. Der Ausweg aus der Krise, also ihre Auflösung, kann nur in der Wiederherstellung einer der Krankheit vorgängigen Ordnung liegen: in Gesundheit und Leben. Mit genau diesem semantischen Feld tritt der Krisenbegriff in die Moderne ein und impliziert daher schon ein bestimmtes Konzept von Konflikt. So schreibt Koselleck: »Der Handlungsspielraum wird dann durch den Krisenbegriff auf eine Zwangslage eingeengt, in der die Handelnden nur einander restlos widersprechende Alternativen wählen können« (Koselleck 2004: 626). Die von der Krise aufgezeigte Alternative könnte nicht klarer sein: entweder Leben oder Tod. Doch faktisch hat man keine Wahl. Wenn der Normalzustand die Gesundheit ist, welche Krise und Krankheit gefährden, dann bedeutet die Entscheidung für das Leben gleichzeitig jene für die vorgängige Ordnung. Dieses Krisendispositiv und das damit einhergehende Konfliktverständnis werden auch im wirtschaftlichen Diskurs wirksam: Allgemein zeigen Wirtschaftskrisen das maximale Ungleichgewicht und die schärfste Unterscheidung zwischen dem gesunden und dem kranken Zustand des kapitalistischen Marktsystems; entsprechend zeigen sie auch ganz klar ihre Lösung auf. Die Voraussetzung ist natürlich, dass der zu bewahrende und zu stärkende Zustand das Überleben und das Weiterbestehen von System und Ordnung erlaubt. Im Manifest der kommunistischen Partei haben Marx und Engels das Krisendispositiv des kapitalistisch-bürgerlichen Systems enttarnt: Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen. – Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; andererseits durch die Eroberung neuer Märkte, und die gründlichere Ausbeutung der alten Märkte. Wodurch also? Dadurch, daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert. (Marx/Engels 1959: 468)
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Ohne an dieser Stelle ins Detail gehen zu können, haben Marx und Engels bekanntermaßen eine Theorie für den zyklischen Ablauf der Krisen im Kapitalismus und deren grundlegende Funktion zur systemischen Erneuerung entwickelt. Dennoch beinhaltet Marx’ und Engels’ Krisentheorie auch einen anderen Aspekt, der sich in gewissem Sinne unterschiedlich, wenn nicht gar alternativ, auf jeden Fall aber komplementär, zur Auffassung verhält, die Krise sei für die zyklische Erneuerung des Systems zweckmäßig. Die Krise wird nämlich auch als Möglichkeit verstanden, das System zu stürzen. Marx greift diesbezüglich das schon im Kapitalismus wirksame Krisendispositiv auf, kehrt jedoch dessen Begriffe um: Die Gesundheit des kapitalistischen Systems ist nunmehr angeschlagen, die Krankheit ist zur Norm geworden. Der Kapitalismus ist krank und sein Verlauf führt unausweichlich zum Tod; die Genesung äußert sich nun nicht mehr in einer Wiederherstellung des und der Rückkehr zum alten Gleichgewicht, sondern führt zu einer neuen Ordnung, zu einem neuen und verschiedenartigen Gesundheitszustand. Dieser Auszug aus den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie scheint fast eine medizinische Prognose: In schneidenden Widersprüchen, Crisen, Krämpfen, drückt sich die wachsende Unangemessenheit der productiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihren bisherigen Productionsverhältnissen aus. Gewaltsame Vernichtung von Capital, nicht durch ihm äussere Verhältnisse, sondern als Bedingung seiner Selbsterhaltung ist die schlagendste Form, worin ihm advice gegeben wird to be gone and to give room to a higher state of social production. (Marx 1981: 623) Kurzum, den marxschen und den kapitalistischen Krisenbegriff eint das Fehlen einer Alternative: Sie werden zwar unterschiedlich verwendet, aber das Dispositiv ist dasselbe. Auch Antonio Gramsci steht in der Linie der marxschen Auslegung des Krisendispositivs. Wie für Marx, so kehrt auch für Gramsci die Krise die herkömmliche Beziehung zwischen Leben und Tod, zwischen Gesundheit und Krankheit um, indem sie eine Suspension zwischen einem hereinbrechenden Tod und einem noch nicht geborenen, neuen Leben einführt. Jedoch – und hier liegt der Hauptunterschied zu Marx – wird die Möglichkeit eines neuen Lebens nicht innerhalb der Krise hervorgebracht: »Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen« (Gramsci 1991: 354; H 3: 34). Die Funktion der Krise definiert sich gemäß der Verwendung ihres Dispositivs. Gramsci, der die Krise von 1929 vor Augen hatte, legt vor allem das Wesen dar, das die Krise in ihrer kapitalistischen Verwendung annimmt. Mit dem Begriff des Interregnums führt er die unbestimmte Dauer in Marx’ Auslegung des Krisendispositivs ein. In der Tat bezeichnet das Interregnum nicht einfach eine Zeit des Übergangs, sondern vor allem die durch den kapitalistischen Gebrauch des Krisendispositivs
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eröffnete Regierungskunst. Diese Kunst des Regierens besteht darin, ein prekäres Gleichgewicht zu schaffen, das aus der Heilung sich kontinuierlich abwechselnder Krankheiten rührt beziehungsweise aus der Annahme, das Rezept für deren Heilung zu kennen: [D]ie Entwicklung des Kapitalismus ist eine »Dauerkrise« gewesen, wenn man so sagen darf, das heißt eine blitzartige Bewegung von Elementen, die einander das Gleichgewicht hielten und sich immunisierten. An einem bestimmten Punkt in dieser Bewegung haben einige Elemente die Oberhand gewonnen, andere sind verschwunden oder innerhalb des allgemeinen Rahmens untauglich geworden. Dann sind Ereignisse hinzugekommen, denen man die spezifische Bezeichnung »Krise« gibt, die genau in dem Maße schwerer oder weniger schwer wiegen, als größere oder kleinere Gleichgewichtselemente auftreten. (Gramsci 1992: 1718f.; H 15: 5) Krisen führen also letztlich nicht zum Tod des Kapitalismus. Vielmehr machen sie ihn – in Ermangelung einer Alternative, eines neuen Lebens – jedes Mal erneut gegen Krankheiten und den Verlust des Gleichgewichts immun, also gegen jenen Sterbezustand, in den er stets verfällt.
Die Partei des Lebens Ich komme zur Ausgangsfrage, der Beziehung von Krise und Konflikt, zurück. Wie ich bereits vorwegnahm, wird der Konfliktbegriff durch seinen Gebrauch innerhalb des Krisendispositivs geformt. Der Konflikt wird nämlich durch die Krise regiert, in dem Sinne, dass er auf eine Entscheidung abzielt, die jedoch immer schon vorgeordnet ist. Die Entscheidung erfolgt somit immer als Antwort auf die Krise, das bedeutet, sie geht dem Funktionieren des Dispositivs, in das sie eingeschrieben ist, nicht voraus. Die von der Krise verheißene Alternative ist fiktiv – die Wahl wird in dem Moment deutlich, wenn es zum Urteil kommt, dass es eigentlich keine Wahl gibt. Und dennoch hat sich ein wichtiger historisch-begrifflicher Übergang vollzogen, seitdem der Krisenbegriff in den ökonomischen Diskurs eingegangen ist und sein Dispositiv vom kapitalistischen System absorbiert wurde: Als Gelegenheit zur zyklischen Systemerneuerung haben die Krisen auch jene vermeintlich existierende Alternative vernichtet, die die Entscheidung eigentlich hätte endgültig klären sollen. Jede Entscheidung beinhaltet nämlich eine neue Unterscheidung und Wahlmöglichkeit und somit auch eine neue Krise – ein Mechanismus, der sich bis ins Unendliche fortsetzen lässt. Der Ausweg aus der Krise lässt sich daher von der Produktion der Krise selbst nicht unterscheiden. Deshalb verliert der Konflikt innerhalb des Krisendispositivs so jegliche Funktion. Zu diesem Schluss kommt auch Koselleck, obgleich er dieses Verschwinden hingegen dem Konzept der Krise und
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nicht dem des Konflikts zuschreibt: »Die alte Kraft des Begriffs, unüberholbare, harte und nicht austauschbare Alternativen zu setzen, hat sich in die Ungewißheit beliebiger Alternativen verflüchtigt« (Koselleck 2004: 649). Der Konfliktbegriff wurde also vollkommen durch das Krisendispositiv neutralisiert. Es ist nicht mehr nötig, eine Alternative aufzuzeigen, um den Umstand zu rechtfertigen, dass es keine Wahl gibt. Die Zeitlichkeit der Krise hat sich nunmehr ganz ins Zyklische gewandelt: Man lebt die »ewige Wiederholung der Gegenwart«, eine Gegenwart, in der es nun auch keine unbekannten Größen, wie die Zukunft oder Wahlmöglichkeiten, mehr gibt. Auf diese Art und Weise hat die neoliberale Revolution, wie sie Margaret Thatcher mit dem Slogan There is no alternative4 angekündigt hatte, ihren Abschluss gefunden. Eine neoliberale Revolution, die so die vormoderne und wortwörtliche Bedeutung des Wortes ›Revolution‹ wiederaufgenommen und erneut aktiviert hat: Der natürliche zyklische Ablauf, die Wiederholung und die Stabilität einer vorgegebenen Ordnung verdrängen die Historizität und die Linearität der modernen Zeitlichkeit. Um diese Auffassung von Revolution zu beschreiben, ließe sich Gramscis Kategorie der »passive[n] Revolution«5 übernehmen. Damit Thatchers Slogan die neoliberale Revolution definiert und heute ein Krisendispositiv beschreibt, das als direkte, unmittelbare und affirmative Kunst des Regierens agiert, muss dennoch ein letzter, fundamentaler Wandel angeführt werden, den gerade das neoliberale Denken vollzogen hat. Nach dem bürgerlichen Dritten Stand und der Klassenpartei, die ja in der Vergangenheit aus besonders heftigen Formen der Krise hervorgegangen sind, definiert sich diesmal ein politischer Teil im Namen des Lebens selbst: als ›Partei des Lebens‹. Der Ausdruck stammt von Friedrich August von Hayek, einem der wichtigsten Theoretiker des Liberalismus und Thatchers philosophischer Bezug. Auf der Suche nach einer Bezeichnung für sein Liberalismuskonzept, das es von den vorhergehenden unterscheiden soll, schreibt Hayek: »Was ich suche, ist ein Wort, das die Partei des Leben[s] bezeichnet, die Partei, die für freies Wachstum und spontane Entwicklung eintritt« (Hayek 1971: 493).6 Erstmals wird hier das Leben, seine Erhaltung und Förderung, im Sinne eines nur einem Teil zustehenden 4 5
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Der Slogan war derart erfolgreich, dass er sich fortan als Akronym TINA verbreitete. »[B]eim dialektischen Gegensatz entwickelt in Wirklichkeit nur die These alle ihre Kampfmöglichkeiten, bis dahin, die angeblichen Repräsentanten der Antithese einzuheimsen: genau darin besteht die passive Revolution oder Revolution-Restauration« (Gramsci 1992: 1728; Heft 15: 11). Die in der Quelle angeführte deutsche Übersetzung »die Partei des Lebendigen« (Hayek 1971: 493) wird entsprechend dem englischen Original »party of life« als ›Partei des Lebens‹ übertragen. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der von Hayek verwendete Ausdruck ›Partei des Lebens‹ vorab von Nietzsche verwendet wird. Es war Ernst Nolte, der diese Verwendung bei Nietzsche herausgearbeitet und zudem die Partei des Lebens der marxistischen Klassenpartei gegenübergestellt hat (vgl. Nolte 1990).
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Vorrechts vereinnahmt; indem dieser Teil sich zur Partei erhebt, lässt er das Leben zu einem Kampfkriterium werden. Indem die Partei des Lebens sich im Namen des Lebens als Alternative darstellt und so in Konflikt zu anderen Teilen der Gesellschaft tritt, stilisiert sie das Leben als ihr eigenes Spezifikum. Zugleich aber ist sie parteilos: Zur Partei des Lebens kann es keine Alternativen geben. In dem Moment, in dem eine Politik des Lebens die Form der Partei annimmt, bringt sie auch dessen Gegenteil hervor und schließt es mit ein: ebenjenen Teil oder ebenjene Teile, ebenjene Partei oder Parteien, die das Überleben des politischen und gesellschaftlichen Körpers gefährden. Erneut stellt sich die zu ergreifende Partei nicht als Wahl zwischen tatsächlich praktikablen Alternativen dar. In Gestalt der Partei des Lebens nimmt die Biopolitik also äußerst neoliberale Züge an und zeigt zugleich, inwiefern die Essenz des Neoliberalismus alles andere als liberal ist. Wie auch mehrfach aus Hayeks Autobiographie (vgl. Hayek 1994) hervorgeht, so wurde seine Wirtschaftsdoktrin durch die biologische Evolutionslehre beeinflusst; Hayek teilt eine bestimmte Interpretation von Nietzsches Denken, also eines gewiss nicht als liberal zu verortenden Philosophen. Michel Foucault hat sowohl die nicht-liberale Matrix des Neoliberalismus als auch die Vielgestaltigkeit und globale Dimension von Hayeks Projekt besonders klar erkannt, nämlich, dass diese keine Alternative für die Politik oder Regierung darstellt, sondern dass es sich hierbei im wahrsten Sinne um ein Dispositiv biopolitischer Gouvernementalität handelt, dessen Besonderheit im Fehlen von Alternativen liegt: Deshalb glaube ich, dass der amerikanische Liberalismus sich gegenwärtig nicht nur allein und so sehr als eine politische Alternative darstellt, sondern sozusagen als eine Art von globaler, vielgestaltiger, mehrdeutiger Forderung mit einer Verankerung in der Linken und in der Rechten. Er ist auch eine Art von utopischem Mittelpunkt, der immer wieder neu aktiviert wird. […] Es war Hayek, der vor einigen Jahren sagte: »Was wir brauchen, ist ein Liberalismus als lebendiger Gedanke«. Der Liberalismus hat immer den Sozialisten die Bemühung zur Fabrikation von Utopien überlassen, und dieser utopischen oder utopienbildenden Aktivität hat der Sozialismus viel von seiner Kraft und seiner historischen Dynamik verdankt. Nun, der Liberalismus braucht selbst auch eine Utopie. Es liegt an uns, liberale Utopien zu schaffen und über die Art und Weise des Liberalismus nachzudenken, anstatt den Liberalismus als eine alternative Regierungstechnik auszugeben. Der Liberalismus als allgemeiner Stil des Denkens, der Analyse und der Einbildungskraft. (Foucault 2004: 304f.) In der Tat beschränkt sich in Hayeks Worten die neoliberale Utopie nicht darauf, den Eingriff des Staates und der Regierung in den freien Markt und die Wirtschaftsgeschäfte auf ein Minimum zu reduzieren, wie eine gewisse vulgata uns dies oft glauben machen will. Vielmehr zielt sie darauf ab, den Staat durch das private
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Unternehmen ‒ oder besser gesagt: durch die Konkurrenz und den Wettbewerb zwischen verschiedenen Privatunternehmen beziehungsweise die sogenannte Governance – zu ersetzen7 und so keine politischen Alternativen zuzulassen. Indem die neoliberale Utopie den Staat als ein Unternehmen wie jedes beliebig andere versteht, räumt sie folglich dem freien Markt das Vorrecht der Politik ein, wozu auch ebenjene Unabhängigkeit zählt, die ihm erlaubt, sich selbst iuxta propria principia zu regieren: Die spontane Ordnung des Marktes, die aus dem Zusammenspiel vieler solcher Wirtschaften hervorgeht, unterscheidet sich so fundamental von einer »Wirtschaft« im strengen Sinn des Wortes, dass es als großes Missgeschick angesehen werden muss, dass sie je mit demselben Namen belegt wurde. […] Ich schlage vor, diese spontane Ordnung eines Marktes Katallaxie zu nennen, analog dem Ausdruck Katallaktik, der öfter als Ersatz für »Ökonomik« (oder Wirtschaftstheorie) vorgeschlagen wurde (beide Ausdrücke, »Katallaxie« und »Katallaktik«, stammen von dem altgriechischen Verb katallattein ab, das sehr bezeichnend nicht nur »tauschen« und »handeln«, sondern auch »in die Gemeinschaft aufnehmen« und »vom Feind zum Freunde machen« bedeutet). (Hayek 1969: 112)8 Schreibt man in Anlehnung an die griechische Etymologie, auf die sich Hayek ja selbst bezieht, der spontanen Ordnung des Marktes eine katallaxische Eigenschaft zu, dann bedeutet dies, die Tauschwirtschaft als unmittelbar mit einer Regierung ausgestattet aufzufassen, das heißt, dass sie – der anderen Bedeutung des Verbs katallattein zufolge – imstande ist, zu versöhnen, also Feindschaften, Kriege und Konflikte zu überwinden. In der Katallaxie bringt der Tausch selbst die Gemeinschaft und die Ordnung hervor, nämlich in dem Moment, wenn der politische Konflikt – der zwischen Feind und Freund, so Schmitts klassische Formulierung – innerhalb des Marktes durch Wettbewerb und Konkurrenz neutralisiert wird; Letztere fungieren dabei gar als Kitt der sogenannten Weltgesellschaft. Die Neutralisierung des politischen Konflikts – ebenjenem Überwinden von Feindschaft und Krieg – entspricht also dem Konkurrenzzustand, der die katallaxische Ordnung des Marktes regiert. Außerhalb des Marktes existiert kein Raum, von dem aus die Politik im Namen der Gerechtigkeit oder eines spezifischen Gemeinziels eingreifen könnte, um die 7
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Die von Foucault paraphrasierte Stelle bei Hayek ist ursprünglich noch schärfer und radikaler, vom Ton her gleicht sie einem regelrechten politischen Manifest. »Was uns heute mangelt, ist eine liberale Utopie, ein Programm, das weder eine bloße Verteidigung des Bestehenden ist, noch einfach als ein verwässerter Sozialismus erscheint, ein liberaler Radikalismus, der weder die Empfindlichkeiten der bestehenden Interessengruppen schont, noch glaubt, so ›praktisch‹ sein zu müssen, daß er sich auf Dinge beschränkt, die heute politisch möglich erscheinen« (Hayek 1949/1950: 285). Zur Katallaxie siehe auch Hayek (1981a: 149-180).
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gegebene Ordnung wieder ins oder aber gezielt aus dem Gleichgewicht zu bringen, also um Konflikte zu regieren oder diese zu fördern: Die Vorstellung, dass es keine rationale Politik ohne eine gemeinsame Skala konkreter Ziele geben könne, impliziert jedoch eine Interpretation der Katallaxie als einer eigentlichen Wirtschaft und ist aus diesem Grunde irreführend. Politik muss nicht durch das Streben nach Erreichung bestimmter Resultate geleitet werden, sondern kann darauf gerichtet sein, eine abstrakte Gesamtordnung von einem solchen Charakter zu sichern, dass sie ihren Mitgliedern die beste Chance gewährt, ihre verschiedenen und weitgehend unbekannten besonderen Ziele zu erreichen. (Hayek 1981a: 157) In der Katallaxie wird also eine politische Regierung, die im Vergleich zur Selbstregierung des Marktes potentiell alternativ wäre, nicht berücksichtigt. Mehr noch: Die Politik des Staates muss im Dienste dieser ökonomischen Selbstregierung stehen.9 Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass die Regierung des Marktes nicht doch von einer Ordnung gestützt wird; aber diese Ordnung verfügt hingegen über kein politisches Ziel. Um die katallaxische Ordnung des Marktes zu beschreiben, greift Hayek nicht zufällig auf das antike Konzept des Kosmos zurück, jener spontan harmonischen und übermenschlichen Ordnung, sei sie nun natürlich oder göttlich:10 Während eine eigentliche Wirtschaft eine Organisation in dem technischen Sinn ist, in dem wir dieses Wort definiert haben, also die überlegte Gestaltung der Verwendung der einer einzelnen Entscheidungsinstanz bekannten Mittel, ist der Kosmos des Marktes nicht von einer solchen einzigen Zielfolge beherrscht und könnte es auch nicht sein; er dient der Vielfalt gesonderter und inkommensurabler Ziele aller seiner einzelnen Mitglieder. (Hayek 1981a: 150) Die griechische Tragödie lehrt uns, dass die Ordnung des Kosmos alternativlos ist: Man kann sich ihr weder entziehen noch sie ablehnen. 9
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In der Funktion des Staates, den sie als ein Subjekt des Privatrechts unter anderen verstehen und vom dem verlangt wird, durch seine Gesetzgebung die Logik des Privatrechts auf jeder Ebene durchzusetzen, sehen Pierre Dardot und Christian Laval den besonderen Beitrag Hayeks zur neoliberalen Rationalität und den radikalen Bruch mit dem klassischen Liberalismus (vgl. Dardot/Laval 2009). »Keines dieser Charakteristika [einer gemachten Ordnung, oder taxis] gehört notwendig einer spontanen Ordnung oder einem kosmos an. Ihr Komplexitätsgrad ist nicht auf das beschränkt, was ein menschlicher Geist beherrschen kann. Ihre Existenz braucht sich nicht unseren Sinnen zu zeigen, sondern kann auf rein abstrakten Beziehungen beruhen, die wir nur gedanklich rekonstruieren können. Und da sie nicht gemacht wurde, kann legitimerweise nicht behauptet werden, dass sie einen besonderen Zweck habe« (Hayek 1980: 60f.).
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Prekäre Lebensformen Die Krise fungiert als Dispositiv, um die neoliberale Utopie immer wieder aufs Neue zu aktivieren.11 Sie erlangt ihre höchste Wirksamkeit, wenn die Handlung der Regierenden und die Zustimmung der Regierten in der fehlenden Alternative zwischen Leben und Tod zusammenfallen. Foucault sieht im Umstand des Gefährlichlebens – also unter ständiger Bedrohung durch den Tod – die Besonderheit der liberalen Gouvernementalität: Man kann sagen, dass die Devise des Liberalismus ist, »gefährlich zu leben«. Gefährlich zu leben, das bedeutet, dass die Individuen fortwährend in eine Gefahrensituation gebracht werden oder dass sie vielmehr darauf konditioniert werden, ihre Situation, ihr Leben, ihre Gegenwart, ihre Zukunft usw. als Träger von Gefahren zu empfinden. Und dieser Anreiz der Gefahr ist, glaube ich, eine der wichtigsten Implikationen des Liberalismus. (Foucault 2004: 101) Wenn sich also die aktuelle Krise auf einer biopolitischen Ebene gestaltet, dann sind auf genau dieser Ebene auch die Subjektivierungsprozesse zu denken ebenso wie der Konflikt, den diese Prozesse in der Gesellschaft auslösen: Die Prekarität ist aus dieser Krise hervorgegangen. Im Tausch fürs Überleben scheint die Krise die Prekarität alternativlos zu ihrer Kondition zu verdammen. Diese Kondition koppelt das Überleben an eine kontinuierliche Anpassung an veränderliche und unbeständige Umstände, die das Leben der Prekären einer Art Schicksal aussetzt, dessen Herr sie nicht sind.12 Ebenso formt sie sowohl die Existenz im natürlichen und biologischen Sinne als auch deren Zeitwahrnehmung, die sich als zyklische Wiederholung einer ewigen Gegenwart ausnimmt. Es ist nämlich das Leben der Prekären, das die ungeordneten und auseinandergerissenen Fragmente ihrer berufli11 12
Zur Neuauslegung von Foucaults Verständnis der liberalen Gouvernementalität und deren Korrektur angesichts der aktuellen Krise siehe Lazzarato (2013: 103-130). Hayek selbst stellt den Einbezug in die katallaxische Marktordnung fast in Begriffen eines zu akzeptierenden, unvorhersehbaren und unausweichlichen Schicksals dar, von dem niemand ausgenommen ist, für dessen Ausgang – die von Hayek mehrmals negierte Zielskala muss zur spontanen Ordnung des Marktes gehören – niemand die Verantwortung trägt und wofür kein ›Feind‹ auszumachen ist: »[D]iese Anpassung an die allgemeinen Umstände, die ihn umgeben, wird durch seine Beachtung von Regeln herbeigeführt, die er nicht entworfen hat und oft nicht einmal explizit kennt, obwohl er fähig ist, sie in seinen Handlungen zu berücksichtigen. Oder, um dies anders auszudrücken, unsere Anpassung an unsere Umgebung besteht nicht nur, und vielleicht nicht einmal hauptsächlich, in einer Einsicht in die Beziehungen von Ursache und Wirkung, sondern ebenso sehr darin, dass unsere Handlungen von Regeln geleitet werden, die der Art von Welt angepasst sind, in der wir leben, d.h. Umständen, deren wir nicht gewahr sind und die gleichwohl das Muster unserer erfolgreichen Handlungen bestimmen« (Hayek 1980: 27). Fazit: »Der Mensch ist und wird niemals der Herr seines Schicksals sein« (Hayek 1981b: 236).
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chen Existenz zusammenhält und ordnet, Bruchstücke, die sich oft gegenüberstehen und, einer Erpressung gleich, erzwungene Entscheidungen einfordern, ganz so als handele es sich dabei um Leben oder Tod. Jede dieser Entscheidungen ruft jedoch weitere, unauflösbare Gegensätze hervor: Dies ist das Wesen einer innerhalb des biopolitischen Krisendispositivs gefangenen Prekarität. Kann im Gegensatz dazu ein dem Leben immanenter Konflikt gedacht werden, der nicht ausschließlich über dieses Krisendispositiv aktivierbar ist? Wenn ja, dann würde es sich um einen Konflikt handeln, der, auch wenn er nicht auf die Neutralisierung des modernen Politischen oder auf die Überwindung der dialektischen Synthese zurückgeführt werden kann, ebenso wenig von jenen binären Formeln absorbiert werden kann, die den größten Teil der Philosophie und Politik im 20. Jahrhundert gekennzeichnet haben (man denke nur an Schmitts Freund-FeindSchema, an die Macht-Gegenmacht-Beziehung oder an Foucaults Binom vom Unterwerfung und Subjektivierung). Solch binäre und dualistische Formeln machen das Leben letztendlich entweder vom Tod oder aber von der Unterordnung abhängig; dies betrifft nicht nur prekäre oder andere Formen von Lohnarbeit, sondern auch die Existenz des prekären Individuums an sich, denn der Einzelne muss einen Teil seines Lebens opfern (Arbeit, Freizeit, Gefühle), damit der Prekarität andere Aspekte nicht anheimfallen. Da es immer schwieriger wird, ebenjenen Feind auszumachen, gegen den man sich als Klasse auflehnen kann, wie Paolo Virno in Bezug auf die Multitude mutatis mutandis erklärt hat, entlädt sich die Konflikthaftigkeit des Prekärseins – in Form eines Schuld- und Pflichtgefühls (vgl. Stimilli 2011; Lazzarato 2012) – gegen die eigene Person und, als Form von Konkurrenz, gegen all diejenigen, welche dieselbe Lage teilen.13 Das Prekariat lässt sich nicht in vollem Umfang als sozioökonomische Klasse definieren, denn Prekarität ist eine Lebensform.14 Die Regierungskunst der biopolitischen Krise kennt keine Alternativen, die, wie noch in der Vergangenheit, den Klassenkampf nähren könnten. Auch wenn Prekarität heute dank der neoliberalen Regierungskunst zur vorherrschenden Lebensform avanciert ist, so ist es dennoch nicht das erste Mal, dass sie sich im Laufe der Geschichte manifestiert. Doch einst erschien sie mehrdeutig, unbestimmt und unergründlich, denn sie entzog sich dem geltenden Kriterium der politischen Subjektivierung, das zunächst vom staatsbürgerlichen Konflikt und später vom Klassenkampf diktiert wurde. Dennoch haben einige Philosophen ihr Wesen erkannt, sodass ihre Genealogie umrissen werden kann. Dies ist beispielsweise der Fall für Walter Benjamin. In seiner 13
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In Virnos Analyse der Multitude findet sich auch die Janusköpfigkeit und der Umstand, dass das Prekariat zwischen Erhaltung und Erneuerung, zwischen Kooperation und Konkurrenz oszilliert (vgl. Virno 2007). Hinsichtlich der Definition des Prekariats als Klasse stimme ich mit der sonst wichtigen Studie von Standing (2011) nicht überein.
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Archäologie der Stadt Paris im 19. Jahrhundert, wo er das Leben und Werk von Charles Baudelaire als Lackmuspapier verwendet, hat er diese Lebensform aufkommen sehen, aber auch wie diese im Zuge des neuen erstarkenden Kapitalismus hinfort gerissen wurde, einer Phase, die im Vergleich zu heute allenfalls als Prähistorie bezeichnet werden kann.15 Die Prekarität als Lebensform hat also ihre Vorläufer in einer ganzen Reihe von Figuren: dem Flaneur, dem Bohemien, dem Müßiggänger, dem Berufsverschwörer, dem Spieler, dem Nachtschwärmer, dem Detektiv, dem Lumpensammler, der Prostituierten, dem Dichter, dem Künstler. Diese können nicht auf den Markt reduziert werden und entstanden gerade dadurch, dass sie sich dem Tauschwert und der Kommerzialisierung entzogen. Es handelt sich um eine Form des Lebens, welche im Second Empire Napoleons III. aufkeimte und welche die Niederlage ihrer besonderen politischen Erfahrung, die Pariser Kommune von 1871, nicht überlebt hat, ebenjenes revolutionäre Experiment, das, wie schon Marx eingestehen musste, eigentlich kein Klassenaufstand war. Doch gerade da sie weder innerhalb des Volkes noch der Klasse subjektivierbar ist,16 weil sie sich verändert und jedes Mal erneut ihr Wesen an diese oder jene Form von Subjektivität angepasst hat, hat die Prekarität überlebt. Benjamin fängt den Moment kurz vor ihrem Verschwinden ein: In Baudelaires Paris […] waren die Passagen beliebt, in denen der Flaneur dem Anblick des Fuhrwerks enthoben war, das den Fußgänger als Konkurrenten nicht gelten lässt. Es gab den Passanten, welcher sich in die Menge einkeilt; doch gab es auch noch den Flaneur, welcher Spielraum braucht und sein Privatisieren nicht missen will. Müßig geht er als eine Persönlichkeit; so protestiert er gegen die Arbeitsteilung, die die Leute zu Spezialisten macht. Ebenso protestiert er gegen deren Betriebsamkeit. Um 1840 gehörte es vorübergehend zum guten Ton, Schildkröten in den Passagen spazieren zu führen. Der Flaneur ließ sich gern sein Tempo von ihnen vorschreiben. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte der Fortschritt diesen pas lernen müssen. Aber nicht er behielt das letzte Wort, sondern Taylor, der das »Nieder mit der Flanerie« zur Parole machte. (Benjamin 1997a: 556f.) Ihre Metamorphose stellt sich für Benjamin so dar: Diese außerhalb des Marktes geborene Lebensform gibt zwar vor, ihm außen vor zu bleiben, fällt aber dennoch unter sein Gesetz. Sie wird zur Ware und dem Wertschöpfungsprozess unterworfen: 15
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In ihrem Abriss zur Zusammensetzung sowie zum ökonomischen und politischen Wesen des heutigen Fünften Standes (Freiberufler, Prekäre, Selbständige, Zeitarbeiter) zeichnen Giuseppe Allegri und Roberto Ciccarelli ausgerechnet die Archäologie von Benjamins Paris des 19. Jahrhunderts nach (vgl. Ciccarelli/Allegri 2011: insb. 67-77; 2013). »Diese ›Menge‹, an der der Flaneur sich weidet, ist die Hohlform, in die siebenzig Jahre später die Volksgemeinschaft gegossen wurde, in der Klassengegensätze, wie es heißt überwunden sind« (Benjamin 1997b: 1185).
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Unter diesen Verhältnissen […] wird der Gestus der Flanerie für die freie Intelligenz widersinnig und er büßt damit überhaupt die Bedeutung ein. Der Typ des Flaneurs schrumpft nun gleichsam ein, so als hätte ihn eine böse Fee mit dem Zauberstab angerührt. Am Ende dieses Schrumpfungsprozesses steht der Sandwichman. Die Einfühlung in die Ware ist hier vollendet; der Flaneur steckt nun wirklich in ihrer Haut. Er geht nun gegen ein Entgelt spazieren und seine Inspektion der Stadt ist, gleichsam über Nacht, zum Beruf geworden. (Benjamin 1995: 13f.) Die das Paris des 19. Jahrhunderts prägenden Lebensformen partizipierten nur in Teilen und nur am Rande an jenem großen Klassenkonflikt, der das 20. Jahrhundert und dessen Krisen durchzogen hat. Erst in der heutigen biopolitischen Krise manifestiert sich diese Lebensform erneut in der ihr eigensten Gestalt. Während dem Flaneur zu Baudelaires Zeiten der Markt noch als Gegenvorschlag zum (Aus-) Sterben und zum Tod erschien, so eröffnet die aktuelle biopolitische Krise indes keinen Ausweg mehr. Da der Klassenkonflikt nicht mehr imstande ist, Alternativen jenseits des neoliberalen Markts hervorzubringen, reduziert sie das Konfliktverständnis zur Regierungsfunktion. Im gegenwärtigen biopolitischen Kontext sollte der Konflikt also gerade nicht als ein Dispositiv der selektiven Teilung und Diskriminierung begriffen werden, das sterben macht, um leben zu lassen. Wie kann also ein Konflikt gedacht werden, der dem Leben Form verleiht, ohne es zu unterwerfen, und der, anstatt einen Teil des Lebens gegen den anderen auszuspielen, ihre communitas17 zu Tage treten lässt und potenziert? Wie kann ein Konfliktbegriff konzipiert werden, der einer affirmativen Biopolitik gewachsen ist?18 Man könnte den Kon-flikt ausgehend von der Bedeutung des Wortes fligo denken. Das lateinische Verb rührt aus dem Griechischen her und bedeutet verdichten, komprimieren, zusammenpressen, (zer)drücken. Könnte dieses Verdichtet-, Zusammengepresst-, Gedrückt- oder Komprimiertwerden nicht nur den Druck bezeichnen, den das Wirtschaftssystem auf das Leben der Prekären ausübt, sondern nicht eher die Immanenzebene des Lebens selbst? Könnte die Prekarität gerade auf dieser konfliktiven Immanenzebene nicht Zugang zur Politik haben, ohne auf eine Unterwerfung unter die Macht oder identitäre Zugehörigkeitslogiken zurückzugreifen? Wäre nicht auf dieser Immanenzebene ein konstituierender Konflikt möglich, der nicht mehr zwischen verschiedenen Fraktionen ausgetragen wird, sondern ihnen allen gemein ist, also kein Konflikt zwischen Lebensformen, sondern ihr Zusammenwirken? Könnte dieser Konflikt dementsprechend nicht das Leben und dessen Formen – zoé und bíos – auf einer einzigen Ebene vereinen und 17
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Ich beziehe mich insbesondere auf die Arbeiten Roberto Espositos (vgl. beispielsweise Esposito 2004a und 2004b). Auch wenn auf andere Art und Weise ausgelegt, so stellt das Gemeine auch ein grundlegendes Paradigma für Agamben und Negri dar. Siehe hierzu die von Esposito (2004c) aufgezeigte Perspektive.
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zusammenführen, anstatt sie zu trennen? Bestünde, im Gegensatz zur Partei des Lebens, nicht vielleicht gerade darin eine Politik des Lebens und eine Politik der Prekarität? Vielleicht wäre es an diesem Punkt dann ja auch nicht mehr die Prekarität, die die Form des Lebens bestimmt. Aus dem Italienischen und Französischen von Sieglinde Borvitz
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Krise als Regierungskunst und Prekarität als Lebensform
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Philosophy is, in Hegelian terms, its own time apprehended in thoughts (cf. Hegel 1995: 16). As the melody of an excusatio non petita, this worn quote from the Elements of Philosophy of Right is often used to legitimize the attempt to transfer our own time into concepts and thus think the present. This lecture belongs to such an attempt. We will try to have the Hegelian philosophical conceptuality embrace events so recent that they may only be found in newspapers. By going into recent developments our reflection will analyze the role of state configurations in the current economical turmoil dominated by financial neo-capitalism. The exploration will follow two different senses introduced by the polysemy of the words that entitle this lecture. Firstly, we will focus on the current critical state (kritischer Zustand) of world economy and how some critical states (kritische Staaten) are reviewed and judged by other states (Staaten) which express their critiques on the former; secondly, the implications between a world crisis and a crisis of the state (des Staates) will ensue. As a general rule state configurations find themselves in a critical situation, they are mortally wounded and in the grip of a two-fold vice, pressing both ad intra and ad extra (at a national and at an international level); what we could call, following Joseph Vogl’s expression The ghost of capital (cf. Vogl 2010). If we think for a moment on the first part of this pun, the critical one, we will see that the criticism operated by some states has permeated the whole economic crisis over the years. It wouldn’t be too far fetched to assume that this is part of the deep trouble some European countries are facing. Let us remind ourselves of the German Chancellor, Angela Merkel’s words just before Greece’s first rescue: »There’s a rumour going around that states cannot go bankrupt. This rumour is not true.« According to many analysts, this was a clear message to financial markets so that they could concentrate their speculative actions on fragile countries and thus contribute to the growth of the big central European economies. This strategy was quite evident on 7th April 2011, the day on which Portugal joined Greece and Ireland in the list of insolvent States: excessive interest rates set by the market prevented the Portuguese state to pay off its debts. The European Central Bank raised interest rates for the first time in three years and set them 0.25 points higher, exposing
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other state economies (such as that of Spain) to worsened conditions. This decision had two consequences: it lowered the risk of inflation for economies where recovery was clearly underway (in primis, Germany); but it also multiplied the financial crisis in economies (the notorious PIGS: Portugal, Ireland, Greece, Spain) with a hesitant economic recovery, as the rate increase led to higher interest rates on loans to be paid by state budgets, companies and families. That day BBC World, a television channel from a country unaffected by the Eurozone turmoil, used the headline »Pity the Periphery« to cover the issue, tacitly acknowledging that an aggravation of the already critical conditions in PIGS was a minor drawback in view of the German economic boost. Just a short remark on the acronym PIGS, often used – even in academic economic literature – since the 1990s. Two other pejorative variations of this abbreviation are GIPSY, in order to include also Italy, or STUPID, for a more heterogeneous group composed by Spain, Turkey, United Kingdom, Portugal, Ireland and Dubai. Under no circumstances can the economic crisis be considered normal, insofar as it does not respond to any nomic rationality and to no other norm than the illogical and ghastly dynamics of neocapitalist financial speculation.1 However, it has deeper philosophical consequences. Indeed, at the same time as some states are watching their economies sink dramatically – invariably followed by their governments –, the statal form itself has come to a critical situation: a number of national economies is factually dominated by others that purchase their public debt with the consequence that some of the former may go bankrupt and subsequently be rescued by others. This mechanism entails both a state of intervention and a blatant violation of the principles of economic independency formulated by Kant in the Fourth Preliminary Article of Zum ewigen Frieden (cf. Kant 1983).2 Real war is before us. In 1999 William Hague, Britain’s current Foreign Minister, declared: »In the next millennium, nations will fight each other not for territory but for business, and their weapons will not be guns but tax rates« (Gow 1999: 23). This war between states over finances is just the surface of the crisis and hides a much deeper conflict between markets and states. A good example of this confrontation can be found in a very alarming statement by Jean-Claude Juncker, former president of the Eurogroup and Prime Minister of Luxembourg, a country that tops the ranking of 1
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»Der Lauf der Dinge wird durch das Finanzgeschehen bestimmt, und es wiegt darum umso schwerer, dass es höchst umstritten ist, nach welchen Regeln und mit welcher Logik sich hier Ereignisse mit Ereignissen verknüpfen. Gerade die so gennannten Krisen der letzten Jahrzehnte haben die Frage veranlasst, ob sich auf den Schauplätzen der internationalen Finanzwirtschaft ein effizientes Zusammenspiel vernünftiger Akteure oder ein Spektakel reiner Unvernunft vollzieht. Es ist jedenfalls nicht ausgemacht, ob der darin beschworene kapitalistische ›Geist‹ verlässlich und rational oder schlicht verrückt operiert« (Vogl 2010: 7). »Es sollen keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden« (Kant 1983: 198).
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GDP per capita and has a huge concentration of credit institutions. Juncker, definitely not a subversive anticapitalist, claimed in May 2010: »I would like the markets to write this down: they won’t get us on our knees.« The insecurity exposed by this warning equals the threat posed to states – especially for those who adopted the common currency. In fact, the crisis of the states is the victory of financial markets, who are now in the position to toy with every national economy. Credit institutions are rescuing national budgets from going bankrupt after having only just been rescued by those same public budgets. Similarly, tax-payers who provided the capital for those rescues are no longer granted any credits. This set of suicidal chiasms is also to be seen in the paradoxical advertisements displayed by international broadcasting companies, such as CNN, in which different countries offer their virtues as just another product on the line. The difference is that they are not trying to attract tourists: it is investors they are after. And their names are not India or Colombia, but Germany, Turkey, Belgium, and so on. Philosophical reflections based on Hegelian logical outlines may describe the situation as follows: the state has lost the logical feature of universality (A) by which it was commonly referred to in idealistic projects.3 Instead of favouring a higher universality,4 such as an international federation of continental or global scale (AA) – a universality that was, for instance, totally impossible in Fichte’s philosophical project, because it forbade the creation of an international market and the exposure of states to external relations –, this loss favoured a globalization of civil society: a net-shaped Vielheit from which wealthy and mighty individuals (universal individuals, E=A) can be retraced, together with the big industrial and financial corporations5 they control – the very same groups that request to be rescued by the state. The state is thus compressed between the (legitimate?) demands of civil society and individuals ascribed under it, on one side, and the blackmail of international civil society and the tycoon-like individuals under which the state itself is subsumed, on the other. Let’s describe once more this complex logic scenario: we find the state compressed in the middle of a double logical pyramid. Starting from above, we find 3
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»Im Gegensatze gegen diese Meinung würde ich sagen: es sey die Bestimmung des Staats, jedem erst das Seinige zu geben, ihn in sein Eigenthum erst einzusetzen, und sodann erst, ihn dabei zu schützen« (Fichte 1988: 53). About State’s role as logical universality: »Der Staat allein ist’s, der eine unbestimmte Menge Menschen zu einem geschloßnen Ganzen, zu einer Allheit vereinigt« (Fichte 1988: 54). »Aller Verkehr mit dem Ausländer muß den Unterthanen verboten seyn, und unmöglich gemacht werden« (Fichte 1988: 69). About Fichte’s conception of commerce among States at a European level, cf. Villacañas (1999). Fichte remains interestingly silent about financial operations ad intra and ad extra. About the reasons of the absence of a »Theorie des Geldes« related to states (cf. Fichte 1988: 68f.).
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the level of the universal individuals, the tycoons that control, inmediately below, the international civil society, a network of multinational corporations that would form the second level of the pyramid, the step of multiversity, the Vielheit. The national state is at the bottom of this first part of the pyramid, but simultaneously at the top of the traditional Hegelian political pyramid, representing the universality under which banks and companies – considered from a national standpoint – constitute the civil society, the logical level of the particularity, the Besonderheit, the second step of this descent. At the very bottom of the pyramid we find the citizens, considered as tax payers and as subsidized individuals. The state, in the middle of these two inverted pyramids, is logically clasped between the national and the international economic levels. Einheit=Allgemeinheit: Individual (tycoon) Vielheit: Civil society (banks, companies internationally) Allgemeinheit?: National state Besonderheit: National civil society (banks, companies nationally) Einheit: Individual (tax-payer and subsidized citizen) The motto of The Oldest Systematic Program of German Idealism could be turned into a question: »Müssen wir über den Staat hinaus?« – »Should we overcome the State?« (cf. Hegel 1989: 235). Indeed, the State has shrunk to a merely formal administrative organ surrounded on all sides. It has sustained major damage during this crisis, it has been rushed to hospital and we may now wonder whether it can survive. Its condition is critical. However, the argument can be made that the State can still be used, at least partly, in order to stop the outrage of financial systems. It has the institutional power to channel citizen discontent and to vindicate the main victims of the crisis. One example along this line would be the referendum held in Iceland. Probably due to its small population of barely 300.000 inhabitants, the country represents both the best example of a national economy going bankrupt because of the ravings of credit institutions and of a statal reaction to that situation. The island was famous to romantic artists due to its untamed nature displaying the toughest living conditions on earth, as in a well-known Operetta morale by Leopardi.6 However, when 6
»Io non poteva mantenermi però senza patimento: perché la lunghezza del verno, l’intensità del freddo, e l’ardore estremo della state, che sono qualità di quel luogo, mi travagliavano di continuo; e il fuoco, presso al quale mi conveniva passare una gran parte del tempo, m’inaridiva le carni, e straziava gli occhi col fumo; di modo che, né in casa né a cielo aperto, io mi poteva salvare da un perpetuo disagio. Né anche potea conservare quella tranquillità della vita, alla quale principalmente erano rivolti i miei pensieri: perché le tempeste spaventevoli di mare e di terra, i ruggiti e le minacce del monte Ecla, il sospetto degl’incendi, frequentis-
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Iceland multiplied its GDP several times in just a few years it was not thanks to its traditional fishing sector or to an increase in tourism, but due to the speculative activities of Iceland’s banks. Three main entities (Glitnir, Landsbanki and Kaupthing) entered the European financial market and offered very interesting interest rates, a redundancy which had catastrophic results: in the same week of 2008 in which Lehman Brothers collapsed, the three Icelandic banks went bankrupt; their accumulated debt mounted up to twelve times Iceland’s GDP. The banks received a major bail out with public money, sensibly downsized but enabled to resume their activity. The consequences on living conditions in Iceland were immediate, dramatic and disastrous, with GDP shrinking by 25 %. The collapse also had a significant impact internationally: one of Landsbanki’s investment funds, ironically named Icesave, had attracted the savings of half a million British and Dutch investors, who now were dragged down with it. Investors were indemnified by London and The Hague, who claimed the debt to Rejkiavik: 4 billion euros, one third of Iceland’s GDP. Even though Iceland’s Parliament approved to pay off the debts on two different occasions, the President refused to sign the bill, as he considered it wrong that the Icelandic citizens should pay the price of a crisis they had not created. The Head of State himself called two referendums, and on both occasions the Icelandic people refused to repay the debt – considering his subverting role, could the President be the dot under the exclamation mark, rather than the Hegelian dot on the i? Apparently, a series of statal and institutional mechanisms protected the helpless citizens, and the institution-state showed a power which is uncommon in our time. This presumed victory of state and citizens ignores a bitter truth. Even assuming that Iceland had prevailed, the damaged parties are not the banks who created the crisis, but rather the Dutch and British national economies, with leaky budgets that must be refinanced with taxes. The state and the citizens lose again. Moreover, Iceland’s victory is pyrrhic – thanks to the financial markets again! Only a few hours after the result of the referendum had been covered by the media, Reuters (significantly enough a British agency) published an anonymous and unsettling remark: simi negli alberghi, come sono i nostri, fatti di legno, non intermettevano mai di turbarmi. Tutte le quali incomodità in una vita sempre conforme a se medesima, e spogliata di qualunque altro desiderio e speranza, e quasi di ogni altra cura, che d’esser quieta; riescono di non poco momento, e molto più gravi che elle non sogliono apparire quando la maggior parte dell’animo nostro è occupata dai pensieri della vita civile, e dalle avversità che provengono dagli uomini. Per tanto veduto che più che io mi ristringeva e quasi mi contraeva in me stesso, a fine d’impedire che l’esser mio non desse noia né danno a cosa alcuna del mondo; meno mi veniva fatto che le altre cose non m’inquietassero e tribolassero; mi posi a cangiar luoghi e climi, per vedere se in alcuna parte della terra potessi non offendendo non essere offeso, e non godendo non patire« (Leopardi 2010: 28).
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»Policymakers and economists have said solving the Icesave issue would help Iceland, whose economy went into deep recession after its bank crisis, get back into financial markets to fund itself« (Ringstrom/Valdimarsson 2011). In other words, if Iceland had accepted to pay what it owed, it could have come to good terms for funding its debts. The modus tollens applied on the latest developments (the result of the referendum) looked like a form of sheer retaliation and a warning to other states who may be considering going the same way. Similarly, although on more political terrain, the European Commission’s Vice-President, Joaquín Almunia, declared on the same day of the vote that »the refusal of the Icelandic people to pay the United Kingdom and the Netherlands […] may entail in this country having ›no expectations‹ to progress in negotiations to enter the European Union« (El País 2011). An interesting point in this conflict is related to the military aspect, stricto sensu. Iceland lacks a regular army, and therefore depends on NATO in order to ensure its security. The United Kingdom should have ensured air control of Icelandic skies since December 2008, but London has cancelled these activities. Iceland’s defenselessness and vulnerability are, therefore, not only financial, but much more tangible and alarming. This is not the time to wonder whether the Icelanders’ decision of not paying the nation’s debt was justified, either morally or politically. Indeed, depending on whether the terminus ad quem is formed by the Icelandic banks or the British and Dutch citizens, the result of the referendum may be considered a heroic insubordination or a selfish and destructive action. If this question needed to be answered, I would personally adhere to Michael Walzer’s neo-Rousseaunian thesis, according to which democracy rests on the view that the people should make the laws even if they make them wrongly (cf. Walzer 1981: 386). Without going into this thorny issue, it is necessary to underline that both alternatives – success or failure of the Icelandic rebellion –, would lead to the same result: an additional taxation burden on citizens of the countries involved; Iceland in the first case, the Netherlands and UK in the second. Thus, the conceptual meaning of taxation is altered significantly into a denial of Hegel’s claims during the Jenaer Zeit, as it is no longer an instrument to tone down income differences and create more equalitarian and integrated societies.7 Taxation is neither used along with current liberal political thought to support certain behaviours and discourage others – that is, to bet on certain conceptions of the good and be detrimental to 7
»Die Staatsgewalt […] ist die allgemeine Übersicht; der Einzelne ist nur ins Einzelne vergraben […] Armentaxen und Anstalten. Aber die Substanz ist nicht nur dies ordnende Gesetz als die einzelnen erhaltenden Macht – sondern sie ist selbst erwerbend – ein allgemeines Gut, ein Gut des Ganzen; – Abgaben« (Hegel 1976: 244f.). About the redistributive role played by taxation in »traditional societies«, cf. Van Parijs (2002: 331ff.). About a claim for the utility of financial redistribution by state’s »distribution branch«, cf. Rawls (1999: 244ff.).
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others8 –, nor to fund basic welfare services, such as education and healthcare. On the contrary, in spite of tax rises, social benefits in these areas decrease conspicuously. Taxation policies are now given a very different mission: to pay off the overwhelming public debt of the states that were ruined after having rescued banks that are now their creditors and suffocators. Taxation was traditionally one of the prerogatives that defined the sovereignty of nation states.9 Whenever decisions on taxation policies are conditioned – or directly imposed – by other states, international organizations or economic lobbies, that sovereignty is undermined to an extent that has no precedent in the history of political economy.10 All these reasons lead to conclude that the state – as a conceptual configuration – is in a profound crisis. Unable to confront the previously mentioned financial vice, every state in concreto (and the concept in itself) has become infected by a virus that undermines its immune system. But the State, as Hegel said, is something abstract, it does not exist outside its citizens:11 this situation entails helplessness for each and every one of us. Victims of tax pressure and the denial of private credit, the members of a state are torn apart by the strenght of markets. The present state is hardly covered by Cicero’s definition, which was eventually assumed by the young Hegel: »Staaten: concilia coetusque hominum, jure sociati« (Cicero in Hegel 1991: 205).12 Presently, we should read: »Staaten: concilia coetusque hominum, oeconomia dissociati.« That is: states are not bonds of classes and human beings, juridically linked, but a bond of classes and human beings, torn apart by the economy. It could be argued that the problem does not lie in the state, but rather in the system of capitalist production. However, humankind has been down this road before, and a century of real socialism has proven it impossible. If capitalism – in spite of its neverending transformation, which widens the distance between pro8 9
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»Controlling activities such as drinking, gambling or pornography through the price mechanism, by increasing the price through taxation, might be an option« (cf. Easton 2005: 5). And also the other way around: the traditional claim in order to justify taxation’s morality and necessity (comparing tax evasion with theft) has been the foundation on state’s sovereignty and common good. For a polemical discussion of this thesis, cf. McGee (2004), especially Chapter 2 (15-82): »When can taxation be justified?«. »L’împot est sans conteste un révélateur de la Souveraineté. L’État souverain ne peut vivre que grâce aux impôts qu’il lève« (Buisson 2002 : 31). »Der Staat ist ein Abstraktum, der seine selbst nur allgemeine Realität in den Bürgern hat; aber er ist wirklich, und die nur allgemeine Existenz muss sich zu individuellen Willen und Tätigkeit bestimmen« (Hegel 1970: 62). Please note that in Fichte’s aforementioned writing a very similar definition is to be found: »Der Staat ist verbunden, den aus diesem Gleichgewichte des Verkehrs erfolgenden Zustand allen seinen Bürgern durch Gesetz und Zwang zuzusichern« (Fichte 1988: 69).
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ductive and technical forces13 – is the invariant point, shouldn’t an alternative form of government (or governance, the most common term nowadays) be sought, a form which may restore the proper relation of means to ends,14 the logical hierarchy between public and private good which subdued the idiotés to the res publica from the time of Rome until the French Revolution? In terms that impersonate Hegel’s, do we need by chance a new Theseus (cf. Hegel 1998: 157) to defeat the Minotaur of financial markets and pass new laws – new institutional forms – for the administration of the res publica? The very same question is the product of a terrible situation; but is the posing of that desire alone not ghastly? Of course, the wish would be promising if a Novalisian »Messiah of a thousand members«, an unstoppable force born from an organized multitude in support of change, occupied the place of Theseus. Unsurprisingly, such movements as the Spanish indignados or Occupy Wall Street are deeply related insofar as they share the vindication of structural change in the form of political participation,15 and an end to the supremacy of financial markets. What seems more interesting about these new forms of political indignation is not only their global shape, the use of social nets and media and the creation 13
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»Die Kräfte des Kapitals waren niemals bewahrend oder ›konservativ‹. Andererseits aber haben sie sich von der Sphäre der Produktion selbst gelöst. Mit der Allianz von ›Technologie und Kapital‹ ist die Kultur des Marktes ebenso total wie schwerelos geworden, die Kapitalbewegung entgrenzt sich, befreit sich von den materiellen Erscheinungsformen des Reichtums […]« (Vogl 2010: 13). »Hegels Kritik der bürgerlichen Gesellschaft betrifft daher die liberale Auffassung des Staats als eines bloßen Mittel zum Zweck […]. In der bürgerlichen Gesellschaft, die ein wechselseitiger Zusammenhang oder ein ›System‹ von ›Bedürfnissen‹ und deren Prinzip der Individualismus ist, ist zunächst jeder Bürger sich selbst Zweck. Alles andere ist ihm nichts, sofern es nicht Mittel zu seinem Zweck werden kann. Jeder ist frei und zugleich von allen andern abhängig, denn das Wohl und Wehe eines jeden ist in das aller andern mitverflochten und nur in diesem wirtschaftlichen Zusammenhang gesichert. Für die bürgerliche Gesellschaft ist der Staat ein bloßer ›Not‹ oder ›Verstandesstaat‹, d.h. er ist ohne eigene substanzielle Bedeutung; er ist nur eine ›formelle‹ Einheit und Allgemeinheit über den Sonderinteressen der Einzelnen« (Löwith 1988: 307). And this follows Hegel’s statement in Science of Logic about the need of an inner correspondance between every state and its individuals: »Wenn aber ein Gegenstand, z.B. der Staat, seiner Idee gar nicht angemessen, d.h. vielmehr gar nicht die Idee des Staates wäre, wenn seine Realität, welche die [der] selbstbewußten Individuen ist, dem Begriffe ganz nicht entspräche, so hätten seine Seele und sein Leib sich getrennt; jene entflöhe in die abgeschiedenen Regionen des Gedankens, dieser wäre in die einzelnen Individualitäten zerfallen; aber indem der Begriff des Staats so wesentlich ihre Natur ausmacht, so ist er als ein so mächtiger Trieb in ihnen, daß sie ihn, sei es auch nur in der Form äußerer Zweckmäßigkeit, in Realität zu versetzen oder ihn so sich gefallen zu lassen gedrungen sind, oder sie müßten zugrunde gehen« (Hegel 1981: 175). For an interesting proposal about an alternative political form born from the experience of the occupation movements, cf. Marcus (2012: 30f.).
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of political organizations different from the traditional political parties, but their philosophical purpose: from a logical standpoint, the indignados are trying to occupy, to inhabit the space of logical particularity, the space of mediation between the universal pole of the political and economical governance (probably no longer located in the state) and the individual pole of atomized individuals, linked to each other by merely formal and abstract relations. The space of particularity, of mediation, of political participation, must be recovered, recaptured by the citizens, through these new political movements that still believe in the possibility of a genuine influence of the people on the results of the public policies and of a change in the very political structure of the state. This explains, for example, that in the political movement born in Spain on May 15th 2011 (the so-called 15-M), together with the negative forms of protest and rejection of the political and economic system, many interesting positive contributions to new projects of public participation were discussed and presented. A complex reticular structure of popular commissions (organized according to thematic or geographical features) tried to solve the concrete problems of a whole society (for instance, in the education or public health commissions) or of a neighbourhood or a city, with the local assemblies that spread quickly in almost every corner of our country. This is what many Spaniards – and also many other indignados in other countries – were (and probably still are) looking for: new channels and methods for a genuine and effective political participation, and ultimately, of governance, in a moment of deep economic crisis. I think that the important political transition should now be »From Occupation to Communization« (Marcus 2012). Therefore, the moment has come for political science to research the difficult joining of new forms of government and ever-changing capitalism. Philosophy, on the contrary, may still be the owl of Minerva, but also, at the same time, the rooster of revolution, as Hegel replied – according to Heine and Michelet – when asked about the political content of his own Rechtsphilosophie.16 Nevertheless, it must always refrain »from the wish to be edifying«. A different, serious and demanding task awaits: to go against all forms of oikodicy – again, along with Joseph Vogl’s (2010) definition – and condemn the irrational and abnormal status of a krisis that 16
»La Dämmerung es ambas cosas: en ella se da el vuelo nocturno de la lechuza (el ave de la sabiduría) y el canto del gallo (como, según anécdotas, habría confesado privadamente Hegel, sea a Michelet, sea a Heinrich Heine)« (Duque 1998: 328).
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cannot be wirklich, for the sole reason of not being vernünftig.17 A crisis that Philosophy must consequently fight off from its deepest conceptual foundation.
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And that against the so called Efficient Market Hypothesis: »Der Markt selbst ist das Wirkliche und also das Vernünftige schlechtin.« This thesis would imperson the oikodicy dominant in the economical thought since the end of WWII: »Wie einmal das Erdbeben von Lissabon aus dem Jahr 1755 die Grundlagen neuzeitlicher Theodizeen erschütterte, so geht es auch angesichts der Finanzbeben der letzten zwanzig Jahre um das wissenschaftliche Format ökonomischen Wissens. Es geht um nicht weniger als um die Geltung, die Möglichkeit und die Haltbarkeit einer liberalen oder kapitalistischen Oikodizee: um die Frage nach der Konsistenz jener ökonomischen Glaubenssätze, für welche die Zweckwidrigkeiten, Übel und Pannen im System mit dessen weiser Einrichtung vereinbar erscheinen; oder eben nicht« (Vogl 2010: 22, 29).
The Space of Mediation between Critical States and the Ghost of Capital
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Das prekäre Subjekt: Mehr als ein Schauplatz neoliberaler Macht? Zur Bedeutung von Psychopolitik und Nekropolitik für prekäres Leben im Kontext der europäischen Finanzmarktkrise Alexandra Rau
Einleitung Spätestens die Finanzmarktkrise hat offengelegt, dass die neoliberale Wirtschaftspolitik in den europäischen Gegenwartsgesellschaften nicht nur für eine gesellschaftliche Minderheit ein prekäres Leben bereithält, sondern für viele Menschen die Prekarisierung ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse bedeutet. Die alltägliche Sorge um die Zukunft und ein Leben von der Hand in den Mund gehen dabei Seite an Seite mit dem Erfordernis, das eigene Sein und Handeln in völlig individualisierter Weise nach den Prinzipien des Marktes auszurichten. Ein prekäres Leben zu führen, verweist darauf, dass der Status des Subjekts auf existenzielle Weise verhandelt wird. Der folgende Beitrag nimmt dieses Phänomen auf und übersetzt es in die Frage danach, welche Formen der Machtpolitik es genau sind, die mit den Prekarisierungsprozessen verbunden sind und die die Produktion des Ontologischen – als das, was wir als Subjekte sind und sein können – berühren. Diskutiert wird in diesem Sinne der Zusammenhang von Prekarisierung, Machtpolitiken und Subjektivierung, wie er sich im europäischen Kontext zeigt. In Deutschland liegen zum Themenkomplex Prekarisierung mittlerweile eine Reihe instruktiver sozialwissenschaftlicher Arbeiten vor (vgl. Altenhain/Danilina et al. 2008; Castel/Dörre 2009; Manske/Pühl 2010),1 wovon manche sich explizit, manche eher implizit mit dieser spezifischen Beziehung von Prekarität, Macht und Subjekt beschäftigen. So kontrovers und vielfältig hier auch die Positionen sein mögen, sie eint der Umstand, dass die Frage nach der Form der Machtpolitik mit 1
Es lässt sich sogar festhalten, dass sich ein neues Forschungsfeld, das der Prekaritätsforschung, gebildet hat.
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dem Verweis auf den Neoliberalismus, respektive auf eine neoliberale Regierungsweise, als beantwortet erscheint und dementsprechend auch die Art prekärer Subjektivierung allein in den Kategorien von Unternehmertum und Wettbewerb interpretiert wird. Nun ist diese Deutung selbstverständlich nicht völlig falsch, im Gegenteil. Natürlich wird man nicht verstehen, was es heißt, heute ein prekäres Subjekt zu sein, ohne die Machtform des Neoliberalismus zu entschlüsseln. Es wäre für die Untersuchung der Beziehung von Prekarität und Subjektivierung sogar fahrlässig, ihre Wirkungsweise zu ignorieren: Zu nennen sind die Anreizung zur Ausbildung eines unternehmerischen Selbstverhältnisses; ihr Wirken als massive Individualisierungstechnologie und damit ihre Entsolidarisierungstendenzen; die Produktion und das Management von Heterogenität und von Differenzen zwischen Individuen; die Vermarktlichung von vormals nicht-ökonomisierten gesellschaftlichen Bereichen und die Landnahme der Subjektivität; ihre Kunstfertigkeit, diskursive Kritiken in das Projekt des Kapitals zu integrieren und dadurch diesem ihr widerständiges Potenzial zu enteignen et cetera (vgl. Foucault 2004; Bröckling 2007; Dörre 2009; auch Orellana und Bazzicalupo in diesem Band). Gleichwohl bin ich der Überzeugung, dass zur Erklärung des prekären Subjekts die neoliberale Regierungsweise als Machtform nicht hinreicht. Vielmehr denke ich, dass sich im Leben und in der Existenzweise des prekären Subjekts – eben neben der neoliberalen Regierungsweise – Machtpolitiken artikulieren, mit denen wir es historisch betrachtet im europäischen Kontext bisher noch nicht zu tun hatten. Diese neueren Politiken zu begreifen, erscheint mir aber nicht nur wichtig, um unseren gesellschaftlichen Zustand und die gegenwärtigen Grenzverhandlungen der Existenz besser zu verstehen, sondern auch insofern, als sich hier neue Fragen zu Ansätzen widerständiger Praktiken und der Kritik anschließen. Generell wähle ich für diese Diskussion eine Perspektive, die von Michel Foucaults Denken geprägt ist. Dies bedeutet zum einen, dass ich seine Konzepte der Macht als analytische Werkzeuge und als diagnostische Instrumente verwende. Zum anderen soll damit die Erkenntnis betont werden, dass Macht ein Gegenstand ist, der seine eigene Geschichtlichkeit aufweist (vgl. Foucault 2005: 226; Foucault 1994). Macht, Machttechniken und Machtpolitiken können in dieser Sichtweise nicht einfach aus den Erfordernissen, Nöten oder Krisen des Kapitalismus abgeleitet werden, sondern sie sind als davon relativ unabhängig zu betrachten und bedürfen dementsprechend eigener Analyseverfahren. Erst ein solches Verständnis macht es in der Folge überhaupt erst interessant und notwendig danach zu fragen, wie sich in einer bestimmten historischen Situation spezifische Machtformen mit den Interessen des Kapitals verknüpfen (vgl. Lemke 1997: 263). Mit einem solcherart eingestellten Fokus werden im Folgenden drei Thesen vorgestellt, die ich hier voranstelle: Erstens meine ich im 20. Jahrhundert die Entwicklung einer neuen, und zwar biopolitischen Machtform erkennen zu können, die ich als Psychopolitik bezeich-
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net habe (vgl. Rau 2010). Psychopolitik deshalb, weil sie das Individuum in seinem Sein und Handeln als psychisches Wesen anruft und, mehr noch, weil sie das Individuum durch den Modus der Psyche regiert beziehungsweise regierbar macht. Die Form des Subjekts – das nach Foucault immer schon unterworfen und ermächtigt zugleich ist – und die Erfahrung, die ihm möglich ist, sind in dieser Betrachtung im Ergebnis psycho-logisch überformt. Zweitens zeichnen sich mit Blick auf Prekarisierungspozesse Facetten einer weiteren Machtform ab. Diese geht allerdings nicht, wie die psychopolitische oder die neoliberale Regierungsweise, im Konzept der Biomacht auf. Denn statt das Leben zu regulieren, zerstört sie es und vernichtet es eher. Während für Menschen des globalen Südens dieser Typus der Macht nicht unbekannt ist, ist er für die weißen Europäer des globalen Nordens eher neuartig. Instruktiv sind hier die von Achille Mbembe in einer postkolonialen Perspektive entwickelten Überlegungen zu einer Machtform, die er unter Bezug zu Foucault Nekropolitik nennt (vgl. Mbembe 2011). Drittens denke ich, dass vor diesem Hintergrund das prekäre Subjekt Europas zwar im Kontext der neoliberalen Regierung zu lesen ist, aber auch deutlich im Fadenkreuz der beiden Machttypen von Psychopolitik und Nekropolitik steht. Es erweist sich als ein Schauplatz, an dem neoliberale mit psychopolitischen und nekropolitischen Machtstrategien im Sinne einer Artikulation in Verbindung treten.
These 1: Psychopolitik als jüngere biopolitische Machtform in Europa Dass wir eine Psyche ›haben‹, mag uns heute selbstverständlich scheinen. Allerdings ist sie als Tatsache weder selbstevident noch eine anthropologische Konstante. Vielmehr betrachte ich die Psyche und damit die Vorstellung einer mit der Subjektivität verbundenen Innenwelt mit Foucaults Konzept der Technologien des Selbst (vgl. Foucault 1984) als ein modernes und damit historisch junges Phänomen, das erst im Kontext der Erosion der feudalistischen Ständegesellschaft und der Herausbildung des bürgerlichen Individuums entstehen konnte (vgl. Sonntag 1988; Meschnig 1993). Die Psyche, als säkularisierte Variante der Seele, erscheint damit als etwas, das historisch wie gesellschaftlich erst ›werden‹ musste. Als eine gewordene Realität ist sie nicht nur ins Spiel gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse eingegangen, sondern hat über die Zeit hinweg zunehmend an Gewicht, sowohl für die Weise der Subjektivierung, als auch für die Weise der Vergesellschaftung, erhalten (vgl. Rose 1998). Dabei will ich zeigen, dass die Idee der Psyche in der europäischen Gegenwartsgesellschaft Eingang in eine Form der Macht beziehungsweise der Regierung gefunden hat, mit der wir heute unser Leben führen. Sie markiert in dieser Sichtweise einen Kontaktpunkt, an dem sich Herrschaftstechniken und Selbsttechniken vermitteln. Um dies nachzuvollziehen, können hier
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zwar nicht im Detail die historischen Linien dargelegt werden. Mit Blick auf die deutsche Geschichte lässt sich jedoch sagen, dass ein Ausdruck und Motor dieses Prozesses im 20. Jahrhundert sicherlich der sogenannte Psychoboom darstellt, der aus den USA kommend spätestens in den 1970er Jahren auch die Bundesrepublik erreichte. Mit ihm werden nicht nur »Psychowaren« in verstärktem Maße geschaffen und vermarktet (vgl. Castel et al. 1982). Vielmehr werden im Zuge dessen vor allem das Alltagsleben, die sozialen Praktiken und das Denken der Menschen zunehmend durch ein psychologisches Wissen angereichert und schließlich durch eine »Psycho-Logik« überformt (vgl. Sonntag 1988). Dies zeigt sich exemplarisch in der starken Expansion der Ratgeber- und Selbsthilfekultur. Besondere Relevanz für dieses Phänomen kommt insbesondere der Psychotherapie zu und all ihren Variationen ab den 1980er Jahren. Gerade letztere stellen durch ihren eher beraterischen oder esoterischen Charakter die Übersetzung von psycho-logischem Expertenwissen in die Sprache der Massen sicher und schaffen dadurch eine populäre Psychologie des Alltags. In ihrem Gesamtzusammenhang verweisen diese Entwicklungen darauf, dass mit dem Aufstieg des Therapeutischen die Psychologie als Disziplin und gesellschaftlicher Akteur in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Wende vollzieht. Sie verschiebt durch die Idee der Therapie ihre bis dahin hegemoniale Ausrichtung auf das naturwissenschaftliche Experiment hin zu einer heilenden Aufgabe. Das Modell, das dafür Pate steht, ist die Psychoanalyse nach Sigmund Freud, wie er sie in gesellschaftskritischer Absicht ab Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte. Entscheidend ist dabei, dass ausgehend von der Psychoanalyse die ihr nachfolgenden therapeutischen Ansätze nicht das Pathologische, sondern das Normale als ihr Arbeitsfeld bestimmen und dadurch bislang unerschlossene Bevölkerungsgruppen einer psycho-logisch therapeutischen Sorge zugeführt werden. In der Folge gehören nun die ganz normalen Leute zu ihrem Adressatenkreis, mit ihren ganz normalen Problemen des Alltags. Die ›Therapie für Normale‹ setzt dabei die Vorstellung voraus, dass der Mensch dazu imstande ist, seine inneren und äußeren Bedingungen zu erkennen, Gefühle zu formulieren und die eigene Existenz über die Bearbeitung des Inneren verändern zu können. Das Selbst wird somit als ein innerer Zustand des Individuums begriffen, der nach Erforschung wie auch nach einer Umarbeitung verlangt (vgl. Castel et al. 1982: 286). Der psychische Innenraum avanciert in dieser Konzeption somit zu einem Ort, an dem gearbeitet werden kann und muss. Der Einzelne lernt hierbei, das Augenmerk auf Affekte zu richten und ihnen Sinn durch die Sprache der Psycho-Logik zu verleihen. Die Psyche wird in diesem Sinne zu einem Interpretationsschema, mithilfe dessen Affekte gesellschaftlich intelligibel gemacht werden, das heißt durch sie werden Affekte in lesbare Emotionen übersetzt. Eva Illouz hat in diesem Kontext herausgestellt, dass insbesondere Begriffe wie Authentizität, Identität und Selbstverwirklichung zu diskursiven Anleitungsprogrammen eines sich herausbildenden therapeutischen Lebensstils werden (vgl. Illouz 2006). Das damit verbundene Ziel
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– welches gleichzeitig eine Norm wie auch ein Versprechen ist – besteht darin, sich im Ausgang von ›Gefühlen‹ zu verstehen, um sich zu emanzipieren, zu befreien, ganz das zu werden, was man angeblich dem Potential nach schon ist. In summa handelt es sich unter dem Gesichtspunkt von Herrschaft hier zunächst um ein zweischneidiges Schwert: Auf der einen Seite ist Robert Castel sicherlich zuzustimmen, wenn er behauptet, dass mit der therapeutischen Wende ein »Markt der Seele« entstanden sei, auf dem psychische Probleme gehandelt und zu einem Gegenstand von Dienstleistungen werden (vgl. Castel 1988). Das Individuum wird dabei mit der Norm konfrontiert, aktiv etwas dafür zu tun, ganz es selbst zu werden und psycho-logisch gut für sich zu sorgen. Es wird in diesem Sinne einem neuen Herrschaftsdiskurs unterworfen, durch den gesellschaftliche Konfliktverhältnisse in persönliche Probleme transformiert und damit im schlechtesten Fall entpolitisiert werden. So erweist sich dieser Prozess der Logik nach als eine Individualisierungsmaschine. Auf der anderen Seite lässt sich durch den Blick in die Geschichte belegen, dass dies nicht immer und zu jeder Zeit der Fall sein muss und geradezu umgekehrt der psycho-logisch therapeutische Diskurs auch ermächtigende Effekte hervorbrachte. Nicht nur eröffnete er historisch erstmalig dem Individuum die Option, sich mit dem Wissen um psycho-logische Techniken selbst von gesellschaftlichen Zwängen zu befreien und damit das eigene Sein nicht mehr als unveränderliches Schicksal zu begreifen. Er diente auch als Quelle für kollektive Kämpfe für Emanzipation und ein besseres Leben. In der Bundesrepublik lässt sich als Beispiel hierfür die Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre anführen, die überhaupt nicht denkbar wäre ohne ihren Bezug auf psycho-logisch therapeutische Konzepte und Praktiken, wie etwa die Selbsterfahrungsgruppen (vgl. Bührmann 1995). Und auch in Italien sind die Gruppe der Frauen um den Mailänder Frauenbuchladen, Libreria delle donne di Milano, und die Philosophinnengruppe Diotima an der Universität von Verona in diesem Licht zu betrachten. Die Investition in die Psyche und ihre Bearbeitung stellte jedenfalls ein Mittel für Frauen dar, das Geschlechterverhältnis als Herrschaftsverhältnis zu repolitisieren und einen Kampf gegen das Patriarchat zu führen. Unabhängig von dieser Janusköpfigkeit: Gesellschaftlich entscheidend ist grundsätzlich der Umstand, dass beides in seinem Zusammenspiel – also die psycho-logisch therapeutischen Praktiken und Diskurse der Unterwerfung, wie auch die der Ermächtigung – Teil eines historischen Prozesses ist, durch den das Individuum gesellschaftlich etwas Bestimmtes gelernt hat: nämlich ein psychisches Wesen zu sein und somit als solches seine Verhältnisse zu sich und zu anderen in Begriffen einer inneren Welt zu deuten (vgl. Rose 1998). Heute erklären und leben wir uns selbst und unsere sozialen Handlungen entlang von Gefühlen und Stimmungen. Die Subjektivierungsweise ist durch das Konzept der Psyche neu arrangiert und dementsprechend die Subjektform in diesem Sinne psychologisch geprägt worden. Mehr noch: Die Psyche ist im Zuge dessen zu einem
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Punkt der Existenz geworden, auf den sich Machtstrategien beziehen können – und genau das markiert der Terminus »Psychopolitik« (vgl. Rau 2010): Es bedeutet anzunehmen, dass sich mit Bezug auf die Psyche eine neue biopolitische Regierungsweise herausgebildet hat und folglich das Individuum als Teil der Bevölkerung durch seine Psyche regierbar ist. Demnach wird durch die Psychopolitik das Verhalten und das Sein des Individuums qua Anrufung seiner Psyche sowohl normalisiert als auch reguliert. Dabei zeichnet sich die Psychopolitik durch eine therapeutische Sorge aus, deren normativer Anspruch darin besteht, sich aus sich heraus so zu verändern, dass man in einer ausdifferenzierten, beschleunigten und unübersichtlich gewordenen Welt authentisch und gleichermaßen handlungsfähig lebt (vgl. Ehrenberg 2004). Schließlich ist die Psyche in dieser Perspektive weniger eine innere Disposition oder Struktur, die jemand ›hat‹. Sie ist hingegen ein Modus, anderen und sich selbst ausgesetzt zu sein (vgl. Butler 2005: 33). Und das beinhaltet zweierlei: Sie ist ein Modus, durch den wir sehr verletzbar geworden sind, denn erst sie schafft und ist die Voraussetzung dafür, dass Praktiken der Erniedrigung, der Beschämung, der Beschuldigung ihre innere Wirkung entfalten und damit einen materiellen Anker im Individuum finden. Dies impliziert, dass durch die Psyche das Feld des Leidens neu konzipiert wird, was auch beinhaltet, dass neue Möglichkeiten entstanden sind, Menschen zu verwunden. Darin wird die Frage nach der Würde des Menschen zu einem konstitutiven Baustein. Gleichzeitig und umgekehrt stellt die Psyche jedoch auch einen Modus dar, der zu einer Kraft werden kann, die etwa von Wut, Stolz, Leidenschaft getragen wird. Mit ihr ist die Herstellung spezifischer Erfahrungen verbunden, die zum Anlass einer Empörung oder gar eines Protests werden können. Folglich verhält es sich so, dass gerade weil die Psyche eine gesellschaftliche wie individuelle Realität geworden ist, das Individuum auch genau dort verletzbar ist, aber es ist auch genau dort empörbar. Zusammengefasst heißt das: Im Laufe des letzten Jahrhunderts hat sich meiner Erkenntnis nach in der westlich europäischen Gesellschaft mit der Psychopolitik eine neue biopolitische Machtform herausgebildet, deren Kennzeichen darin besteht, durch den Modus der Psyche das Leben und das Sein des Individuums zu regieren. Als Regierungsweise arbeitet Psychopolitik maßgeblich auf dem Feld der Produktion des Ontologischen. Dies impliziert die Annahme, dass die Psyche ein Feld von Machtstrategien und damit etwas geworden ist, mit dem heute Politik gemacht werden kann. Folglich gilt es einerseits sehr ernst zu nehmen, dass wir durch die Psyche äußerst verwundbar geworden sind und die Verwundungen unserer Psyche Teil psychopolitischer Machtpraktiken werden (können). Aber auch umgekehrt ist es wichtig zu sehen, dass das psychische Selbstverhältnis der Möglichkeit nach Ausgangpunkt für Empörung ist und hier Erfahrungen entstehen, die als eine Quelle von individuellem Widerstand und kollektiver Gegenregierung dienen können.
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These 2: Nekropolitik und die Wiederkehr der Souveränität Die Psychopolitik ist neben dem Neoliberalismus jedoch nicht die einzige jüngere Machtform, die das Gesicht der europäischen Gegenwartsgesellschaft prägt. Die ökonomischen und sozialen Transformationen der letzten fünfzehn Jahre und die Finanzmarktkrise geben Anlass zu der Annahme, dass sich Ansätze einer weiteren Machtform herausgebildet haben. Diese ist zwar historisch betrachtet nicht gänzlich neu, jedoch für den weißen europäischen Kontext eher unbekannt. Es handelt sich dabei um einen Typus der Macht, der nicht wie der Neoliberalismus und die Psychopolitik im biopolitischen Paradigma zu lesen ist und dementsprechend nicht unter dem Konzept der Biomacht subsumiert werden kann – jener Macht des Lebens, die Foucault zufolge eine Kombination aus Disziplin und Biopolitik darstellt.2 Oder noch einmal anders: jener Machtform, die Leben macht und sterben lässt (vgl. Foucault 1977: 165). Um dies zu verdeutlichen, will ich das Augenmerk auf die jüngste Geschichte Griechenlands lenken und zunächst die dortigen Entwicklungen seit der Finanzkrise und den gesellschaftlichen Zustand des Landes rekapitulieren. Die Wahl hätte geopolitisch allerdings auch auf Spanien, Portugal oder Zypern fallen können; gleichwohl denke ich, dass sich in Griechenland womöglich am drastischsten, gar prototypisch zeigt, welche Art von Macht mit der Austeritätspolitik und den Strukturanpassungsmaßnahmen, die den verschuldeten Ländern Europas von der Troika auferlegt wurden, Platz greifen kann. Festhalten lässt sich jedenfalls, dass die Aufnahme Griechenlands unter den ›Rettungsschirm‹ das Land nicht nur dazu verpflichtet hat, sich dem Diktat des Sparens zu unterwerfen, sondern damit verbunden auch dem Diktat der Deregulierung, der Privatisierung, des Subventionsabbaus und der Kostendeckelung, vor allem in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales. In die Praxis übersetzt bedeutete dies für die Bevölkerung die Verlängerung der Arbeitszeiten, das Streichen von Stellen im öffentlichen und sozialen Dienst, die massive Kürzung von Löhnen und Renten sowie den radikalen Rückbau sozialer Leistungen, die der Existenzsicherung oder der gesellschaftlichen Teilhabe dienen. Bis heute findet letzteres – die Erosion des Renten- und Sozialversicherungssystems – auch deshalb statt, weil die Regierung die Einlagen bestehender Sozialversicherungsfonds nutzt, um ihre Kredite an die Gläubiger zu zahlen. Zu welcher Art gesellschaftlicher Situation hat dies konkret geführt? Ich will hier ein paar Zahlen nennen:3 Die Arbeitslosenrate in Griechenland hat sich von 2009 bis 2 3
Und folglich ihrem Wesen nach einerseits die Zurichtung des Individuums und andererseits die Regulierung der Bevölkerung beinhaltet. Die aufgeführten Zahlen wurden seinerzeit soweit nicht anders angegeben folgender Quelle entnommen: Solidarity4all (2013). Sie versammelt verschiedene Statistiken und Studien zur Situation Griechenlands und gibt Auskunft auch zu anderen, hier nicht vermerkten Phänomenen. Vgl. auch OECD (2013).
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2013 fast verdreifacht und lag bei 27,5 %, was in Personen bedeutet, dass über 1,3 Mio. Menschen arbeitslos waren (vgl. Hellenic Statistical Authority 2014). Bei Jugendlichen lag die Arbeitslosenrate sogar bei 57 %. Innerhalb eines einzigen Jahres (von 2011 auf 2012) haben über 350.000 Menschen ihren Arbeitsplatz verloren und 60.000 Unternehmen gingen in Konkurs, allerdings erhielten nur 200.000 Menschen eine Arbeitslosenunterstützung, die sich zwischen 180 € und 468 € bewegte und für maximal ein Jahr gewährt wurde. Die Stundenlöhne derjenigen, die noch über Lohnarbeit verfügten, sanken im Jahr 2012 im Durchschnitt auf 2,70 €. Prinzipiell sank das verfügbare Haushalteinkommen zwischen 2009 und 2012 um 30 %. Demgegenüber steht, dass im selben Zeitraum der Mehrwertsteuersatz auf 27 % angehoben wurde. Auch waren die Strompreise um 10 % gestiegen, was dazu führte, dass monatlich bei etwa 30.000 Haushalten der Strom abgeschaltet wurde. Mit Blick auf die Gesundheitsversorgung ist im Jahr 2012 festzustellen, dass über 30 % der Menschen nicht mehr krankenversichert waren. Traurig genug, dass auch die Kindersterblichkeit seit dem Jahr 1950 erstmalig wieder angestieg. Schließlich verdoppelte sich die Zahl der Depressionen seit der Finanzkrise und die Selbstmordrate stieg um 40 %. Diese Skizze mag genügen. Nur zu deutlich zeigt sich in Griechenland, dass binnen kürzester Zeit ein radikaler sozialer Raubbau der Gesellschaft stattgefunden hat. Ironisch und absurd genug, dass die Verschuldung des Landes seit den ›Rettungsaktionen‹ noch gestiegen, anstatt gesunken ist (vgl. De Grauwe 2013) – es ist nur zu offensichtlich, dass die Austeritätspolitik sich rückblickend als Einführung eines Regimes erweist, das systematisch die Notlage und das Elend produziert. So kann man Maurizio Lazzarato zunächst zustimmen, wenn er behauptet, Griechenland sei zu einem Experimentierfeld geworden, um in Europa Bedingungen für eine Ausweitung des absoluten Mehrwerts zu schaffen. Gesetzt werde »auf eine Verlängerung der Arbeitszeit, eine Vermehrung von nicht bezahlter Arbeit und Niedriglöhnen, auf Einschnitte in allen Sozialleistungen und Lebensbedingungen, auf eine Erhöhung der prekären Beschäftigung und eine Senkung der Lebenserwartung« (Lazzarato 2012: 21). Griechenland kommt in dieser Sichtweise die Funktion einer Blaupause zu, die den Ausweg aus der Krise des Kapitals weisen soll. Interessant scheint mir dabei vor allem die in diesem Kontext vorgetragene Überlegung, dass hier einem Land Maßnahmen auferlegt wurden, die bis dato nur vom reichen Norden und den kapitalistischen Zentren dem armen Süden aufgezwungen worden seien (vgl. Solidarity4all 2013). Dem folgend könnte man vermuten, dass es darum geht, auch innerhalb Europas Bereiche und Räume für das Kapital zu schaffen, die den Produktionsbedingungen von Entwicklungsländern entsprechen. Dem will ich gar nicht widersprechen. Aber ich will auf etwas Anderes hinaus: Ich denke nämlich, dass mit der aufgezwungenen Austeritätspolitik der Troika auch eine Form der Macht ins Spiel gebracht wurde, mit der bislang vor allem Men-
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schen des globalen Südens und in sogenannten Entwicklungsländern konfrontiert waren. Instruktiv für eine Bestimmung dessen erscheint mir das von Achille Mbembe in einer postkolonialen Perspektive entwickelte Konzept der Nekropolitik, mit dem er an die Machtanalytik Michel Foucaults anschließt, sie aber auf entscheidende Weise aktualisiert (vgl. Mbembe 2011). Mbembe interessiert sich für jene »Entwicklungslinien«, »die den Ausnahmezustand und das Verhältnis der Feindschaft zur normativen Grundlage des Rechts zu töten« – und damit der Souveränität – werden ließ (Mbembe 2011: 67). Der Begriff ›Nekropolitik‹ dient ihm dabei dazu, die Vielzahl der Arten und Weisen anzusprechen, wie in unserer zeitgenössischen Welt Waffen im Dienste einer maximalen Vernichtung von Personen zum Einsatz kommen und die Schaffung von Todeswelten befördern – neue und einzigartige Formen der sozialen Existenz, bei der riesige Bevölkerungen Lebensbedingungen unterworfen werden, die sie in den Status lebendiger Toter versetzen. (Mbembe 2011: 89) Mbembe stellt damit im Kontext postkolonialer Verhältnisse Formen der Unterwerfung heraus, die im existenziellen Sinn das Leben dem Tod unterstellen. Unter der spätmodernen kolonialen Besetzung zu leben, bedeute, »beständig der Erfahrung ausgesetzt zu werden, ›im Leid zu sein‹« (Mbembe 2011: 88). Im Blickfeld stehen damit Machtpraktiken, durch die Menschen auf entscheidende Weise ihre Lebensgrundlagen entzogen und durch die sie in den sozialen oder tatsächlichen Tod gestoßen werden. Für diese Praxis des Sterbenmachens erkennt Mbembe mehrere Aspekte als konstitutiv an. So spielen, ihm zufolge, neben dem Rassismus die Organisation und Nutzung des Raums eine wichtige Rolle. Es gehe bei der kolonialen Besetzung darum, ein materielles geographisches Gebiet zu erfassen, es abzugrenzen und die Kontrolle darüber geltend zu machen – seinen Boden mit einem neuen Ensemble sozialer und räumlicher Verhältnisse zu beschreiben. Das Einschreiben neuer räumlicher Bezüge (Territorialisierung) war letztlich gleichbedeutend mit der Produktion von Grenzen und Hierarchien, Zonen und Enklaven; dem Unterlaufen bestehender Besitzverhältnisse; der Klassifikation der Leute nach unterschiedlichen Kategorien; der Ausbeutung von Ressourcen; und schließlich der Anfertigung eines weitreichenden Reservoirs kultureller Imaginarien. (Mbembe 2011: 76) Der Ausnahme- und Belagerungszustand wie auch die Kriegsmaschinen und die Militarisierung bestimmt er als Kernlogiken einer so entstehenden nekropolitischen »Terrorformation« (Mbembe 2011: 78). Nicht zuletzt zeichnet er nach, dass heute gerade die territoriale Schaffung von Enklavenökonomien, die Zonen der Ausbeutung von Rohstoffen darstellen, zu einem privilegierten Terrain von Krieg und Tod werden. Man könnte dies so interpretieren, dass sich hier zeigt, wie und
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dass der Finanzmarktkapitalismus sich mit einer nekropolitischen Strategie verbindet. Letztendlich jedoch verdeutlicht Mbembe nicht nur die Kontinuität der Gewaltförmigkeit kolonialisierender und rassifizierender Prozesse. Er stellt unter machttheoretischen Gesichtspunkten vor allem heraus, dass der Souveränität als Machttypus in zeitgenössischen postkolonialen Verhältnissen ein neuer Stellenwert zukommt, wobei Souveränität hier die Fähigkeit bedeute, »zu bestimmen, wer zählt und wer nicht, wer frei verfügbar ist und wer nicht« (Mbembe 2011: 77). Mit ihr verbinde sich die Etablierung einer Ungleichheit hinsichtlich der Macht über das Leben und den Tod – mehr und genauer noch, die Schaffung von Existenzweisen, die die Form von »Tod-im-Leben« annehmen (Mbembe 2011: 72). Nun denke ich keineswegs, dass sich das Konzept der Nekropolitik bruchlos auf die Situation in Griechenland übertragen ließe. Von einer zeitgenössischen kolonialen Besetzung im Sinne Mbembes zu sprechen, wäre sicherlich unzulässig. Griechenland ist weder im Krieg noch lebt seine Bevölkerung im Belagerungszustand. Auch handelt es sich nicht um ein Regime des Notstands, sondern um eines der Notlage. Und nicht zuletzt ist die griechische Situation keine, in der genealogische Verbindungen einer Geschichte des Kolonialisiertwerdens präsent wären. Gleichwohl scheint mir das Konzept instruktiv, und zwar insofern, als es auf dieses massive Moment der Destruktion hinweist, das mir für das Verständnis der Machtform, wie sie sich in Griechenland artikuliert, bedeutsam erscheint. Die erwähnten Praktiken der sozialen Austrocknung, der Beraubung von Einkommensmöglichkeiten und der Verelendung – sie alle sind aus meiner Sicht nichts Anderes als Praktiken, die die Lebensgrundlagen des Individuums zerstören, die das soziale Leben vernichten und das Leben selbst einer destruktiven Logik unterwerfen. Die gestiegene Selbstmordrate und die erhöhte Kindersterblichkeit sind in diesem Komplex nur als der äußerste Ausdruck dieser Unterwerfung zu lesen. Die Griechenland oktroyierte Politik der Haushaltsdisziplin beherbergt jedenfalls ein für das individuelle wie soziale Leben gewaltsames Moment der Enteignung, von Rechten, finanziellen Ressourcen, sozialen Netzen, von Möglichkeiten zu sein (vgl. hierzu auch Harvey 2004). Dies trägt die Züge einer Machtpolitik, die Leben zerstört. Es lässt sich jedenfalls festhalten, dass für ein Verständnis der Unterwerfungsformen, wie sie sich in den Prekarisierungsprozessen in Griechenland darstellen, das Konzept der Biomacht nicht hinreichend ist. Machtstrategien dominieren hingegen die gesellschaftliche Situation, die der Logik nach gerade nicht leben, sondern umgekehrt sterben machen. Kurzum: Meiner Erkenntnis nach ist man im Kontext Griechenlands mit einer Machtform konfrontiert, die im Kern mit Technologien der Zerstörung operiert und daher weniger einer Logik der Regulation des Lebens folgt, als mehr einer Logik der Destruktion des Lebens. Sie ist damit insofern Nekropolitik, als sie in die Produktion des Ontologischen ein destruktives Moment einführt. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Disziplin und biopolitische Formen der Macht
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in diesem Zusammenhang keine Rolle mehr spielen, aber wohl, dass das Koordinatensystem der Macht neu austariert ist und es zu erkennen gilt, dass besonders nekropolitische Tendenzen das Bild prägen. Die Annahme jedenfalls drängt sich im Falle Griechenlands auf, dass mit nekropolitischen Tendenzen die alte souveränistische Strategie des ›Sterbenmachen und Lebenlassens‹ in einem neoliberalen Rahmen wiederkehrt. Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen bedeutet hier jedenfalls, dass Menschen der destruktiven Logik nekropolitischer Machtstrategien ausgesetzt sind.
Das prekäre Subjekt: Schauplatz diverser Machtstrategien Nun habe ich mich bei den Beispielen zu den Effekten nekropolitischer Tendenzen maßgeblich auf materielle Phänomene bezogen. Wirkung zeigen nekropolitische Ansätze aber auch und gerade auf einer immateriellen Ebene, was meines Erachtens damit zu tun hat, dass im Hinblick auf die Prekarisierung des Subjekts und die Neoliberalisierung des Lebens auch die Psychopolitik mit ins Spiel kommt. Blicken wir wieder nach Griechenland, so ist zu bemerken, dass wir nicht nur Zeugen einer materiellen Enteignung von Einkommen, der Zerstörung sozialer Infrastruktur und allgemein der Verknappung von Lebensressourcen geworden sind. Vielmehr wurden wir auch Zeugen einer öffentlichen Beschuldigung und Erniedrigung der griechischen Bevölkerung. Zumindest wurde in Deutschland ein politischer wie medialer Diskurs angestimmt, durch den die Bevölkerung Griechenlands mit dem erhobenen Zeigefinger des Lehrmeisters als ›Schmuddelkind‹ Europas getadelt wurde. Zudem wurde vermittelt, dass diejenigen, die ›ihre Hausaufgaben‹ nicht machen oder gemacht haben, durch die Maßnahmen der Austeritätspolitik bestraft und als Empfänger von Rettungsgeldern zur Demut verpflichtet wurden. Unabhängig von der Tatsache, dass hier, wie David Harvey bemerkt, kulturalistische bis rassistische Stereotype aufgerufen wurden (vgl. Harvey 2010) – die Griechen seien qua Kultur eben faul, kultivierten den ›Schlendrian‹ und nähmen es mit Regeln nicht so genau – geht es mir hier darum, das psycho-logische und damit psychopolitische Moment herauszustellen. Dies bedeutet, dass unter dem Vorzeichen des Neoliberalismus und seiner Anrufung zum unternehmerischen Selbst Prekarisierung auch bedeutet ‒ auf der immateriellen, aber deshalb nicht weniger realen Ebene der Psyche ‒ einer Politik der Erniedrigung, der Beschämung und der Beschuldigung ausgesetzt zu werden und hier Verwundungen zugefügt zu bekommen. Die nekropolitische, zerstörerische, verletzende Logik bezieht sich an dieser Stelle auf den Modus der Psyche und bewegt sich auf dem Feld des Leidens, das sie eröffnet. In diesem Sinne verbinden sich nekropolitische mit psychopolitischen Strategien.
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Was man in Griechenland im Prozess der Prekarisierung für ein ganzes Volk durchexerziert hat, ist vom Kern her auch das, was das prekäre Subjekt als Individuum erfährt: Eine materielle Enteignung und Verknappung von Ressourcen wird kombiniert mit Praktiken der Verwundung und Verletzung, die auf das psychische Sein – auch und vor allem des unternehmerischen Selbst – abzielen und den Status als gleichberechtigtes und wertvolles Individuum in einer Gesellschaft infrage stellen. Erniedrigung, Beschämung und Beschuldigung sind hierbei sicherlich nur ein Ausschnitt an Praktiken, mit denen eine materielle Zerstörungspolitik gepaart werden kann. Prekarität bedeutet somit, von gesellschaftlichen Ressourcen ausgeschlossen zu sein und in Zonen der Gesellschaft leben zu müssen, in denen die Grundlagen des Lebens permanent bedroht sind. Es bedeutet darüber hinaus, zugleich mit Prozessen der Zerstörung konfrontiert zu sein, die unsichtbar sind, weil sie das Individuum in seiner psychischen Verfasstheit (be)treffen und seinen ontologischen Subjektstatus zur Disposition stellen. Hier realisiert sich, dass wir aufgrund unserer Psyche verletzbar geworden sind und sich Formen der Unterwerfung in zerstörerischer Absicht genau auf diese Möglichkeit des Verletzens beziehen. In diesem Sinne ist das prekäre Subjekt tatsächlich nicht nur ein Schauplatz der neoliberalen Regierungsweise, sondern auch ein Ort, an dem sich nekropolitische und psychopolitische Strategien in verschlungener Weise ans Werk setzen: arm, aber selbst schuld sein; über keine Lohnarbeit zu verfügen und deshalb als gesellschaftlich wertlos zu gelten; krank sein und sich ungebildet, gar dumm zu fühlen – dies sind Beispiele für den Effekt im Individuum, der durch eine Verknüpfung nekropolitischer und psychopolitischer Macht im Kontext neoliberaler Regierung als Erfahrung entsteht. Wie diese Erfahrung schließlich im Konkreten gelebt wird, ob sie eine individualisierte Erfahrung bleibt oder ob ihr Potenzial, sich zu erheben, geltend gemacht wird und werden kann, steht dann wieder auf einem anderen Blatt. Zunächst ist zu erkennen, dass sich im prekären Subjekt unterschiedliche und mehrere Machtpolitiken artikulieren.
Schluss Um zu verstehen, was prekäres Leben bedeutet und welche Art von Subjektivierung sich mit dem prekären Subjekt verbindet, ist eine Analyse der neoliberalen Regierungsweise unumgänglich, aber nicht erschöpfend. Vielmehr bedarf es auch der Schärfung des Blickes für nekropolitische Tendenzen und für psychopolitische Wirkungen und einer Untersuchung ihres Verhältnisses zueinander. Die Frage danach, welche Richtung die Erfahrung des prekären Subjekts gehen wird, lässt sich dabei weder eindeutig bestimmen noch vorhersagen. Markieren lässt sich nur, dass an einem Pol der möglichen Entwicklung der Tod und der Suizid stehen – als Aussage und Demonstration dessen, die Situation nicht mehr aushalten zu können
Das prekäre Subjekt: Mehr als ein Schauplatz neoliberaler Macht?
oder zu wollen. Dies ist ein Nein zu den Verhältnissen, das letztlich die nekropolitische Logik verlängert.4 Am anderen Pol hingegen ist die Erhebung des Subjekts verortet. Hier steht der Protest des Subjekts, das sich empört und sein Recht auf (gutes) Leben einklagt. Dass beides möglich ist, zeigen auch die Entwicklungen in Griechenland. Auf der einen Seite ist die Zahl der Suizide seit der Finanzkrise deutlich gestiegen.5 Auf der anderen Seite haben sich zahlreiche kollektive Protestformen herausgebildet, die auf Solidarität und Selbstorganisation zielen – zu nennen sind hier die Sozialkliniken, die Sozialküchen oder die sogenannte ›Kartoffel-Bewegung‹, bei der Agrarprodukte ohne Zwischenhändler direkt an die Konsumenten verkauft werden (vgl. Solidarity4all 2013). Welcher der beiden Wege eingeschlagen wird, hängt letzten Endes von mehreren Faktoren ab: Erstens wird entscheidend sein, ob es gelingt, geeignete Formen und Praktiken zu schaffen, mit denen die individualisierte Erfahrung ein prekäres Subjekt zu sein, kollektiviert wird. Dies würde implizieren, ein kollektives Bewusstsein darüber zu entwickeln, dass Prekarität weder ein Einzelschicksal noch selbstverschuldet ist, sondern diese als strukturell bedingt und als Effekt von Unterwerfungspraktiken zu betrachten. Zweitens denke ich, dass es angesichts der Psychopolitik und ihrer Wirkmächtigkeit in der Gegenwartsgesellschaft mehr als jemals zuvor wichtig ist, die Produktion und Zirkulation von Affekten in den Blick zu nehmen. Dies scheint mir ein vergleichsweise vielversprechendes und gleichwohl noch viel zu wenig beforschtes Terrain zu sein. Es müsste entsprechend darum gehen, nicht nur Formen neuen Leidens und der psychischen Zerstörung herauszuarbeiten, sondern auch Ansätze der Empörung zu finden und freizulegen. Damit verknüpft wird die Entwicklung drittens auch davon abhängen, ob es gelingt, die unterschiedlichen Machtpolitiken von neoliberaler Regierungsweise, Psychopolitik und von nekropolitischen Tendenzen in Widerstreit zueinander zu bringen. Der Wunsch nach psychischer Unversehrtheit oder die Verletzung der Würde etwa können der Möglichkeit nach zum Anlass und Ausgangspunkt werden, um sich dem Diktat des Neoliberalismus und nekropolitischen Angriffen zu widersetzen. Schließlich könnte und müsste der Versuch, einen Widerstreit zwischen den unterschiedlichen Formen der Macht zu bewirken, den Raum dafür öffnen, die Frage nach einem besseren Leben überhaupt neu verhandelbar zu machen: There is an alternative. 4 5
Obgleich der Suizid auch als individueller Widerstand im Sinne einer Totalverweigerung verstanden werden kann. Wie im Übrigen in ganz Europa (vgl. Carvajal/Povoledo 2012).
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In the spring of 2013 during a popular TV show, Servizio Pubblico (Public Service), philosopher and former Mayor of Venice Massimo Cacciari stated that the gap between the Italian people and its political representatives resembles that of the last days of the Weimar Republic. You may say that the discredit that invests the Italian political system is a rather exceptional example, but the blatant case of the 2013 U.S. government shutdown clearly shows the contrary. A similar judgment can be made for other institutions such as the family, or the school – or education on all levels – and one may add to that the implications of the scandal of the NSA with its infringements of fundamental democratic rights. It is the very notion of institution that seems to be under attack for its unprecedented loss of credibility, authority and thus legitimacy. Psychoanalyst Massimo Recalcati argues that today, »all institutions find themselves in a tight spot as they try to preserve their role as a third party«, for the problem lies in the idea that »acting in the interest of the collectivity is perceived as an abuse of power against individual freedom« (Recalcati 2013a: 64). What’s at stake is, therefore, something more fundamental than the sorry spectacle of inanity, corruption, double standards and ultimately cruelty that normal state apparatuses show on a daily basis. The very framework of political representation seems to be facing a deadlock. Italy illustrates precisely the acute phase of this crisis, for in its radical idiosyncratic form it represents one of the most advanced experiences of the complete loss of the so-called »dignity of classical politics«, that supposedly »stems from its elevation above the play of particular interests in civil society« (Žižek 2009a). I would like to make the argument that the most interesting core of the latest political thought generated in Italy works towards formulating and coping with what I call the dimension of the exteriority of the law, that is to say, the ways in which the structure of politics, intended as a mediating institution that acts upon a specific field, has assumed an obverse character, as if it were turned inside out. 1
Unless otherwise specified all translations from English are mine.
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The old limits that defined the concept of politics as the management of the res publica have become porous. As Sandro Mezzadra and Bret Neilson argue, »symbolic, linguistic, cultural, and urban boundaries are no longer articulated in fixed ways by the geopolitical order« (Mezzadra/Neilson 2013: vii). Thus a new distribution of space foregrounds a different topology in which power exerts its office in the face of the waning of traditional sovereignty. Far from being a liberating event, this defining trait of the elemental architecture of our society represents for philosophers and theorists a point of entry into the dynamics of power as well as a springboard for its critique. In this paper, I will examine two options that are representative of how Italian intellectuals – who broadly identify themselves with the left – are reacting to this transformation. The first is the nominalist position of Recalcati himself, the second the feminist critique of both the remnants of patriarchy and its developments. The aim is not only offering a glance of the latest turn of Italian cultural history, but rather to begin a conversation on how this new semantic and political spatiality may produce liberating effects once its mechanisms of power are defused. Before we enter this discussion, however, I shall briefly address the factor that sparked this transformation, what Italian post-workerist thought defined as immaterial labour. The dominant tendency of our economic system is based on a type of production that invests in the general capacities of labour power (cognitive, linguistic, emotional but also physical) and ignores traditional demarcations between labour and non-labour time, labour and non-labour places, as well as consumption and production; because this mode of production is not aimed exclusively at the manufacturing and commerce of material goods, but rather at fabricating social relationships. The info-sphere of the social media is the most advanced production of what post-workerists called, using Marx’s term, »the general intellect«, or mass intellectuality (cf. Lazzarato 1997: 41f.). In putting life itself to work, or in making profitable, the life of citizens as producers and consumers, post-industrial economy’s hidden goal is producing and controlling subjectivity from within. What happens to social psyche under this type of control society? To respond one may look at the prestigious annual study on social conditions in Italy carried out by the Censis Institute. In its 2010 Report, Censis concluded that the crisis in the country was both economic and social and that, in the midst of a global recession, society also displayed unmistakable signs of a terminal moral decline. Italians appeared to be ruled by a contradictory and lawless push towards libidinal impulses and a simultaneous fall of desire. These were rather unusual categories for a socioeconomic report, and in the debate that followed the leading investigator of the team, Giuseppe de Rita, recognized the debt he owed to the work of psychoanalyst Massimo Recalcati (cf. de Rita 2010).
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Crisis and the Revival of the Law of the Laws Since the publication of his popular book L’uomo senza inconscio (Men Without an Unconscious), Recalcati became the main populariser in Italy of a key assumption in psychoanalytical theory: the idea that the decline of desire paralleled by the rise of the libidinal is a consequence of the predicament of the Law of the Father (cf. Recalcati 2010). This claim goes much further than the usual lamentation on the disintegration of traditional family values. It is the function of castration that seems to be impaired, for the latter is the structural device that enables the deployment and unfolding of desire. Castration does not simply intervene as a prohibition to fully enjoy the libidinal dimension that supposedly informs the pre-symbolic stage, but rather castration displays a more contradictory situation, one that Žižek called an »economic paradox«. »The subject«, he argues, »is made to renounce enjoyment not for another, higher cause but simply in order to gain access to [desire]« (Žižek 2005: 97). The solution that the Slovenian philosopher proposes is that the phallus, that is to say the symbol of castration, is what »signifie[s] enjoyment as well as its loss. In this way, it becomes possible that the very agency which entices us to search for enjoyment induces us to renounce it« (Žižek 2005: 97). Hence, castration constructs that infinite game of reflection in which desire is constituted as a perennial movement that cannot be fulfilled as vacuity is the very support for that search. Castration is obviously a linguistic device, for language is precisely a system that intervenes to separate the subject from an inescapable enmeshment with reality. Similarly, language is an expressive tool that enables us to communicate internal or external matter precisely insofar as it interrupts that continuity. Language castrates the subject by providing a structure of expression that is vacuous, because it is different from that thing that it represents. In other words, language is unsubstantial because its referent is not what grounds its meaning. Notice how this structure constitutes exactly the logic of desire – what Lacan called the petit objet a. The thing we long for enables the process of longing precisely insofar as we do not capture and exhaust it. Language is a means without ends. But in this we also find the anthropogenetic role of language: language is that extraneous body that enables humans to become human, it is the non-human support that enables humanization. In his recent work, Recalcati argues that a mutation which has occurred at the level of castration has radically changed our societies. We have now entered a postoedipal phase. These are the historical steps that according to Recalcati lead to our present state in Italy. During fascism, Italian society was informed by a distinctive pre-oedipal structure as power was in the hands of the »hypnotic and charismatic figure of the Duce« (Recalcati 2010). The society born out of industrial transformation of the 1960s, the so-called first republic, reaches instead the mature oedipal stage, for people like Christian Democrat leader Alcide De Gasperi and Communist
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leader Enrico Berlinguer »bear witness to the exemplary subordination of personal interest to collective ones« (Recalcati 2010). This order has now disintegrated giving rise to a hypermodern society that is perfectly »embodied by Berlusconi who individuates in unlimited enjoyment the only possible form of the law« (Recalcati 2010). Only by setting aside this dubious periodization – and the reader should be aware that it is rather difficult to maintain that fascist Italy illustrated a pre-oedipal stage – may we conclude that the dominant tendency today is that of a modern form of nihilism: that is to say, a predominantly dissipative life form defined by a »narcissistic closed-mindedness and cynical self-preservation« (Recalcati 2010).2 The injunction to enjoy, to participate in the radical mission of fashioning oneself through processes of self-realization that inflexibly conforms to styles or the hype of the moment, surpasses the castrating oedipal function of language in appearance only. But this predisposition displays a very anti-metaphysical quality as well. According to Recalcati, contemporary consumer society does not promise the satisfaction of one’s desire in the possession of the object itself, but openly admits that this is impossible to attain, thus confirming the open-ended nature of the process. As Recalcati maintains: what consumerist ideology obscures »is that what is impossible to attain does not depend on the quality of the object, but on the laws of language that irreversibly forbid the possibility of recovering the absolute Thing of enjoyment« (Recalcati 2011: 43). Hence the constant re-launching of the gesture of consumption in which the subject is cynically aware of its vanity. Consumer society posits itself as a bad critique of the previous patriarchal order. The latter was based on identity, on a vertical notion of power, on exclusion but also on interdiction and deferral of pleasure. It is in this domain that we make the primary experience of a limit. And insofar as the (male) subject accepts to postpone enjoyment with the promise to enjoy later, when he would finally be a father, we also intuit that, at least for a brief moment, human life cannot master itself and that dependency is its true life form. In traditional patriarchal society this is hardly a constitutive-definitive dimension, for the new centered and substantial role that the subject would eventually take up simply eliminates that original experience. Undoubtedly, this experience of limit is merely a temporary, partial one. What is consumerism then? Consumerism represents a modern cynical approach that both announces the truth of a de-essentialised subject and strips away the previous (partial) experience of limit. Consumerism proclaims the inconsistent nature of processes of subjectivation, while simultaneously mystifying it through the open-ended drive to consume. It displaces, so to speak, the lack of foundations outside the subjective onto the realm of the things. Commodities become the 2
The vertical nature of the fascist law built on an exclusionary principle, in other words all that was not Italian (nationalist, heroic, patriarchal et cetera), poses serious problems in Recalcati’s argument.
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field where the self finds infinite incarnations. It therefore critiques a static and limited notion of the subject by endlessly revamping its activity in order to sustain itself. After all, were not these the slogans of the last two decades: be yourself, just do it, fashion yourself? The term ›yourself‹ does not represent a fixed identity, but the multiform selves that we can take up through new lifestyles. Consumerism functions as a pseudo-liberating device, because it seems to offer a site for self-affirmation and self-production while corralling subjectivities through and through in a kind of unaware but willing compulsion to participate. We can say that the stable and repressive form of subjectivity, one ruled by the Law of the Father built on negations, has now vaporized under a new order based on affirmation. There is a disquieted overturning of a positive into its contrary. However, one shouldn’t believe that this regressive revolution is simply a perverse result that capitalism has devised by itself. The predicament of the patriarchal order with its burdens of oppression is also a result of decades of struggle. Consumer society, as we have described it, is simply the way capital has reorganized these struggles to its own profit. The other crucial consequence of this transformation is deeply political. The critique of the Law of the Father now invests the very essence of the concept of institution, precisely because what is targeted is the humanizing mission of castration: its capacity to posit limits, to ground the representative function that institutions traditionally have. Recalcati argues that the discredit that has fallen on politics is due to the fact that the Law of the Father, what he calls the Law of all Laws, is fatally wounded (cf. Recalcati 2013a: 30). The private »will of affirmation of the individual« (Recalcati 2013a: 66) has now supplanted the mediating function of the paternal. Transmission of value is at risk. The solution that he offers is one that salvages the Law of the Father through the notion of inheritance. This is not the inheritance of material wealth, neither through the recovery of traditional (and by now outdated) version of the Father, nor through the claim of the importance of our specific empiric fathers. This inheritance welcomes instead »the singular version of the Law in the time of the dissolution of all its transcendental values, as the reduction of the Law to the ethical dimension of responsibility« (Recalcati 2011: 20). By bearing witness to this condition, the father should work as a synecdoche, not by setting the example, not by being the incarnation of the moral good, but by revealing the architectonic dimension that the Symbolic Law establishes, specifically in the realm of desire. Desire is not the search for transcendence among mundane objects, but rather the never-ending movement that preserves ourselves as subjects traversed by language. Now that »his theological and ideological function has evaporated«, the Father should give proof of an ethical gesture that illustrates »his responsibility to his own desire«. In other words, the father should abstain from »the absolute enjoyment of the Thing« and transmit this posturing to his progeny – which for Recalcati here means male progeny – as he explains in the figure of
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the son of Ulysses: Telemachus (cf. Recalcati 2011: 55). Accordingly, we are entering a new phase, indeed a positive one which »is neither under the sign of Oedipus, anti-Oedipus and Narcissus, but under that of Telemachus […] who demands that the Law be reestablished« (Recalcati 2013a: 112). As for labor, this means reviving work »not as a source of alienation, but as the possibility for the realization of life« (Recalcati 2013a: 54), emancipation through work is thus the high road to escape social and economic decline. Politically, this sudden and unexplained socio-psychic exigency finds a solution in the forty year old former mayor of Florence, Matteo Renzi, who at the time of writing was the new Italian Premier. I will not discuss the validity of this dubious identification here. There are deeper questions at stake. For however refined and insightful it may be, Recalcati’s analysis seems to miss a number of crucial points. First of all, the kernel of his argument rests on the problem of the obscene enjoyment of the Law and the latter is connected to the issue of enjoyment of the Thing: this is a phantom that has long haunted psychoanalysis. The Maternal Thing is still the most terrifying, because it represents the indistinct dimension that prevents the formation of the subject and gives rise to several psychological pathologies. The usual disavowal of the complexities – also at a psychological level – of the feminine work of reproduction must be noted here. Despite decades of feminist militancy, this is still something blatantly insignificant to Italian (male) philosophy. Once the material ground for these dynamics is forgotten the demon of analogy has the upper hand. As is the case with the lack of boundaries between the subject and the Thing, the libidinal lure that the Law, now available to all subjects qua consumerism, puts forward is one that dangerously values a hedonistic plunging into the amorphous and excess. Moderation and deferral are thus intuitive correctives and, in this sense, it is not surprising that Recalcati fancies the return to a previous, idealized form of labor, one that favours frugality and a constructive work ethic. But this return to a Fordist paradigm disregards the structural conditions of exploitation that existed under Fordism, while it simultaneously idealizes the abstract conjunction of selfrealization and communal profit. Recalcati seems to ignore the present biopolitical control over labour where processes of self-affirmation are a long way from producing any ennoblement or emancipation.
Yet Another Father (but a weak one) Preaching abstinence and parsimony against the greed and the lure of easy-money reflects the common reproach that one continuously heard during the 2008 financial crisis. This discourse pitted the evils of financial capitalism (rapacious, selfdestructive) against the goods of traditional industrial economy (constructive and ultimately redistributive). Unfortunately, we should be wary by now of how the ne-
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oliberal process of accumulation thrives precisely on crisis. The financial direction that our economies have taken is not an accident provoked by a handful of greedy people; it is instead »pervasive« as it »spreads across the entire economic cycle, coexisting with it, so to speak, from start to finish […] This means that we are in a historical period in which finance is cosubstantial with the very production of goods and services« (Marazzi 2011: 27f.). The reasons for these transformations must be sought in the current ways of extracting profit and in the productive function that consumers exercise: think of how the use of credit cards or pension funds feed into a systemic cycle of creation and expropriation of value, or how the even less tangible notion of a digital footprint becomes a decisive economic factor for advertising and business. Recently, with mortgages and now with the student loan bubble, the counterintuitive idea that debt produces profit has indeed become incontestable. Needless to say, the profits of these operations are never reinvested in traditional material production or in the creation of employment. As we mentioned, it is the biopolitical dimension of labour that has radically changed our life offering the possibility for »the extraction of surplus value, of unpaid labour, [which] is done by capturing devices outside of the direct productive processes by using an organizational business model that draws from the productive, creative and innovative qualities of the workforce developed in extra-professional environment« (Marazzi 2011: 114). Missing the depth of this economic transformation, Recalcati senses and, at best, explains the symptom. However, the grand narrative that wants to refund the patrilineal dream that he offers is defective to say the least. He succumbs to a mournful incantation of the past, and to the security offered by a traditional form of order, economic and – even if he is careful in distancing himself from it – symbolic. Hence, he attempts to exhume it by transforming it via a more critical notion of the (male) subject. But even in this scenario things are not without problems. From a political point of view, this option still plays on the old mechanisms of authority and legitimation and as such it would be indistinguishable from a moralist position. For instance, it is plausible to affirm that this posture would still raise the suspicion that, behind the calls to defer enjoyment lies a very clear interest in a private return. After all, isn’t this the true core of any austerity claim: sacrifices are necessary, but a few lucky ones will profit? From the point of view of subject formation, moreover, one also perceives a whiff of a-critical or non-dialectical form of historicism in his analysis. For if on one side historicizing foundational structures such as the symbolic is commendable, on the other, one should not fall prey to the false reflex produced by the belief that we are at the end of history. When Recalcati describes the post-oedipal time, he tends to present this situation as an ultimate fact, one in which any precedent symbolic formation is in point of fact vanished. The notion that our society shows a distinct tendency to organize itself around a post-oedipal principle does not imply the complete liquidation of other oedipal structures – nor,
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for that matter, that of other dynamics which are neither oedipal nor post-oedipal. This linear, unidirectional understanding of change is teleological and forgets that there is a co-presence of different functions, and that capitalism works precisely because it establishes pockets of exception and differences. Archaic procedures are reactivated precisely because of the financial composition of capital. A direct and crueler form of dispossession and extraction of value that many have associated with modalities typical of capital’s early phase – that of primitive accumulation – is in fact enforced today, making the contemporary labourer look like a pre-industrial figure. Despite the usage of the latest technological tools, cognitive workers are devoid of rights carrying out labour that is for the most part unremunerated much like the daily labourers in the eighteenth century. Furthermore, this organization of labour is not dissimilar to that of modern geopolitical space itself; a space that emphasizes the multiplication of heterogeneity, of non-synchronous temporalities and of »the elasticity of the territory«, rather than the clear-cut distinction between the past and the future, the »inside and outside« (Mezzadra/Neilson 2013: 8). The other problematic assumption in Recalcati’s analysis regards the topology of political power, particularly the point in which power meets the symbolic. It has to do with a type of critically ameliorated figure of the Father, who is somehow endowed with the same aura of authority but lacks repressive prerogatives. Built around an idea of deferral of enjoyment, of desire without greed, of respect and obedience to the law, this weak version of Father looks like a pale imitation of its predecessor.3 The weak Father still produces order but does not lay claim to power. Having climbed down from his throne, this Father is now like anybody else. Thanks to his ethical gestures of responsibility he engenders a more fluid, dispersed system of control that is benevolently incarnated by Renzi, whose »charisma seems to free itself from the vertical force of the father to assume a more horizontal dimension« (Recalcati 2013b). But this benign, un-coercive version is an after-effect of the drastic transformation that changed contemporary sovereignty rather than its possible solution. As Ida Dominijanni remarks, »the transformation of the classic paradigm of sovereignty into that of biopolitical governmentality takes place […] through the collapse of the normative role of the law and a merely tactical use of it« (Dominijanni 2013), where figures of power descend among the masses, talk and behave as average persons, democratically incarnating a »populist«, decentralized form of power. The analogy with what is happening at a global level to the national state could not be more striking. Also there a crisis of sovereignty implies, first, a liquefying of boundaries: As we have already noted, it is impossible to distinguish between the inside of the state – where industrial democracies used to rule as benevolent but 3
This is a phrase that Ida Dominijanni coined during one of our conversations and that I have chosen to adopt.
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distant fathers did over their family – and that of larger transnational economic forces – where impersonal drives internally dictate the movement of profit and exploitation. Former clear-cut demarcations are now permeable, and this implies a more organic and dispersive control of the people as these abstract economic dynamics sink down at a molecular level in any ambit of society. And it should be noted that the global proliferation of the business of building walls to protect the territory can be explained precisely in these terms. According to Wendy Brown, walls perform a theatrical function that as they flaunt security they are usually ineffective in this task (cf. Brown 2014: 97f.). But this mutation of the forms of power should cast light precisely on the implication and not the opposition between the state, the good fatherly figure, and the market, the unregulated obscene source of our crisis and of the commerce of cheap labour. In different guises, and to varying effect, profitability keeps on pressing and molding – as it has always done – the direction and potential of the labour of oppressed groups. If the splendour of the days of De Gasperi, Berlinguer and past industrial abundance cannot be restored, then perhaps we can conjure up a postmodern image of it. In this, Recalcati evokes (albeit in a more sophisticated form) the typical reaction to the crisis of Italian society that the 2010 Censis rapport simply made official. It is a response informed by the ideology of so-called neoliberalism with a human face, which is embodied in Italy by the heterogeneous political landscape that reacted in outrage to Berlusconi’s system of power. It is not immune to relapses into moralism, as it proved during the many sex scandals that constellated Berlusconi’s rule. The public scorn raised against those women who engaged in dubious relationships with the Premier blatantly misses the point: those modern immaterial labourers simply »assert[ed] their freedom to decide for themselves and to use their body as a source of profit, as a human capital that can be put to work and valorized« (Dominijanni 2013). This front still hopes and indeed promises a return to the benefits of a long gone Fordism, contrasting the hyper-hedonism endorsed by Berlusconi by praising virtue, the importance of hard work and moderation. This position fails to see the liquefying of the boundaries that constitute our present social and political reality. It fails to see how value is produced outside the customary productive dimension and thus how the biopolitical control is part of the inner movement of our mode of being. If in fact one raises the crucial issue of who designates those boundaries, of what criteria may be selected to enforce it, in what directions those limits will be set and for whose benefits, usually the fable of good, alternative democratic government crumbles. When put to the test, it amounts to nothing more than a masquerade, and a very ineffective one if one is to judge from the otherwise inexplicable political fortune that Berlusconi enjoyed for more than two decades. Furthermore, Recalcati’s position is not particularly new in the history of Italian thought. The notion of the weak Father offers a concrete example without making
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transcendental claims. As a concrete example of a law that, as such, does not exist (in short a concrete without an universal), this is a form of nominalism that is, in point of fact, reminiscent of the solution Benedetto Croce devised when facing a similar crisis of the turn of the twentieth century. In his case, it was aesthetics that suffered a comparable fall of referents and hierarchies, posing serious questions as to the definition of what art is. Croce’s notion of pure intuition interpreted art as the expression of the instinctive apprehension of a spiritual or lyrical essence (cf. Croce 1922). Similarly, Recalcati argues that the task of the father is not representing the Law in general, but bearing witness to »the Word of the Law« (Recalcati 2013a: 34). The Father’s word incarnates the concretion of the vanished universal. As such, it is the »act that introduces the impossibility«, representing »a singular testimony that bears upon itself the sense of the limit« (Recalcati 2013a: 34). The ethical gesture is a clear example of the limit, of boundaries and interdictions that constitute the condition of possibility for society. This word manifests the larger architecture of the Law of the Father not as a positive content, but as the testimony of impossibility. As the continuous and qualified logical space of the symbolic order has waned, nominalism attempts to resolve the contemporary crisis of the subject through a concrete example that makes up for the loss of unity in the field. In this sense, the weak Father also illustrates one way to respond to the insights on sexuation that Lacan explored in Seminar XX. Shifting from a cohesive symbolic field – constituted by a foundational opposition to the Other – to an inconsistent one defined by the absence of »the other of the other« (Lacan 1998: 81), here Lacan presents the alternative argument of the not-all, the feminine logic of sexuation. Significantly, Recalcati’s disavowal of the feminine work of reproduction is reflected here also at the symbolic level. In the figure of the weak Father there is no trace of the discussion carried out by feminist philosophers who articulated a different topology, one based on an alternative epistemology and discourse of authority. This new feminine spatiality behaves like a graph; in it, singularity is organized through the dual metonymic principles of the feminine sex (the labia). Its key maternal traits are materiality, contiguity and contingency as the immanent concretion of a field that is infinite but not transcendent. These characteristics are not completely foreign to the aforementioned redefinition of the paternal. And yet, one keeps wondering why in raising the stakes of contemporary subjectivity, Recalcati’s critique of substance must still double-down on the Law of the Father. This order is intrinsically constructed on a specific exclusionary principle. Its legitimacy comes from the interdiction of the maternal, as the latter represents the great unacknowledged truth – that which phallocentrism unfailingly de-valorises or expropriates (so that via this exclusionary inclusion the maternal is also what funds the system). A feminist viewpoint is essential, and although such conceptualizations are not immune to mechanisms of capture enacted by the neoliberal regime, they represent a nec-
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essary starting point for they avoid nominalism as well as the static representation of limit as impossibility (cf. Righi 2013; Diotima 2007).
Debt and Feminine Difference I believe it is crucial to bring together the connections between the post-oedipal and the economy of crisis that neoliberalism imposes on the modern subject. It is precisely what goes amiss in Recalcati and it is probably one of the reasons for his melancholic attachment to the Law of the Father. Our effort here is to think how a field that is turned inside-out both geographically, socially and symbolically, is controlled by power. The anomic dimension of our society announces a truth, a kind of philosophical anti-metaphysical truth that we should take seriously: the inconsistent and incommensurable nature of the field. Let me clarify what I mean by this by using a short text by Walter Benjamin titled Die Unendliche Aufgabe (The Infinite Task) in which he frames the problem of incommensurability from the point of view of knowledge. As he writes, »the unity of science consists in the fact that its domain is more potent than that of all the number of, finite to infinite, questions it can provoke« (cf. Benjamin 1985: 51). This is because life may not be represented from an external vantage point as it is not a consistent, homogeneous multiplicity: it is not one. Benjamin glosses: »one cannot catch also the form of its question from the outside… it is autonomous. Science is nothing but an infinite task« (Benjamin 1985: 51f.). The infinite progression of knowledge is not simply asymptotic: the fissure of the infinite ubiquitously permeates its fabric. Hence, the absolute immanence of the plane of life as an ever-expanding interconnected whole that is, however, incomplete to the extent that it is groundless, that knows no form of dis-inherence while it is in perennial excess of itself. This topology must be controlled. We argued that our society of enjoyment does so through imperatives of self-realization to which Recalcati’s call to moderation can do little. Particularly with the series of financial crises that exploded in the last decade, we see at work a new kind of device that upgrades the classic biopolitical type of control I discussed at the beginning of this paper. In the latter, Giorgio Agamben argues that capitalism targets not so much what one »can do« but rather what one »cannot do« (Agamben 2011: 44). Hence, »separated from his impotentiality«, Agamben remarks, »deprived of the experience of what he can not do, today’s man believes himself capable of everything, and so he repeats his jovial ›no problem‹ and irresponsible ›I can do it‹« (Agamben 2011: 44). But the social imperative that commands self-affirmation actually creates anxiety – a relentless condition for the subject – for it orders a satisfaction that is structurally unachievable precisely because it is built on excess. Therein we encounter the other side of this unanswerable call for self-realization, that is to say a specular mechanism
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of infinite movement: it is the liability that exceeds the confines of individual life of contemporary economic crisis. It is what Lazzarato calls the economy of debt, which further implements this form of self-imprisonment: »Debt creation, that is, the creation and development of the power relation between creditors and debtors, has been conceived and programmed as the strategic heart of neoliberal politics« (Lazzarato 2012: 27). It produces enormous profits for the top and leaves to the rest the grim reality of never-ending work. What is at stake here is the moral dimension of the modern subject – the pressure that personal accountability exerts on anyone who is in debt – that the kind of »work on the self« that the debtor must carry out even before he enters his working life (Lazzarato 2012: 33). The most obvious example here is that a common Greek teenager today – likewise one who is Italian, Spanish, Portuguese, et cetera – will be burdened by financial obligations he was never responsible for. Similarly, the average American student who takes consistent loans to pay for his education is already caught in mechanisms of extraction of value – that of financial rent – that will become only more constraining when they are employed and thus subjected to the law of surplus value. All this occurs as he makes investments in forging the human capital that will be. All this occurs as he invests emotionally and creatively in this act of self-fashioning that follows the hedonist principle of realizing one’s innermost dreams and personality. »Debt as an economic relationship […] has the peculiarity of demanding ethicopolitical labour that is constitutive of the subject« (Lazzarato 2012: 42). Here guilt becomes a major force in influencing how people behave and think, both consciously and unconsciously. And so we are brought back to the issue of topology. As mentioned previously, a society organized around the imperative to enjoy tends to produce the proliferation of bad conscience. For once, God, the principle of cohesiveness of the field, has vanished and the Law of the Laws has declined that what emerges is not a new life in which prohibitions simply disappear. What emerges is precisely »the obscene superego injunction« that tells the subject »not only what to do, but what to want to do«, thus depriving the latter of any »inner freedom« and producing a sense of guilt that cannot be expiated as it accompanies his or her actions as an impalpable but indestructible aftereffect (Žižek 2009b). Hence, as Copjec argues, we encounter the »expansion of capitalism and the prevalence of the structure of guilt supporting it, which has made the all-but-extinct affect of shame seem primitive« (Copjec 2006: 24). The molecular dimension of shame, which is instead very modern, that invests everyday life is thus elevated to a geopolitical form of control over entire nations. This is why I think we need to turn to sexual difference, not only as a theory but also as a political practice that refuses any homogenization typical of consumer culture, but also of gender equality and inclusionary politics enacted by liberal democracies. These are Luisa Muraro’s considerations regarding gendered thought:
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I don’t mean that women in and of themselves are without God or love, just to quote two substitutions that appear to mark feminine existence. I only mean that we know very little about the manner in which God or love would provide a woman with the point of view of origins, even granting that they would, instead of perhaps providing her with a masculine point of view, while we know a lot, an enormous amount in fact, of the manner in which they provide it to men. (Muraro 2006: 53) God, as we know from official religion, is that element that ensures the coherence of a closed order, but as such it cannot offer insights into the feminine nor, due to its eclipse, into the masculine post-oedipal condition. It is about time we worked out the loss of this past order whose consequence has been, among other things, the association of »the mournful shadow cast over politics (and its removal from political discourse) with the ›masculine installation of sexual difference‹ within the mechanisms of power and their transmission from father to son, with all the cruel and sacrificial conflicts that follow from this« (Dominijanni 2006: 93). For the notion of sexual difference is not a monopoly of feminist theory only. It is – I would argue – advocated by the moderates in opposition to hedonism in a very domesticated form. It is something that Italian society takes for granted, only to reject it when proposed in a militant fashion by feminists on the account that we live in a democracy where we are all equal. Clothed as a difference in sensibility, but rooted in clear material disparities (lower pay and the overwhelming majority, if not all, of the quota of domestic labour women still perform) at the legal level this difference is magically erased by the state discourse that nominally enforces equality for all its citizens. But as Wendy Brown has argued in the case of the United States, what truly happens in the private sphere, that is to say what happens in the realm of reproduction is key to what she calls »the ruse of the discourse about secularism« (Brown 2009). Western societies show a tendency to proclaim »a commitment to egalitarianism« and »gender equality« at a formal level, while insofar as they protect the family as the space of moral values, authentic life and so on they subterraneously promote »gender inequality understood as sexual difference« (Brown 2009). In this sense, secular modernity is not only complicit but rather it secretly activates and secures the mechanism that propagates discrimination and exclusion. There is, however, another way of approaching difference, one that actually promotes individual freedom precisely in light of the inconsistency of the field while still ensuring some stability. I believe it is the notion of the maternal symbolic: a thought on origins (what is God as a principle of order if not a logical point of origin) that is conceived of as an engendering and open structure that constitutes the subject as something that is continuously external to itself, and that may perhaps counter the moral blackmail of the economy of debt. Feminism has long tackled the problem of engaging with the symbolic debt to the mother, the interdicted origin
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of life that patriarchy has obscured in various forms. It is a key point in the theory of the maternal symbolic as it is elaborated by Luisa Muraro. The solution is to acknowledge once and for all the substantial role played by the mother in symbolic terms. In other words, it is crucial to recognize what Muraro calls the »symbolic predisposition« of the mother, which implies […] the fact that the biological mother can be substituted by other figures without her relation with the child losing its fundamental characteristics. One could discern the irrelevance of the natural element and the exclusive relevance of structure in this fact, one that could be filled with any content. I instead find in it the mother’s symbolic predisposition who, so to speak, allows herself to be substituted by others without consequences or without serious consequences for the labour of creation of the world she undertakes together with her offspring. This symbolic predisposition of the natural mother can be explained by considering that a woman becomes a mother while possibly not becoming one and continuing to remain her mother’s daughter, so every natural mother is already a substitute. (Muraro 2006: 54) Once acknowledged, this circularity clears the ground of any bad asymmetry, that is to say the power discrepancy that institutionalizes the figure of the creditor and debtor. The focus on substitution here is clearly framed through a pendular movement, not one in which we replace the mother with something different. This is not an exchange: »it is a structure however that is still too often misunderstood both in its original characteristics and in its effects, which make a bridge between nature and culture of it« (Muraro 2006: 54). As a material, contingent and circulatory matrix of life the underlying structure of the maternal symbolic is different from the one conceived by patriarchy, which is instead hierarchical, homogeneous and essentialist. But it is also critical of the neoliberal order. Against the annihilation of impotentiality and the angst that results from the injunction to be ourselves and enjoy it, there emerges a continuum in which the I is not totally in command, nor should it be ordered what to do, in which difference becomes a multiplier of experiences that are contingent and exposed to failure, and cannot be totalized. But their open-ended nature is not due to the fact that there is always something better that awaits us and that we must pursue, nor to the idea that we can always upgrade our personality to become more efficient, marketable and rich. This perspective on origin is one that begins to delineate a new political form: »the subject of difference [that] is an embodied and sexed singularity, born of tensions between reasons and drives, marked from and depending on relationships to others, first and foremost on the relationship to the mother as the matrix of life« (Dominijanni 2010: 176). This continuum can obviously turn into a saturated dimension, so it is always necessary to keep in mind that there is a »dialectics between the lived experience of the relationship with the mother and its elaboration in the lived experience of
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relationships with other women; or, in other terms, between the imprint (real and phantasmatic) of the primary experience and the construction – also experiential – of a symbolic form« (Dominijanni 2018: 179). Wouldn’t this be a good starting point for a political practice? One that leaves behind the melancholy of the Father and engages critically with the new anomic dimension of life ruthlessly ruled by capital? Wouldn’t this engender a new temporality? One which does away with »a future always incompletely achieved – let us call it capitalism’s future – and [welcomes] the amorous future, which overtakes us (and the chronological order of things) by surprise, as fore-pleasure« (Copjec 2012: 46).
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When Events Address To Us The dissolution of the former social contract and the consequent crumbling of social-democracy in Europe, besides destroying the only benevolent face of neoliberalism, resulted in a re-politicization of citizens that had hitherto been systematically silenced by the compensatory logic of the welfare state. The current demonstrations, under the generic label of the indignados, have not only provoked a severe wave of protest against the reforms carried out by European governments, but also seem to propose a new relation with law. As we all know, according to the biopolitical paradigm, law has always been regarded as an instrument of power from which it would be necessary to distance ourselves in order to reactivate politics. This notion may seem to be confirmed by the current European situation, in which law is used to criminalize protests and facilitate the structural reforms demanded by the financial system. However, this notion presents a series of limitations, given that the indignados have rebelled against the alleged legitimacy of the use of law on the part of European governments, fostering an alliance between their uprising and a different use of the law. As a result, we think that this phenomenon evinces a tension between opposing conceptions of the use of law. Law is therefore going through a truly political moment and it is necessary to reflect on this subject from the point of view of biopolitical thought. Such a decision compels us to abandon some prejudices that have been fostered in traditional biopolitical studies. And in order to do so, it might be convenient to make a methodological inversion: instead of trying to know what the political categories that determine our forms of existence are, we should try to discover if it’s possible that contemporary political practices can take modern political concepts to a completely different scenario. Apparently, the so-called ontology of difference, in its rejection of political categories of modernity, has shown some evident signs of exhaustion. Perhaps it is no longer the correct approach to the current political situation, particularly when the very premises of its ontology seem to have been absorbed by neoliberal agendas, which can be confirmed in the difficulties some social movements, endeared to the post-
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structuralist jargon, have experienced in their confrontation with EU policies. Perhaps, terms such as hegemony, leadership, political parties, state, institutions and law, so despised by the heirs of Heidegger and French post-structuralism, should be critically reconsidered in the light of recent political events that have taken place both in Latin America and Southern Europe. This Heideggerian tradition has seen itself overtaken by recent political events, unable as it has been to offer a discourse that can figure out this historical moment. And this leads us to our next proposal: assuming the important legacy of the ontology of difference. It may be a priority to recognize its limitations, trying to put it at a certain critical distance in an attempt to resignify a different legacy of modern philosophy and be more aware of the praxis dimension – a dimension modern philosophers were very aware of. Otherwise, we would be trapped in a theory that obliges us to interpret the use of law on the part of the indignados as a simple reiteration of an ancestral theological gesture, which the Western World has intended to get rid of. As Foucault once said in his course Society must be defended: Truth to tell, if we are to struggle against disciplines, or rather against disciplinary power, in our search for a nondisciplinary power, we should not be turning to the old right of sovereignty; we should be looking for a new right that is both antidisciplinary and emancipated from the principle of sovereignty. (Foucault 2003: 39f.) Even if Foucault didn’t develop these assertions in a meticulous way, we believe it is important to consider the implications of his words. That is, we intend to demonstrate that the indignados and other political movements are promoting a non-disciplinary form of law.
The Negative Dialectics of Dispositif It is probably necessary to consider the law in terms of a dispositif, but in order to do so we must explain first the etymological fluctuations suffered by this notion within the biopolitical paradigm. In his text What is an apparatus?, Agamben was admirably one of the first thinkers to indicate two different manners of approaching the term ›dispositif‹, first and foremost because he was interested in learning »what is the strategy of practices or of thought, what is the historical context, from which the modern term originates« (Agamben 2009: 8). In one case, Agamben identifies a link between the notion of Positivität, as it appears in Hegel’s early writings, and Foucault’s dispositif. On the other hand, he links the term dispositif with Heidegger’s notion of the Gestell. Nevertheless, the Hegel-Foucault link is barely developed by Agamben, since he is more interested in the second way. Agamben connects the problem of Christian oikonomía with Foucauldian dispositif through the notion
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of dispositio, suggesting that it was the Latin translation of the Greek term made by the Fathers of the Church. Agamben assumes the hypothesis that the Latin term dispositio, from which derives our modern dispositif, would somehow collect the whole complex semantic field of the theological oikonomía (cf. Agamben 2009: 8-12). Certainly, Foucault uses the term oikonomía in his 1977-1978 Collège de France seminar, but he does so in a quite different sense, as Foucault evokes the Greek term oikonomía psychón in order to indicate the double role, both passive and active, of the men’s behavior regarding their ethical-political relations (cf. Foucault 2009: 256f.). Agamben recognizes that his decision obliges him to abandon Foucault’s historical-critical way, introducing the term dispositif in a completely different context, closer to Heidegger’s onto-theology. The connection with Heidegger arises from the fact that Gestell (Ge-stellen) would be akin to the Latin etymology (dis-positio, dis-ponere) of dispositif (cf. Agamben 2009: 12). If we pay attention to Die Frage nach der Technik (Heidegger 2000: 5-36), the text Agamben alludes to in his essay, it may not be as easy to establish this equivalence between the terms Gestell and dispositif. By incorporating a hyphen in Ge-stellen, Heidegger underlines the semantic connotations of the prefix Ge-, which has been translated as composition, imposition or structure of emplacement. The latter translation seems to express more properly the meaning of the German word. Let’s not forget that in Heidegger’s texts, the term Ge-stell is employed in singular and it refers to the technical essence, conceived as a specific form in which the Sein discloses itself, whereas it is characterized by an occlusion of the opening that makes existence possible. Thus, the entity is reduced to an emplaced existence and Nature appears as a background, available for exploiting. If we’d decided to follow Agamben’s way, we would ignore those dispositifs of knowledge and power that organize our different forms of seeing, thinking and saying, reducing the Western World, in its technological coming-into-being, to a gigantic dispositif that would be unable to cultivate and take care of the original opening that constitutes us. While it is true that Agamben warns us about the risks of Heidegger’s use of the term Gestell, by explaining how Heidegger is unable to »restore it to its political locus« (Agamben 2011: 253), the problematic aspect of Agamben’s turn is the pejorative and unilateral connotations acquired by the term dispositif, given that the alleged restitution to its political locus would entail nothing but its being dismantled. In his book Two. The Machine of Political Theology and the Place of Thought, Roberto Esposito deals again with the problem of dispositif from a perspective that is akin to Agamben’s, even though it provides a series of precise hints (cf. Esposito 2015). First of all, Esposito reminds us that Heidegger elaborated two different connotations of Gestell, and, unlike Agamben’s assumptions, only one of them could be
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related to the term dispositif. The other appears in an earlier text, Das Gestell1 , and according to Esposito, the onto-theological inflection of the definition chosen by Agamben cannot be translated using a Foucauldian vocabulary, whereas it would be compatible with the meaning that the term acquires in the earlier text written by Heidegger. The notion of machination that is at the core of the Gestell would be very akin to the manner Foucauldian dispositif operates (cf. Esposito 2015: 27). Despite his evident lack of clarity in this respect, Esposito seems to reject the salvific meaning that the latter Heidegger attributes to the term Ge-stell. Let us remind that, even if the domain of the structure of emplacement (Ge-stell) represents the supreme risk for mankind, it is also there, as Heidegger himself declares in his text on technique, that we can find the key to our salvation, since, quoting Hölderlin’s poem, »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« (Heidegger 1962: 28). As the technique has both a negative and a positive aspect, the reflection about the essence of technique, being as it is a particular mode of assembly between Being and Entity, would permit us to understand not only how Being isn’t reduced to that form of disclosure, but also that it is possible to identify other manners in which that relation takes place. Remarkably, Agamben does not mention the latter definition of Ge-stell in his text, which is all the more interesting if we realize that, in our opinion, this double aspect of Ge-stell might result in a fruitful philosophical dialogue with Foucault’s notion of dispositif. In turn, Esposito discards this second way and embraces the first one, alleging that it is connected to Heidegger’s Machenschaft, therefore it would be in contact with the dispositif ›Person‹ that supports the whole theological-political paradigm. Even though Esposito admits that »nothing Heidegger says directly concerns the concept of political theology. However, he situates himself in relation to it precisely to the extent that he dismisses the paradigm of secularization […]« (Esposito 2015: 28). Esposito declares Heidegger was the first philosopher to point out not only the impenetrability of the theological-political paradigm, but also to explain its functioning through the concept of machination. This term, machination, would permit us to unveil the metaphysical background that blends the Christian horizon and modern thought in the same notion. Esposito traces back a genealogy that shows how the notion of ›Person‹ in modernity would be the result of a combination between Roman juridical thought and the Christian theology of Trinity. However, it is clear that the concept of machination, just as it was dealt with in Heidegger’s text Das Gestell, had a profound affinity with Foucauldian dispositif, even if it can only be applied to processes of subjection. As a result, what Esposito would be trying to suggest is that Foucault had already pointed out how the theological-political machinery operates with regards to mankind. While the lecture Das Gestell intends to reflect 1
The former title of this lecture was Das Gestell. Later on, it has indeed been published under the title Die Frage nach der Technik (cf. Volkmann-Schluck 1996: 216).
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on how this form of organization has determined modern Machenschaft, that is, the link between man and nature, the Foucauldian dispositif might help us think in what manner has this excluding-inclusion machine can be applied to the relation between men, in its configuration of what we consider human. According to Esposito, dispositif and Machenschaft share the same function of separating its opposite from itself by assimilating it (cf. Esposito 2015: 27). In this manner, Foucault’s contribution would have consisted only of studying a form of power that determines the human by producing the inhuman; that is, the human could only be articulated by means of a separation between the human and the inhuman. And human beings would be powerless to escape from such dispositif, since their own humanness would depend on the dispositif itself: Like Heidegger’s machination, Foucault’s dispositifs never completely declare their function, concealing their real effect behind apparently opposing aims. They, too, affect our lived experience in a way that separates it from itself, fettering it to its opposite. (Esposito 2015: 27)
The Affirmative Moment of Dispositif and Its Emancipatory Nature Despite the differences between Agamben and Esposito, the truth is that both approaches present a very similar argumentative structure. They both suspend the hierarchical separation that the dispositif apparently produces. In both cases, we are told that there is an estrangement that penetrates our experience, separating it from itself and producing a division of life into two different realms. And the risk of such logics of inclusion/exclusion appears when it generates a domination of one part over the other. Undeniably, there is a Heideggerian framework behind the diagnoses of these two Italian thinkers. In his reflections on technique, Heidegger attempted to unveil the fundamental domination relation underlying the separation and unification of the modern subject-object relationship. Agamben and Esposito tried to go further by indicating that this relationship would depend on a wider theological frame. In other words, that this form of domination would be the result of a series of religious transformations held at the core of the secularization process. Consequently, the whole of Western modern tradition would be instilled with this fundamental form of domination, understood as a power that can separate what it unifies and unify what it separates: »the presence of the Two in the One, the imposition of one that seeks to eliminate the other« (Esposito 2015: 3), hence the typically modern mystery of separation and isolation of a vital nucleus that allows the unity of life as a hierarchical articulation of beings, would be nothing but a surviving theological-political form, expressed under the mode of a dispositif. If we limit ourselves to consider the dispositif as a sort of net for captur-
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ing bodies, determining their life-forms and guiding their behaviour, it may seem that the only escape from this form of domination and calculation would consist of terminating dispositifs for good in order to initiate something new. Nonetheless, it is fair to wonder whether dispositifs work only as forms of domination. Isn’t there a dialectical tension within the functioning of dispositifs themselves – a sort of speculative movement between domination and emancipation? If we take the interpretative path proposed by Agamben and Esposito, it would be difficult to appreciate the dialectical tension that persists in every use of dispositifs, as well as the unpredictable effects that such use may provoke. Perhaps this interpretation of dispositif scorns its role as a mediator. Probably, the rejection of the dispositif as such operates as a sort of deformed mirror, reflecting an indifference that has been the ultimate outcome of enlightened progressiveness. Whereas enlightenment optimism may have made every effort to find a reconciliation, a restoration of the unity between subject and object (which has eventually resulted in all kinds of terrible forms of identitarian thought), Agamben and Esposito, in turn, would propose to disentangle that domination by returning to the place where dispositifs are no longer operative. Subjective mediations have effects on the real; they produce a language, a history, a past, forms of social organization and modes of communication and common comprehension. Rejecting the dispositif as such means to ignore all these historical mediations, presenting them as mere domination emblems. If nowadays the current forms of domination assume the appearance of a great danger we must get rid of, we’re only magnifying and consecrating them as our inescapable fate. The most paradoxical outcome of this defensive strategy is that, in the end, it reinforces the dualism against which it so ostensibly fights. Under this perspective, philosophers seem to become a sort of pure subjectivity whose critical exercise would be enough to liberate them from the limitations of the objects they denounce. The search for a common use, not mediated by the dispositif, seems to encourage that escape from existence discussed by Hegel in his Phenomenology (cf. Hegel 1980): a refuge from which the actual can be conceived as the sign of what must be rejected. Accordingly, any critique of the present may seem to be equivalent to a radical separation between such presentness and the subjectivity that asserts it, without allowing to conceive in the same materiality of present the murmur that makes its own critical transformation possible. Perhaps it’s not about liberating ourselves from the dispositifs but about criticizing the forms of domination we’ve been subsumed to (cf. Catanzaro 2011: 168-192), a task that Agamben and Esposito themselves have carried out in such a magisterial way. Nonetheless, the mediation that produces a separation at the core of one does not manage to become identical to itself, but it is always cut by a difference that does not allow for an identity between subject and object. The domination of one part over the other is one of its many looks, but it is the task of critique to figure out how the reification behind this attitude works, so that we can liberate the latent
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tension. We propose to use the term dispositif to refer to this mediation, rejected by certain trends of biopolitical studies. And here the question of dispositif is a key one: is law, conceived as a dispositif, able to open itself to new forms of mediation that could escape from the logics of control and discipline?
Dispositif as a Form of Sensible Mediation Perhaps, the interpretative key can be found in the line of work we mentioned at the beginning of our text: the one that connects dispositif with the notion of Positivität, as it appears in Hegel’s early writings (cf. Hegel in Cadahia 2012: 171188). The texts in which Hegel elaborates this term in a rigorous way belong to the collection traditionally known as Die Positivität der christlichen Religion und Der Geist des Christentums und sein Schicksal (cf. Hegel in Nohl 1966). Hegel tells us there that this positivity alludes to the manner in which life-forms are constituted in their relation with the historical element. As we have mentioned before, Agamben was one of the first thinkers to suggest the link between the notion of positivity in Hegel and Foucault’s dispositif. However, we have distanced ourselves from him for two different reasons: on the one hand, because we consider that there is no need to resource to the concept of positivity elaborated by Foucault in order to create a link between the latter and Hegel; on the other, because Agamben didn’t pay attention to the concept of positivity developed by Schiller. Regarding the first point, when Hegel refers to the term positivity he usually employs the expression »gewaltsame Anstalten«, that can, in my opinion, be translated as »violent dispositifs«: Es werden, wenn das gewöhnliche Leben der Menschen Gefühle, die in der Natur vorkommen müssen, nicht gibt, gewaltsame Anstalten nothwendig, um jene Gefühle zu erzeugen, denen freilich von der Gewaltsamkeit immer etwas anklebt ebenso werden Handlungen nur auf Befehl, aus blindem Gehorsam getan […]. (Hegel in Nohl 1966: 141)2 As a result, the term dispositif, as used by Foucault, could be regarded in direct connection with Hegel’s positivity without having to go through the problem of the positivity of knowledge. And even if, at first, some of these texts may suggest a pessimistic view of this positivity on the part of the young Hegel – in the sense that it would be a sort of life-organizing power –, in his Introduction to Hegel’s Philosophy of History, Hyppolite provides a very suggesting reflection about the diverse 2
When Hegel says the positivity is characterized by the implementation of »gewaltsame Anstalten«, we could interpret it as the application of violent dispositions, thus emphasizing the dynamic dimension; but we could also read it as violent dispositifs (in the sense of institutions), which would emphasize the static dimension.
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uses the young Hegel makes of the term Positivität (cf. Hyppolite 1996). Hyppolite’s originality resides in his having appreciated the speculative sense of this concept. Instead of limiting himself to a plain rejection (Hegel himself seems to view this notion favourably), Hyppolite hints at an affirmative use of it. And to do so, he employs the metaphor of memory: In other words, as it is often the case with Hegelian concepts, there is a double meaning of positivity : one pejorative, the other laudatory. Positivity is like memory, living and organic. It is the past always present, inorganic and separate, and it is the past that no longer has any authentic presence. (Hyppolite 1996: 77) By assuming this double conception provided by Hyppolite’s reading, the link between Positivität and dispositif appears under a completely different light. The original approach to the notion of positivity explored by Hegel, offered a manner to problematize the link between life and power. For that reason, we disagree with Agamben when he claims that »Foucault, borrowed this term (that would later become ›dispositif‹)« (Agamben 2009: 5f.). Foucault neither borrows the term, nor later turns it into the notion of dispositif. On the contrary, it is not the term but the problem, alluded to by Hegel with this term, that Foucault would later inherit, via his teacher Hyppolite. Hegel’s term, violent dispositifs, allows him to deal in a philosophical way with the emergence of a power over life, evincing the presence of different forms of positivity that operate in the fields of both religion and the Enlightenment. The analysis that supports these reflections is devoted to the manner in which such power established a relation between life and death. And this leads us to a different question, which Agamben did not consider when he tried to link positivity in Hegel with Foucault’s dispositif: namely, the aesthetic-political problem of positivity in Schiller’s texts.3 It is important to stop and think carefully at this point, not only because doing so would permit us to formulate the hypothesis that Hegel’s positivity is connected to the use of this term in Schiller’s Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (Schiller 1990), but also because, by incorporating this aesthetic dimension, we may go deeper into the sensible nature of dispositif. In his letters, Schiller refers to the »positivity« in two passages. In one of them, he talks about the positive society (»positive Gesellschaft«) as a realm in which lifeforms are defined at a certain moment.4 In the second passage, Schiller refers to 3 4
A more detailed development of the notion of positivity and dispositif in Schiller, together with its connection to Hegel and Foucault, can be found in Cadahia (2014). »Von allem, was positiv ist und was menschliche Conventionen einführten, ist die Kunst, wie die Wissenschaft losgesprochen, und beyde erfreuen sich einer absoluten Immunität von der Willkühr der Menschen«. »Endlich überdrüssig, ein Band zu unterhalten, das ihr von dem Staate so wenig erleichtert wird, fällt die positive Gesellschaft (wie schon längst das Schicksal der meisten europäischen Staaten ist) in einen moralischen Naturstand auseinander, wo
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art as a field that is free from the positive element, and given that it’s not determined by the mode of representation, art is capable to transform that space (cf. Schiller 1990: 150-152, 170-172). As we all know, Schiller’s philosophy is an attempt to respond to the constitutive tension between reason and sensibility, but far from suppressing one in favour of the other, Schiller postulates a sensitive reason. The positive is then circumscribed to a particular state of affair, furthermore abstract intelligence (proper of Enlightenment) and aesthetic experience are two dispositions (Stimmung) that are confronted to the positive (cf. Schiller 1990: 282-285).5 Unlike the genealogy traced by Agamben and Esposito (in which the notion of dispositif was associated to the term Gestell – from the verb stellen), Schiller seems to distinguish the aesthetic disposition from the Vorstellen, which enables us to refer to the dispositif in a different way. In order to describe dispositions, Schiller prefers to use the term Stimmung rather than stellen. From this perspective, the dispositif does not allude to a determined position or imposition (stellen), even less to a repetition of something previously occurred, but rather to a certain temper or to the manner in which men determine their own existence (Stimmung), making visible the double operation of reason and sensibility. What is more, the specific trait of aesthetic disposition is precisely its permanent questioning of the manner in which men present themselves their existence. This can be explained by the fact that the aesthetic dispositif is free from the Vorgestellt (vorstellen). The aesthetic disposition is not a representation (Vorstellung) of something given beforehand, but a presentation (Darstellung) of a disposition or temper to interfere in the world (cf. Helfer 1996). In other words, not being a re-presentation (nicht vorgestellt werden), not being reiterated as a mechanism of repetition, the aesthetic disposition might be useful for questioning the re-presentation other types of dispositions assume. This aesthetic disposition does not operate as an alternative that suppresses all other contexts. On the contrary, it coexists and operates alongside them, whilst also reactivating the political moment. The aesthetic disposition permits us to appreciate Law and Morality as undeniably necessary fields whose principles can be altered. As a response to the abstract understanding of the dispositif that seemed to prevail in the epoch of Enlightenment, Schiller proposes the aesthetical dispositif,
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die öffentliche Macht nur eine Parthey mehr ist, gehaßt und hintergangen von dem, der sie nöthig macht, und nur von dem, der sie entbehren kann, geachtet« (Schiller 1990: 150). »Das Gemüth geht also von der Empfindung zum Gedanken durch eine mittlere Stimmung über, in welcher Sinnlichkeit und Vernunft zugleich thätig sind, eben deswegen aber ihre bestimmende Gewalt gegenseitig aufheben, und durch eine Entgegensetzung eine Negation bewirken. Diese mittlere Stimmung, in welcher das Gemüth weder physisch noch moralisch genöthigt, und doch auf beyde Art thätig ist, verdient vorzugsweise eine freye Stimmung zu heißen, und wenn man den Zustand sinnlicher Bestimmung den physischen, den Zustand vernünftiger Bestimmung aber den logischen und moralischen nennt, so muss man diesen Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit den ästhetischen heißen« (Schiller 1990: 282).
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conceived as a different kind of disposition towards the existent. The re-politicization of what is taken for granted is made possible by the distance established by the aesthetical dispositif with regards to the representation field. In other words, the aesthetic dispositif dismantles the reifying function of the positive society, producing a dialectic image of it. Once the conflictive force-field that configures the fragile present is unveiled, the existent is no longer an unbearable, dead tradition or a reality organized according to that rigid past. From that perspective, dispositif does not function so much as a net for capturing bodies, but rather as a sensitive experience that results from the articulation of forms of seeing, saying and thinking. The question is not whether to struggle or liberate ourselves from the dispositif as a means to return living beings to an anomic space (that is, an original space), it is about problematizing the different types of sensible experience encouraged by dispositifs. Let’s remind that the partition proposed by Schiller between sensibility and understanding is also characterized as a partition between form and life, which leads us directly to the problem pointed out by Agamben and Esposito regarding the role played by the dispositif: producing the partition that establishes a domination of politics over life. As we have remarked before, the alternative proposed by Agamben and Esposito would consist of problematizing the very origin of the partition, assuming that it was originated in the power relation that constrains our world. Nonetheless, if we focus on the manner in which Schiller deals with this partition, we would discover how this partition does not necessarily produce a form of domination. According to Schiller, this juxtaposition of life and form appears as a clash of two opposing momentums or mandatory forces. On the one hand, there is a formal need that is determined by laws; on the other, there is a sensitive need that is determined as the material life of men. Being as they are opposing forces, one tends to annihilate or dominate the other, but at the same time they need each other, given that: »Solange wir über seine Gestalt bloß denken, ist sie leblos, bloße Abstraktion; solange wir sein Leben bloß fühlen, ist es gestaltlos, bloße Impression« (Schiller 1990: 230). The affirmation of these two forces as a living form does not imply a reconciliation that occludes the conflict and creates the domination of one part over the other. On the contrary, it is a living form because it results from the conflictive tension between both forces. Now, our need to play also escapes from the economy of sacrifice that seemed to constrain us, according to the notion of dispositif proposed by Agamben and Esposito, since this form of affirmation does not depend on sacrifice of life as its only strategy of preservation (cf. Schiller 1990: 372-374). The contradiction displayed by Schiller is not the finished expression of a contradiction of pre-existent elements that, each one being identical to itself, are opposed to one another (form vs. life). Such an assumption would lead us back to the economy of sacrifice. In fact, Schiller criticizes this form of opposition as the formal violence of understanding. On the contrary, the antagonism is related to the affirmative difference that results from
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the mediation between life and form, since: »Nur indem seine Form in unsrer Empfindung lebt, und sein Leben in unserm Verstande sich formt, ist er lebende Gestalt, und dieß wird überall der Fall seyn, wo wir ihn als schön beurtheilen« (Schiller 1990: 230). The opposition between elements is impure, the opposition is not the direct confrontation between determinations that oppose each other in an external relation that constitutes their very foundation, but the conflict of movement that propitiates the game between life and form that takes place at the other of itself. Schiller demonstrates that it is the conflictive aspect – responsible for producing the partition – that encourages a political opening. As Foucault reminded us, there is a substantial difference between power relations and domination relations. In power relations the game is always open, given that the conflict becomes explicit and, as a consequence, negotiation and transformation spaces are continually opened up. In domination relations, in turn, the range of action is almost nonexistent and a stratification of the relation is produced. Consequently, it is not a matter of playing the role of a lucid conscience, ready to pinpoint a domination need behind every partition, but of learning how to have a different relation with the opposite – as the living form would permit it. While the genealogies traced by Agamben and Esposito were characterized by merging the notions of dispositif and Gestell, the genealogy developed in Schiller’s texts situates us in a different scenario, not only because it is possible to talk about different types of dispositifs or dispositions towards the existent, but also because the aesthetic dispositif constitutes a kind of disposition that problematizes and transforms the order intended to fixate the instrumental rationality of understanding.
The Problematic Nature of Law Conceived as a Dispositif: Between Self-Preservation and Self-Affirmation The question behind our proposal would be as follows: what kind of dialectical tension could configure the current use of law as a dispositif? By making this question we assume the challenge to think about how this dispositif articulates a certain sense of reality, a certain common sense that configures perceptive and discursive frameworks that determine the visible, what can be said and thought. If the dispositif of law contains a dialectical tension, it may seem to oscillate between an occlusion of the law-politics relation and its disclosure. The occlusion of the nexus between law and politics seems to obey to an identitarian closure of legality and legitimacy of law, as can be confirmed by observing current EU strategy. The legitimacy of this latter use of law would be justified through a magical-juridical sacrifice ritual. According to this use, society should sacrifice a part of itself in order to rescue a minority from the crisis and savagery. This form of immunitary violence, as Esposito would have said (cf. Esposito 2015), necessarily implies the mandatory
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sacrifice of a part of the population, represented as a threat by the rhetoric of law, as an external risk power must protect itself from in order to survive. This immunitary self-preservation logics, which projects a particular conception of law, is nothing but a form of the absolute negation Hegel used to criticize the Enlightenment spirit that was already producing its own cult of utility. Law abides by its own violence at the moment of sacrificing a living being, at the moment of actualizing itself against the living. But paradoxically, this sacrifice of actualization against the living is a form of producing life. Consequently we should ask ourselves whether it is possible to have a law in favour of life (bíos), in favour of the value of life.6 The politicization of Law, just as the indignados have conceived it, reveals and deepens the gap between legality and legitimacy. Disclosing the absence of legitimacy of the current juridical system applied in Europe, they evince that the legality of the law cannot be reduced to mere procedure, but that instead it should be related to its legitimacy. This lack of coincidence between legality and legitimacy has been denounced by social movements and it lays the foundations for a critique of law, as a pre-condition of a non-disciplinary use of law; a gap that, underlining the unresolved partition between these two aspects, permits us to conceive a precarious form of law – even though, this precariousness contributes to a nondisciplinary conception of law. Against a use of law that only procures immunitary self-preservation (Selbsterhaltung), a different form of law seems to have emerged, the self-affirmation (Selbstbehauptung) of those who resist a destructive violence imposed by neoliberal states: a new ethos that, just as it establishes a divorce from disciplinary law, constructs and radicalizes a relation with law, namely, a form of mediation that, as a sensible dispositif, produces a different affirmation of life.
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We’re not referring to life only in biological terms, as something immediate and natural that should be preserved, but we regard life as a life-form in the tradition of Hegel and Foucault.
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Esposito, Roberto (2015): Two. The Machine of Political Theology and the Place of Thought, New York: Fordham University Press. Foucault, Michel (2003): Society must be defended. Lectures at the Collège de France 1975/1976, New York: Picador. Foucault, Michel (2009): Security, Territory, Population. Lectures at the Collège de France 1977/1978, Basingstoke: Palgrave Macmillan, Hegel, Friedrich (1980): »Phänomenologie des Geistes«, in: id.: Gesammelte Werke, vol. 9, Hamburg: Meiner. Heidegger, Martin (2000): »Die Frage nach der Technik«, in: id.: Gesamtausgabe I, vol. 7, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, pp. 5-36. Heidegger, Martin (1962): Die Technik und die Kehre, Pfullingen: Günther Neske. Helfer, Marta B. (1996): The Retreat of Representation. The Concept of Darstellung in German Critical Discourse, New York: State University of New York Press. Hyppolite, Jean (1996): Introduction to Hegel’s Philosophy of History, Gainsville: University Press of Florida. Nohl, Herman (ed.) (1966): Hegels theologische Jugendschriften, Frankfurt a.M.: Minerva. Schiller, Friedrich (1990): Kallias. Cartas sobre la educación estética del hombre/Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Barcelona: Anthropos. Volkmann-Schluck, Karl-Heinz (1996): Die Philosophie Martin Heideggers: eine Einführung in sein Denken, Würzburg: Königshausen & Neumann.
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Zeit, Raum, Kraft: Prekarität und Subjektivierung Marco Assennato
Prekarität, Schulden, Schuld Als Pierre Bourdieu 1997 während des Kongresses Rencontres européennes contre la précarité in Grenoble seinen berühmten Satz äußerte, »dass Prekarität heutzutage allgegenwärtig ist« (Bourdieu 1998: 96), so wollte er damit sicherlich das weit verbreitete Vorurteil über Zeitarbeitsverträge aus den Angeln heben, dass diese gemeinhin als eine pathologische Form gegen stabile Arbeitsverhältnisse und Vollzeitstellen angesehen werden, welche ›normalerweise‹ eng mit dem vollen Besitz der Bürgerrechte einhergehen. Bourdieu richtete seine Polemik gegen die symbolische Ordnung der Staatsbürgerschaft, die an stabile Arbeitsverhältnisse geknüpft zu sein scheint, um an die kritische Verantwortung der Intellektuellen und Gelehrten zu erinnern und um der zögernden Entfaltung der demokratischen Kultur Europas sowie der Verblendung durch die gesellschaftliche Stigmatisierung prekären Lebens entgegenzuwirken. Dafür nahm er sich vor, die »Bedingungen des Funktionierens der wirtschaftlichen Ordnung« (Bourdieu 1998: 95) an ihren Fundamenten zu untergraben – ein umso dringenderer Appell, da diese Ordnung zunehmend als hassenswert und unterdrückend wahrgenommen wird. Bourdieus zweiter und tiefgehenderer Beweggrund aber war Ende der 1990er Jahre, eine neue Perspektive auf die konkreten Zugangsbedingungen zur Produktion zu eröffnen: Schon damals musste man erkennen, dass die Vorstellung eines Marktes, der stabile Arbeitsverhältnisse bieten kann, von denen die Prekarität nur eine zumeist zeitlich begrenzte Ausnahme darstellt, nicht der Wirklichkeit entspricht. Es gebe ganz im Gegenteil nur flexible Zugangsformen zum Lohn, stabile und sichere Positionen existierten allerdings nur an deren Rändern. Doch auch letztere Posten würden unsicher oder indirekt prekarisiert, da sie zunehmend vom Übermaß jener anderen Arbeit bedroht werden, die sich, ihrer Rechte beraubt, wie eine riesige »Reservearmee« (Bourdieu 1998: 97) verhält, wie eine mächtige Maschine, die psychologischen Druck auf alle Arbeitnehmer ausübt (vgl. Bourdieu 1998: 96ff.). All dies habe Bourdieu zufolge eine Reihe politischer Auswirkungen und um eben diese Konsequenzen drehen sich die Überlegungen des französischen Soziologen.
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Die Prekarität ist Teil einer neuartigen Herrschaftsform, die auf der Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt und das Ziel hat, die Arbeitnehmer zur Unterwerfung, zur Hinnahme ihrer Ausbeutung zu zwingen. Zur Kennzeichnung dieser Herrschaftsform […] hat […] jemand das treffende und aussagekräftige Konzept der Flexploitation vorgeschlagen. Dieser Begriff veranschaulicht sehr treffend den zweckrationalen Gebrauch, der von der Unsicherheit gemacht wird. […] Es [gelingt] dieser Unsicherheit, unter dem Deckmantel vermeintlich naturgegebener Mechanismen, die sich dadurch schon selbst rechtfertigen, die Widerstände zu brechen und Gehorsam und Unterwerfung durchzusetzen. (Bourdieu 1998: 100f.) Bourdieu verbindet Prekarität mit der Scham, keinen normalen Arbeitsplatz zu besitzen: Dieses Schuldgefühl erzeugt eine verbreitete asoziale, depressive, antipolitische und individualistische Moral, die sich ganz und gar von den Ausbeutungsmechanismen und jener spezifischen Moral des Arbeiters im industriellen Zeitalter unterscheidet. Was aber hat sich verändert? Mit Negri und Hardt lässt sich zusammenfassen: Früher gab es Massen von Lohnarbeitern, heute gibt es die Multitude des Prekariats. Erstere wurden vom Kapital ausgebeutet, doch die Ausbeutung verbarg sich hinter dem Mythos vom freien Handel zwischen gleichberechtigten Partnern. Auch die Angehörigen des Prekariats werden ausgebeutet, doch ihr Verhältnis zum Kapital erscheint nicht mehr als Handel zwischen Gleichberechtigten, sondern als hierarchisches Verhältnis zwischen Schuldnern und Gläubigern. (Hardt/Negri 2013: 17) Die Prekarisierung von Arbeit rührt unter anderem aus der Tatsache, dass ein großer Teil des sozialen Reichtums mittels Finanzspekulation – einer wahren Maschine zur Abschöpfung von Mehrwert – beschlagnahmt worden ist. Die neoliberale Politik hat diesen Zustand zudem intensiviert, indem die heutige politische Rationalität das Verhältnis von Gläubiger und Schuldner neu justiert (vgl. Lazzarato 2012; 2014). Die Welt wird nach dem Prinzip organisiert, Rendite und Profit nicht zu unterscheiden, sodass »[v]om Gesichtspunkt der Schuldner aus […] Schulden Finanzmittel [sind], die zurückgezahlt werden müssen. Vom Gesichtspunkt des Gläubigers aus, des Inhabers von Titeln, sind Zinsen Finanzmittel, die sicherstellen, dass mit den Schulden Profit gemacht werden kann« (Lazzarato 2012: 38). Die Gläubiger-Schuldner-Beziehung bringt nun aber ein spezifisches Machtverhältnis mit sich, das bestimmte Produktionsbedingungen und die Kontrolle über politische Subjektivität miteinschließt, die mit Demokratie völlig unvereinbar sind. In Bezug auf Nietzsche erinnert Lazzarato daran, inwiefern Schulden ein Gefühl der Hoffnung und der Schuld erzeugen, das sich sogleich in Formen der Unterwerfung übersetzt:
Zeit, Raum, Kraft: Prekarität und Subjektivierung
[Der] Begriff der »Schuld« [leitet sich] aus dem überaus materiellen Begriff der »Schulden« ab […]. Die Moral der Schulden induziert eine Moralisierung des Arbeitslosen (als demjenigen, dem »geholfen werden muss«, weil er Leistungen des Wohlfahrtsstaats bezieht). […] Der Schuldner ist »frei«, aber seine Handlungen, sein Verhalten müssen sich im Rahmen abspielen, den die Schulden definiert haben und zu denen er sich vertraglich verpflichtet hat. […] Man ist nur in dem Maße frei, in dem man die Lebensweisen (Konsum, berufliche Tätigkeit, Sozialabgaben, Steuern etc.) übernimmt, die mit der Vergütung kompatibel sind. (Lazzarato 2012: 42f.) Schulden, Prekarisierung und die darin implizierten Formen der Schulderzeugung als Archetypen sozialer Beziehungen zu lesen, bedeute, so Lazzarato weiter, eine auf Asymmetrie fußende Genealogie der politischen Institutionen zu erstellen. Diese Asymmetrie sei grundlegend für all jene Gesellschaften, die auf dem Konkurrenzprinzip aufbauten; anders als das Prinzip der Gleichwertigkeit, das von der Logik des Tauschhandels vorausgesetzt werde. Der Neoliberalismus ist ein asymmetrischer und unilateraler Kampf der Besitzenden gegen die Arbeitenden, der Konkurrenz (und somit Ungleichheit) als einziges Regulierungsprinzip für Wirtschaft, Gesellschaft und Recht erachtet. Dieser Kampf setzt auf der einen Seite die Existenz einer organischen Klasse der Finanzen, der Gläubiger/Schuldner und des Geldes voraus – und auf der anderen die heterogene Vielzahl von Produzierenden: Arbeitslose, Zeitarbeiter, neue Arme et cetera. Auf dieses fragmentierte und prekarisierte Multiversum richtet der Kapitalismus pausenlos seine ständigen Angriffe (vgl. Lazzarato 2014). Mehr noch: Der Neoliberalismus ist eine Form von gouvernementaler Rationalität, deren spezifischer Gegenstand die Subjektivierungsweisen des Individuums darstellen. Dies setzt eine genaue Gestaltung und Formen der Kontrolle von Subjektivität voraus, sodass »Arbeit […] darin von einer ›Arbeit am Selbst‹ nicht zu trennen [ist]« (Lazzarato 2012: 44). Frustration, Groll, Schuldgefühle, Angst bilden die Leiden im neoliberalen Verhältnis zum Selbst, weil die Versprechen um Selbstverwirklichung, Freiheit, individuelle Selbstbestimmung gegen eine Wirklichkeit prallen, die diese Versprechen systematisch verneint. […] Der Individualismus neutralisiert durch die Verinnerlichung des Konfliktes: Der »Feind« vermischt sich zum Teil mit dem eigenen Selbst. Man tendiert dazu, die Empörung eher gegen sich selbst zu richten, als die Machtverhältnisse anzugreifen. (Lazzarato 2014: 152) Angesichts der psychologischen und sozialen Auswirkungen von Prekarisierung besteht aber nach wie vor die Frage, wie ein Ausweg oder zumindest Formen des Widerspruches und Konfliktes aussehen können, die imstande sind, die Demoralisierung und die Tendenz zur kollektiven Demobilisierung (vgl. Bourdieu
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1998: 98) umzukehren, welche die demokratischen Grundlagen der FlexploitationGesellschaft bedrohen.
Unterwerfung: Zeit, Raum, Kraft Im Netz der symbolischen Ordnung von Prekarität und Schulden beginnen wir einen Raum der Unterwerfung zu erkennen. Das Problem der Politik tritt an dieser Stelle in all seiner Virulenz zu Tage. Mit dieser neuen Form des Lebens, die bereits aus ihrer passiven Gegensätzlichkeit erwächst, gilt es dennoch, politisch zu arbeiten und ihr eine Aktivität zu verleihen, die den Untertan (subiectus) zum Inhaber von Rechten (subiectum) werden lässt (vgl. Balibar 2011). Kommen wir also zu Bourdieu zurück, um zu sehen, wie er dieses neue prekäre Subjekt betrachtet, welche Auswirkungen der Individualisierung er ausmacht und welche Gegenmaßnahmen er für möglich hält. Denn eine Überprüfung von Bourdieus Ansatz erweist sich auch heute noch als lohnend, da seine Analysen wesentlich mit den Konzepten übereinstimmen, die in den mittlerweile überaus zahlreichen Untersuchungen aus Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaft weit verbreitet sind, jedoch hier nicht vollumfänglich berücksichtigt werden können. Welche Auswirkungen hat Prekarität auf das Subjekt? Bourdieu stellt dazu drei Thesen auf: Erstens modifiziere die Prekarität die Beziehung des Menschen zur Zeit. Zweitens verwandle die Prekarität die räumliche Dimension der Existenz des Individuums in der Gesellschaft. Und drittens verändere sie, indem sie, wie oben gezeigt, Einfluss auf den gesamten produktiven Arbeitskörper nehme – gleichsam einer ständigen Bedrohung der Stabilität –, die Kräfteverhältnisse der produzierenden Subjekte, bei denen sie Passivität und Demoralisierung hervorruft (vgl. Bourdieu 1998: 96ff.). Zeit, Raum und Kraft also. Folgt man Bourdieu, so scheint sich die prekarisierte Gesellschaft zu verflüssigen und in einem Zustand von Unsicherheit und permanentem Risiko aufzulösen (vgl. Bauman 1999; 2000; 2006; Beck 1986). Vergleicht man die prekäre Form des Lebens mit dem früheren Massenarbeiter und dem demokratischen Bürger aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so erscheint diese als mangelhaft, negativ und in jedem Falle als schwach. Die Zeit des Prekären ist eine ewige Gegenwart, eine trostlose und verhasste Wiederkehr des Immergleichen, »indem sie die Zukunft überhaupt im Ungewissen läßt, verwehrt sie den Betroffenen gleichzeitig jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allen Dingen jenes Mindestmaß an Hoffnung […] an die Zukunft, das für eine vor allem kollektive Auflehnung gegen eine noch so unerträgliche Gegenwart notwendig ist« (Bourdieu 1998: 97). Keine Zukunft also: Auf diese Art und Weise zerstört die Prekarität die Beziehung zwischen Subjektivierung und Zeit. Darüber hinaus verändert Prekarität die räumlichen Dimensionen, indem sie sich als eine Ausnahme von einem, als normal vorausgesetzten, sozialen Innenraum ge-
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staltet, der mit dem Raum der konstitutionellen Bürgerrechte übereinstimmt. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet scheint Prekarität mit einer Art von Verbannung verantwortungsloser und unfähiger Subjekte aus dem zivilen und produktiven Raum einherzugehen. Indem Prekarität im Sinne ökonomischer Schulden mit einer persönlichen Schuld gleichgesetzt wird, depotenziert sie zudem die Arbeit als solche und bringt, um mit Foucault zu sprechen, einen einseitig gelehrigen Körper hervor (vgl. Sforzini 2014: 49-56): also ein funktionales Objekt, das mit Blick auf Leistungsfähigkeit und Effizienz den ökonomischen Kriterien unterliegt. Es lohnt, kurz bei diesem Punkt zu verweilen. In der foucaultschen Analyse der Disziplinierung des Lebens impliziert die Gelehrsamkeit des Körpers, wie Sforzini zurecht betont, »eine Art unbegrenzter Unterwerfung: eine beständige, dauerhafte, allumfassende Kontrolle, die im Körper bis ins letzte Atom vordringt« (Sforzini 2014: 50). Nun ist jedoch die Disziplinarmacht für Foucault das spezifische Zusammenspiel von sozialen Regulierungstechniken, welches mit dem Subjekt des Massenarbeiters zusammenfällt, »eines nützlichen, technopolitischen, in den Kasernen, Krankenhäusern, Fabriken und Schulen programmierten Körpers« (Sforzini 2014: 49). Die neoliberale Strategie aber – welcher die Deregulierung des Arbeitsmarktes geschuldet ist – verändert die Bedingungen und Möglichkeiten der Subjektivierung radikal. Sie bringt eine neue Art der Ausbeutung hervor. Während diese die wirtschaftliche und funktionale Aufteilung der produktiven Körper betont, vermeidet sie allerdings, deren Verhalten im Detail zu disziplinieren. Martina Tazzioli schreibt, dass die neoliberale Strategie funktioniere, indem sie Kriterien mit flexiblen Zielen festlege und mittels eines Ordnungsschemas, in das sich ökonomische und soziale Beziehungen einfügen (vgl. Tazzioli 2011: 45). Die disziplinäre Orthopädie, die den Massenarbeiter hervorgebracht hat, stieß jedenfalls an die Grenzen des lebenden Körpers und traf auf dessen Widerstand, da dieser sich nicht vollständig auf seine produktive Funktion reduzieren lässt und ebenso Begierden, Trieben und Gewalt unterworfen wird, unbeständig und unvorhersehbar ist, Freizeit und Erholung bedarf (vgl. Sforzini 2014: 50; Foucault 2013: 236). Doch genau an dieser Grenze greift der Neoliberalismus: Auf der einen Seite relativiert er den direkten Zugriff der politischen und ökonomischen Macht auf die Menschen, andererseits erzeugt er aber Formen von Auto-Gouvernementalisierung des Selbst (vgl. Marzocca 2008: 145). Dies geschieht, indem er die individuelle Selbstbestimmung betont und Fähigkeiten und Kompetenzen aufwertet, die als unmittelbare Verkörperung des Kapitals angesehen werden, da sie der neoliberalen Rationalität innewohnen (vgl. Marzocca 2008: 145). Der neoliberale Schachzug besteht, allgemeiner formuliert, darin, dass sich die Aufmerksamkeit vom Bereich der Produktion auf den der produktiven Subjekte verlagert: »Das Problem der Beziehungen zwischen ökonomischen Faktoren wird durch den Blick auf die Aktivität jener Subjekte ersetzt, die im sozialen Raum intervenieren« (Tazzioli 2011: 90).
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Neoliberalen Theoretikern zufolge muss der Arbeiter zum ›Unternehmer seiner selbst‹ werden, der für seinen Erfolg oder möglichen Misserfolg allein verantwortlich ist (vgl. Marzocca 2008; Sato 2008: 136). Dies hat eine Veränderung im Entwurf sozialer Beziehungen zur Folge, die jetzt im Wesentlichen durch die Begriffe ›Unternehmen‹ und ›Konkurrenz‹ bestimmt werden; beide Kategorien fungieren als Grundeinheiten, um individuelle Aktivität und Verhalten geistig zu erfassen (vgl. Tazzioli 2011: 116). Auch Bourdieu scheint auf ein solch neues Dispositiv der Kontrolle über das Leben anzuspielen, wenn er die Mechanismen zur Verinnerlichung der herrschenden symbolischen Ordnung beschreibt. Diese Ordnung rufe im Inneren des produktiven Körpers einen dauerhaften Zustand von »Konkurrenz bei der Arbeit [hervor]«, »eine[n] regelrechten Kampf aller gegen alle, der sämtliche Werte der Solidarität und Menschlichkeit zunichtemacht« (Bourdieu 1998: 99): Wenn Arbeitslosigkeit heute in zahlreichen Ländern Europas so hohe Raten erreicht und Prekarität einen großen Teil der Bevölkerung, Arbeiter, Angestellte in Handel und Industrie, aber auch Journalisten, Lehrer und Studenten erfasst, dann wird Arbeit zu einem raren Gut, das man sich um jeden Preis herbeisehnt und das die Arbeitnehmer auf Gedeih und Verderb den Arbeitgebern ausliefert, welche denn auch die ihnen auf diese Weise gegebene Macht, wie man Tag für Tag sehen kann, gebührlich gebrauchen bzw. missbrauchen. (Bourdieu 1998: 98f.) Vor diesem Hintergrund läuft die Analyse Bourdieus jedoch Gefahr zu versagen und in die Rhetorik der Selbstausbeutung abzugleiten: Wir entdecken dort ausschließlich gelehrige, ausgeschlossene, zukunftslose Körper. Die Ausdehnung der Prekarität wird lediglich eindimensional wahrgenommen und wesentlich in den Begrifflichkeiten einer Unterwerfungstheorie bestimmt. Solange sie nicht das wiedererlangt, was vermeintlich außerhalb der Produktion liegt, oder, schlimmer noch, die alte kleine Welt der Fabrik, der nationalen Verfassungen und der mit Arbeit verbundenen Bürgerschaft beweint, gilt sie als unveränderbar.
Ein positionierter Blick Fragen wir also: Ist es möglich Prekarität anders zu denken? Guillaume le Blanc hat erst kürzlich versucht, die Stimme dieser gewöhnlichen, weil prekären Leben wiederzufinden. Indem er diese Lebensbedingungen als nicht natürlich gegeben entlarvt, provoziert er den politischen Skandal (vgl. Le Blanc 2007; Le Blanc 2014). Folgt man dieser Logik, so wären eigentlich alle einseitigen Auffassungen hinsichtlich der durch Prekarität hervorgebrachten Lebensformen anzufechten. Der Prekäre ist kein Mensch, dem es an etwas mangelt, sondern jemand, der dazu fähig ist, eine Welt kreativ zu erschaffen – und das in extrem komplexen kooperativen Formen. Dennoch ist er geschwächt, disqualifiziert und den Angriffen von Politik
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und Gesellschaft ausgesetzt. Gewiss geht es nicht darum, die schreienden Ungerechtigkeiten und Ausbeutungsdynamiken, welche die Prekarität mit sich bringt, zu bagatellisieren. Ganz im Gegenteil soll hier der Versuch unternommen werden, mittels eines anderen Blickwinkels die Analyse von Ausbeutung und Unterwerfung zu vertiefen, zu erweitern und so in die Kategorien der Subjektivierung und des politischen Konflikts zu verkehren. Dazu ist es vor allem nötig, sich zu positionieren, das heißt, eine Form der Beziehung zum Raum anzuerkennen. Wie wir gesehen haben, nähert sich Bourdieu der Frage durch den Begriff der Exklusion beziehungsweise eines Außen, das einem normalen sozialen Inneren gegenübersteht. Die Prekarität wäre demnach ein Dispositiv des Ausschlusses und der Kampf gegen die Prekarität folglich ein Kampf für soziale Inklusion. Ein solcher Kampf um Inklusion, der auf »internationaler Ebene« (Bourdieu 1998: 101) nur durch die Wiedervereinigung der Bereiche von Arbeit und Nicht-Arbeit möglich wäre, hätte es Bourdieu zufolge erlaubt, jenes Mindestmaß an Zukunftsvorstellungen zurückzugewinnen, die für jeden subjektiven Befreiungsentwurf notwendig sind: das heißt ein normales Verhältnis zur Zeit (vgl. Bourdieu 1998: 101f., 96f.). Diese Annahme soll hier zur Diskussion gestellt werden. Denn tatsächlich scheint sie im Grunde eine Reaktion zu sein beziehungsweise sich aus der Differenz zu einem System von stabiler, örtlich festgelegter und durch moderne Formen der Politik organisierter Lohnarbeit abzuleiten. Greifen wir also erneut die drei Koordinaten von Bourdieus Kartographie des prekären Subjekts auf: Zeit, Raum und Kraft. Und fragen wir uns zunächst: Stimmt es, dass das prekäre Subjekt der Zukunft beraubt und dazu gezwungen ist, in einer sich immerzu wiederholenden ewigen Gegenwart zu leben? Ist es wirklich die Zukunft beziehungsweise eine mögliche Perspektive, die den Prekären fehlt? Auf den berühmten Seiten, die Michel Foucault der Analyse des Neoliberalismus gewidmet hat, ist bekanntlich ein wichtiger Teil den ersten Theoretikern des Humankapitals vorbehalten (vgl. Foucault 2004). Im Unterschied zu den klassischen liberalen Regierungssystemen und der modernen Industriewirtschaft bringt der anbrechende Neoliberalismus, Foucault zufolge, eine hohe Flexibilisierung des Produktivkörpers mit sich. Diese ist dem stetigen Bemühen geschuldet, die qualitativen Unterschiede der Arbeit zu optimieren, oder, um genauer zu sein, dem (für Foucault allerdings illusorischen) Versuch, das gesamte Handeln des Subjekts an das rationale und nutzenorientierte Verhaltensmuster der Ökonomie zurückzubinden. Entgegen der Vereinheitlichung und Vermassung, die typisch für planwirtschaftliche Regierungssysteme sind, nahmen die neoliberalen Theoretiker an, es ließe sich ein komplexes Spiel zwischen Freiheit und Grenzen erschaffen, das die Normalisierungsmechanismen der Disziplinargesellschaft von einem juristischsouveränen Ursprung her neu definiert. Statt die Gesellschaft zu homogenisieren, müssten jetzt die Differenzierungssysteme optimiert sowie die Praktiken von Min-
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derheiten toleriert und aufgewertet werden. Dabei gelte es jedoch, ständig in ebenjenen Handlungsbereich einzugreifen, um »das Feld der ›Rationalisierbarkeit‹ von Verhalten« (Tazzioli 2011: 125) zu bestimmen und so den einzelnen ökonomischen Gewinn zu maximieren (vgl. Foucault 2004: 300-330; Tazzioli 2011: 125). In seiner Vorlesung vom 14. März 1979 analysiert Foucault die Theorien zum Humankapital, die wesentlich dazu beitragen, die Logik der Prekarisierung von Arbeit zu verstehen (vgl. Foucault 2004: 300-330). Diese leiten sich von der Erweiterung der ökonometrischen Ansätze auf das gesamte individuelle Handeln ab: Der Arbeiter ist Unternehmer seiner selbst und dazu angehalten, in sich selbst zu investieren, da jede von ihm getroffene Entscheidung quantifiziert, optimiert und in den Wertschöpfungsprozess eingebunden werden kann. Die ständige Weiterbildung ist hier von besonderer Bedeutung für die Produktion, da der Unternehmer, wie ein soziales Atom, all sein Handeln auf den Erwerb von neuem, auf dem Markt einsetzbarem Wissen ausrichten muss, das heißt, um seinen Bestand an Kompetenzen und menschlichen Ressourcen zur Aufwertung des Kapitals zu erweitern. Die Regel neoliberalen Verhaltens könnte in folgenden Begriffen ausgedrückt werden: Die individuelle Handlungsnorm besteht darin, nie dem nachzukommen, das zum Gewöhnlichen gehört, um auf diese Weise ein wettbewerbsfähiges, außergewöhnliches Ich aufzubauen, das sich aus der Optimierung eigener Ressourcen heraus als unternehmerisches Subjekt in allen Existenzbereichen behauptet. […] Die neoliberale Norm absorbiert auch diese Handlungsnorm, folgt dabei jedoch einer anderen Logik: Das Subjekt ist verpflichtet, frei zu sein. (Tazzioli 2011: 131) Bis hierhin ist die Geschichte bekannt. Ebenso bekannt ist der ›revolutionäre‹ Wert, den die Neoliberalisten der Chicagoer Schule diesem Ansatz zuschrieben, da er einigen zufolge dazu bestimmt sei, die individuellen Kräfte aus dem Netz der öffentlichen und staatlichen Macht zu befreien. Jedoch teilt Foucault, wie Luca Paltrinieri und Martina Tazzioli bemerkt haben, den Enthusiasmus der Neoliberalisten nicht (vgl. Paltrinieri 2013; Tazzioli 2011: 134). Er versucht im Gegenteil eine Politik der Wahrheit zu formulieren, welche die kritischen Punkte sowie die Auswirkungen von Macht und Unterdrückung des Neoliberalismus aufscheinen lässt und die historischen Prozesse und Machtbeziehungen beleuchtet, welche die normativen Kriterien des Neoliberalismus festgesetzt haben (vgl. Tazzioli 2011: 145). Da die komplexe Kritik Foucaults hier nicht in Gänze widergegeben werden kann, kehren wir zur Frage des Humankapitals zurück. Foucault zeigt durch seine Analyse, dass die Theorien zum Humankapital dazu führen, dass Kompetenzen stets als künftiges Potential verstanden werden: Gemäß den Dynamiken unternehmerischen Risikos hängt auch ihr Wert von der Erwartung auf zukünftige Einnahmen ab (vgl. Foucault 2004: 300-330). Das Humankapital, wie auch das Leben des prekären Subjekts, besteht aus Skills, deren Gebrauch
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und Nutzen immer auf die Zukunft verweisen und unbestimmt auf Kommendes projiziert werden, »wie ein ständig gebrochenes Versprechen, sodass die Erfahrung des Unternehmers seiner selbst eher einer Enteignung ähnelt als einem aus Arbeit erfahrenen Nutzen« (Paltrinieri 2013: 106). Im Gegensatz zu Bourdieu lässt sich also sagen: Den prekären Subjekten scheint die Gegenwart versperrt, da sie wie in einer perversen Wiedervorlage der modernistischen Fortschrittslogik immerwährend auf die Zukunft ausgerichtet sind. Der aus ihrer Arbeit resultierende Nutzen verschiebt sich auf einen nachgeordneten, zweiten Moment, der jedoch nie eintritt. Daher müssen die im Namen des Prekären geführten Verhandlungen und Konflikte darauf abzielen, sich die Gegenwart wiederanzueignen. Allein die Gegenwart darf der Ausgangspunkt für die Analyse und die politische Aktion sein. Hierzu müssen die aktuelle Lage anerkannt, alle Lesarten des Prekariats als mangelhaft abgelehnt und die konkreten Lebensbedingungen erneut in die Diskussion miteinbezogen werden. Es ist also nötig, die spezifische Verwurzelung des Subjekts anzuerkennen und eine ihm festgelegte räumliche Verortung zuzuweisen. Der Prekäre wird weder von der Produktion ausgeschlossen, noch lebt er in Verbannung von politischen Orten; auch wenn es stimmt, dass sein Verhältnis zum Raum anders ist als das des modernen Arbeiters (das sich in den dichotomen Begriffen Inklusion und Exklusion definieren lässt). Wie Guillaume le Blanc richtig erkannt hat, befindet sich der Prekäre auf einer Schwelle, welche Innen und Außen in sich vereint: Der Prekäre ist eingeschlossen, jedoch auf dem Wege der Exklusion; zugleich ist er aber noch durch die verschiedenen Netzwerke sozialen Schutzes und kraft seiner spezifischen Sozialisierungsfähigkeiten integriert (vgl. Le Blanc 2007: 19, 118-121; Le Blanc 2012: 417). Es handelt sich um eine Form des Lebens, die in der Aufteilung zwischen Drinnen und Draußen suspendiert ist. Der Prekäre ist eine Figur der Grenze. Entsprechend ändert sich auch die Fragestellung: Was sehen wir von der Position des Prekären aus, wenn wir die Arbeitswelt und deren Ausbeutungsdynamiken betrachten? Was geschieht, wenn wir die ›Grenze‹ als Methode verwenden?
Die Grenze als Methode Der dritte Punkt von Bourdieus Analyse, die Schwäche des produktiven Subjekts, kann auf dieser Ebene neu diskutiert werden. Die Grenze als Methode anzuwenden, bedeutet, vor allem eine Reihe neuer Konzepte einzuführen, um »die Veränderungen von Arbeit, Raum, Zeit, Macht und von Bürgerschaft zu erfassen, welche die Ausbreitung von Grenzen in der Welt begleiten« (Mezzadra/Neilson 2014: 23). Dies ermöglicht ein epistemologischer Chiasmus, das heißt die Schaffung eines Punkts, an dem sich die Konzepte von differenzieller Inklusion, Vervielfältigung
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der Arbeit, Gouvernementalität und Grenzkampf kreuzen. Es handelt sich hier jedoch nicht einfach um eine rein methodologische Frage: Die Methode hat mehr mit der Einwirkung auf die Welt als mit deren Erkenntnis zu tun. Genauer gesagt hat sie mit dem Verhältnis zwischen Handeln und Wissen zu tun – in einer Situation, in der verschiedene Regierungssysteme und Erkenntnispraktiken zueinander in Konflikt treten. Die Grenze als Methode schließt die Aushandlung von Grenzen zwischen unterschiedlichen Wissenstypen ein, die an der Grenze zu Tage treten, um so Licht auf die subjektiven Haltungen zu werfen, die in solchen Konflikten Form annehmen […]. Die Grenze kann insofern eine Methode darstellen, wenn sie als ein Ort des Kampfes konzipiert ist. (Mezzadra/Neilson 2014: 35) Richten wir den Blick erneut auf die Prekarität. Räumlich gedacht erweist diese sich nämlich keinesfalls als Exklusionsdispositiv, sondern über Konzepte wie ›Humankapital‹, ›Schulden‹ und ›Risiko‹ eher als das Feld einer differenziellen Inklusion im neoliberalen sozialen Zusammenhang (vgl. Mezzadra/Neilson 2014: 319). Der Nutzen der eigenen Arbeit wird in eine unendliche Reihe von Zukunftserwartungen projiziert. Die differenzielle Inklusion gleicht einem aktiven Selektionsprozess, der auf der Grundlage spezifischer Unterschiede die Singularitäten in der produktiven Maschine einschließt und definiert. Von diesem Gesichtspunkt aus kann die politische Aktion gegen Prekarität nicht in Begriffen des Kampfes gegen Exklusion oder für soziale Inklusion angelegt sein, da Prekarität selbst eine Form von Inklusion in das neoliberale Universum darstellt. Vielmehr muss die Genealogie dieses Zustandes rekonstruiert werden. Um was geht es? Wie Boltanski und Chiappello gezeigt haben, hängt die Krise des klassischen Lohnsystems, in dessen Zentrum die fordistische Fabrik stand, zu einem großen Teil von den Erfahrungen des Arbeiterkampfes der 1970er Jahre ab (vgl. Boltanski/Chiappello 2003). In jener Übergangszeit forderten neue Formen der Subjektivität – auf Grundlage der Zunahme der vergesellschafteten Produktivkraft, ihrer Diversifizierung und Heterogenität – die Veränderbarkeit, Flexibilität und Mobilität von Arbeit (vgl. Boltanski/Chiappello 2003: 213ff.; Mezzadra/Neilson 2014: 118-119, 166). Auf diese Art und Weise äußerten die Arbeiter ihre Ablehnung der kapitalistischen Führung. Diesen ersten Übergang, den Mezzadra und Neilson über das Konzept der ›Vervielfältigung von Arbeit‹ definieren, sollten wir von nun an im Hinterkopf behalten. Gewiss stellen die Konflikte der 1960er und 1970er Jahre, welche einen flexibleren Arbeitsrhythmus und Arbeitszeitreduzierung fordern und die später vom Kapital durch Flexploitation absorbiert werden, eine spezifische Technik dar, mittels derer die neoliberale Gouvernementalität sich auf soziale Arbeit ausweitet und sie zergliedert, normiert, definiert, kanalisiert und in einen Käfig sperrt. Doch gerade dies zeigt, dass es inakzeptabel ist, das prekäre Subjekt als schwach zu definieren.
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Prekarität wird von juristischen und vertraglichen Systemen hervorgebracht, die darauf abzielen, eine produktive Kraft, die sich vervielfältigt und differenziert hat, einzugrenzen und auszubeuten. Das produktive Subjekt ist kein armes Subjekt, sondern ein reiches, gerade weil es vielfältig und heterogen ist. Während die Arbeit ‒ aufgrund der gestiegenen Zusammenarbeit und der wachsenden Rolle von Gemeinschaftsfähigkeiten wie Wissen und Sprache, insofern sie Grundlagen der Produktion sind – zunehmend soziale Züge annimmt, haben sich die subjektiven Positionen vervielfältigt, sei es vom Standpunkt der Befugnisse und Kompetenzen her, sei es von den Bedingungen und juristischen Statuten her. […] Anstatt eine Gesellschaft als ein Ganzes zu verstehen, das durch die Arbeit aufgeteilt wird, müssen die Unterschiede, Unbeständigkeiten und die Vielfältigkeit erfasst werden, die sich auf die Arbeit auswirken und ihrerseits den Begriff von Gesellschaft fragmentieren. Diese Heterogenisierung der Arbeit spiegelt sich in der Flexibilisierung des Arbeitsrechts wider und wird von diesem gefördert. (Mezzadra/Neilson 2014: 122) Die Prekarisierung der Arbeit ist also nichts Anderes als eine Strategie, die auf das Gleichgewicht zwischen der Steigerung von Produktionskraft und der Ausdehnung von Arbeit einwirkt (vgl. Mezzadra/Neilson 2014: 121): Es geht, in marxistischen Begriffen gesprochen, darum, das Dispositiv der absoluten und relativen Mehrwertproduktion elastisch und verhandelbar zu machen, wie die Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit und die Beziehung von produktiver und unproduktiver Arbeit. Diese Elastizität und Verhandelbarkeit des Arbeitsverhältnisses rühren also aus einer starken Zunahme von Arbeitskraft und -umfang, denn die umfangreiche Vergesellschaftung der Arbeit passt nicht mehr in das Schema industrieller Arbeit und kann nicht mehr nach dem Kriterium der Arbeitszeit bemessen werden. Hier zeigt sich das Paradox der prekären Lebensbedingung: Während sich das Ausbeutungsverhältnis vollkommen auf das Lebende ausdehnt, verringert sich jedoch der dem Arbeiter gezahlte Lohn. Intensivierung und Ausdehnung der Arbeitsausbeutung halten sich nicht mehr das Gleichgewicht. Immaterielle, postfordistische, kognitive, kommunikative, affektiv-emotionale Arbeit – all dies sind bekannte Begriffe, die den Widerspruch zwischen mobiler und flüssiger Form des Lebenden und den Produktionsverhältnissen definieren (vgl. Fumagalli 2007; Hardt/Negri 2004; Virno 2005). Diese Arbeit ist hinsichtlich des Ausbeutungsverhältnisses prekär oder befristet, aber hinsichtlich der spezifischen Arbeitsbedingungen ist sie beständig: Das gesamte Leben wird als Humankapital kodifiziert, das nicht verschwendet werden darf (auch wenn es das oft wird), und ist dazu verpflichtet, nach der Logik der abstrakten Arbeit, Arbeit zu generieren. Allerdings kann die Verallgemeinerung der abstrakten Arbeit nicht den Abstand aufheben, der sie von der lebendi-
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gen Arbeit trennt. Auf der einen Seite vergrößert sich dieser Abstand in den aktuellen Prozessen und Formen von Arbeit und in diesem Sinn spielt seine Vervielfältigung die Rolle des divide et impera. Auf der anderen Seite hat die lebendige Arbeit aber noch die Möglichkeit, ihre eigene Unterordnung unter die Norm der abstrakten Arbeit abzulehnen oder sie zumindest zu verhandeln. (Mezzadra/Neilson 2014: 124) Mezzadra und Neilson führen diesen Zustand entschieden auf die Krise der kapitalistischen Bemessung von Arbeitswert zurück (vgl. Mezzadra/Neilson 2014: 120), das heißt, bei der Bemessung von Arbeit wird die sozial notwenige Produktionszeit nicht berechnet. Wie gesagt: immaterielle, kognitive, kommunikative, affektivemotionale Arbeit. Aber wie soll diese Arbeit nun also entlohnt werden? Wie sollen ihr Wert gemessen und die Kosten definiert werden? Wie kann der angemessene Lohn für eine im Bereich der Reproduktion tätige, soziale und kooperative Arbeitskraft bestimmt werden, deren Tätigkeit tendenziell mit dem Leben selbst zusammenfällt? Dass das klassische Lohnsystem unter diesen Bedingungen in eine Krise eintreten musste, scheint offensichtlich oder logisch evident. Schwieriger ist es jedoch, diese Veränderung wahr- sowie anzunehmen und eine neue Rechtsgrammatik zu konzipieren, die imstande ist, die außerhalb der Fabrik verrichtete Arbeit ganz in sich abzudecken. Wenn neoliberale Politik die aufgewendete Arbeitszeit jedoch nicht entsprechend entlohnt, sondern allein Finanz- und Schuldengesetzen folgt, so dreht sich der Kampf um Teilhabe am Raum des Kapitals zwangsläufig auch um die Regeln der Finanz- und Einkommensverteilung sowie um die Institutionen des Wohlfahrtsstaates: also um die Reproduktionsbedingungen. Der Reproduktionskreislauf entspricht hier dem subjektiven Produktionsraum: Lebensraum, gemeinsamer und kooperativer Schöpfungsraum, Konfliktraum. Damit soll die These gestützt werden, dass eine einfache Erhebung der prekären Lebensformen in Begriffen der Unterwerfung zumindest unvollständig ist. Pierre Macherey hat hervorgehoben, dass die kapitalistische Governance von Arbeit dazu tendiert, alle vertraglichen Regeln und Dispositive abzulehnen, welche die Dynamik des Produktivkörpers erstarren lassen, um die lebendige Arbeitskraft mit den spezifischen, performativen, ihm von Mal zu Mal zugewiesenen Aufgaben und Ebenen zusammenfallen zu lassen. Macherey schreibt: »Der Kapitalismus betrachtet die Arbeitskraft wie ein wildes Tier, das man zu zähmen versucht, sodass es überraschende Aufgaben durchführen kann, zu denen man es auf den ersten Blick nicht für fähig gehalten hätte« (Macherey 2012: 42). Hier wirkt die Prekarisierung der Arbeit wie ein Dispositiv zur Herstellung gelehrig-nützlicher oder kontrollierter Körper. Wenn der Kapitalismus den Produktivkörper aber zähmen muss, dann weil er zuallererst dessen wilde Natur anerkennt, also: seine Kraft. Erst diese Grenze,
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diese Erkenntnis ermöglicht, das Profil ebenjener politischen Subjektivität nachzuzeichnen, die hier bereits durchscheint. Mit Mezzadra und Neilson soll noch einmal betont werden, dass »die Subjektivität ein Schlachtfeld ist, auf dem sich unterschiedliche Unterwerfungsdispositive mit Subjektivierungspraktiken auseinandersetzen müssen« (Mezzadra/Neilson 2014: 320). Das von uns gesuchte politische Subjekt wird gewiss immer von Machtverhältnissen hervorgebracht, aber es wirkt immer auch konstituierend, weil »es von einem Überschuss charakterisiert wird, der ihm nie genommen werden kann« (Mezzadra/Neilson 2014: 320). In jedem Fall versucht der Ausbeutungsmechanismus genau auf diesen Überschuss einzuwirken. Das produktive Subjekt ist stark, es stellt die Welt her und ist fähig, Reichtum zu produzieren.
Von der Unterwerfung zur Subjektivierung Fassen wir also zusammen und versuchen wir, einen vorläufigen Schluss zu ziehen. Das Subjekt, das sich am Rande des Dispositivs der Prekarisierung von Arbeit erahnen lässt, zeichnet sich insbesondere durch Kraft und Überschuss aus. Noch sind die lebendige Arbeit, die Produktionskörper und ihr Zusammenwirken – klassisch formuliert ‒ eine exklusive Produktivkraft. Diese Kraft unterliegt der Differenz, Vervielfältigung und Ausdehnung und steht nicht außerhalb der kapitalistischen Verhältnisse, sondern wurde von diesen mithilfe des juristischen Vertrags (in seiner formalen Entfaltung und Verbreitung) absorbiert: Sie steht im Dienste der Mehrwerterzeugung und des Abschöpfungsprozesses. Verbleiben wir einen Moment bei diesem Aspekt: Das Kapital vergesellschaftet die Arbeit, verbreitet sie und dehnt ihre Kraft aus. Jedoch stellt diese Sozialisierung in ihrem Kern ihren eigenen Widerspruch dar, da sie nunmehr einzig von einer kritischen, begrenzten, regionalen Rationalität aufgehalten werden kann. Entsprechend ergibt sich eine neue Aporie: auf der einen Seite das Übermaß an sozialer Produktivität und auf der anderen die Grenzen und Schranken des Kapitals. Wie lassen sich vor diesem Hintergrund alternative und widerständige Subjektivierungserfahrungen fördern? Unsere Analyse sollte sich hier vor allem in Bescheidenheit üben. Wenn man die Grenze ‒ auch im Hinblick auf Prekarität als Lebensform ‒ als Methode verwendet, muss man die Diskussion aus einer abstrakten Modelltheorie befreien und die Konzepte an Praktiken messen und Kämpfen aussetzen. Diese Methode lehrt eher, auf die Welt einzuwirken, als sie zu erkennen. Daher ist sie vor allem ein Weg, die überhistorischen und allgemeinen abstrakten Kategorien der klassischen Disziplinen zu zerlegen. Das bedeutet im Prinzip auch, dass der Postfordismus keine bloße Fortsetzung des Fordismus darstellt, denn er potenziert diesen nicht:
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Neue Hierarchisierungen, neue differenzierte Beschäftigungsverhältnisse, neue Beziehungsarten von Selbstwahrnehmung und kollektiven Praktiken durchdringen heute die Zusammensetzung von lebendiger Arbeit. Diese wird zunehmend und tiefgreifend heterogen, je mehr der Kapitalismus in seiner Entwicklung dazu tendiert, die Arbeit zur eigentlichen Substanz menschlicher Aktivität zu machen. […] Wenn es wahr ist, dass die neoliberale Gouvernementalität die Produktion des Subjekts entscheidend durchdringt, wobei sie individuelle Haltungen und kollektive Antworten verfolgt und hervorruft, dann muss die kritische Reflexion auf ebenjener Schwelle Stellung beziehen. (Chignola/Mezzadra 2012: 81) Innerhalb der neoliberalen Maschine gilt es, die Kommandoformen als Kräfteverhältnisse zu erkennen. Daher darf die Lesart Foucaults nicht vergessen werden: »Die Macht ist in Wirklichkeit eine Gesamtheit von […] Beziehungen, die sowohl die Mystifizierung einer über das Kommando verfügenden Führung, als auch grundlegende Elemente von Freiheit einschließen« (Negri/Revel 2012: 87). Das Kommando über die Arbeit – mittels Prekarisierung – ist demnach als Mystifizierung jener dauerhaften Freiheit zu begreifen, die sowohl den sozialen Beziehungen als auch dem über sie befehlenden Machtapparat innewohnt. Und dennoch ist sie gerade deswegen wesentlich in der Lage, die Gesellschaft zusammenzusetzen und zu organisieren. Auf der einen Seite ist gewiss die stetige Transformation der räumlich-zeitlichen Grundlagen des produktiven Subjekts, der Arbeitsleistungen und der daraus hervorgehenden Lebensformen zu verfolgen. Die Arbeitsorganisation unter der Ägide des Ausbeutungsverhältnisses zeigt uns die biopolitische Anlage der Gesellschaft, die spezifische Gestaltung der Abstraktion sozialer Mehrarbeit und auf diesem Weg die Schaffung finanzieller Profite (vgl. Negri 2008). Und doch muss man zugleich mit Negri übereinstimmen: »Wenn Arbeit intellektuell ist, so ist Freiheit ein unabdingbares Element; wenn Arbeit kooperativ wird, wird sie durch Gleichheit charakterisiert: Ohne Freiheit und/oder Gleichheit gibt es mittlerweile keine produktive Arbeit mehr. Vergleicht man die Arbeit mit dem kapitalistischen Kommando, so wird sie zunehmend mächtiger« (Negri 2012: 181). Subjektivität rührt aus der Objektivierung der sozialen Beziehung wie auch aus der Aufteilung und Segmentierung der Arbeitskraft. Aber diese Subjektivität ist auch immer widerständig: »Sie produziert sich selbst frei, durch Überschuss« (Negri/Revel 2012: 89). Dies erfolgt nicht kraft irgendeiner abstrakten Hoffnung oder weil der Hang zum tendenziellen Zusammenbruch des auf Profitsteigerung abzielenden Ausbeutungsverhältnisses ‒ oder der finanziellen Renditen ‒ utopisch interpretiert wird, sondern weil gerade die technologische Mechanik des Ausbeutungssystems eine solche Kraft, das heißt diesen Überschuss, verlangt. Das Kapital braucht diesen Antagonismus, um sich selbst aufzuwerten (vgl. Negri 2008: 125). Im Biokapitalismus gibt es Kräfte, die kämpfen, indem sie produzieren. Entspre-
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chend ist der subjektive Antagonismus nicht nur möglich, sondern notwendig. Daher sind nicht alle Positionen annehmbar, welche die Prekarisierung von Arbeit als schwach, unvollkommen und unterworfen deuten. Die Frage muss vielmehr lauten: Wie kann die Emanzipation dieses produktiven Subjekts gedacht werden? Mit welchem konzeptuellen Raster? Sind Emanzipationsparadigmen nützlich, wie sie sich im vergangenen Jahrhundert herausgebildet haben, vor allem in den Debatten um das Begriffspaar Exklusion/Inklusion? Ich denke nicht. Erstens, weil dann ein stabiler, sozialer und politischer Rahmen Voraussetzung wäre, der von an Arbeit geknüpfte Bürgerschaft, Nationalstaaten und -verfassungen gekennzeichnet ist und in den man zurückkehren kann. Zweitens, weil diese Paradigmen angesichts der Ungleichheiten, Unterschiede, Einzigartigkeiten und der Vielfältigkeit, welche die Produktion von politischer Subjektivität heute kennzeichnen, schwach und ungenügend sind: [Die prekäre Subjektivität] greift ebenso heftig wie schnell an, um sich dann sofort in ihr eigenes Gebiet zurückzuziehen, das vor allem den Parteien und Gewerkschaften unbekannt ist. Sie lässt sich nie ganz nieder. Vielmehr macht es den Eindruck, als prüfe sie die eigene (noch zu schwache) Kraft und die Kraft des (noch zu starken) Empires, um sich sofort danach zurückzuziehen. (Lazzarato 2014: 11) Um Unterwerfung in Subjektivierung zu verkehren, muss also eine Kartographie dieser Angriffe, Kämpfe und Grenzüberschreitungen geschaffen werden, die im Vergleich zu jener normativen neoliberalen Karte steht. Prekäre Subjektivität kann nur beschrieben werden, wenn man den Blick auf das Innere ihrer spezifischen Bewegungen richtet. Zweitens ist sie nicht, wie vorab erwähnt, von einer ›anderen‹, sie unterdrückenden Macht zu befreien oder zu emanzipieren, indem man sie wieder in das Rechtssystem eingliedert – zumal ja ein Teil des Ausbeutungsdispositivs aktuell in der differenziellen Inklusion in die herrschende soziale Ordnung besteht und durch den Arbeitsvertrag in Kraft gesetzt wird. Vielmehr müssen dringend Praktiken implementiert werden, die von der Ordnung des FlexploitationDiskurses abweichen: Es gilt, die Produktionszeitbemessung aufzulösen und so die Arbeit zu befreien; es gilt, die gemeinschaftliche Kooperationskraft in die Forderung nach Einkommen und Wohlfahrt zu verwandeln und die Arbeitsmigration in Mestizierung. Wie Judith Revel vorgeschlagen hat, geht es darum, »unser Konzept von Emanzipation zu verändern« (Revel 2012: 7) und Emanzipation und Subjektivierung gemeinsam zu denken: Befreiung und Praktiken der Freiheit können nicht getrennt werden. Kritik und Inauguration des Existierenden müssen die zwei Gesichter der Emanzipation sein; Entmachtung und konstituierende Macht, Empörung und Erfindung, déjà là und ontologische Macht. Es ist gerade diese Kreuzung von geschichtlichen und räumlichen Bestimmungen und von bedingungsloser Macht, die heute den Raum für
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Marco Assennato
einen radikalen Demokratieversuch umreißt. Doch jene positive Ontologie muss noch praktisch umgesetzt werden: Es gilt also, die Ärmel hochzukrempeln. (Revel 2012: 7)
Aus dem Italienischen von Daniel Fliege
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Zur Doppellogik der Gegenwart: Spatial turn und Zeichen der Zeit1 Giacomo Marramao
Vorwort: Weltgesellschaft oder globaler Raum? Der Begriff ›Weltgesellschaft‹ hat längst Einzug in den gegenwärtigen Sprachgebrauch der Soziologie und der Kommunikationswissenschaft gefunden. Im Zuge der Debatte um die wirtschaftliche und finanzielle Globalisierung und die Netzgesellschaft (vgl. Castells 1996) hat er sich als einer der Schwerpunkte durchgesetzt, die die charakteristischen Merkmale unserer Gegenwart kennzeichnen. Wir dürfen uns jedoch nicht von der Tatsache täuschen lassen, dass dieses Syntagma erst kürzlich geprägt wurde. Konzeptuell eingeführt wurde das Phänomen der Weltgesellschaft beziehungsweise World Society bereits weit vor dem Fall der Berliner Mauer und dem damit einhergehenden Ende des bipolaren Systems, welche den Diskurs um das Problem einer Mondialisierung neu entfachten (vgl. Burton 1972; Stichweh 2000). Man denke nur zurück an die wirtschaftsgeschichtliche Kategorie des Weltsystems von Immanuel Wallerstein (vgl. Wallerstein 1974-1989) oder, im Kontext der rechtspolitischen Theorie, an die Ideen eines planetarischen Nomos und einer civitas maxima, die der Polemik zwischen Carl Schmitt und Hans Kelsen entsprangen und tief in der großen mitteleuropäischen Diskussion der 1920/1930er Jahre um die Staatskrise und den Untergang des Abendlandes verwurzelt waren (vgl. Marramao 2012). Geht man noch weiter zurück, so trifft man auf die Kontroversen rund um die Weltgeschichte, die sich von Hegel und Marx, von Burckhardt und Nietzsche und von Weber bis zur Frankfurter Schule sowohl auf die Phänomene der Rationalisierung und der Massengesellschaft konzentriert, als auch auf aufklärerische Dispute um den Kosmopolitismus und die kantische Vorstellung einer kosmopolitischen Republik und auf die Wiederaufnahme klassischer Begriffe wie ius gentium und communitas humani generis, die aus Zeiten der Eroberung der Neuen Welt durch 1
Dieser Text bezieht sich auf argumentative Thesen, die ich auf diversen Konferenzen in Italien und im Ausland hervorgebracht und im Anschluss in ausgearbeiteter Form in der dritten Auflage meines Buches Dopo il Leviatano. Individuo e comunità (Marramao 2013) dargelegt habe.
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Spanien und England stammen (vgl. Bödecker 1982). Die Öffnung der Meere und der damit verbundene Zusammenbruch der damaligen territorialen Logik trafen das 16. und 17. Jahrhundert mit gewaltiger Sprengkraft: Die neue Räumlichkeit einer Welt, die plötzlich eine Kugel war, die man umrunden konnte, zeigt, dass die Globalisierung keineswegs eine »Konsequenz der Moderne« (Giddens 1990) ist, sondern im Gegenteil ihre Voraussetzung. Worin besteht also der eigentümliche Charakter unserer globalen Gegenwart, in der wir leben, denken und handeln? In einem Kommentar, der 1928 verfasst und dann mit anderen Gedanken zur großen Transformation in der Zeit zwischen beiden Weltkriegen zusammengetragen wurde, beobachtete Paul Valéry, dass die Phänomene unserer Epoche durch eine ›Verschiebung der Maßstäbe ohne Beispiel‹ verkompliziert werden, die so gravierend ist, dass sie eine Verschiebung der Ordnung der Dinge bewirkt: Die Welt, der anzugehören wir, Menschen wie Nationen, uns anschicken, ist nur mehr eine Ähnlichkeitsfigur jener Welt, die uns vertraut ist. Da sich das Ursachensystem, das die Geschicke eines jeden von uns bestimmt, nunmehr über den ganzen Erdball streckt, wird dieser daher auch bei jeder Erschütterung als ganzer in Mitleidenschaft gezogen; Fragen, die umgrenzt blieben, weil sie auf einen Punkt begrenzt waren, gibt es nicht mehr. (Valéry 1995: 173) Valérys radioskopischer und antizipierender Blick treibt uns heute zu einer ergänzenden Untersuchung an, die Klarheit über den Begriff der Globalisierung schaffen soll: ein allgegenwärtiges Lemma, das entweder als undifferenziertes Sammelbecken für verschiedene Phänomene oder als Passepartout-Formel funktioniert, die sowohl der Lobpreisung des ›Neuen‹ als auch dessen radikaler Ablehnung dienlich ist. Die Vorhersage vollendeter Tatsachen ist bekanntlich eines der typischen Merkmale der postmodernen Strömung. Dies hat sich pünktlich am Folgetag des 11. Septembers erneut bewahrheitet: als sich die eifrigen Ex-Post-Propheten der ›geistigen Situation der Zeit‹ darum rissen, das Ende des langen ›Streiks der Ereignisse‹ (nach der stimmungsvollen Bemerkung von Jean Baudrillard, der sie sich von dem argentinischen Autor Macedonio Fernández auslieh) oder − aus der entgegengesetzten Perspektive − das Ende ebendieser Globalisierung zu verkünden. Allerdings sind diese vielseitigen Kategorien oft auch uneindeutig. So kommt es, dass ebendiese Interpretation der Globalisierung im Sinne einer Homologation und eines ›Einheitsdenkens‹ den Weg für axiologisch antithetische Beschreibungen ebnen konnte: sowohl positive (man denke an Francis Fukuyama, der die These eines Endes der Geschichte als Lösung der fundamentalen Konflikte und Anbruch der Universalherrschaft des Wettbewerbs und der Zweckmäßigkeit des Markts erneut aufgriff) als auch negative (etwa Serge Latouches These der Globalisierung als Verwestlichung der Welt). Und so kommt es auch, dass, abgesehen von der Ausgangsposition (new global oder no global), die Globalisierung zum Streitobjekt zwischen
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kontinuistischen und diskontinuistischen Positionen wurde, das heißt zwischen jenen, die eine Dynamik der wirtschaftlichen Interdependenz und der kulturellen Integration letztendlich mit derselben Weltgeschichte übereinstimmend sehen, und anderen, für die diese einem wahrhaftigen epochalen Bruch gleichkommt. Aus ersterer Perspektive wäre die gegenwärtige Globalisierung, trotz ihrer unbestreitbaren Fülle und Relevanz, nur das erste (provisorische) Kapitel einer Reihe von sukzessiven Globalisierungen, die den Zivilisationsprozess prägen: Globalization is not new, nor is it just Westernization: Over thousands of years, globalization has progressed through travel, trade, migration, spread of cultural influences and dissemination of knowledge and understanding (including of science and technology). The influences have gone in different directions. For example, toward the close of the millennium just ended, the direction of movement has been largely from the West to elsewhere, but at the beginning of the same millennium (around 1000 AD), Europe was absorbing Chinese science and technology and Indian and Arabic mathematics. There is a world heritage of interaction, and the contemporary trends fit into that history. (Sen 2001: 10) Aus letzterer Sicht bedeutet die Globalisierung hingegen einen unwiderruflichen Bruch mit begrifflichen und symbolischen Konstellationen der modernen Philosophie und Politik. Kategorien wie Staat, Volk, Souveränität oder Nation oder Gegensatzpaare wie Mitte/Außen, Zentrum/Peripherie, öffentlich/privat et cetera wären bereits, wie Theodor W. Adorno es so lebhaft beschrieb, als Begriffsleichen verendet, als bloße Überbleibsel eines vergangenen, unwiederbringlichen Paradigmas (vgl. Marramao 2016: 28). Für die Vertreter der diskontinuistischen These wäre die Globalisierung kein Prozess, sondern ein Ereignis. Folglich sollte man strenggenommen nicht mehr von einem Globalisierungsprozess sprechen, sondern vielmehr vom Anbruch (Advent) eines globalen Zeitalters, das sich strukturell und qualitativ von der Moderne unterscheidet. The Global Age has arrived und »[p]aradoxerweise beginnt deshalb die Globalisierung als umfassender historischer Prozess im globalen Zeitalter bereits an Bedeutung zu verlieren« (Albrow 1998: 171). Es ist schwer zu sagen, inwieweit die dargelegten Positionen Raum für zwei echte konkurrierende theoretische Paradigmen schaffen können. Momentan scheinen sie vor allem zwei Halbwahrheiten hervorzubringen, wobei die Möglichkeit einer Interaktion zwischen einem, meines Erachtens, entscheidenden Punkt des kontinuistischen Ansatzes Sens, oder besser gesagt der Kritik an der Gleichung Globalisierung = Verwestlichung, und dem Bedürfnis einer differenzierten Charakterisierung des Global Age, die aus Albrows diskontinuistischem Ansatz hervorgeht, unbescholten bleibt. Darauf basierend habe ich in meinen Werken der letzten Jahre eine philosophische Thematisierung der Globalisierung als Westpassage beziehungsweise als Übergang zum Westen dargelegt, wobei die Begriffe ›Passage‹
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und ›Übergang‹ gleichzeitig das Kontinuum und das Diskontinuum umfassen, den Prozess und die Wende (vgl. Marramao 2012). Hier stellt sich – für jene, die nicht bereit sind, sich in die mutmaßliche Selbstevidenz der idola fori einzugliedern – eine einleitende Frage: Inwiefern und zu welchen Bedingungen ist der Begriff Globalisierung effektiv in der Lage, die Fülle an Phänomenen zu umfassen, von denen er, mit mehr oder weniger deskriptiver Pertinenz, zweifellos zeugt? Und des Weiteren: Verrät die miteinbegriffene Ambivalenz seines Gebrauchs – mal als Forschungsobjekt, als ›tatsächliche‹ Dynamik von Ereignissen, mal als methodologisches Kriterium der Interpretation – nicht vielleicht seine Natur als bloßer Slogan, als leeres Wort? Um die Frage nach der Existenz einer globalen Gesellschaft beantworten zu können, müssen also zunächst die spezifischen Eigenschaften dieser Globalisierung identifiziert werden. Der erste Schritt besteht darin, die Bedeutung eines Begriffspaars zu bestimmen, ohne welches jeder Diskurs zum Thema Globalisierung droht, in Verallgemeinerungen und leere Worte zu verfallen: das Hendiadyoin global/lokal. Die Beziehung zwischen global und lokal wird für gewöhnlich auf drei Weisen verstanden: 1. Beziehung zwischen dem Ganzen und dem Teil 2. zwei gegensätzliche Arten der Integration: sozial (lokal) und systemisch (global) 3. unterschiedlicher Maßstab
Allerdings werden diese drei unterschiedlichen Interpretationen durch ein quantitatives Paradigma beschränkt, das das Große dem Kleinen gegenüberstellt, die globale Hegemonie dem lokalen Widerstand. So wird das Globale zur Gesellschaft, das Lokale zur Gemeinschaft. Doch die Logik der Größe ist, ob sie will oder nicht, immer auch eine Logik des Kontinuums, während es hier, ganz im Gegenteil, darum geht, den qualitativen Unterschied zwischen dem Globalen und dem Lokalen zu erfassen. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung tat neben Niklas Luhmann, in dessen systemischem Ansatz zur Weltgesellschaft sich die Unterscheidung global/lokal als paradoxe autoreflexive Einheit funktionaler Differenzierungen zeigte (vgl. Luhmann 1971), auch Roland Robertson mit seiner Definition des glocal als reziproke Interpenetration der Globalisierung des Lokalen und der Lokalisierung des Globalen (vgl. Robertson 1992). Um die Logik der globalen Gesellschaft gänzlich zu erfassen, muss man jedoch noch einen Schritt weitergehen und die sowohl komplementäre als auch konfliktreiche Polarität des Hendiadyoins global/lokal erkennen. Mit anderen Worten: Die gegenwärtige Globalisierung kann nicht im Licht einer Mono-Logik beschrieben werden, sondern verlangt im Gegenteil nach einer Bi-Logik, einer doppelten und simultanen Logik der technisch-finanziellen (und kommunikativ-digitalen) Uniformierung und einer Diaspora der Identität (oder
Zur Doppellogik der Gegenwart: Spatial turn und Zeichen der Zeit
besser gesagt: der Prozesse der symbolischen Identifizierung). Kann diese Doppellogik eine globale Gesellschaft hervorbringen? Sicherlich gibt es Assoziationen, Instruktionen, Wissensgemeinschaften, Organisationen und juristische Instanzen globaler Natur. Sicherlich gibt es eine Netzgesellschaft, doch ebendieses Netz, fernab davon, einer homogenen Sphäre zu weichen, bringt in seinem Inneren eine Vielzahl exzentrischer Gemeinschaften und ›öffentlicher diasporischer Sphären‹ hervor (vgl. Appadurai 1996). Auch die verstärkt auftretende Migration verändert zwar einerseits die soziokulturelle Zusammensetzung der Gesellschaft, produziert aber andererseits keine globale Zivilgesellschaft (vgl. Beck 1997; 1998), sondern führt vielmehr einen paradoxen materiellen Hybridisierungseffekt und eine symbolische Diaspora herbei. Um die Bedeutung dieser Bi-Logik zu verstehen, wie sie in Alejandro González Iñárritus Film Babel (2006) gut widergespiegelt wird, muss also der Fokus der Analyse vom Begriff der globalen Gesellschaft auf den des globalen Raums verschoben werden. Die Soziologen, die sich mit der Globalisierung beschäftigen, neigen dazu, Welt und Gesellschaft synonym zu gebrauchen, als wären sie an sich koextensive Dimensionen. Doch ist die unilineare Vision des Fortschritts und der Modernisierung erst einmal zerbrochen, ist die Welt nicht mehr das, was sie einmal war. Sie ist nicht mehr die Welt, wie sie sich der Westen vorstellt. Im neuen, nicht-euklidischen räumlichen Verständnis der Erde als Kugel ist das Lokale nicht mehr nur ein Teil, eine Schwelle des Widerstands oder eine Antithese des Globalen, sondern vielmehr dessen unsichtbare Seite. Je weniger sichtbar diese ist, desto mächtiger ist sie. Die Logik einer neuen globalen Räumlichkeit zu erfassen, ist also buchstäblich undenkbar, ohne eine bifokale Perspektive einzunehmen.
Spatial turn Versucht man, den Perspektivwechsel, der der Frage nach Existenz und Aufbau einer globalen Gesellschaft unterliegt, auf den Punkt zu bringen, wird man keine passendere Formulierung finden als die Folgende: auf der Suche nach dem verlorenen Raum. Wenn es ein Gespenst gibt, das heute auf unserer Erde umherspukt, die nun ein Erdball ist – eine gleichsam abgeschlossene und grenzenlose Welt, die mit den Karten der alten Navigatoren nicht erfassbar ist –, dann ist es ebendieser Geist des Raums. Nach dem langen Fortbestehen des anti-räumlichen Vermächtnisses der zeitzentrierten Geschichtsphilosophien scheint der Raum eine Revanche zu fordern, indem er sich als konstitutiver Faktor unseres Handelns und unseres konkreten, körperlichen In-der-Welt-Seins etabliert. Jeder Versuch, die Logik und die Struktur unserer Gegenwart zu erfassen, wäre unweigerlich verboten oder einem kläglichen Untergang geweiht, würde man die Mächtigkeit eines Bruchs abstreiten, dessen Einsatz eine perspektivische Umkehrung des Begriffs des Neuen und des Jenseits hervorruft, welche die Querelle
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zwischen Moderne und Postmoderne auf einen lexikalischen Konflikt um das paradigmatische Gefängnis der Zeit beschränkt hat. Trotz der Übernahme des Begriffs ›postmodern‹ von Seiten des Geographen Edward W. Soja (vgl. Soja 1989), der allgemein als Begründer der Theorie des spatial turn anerkannt ist, besteht der strittige Punkt nicht mehr in der Wahl zwischen dem ›Futurismus‹ des modernen Projekts und der Gegenwartzentriertheit (presentismo) des postmodernen Gegenentwurfs, zwischen einer zukunftszugewandten Zeit und einer solchen, die sich durch die serielle Wiederholung der Gegenwart verewigt. Der Kern der Fragestellung wird nicht mehr von Begriffen wie Überwindung oder Überschreitung (Begriffe, die der modernen Herrschaft der Zeit toto cœlo untergeordnet sind) widergespiegelt, sondern zeichnet sich eher als laterale Verschiebung ab, die das spatial thinking zu einem Weg werden lassen kann, der das Privileg des Zugriffs auf konkrete Lebensformen und Handlungen von Subjekten einer nicht-euklidischen Welt genießt, einer Welt, die jetzt nicht mehr auf eine ruhige Oberfläche (ausgehend von einer begrenzten Struktur, die aber dennoch unendlich ist) reduziert werden kann, sondern eine Kugel darstellt (strukturell geschlossen, abgeschlossen, aber dennoch grenzenlos). Die paradigmatische Umkehrung des euklidischen Raums zu einem topologischen liegt der Ausbreitung der Topik der Räumlichkeit zu Grunde, die in den letzten Jahren sowohl durch die Literatur- und die Kulturwissenschaft begünstigt wurde, als auch durch die Anthropologie, die Geschichts- und die Politikwissenschaft. Die räumliche Perspektive wird so zu einem transdisziplinären Verbindungsfenster, das in der Lage ist, wie es sich Aby Warburg zu seiner Zeit wünschte, der vieläugigen Überwachung durch die Grenzschützer traditioneller akademischer Disziplinen zu entgehen (vgl. Warburg 2008: 50). Die räumliche Wende wird oft als letztes Glied einer Reihe von Wenden dargestellt, die den Übergang zum 20. Jahrhundert gekennzeichnet haben: vom linguistic turn, über den cultural turn, bis hin zu ebendieser postmodernen Wende. Passenderweise unterstreicht Soja jedoch vor allem die Verstrickung mit der postkolonialen Wende, wie sie von Kritikern wie Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak, Homi Bhabha, Dipesh Chakrabarty und Arjun Appadurai thematisiert wird und die in der Lage ist, das Raumdenken durch eine Interaktion zwischen literarischer Komparatistik und Anthropologie und zwischen der Geschichte und ihrer philosophischen Reflexion zu erweitern (vgl. Fornari 2011). Weisen die detaillierten Ausführungen von Soja und anderen Vertretern des spatial turn ein Defizit auf (vgl. Warf/Arias 2009a), so betrifft dieses den fehlenden Bezug zum naturalistic turn und damit auch den zur wachsenden Relevanz der Probleme, die aus der Beziehung zwischen Ökosystem und Semiosphäre, zwischen Umwelt und wachsendem Bewusstsein entstehen. Dies ist nicht nur für eine Kritik am dominanten Entwicklungsmodell ein entscheidender Punkt, sondern auch dafür, um herauszufinden, inwieweit die Ungleichheit im Bewusstsein der Menschen heute zu einem noch
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dramatischeren Phänomen wird als die wirtschaftliche Ungleichheit und darüber hinaus zu einem Zuspitzungsfaktor dieser. Der perspektivische Umbruch trifft jene nicht unvorbereitet, die – im Bereich der Philosophie – seit den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts über die Notwendigkeit einer Rehabilitation des Raums reflektieren, um die Paradoxa der Zeit neu zu überdenken und der Zukunftskrise auf den Grund zu gehen (vgl. Marramao 1989; 1992; 2007). Oder jene, die sich für eine Geophilosophie aussprachen (von Deleuze und Guattari bis Massimo Cacciari) und als Ausgangspunkt eines neuen globalen Denkens das Bild der ›geschlossenen Welt‹ aufzeigten, wie es Paul Valéry getan hat (vgl. Valéry 1995: 153). Das Ende der Welt, welches die moderne Eschatologie als zeitliches Geschehen definiert hatte, entpuppt sich jetzt vor unseren Augen als räumliches Geschehen. Unsere Gegenwart ist die einer abgeschlossenen Welt, einer einzigen, einzigartigen, räumlich gesättigten Welt, in der nichts mehr geschehen kann, ohne dass es die gesamte Welt beträfe, nicht einmal im entferntesten Winkel des Planeten. Die spatial imagination befreit die Geographie von ihrer untergeordneten Rolle, auf die sie im 19. Jahrhundert von einer despatialisierten Sicht auf die Historie beschränkt wurde, die auf der Vorstellung von sukzessiven Entwicklungsstadien basierte und von einer ›orientalistischen‹ Nichtbeachtung der Vielfalt und Kontingenz von Wechseldynamiken geprägt war. Die räumliche Wende öffnet uns somit die einzige Tür zur ironischen Vergeltung der Globalisierung: In ebendiesem Moment, in dem der ›Tod der Distanz‹ im Sinne Sojas verordnet wird, erhält die Geographie eine neue strategische Relevanz, die weit über ihre traditionellen disziplinären Grenzen hinausgeht. Der Raum ist nicht nur ein passives Abbild sozialer und kultureller Tendenzen, sondern ein sie bestimmender Faktor. Er ist eine ›Lebenskraft‹, die unser Leben formt (vgl. Soja 2009: 11ff.) und die, mit dem Segen der history boys, nicht weiter von den Techniken und Methoden des Mainstreamakademikers gesteuert werden kann. Die Globalisierung präsentiert sich also als two-way street: eine bi-logische und bi-direktionale Struktur, in welcher die Uni-Diversität der Welt ein Abschiednehmen von der modernen Räumlichkeit und der Annahme eines nicht-euklidischen Raums impliziert. Vorab fungierte der euklidische Raum als Denkraster des größten Teils, allerdings nicht der Gesamtheit, der Formen moderner Wissenschaft und Politik: In dieser Hinsicht wird etwa die Figur des Leviathans von Hobbes bis Schmitt um den Begriff der Herrschaft als Spitze und Mitte eines territorial begrenzten Staates modelliert. Die gegenwärtig wachsende Wichtigkeit des Übergangs von einem euklidischen Raum zum topologischen Raum wird von einem Motiv begleitet, das in der internationalen Diskussion eine wichtige Rolle spielt: die Krise des topografischen Paradigmas. Trotz einiger Versuche, den topographical turn und den topological turn als ›Unterströmungen‹ mit der räumlichen Wende zu assoziieren (vgl. Bachmann-Medick
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2009: 284ff.), darf der genaue Unterschied zwischen dem topographischen und dem topologischen Paradigma nicht aus den Augen verloren werden. Wenn sich ersteres tatsächlich auf die Formen der Repräsentation des Raums konzentriert, bezieht sich letzteres auf die relationalen und positionellen Verflechtungen, in denen eine räumliche Konfiguration zum Ausdruck kommt. Die sogenannte Globalisierung – so lautet die These der Verfechter der Krise des kartographischen Paradigmas – kann nur ausgehend von der epistemologischen Relevanz des Übergangs von der Landkartenform zur Globusform verstanden werden: zu einer Form, die keine homogene, sondern eine heterogene Räumlichkeit fordert, keine kontinuierliche, sondern eine diskontinuierliche, keine isotrope, sondern eine anisotrope, keine unidirektionale, sondern eine polydirektionale.
Zeit-Raum Eines der charakteristischen Merkmale der Globusform ist das Phänomen der Spatialisierung der Zeit. Im Kontext der räumlichen Wende ergibt sich eine Schlüsselfunktion aus dem Konzept der spatialization of the temporal, eingeführt von Frederic Jameson, der die Postmoderne als logisch-kulturellen Hintergrund des Spätkapitalismus liest (vgl. Jameson 1991), und David Harvey, einem Geographen, der von den Achtzigerjahren an entscheidend dazu beigetragen hat, die neue räumliche Beschaffenheit eines globalen Kapitalismus, der gleichzeitig konzentriert (finanzielle Macht) und ausgebreitet ist (transnationale Produktionsketten und Vorgänge wie Outsourcing, Externalisierung und Tertialisierung, die von neuen digitalen Technologien begünstigt werden), zu umreißen (vgl. Harvey 1989). Neben der disjunktiven Synthese von Konzentration und Ausbreitung ist es jedoch nötig, das Konzept der temporalen Stratigraphie anzunehmen, um das Bild der Wende zu vervollständigen. In den Theorien des spatial turn führt der Begriff der Spatialisierung der zeitlichen Dimension zu einer stratigraphischen Sicht der Zeit, die leicht archäologisch anmutet und mittels eines Verweises auf Fernand Braudel und die heterogene Schule der Annales verdeutlicht wird (vgl. Braudel 1958). Aus einer anderen Perspektive, doch mit derselben ›spatialisierenden‹ Absicht, bezogen sich Deleuze und Guattari im Übrigen auf Braudel, um eine Parallele zwischen Geo-Philosophie und Geo-Geschichte zu ziehen: »Die Philosophie ist eine Geo-Philosophie, genauso wie die Geschichte für Braudel eine Geo-Geschichte ist« (Deleuze/Guattari 1996: 109). Wenn jedoch das stratigraphische Paradigma eine zweifellose Diskontinuität in Bezug auf die vielen Formen des Historizismus bedeutet, muss andererseits die Zäsur problematisiert werden, die von den Wortführern der räumlichen Wende im Zusammenhang mit einer zu reduktiv anerkannten Moderne ausgeht. Sollte die Topographie tatsächlich eine newtonsche Herkunft besitzen (absoluter und uni-
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former Raum), so hat die Topologie eine leibnizsche (nicht-substantieller Raum, aber relational und differential). Andererseits, wenn der Großteil der Vertreter der neuen Tendenz übereinkommt, Soja als Schlüsselfigur zu definieren, die den spatial turn ins Rollen gebracht hat, erkennt Soja selbst die einflussreiche Rolle und das theoretische Hervortreten der Wende als ›Pariser Revolution des Raumgedankens‹, die in den Werken von Michel Foucault und Henri Lefebvre erkennbar ist (vgl. Warf/Arias 2009b: 2ff.). Was Foucault betrifft, beziehe ich mich auf den Vortrag Von anderen Räumen, der am 14. März 1967 im Cercle d’études architecturales gehalten, jedoch erst im Frühling 1984 publiziert und anschließend als Einführung in das Konzept der Heterotopie bekannt wurde (vgl. Foucault 2015). Foucaults Ansatz versteht Alterität im engen Sinne. Heterotopien sind nicht sic et simpliciter ›andere Räume‹ – wie es eine allgemeine rhetorische Lobrede der Pluralität gerne hätte –, sondern ›Räume des Anderen‹. Es handelt sich also um eine andere Alterität, ja sogar eine diametral gegenteilige, als die ›andere Welt‹ der Utopie. Ist die Utopie die ›Insel, die es nicht gibt‹, ein idealer Nicht-Ort (ou-topia) oder Gut-Ort (eu-topia), per definitionem unauffindbar, so sind Heterotopien hingegen reale Orte: andere Räume, welche die Gesetze der normalen sozialen Räumlichkeit aufheben und umkehren. Im vorliegenden Fall denkt Foucault an sichtbare Gegen-Räume, die in ihrer Funktion differenziert und in einigen Fällen auch institutionell strukturiert sind: Hochschulen, Kliniken, Gefängnisse, Friedhöfe, Theater, Kinos, Hotelzimmer, verschlossene Häuser oder Heterochronien wie Museen und Bibliotheken (vgl. Foucault 2015: 324). Im Übrigen führte Foucault bereits in Die Ordnung der Dinge (Foucault 1971) eine radikale Unterscheidung zwischen Utopie und Heterotopie ein. Während Utopien Trost spenden und als idealer Ort sich in einem »wunderbaren und glatten Raum [entfalten]«, stiften Heterotopien Unruhe, indem sie »heimlich die Sprache unterminieren«, gemeinsame Orte zerstören und die Syntax zerrütten: »Die Heterotopien (wie man sie so oft bei Borges findet) trocknen das Sprechen aus, lassen die Wörter in sich selbst verharren, bestreiten bereits in der Wurzel jede Möglichkeit von Grammatik. Sie lösen die Mythen auf und schlagen den Lyrismus der Sätze mit Unfruchtbarkeit« (Foucault 1971: 20). Den Gipfel der Zeit stellt der Konferenzbericht dar, wie ein wahrer restloser Übergang von der Zeit- zur Raum-Kategorie: »Unsere Zeit ließe sich dagegen eher als Zeitalter des Raumes begreifen« (Foucault 2015: 317). Und weiter: »Jedenfalls glaube ich, dass die Beunruhigung heute ganz fundamental den Raum betrifft und weit weniger die Zeit. Die Zeit erscheint wahrscheinlich nur noch als eine der möglichen Verteilungen der über den Raum verteilten Elemente« (Foucault 2015: 319). Anstelle einer Epoche der linearen Abfolge, der Zeit des kumulativen Fortschritts, der gen Zukunft strebt und dorthin gedrängt wird, ist folglich eine Epoche der Gleichzeitigkeit getreten: »Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten.
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Die Welt wird heute nicht so sehr als ein großes Lebewesen verstanden, das sich in der Zeit entwickelt, sondern als ein Netz, dessen Stränge sich kreuzen und Punkte verbinden« (Foucault 2015: 317). Der Schritt in Richtung einer distinktiven und diskontinuierlichen Zeit unserer globalen Gegenwart ist insbesondere darin begründet, dass ihre Logik und ihre Fähigkeit des Selbstverständnisses nicht mehr von der Zeit repräsentiert werden, sondern vom Raum. Anstelle eines unitären Prozesses, der sich mit der Zeit entwickelt, tritt, Foucault zufolge, die Metapher des Netzes, das aus Punkten besteht, die miteinander verbunden sind und, um seine Begrifflichkeiten in eine andere Terminologie zu überführen und in ihr zu resümieren, die Vorstellung einer orthogonalen Zeit, die, im Gegensatz zum linearen, kumulativen, zukunftsorientierten Lauf der Zeit, senkrecht verläuft. Diese orthogonale Zeit umfasst simultan und koextensiv alle Asynchronien, Ungleichzeitigkeiten, Dissonanzen der Gegenwart, in ihrer spatialisierten Form der Zeitschichten (vgl. Koselleck 2000). Im saturierten Raum der ›endlichen Welt‹, die gleichsam dicht und heterogen ist, sind Heterotopien, um es mit Foucaults Worten auszudrücken, der Raum, in dem das Gespenst lebt und wo es zu einem Bruch kommt – auch auf dem Feld der Sprache –, der die paradoxe Logik unserer Gleichzeitigkeit verständlich macht, indem er die Syntax der Ordnung zerrüttet. Während es in den letzten Jahrzehnten sicherlich nicht an diversen Studien und Beiträgen zu Foucaults Heterotopien fehlte, wurde jedoch weitaus weniger über Lefebvres Triade des ›wahrgenommenen-konzipierten-gelebten Raums‹ (vgl. Lefebvre 2006) reflektiert: Mithilfe der Ausbreitung und Hervorhebung von Lefebvres Ansatz kann eine reziproke Einbeziehung zweier Vektoren vorgenommen werden: des Vektors der Sozialisation räumlicher Dynamiken und des Vektors der Spatialisierung sozialer Prozesse. Die Gesellschaft ist schon immer räumlich konfiguriert gewesen, so wie der Raum sozial konfiguriert ist. Sozialisation und Spatialisierung waren schon immer eng miteinander verknüpft, unabhängig und in Konflikt. Soja ist im Zuge seiner Abhandlungen über die neue ›postmetropolitische‹ Räumlichkeit zu dem Schluss gekommen, dass nicht nur soziale Prozesse die Geographie formen und erklären, sondern die Geographie auch zu einem noch größeren Teil die Prozesse und dieselben sozialen Handlungen beeinflusst. Um jedoch diesen Zusammenhang der Reziprozität zu verstehen, muss man über die konventionellen Grenzen der modernistischen Geographie hinausgehen (vgl. Soja 1996; 2000). Um Sojas Verweise auf die französischen Wurzeln der räumlichen Wende zu vervollständigen, kann man Bourdieus Gedanken zum strikten Zusammenhang zwischen räumlicher Ordnung und Macht nicht außer Acht lassen: In einer hierarchischen Gesellschaft gebe es keinen Raum, der nicht hierarchisiert und gleichzeitig als Naturalisierungseffekt getarnt ist (vgl. Bourdieu 1997; 1994). Ein ähnliches Motiv ist in Lefebvres Überlegungen zur Logik der Macht zu erkennen, die die Struktur der neuen städtischen Siedlungen steuert und sich durch eine antagonistische Unter-
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teilung in ›dominante Räume‹ und ›dominierte Räume‹ auszeichnet (vgl. Bourdieu 1997; 1994). Das Phänomen der Urbanisierung in der globalisierten Welt scheint vor allem durch eine sowohl distinktive als auch kontrastive Konnotation gekennzeichnet zu sein. Auf der einen Seite steht eine Dualität der Räume (Räume, in denen man lebt und Bindungen eingeht) und, um den trefflichen Begriff Marc Augés aufzugreifen, Nicht-Orte (Räume des Flusses und der Durchfahrt) (vgl. Augé 2010). Auf der anderen Seite steht eine Dynamik der Bildung von städtischen ›postmetropolitischen‹ Siedlungen, die sich zunehmend von territorialen Paradigmen des Nationalstaats abzugrenzen und andererseits immer abhängiger von der Logik zu werden scheinen, die die Gesamtheit der Warenform und der abstrakten Arbeit reguliert. Doch auch hier darf man die Doppelbewegung von Deterritorialisierung und Reterritorialisierung nicht aus den Augen verlieren, die die eigentliche Struktur der Welt darstellt. Wenn sich der Geld- und Informationsfluss auf irgendeine Weise dank der digitalen Technologien der ›realen Zeit‹ in den Cyberspace verlagert oder, besser noch, verschiebt, wobei prima facie die Übernahme der Metaphorik der Liquidität gerechtfertigt ist, könnte ebendiese Momentaufnahme der Flüsse nicht stattfinden, ohne die Existenz finanzieller Machtpole, die ebenso frei in ihren Bewegungen wie stabil kodifiziert in ihrer Logik sind. Doch es geht noch weiter. Diese Logik, weit davon entfernt, sich harmonisch oder funktional in ein Weltsystem einzufinden, scheint von einem endemischen Konflikt geprägt zu sein, der strukturell chaotische Auswirkungen herbeiführt, wodurch die Formel, rettend oder hegemonial, der globalen Governance in das Reich der erbaulichen Utopie oder der autoritären Dystopie verbannt wird. Es gibt jedoch noch einen letzten Punkt, der beachtet werden muss, wenn man die doppelte Bewegung erfassen will, die die Struktur der Welt ›nach dem Leviathan‹ hervorhebt. Eine Reihe von neuen Konfliktformen, die mit dem Raum des Wettbewerbs zwischen den corporations zusammenhängt (ein tödlicher Kampf, der dem hobbesschen Naturzustand näher kommt als dem liberalen Ideal einer perfekten Konkurrenz), ist auf der ganzen Welt aktiv. Sie werden durch das Aufkommen des Cyberspace veranlasst und sind auf die symbolische Dimension des Zugehörigkeitsgefühls zurückzuführen. Das Netz ist, bei genauerer Betrachtung, weder ein System noch eine Gesellschaft. Es bietet keinen Raum für eine einzigartige, homogene und kosmopolitisch unidirektionale Sphäre, sondern für einen labyrinthischen Raum, der sich durch eine exzentrische Pluralität von Räumen auszeichnet, durch neue imaginäre Gemeinschaften, die sich trotz ihres lokalen Wirkens im Grunde zu einer transterritorialen und diasporischen Logik verdichten (vgl. Marramao 2012).
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Die Inszenierung der Welt Angesichts dieser paradoxalen Gleichzeitigkeit von Gegensätzen stellt sich an diesem Punkt die unausweichliche Frage nach einer neuen Ordnung der Beziehungen, welche sich im neuen Rahmen der ›endlichen Welt‹ zwischen den beiden Dimensionen ›Zeit‹ und ›Raum‹ herausbildet. Beim Versuch, eine ausführliche Antwort zu geben, muss der Fokus von der Analyse auf den paradoxen Status unserer Gegenwart verschoben werden: auf die Verstrickung von Ereignissen und auf die verschiedenen Wirklichkeiten, in denen wir zufällig leben. Es handelt sich um ein doppeltes Paradox oder vielmehr um eines, das in zwei verschiedene Bereiche aufgespalten ist, in zwei Sphären, die zugleich unterschiedlich sind, aber auch miteinander in Kontakt stehen, die autonom sind und sich doch zugleich auch ergänzen: Repräsentation und Kommunikation. Ist denn vielleicht nicht etwa unsere globale Welt – diese Welt, die uns umgibt und uns herausfordert, in der die großen mit den kleinen, alltäglichen Ereignissen kreislaufartig miteinander interagieren –, die par excellence darstellbare Welt? Beziehen sich denn die Wörter ›Globus‹ und ›global‹ vielleicht nicht etwa auf den Begriff der Bühne, auf die Darstellung oder Inszenierung der Welt als Ganzes, als geschlossener Rahmen, als runde, unabhängige und umschiffbare Entität? Und liegt die Gestalt dieses Ganzen nicht vielleicht im Multimedia-Raum, im technologischen Pluriversum der globalen Kommunikation, in der allseitigen Simultaneität von Informationen, die wir augenblicklich erhalten oder versenden können? Und dennoch müssen wir die Anstrengung wagen, die uns jenseits des von der globalen Welt hervorgerufenen doppelten Scheins führt, wenn wir wirklich ebenjene andere Bühne erfassen wollen, die unter der Struktur unserer Gegenwart liegt. Bestimmen wir daher zunächst das Wesen jener doppelten, von der globalen Bühne hervorgerufenen Erscheinung. Zum einen besteht dieser Schein im Glauben, dass die Logik des Globalen (wenn auch erweitert und in diese eingeschrieben) in der modernen Herrschaft der Repräsentationslogik wiederzufinden sei. Zum anderen besteht sie in der ebenso verbreiteten Überzeugung, dass das Globale mit dem Bereich der Kommunikation zusammenfalle. Aber Tatsache ist, dass beide Überzeugungen aus der paradoxalen Logik und Struktur der globalisierten Welt herrühren, von einem zum globus gewordenen mundus: aus einer doppelten Logik und aus einer Kommunikationsstruktur, die nicht dialogisch, sondern konflikthaft, nicht erbaulich, sondern aporetisch ist. Versuchen wir also, trotz der Kürze, präziser zu sein. Wenn man von unserer Zeit als Epoche der Repräsentation spricht, denkt man sofort an Heideggers bekannte Definition der Neu-Zeit als »Zeit des Weltbildes« (Heidegger 2003). Die Moderne, die für Heidegger mit dem cogito Descartes’ einsetzt, bringe dem Freiburger Philosophen zufolge das ambivalente Stigma von Herrschaft und Reduk-
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tion mit sich. Diese beiden Begriffe gleichzeitig ins Feld zu führen, bedeutet, deren enge Komplementarität aufzuzeigen: mit dem Aufkommen einer neuen Ära, eines politischen und zugleich wissenschaftstheoretischen Projekts der Moderne. Die Neu-Zeit begründet die neue Herrschaft des selbstbewussten Subjekts auf der Reduktion der Welt zum Bild. Die Herrschaft des Subjekts steht direkt in Verbindung mit einem Dispositiv der Reduktion der Welt zum reinen Objekt der Darstellung und es hängt von diesem ab. Bleibt man bei Heideggers Sprachspiel der Welt als ›Gegen-stand‹, so lässt sich diese als etwas objektivieren, das dem subjektiven Bewusstsein oder dem perspektivischen Blick, der sich vor dem geistigen Auge öffnet, gegenüber oder entgegensteht. Auf diese Art und Weise fiele das Moderne mit etwas zusammen, das Jacques Lacans Spiegelstadium recht nah ist: im Sinne des Mirror of Nature, des Spiegels der Natur, von dem Richard Rorty seinerzeit bei seiner postmodernen Heideggerlektüre sprach (vgl. Rorty 1987). In anderen Worten: Die Herrschaft der Repräsentation rühre somit aus der Spiegelung der Welt, innerhalb der subjektiven Sphäre des cogito, und reduziert diese auf ihre pure, more geometrico bestimmbare Räumlichkeit und macht sie zu einem objektivierbaren Bündel von Beziehungen. Der Preis, den eine solche Reduktion mit sich bringt, ist leicht messbar anhand der drastischen Radikalität der Wende: Die Welt ist nicht mehr der Raum, in dem unser Leben stattfindet, es verschwindet ebenjene Dimension, welche unsere Schicksale als Menschen mit denen anderer und nicht-menschlicher Lebensformen unauflösbar verbindet. Sie verkehrt sich in ein Wissensobjekt, das sich rationalisieren, messen, berechnen und somit von den durch das Subjekt geschaffenen Dispositiven der produktiven Repräsentation – das heißt eine auf die Herrschaft des Welt-Objektes produktiv hin gerichtete Repräsentation – auch unterwerfen und formen lässt. Aber das ist – wieder einmal – noch nicht alles. Dieser Bruch, aus dem das Repräsentationsregime hervorgeht (wie gesagt, ein ambivalentes Regime, da zugleich politisch und epistemisch), führt auch zu einer ebenso radikalen Umkehr des Konzepts ›Erfahrung‹. Diese avanciert vom Immanenten zum Transzendentalen: Sie koppelt sich vom geistig und körperlich konkret Erlebten ab und zieht sich zurück in den abgetrennten (und methodisch begrenzten) Bereich des wissenschaftlichen Wissens und des technisch-produktiven Wirkens. Hierfür ist die Linie symptomatisch, die von Descartes zum kantischen ›Ich denke‹ führt, mit der klaren Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft: Kant zufolge gibt es keine Erfahrung praktischer Werte, zum Beispiel keine Erfahrung der Freiheit, sondern lediglich die (kritisch durch transzendentale Bedingungen begrenzte Erfahrung) stummer Ereignisse – ohne Worte und ohne Wert und daher messbar und gesetzmäßig –, die im Bereich physikalischer Faktizität stattfindet. Es gibt keine Erfahrung von symbolischen und emotionalen Ereignissen (verstanden in kulturell weitem Sinne) des Erlebten: aus dem einfachen, aber entschei-
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denden Grund, dass sie experimentell gesehen nicht stattfinden, über keinen Ort verfügen. Diese Ereignisse fallen in den Bereich der praktischen Vernunft: in eine absolute Sphäre – wörtlich herrschaftlich, souverän, legibus soluta –, da die physisch-kausale Erfahrung hier ganz von transzendentalen Einschränkungen gelöst ist. Es wäre absurd, die dieser Interpretation der Moderne innewohnende Suggestionskraft zu negieren: wo die Metapher der ›Lesbarkeit der Welt‹ (gemäß dem angemessen Syntagma Hans Blumenbergs) aus der objektivierten Welt eine (unterteilbare) Welt macht und wo sich die Herrschaft der Repräsentation – mit Wittgenstein gesprochen – in der Warnung auflöst, sodass die Welt in Stücke geht (vgl. Bernhard 1986). Es wäre aber ebenso absurd, sie zu unterschätzen; wir erwähnten bereits die Auswirkung und die deskriptive Zugehörigkeit, die im spatial turn radikal zum Ausdruck kommen. Wie einige italienische Geographen mit einer Fülle von Dokumenten und stichhaltigen Argumenten untermauern, ist es jedoch geboten, sich dieser Suggestionskraft zu entziehen (vgl. Gambi 1973; Farinelli 2009): Anstatt ein genuin modernes Phänomen zu sein, liegt die Herrschaft der Repräsentation in der westlichen Kultur bereits im Aufkommen der Geo-Metrie begründet (vgl. Serres 1993), das heißt, sie beginnt mit der Standardisierung von metrischen Parametern für die Aufteilung der Erde in Bezirke oder in Stadien (das griechische stádion ist nichts weiter als eine Leiter oder ein metrisches Intervall zur Entfernungsmessung) beziehungsweise für deren Limitation, wobei die strategische ratio entscheidend das sich herausbildende Wissensregime beeinflusst. Es wird deutlich, dass das Paradox des räumlichen Welt-Bildes in einer diametralen Umkehrung der Begriffe der Spiegelung besteht: Es ist nicht die Landkarte, die als Abbild der Welt fungiert, sondern es ist die Welt, die zum Abbild der Landkarte wird. Die objektivierende und unterteilende Kartierung der Welt ist also von einer longue durée (vgl. Braudel 1958). Aber das grundlegende Merkmal unserer globalen Gegenwart ist das zunehmende und irreversible Auseinanderbrechen des Repräsentationsregimes: Zu viele Ereignisse, Unterschiede, relationale Dynamiken und auftretende Konflikte entziehen sich der abstrakten Darstellung der Landkarte, mit ihren standardisierten Parametern zur Vermessung des Raums. Das Repräsentationsregime hat ausgedient. Folgt man der Doppellogik der endlichen Welt und ihren vielfältigen Auswirkungen, erkennt man deutlich das der heutigen Globalisierung innewohnende Paradoxon. Doch David Harveys Definition der globalen Welt kommt uns zu Hilfe: Die Welt ist ein System, das durch das Phänomen einer time-space compression gekennzeichnet ist (vgl. Harvey 1989). Die Verbindung von Zeit und Raum, den uns diese sowohl plastische als auch effiziente Formel vorschlägt, muss dennoch getrennt werden: Die Globalisierung ist zwar einerseits eine räumliche Verdichtung von Kulturen und Lebensformen, zugleich stellt sich andererseits auch eine zeitliche Diaspora dar, also eine Differenzierung der verschiedenen Arten, wie Subjekte Zeit erleben. Amerikanische Soldaten und autochtone Völker im Irak oder
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in Afghanistan, Europäer und afrikanische oder asiatische Einwanderer in Italien, Deutschland oder Frankreich befinden sich zwar im gleichen, verdichteten Raum, aber ihr Zeiterleben ist vollkommen unterschiedlich. Gerade aus dieser konfliktuellen Kopräsenz von komprimiertem Raum und diasporischer Zeit entspringt die Tendenz der unterschiedlichen Gruppen, die eigene (soziokulturelle, ideologische oder religiöse) Zugehörigkeit in streng identitären Begriffen zu denken. Wird die Identitätslogik und das translokale Phänomen der vorgestellten Gemeinschaften (vgl. Anderson 2005) zur identitären Obsession, so entwickeln sich Fundamentalismen. Dieses Szenario hat weder etwas mit der Postmoderne zu tun, noch lässt es sich mit dem postmodernen Ansatz des Fragments erklären. Es handelt sich vielmehr um ein Phänomen, das ich schon länger als ›Hypermoderne‹ bezeichne (vgl. Marramao 1989). Im Unterschied zur Postmoderne schwächt die Hypermoderne die Moderne nicht, noch löst sie diese auf, indem sie diese ›überholt‹: Vielmehr trägt sie deren antinomische Struktur in sich. Sie projiziert die Moderne, welche sich von der Kategorie ›Nation‹ in ebenjene der ›Welt‹ verwandelt hat, auf den globalen Raum und reproduziert die sie begründende Opposition besonders stark: den Gegensatz des Identitäts- und des Differenzprinzips. Jedes Mal, wenn (in der Philosophie oder der Politik) das exkludierende Paradigma der Identität und der reductio ad unum überwiegt, folgen die restlichen, von dieser Homologation Ausgeschlossenen der gleichen, hegemonialen Identitätslogik. Auf diese Art und Weise wird in der globalisierten Welt die Identität der Anderen verdrängt und zwar von Seiten eines Westens, der die eigenen hegemonischen Ansprüche legitimiert, indem er die eigene Identität mit dem Universellen gleichsetzt und so als unvermeidlichen Nebeneffekt eine Reifikation der Identitäten der sogenannten kulturellen Unterschiede hervorruft. Auf diese Art und Weise schafft er den Boden, auf dem Fundamentalismus wachsen kann: Demnach handelt es sich bei dem Letzteren keineswegs um ein traditionelles Phänomen, sondern um eines der Hypermoderne, das auf die Dynamik der globalen Produktion von Lokalem zurückzuführen ist. Welchen Ausweg gibt es also aus dieser Spirale von Verdrängung und Verdinglichung von Identität, von identitärem Universalismus des Westens und dem AntiUniversalismus der unüberbrückbaren Unterschiede, welche ebenjene ›Identitätspolitik‹ reproduzieren? Meine letzten Arbeiten kreisen um die Formel des Universalismus der Differenz. Es handelt sich hierbei nicht um eine statische Vorschrift oder um eine abstrakt normative Formel, sondern um einen Hinweis, der Differenz nicht als Indikator für einen Ort oder ein bestimmtes Subjekt begreift, sondern als ein Kriterium, als einen Perspektivwinkel, der imstande ist, Dynamiken der transversalen Durchdringung, der Destabilisierung und des Wandels hervorzurufen, die jeder identitären Selbstkonsistenz stets innewohnen. Nur so ist es möglich, der die Moderne begründenden Antinomie Herr zu werden: nicht indem man diese auf-
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löst oder überholt, sondern indem man diese an ihre Grenzen führt – und zum Explodieren bringt. Betrachten wir nun die Auswirkungen dieses Aufbrechens.
Die andere Szene Das Schlüsselelement der Moderne stellt nicht – mit Heideggers stillem Einverständnis – das essentialistisch selbstzentrierte Einzelsubjekt dar, das von Augustinus bis Descartes im secretum des Gewissens, in der reflexiven Selbsttransparenz des forum internum, des eigenen Gewissensgerichts verankert ist. Die wirkliche Urszene der Moderne stellt das Auftreten des Kollektivsubjekts und die damit einhergehende Dekonstruktion des Individualsubjekts dar. Dieser wichtige Aspekt sollte also nicht bei Descartes gesucht werden, sondern bei den großen empiristischen Kritikern des Essenzialismus: ausgehend von Lockes Entsubstantialisierung der Person und seiner Auffassung der Seele als Tabula rasa bis hin zu Humes Entpersonalisierung der Person und seiner Pluralisierung des Ichs auf der Bühne des Bewusstseins (ein skeptisches Vorspiel des freudschen Theaters des Unbewussten). In der Neuzeit, in der sich die typisch moderne Figur eines Kollektivsubjekts als Protagonist des historischen Prozesses herausbildet, wird das Individualsubjekt dem eigenen Fundament entrissen und so vom absoluten Souverän zum Regisseur gemacht. Wie ein Regisseur oder Erzähler muss das entsubstantialisierte Ich aus dem Material des multiple Self, aus den vielen Selbst, die dieses zusammensetzen, einen (roten) Faden spinnen, indem es die Sinneswahrnehmungen zusammenfügt und die wichtigsten Ereignisse aus der Fülle von Eindrücken und vielschichtigen Erinnerungen auswählt. Es ist sicherlich befremdlich, dass das empiristische Denken gerade als es den Identitätsbegriff dem Reich der Logik entzieht, um diesen auf das Individuum anzuwenden, dies genau mit dem Ziel tut, um zu zeigen, dass eine logisch-substantialistische Identität des Subjekts unmöglich ist. Auf diese Weise wohnen wir einer Art atomischer Spaltung des modernen In-Dividuums bei. Was ihren Konstruktcharakter oder ihr wörtlich bio-grafisches Wesen betrifft, so ist die persönliche Identität das Ergebnis einer kontingenten Selektivität. Soweit zum anti-metaphysischen Beitrag des modernen Empirismus. Später dann vollziehen andere Philosophen der Moderne, ab Hegel, einen weiteren entscheidenden Schritt: Das Personen-Subjekt (das vermutlich unteilbare Atom-Individuum der vertragstheoretischen Metaphysik) ist nicht nur dynamischrelational (und daher kontingent und eben nicht selbstkonsistent), sondern wird von einer für es grundlegenden inneren Spaltung durchzogen. Auf diese Weise tritt der Punkt unserer Argumentation zu Tage, der diesen Streit beilegt: Denn das moderne Subjekt ist nicht nur plural, es ist nicht nur ein multiple self, sondern es ist vor allem innerlich gespalten und konflikthaft.
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Kommunikation und Missverständnis: Übersetzung als politisches Projekt Die Subversion der Identitätslogik (die erste Wurzel strategischer Machtspiele), die vom veränderlichen Kriterium des Unterschieds vollbracht wird, betrifft voll und ganz das der Kommunikation zu Grunde liegende Paradigma. Der wichtigste Aspekt des kommunikativen Handelns ist nämlich nicht, wie Habermas meint, die Verständigung, also das Verstehen in seiner doppelten Bedeutung von ›einander verstehen‹ und ›miteinander übereinkommen‹. Sondern es ist im Gegenteil das Missverständnis. Der wirkliche Schlüssel der Kommunikation besteht nicht im dialogischen Einvernehmen und gegenseitigen Verstehen, sondern im aporetischen Ereignis des Missverständnisses. Kurz gesagt, nur dank des Missverständnisses können Unterschiede wirklich aufeinandertreffen: indem man sich falsch versteht und aneinandergerät, trotz des Dialogs. Sich des aporetischen Missverständnisses anzunehmen, impliziert ganz klar eine entscheidende Konsequenz, auch was das Demokratieverständnis betrifft. Der Schlüssel der Demokratie ist nicht der Konsens, sondern der Dissens, auch in seinen lärmendsten Ausdrucksformen (wie uns Machiavelli gelehrt hat). Es handelt sich also darum, eine neue Form des Diskurses zu erschaffen, die der Rhetorik der Kommunikation nicht unterliegt und die imstande ist, den Konflikt, das konflikthafte Missverständnis der Unterschiede, aufzuwerten und so die Übersetzung zum politischen Projekt macht. Nur so wird es möglich sein, die Herausforderungen unserer globalen Gegenwart anzugehen und die Schritte auszumachen, die zu einer radikalen Demokratie führen, welche in der Lage ist, »den Ernst, den Schmerz, die Geduld und die Arbeit des Negativen« (Hegel 1989: 24) ganz in sich aufzunehmen. Ich komme so auf einen Aspekt zurück, der mir besonders am Herzen liegt: den Übergang. In einem meiner Bücher sprach ich über die Globalisierung als eine Westpassage: ein Übergang, der nicht nur alle ›anderen‹ Kulturen radikal verändern wird, sondern auch die Lebensstile und Verhaltensmuster der westlichen Zivilisation (vgl. Marramao 2012). Meine These zur doppelten Logik, die den Dynamiken der globalisierten Welt innewohnt, erwähnte ich bereits. Und so möchte ich nun kurz zwei Aspekte aufgreifen, welche die Struktur und Phänomenologie ebenjener Herrschaftsform betreffen, die wir gemeinhin als globales Kapital bezeichnen. Hinsichtlich des strukturellen Profils besteht kein Zweifel, dass die Welt nach dem Kalten Krieg, also die Welt, die aus dem Fall der Berliner Mauer und aus dem Zusammenbruch des Ostblocks hervorgegangen ist, sich als homogenisiert darstellt und der Logik eines ökonomisch-finanziellen Marktes ›ohne Grenzen‹ gehorcht. Und dennoch – trotz der übereinstimmenden Prognosen großer marxis-
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tischer Theoretiker (wie Hilferding und Lenin) und liberaler Denker (wie Weber und Schumpeter) des letzten Jahrhunderts, welche die progressive Konzentration des Kapitalismus prognostizierten – scheint das globale Kapital zugleich konzentriert und diffus zu sein: konzentriert in seiner Herrschaftslogik, diffus in seinen Organisations- und Kontrollformen. Hinsichtlich der phänomenologischen Konfiguration reproduziert sich diese Ambivalenz mit einer noch höheren Intensität. Die Herrschaft des globalen Kapitals bringt keine einzige, gleichgeschaltete Form des Kapitalismus hervor (dieser Begriff fehlt übrigens im marxschen Vokabular und wird erst von Sombart und Weber wissenschaftlich geadelt), sondern führt vielmehr zu einer Vielzahl von Kapitalismen, die in sehr unterschiedlichen ethisch-kulturellen Kontexten verwurzelt sind. Gesellschaften wie die europäische und die nordamerikanische, wie die brasilianische oder südafrikanische, wie die indische und die chinesische, weisen sehr unterschiedliche Ausprägungen des Kapitalismus auf: Während der USamerikanische Kapitalismus stark individualistisch-kompetitiv konnotiert ist, ist das soziale Modell des europäischen Kapitalismus immer noch stark in Aspekten wie Kooperation und Solidarität verankert. Im Gegenzug gründen der indische Kapitalismus und vor allem der monströse Hybrid des chinesischen KapitalKommunismus auf der Mischung des Produktivitätsimperativs und einem antiindividualistischen, hierarchisch-gemeinschaftlich geprägten Ethos. Wenn Weber damit falsch lag, seinen (wenn auch einzigartigen) Vergleich der Weltreligionen auf dem Kriterium der individualistischen Ethik des asketischen Protestantismus zu gründen, die er als optimale soziokulturelle Kondition für die Geburt des Kapitalismus verstand, und die chinesische, konfuzianische Ethik als Grundlage für eine dynamische und wettbewerbsorientierte Gesellschaft als ungeeignet zu erachten, so lag Marx zugleich richtig und falsch: richtig, weil er den Sieg des globalen Kapitals vorausgesehen hatte; falsch, weil er meinte, dieser Sieg hätte automatisch die universale Homologation der Welt nach sich gezogen. Das Szenarium der heutigen globalen Welt zeigt hingegen, dass die Warenform keine Gesellschaft hervorbringt, dass die Marktwirtschaft keine einheitliche Marktgesellschaft erzeugt, sondern nur Marktmächte, die gezwungen sind, sich wie ein Chamäleon anzupassen und Kompromisse mit bereits existierenden sozialen und anthropologischkulturellen Formen einzugehen. In anderen Worten: Die marxsche Formel der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse funktioniert nur, wenn man die beiden Begriffe, die sie zusammensetzt, trennt. Sie funktioniert nur, wenn man die Dimension der Produktionsverhältnisse von jener der gesellschaftlichen Beziehungen abkoppelt: Beziehungen, die sich nie mechanisch, sondern einzig durch die Vermittlung sie charakterisierender und unterscheidender symbolischer, ethischkultureller Formen darbieten. Aus diesem entscheidenden Grund muss eine klare Demarkationslinie zwischen Globalisierung und Universalisierung gezogen werden: Die Herrschaft des Kapitals fällt nicht mit dem Aufkommen des Universa-
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len zusammen, sondern im Gegenteil mit einer Entuniversalisierung der gesellschaftlichen Beziehungen. In diesem Sinne muss es als Hindernis bei der tatsächlichen Universalisierung dieser Beziehungen verstanden werden. Die Globalisierung führt nicht, wie Fukuyama prophezeite, zu einer universellen Homologation und zum Ende der Geschichte, sondern zu einer verzweigten Aufspaltung, zu einer Zunahme von Ungleichheiten und Barrieren. Wenn man, wie bereits bemerkt, nicht auf das postmoderne Leitmotiv vom Ende der großen Erzählungen zurückgreifen muss, um die neue Struktur und Phänomenologie der globalen Welt zu entziffern, so sei es dennoch erlaubt, Zygmunt Baumans These der flüssigen Moderne ernsthaft anzuzweifeln (vgl. Bauman 2003). Und zwar aus dem entscheidenden Grund, dass jeder Fluss eine Quelle voraussetzt und sich zu dieser zurückverfolgen lässt. Diese Tatsache hält uns dazu an, nach dem Ursprung zu fragen und danach, wie die Fusionsmächte unserer hypermodernen Welt wirken. Es handelt sich um Mächte, die sich im Vergleich zu den Institutionen, zu den einschlägigen Orten und den Geltungsbereichen der Demokratien bereits verschoben haben – um Mächte, die sich ökonomischer und finanzieller Winkelzüge bedienen und über das Denken und Handeln der Menschen herrschen, indem sie die materielle und symbolische Ebene voneinander trennen.
Materiell und symbolisch Wir haben gesehen, inwiefern das globale Szenarium von einer gleichzeitigen Zwietracht zweier verschiedener identitärer Logiken durchzogen wird: dem ausschließenden Kommunitarismus und dem wettbewerbsorientierten Individualismus. Beide Phänomene zeugen klar von der Unfähigkeit, sich der harten – und, um mit Robert Musil zu sprechen, »schwierigen« – Wirklichkeit des multiple Self zu stellen: nämlich dem Umstand, dass jedwede Identität zugleich plural und innerlich konflikthaft ist. Wenn aber der Wertekonflikt im Inneren eines jeden von uns ausgetragen wird, so bedeutet dies, dass wir zunächst uns selbst ändern und den Schmerz und die Anstrengung der Veränderung auf uns nehmen müssen, bevor wir die Gesellschaft verändern können. Im Gegensatz zu den modernen Revolutionen, die zuvorderst einen Strukturwandel forderten, muss sich unsere Aufmerksamkeit heute auf die Subjektkonstitution konzentrieren. Diesbezüglich ist es nötig, zunächst ein System an Gleichgültigkeit und Gleichwertigkeit zu überwinden, das an sich die Machtlogik in der globalisierten Welt durchdringt. Eine solche Undifferenziertheit verdeutlicht am eindringlichsten das, was heute dem Körper in der globalisierten Welt geschieht. Es ist schwer, Slavoj Žižek unrecht zu geben, wenn er im nackten, westlichen Körper und in der islamischen Burka zwei gegensätzliche und sich doch zugleich bespiegelnde Aspekte des ein und desselben Indifferenzregimes erkennt. In der Tat opfern beide die Einzigartigkeit
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des Körpers, indem sie diesen entweder undifferenziert ausstellen oder undifferenziert verhüllen. Daher ist die Burka nichts weiter als eine höhnische Antwort auf die westliche Undifferenziertheit: So wie eure nackten Körper, so können auch unsere bedeckten Körper nicht voneinander unterschieden werden. Stellen wir uns also die Frage: Inwiefern wirkt sich dies auf die Machtebene aus? Sie reproduziert sich gerade aufgrund jener Undifferenziertheit, indem sie das Begehren auf eine serielle, sich unendlich wiederholende Schleife von Genuss zurückstuft. Zwangsläufig müssen wir uns hier auf Lacan beziehen, dessen Thesen heutzutage in der philosophischen Diskussion verinnerlicht worden sind und zirkulieren (man denke an Alain Badiou, Slavoj Žižek, Ernesto Laclau und andere). Aber an diesem Punkt drängt es mich, etwas zu präzisieren: Ich denke nicht, dass die Aktualität der lacanschen Spur im Motiv vom Tod des Vaters besteht. Und dies aus dem einfachen Grund, dass der Niedergang der väterlichen Autorität bereits zu Beginn der Neuzeit bei Hobbes im Konzept des Übereinkommens beziehungsweise des Pakts festgelegt wird (das Übereinkommen schreibt ja der Macht unverkennbare Züge einer Bruderherrschaft zu – außer man verwechselt den Souverän im Leviathan mit Robert Filmers Patriarch). Viel fruchtbarer scheint es mir, auf dem paradoxalen Wesen des Genusses (jouissance) zu insistieren: Er unterwirft den Körper, indem er diesen in eine unendliche Suche nach Genuss eintauchen lässt, die – durch die Leere des Begehrens hervorgerufene Grenzenlosigkeit – zum Ausdruck einer ewig unerfüllten Steigerung wird, welche von der Form her ganz und gar dem kapitalistischen Modell des unbegrenzten Wachstums gleichkommt. Die hypermoderne Macht gründet so auf dem Wechsel oder auf der strategischen Dosierung von Unterdrückung und Aufforderung zum Genuss. Der Imperativ des Genusses geht in diese Richtung, über den – seinerzeit von der Frankfurter Schule beschriebenen – Manipulationsmechanismus hinaus: Die Macht steuert den Trieb nicht mehr am Ende, sondern erschafft ihn mittels der Aufspaltung von Begehren und Genuss bereits am Anfang des Mechanismus. Diese Trennung ruft eine Kluft hervor, eine Schere zwischen der materiellen und symbolischen Ebene. Und vor allem eine abgrundtiefe Diärese zwischen Körper und Sprache, so dass selbst die Sprache des Körpers letztendlich durch die Figuren und die Fetische des Imaginären unterworfen wird. Wir sind nun in der Lage, die entfremdende, zweischneidige Logik der globalen Hypermodernität besser zu verstehen: Hier trifft der – reifizierende und erst nachgängig konsumbasierte – Genussfetischismus auf sein höhnisches Gegenüber, den Identitätsfetischismus des Fundamentalismus; hier bespiegeln sich der nackte westliche Körper und die islamische Burka. Und dennoch: Selbst wenn der Trieb zum Genuss einerseits das Zeichen einer durchdringenden Macht der Form der Ware über den Körper darstellt, welche die symbolische Potenz der Singularität neutralisiert und die Beziehungen verdinglicht, so kann die Ware andererseits doch nicht das obskure Objekt des Begehrens ersetzen, sondern dieses allein simulieren
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und ein Surrogat hierfür sein. Die Form der Ware, dieser spürbare-übersinnliche Code des Kapitals, besitzt keine symbolische Potenz, sondern nur die Fähigkeit, das Imaginäre zu formen: Sie ist nicht imstande, weder Gesellschaft zu erschaffen noch Subjekte zu konstituieren, sondern nur diese zu umgarnen, zu betäuben und sie zu unterwerfen. Wir müssen uns also bewusst werden, dass es gerade mittels dieser Impotenz der Macht möglich ist, einen Hebel anzusetzen, um den Trend zur Entuniversalisierung zugunsten eines Universalismus der Differenz umzukehren, einer Differenz, die imstande ist, der Schere zu entfliehen, deren Pole der Identitätsuniversalismus und der Antiuniversalismus überwachter Differenzen bilden. Hierfür ist es allerdings notwendig – nun da wir die Ruinen der großen ideologischen Blöcke des 20. Jahrhunderts hinter uns gelassen haben –, uns von der Phase der Entzauberung zu verabschieden (die sich zur ›realpolitischen‹ Enttäuschung gewandelt hat, weit entfernt von der weberschen Leidenschaft der Entzauberung) und eine erneute Verzauberung der Politik auf die Tagesordnung zu setzen. Sicherlich nicht, um den politischen Mythos zu rehabilitieren, sondern um der Politik ihre symbolische Funktion wiederzugeben: als Sinnhorizont des individuellen und kollektiven Handelns, als gemeinsamer Raum, in dem die Generationen aufeinandertreffen und sich kollektive Subjekte des Wandels konstituieren. Zusammengefasst bedeutet dies, dass das Hendiadyoin ›politische Entzauberung/identitärer Mythos‹, auf dem die globale Macht beruht, diametral in den folgenden Imperativ umgekehrt werden muss: die Politik wiederverzaubern, die Identität entmythisieren. Diese perspektivische Umkehr, die als Einladung übersetzt werden kann, sich ›auf die Suche nach dem verlorenen Raum‹ zu begeben, macht es notwendig, neue Formen der Verwicklung von Raum und Zeit zu denken. Wenn es wahr ist, dass der Raum, wie Doreen Massey behauptet, genauso wie die augustinische Zeit, das »offensichtlichste aller Dinge« ist, aber zugleich auch dasjenige, was am schwierigsten zu definieren und zu erklären ist, selbst wenn man ihn in verschiedensten Kontexten lässig heraufbeschwört (vgl. Massey 1999), so folgt daraus ein radikaler Befund: Es muss der Schnittpunkt von »gelebtem Raum« (espace vécu; ein hervorragender Ausdruck Bachelards 1987) und den Zeichen der Zeit gefunden werden. Jene Zeiten voll messianischer Kraft, die das Matthäusevangelium benennt und sich dabei nicht auf chrónos, also auf die unbestimmte Zeit der chronologischen Abfolge, sondern auf die dichte und qualitative Zeitlichkeit des kairós bezieht. In der entfremdeten, aber vitalen janusköpfigen Logik des globalen Raums bedeutet die seméia ton kairón (Mt. 16, 2-4), die Zeichen der Zeit, zu bemerken, den Sinn dieses Schnittpunkts erneut zu erkennen und so die Dimensionen des Politikprozesses und des Politikereignisses zu verbinden. Kurz gesagt bedeutet dies, ebenjene radikale Geste zu vollziehen, die darin besteht, ein fruchtbares Spannungsfeld zwischen jenen beiden Seiten zu schaffen, die die philosophische Tradition des Abendlands größtenteils als Alternative oder als drastische Antithese begreift: die Politik als relationale und prozessuale Praxis (wie sie von Aristoteles bis Hannah Arendt verstanden
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wurde) und die Politik als rechtzeitige Entscheidung, die imstande ist, das Ereignis zu fassen, indem sie kairologisch auf die raumzeitliche Kreuzung der Gegenwart einwirkt (wie dies an der Schwelle der Neuzeit ab Machiavelli festgesetzt und später gegensätzlich von Carl Schmitt und Walter Benjamin neu definiert worden ist). Dies bedeutet aber auch, dass der Abschied von dem ›kalten Monster‹, also die Ablösung vom konzeptuellen und symbolischen Horizont des Leviathans, vor uns nicht nur die Perspektive einer anderen Zukunft als der der Moderne eröffnet, sondern auch die Möglichkeit, das noch unausgesprochene Potential der Wendepunkte der Philosophie und der Politik, welche der Übereinkunft des modernen souveränen Staates vorausgehen, erneut hervorzubringen. Höhepunkte, die wir zu Unrecht in eine Dimension verbannt haben, die wir weiterhin fälschlicherweise als ›Vergangenheit‹ bezeichnen. Nur auf diesem Wege ist die dynamische Lektüre der Gegenwart, die potentielle Umkehr von Prekarität und Marginalität möglich, in eine Kondition, die sich der Perspektive einer erlösten und befreiten Menschheit hin öffnet. Aus dem Italienischen von Maximilian Boßeler und Sieglinde Borvitz
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Gouvernementale Techniken und Bewegungen der Revolte Salvo Vaccaro Das Konnektive ersetzt das Kollektive. Michel Serres (2013)
Gouvernementalität Der von Foucault Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eingeführte Begriff der Gouvernementalität meint das Aufkommen liberaler und aufklärerischer Kräfte, die sich im Zuge der Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts anschickten, die aristokratische Elite zu ersetzen. Der Begriff bringt auf gelungene Weise ein Zusammenfallen auf den Punkt, insofern er die Verbindung von Rationalitätsstrategien bezeichnet, die die alten Erkenntnis- und Wissensformen wie den Mythos und die theologische Illusion verdrängten und diese zugleich in sich aufnahmen, um sie gemäß der von Adorno und Derrida gezeigten Dialektik der Aufklärung in anderer Form neu aufzuwerfen. Die liberale Regierungsart trachtete an erster Stelle danach, sich vollkommen der absoluten Souveränitätslogik zu entledigen, um sich naturaliter als einzig mögliche Form zur Regulierung psychosozialer Dynamiken durchzusetzen. Dies galt sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene, wobei das Eingreifen der Apparate des alten souveränen Staates auf ein Minimum reduziert wurde, um künftigen politischen Aufständen vorzubeugen (vgl. Berns 2013). Selbstverständlich war Foucaults Analyse historisch begrenzt, sie reichte bis zum Ordoliberalismus der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland. Doch sie war hinreichend inspirierend, um das unterschwellige Fortbestehen einer liberalen Regierungsrationalität auch dort heraufzubeschwören, wo der fordistische Kompromiss und die sozialdemokratische Konzertierung den Wohlfahrtsstaat als vor allem politische, aber auch ökonomische Antwort auf die große Krise der Wall Street von 1929 etablierten. Dies findet sich heute, in einer Zeit der neoliberalen Hegemonie, auf globaler Ebene wieder. Die Prozesse der Globalisierung entfalteten sich unter anderem mittels der Medien und des Internets. Hinzu kam, dass unerwünschte Kosten bedenkenlos auf
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Bevölkerung und Gesellschaft umgelegt wurden. All dies führte dazu, dass Existenz und Territorium beachtlich auseinanderklafften und biopolitische Strategien und Taktiken, welche die Lebensformen leiten und konditionieren, immer schwieriger erkennbar sind. Als Folge einer solchen Diskrepanz von Existenz und Territorium ergibt sich ein Kontrollverlust über die eigene Existenz angesichts von Ereignissen, die im Verhältnis zum Wirkungsfeld des einzelnen Individuums inkommensurabel erscheinen. Sind die eigenen Vorrechte bereits durch das Regime des Rechtsstaats begrenzt, so sind sie dort umso limitierter, wo die Rechte auf ihr Minimum reduziert sind. Die progressive politische, ökonomische und soziale Deterritorialisierung ist das Zeichen der nunmehr gefeierten demokratischen Fiktion, auf welche die Wortneuschöpfungen ›postdemokratisch‹ oder ›neodemokratisch‹ anspielen. Die Unwirksamkeit der Macht des demos kann heute nicht als diskursive Pathologie eines ansonsten effizienten Instruments gelten, sondern muss als die normale, physiologische Funktionsweise eines Machtdispositivs angesehen werden, das sich die letzte Chance auf Legitimität durch Wahlen verspielt, die vielmehr einem Pantomime-Theater gleichen. Denn hier wird der Konsens durch Marketingtechniken erreicht, die das Ware-Werden des politischen Willens diesseits von Korruptionsepisoden sichtbar machen. All dies erfolgt in Analogie zu dem unterschwellig eingeführten Kommerz industrieller Produkte mit entsprechenden Werbemethoden, welche durch ein seit Jahrzehnten andauerndes Experimentieren von oben etabliert wurden. So wird versucht, mithilfe des Neologismus ›Governance‹ die postdemokratische Verschiebung innerhalb des institutionellen ›Government‹ zu fassen. Legitimiert wird diese Verschiebung durch den zerklüfteten und delegierenden Weg der elektoralen Inszenierung beziehungsweise der politischen Repräsentanz. Innerhalb der Governance-Prozesse treffen – keineswegs immer sichtbare – Akteure und Orte opake und zugleich bindende Entscheidungen, die den Mythos von Transparenz und Entscheidungslegitimität zu Gunsten der Systemeffizienz opfern. Zum einen wurde diese Effizienz beeindruckend und sozusagen in Echtzeit von Niklas Luhmann beleuchtet (vgl. Luhmann 1980; 1984; Luhmann/De Giorgi 1992), zum anderen aber auch durch die Diktate der Trilateralen Kommission, die den nach wie vor anhaltenden Impuls anstieß, eine Regierbarkeit um jeden Preis (und auf Kosten anderer) zu etablieren und diese dem Gespenst der Anarchie entgegenzustellen, das die weltweite 68er-Bewegung vorantrieb. So wie es auch das diesem Text voranstehende Motto fasst, so scheint in der Ära der virtuellen Massensozialität, jede kollektive Dimension zugunsten einer punktuellen Individuation des Einzelnen aus jeglichem gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen Netz verschwunden zu sein. Der von Margaret Thatcher verhängte Mord an der Gesellschaft macht den singulären Knoten im Machtnetz sichtbar: Das Individuum in seiner unendlichen Partikularität − eines unter sieben Milliarden Erdbewohnern – sieht sich Ereignissen ausgesetzt, die es zum verantwortlichen Handeln anhalten. Und dies sowohl moralisch oder ethisch angesichts der Schief-
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lage einer immer inegalitärer, ungerechter und gewaltsamer werdenden Welt, als auch in Richtung isolierter Widerstandstaktiken angesichts des Zerfalls der gesellschaftlichen Institutionen, der Instrumente ökonomischen Überlebens sowie eines verbissenen Wettbewerbs auf den unterschiedlichsten Feldern des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Auf der einen Seite ist es das durch die neuen Medien und durch die von Castells beschriebene Massen-Selbst-Kommunikation (vgl. Castells 2009) hervorgebrachte Übermaß an Informationen, das nicht nur einen jeden von uns mit unzähligen Daten und Neuigkeiten überschüttet, sondern Letztere schwer selektier- und im Hinblick auf deren Plausibilität und Wahrheit kaum überprüfbar machen. Vor allem aber erzeugt all dies eine Spannung zum unmittelbaren Handeln, die dem Umstand geschuldet ist, dass unser Einwirken auf jene Ereignisse, die so dringend nach solidarischem Handeln rufen, nicht abschätzbar ist. Auf der anderen Seite befreit uns die individuelle Zuordnung der konzertierten Verantwortung unseres In-der-Welt-Seins, des Seins in dieser Welt, von der Suche nach kollektiven Lösungen, und führt uns dazu, uns ins Innere unserer (fragilen) Fähigkeiten und Potentialitäten solipsistisch einzuschließen, die immer weniger imstande sind, Probleme des alltäglichen Lebens, von der Gesundheit bis zur Arbeit, von der Bildung bis zur Freizeit, in Angriff zu nehmen. Jedes dieser Probleme wird als Grenze der eigenen (schwachen) Fähigkeit erfahren und setzt in uns den Wunsch frei, diese Unzulänglichkeit zu überwinden. Entsprechend bemühen wir uns um eine individuelle Lösung, die sowohl unmöglich, als auch prekär und willkürlich ist − ohne die Ordnung des hegemonialen Diskurses und dessen strukturelle Matrix auch nur anzutasten. Dabei ist es jedoch genau diese Matrix, die das Alltagsleben gemäß den jeweils zugänglichen Märkten formt und deren Führungsinstrumente wiederum nicht individuell zugänglich sind. In letzter Instanz scheint es, als würde sich jene deleuzianische Figur in perverser Weise verwirklichen, nach der das andere Antlitz des Individuums in seiner Dividualität besteht. Diese Figur fasst analytisch das Ende des modernen Individuums, zugleich bietet sie in der Spannung zwischen Individuum und Individuation einen konzeptuellen Zugriff, um den Punkt, auf den sich der Liberalismus und das abendländische Denken stützen, zu schwächen, denn beide haben aus dem Individuum, das hier als Hebel für den liberalen Mechanismus dient, einen kosmischen Rotationsbolzen mit hegemonialer Funktion gemacht (vgl. Deleuze 1990: 244; 1992a; Simondon 2001; 2005). Wird jedoch die Last jeder hierarchischen Strategie von der höchsten Stelle hin auf das Individuum verlagert, so führt dies zu seiner Anomie, das heißt zu einem Zustand schwacher sozialer Normen und damit zu seiner Auflösung, zu seiner Zersplitterung, zu seinem Zerfall. Es führt dazu, dass sich das Individuum nicht nur von kollektiven Bindungen loslöst, sondern auch dazu, dass Letztere nicht mehr auf andere Art und Weise beziehungsweise mittels anderer potentieller Bindungen, die von der Zahl der möglichen ausgeschlossen wurden, wiederhergestellt werden können. Es handelt sich also um ein ›Ich‹, das
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sich in keinem ›Wir‹ wiederfindet, es sei denn durch eine aufgenötigte und nicht selbst gewählte Zugehörigkeit. Diese Entwicklungen haben es mit sich gebracht, dass diese Bindungen – ähnlich den analogen Konzepten von Deleuze und Guattari (›Fluss‹ oder ›Deterritorialisierung‹) – nach dem globalen Kapital und der biopolitischen Governance ausgerichtet wurden. Damit stehen sie im Gegensatz zum radikalen Verlauf eines erhofften revolutionären Bruchs. Eben dies verweist auf die beachtliche analytisch-interpretative Macht jener Kategorien, die von der französischen Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeführt wurden. So bricht das von Thatcher ausgerufene TINA-Prinzip (There Is No Alternative) wie ein unabdingbares Schicksal über die Menschen herein, gegen das diese destruktiv und selbstzerstörerisch ankämpfen. Die Tagesnachrichten berichten über Suizid, Mord und willkürliche Selbstmordattentate, kurz gesagt, über am eigenen Leib erfahrene Verzweiflung, und hierbei ähnelt das Leben zunehmend einem tödlichen Schicksal, einer perversen, buchstäblich fatalen existentiellen Lotterie. Verzerrt und auf globaler Ebene kehrt bei dieser Lotterie jener Pseudo-Sozialdarwinismus wieder, der als Gespenst kurz vor den großen Weltkriegen des 20. Jahrhunderts durch die westlichen Gesellschaften geisterte. Die anomische Entwurzelung opfert der neoliberalen Gouvernementalität eine Welt, die verstärkt zur Beute einer parasitären, postpolitischen und vermutlich auch postkapitalistischen Elite wird, zumindest in dem Sinne, wie der Kapitalismus von Fernand Braudel, Max Weber, Karl Marx und dem Thomas Mann der Buddenbrooks gedacht worden ist. Das Empire des Finanzkapitals verfügt über weitaus größere Ressourcen und Macht als jedes Unternehmen, das auf dem traditionellen kapitalistischen Markt mit der Produktion von Materiellem und Immateriellem tätig ist. So stellt der Finanzkapitalismus eine Art verkürzte Abstraktion der kapitalistischen Logik dar und umgeht die − selbst in Waren verwandelte − Welt und ihre Territorien, mittels derer sich die Gewinnanhäufung und die Reproduktion des Kapitalverhältnisses vollzog. Der Finanzkapitalismus – ein nicht gerade glücklicher Begriff von Luciano Gallino (vgl. Gallino 2011) – herrscht mithilfe einer Gewaltlogik, die darin besteht, die ursprüngliche Akkumulation in jedem Augenblick ihrer virtuellen Realisierung zu wiederholen, und zwar in einer Weise, die sich nicht um die konkrete Existenz von Menschenleben schert. Dabei wird das Leben unter eine Bioökonomie subsumiert, die 1 % der Weltbevölkerung befriedigt und 99 % ausklammert, um den treffenden Slogan von Occupy Wall Street aufzugreifen (in Wirklichkeit handelt es sich um erheblich weniger als 1 %; vgl. Gallino 2011; 2013; Ruggiero 2013). Mit Blick auf die Untersuchungen Foucaults scheint sich nun, voll und ganz jene unternehmerische Gesellschaft zu verwirklichen (vgl. Foucault 2006: 212; Dardot 2013), die vom Liberalismus politisch erwünscht war, um eine dominante Elite zu eliminieren und sich an ihrer Stelle zu etablieren. Ihr Hauptinstrument war die politische Revolution, wenn man den substitutiven Sinn, den der Begriff ›Revolution‹ im Bereich der Astronomie hat, buchstäblich bedenkt. Es
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war nämlich die Astronomie, in der dieser Begriff entstand, um dann in andere Wissenssphären mit nicht unerheblicher semantischer Verschiebung Eingang zu finden. Dort, wo sich jenes Modell der politischen Revolution durchgesetzt hat, führten die realen Erschütterungen dazu, dass die herrschenden Gruppen ersetzt wurden und die ›archischen‹1 Formeln, welche die Herrschaftsbeziehungen des einen über den anderen Menschen begründen, unberührt geblieben sind.
Bewegungen der Revolte Der kontraintuitive Ertrag der politischen Revolutionen des Liberalismus im 17. und 18. Jahrhundert sowie des mehr oder weniger autoritären Sozialismus ist die von jenen sozialen Bewegungen ererbte Bürde, die zwischen dem Ende des 20. Jahrhunderts und dem Beginn des 21. Jahrhunderts, im Zeitalter der biopolitischen und bioökonomischen Gouvernementalität, die Weltszene beleben. In diesen Widerstandsbewegungen scheinen auf höhnische Art und Weise zwei Phänomene zusammenzufallen: zum einen der politische Block der Revolution – ihre historische Umsetzung zog perverse Effekte nach sich und bekräftigte die definitive Lösung der Autonomie des Politischen, sowohl von den logischen Fesseln des Prinzips der politischen Autorität, als auch vom konditionierenden Kontext des hegemonialen Kapitalismus – und zum anderen das Ende der nationalstaatlichen Politik, das zum Kurzschluss der Verknüpfung von territorialer Souveränität, theatralischer Repräsentation auf den verschiedenen institutionellen Ebenen und der Verabschiedung der Partei als Simulakrum der Verbindung von Volk und Regierungselite geführt hat. Dadurch, dass diese Widerstandsbewegungen mimetisch und ein Spiegelbild zur neoliberalen Gouvernementalität der Gegenwart zu sein scheinen, entsteht der Verdacht, es bestehe eine ideologische Nähe zwischen den Praktiken des Widerstands von unten und der gouvernementalen Revolution von oben. Ganz so, als ob Fragmentierung, Zerfall, Dispersion und Isolierung den gemeinsamen Nenner darstellen, an dem sich Governance und Unregierbarkeit bespiegeln. Dieses epochale Schicksal umreißt das Maß und die Grenzen einer unhintergehbaren neoliberalen Politik, die ihren dialektischen Doppelgänger, jedoch bar jedes Heilsversprechens und bar jeder Emanzipationskraft, in den Erosionspraktiken der Bewegungen dieser letzten zwanzig Jahre hat, die ihrerseits von Mal zu Mal als gegenpolitisch, antipolitisch und unpolitisch etikettiert wurden. Abgesehen von einer gewissen phänotypischen Plausibilität werde ich im Folgenden eine andere Lektüre vorschlagen, um mit der Behauptung zu brechen, es 1
Der im italienischen Original verwendete Begriff archico leitet sich vom griechischen arche (ἀρχή) beziehungsweise archein ab und birgt einen Mehrfachsinn von Herrschaft und Ursprung, den der deutsche Ausdruck wiedergeben soll. Anmerkung der Übersetzerinnen.
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bestehe eine Kontinuitätslinie zwischen Revolution und Widerstandsbewegungen. Mittels dieser zugeschriebenen Kontinuität sollen jene Widerstandsformen geringgeschätzt und wenn nicht gar verurteilt werden, die ohne sichtbares eschatologisches Projekt nicht zum Zwecke der politischen Machtergreifung revoltieren (vgl. Holloway 2012; Bance 2012), sondern um die Macht zu zerstreuen. Gerne werde ich dabei das Risiko eingehen, das meines Erachtens zunächst für mich selbst und dann für den Leser besteht, einer sehr heterogenen (dies sei betont) Reihe an episodischen Revolten, lang andauernden Protesten, niedergeschlagenen Aufständen und fehlgeschlagenen Revolutionen, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten praktisch überall auf dem Planeten gezeigt haben, eine Familienähnlichkeit zu attestieren. Sie unterscheiden sich in den ihnen zugrundeliegenden Ursachen, den angestrebten Zielen, den angenommenen Formen, den erreichten Ergebnissen bis hin zu den (auch ungewollt) sehr verschiedenen Auswirkungen. Trotz ihrer Verschiedenheit lässt sich indes, so glaube ich, nicht von Inkommunikabilität oder Undurchlässigkeit sprechen. Es handelt sich vielmehr um eine imaginäre Karte und weniger um einen Archipel des Widerstands, dessen externe Verflechtungen sich derart ausbreiten, bis dass sie ein Außen erreichen, das sich nach innen einfalten lässt. Es sei vorausgeschickt: Meine Lektüre ist konventionell, sie wird sich an der Oberfläche der Widerstandspraktiken bewegen, ohne diese zu bewerten. Entsprechend beginnt meine Auflistung mit dem Aufstand der Zapatisten von 1994 (¡Ya Basta!), der mit der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) zusammenfiel, welche nicht nur die Umsetzung des (bis dato nicht verwirklichten) BrettonWoods-Abkommens veränderte und vollendete, sondern auch eine neue globable Governance durchsetzte, welche die inzwischen alte internationale Ordnung aus den Angeln hob und die neoliberale Gouvernementalität ausrief. Jenes Jahrzehnt wird zwar allgemein als globalisierungskritisch erinnert, obwohl es einen globalen Süden ans Licht bringt, der vor sozialen und imaginären Phänomenen, Solidaritätspraktiken und politischen Erfahrungen geradezu sprudelte: angefangen bei den indigenen Widerstandsbewegungen (Cochabamba 2005, Oaxaca 2006) bis hin zu den Unruhen in Argentinien (¡Qué se vayan todos!) mit ihren selbstorganisierten Besetzungen, den selbstverwalteten, amonetären Tauschmärkten (trueque), ihren carcerolados und piqueteros (vgl. Zibechi 2007; 2010). Erinnert sei aber auch an die in Flammen stehenden französischen Banlieues oder die Streiks der Transportgesellschaften und prekären Arbeitnehmer, die eine Metropole wie Paris zwar gänzlich blockierten, aber zugleich zur Wiedergeburt eines Raums des zivilgesellschaftlichen Zusammenlebens und zu Wertepraktiken führten, die nicht länger dem Diktat von Arbeit, starker Währung, inhumanen Lebensrhythmen und entpersonalisiertem zwischenmenschlichen Kontakt unterstanden. Nicht allein in London avancierte der Slogan Reclaim the streets zum Exempel der Wiederaneignung und stets neuen Verteidigung des urbanen Raums für ein kollektives Leben,
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das seine Freude und humane Nachhaltigkeit derart ungestüm äußerte, dass es einem uminterpretierten Karnevalsrausch glich, was später auch in den People’s Puppets von Occupy Wall Street wiederzuerkennen war (vgl. Graeber 2013; Chomsky 2012). Zudem umzingeln die Protestbewegungen ab den 1990er Jahren die ›Herren des Universums‹2 − und zwar jedes Mal, wenn sie sich zur Zelebration ihrer eigenen mythischen Rhythmen in Seattle oder Davos, Prag oder Stockholm, Québec City oder Gleneagles, Neapel oder Genua versammeln. Dabei rekurrieren Aktivisten und Bewegungen überall auf der Welt auf ganz unterschiedliche Praktiken, Bezugswerte, Ideologien, historische Rahmen und verschiedene Ziele. Der so auf globaler Ebene aufgebaute, affirmative Nachdruck wendet sich gegen jene diskriminierende, destruktive und zergliedernde Taktik, welche den politischen und ökonomischen Strategien der Weltgipfeltreffen gemein ist, auch wenn die Medien dies selbstverständlich ganz anders darstellen. Nur wenige Monate nach dem Mord an Carlo Giuliani in Genua folgt der Einschnitt des Jahrhunderts, der 11. September 2001, und mit ihm eine bislang andauernde Serie von Kriegen gegen den Terrorismus. Die Attentate lähmen die damaligen Proteste und No-Gobal-Bewegungen und führen dazu, dass unzählige Millionen globaler Akteure ihre Proteste vermindern. Das Ende scheint gekommen zu sein. In einigen lateinamerikanischen Ländern übernimmt der global south die Macht und erneuert die Verfassung. Die neue populistische und transformatorische Politik erweist sich jedoch als alter Wein in neuen Schläuchen. Doch die Glut schwelt unter der Asche weiter und plötzlich bricht unvermittelt der Arabische Frühling aus: vom Tahir-Platz in Tunis bis nach Kairo, vom Bahrein bis nach Libyen, von der Jugend des Iran, die sich gegen die Pasdaran auflehnt, bis nach Syrien (und selbst in Israel für kurze Zeit seitens der säkularen israelischen Jugend; vgl. Grinberg 2013). All dies befeuert – jenseits der widersprüchlichen Entwicklungen und des bisher noch offenen Ausgangs – weitere kontingent aufflammende Brandherde: Dies reicht von Otpor auf dem Balkan bis zur Orangenen Revolution in der Ukraine, vom Syntagma-Platz in Athen (mit den selbstverwalteten Krankenhäusern und der eigenen Infrastruktur kleiner Stadtbezirke) bis zum am Taksim-Platz gelegenen Gezi-Park in Istanbul, von den spanischen indignados und ihrer 15M-Bewegung (¡Democracia Real YA!) bis hin zu den verschiedenen OccupyBewegungen in New York, Oakland, Boston und in vielen anderen Städten der USA (We are 99 %!), von den englischen, schwedischen riots – sowie kürzlich auch in Hamburg – bis hin zu den farbigen Massen in Bangkok, von Rom bis ins Val di Susa, von den chilenischen Studierenden hin zu den Menschenmassen, die in Rio und Sao Paulo gegen die wahnsinnigen und stratosphärisch hohen Ausgaben für die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 protestierten. Diese Liste könnte schier unendlich fortgesetzt werden. 2
Gemeint sind die Regierungen der G20/G8-Staaten. Anmerkung der Übersetzerinnen.
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Es ließe sich dagegenhalten, dass die ›Gewinne‹ jeder dieser Bewegungen weit unter den intern und extern an sie gestellten Erwartungen lagen. Auch könnte eingewandt werden, dass diese Widerstandsbewegungen schnell aufstiegen und abklangen und dass genau dies ein Indiz für ihre konstitutive Schwäche ist, sowohl in politischer als auch in organisatorischer Hinsicht. Diese Schwäche, so der Einwand, überwiege gegenüber der latenten Entwicklung, die nur punktuell sichtbar wird. Betrachtet man diese Phänomene in ihrer Gesamtheit mittels einer fraktalen Analyse, so ergibt sich das Bild einer globalen Welle, die unaufhaltsam vor- und zurückbrandet und sich lediglich lokal manifestiert. Vermutlich impliziert jeder konkrete Weg zur Revolution unzählige Momente von Kooptation, unzählige siegreiche Kampagnen, unzählige Momente des Aufstands oder des Rückzugs und der internen Organisation. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es tatsächlich sein könnte. Aber um einen ersten Schritt in diese Richtung zu gehen, müssen wir de facto einräumen, dass wir etwas erreicht haben. De facto haben wir kürzlich an mehreren Fronten gewonnen. Die Frage ist, wie der Zyklus von Begeisterung und Depression unterbrochen und wie auf diesen Siegen basierende, strategische Visionen (möglichst die glücklichsten) entwickelt werden können, so dass sich eine umfassende Protestvereinigung in Richtung einer neuen Gesellschaft bewegt. (Graeber 2012: 50)3
Profile des Widerstands Trotz der offensichtlichen Verschiedenheit des jeweiligen Kontextes und der Beweggründe, der betroffenen Gebiete und der Entfaltungsweisen täuscht die insgesamt bestehende Diskontinuität der Widerstandsbewegungen nicht darüber hinweg, dass einige Prozesse die verschiedenen Revolten ideell miteinander verknüpfen, so als ob die eine die andere jenseits allen raum-zeitlichen Verständnisses anstieße. Es ist gewiss, dass die weit zurückreichende Erinnerung an die vorhergehenden Revolten Elemente mit sich bringt, die für die neuen Revolten wertvoll sind, da es dennoch, auch wenn eine Diskontinuität die Massenausbrüche kennzeichnet, einen roten Faden gibt, der die Revolten untereinander verbindet. Dies vorausgesetzt ist es genauso gewiss, dass, wenn es stimmt, dass das Zeichen, das die vorhergehenden Kämpfe in der Vorstellung hinterlassen haben, zukünftige Kämpfe nährt, dies dennoch nicht ausreicht, um diese auszulösen. Wer sich in einen Kampf stürzt, tut dies nicht, indem er sich auf die Spuren vergangener Kämpfe 3
Siehe hierzu den schönen Offenen Brief, den Raul Zibechi im März 2011 an Subcomandante Marcos richtete.
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stützt, sondern weil er auf ein gegenwärtiges Unrecht, auf eine gegenwärtige Gewalt oder einen gegenwärtigen Missbrauch reagiert. (Ibañes 2012: 35) In erster Linie muss hier die Körperlichkeit des Widerstandes betont werden. Es mag banal erscheinen, aber in der Ära der neuen Medien und der viralen und virtuellen Ansteckung der Ausdrucksformen, die Konsum, Lebensstil, Politik, Zusammenleben, Spiritualität und ja sogar die Erotik annehmen, markiert die Rückkehr des Körpers auf das Feld der Rebellion einen Unterschied gegenüber der – teils unkritischen – Begeisterung für mediale Funktionen neuer Formen der MassenSelbst-Kommunikation, die in der organisatorischen Phase gleichwohl nützlich waren. Während die Visualität der Erinnerungen, deren Hegemonie gegenüber der schriftlichen und mündlichen Tradition zunimmt, gerade über die Informationskanäle verläuft und dabei einen unbekannten politischen Raum umreißt, der über engagiertes Hacking (Anonymous) und Gegeninformation (Wikileaks) geschaffen wurde (vgl. Conover et al. 2013), besetzen die Körper auf den Plätzen und Straßen ganz physisch einen Raum, der von der privaten wie öffentlich-staatlichen Enteignung zurückgefordert wird. Die Wiederaneignung von Räumen ist nicht allein eine Frage der Willkür, die eine Besetzung ermöglicht oder mittels dieser erlaubt, einer von privater oder öffentlicher Hand durchgeführten Besitznahme entgegenzuwirken. Vielmehr handelt es sich um eine genuin politische Angelegenheit, weil sie auf der Territorialität unserer Existenz insistiert, deren zeitliche Lebensspanne sich dem räumlichen Zugriff entzieht, da sie sich durch fraktale Ausdifferenzierung reproduziert und zwar jedes Mal, wenn der Körper seine eigene Irreduzibilität jedweder sophistischen Argumentation entgegen schreit. Das Faktum des Lebens positioniert sich innerhalb der körperlichen Beziehung zwischen Raum und sozialem Zusammenleben, dessen Autonomie die anarchistische Politik im wörtlichen Sinne bezeichnet beziehungsweise eine Politik formuliert, die sich von einer hierarchischen Instanz emanzipiert, welche die Regeln von oben herab diktiert. Die Körperlichkeit des Widerstandes verweist auf nichts Anderes als auf die rebellischen Körper selbst, die sich der Disziplinierung durch den typischen Kanon einer oft obsessiven und terroristischen staatlichen Kontrolle widersetzen (vgl. Curcio/Roggero 2012). Auch dort, wo diese staatliche Politik die zweideutigen und flüchtigen Umrisse der neoliberalen Governance annimmt, und es daher schwierig wird, die identitäre Herkunft der dominanten Akteure klar zu unterscheiden, sei es aus der Sphäre der Politik im engeren Sinne (möglicherweise charakterisiert durch eine aufsteigende Integration durch die Reihen der sogenannten Zivilgesellschaft) oder aus der finanz-ökonomischen Sphäre, so scheint die Typisierung der Governance per sliding doors in der Tat kein exklusives Vorrecht von Stars and Stripes zu sein. Eine letzte transversale Verbindung der verschiedenen Widerstandssegmente, wie sie sich in den letzten beiden Jahrzehnten in den unterschiedlichsten Kontexten manifestierten, scheint die entschiedene und radikale Vermeidung einer jeden
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Fiktion von Dialog mit den Institutionen zu sein, den man im politischen Tagesgeschäft als eine ›Forderung‹ bezeichnet, die es an die politische Macht zu stellen gilt, welche ihrerseits dann eine Antwort erteilt, die erstrebenswerter Weise der eigenen Position entspricht. Die Weigerung, eine erfüllbare Forderung beziehungsweise eine Reihe von Forderungen zu stellen, die einen taktischen Zwischenschritt hin zu einem vorab gesteckten und anvisierten Ziel darstellen, bedeutet meines Erachtens, einen politischen Ton anzuschlagen, der sich nicht mit dem oft kompromissartigen und kompromittierenden Ton der staatlichen Institutionen verträgt. Eine Forderung zu stellen, impliziert vor allem, dass man die Legitimität des politischen Gesprächspartners akzeptiert und dass sich die Protestierenden an einem Scheidepunkt befinden, wobei auf der einen Seite die Bürger und auf der anderen Seite die als legitim anerkannten Institutionen immer weiter auseinanderklaffen. Diese Legitimität wird ihnen um eines ruhigen Lebens willen zugesprochen, aber auch durch eine Reihe sich wiederholender, inzwischen altbackener Rituale (Wahlzyklen, Populismus von oben, Verschlankung der Repräsentation), sodass gerade die Legitimität zum alles entscheidenden Knoten wird, an dem sich die Dichte des Widerstandes messen lässt. Etwas von der politischen Macht zu fordern, bedeutet, sie anzuerkennen, sie zu akzeptieren, sie zur eigenen Grammatik zu machen, ihre Sprache zu verwenden, auch wenn dies anscheinend zu bekannten und akzeptierten Formen der Auseinandersetzung führen kann, zu einem Duell mit der Macht, die in diesem Moment selbst ihre kleinsten Zugeständnisse verbucht. Selbst in der Fiktion eines wenn auch antagonistischen Dialogs bleibt das grammatikalische Register intakt und zwingt die Beteiligten, sich in die obligatorischen Grenzen einer Konversation einzufügen, die schon rein logisch die Kompatibilitätsformen und -grenzen des Machtgefüges diesseits seiner Sichtbarkeit nicht überschreiten kann. In anderen Worten: Man bleibt innerhalb des Dominiums der Macht und bringt sich um die Möglichkeit, ein Außen heraufzubeschwören, welches erlaubt, diese Herrschaftssphäre zu überschreiten.4 Die unterschiedlichen Positionen der Widerstandsbewegungen in Form von Slogans zu kondensieren, mag wie ein Zugeständnis an die Ritornelle der Gesellschaft des Spektakels erscheinen. Und zum Teil ist es das auch. Wie jeder Slogan teilt das, was man im allgemein anerkannten Sinn der feststehenden Ausdrücke anspricht, die Grammatik der Macht. Dem Verlangen nach einer ¡Democracia Real Ya! und der Sehnsucht nach einer bedingungslosen und unverhandelbaren Gerechtigkeit Ausdruck zu verleihen, bedeutet in diesem Sinne, sich auf dem schmalen Grat einer bereits existierenden Bestimmtheit zu bewegen, die die Unbestimmtheit eines bewusst breit gefassten und allumfassenden 4
Nicht zufällig haben die Think-Tanks des Establishments versucht, diesen anscheinenden Schwachpunkt der Occupy Wall Street-Bewegung aufzugreifen, um der politischen Elite vorzuschlagen, diese auszunutzen und in der öffentlichen Meinung Terrain gutzumachen, was in Wahrheit jedoch ohne nennenswerte Ergebnisse blieb (vgl. Jacobs 2011).
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Sinns des Slogans in Teilen beschneidet. Mithilfe der Slogans werden Ängste, Hoffnungen, Wünsche und Motivationen kanalisiert, die in ihrer grundlegenden Verschiedenheit eher ein Zeichen von Stärke als von Schwäche sind. Aufgrund seiner Vagheit kann der Slogan durch niemanden vereinnahmt werden, außer durch die expressive und politische Potentialität der Bewegung selbst. Seine Unbestimmtheit zeigt, dass die durch den Slogan auf den Punkt gebrachte Position unerreichbar ist, nicht im Dialog mit der politischen Macht steht und so mit jenem bloßen Simulakrum einer Konversation unter Gleichen bricht, die auf theoretischer Ebene eine Form der aktuellen staatlichen Politik legitimiert, die sich weitgehend von ihren Prämissen und Versprechen verabschiedet hat, die im Übrigen selten eingehalten worden sind und vielleicht sogar per definitionem nicht eingehalten werden können.5 Der Ort, an dem diese radikale Kritik an der politischen Repräsentation reift, die ihren Ausdruck in der Ablehnung der Dialektik von Forderungen, der Verhandlung und des Kompromisses findet, stellt das Gegenmittel zur populistischen Schließung dar, die von oben die Aushebung der traditionellen Linien sozialer Spaltung vorantreibt, um sie dann in einer künstlichen und gezwungen einheitlichen Organizität wieder zusammenzufügen und als solche dann gegen die institutionelle Macht Sturm zu laufen. Der berühmte Slogan der Occupy-Bewegung bringt eine letzte und bisher ungekannte Teilung der Gesellschaft auf den Punkt, die direkt durch das globale Kapital verursacht wird, welches als politisches Subjekt dem typischen staatlichen Akteur gleicht, ohne den die neoliberale Gouvernementalität nicht in der normierten Prädisposition ihres Anwendungsbereichs operieren könnte.
Ethopoiesis Das Neue und die Stärke dieser Bewegungen scheint, trotz ihrer unterschiedlichen Ausrichtungen, in den libertären Methodologien zu liegen, mit denen sie längerfristige Strategien im Hinblick auf die internen Organisationsdynamiken und die deliberativen Spannungen entwickeln. Betrachtet man die Art und Weise, wie sie sich intern strukturieren, so zeigt sich eine äußerst polyphone und oftmals innovative, kreative Vielfalt, die sich darum bemüht, einen realen Partizipationsprozess zu garantieren und zu ermöglichen. Diese deliberativen Formen der Teilhabe entziehen sich der goldenen Regel demokratischer Regime, also dem Mehrheitsprinzip. 5
»Der Grund, warum es […] keine Forderungen gibt, wenn die Körper bei Occupy Wall Street eine Masse bilden, ist, dass keine Petitionsliste das Ideal der eingeforderten Gerechtigkeit erschöpfend erfassen kann« (Butler 2012: 85).
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Daneben sind überall Praktiken zu erkennen, die an den Zapatismus des ausgehenden 20. Jahrhunderts anschließen: die Rotation von Stellen, die mit sofortiger Wirkung auch wieder entzogen werden können, die Praxis der human microphones6 zur Informationsverbreitung, die Möglichkeit, der föderativen und zugleich konkreten Partizipation, welche sich zwar in konzentrischen Kreisen gestaltet, aber der Bewegung nach außen hin Einheitlichkeit verleiht. All dies kennzeichnet eine libertäre, horizontale Methodologie, die entschieden antihierarchisch und antiautoritär ist, und von der Mehrzahl der anarchistischen Bewegungen, überall und jederzeit, diesseits eines realen, idealen und historischen Bewusstseins angewandt wird. Zwar bezeichnete sich nur eine weit verstreute Minderheit der Beteiligten als Anarchisten, doch die Prinzipien, die aus der anarchistischen Tradition stammen, spielen in den Bewegungen eine zentrale Rolle und führen dazu, dass die anarchistischen Ideen eine nie gekannte Verbreitung finden. Dabei geht es um die Ablehnung von Strategien, die auf die Übernahme der Macht im Staat abzielen, um die Entwicklung neuer Formen direkter Demokratie, um Prinzipien der »Horizontalität«, der »Autonomie«, von Selbstorganisation und gegenseitiger Unterstützung. (Graeber 2013: 311; vgl. Sitrin 2012: 86) Solche Organisationspraktiken sind in der Tat eine wahrhafte Neuerfindung von Raum und Zeit der Politik. In ihnen kommt der Methode dieselbe, wenn nicht gar eine größere, Bedeutung zu wie dem Diskussionsgegenstand selbst, der von Mal zu Mal von den Bewegungen intern, operativ sowie strategisch geprüft wird, ohne sich von dem zeitlichen Druck abhängig machen, der oftmals von der Taktik des jeweiligen Moments diktiert wird, welche die Bewegung in einem bestimmten Moment ihrer Entwicklung einschlägt. Der Widerstand wird nicht allein durch die jeweils erzielten Ergebnisse genährt,7 sondern vor allem dadurch, dass Freiheit konstant gelebt wird. Dies gilt auch für die Übergangsphasen der Bewegung, in denen sich eine Linie gegenüber anderen herauskristallisiert und letztlich durchsetzt. Studiert man das Selbstverständnis der sich kürzlich global manifestierenden Bewegungen, so zeigt sich, dass die libertären und horizontalen Methodologien die ›Kriegsmaschine‹ (vgl. Deleuze/Guattari 1992b: 481-585) dieser Bewegungen befeuern. Dies geschieht in jenem Kernbereich des ethischen Lebens, der auf der Medietät, auf 6
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Die Technik der human microphones besteht darin, dass Redebeiträge eines einzelnen Sprechers von einem Sprechchor wiederholt werden und so für die Umstehenden besser hörbar sind. Hintergrund ist, dass der Einsatz von Akustiktechnik bei den damaligen Occupy Wall Street-Versammlungen in New York untersagt war (vgl. Reguillo 2012). Anmerkung der Übersetzerinnen. »Das Problem ist, dass wir niemals ein Bewusstsein für die Schlachten entwickelt haben, die wir gewonnen haben« (Graeber 2012b: 40).
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dem Sich-in-der-Mitte-Befinden der Dinge insistiert, wo tatsächlich etwas Interessantes und Neues passieren kann. Diese Mitte liegt zwischen einer illusorischen archê – von der alles ausgeht, auch das Risiko, dass die Linearität keine Umwege und anomalen Abweichungen erfährt – und einem ewigen télos, jenem grundlegenden enjeu, das jeder Machtimpuls trifft und somit die zerstörerische Kraft des Todes, welche die Geschichte der revolutionären Linken des zwanzigsten Jahrhunderts lange Zeit zerschlagen hat (vgl. Deleuze/Parnet 1977). Allein von Methode oder von den rechtmäßigen und unüberwindbaren Grenzen eines kollektiv geteilten Wegs zu sprechen, die losgelöst wäre von der politischen Frage, sprich vom Gegenstand und Inhalt der auf diese Art artikulierten Vorschläge, bedeutet nicht nur, diese Methode von der realen Praxis zu abstrahieren, sondern sie auch zu einer genuin ethischen Sterilität zu verdammen, die sich an unbeständigen, dem kollektiven Leben äußerlichen Werten orientiert. Libertäre Methodologien hingegen fügen sich in das Innere einer präfigurativen Politik ein, die materiell durch kollektive Praktiken gekennzeichnet ist. Allerdings sind auch die Überschreitungen dieser Praktiken gegenüber der exklusiven politique politicienne zu berücksichtigen, welche die Methodologien opfert und zynisch auf Machtergreifung abzielt. Für diese Arten von Bewegungen bedeutet PolitikMachen nicht allein, die Macht zu ergreifen, sondern sie verstehen es als ein kollektives Empowerment: Methodologische Praktiken stellen eine ethisch-praktische Grenze dar, sie kontrollieren die Aggressivität von hierarchisch konstruierten oder ererbten Beziehungen, welche nach Machtausübung streben. Die Unregierbarkeit hat eine lange Geschichte. Sie verbreitete sich ähnlich den Wellen eines Erdbebens und äußerte sich, indem man im staatlich-kapitalistischen Dispositiv den Horizont eines vorbelasteten Lebens erkannte, dessen hierarchisches Imaginäre durch die Präfiguration eines pluralen politischen Gefüges überschritten werden kann. In einem solchen Gefüge ist die Beziehung der Macht vielmehr offen und beweglich und nicht vorab durch das (staatlich-kapitalistische) Dispositiv geschlossen. Diese präfigurative Politik ist dennoch kein Hereinbrechen des Utopischen, sondern der Kompass kollektiven Verhaltens, der in der alltäglichen Dimension des kollektiven Ethos eines ausgesprochen libertären Politikstils8 antizipiert wird. Die Vorwegnahme des Bruchs wird folglich zum immanenten Bestandteil des kollektiven Agierens, überall und jederzeit. Jene Methodologien bilden hierbei die Verteidigungswälle gegenüber Hegemonien und Machtstreben, die auch innerhalb der Bewegungen herrschen. Daher verkörpert sich die Präfiguration im Leben der Bewegungen selbst, sie besetzt physisch die verschiedenen Mannigfaltigkeiten der 8
»Die Alternative ist nicht eine Handlung, ein Vorschlag oder ein dem Programm der Macht entgegengesetzter Diskurs, sondern vielmehr ein neues Dispositiv, basierend auf einer radikal asymmetrischen Perspektive. Diese Perspektive ist anderswo, auch wenn sie denselben Raum teilt« (Hardt/Negri 2012: 55).
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Machtausübung, die in ihrem Innern praktiziert werden können, ohne jedoch in vertikalen Strukturen zu erstarren. Das, was dabei in den Augen nostalgischer Leninisten wie Spontaneismus erscheint, ist hingegen das Ergebnis einer langen und tiefgreifenden, kollektiven und transnationalen Reflexion über die Grenzen von Autorität, die keinen Schlüssel für den Zugang zur Freiheit darstellt, denn nur Wege der Freiheit führen auch zu Freiheit. Vielleicht ist es gerade die unbestimmte Offenheit der Anarchie für Innovation und soziales Experiment, die eine falsche Auslegung des Spontanismus begünstigt. Gegenüber allen anderen Doktrinen und Ideologien stellt die Anarchie eine wundervolle Ausnahme dar. Sie verspricht nichts! Wow, was für eine Freude! Sie bietet keinerlei gefälliges Modell, das es zu befolgen und zu erreichen gilt. Sie verspricht keinerlei Paradies, kein künstliches, kein reales und auch kein proletarisches, das sich am Ende einer maßgeblichen Straße befindet. Eine solche Straße gibt es nicht. […] Ihr Kampf gegen den Staat bedeutet daher nicht die Eroberung der Macht, sondern vielmehr deren Zerschlagung, […] die eines Tages konfligierende Brüderlichkeit und Solidarität hervorbringen kann […], welche ihrerseits imstande sind, imaginative und fröhliche Lösungen zu ersinnen. (Ferrer 2012: 8) In seinem Buch Tödliche Utopien benennt Carlo Formenti die unüberschreitbaren Grenzen einer zerklüfteten Bewegung, deren taktische Hegemonie sich nicht in eine politische Gegenhegemonie gegenüber dem globalen Kapital übersetzen lässt. Indem Formenti den libertären Bewegungen Spontaneismus, Individualismus und Populismus vorwirft (vgl. Formenti 2012b: 9f.; 2012a: 5f.), spricht er ihnen jegliche Entwicklung ab, insofern er nämlich die erreichten Erfolge und die erlittenen Niederlagen aus der transzendenten Perspektive einer Revolution beurteilt, die sich zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt vollzieht. Das Fehlen einer Vision von Klassen, die der weltweiten Spaltung entspricht, die Vermengung von Methodologien kleiner Gruppen mit der Operativität breiter Bewegungen, die Illusion politischer Radikalität, die sich auf Fragen von Identität, Anerkennung, Geschlecht, Umwelt et cetera konzentriert, sowie die Verkehrung der libertären Instanz in liberalen Konformismus – all dies sind zusammengefasst seine scharfen, kategorischen Anschuldigungen (vgl. Formenti 2013: Kap. 7-9). Der Aufruf zu einer Wiedervereinigung von oben würde organisatorische Praktiken erstarren lassen, die im virtuellen Zeitalter schwer durchzuführen sind oder um den Preis, sich an die Regierungen, die die Zugangsmöglichkeiten zum Internet restringieren, anzupassen. Dort, wo sich eine solche Vereinigung auf einer breiteren sozialen Ebene verwirklicht und dabei einem Imaginären folgt, das von transpolitischen, interkulturellen Kreativen und globalen Splittergruppen geschmiedet wurde, würde die weltweite Streuung der Bewegungen enden. Dass sich eine solche Zusammenführung im Sinne der marxistisch verstandenen Klasse ergibt, mag ein frommer Wunsch sein, ist jedoch wenig wahrscheinlich.
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Die Idee der Klassengesellschaft kann heute nichts mehr bewegen, es sei denn, der Impuls dazu geht von der global existierenden Fabrik aus, die sich vor allem im asiatischen Osten konzentriert; vielleicht werden die Bewegungen in jenem Teil der Welt dieselben Entwicklungen durchlaufen wie die westlichen Klassenbewegungen im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts. Vielleicht wird aber auch alles ganz anders kommen. Ohne all das pauschal zu verurteilen, was sich anderswo als die letzte Regung eines kämpferischen Westens ausnimmt, der schon bald der indo-chinesischen Hegemonie seinen Platz räumt, wird die politische Frage folgende sein: Wie können die Zeiten und Räume der differenzierten insurgencia, wie etwa die der Zaptisten in den 1990er Jahren, mit ihrer völlig neuen Grammatik mit dem klassischen Vokabular der okzidentalen Linken verknüpft werden? Eine solche Grammatik fasst den Leninismus nicht mehr als produktive Quelle für einen Bruch und für Emanzipation auf, sollte sie dies in der Vergangenheit überhaupt jemals getan haben (im Übrigen waren die Anarchisten schon zu jener Zeit selbst davon ganz und gar nicht überzeugt). Die falsch verstandenen Kategorien Spontaneismus und Individualismus stellen vielmehr einen Lektürefehler dar, der wortgetreu immer wieder dort wiederholt worden ist, wo libertäre organisatorische Methodologien einfach von den Bewegungen übernommen wurden und nicht das Ergebnis jahrzehntelanger Politikexperimente waren, die eher wegen innerer Konsumtion als durch äußere Repression gescheitert sind. Auch in den aufständischeren Bereichen der Bewegungen findet der Individualismus von einst keine Bestätigung; und zwar weder in der physischen noch in der psychologischen Vorbereitung, die die Mitglieder einer kleinen, homogenen Gruppe zusammenhält, analog zu den Verbindungen, die sich zwischen den Komponenten breiterer Bewegungen bilden, die auf konsensuellem und deliberativem Wege eine Politik von unten erschaffen und sich so gegen die Verbreitung avantgardistischer Eliten oder vor informellem, schleichenden Leaderismus schützen, indem sie Funktionen und Mandate formalisieren, die verstärkt rotieren, sich gegenseitig kontrollieren und eventuell sofort aufgehoben werden können. Die vom Anarchismus geprägte Politik möchte eine politische Schließung leninistischer Prägung abwenden und wird in unterschiedlicher Hinsicht auch von Intellektuellen weiterverfolgt, die außerhalb einer solchen Politik stehen. Dies reicht von Lévinas bis Schürmann. Anders formuliert, muss eine ethische Politik Vorrang haben vor absoluter Politikautonomie. Es geht folglich darum, sich die Freiheit zu nehmen, sich gegenüber dem singulär-pluralen Anderen verantwortlich zu zeigen. Dies schließt jenes unbegrenzte Machtstreben aus, das durch die Vorherbestimmung (die unsichtbare Hand des Marktes) geschützt und typisch für den liberalen Individualismus ist, welcher die Grenzen der Freiheit ausschließlich in der Widerstandskraft des Anderen sucht und nicht in der Eigenregierung des Selbst (vgl. Vaccaro 2011a; 2011b). Die Vermengung einer solch (liberalen) Ausübung von Freiheit
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mit den Bewegungen der Revolte hat den politisch gewollten Effekt, die libertäre Kraft zu schmälern und sie zum bloßen Ausdruck einer privilegierten und somit diskriminierenden Freiheit zu reduzieren (vgl. Formenti 2013: 195f.). Das prekäre Gleichgewicht von Freiheit und egalitärer Gerechtigkeit bildet eine ewige Spannung zwischen der individuellen Einzigartigkeit und der politischen Haeccitas, also der politischen Diesheit, zwischen dem Drang der sinnstiftenden Vorstellungskraft und den historisch-materiellen Bindungen an das de facto Existierende, zwischen der Kritik der politischen Hierarchie in allen Bereichen des sozialen und politischen Zusammenschlusses und der Individualisierung des neoliberalen Zwangs, wie ihn die gegenwärtige Matrix der bioökonomischen Gouvernementalität darstellt und nicht vom Umstand getrennt werden kann, dass Politik staatlich strukturiert ist. Im Hinblick auf diesen letztgenannten Aspekt verkennt Formenti, dass sich Bewegungen weder gegen die eine oder andere Regierungspolitik richten noch gegen eine besondere Spielart des globalen Kapitalismus. Vielmehr richten sie sich gegen die unauflösliche Verflechtung von staatlicher Politik und ökonomischem Finanz-Neoliberalismus, die beide unumkehrbar aneinanderbindet und es unmöglich macht, dass beide alternierend und als Gegenstück zueinander eingesetzt werden können. Ein Reformweg wird verhindert: sowohl durch die politische Analyse, die sich aus der Notwendigkeit und nicht wegen ideologischer oder ideeller Priorität radikalisiert, als auch für die ökonomische Kritik des realen sowie virtuellen Kapitalismus. Zahlreiche Experimente mit anderen Produktions-, Um- und Rückverteilungsformen haben versucht, sich gegen den Kapitalismus durchzusetzen, wobei die Dimensionen und Formen von zutage tretenden Konflikten nur zum Teil durch den zerstörerischen Rhythmus diktiert werden, den das janusköpfige Monster Staat-Kapital dem Planeten aufzwingt, sondern teils auch aus der Verbreitung der Experimente und den im sozialen Miteinander praktizierten Alternativen resultieren. Ob und inwiefern diese glücklich verknüpft werden, wird die Herausforderung und immanente Perspektive sein, um jene latente und nur punktuell sichtbare Entwicklung der Bewegungen zu deuten.
Präfigurative Post-Politik Daher ist präfigurative Politik ein anderer politischer Organisationsstil beziehungsweise der gemeinsame Schutz von kollektiven Praktiken, welche die Logik ihrer Institutionalisierung ablehnen − eine Logik, die über die räumliche und zeitliche Existenz dieser Bewegungen hinaus besteht. Erscheint das Voranschreiten dieser Bewegungen auch ungewiss, inkonstant und stotternd, so ist es doch ein Zeichen für die verborgene Kraft derjenigen, die den Boden dafür vorbereiten, dass jene kollektiven Prozesse, die zum qualitativen Bruch mit gegebenen Le-
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bensformen führen, unerwartet geeint werden können. Dieser Bruch kann nicht immer von Einzelnen durchgeführt werden, noch lässt er sich von der hegemonialen und autoritären Strategie einer einzelnen Partei allein beanspruchen, welche die neue Lebensform dann als kollektives Band für alle und über die Köpfe aller hinweg festsetzt. Dies spiegelt die bisweilen unglückliche Geschichte der linken Revolutionen des 20. Jahrhunderts wider, die durch das Monopol politischer Revolution versucht haben, an die Macht zu gelangen, und so die soziale Lebendigkeit alternativer Experimente erdrückt haben. Indem sich die taktische Entwicklung der Bewegungen entlang eines kollektiven Ethos artikuliert, das zur Revolution wird, ohne diese zu institutionalisieren, schließt sie nicht an etwas Vor-Konstituiertes an. Gleichwohl bindet sie sich fest an politische und ökonomische Dynamiken, die das Leben der meisten Menschen betreffen. Dadurch, dass die präfigurative Politik die Materialität des staatlich-kapitalistischen Dispositivs als diejenige Einschließung erkennt, die es zu zerreißen und aus der es auszubrechen gilt, umgeht sie die materialistische Dialektik, die durch die Spaltung in Klassen die Umkehrung der Kräfteverhältnisse erzwingen will. Das kapital-parlamentarische Regime (vgl. Badiou 2003: 12; Žižek 2013) begründet sich, indem es Leben aus den pluralen Singulären zieht, um dies dann in eine obligatorische und für alle bindende Form zu bringen. Diese Form gilt es aufzulösen. Ihre Vorstellungen wurden unwillentlich als ein immanenter Horizont übernommen, der gesprengt werden muss. Ihr homogener und nur scheinbar pluralistischer Stil muss mittels eines kollektiven »Gegen-Verhalten[s]« (Foucault 2006: 284) verändert werden, das sich vor allem selbst transformiert, indem es gemeinschaftlich mit neuen Praktiken, neuen Methoden und auch mit neuen sozialen Konstellationen experimentiert, die verschiedene Bereiche des Lebens betreffen. Dass sich eine solche Entwicklung anbahnen kann – ausgehend von der Marginalisierung einer klassenbasierten Spaltung in einer bestehenden Gesellschaft oder von der Aufnahme monetärer Einzelinteressen, wie etwa dem Gegenstand der Gerinnung einer gegebenen Bewegung – hat wenig Bedeutung, wenn kollektiv so etwas wie eine exzentrische und tangentiale Bewegung einsetzt, die den Widerstand für geteilte Praktiken öffnet, die schrittweise die Frage des Lebens, die ja der Gegenstand der präfigurativen Widerstandspolitik ist, integrieren. Im Übrigen ergibt sich eine vereinte Ebene nicht unter der Ägide eines materiellen Primats, das von einer dialektischen Position bestimmt wird, die eine derart schicksalhafte Funktion eher der einen als der anderen Klasse zuteilt. Vielmehr entsteht eine solche Ebene in einer Überschreitung, welche sich der Identifizierung einer Klasse mit dem Widerstand, wie sie eine matrizenhaften Logik vorsieht, entzieht. Vor einer solchen Logik gilt es, sich in Acht zu nehmen. Historisch gesehen kam ihr bei der Reduktion des Feldes des Politischen auf eine hierarchische Einheit eine tragende Rolle zu. Die präfigurative Politik widersteht der vertikalen Schließung, sie stellt ein plurales Leben als notwendiges Zeichen einer qualitativen Veränderung der or-
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ganisierten Existenz in Aussicht. Sie verkörpert die Nicht-Identifikation, die als Fluchtlinie fungiert, um sich aus einem Raster systemischer Kompatibilitäten zu befreien, das, ist es einmal zerfallen, nicht wieder einheitlich zusammengesetzt, sondern von »einer Mannigfaltigkeit [durchquert werden soll], die nicht vertikal strukturiert ist und so das der Mannigfaltigkeit eigene Begehren nicht zerstört« (Deleuze 1974: 18). In der Tat umreißen die auf eine Aushebelung der Ordnung abzielenden Bewegungen eine post-politische Praktik, vorausgesetzt, man versteht unter ›Politik‹ einfach nur den Zugang zur politischen Macht in ihrer institutionalisierten Form. Die Absage an Institutionen bedeutet, den Sinn politischer Widerstandsaktionen zu verändern. Der Erfolg solcher Praktiken misst sich mittels einer zeitlichen und räumlichen Skala, die dasjenige übersteigt, was man bei einem Konflikt auf der Bühne der politischen Repräsentation gewinnt (vgl. Hardt/Negri 2012: 44). Die präfigurative Politik setzt sich im Moment ihrer Ausübung selbst aufs Spiel, indem sie eine Reihe von horizontalen, verbreiteten antihierarchischen Praktiken mit sich bringt, die vielfach weitere Praktiken an anderen Orten und nach anderen Maßstäben hervorrufen. Niederlagen und Rückschritte, wie sie zum Teil bei Occupy Wall Street, bei den indignados oder auch beim Arabischen Frühling zu beobachten sind, halten den Widerstand nicht auf. Sie verlagern ihn vielmehr, machen ihn ungreifbar, stellen ihn in andere Kontexte und lassen ihn ohne erkennbaren Zusammenhang in einem anderen Raum und zu einer anderen Zeit wiederauferstehen. Dieser Widerstand bringt erneut einen Zerstreuungseffekt hervor, indem er auf andere Körper und andere Widerstandsvorstellungen übergeht. Es handelt sich hier um eine Art ständige Wette darauf, sich der ansteckenden Regierbarkeit entziehen zu können, indem man sich von den üblichen repräsentativen und mittelbaren Formen unterscheidet und sich als nicht wahrnehmbar und unvereinbar erweist. Dennoch ist die Wette als solche in jedem Revolutionsherd gegenwärtig, sie befindet sich auf der Schwelle zwischen einem chaotischen Magma und dem Versprechen auf Ordnung, frei von dem typischen geschlossenen Übergang, der die Verstaatlichung der revolutionären Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts kennzeichnete (vgl. Berardi »Bifo« 2012). Die post-politische Zeit, die sich stets nur in der Gegenwart vollziehen kann (No Future!), stellt das Entzogen-Sein der Zukunft dar, wie sie die neoliberale Gouvernementalität auferlegt. Die neoliberale Gouvernementalität scheint uns zur ewigen Wiederaufnahme einer fortwährenden Erinnerung dessen zu verdammen, was ist, ohne eine Transformationsspirale zu eröffnen, die sich am kollektiven politischen Handeln orientiert. Diese ewige Wiederkehr des Gleichen liegt im Vertrauen auf den Fortschritt technologischer Neuerungen, die durch ökonomische und finanzielle Investitionen geleitet und bestimmt werden. Andererseits künden das Unbehagen und die Ungeduld, die sich überall manifestieren, dennoch von einem Riss: dem eines kontinuierlichen Ungehorsams, einer ewig andauernden Revolte, auch wenn diese als voneinan-
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der unabhängig erscheinen. Sie verwandeln den post-politischen Stillstand in eine erschütternde Kraft, in die Macht des Neins, und verhindern so, zum x-ten Mal Herrschaftsverhältnisse zu begründen. Eine solche Erschütterung eröffnet hingegen einen augenblickhaften Raum für ein kollektives Experiment, das nicht auf ein messianisches Ereignis oder auf eine zu-kommende Utopie projiziert ist, sondern das im Konflikt selbst erfahrbar ist, als seine doublure, als doppelter Hintergrund, der in seinen Koordinaten verwoben wird (vgl. Vaccaro 2013). Nachdem sie nun die verhängnisvolle Lektion gelernt hat, strebt die präfigurative Politik danach, sich von jener vertikalen Tradition und ihrer Neuauflage an autoritärer Politik zu emanzipieren. Vielmehr versucht sie sich in Machtverzicht, als Alltag in den verschiedenen Sphären gesellschaftlicher Organisation. »Die Anarchie lässt die Beziehungen nicht, wie sie sind, sie macht sie operativ und kooperativ, um sie, mithilfe von Erfindung und Aufstand, von jeder Fessel zu lösen und sie stets für neue Bestimmungen ihres Spiels in der Gesellschaft zu öffnen.« (Gamba 2012: 4) Nur wenn man die Linien der Widerstandsbewegungen verknüpft, wird man sagen können, ob die Wette hinsichtlich ihrer präfigurativen Form aufgehen wird, und auch, ob das soziale Experiment immer wieder einen neuen differenziellen Überschuss hervorbringen kann, mit dem unser übermäßiges Freiheitsbegehren und »vor allem die moralische Pflicht zum Ungehorsam« befriedigt werden können (Demichelis 2013: 3). Aus dem Italienischen von Vittoria Borsò und Lilja Walliser
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Die Universität als Knowledge Factory Zwischen New Public Management, Forschung als Zeitarbeit und Produktion prekären Humankapitals Pietro Maltese
Neue universitäre Governance In Europa ist, seit mindestens zwanzig Jahren, eine Reform des Hochschulwesens im Gange, die auf ›strukturelle Konvergenz‹ abzielt. Dieser Prozess wurde nicht nur von oben politisch initiiert (vgl. Rostan/Vaira 2010: 202), sondern er wird auch von und in überstaatlichen Zusammenhängen gefördert und unterstützt. Insgesamt steht er im Zeichen der neoliberalen Wende der Universitäten. Wollte man diese Entwicklung klassifizieren, so ist sie als Überführung von öffentlichen in Unternehmensstrukturen zu verstehen, jedoch nicht, wie bisweilen vermutet, als Privatisierung im engeren Sinne. Die Kommerzialisierung der Universitäten – beziehungsweise »der Wandel von Dienstleistungen und Beziehungen zwischen Institution und Mensch im Sinne einer Lieferant-Kunden-Kette« (Vaira 2003: 339) ‒ muss nicht zwangsläufig mit der Auslagerung universitärer Aufgaben an den Privatsektor einhergehen; gemeint sind hier die Produktion von Humankapital und von Wissen sowie all jene Aufgaben, die den dritten Auftrag von Universitäten betreffen (lebenslanges Lernen, Bereitstellung von Dienstleistungen im Einzugsgebiet et cetera). Auch wenn in Italien Experten darüber debattieren, ob eine Transformation der Universitäten in privatrechtliche Stiftungen wünschenswert sei, so zwingt der Umstand, dass der Nexus von Kommerzialisierung und Privatisierung relativiert wird, ebenso dazu, sich mit dem tendenziellen Verschwinden der »Dialektik zwischen Öffentlichem und Privatem« (Roggero 2011: 58) auseinanderzusetzen. Beide tragen auf unterschiedliche Art und Weise dazu bei, die Biomacht der postfordistischen Wirtschaft zu entfalten. Der postfordistische Wandel des Hochschulwesens setzte mit Thatchers Pilotprojekten zur Umstrukturierung der Universitäten − oder, im Falle Italiens, mit der Autonomiereform Ende der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre − ein. Er ist von einem legislativ flimmernden Leviathan gekennzeichnet, der zur Governance konvertiert ist und geneigt ist, sich von »gouvernementalem Wissen« (Vaccaro 2009: 205) und den dazugehörigen gouvernementalen Apparaten – wie etwa Ra-
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tingagenturen – prägen zu lassen, welche ihrerseits unter dem Schein technischer Neutralität eine politische Funktion innehaben. Jenseits der instinktiv getroffenen Entscheidungen des jeweiligen Machthabers beschränkt sich der Staat nicht selbst, sondern setzt im Vergleich zur Vergangenheit andere Strategien ein: Er regiert, indem er Leitlinien diktiert und eher auf Produktinnovationen setzt anstatt auf eine strenge Verfahrenskontrolle des Inputs. Dabei folgt er dem Muster des steering at a distance, wobei in Italien die öffentliche Politik ebenso stark durch Hierarchiezwang beeinflusst worden ist. Dieser Staat schlägt schließlich den Weg der Verschlankung der Gesetzgebung ein, wobei sich diese nicht diffus auf einzelne Knotenpunkte des universitären Netzwerks erstreckt, sondern sich auf dessen institutionelle Führung (die Rektoren), auf die Stakeholder des ›universitären Unternehmens‹ und auf Geschäftsstellen unterhalb der unmittelbaren Leitungsebene konzentriert, also auf die Treibriemen zwischen Zentrum und Peripherie, welche ihrerseits nicht selten unter strenger universitärer Aufsicht stehen. Auch wenn die Stakeholder Society, die von den Theoretikern der demokratischen, deliberativen Governance, welche Partizipationsdefizite der politischen Repräsentationsformen zu lösen imstande ist, gepriesen wird, so erweist sie sich de facto auch im Hochschulwesen als ein Ergebnis von Kräfteverhältnissen und weniger als Resultat einer durch tiefgreifende Konflikte sterilisierten und durch kommunikatives Handeln geregelten Kooperation. Sie gibt sich also als eine partielle Synthese asymmetrischer Machtverhältnisse aus, die durch Top-down-Maßnahmen verstärkt werden. Man denke nur an die jüngste italienische Universitätsreform und an die Pflicht, Teile des Verwaltungsrats mit Unternehmensvertretern zu besetzen, sodass Beziehungen zwischen dem Bildungsbereich und der Wirtschaftswelt entstehen, die sich, dem neoliberalen Denken zufolge, doch von ganz allein herausbilden sollten. Die Geschichte der postfordistischen Universität, der Universität als Knowledge Factory, ist also nicht mit dem Bedeutungsverlust des staatlichen Einflusses verknüpft. Vielmehr ist es die staatliche Politik, die sich verändert. Sie ist gekennzeichnet durch zunehmenden Verwaltungsausbau (vgl. Arienzo 2004) und Gouvernementalisierung.1 Sie meidet die parlamentarischen Sitzungssäle, bedient sich parlamentarischer Ermächtigungs- und Mikrogesetze, die auf den ersten Blick günstig erscheinen, in Wirklichkeit jedoch organisch sind. Sie erlässt Richtlinienanweisungen, die sich »zwischen juristisch verbindlichen Handlungen und verhaltensleitenden Moralappellen« (Monti 2007: 93) bewegen. All dies lässt sich in 1
So bemerkt Chignola: »Die Gouvernementalisierungsprozesse des Staats zu durchlaufen, bedeutet […], sich von der Position zu lösen, welche die Apparate des Letzteren ›überbewertet‹ und dabei von der Tendenz zur abstrakten Personifikation ausgeht, die ihm einen Willen zuschreibt« (Chignola 2011: 101).
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Begriffen der Unternehmensführung als New Public Management (NPM) begreifen. Die Verbindung dieses Phänomens mit der Prekarität ist offensichtlich. Indem man die Veränderungen des Hochschulwesens an ebenjenen Brüchen und Übergängen festmacht, die den flexiblen Menschen hervorgebracht haben, wird deutlich, inwiefern der Wandel von Universitätsbetrieb und Produktionsweise miteinander verkettet sind. Es handelt sich um den Übergang vom Fordismus zum Postfordismus, von einer auf primären Rohstoffen basierenden Wirtschaft zur Wissensgesellschaft, vom industriellen zum kognitiven Kapitalismus, vom Primat der materiellen Produktion zu dem des Finanzertrags, vom Welfare zum Work- und Learnfare. Es handelt sich somit ebenfalls um den Übergang von der keynesianischen zur monetaristischen Hegemonie, die mit dem Ende des Sozialstaates zusammenfällt, welcher rechtlich gesehen ein Nachfahre vieler Verfassungsschriften der Nachkriegszeit ist. Dies bedeutet auch eine Rückkehr zu liberalen Hypothesen, die mithilfe der Systemtheorie aktualisiert wurden und, dank des Einsatzes gouvernementaler Praktiken, bis dato weitgehend von der Sozialkritik verschont worden sind. Die Governance entspricht somit also nicht nur (und auch nicht in erster Instanz) einer Technologie, um die Diskrepanz zwischen Zivilgesellschaft und politischer Gesellschaft aufzuheben, sondern vor allem einem Instrument der neoliberalen Hegemonie,2 welches das Risiko vermeiden soll, angesichts des Verschwindens von Alternativmodellen in Kurzschlussreaktionen zu verfallen. Es handelt sich hier, um mit Habermas zu sprechen, um ein Verfahren, das den Legitimitätsund Rationalitätskrisen des postfordistischen Kapitalismus entgegenwirken soll. In diesem Sinne lässt sich ein struktureller Zusammenhang zwischen Krise (der Souveränität, der Staatsräson, der rechtlichen Normativität) und Governance feststellen (vgl. Negri 2008: 122ff.). Die im Folgenden zu besprechenden gouvernementalen Veränderungen implizieren die Lockerung von Vertragsbindungen des fordistischen Lohnregimes, den Abbau keynesianischer Schutzstrukturen sowie deren Restrukturierung nach dem Vorbild von Privatunternehmen und vor allem die Anwendung betriebswirtschaftlicher Raster auf postsekundäre Bildungseinrichtungen. Dies ist also einer der Gründe, warum hier Aronowitz’ Ausdruck der Knowledge Factory verwendet wird (vgl. Aronowitz 2000). Dieser Begriff ist passend, allerdings ist er auch ambivalent. Denn wie der italienische Ableger des edu-factory-Netzwerks im Jahre 2008 präzisiert, ist der Terminus »hinsichtlich seiner Anspielungen korrekt, aber analytisch unzureichend« (Collettivo edu-factory 2008: 12f.). Korrekt sei der Begriff, da er »das produktive Werden […] der Universität, deren Zentralität im gegenwärtigen Kapitalismus und auch charakteristische Merkmale der […] Kontrolle und 2
Zur ›theoretischen Nähe‹ zwischen Governance, Neokorporatismus, New Public Management, methodologischem Individualismus und Neoliberalismus vgl. Arienzo (2013).
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Disziplinierung der lebendigen Arbeit erfasst« (Collettivo edu-factory 2008: 12f.). Er bleibt jedoch »analytisch unzureichend, weil er den Unterschied […] zwischen der ›fordistischen Fabrik‹ und der Universität unterschätzt« (Collettivo edu-factory 2008: 12f.). Und ebenso unzureichend ist er, wenn er die Metapher der Fabrik als Ausgangspunkt nimmt, um die Gegenwart zu beleuchten. Vielleicht sollte man daher die gegenwärtige Produktion im Umkehrschluss ausgehend von der Erzeugung und der Verbreitung von Wissen im universitären System erklären. Hierbei schließe ich mich der These einer Universitarisierung des postfordistischen Unternehmens an, das heißt, dass dem Bildungs- und Forschungssystem eigene Tätigkeitsmodelle und -standards durch die Privatwirtschaft übernommen werden. Lässt das Aufdecken der Widersprüche der postfordistischen Universitäten auch die der postfordistischen Produktion und Regulation klar zu Tage treten? Fungiert die Universität gar als Vorbild für die kognitive Sozialproduktion? (Vgl. Ross 2008: 39; Roggero 2009: 58f.) Um das postfordistische Nebeneinander von Ausbildung und Arbeit zu illustrieren, genügt es, darauf zu verweisen, dass die Arbeit von Wissenschaftlern, abgesehen davon, ob ihre Lage prekär ist oder nicht, im Zeichen kontinuierlichen Lernens steht. Zudem sind Forschungsarbeit und Lernen nicht zeitlich messbar und entziehen sich so einer Taylorisierung. Dies zeigt, dass die Dichotomie von Arbeits- und Nichtarbeitszeit im heutigen Produktionsregime überholt ist. Aus diesem Blickwinkel darf die Prekarisierung von Universitätsabsolventen und -angestellten ‒ die übrigens mit der Überführung in Unternehmensstrukturen einhergeht ‒ nicht ausschließlich auf die Verwendung von Zeitarbeitsverträgen reduziert werden; im Übrigen war sie unumgänglich in Anbetracht der Steuerkrise des keynesianischen Staates, der Kürzungen der öffentlichen Finanzierung und angesichts des Bedarfs an flexiblen und qualifizierten Arbeitskräften. Der Prekarisierungsprozess betrifft hingegen übergreifend alle Mitglieder des Netzwerks und bezieht dabei auch diejenigen ein, die man einst als eine ›sich ausbildende Arbeitskraft‹ bezeichnete. Operaistischen Theorien zufolge, welche Marx’ Fragment über Maschinen (vgl. Marx 1983: 590ff.) neu auslegen, sind diese sich ausbildenden Arbeitskräfte heute bereits an sich unmittelbarer Bestandteil der Produktion, da sie am Leben des general intellect teilhaben. Zwischen 2008 und 2010 zeigten sich die Auswirkungen der sich an betriebswirtschaftlichen Kriterien orientierenden Umstrukturierungen des Hochschulwesens. In dieser Zeit kam es zum Ausbruch der Bewegung Onda anomala ‒ einer Art Selbstdarstellung, in welcher sich die Betroffenen organisierten, und die für einen kurzen Zeitraum an die Aufstände von 1968 und 1977 erinnerte. Teil dieser Bewegung waren zum einen Studierende, also Mitglieder einer Generation, die zu einem provisorischen und vom Zufall abhängigen Leben verurteilt ist; abgesehen von der Inflation an Bildungskrediten und von fallenden Löhnen ist ein Hochschulabschluss auch weiterhin eine lohnende Investition, da er langfristig als Unterschei-
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dungsmerkmal dient (vgl. Aringoli et al. 2006: 64-67). An den Protesten nahmen auch befristet angestellte Wissenschaftler und Dozenten teil, welche strukturell zu Subalternen degradiert werden, sowie ältere unbefristete Forscher, denen nun der Rang eines fordistischen Überbleibsels zukam, das es zu beseitigen gelte. Ihre Stellen sollten zwar auslaufen, aber danach in das recht fragwürdige Tenure-TrackSystem überführt werden, welches die Hochschulreform von 2010 eingeführt hatte. Abgesehen von bestimmten (in einigen Fällen korporativen) Forderungen bildete die Prekaritätskritik den roten Faden, der all jene vielfältigen Positionen dieses Archipels an Subjektivitäten zusammenhielt. Sie führte dann auch zur Kritik des in den reformierten Universitäten vermittelten Wissens, welches nunmehr in Module unterteilt wurde (vgl. Raunig 2012). Die Universitäten hatten sich in Unternehmen gewandelt. Folglich kritisierte man den postfordistischen Diskurs, die neoliberale Veridiktion und die Rhetorik hinsichtlich des Humankapitals. Diese Bewegung hat es geschafft, das allgemeine Interesse für den Erhalt des öffentlichen Bildungswesens auf die Tagesordnung zu setzen; es handelte sich um mehr, als das Recht auf Bildung und die Werte einer in den Universitäten vermittelten und gelebten Kultur zu verteidigen. Vielmehr hat sie sich mit der Transformation des Sozialsystems, der Finanziarisierung der Wirtschaft und der Erzeugung des verschuldeten Menschen auseinandergesetzt und sich den Slogan »Wir bezahlen die Krise nicht« zu eigen gemacht, der in der fortschrittlichen Mainstreamkultur jedoch keinen Niederschlag fand. Er war unzulässig, da er das Schreckgespenst der »Klasseninsolvenz« und des »Rechts auf Bankrott für Prekäre« heraufbeschwor (Roggero 2009: 187) und so einen Bruch mit der traditionellen Rhetorik ankündigte, welche darin geschult ist, die nationale Verantwortung »für subalterne Schichten in Krisensituationen« (Carnevali/Sciuto 2008) klassenübergreifend zu formulieren. Indem sie versuchte, Gewohnheiten aufzubrechen, lieferte diese Bewegung ‒ obgleich sie von Diskordanzen in Bezug auf Taktiken und Aussichten durchzogen war ‒ eine glaubhafte Selbstdarstellung. Es gelang ihr, die Prekarität einen Moment lang abzubilden.
New Public Management Um die Überführung von universitären Strukturen in Unternehmensstrukturen technisch nachzuvollziehen, ist es notwendig, näher auf die neoliberalen Darstellungen von Governance und auf die Theorien des New Public Management einzugehen. Auf organisatorischer Ebene zielt die neoliberale Kritik auf die vom Goldenen Zeitalter des Wohlfahrtsstaates ererbten Modelle und deren »mangelnde Anpassungsfähigkeit an die Veränderungen der Marktbedingungen« (Palumbo 2009: 14f.). Diesen Modellen mangelt es an »finanziellen Anreizen« und Wettbewerbsdy-
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namiken (Palumbo 2009: 14f.). Feste Beschäftigungsstrukturen lehnt die neoliberale Kritik ab, da sie diese als einen zu tilgenden Makel wahrnimmt (vgl. Palumbo 2009: 14f.). Entsprechend seien unbefristete Arbeitsverträge und Alterszulagen durch Zeitverträge und Leistungszulagen zu ersetzen. Es handelt sich also letztendlich um eine Rückkehr zur »privatwirtschaftlichen Natur des Arbeitsverhältnisses« (Amendola 2011: 183f.) und um die »administrative Angleichung des öffentlichen an privates Recht« (Negri 2008: 63). So werden zweckgerichtete, auf finanzielle Unabhängigkeit zielende Maßnahmen gefördert und, was unseren Sachverhalt betrifft, die Universitäten in eine kaufmännische Dimension eingegliedert. Nicht zufällig spielt die Sekundärliteratur auf einen universitären ›Quasi-Markt‹ an, auf welchem die Mangelware ›Student‹ mithilfe von Marketingkampagnen zu beschaffen ist und Dozenten mit ständigem Fundraising beschäftigt sind. Auf diese Art und Weise werden die ›Nutzer‹ der Wissensfabrik zu Kunden, die zufriedengestellt werden müssen. Im italienischen Kontext erfordert die Devolution – die aus der Autonomie hervorgegangen ist, welche den Hochschulen zwecks Erprobung eines diversifizierten Lehrangebots und drittmittelfinanzierter Forschungsprogramme notwendigerweise zugebilligt wurde – nicht weniger Staat, sondern eine andere Art von Staat. Allgemein fördert der neoliberale Reformismus also einen »doppelten Prozess der Dezentralisierung der Verwaltung und der Zentralisierung der Politik« (Palumbo 2009: 20). Der Abbau ebenjener »klaren Hierarchie des Verwaltungsakts, welche den Geltungsbereich, die Anwendung und die Implementierung der Norm bestimmt und ihr ›private‹ Interessen unterordnet« (Chignola 2008: 118), führt zu einer formalen Entpolitisierung,3 die Unvorhersehbarkeiten hinsichtlich 3
Hinsichtlich dieser Entpolitisierung bemerkt Esposito: »Wenn man […] von moderner Entpolitisierung, ja gar von der Moderne als Entpolitisierung oder Neutralisierung spricht, stellt sich Letztere als Objekt (oder Form) eines politischen Exzesses dar. Anders ausgedrückt, bedeutet dies, dass alle Bereiche des Lebens politisch werden (im Sinne deren Formalisierung: als Emanzipation von der Natur und […] Verlust der ›Substanz‹) und so zu einer fortschreitenden Neutralisierung führen, das heißt zur Ausgrenzung des Konflikts aus der ›gesellschaftlichen‹ Ordnung« (Esposito 1988: 8). Zur Kategorie des Impolitischen bei Esposito äußert Gentili: »Espositos Wiederaufnahme des Unpolitischen […] versteht […] die Erweiterung und die Fragmentierung des Raums außerhalb der Orte der Macht als Produkt eines Exzesses von Politik, der jedoch derselben Logik folgt […], welche die Ordnung des Politischen regelt. Die Entpolitisierung […], die jegliche Dimension des singulären und kollektiven Lebens eingenommen hat, indem sie […] die Unterscheidung zwischen öffentlicher und […] privater Sphäre, zwischen Politischem und Sozialem aufhebt, stellt kein […] antipolitisches Abdriften dar, sondern eine Potenzierung des Politischen selbst, auch wenn diese mittlerweile nicht mehr ausschließlich auf den Bereich der Staatsform und auf dessen politisch-rechtliche Kategorien reduziert werden kann« (Gentili 2012: 155f.). Was den theologisch-politischen Hintergrund der entpolitisierenden Neutralisierung jenseits des Traditionellen und Erwartbaren betrifft, verweise ich auf Schmitt (vgl. Esposito 2013).
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der demokratischen Legitimität von Governance4 absehen lässt. In der Tat hebt die neoliberale Governance die »Sichtbarkeit der Stellung von Politik [auf] und verortet sie innerhalb eines administrativen Bereichs, in welchem Verantwortungszuschreibungen und die Gelegenheit zu öffentlicher Kontrolle schwinden« (Vaccaro 2009: 209). Indem sie diskursive Praktiken verwirklicht, die mit »Fragen der ›Lösung und Regulierung‹« zusammenhängen, entpolitisiert sie »die gouvernementale Kontrollfunktion von Ereignissen« (Vaccaro 2009: 209) und bewahrt sie so vor dem Vorwurf, dass sie Partikularinteressen verfolge. Infolgedessen reduziert sich die »Wahl« auf eine »Funktion im politischen Programm« (Vaccaro 2009: 209). An die Stelle des idealisierten Modells des Politischen – verstanden als Ausfaltung von Motiven und, ist einmal Zustimmung erlangt, als Machtausübung und Entscheidungsorgan – treten nun die Ratschläge von Managern. Und während die normative Rechtswissenschaft in einem »Hybridisierungsprozess« durch gouvernementales Wissen5 ersetzt wird, kann die Staatsmaschinerie keine makroregulativen Maßnahmen zur Unterstützung der Gesamtnachfrage bereitstellen (noch muss sie dies), wohl aber »die endogene Entwicklung anregen« (Palumbo 2007: 24). Dieser ständige Delegationsprozess kehrt schließlich die »hierarchische […] Linearität der Macht« um; »die Transparenz der Legitimationskanäle« implodiert, was den Verlust »prozessualer Sichtbarkeit« nach sich zieht, sodass diese »implizit« erfolgt (Vaccaro 2007: 137). Diese gouvernementalen Perspektiven sind nicht nur mit den Leitsätzen des NPM kompatibel, sondern sie ergänzen diese auch noch. In der Weltanschauung des New Public Management soll Bürokratie durch Verwaltungsmuster von Privatorganisationen abgebaut werden ‒ dies gilt auch für Universitäten. Die Hauptprinzipien dieser Philosophie basieren auf der ausgeprägten »Beachtung der Performance innerhalb der Planungssysteme […] mit Ausrichtung auf die Zukunft« sowie auf der Bereitschaft, die »hierarchische Koordination durch vertragliche Bindungen« zu ersetzen und so Kooperationsformen umzusetzen, die von »Verhandlungen mit dem Markt« (Turri 2011: 14f.) abhängen. Ferner sieht das NPM die 4
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»The concept of governance is widely used to express a range of new practices of public administration. Typically, these practices are associated with a perceived shift from a hierarchic bureaucracy to markets and networks. Historically bureaucracies have been considered part of a legitimate democratic order because they are subject to control by a legislature that is itself accountable to the electorate. If markets and networks are replacing bureaucracies, however, perhaps we need new means for ensuring that these latter remain appropriately democratic; perhaps we even need a new or modified concept of democracy that is better suited to contemporary governance« (Bevir 2006: 426). Für Amendola handelt es sich weder um »einen Verzicht auf das juristische Medium noch um dessen einfachen Untergang in der Wirtschaft […]: Gouvernementalität schließt das Recht nicht aus, [sondern] durchzieht es« (Amendola 2011: 186f.).
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Einrichtung von »Kontrollsystemen« und die manageriale Umgestaltung der universitätsinternen Governance vor, nun mit starkem Gewicht auf institutionellem Leadership, der Beachtung der Stakeholder (Turri 2011: 14f.) und der Accountability-Prozesse, was hinsichtlich des Glasnost-Effekts gegenüber den Interessensvertretern unabdingbar ist (vgl. Ballarino et al. 2010: 55f.). Neben der Einführung von »Wettbewerbsmechanismen bei der Verteilung von Ressourcen« (Paletta 2004: 10f.) betont das NPM zudem den »Übergang der Führungstätigkeiten vom ›Machen zum Laissez-faire‹« (De Leonardis 2011: 22ff.). Mit Foucault lässt sich diese als eine Führungstechnik entschlüsseln, die auf der »Führung von Führungen« und auf Anreizen beruht, welche »die Unabhängigkeit der Handelnden, deren Fähigkeit zur Selbstregulierung und deren Wahlfreiheit fördern«, diese aber zugleich »an Modelle, Ziele und Parameter der Performance« binden und so »das Zeichen eines neuartigen Zentralismus« tragen (De Leonardis 2011: 22ff.). Dies ist nicht der geeignete Rahmen, um zu beurteilen, ob die Umsetzung des NPM in der öffentlichen Verwaltung definitiv Verbesserungen hervorbringen kann. Klar ist jedoch, dass diese Form des Managements im postsekundären Bildungsbereich dringende Probleme aufwirft, die bedingt sind durch die Eigenarten der Universitätsmaschinerie, die Art der produzierten Güter und erbrachten Dienstleistungen sowie durch Gewohnheiten, welche den neo-unternehmerischen Narrativen fremd sind. Da sich die Implementierung des NPM ohne die notwendige Umsicht und Mediation letztendlich als kontrovers erweist, wird sie von den akademischen Vorkämpfern als irreführend wahrgenommen; Letztere sind imstande, ihren gewaltigen Widerstand, wenn auch still, auszudrücken und ihr Verhalten formal anzupassen, aber dabei jedwedes Reformbestreben zunichtezumachen. Durch den Verweis auf die wissensbasierte Gesellschaft und Wirtschaft sowie auf die entscheidende Rolle der Universitäten in diesem Kontext wird die Notwendigkeit managerialer Effizienz im Hochschulwesen jedoch zugleich allgemein gerechtfertigt.
Anomale Wellen Von 2008 bis 2010 entwickelte sich an den Universitäten eine Pattsituation zweier stürmischer Protestbewegungen, die jeweils durch eine ausgeprägte Selbstrepräsentation und »Autopolitik« (Caruso 2010: 164) gekennzeichnet sind. Auf eine ausführliche Darstellung jener Protestbewegungen soll an dieser Stelle verzichtet werden, doch möchte ich die unmittelbare Verbindung »zwischen Alltag und Mobilisierung« (Caruso 2010: 164) innerhalb dieser Proteste hervorheben. Wohl nicht ganz zufällig gingen diese Proteste auch mit zunehmenden Selbstbefragungen einher, welche die sogenannten Mituntersuchungen der 1960er Jahre wiederaufnahmen und die gesellschaftliche Klassenzusammensetzung kompositionistisch interpretierten (vgl. Rivetti et al. 2012). Ihre Bezeichnung als ›Welle‹ evoziert eine
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wirkungsvolle Semantik: nämlich eine Bewegung, die ohne eine gewerkschaftliche Basis wie eine anomale Welle unvorhergesehen auftaucht und ebenso schnell wieder verschwinden kann. Es handelt sich also um eine selbsterfüllende Prophezeiung, die in einer entmutigenden und zugleich faszinierenden Zeit der ›Bewegung der Prekären ohne Zukunft‹ zwar das Fehlen einer Zukunft vor Augen führt, aber gleichzeitig auch die Schwäche des Politischen offenlegt, welches zur Konfliktregulation auf den Ausnahmezustand zurückgreifen muss. Die Konflikte explodieren schlagartig, sie scheinen nicht regierbar. Auch wenn sie sich auf lange Sicht als harmlos erweisen mögen ‒ es sei denn, sie setzen sich in den Erinnerungen fest ‒, so sind sie doch unvorhersehbar. Das Risiko, dass sie erneut in Erscheinung treten, bleibt. Und dies war der Fall. In der Tat durchliefen Italien zwei Protestwellen: jene von 2008, welche bereits in einzelnen Studien und ganzen Sammelbänden besprochen wurde, und jene von 2010, die sich als schwer fassbar und heftiger erwies. Auch wenn sich beide gegen denselben Minister richteten, so unterschieden sie sich doch grundlegend voneinander. Daher ist es besser, an das prozesshafte Lernen und an die Subjektivierung des kognitiven Prekariats zur erinnern, welche unter anderem ja ein Zeichen für eine gemeinschaftliche Möglichkeit zum Wiederaufbau sind. »Die Kämpfe um die Universität haben die Macht, die Belange zu generalisieren […] und Solidarität zu beschleunigen […], denn sie sprechen über einen allen gemeinen Zustand, den der Prekarität« (Mezzadra/Roggero 2010); deshalb können sie subjektivierende Plattformen bilden. In der Tat lässt sich hier von Macht sprechen, da die Beziehung »zwischen den produktiven Fähigkeiten eines sozialen Gefüges […], das reich an Sachverstand und Wissen ist, und den [von ihm erlittenen] Konditionen materieller Deklassierung« (Ghelfi 2013: 468) asymmetrisch ist. Genau deswegen wendet sich die Kritik den Strukturen der höheren Bildung zu und bezichtigt sie als »Agenturen der Prekarisierung von Arbeit« und als »Fabriken der Prekarität« (Calella 2008: 70ff.). Wir haben bereits die Heterogenität der Bewegung und zugleich deren gemeinsame Themen besprochen. Nehmen wir zum Beispiel die Wissenschaftler, seien sie nun prekär oder nicht. Häufiger als es bei früheren Protesten der Fall war, bildeten sie in den Jahren 2008 bis 2010 Netzwerke und berichten just in time von ihren Mobilisierungserfahrungen; als politische Subjekte sind ihre Inhalte mit denen der Studierenden kompatibel, hinsichtlich ihrer Intention sind sie jedoch weit von korporativen Forderungen entfernt. Im Zuge der ›Welle‹ haben die Forscher gelernt, »den Gehorsam zu verweigern« (Maida 2011: XII). Sie sind auf die Dächer gestiegen, so wie auch andere subalterne Subjektivitäten. Die Entscheidung, Dächer zu erklimmen und dort zu schlafen, hat der intellektuellen Tätigkeit in gewisser Hinsicht ihre Sakralität genommen und sie auf eine Ebene mit jeder beliebigen anderen Arbeit gestellt. Und dies obwohl es nicht nur der Allgemeinheit, sondern auch Wissenschaftlern selbst schwerfällt, sich als Arbeiter zu verstehen. Da sie selbst Opfer der Vorstellung von der ›Außergewöhnlichkeit‹ ihrer Aktivität sind, schaf-
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fen sie es nur schwer, Konfliktinstanzen herauszuarbeiten. Dies liegt in ihrer institutionellen Sozialisation begründet, aufgrund derer »kulturelle« Elemente »den Themen, die die Arbeitsbedingungen betreffen, vorgezogen« werden (Busso 2011: 10f.). Der Konflikt wird durch eine Darstellung neutralisiert, die auf der Vorstellung einer »Wissenschaftsgemeinschaft«, auf der »Betonung der [verhältnismäßig] geringen Bindung« und auf einem »symbolischen Universum« beruht, das dazu neigt, »das Problem des Prekariats« (Busso 2011: 10f.) zu verschleiern. »Das Konzept des Arbeiters wird durch das des Intellektuellen […], die Situation des Prekären durch die des Studenten, […] des Nachwuchswissenschaftlers, des Schülers ersetzt« (Busso 2011: 10f.). Wer keine feste Stelle als Forscher hat, wird sich erst recht spät über die eigene Lage bewusst. Anfangs dominieren »Mechanismen einer antizipierten Sozialisation in der Rolle des Wissenschaftlers« wie auch jene »›vorweggenommene Sozialisierung von Unsicherheit‹, die [auch] für andere Formen von Prekarität typisch ist und mittels derer man [Phasen] mit eingeschränkten Rechten als selbstverständlich voraussetzt und legitimiert« (Busso 2011: 10f.). Wenn sich Wissenschaftler auf Konfliktterrain begeben, heben sie diese Sozialisationsformen teilweise auf; sie nähern sich so anderen Figuren des Arbeitslebens an. Der Wissenschaftler auf dem Dach beschränkt sich jedoch nicht bloß darauf, dem Zeremoniell zur Verteidigung der öffentlichen Universität zu folgen, ganz so, als ob sich alle Interessen wieder zusammensetzen ließen und daher auf das gleiche Fundament zurückzuführen wären. Vielmehr verletzt er auf diese Weise einen impliziten Kodex, bricht mit der Vorstellung, dass sich die Einwände, die von verschiedenen universitären Akteuren gegenüber der Reform vorgebracht wurden, ergänzen, und verlagert die Kritik auf die Strukturebene. So prangert er, wenn er beispielsweise das italienische Tenure-Track-Modell verreißt, nicht das zukünftige, sondern das bestehende System an. Demnach steht nicht die Ächtung der Kultur als Fossil im Fokus, sondern die des Produktionsprozesses von Wissen. Es handelt sich um das biopolitische Problem eines absterbenden general intellect, da dieser an den Folgen der Macht leidet und in einem prekären Regime subsumiert, kommerzialisiert und diesem unterworfen wird.6 Solange ihre Parolen den von der Prekarität, der Durchökonomisierung der Universität und der Finanziarisierung vorgegebenen Bahnen folgen, ist die ›Welle‹ keine bloße Gegenantwort auf die Kontingenz, auch wenn ihre ereignisbezogene Grammatik und ihre Warnung vor dem bevorstehenden Notstand, der ent6
Kritischer äußert sich Giorgi: »Die Sichtbarkeit, derer sich die acampadas […] auf den Dächern der Universitäten erfreuten […], war vielmehr einer zufälligen politischen Situation geschuldet statt einer wirklichen und konsolidierten Bewegung […]. Aus diesem Blickwinkel lässt sich das einende Element ›negativ‹ definieren. Statt einer Bewegung, die, um als solche definiert zu werden, […] der Schaffung einer gemeinsamen Identität in Form von Forderungen und Vorschlägen, wenn nicht gar hinsichtlich ihres Gegenstands, bedarf, hat sich demnach vielmehr eine Protestkampagne entwickelt« (Giorgi 2012: 105).
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scheidende Ereignisse heraufbeschwört, dies zu sein scheinen (vgl. Caruso 2010: 164). Über die Tatsache hinaus, dass sie bei zahlreichen Mitstreitern, die vorher über keine politische Kultur verfügten, ein politisches Bewusstsein geschaffen hat, kennzeichnet die ›Welle‹ vor allem Eines: Sie steht in Konflikt mit dem flexiblen Kapitalismus, sie kritisiert und dekonstruktiert die neoliberale Veridiktion. Es ist das populäre Heftchen der Internazionale surfista ‒ einer Bewegung, die sich in Bezug auf das bekannte sozialistische Kampflied als ›Internationale der Surfer‹ bezeichnet ‒, das als Selbstdarstellung direkt über die Lage Aufschluss gibt. Dabei handelt es sich um einen im Herbst 2008 veröffentlichten Text, der die Vorstellung von der anomalen Welle mit der Surfer-Kultur verknüpft. Unter Bezug auf ein Lied aus den 1960ern, das als Remix neu aufgelegt wurde, tauften sich die Demonstranten ›Heer der Surfer‹. Diese aus Studierenden, Prekären und jungen Leuten zusammengesetzte Masse rufe, so die ›Surfer‹, normalerweise Verachtung hervor, aber auch Mitgefühl, insbesondere von nahestehenden Personen, die den studentischen Alltag im Zeitalter der Credit Points kennen: Die Studierenden sind stets damit beschäftigt, sich durch einen Parcours voller Hindernisse zu kämpfen und ihr Geld als prekäre Arbeitskräfte unter dem Deckmantel des Praktikantenstatus zu verdienen. Als Subjekte sind sie »von der Nutzlosigkeit des eigenen Bildungsweges« überzeugt (Internazionale surfista 2008: 8f.). Und dies gilt zum Teil auch für Dozenten. Letztere teilen, wenn sie Prekäre sind, die studentischen Zustände und sind sich, sofern sie Insider sind, der verminderten Verwertbarkeit der vermittelten Bildung bewusst. Dies betrifft nicht nur das schwierige Unterfangen, Humankapital in Lohn zu verwandeln, sondern berührt den eigentlichen Kern pädagogischer Beziehungen: Es betrifft Ziele wie die Emanzipation oder Herausbildung des kritischen Geists – »eine Währung, die weniger wert ist als die alte Lira«, so die Internazionale surfista (Internazionale surfista 2008: 11). Man sollte jedoch weder zu sehr auf den Generationenfaktor pochen noch, im Umkehrschluss, dessen Relevanz negieren und auf entradikalisierende Interpretationen setzen.7 Wollte man dennoch die Generationenfrage ins Feld führen und über die junge Generation sprechen, so unterscheidet die Internazionale surfista ‒ unter impliziten Rekurs auf Negris Antinomie zwischen Biomacht und affirmativer, konstituierender Biopolitik ‒ zwischen einer »gesellschaftlich produzierten Jugend« und einer Jugend, die es ablehnt, das »Segment eines Marktes [zu sein], 7
Vgl. Sciolla (2009), dessen Weigerung, die ›Welle‹ in Begriffen der Generationenfrage zu denken, nicht zu einer vertieften Reflexion über Prekarität führt, sondern eine Frontenbildung preist, die wiederum nach einer Demokratie im klassisch-repräsentativen Sinne verlangt. Auf diese Weise wird die soziale Frage erneut zum Thema einer Opposition, die sich gegen eine Mehrheit richtet, die an den Missbrauch von Anordnungen gewöhnt ist und den Vergleich mit den gesellschaftlichen Parteien ablehnt.
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der vorgefertigte Lebensweisen an den Mann bringen will« (Internazionale surfista 2008: 11). Das ›Heer der Surfer‹ paraphrasiert die Texte Trontis aus den Neunzigern (vgl. Tronti 1992), krempelt dabei aber dessen Schlussfolgerungen um und behauptet ebenfalls, die Zukunft bereits hinter sich zu haben – dies habe jedoch nichts mit dem Verlust der zentralen Stellung eines determinierten und lokalisierten Subjekts zu tun. Die Perspektive einzunehmen, dass die Zukunft bereits vorbei sei, bedeutet, der Rhetorik über die Investition in Bildung keinen Glauben mehr zu schenken. Das ›Heer der Surfer‹ schreibt: »Je mehr Zukunft sie versprechen, desto mehr stehlen sie im Jetzt« (Internazionale surfista 2008: 34). Denn da »die Zukunft ein Betrug auf Kosten desjenigen ist, der sie noch vor sich hat, ist es besser, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren« (Internazionale surfista 2008: 34). Es geht darum, das technokratische und reformistische Blendwerk zu begreifen und die gouvernementale Expertokratie zu demaskieren, welche sich für gewöhnlich hinter dem Verweis auf Meritokratie und Bewertung verschanzt (vgl. Internazionale surfista 2008: 39f.): »Verdienst und Exzellenz sind eine kollektive und niemals eine individuelle Angelegenheit. Niemand kann Verdienst erwerben ohne die Unterstützung vieler Anderer oder die Möglichkeit, Fehler zu begehen.« Die Analogie zum marxschen general intellect ist offensichtlich: »Wissen ist untrennbar mit dem Leben verknüpft« (Internazionale surfista 2008: 42). Aber warum bedarf diese Anhäufung explosiver Gedanken überhaupt einer Repräsentation? Nach Meinung der Internazionale surfista »wollen sich die Schwächsten nicht länger repräsentieren lassen, da sie selbst klüger geworden sind als diejenigen, die sie repräsentieren sollten«, wobei sie allerdings nicht beabsichtigen, ihre »Unterschiedlichkeit im Namen des Prinzips der Repräsentativität zu mindern« (Internazionale surfista 2008: 53f.). Durch den Ausschluss von Repräsentanz eröffnet sich eine befreiende Perspektive im Sinne einer von der Biomacht abgekoppelten Biopolitik: die Selbstorganisation des Lebens mittels des Grads an Fähigkeiten, Wissen und Kenntnissen, die durch diese weitverbreitete und prekäre Intelligenz erreicht wird und die sich gegen die das Leben organisierende Politik stellt. Im Grunde handelt es sich um eine Marx-Lektüre aus Negris Sichtweise: Je unternehmerischer die Gesellschaft, die das eigentliche Gegenstück zur Gouvernementalität darstellt, und die junge Generation agieren, desto mehr strebt die Macht danach, Kraft und Begehren der Aufbegehrenden zu lähmen (vgl. Internazionale surfista 2008: 57f.). Anders gesagt: Auf die wachsende Sozialisierung der Produktionskräfte ‒ die in jenem ›sozialen Gehirn‹ erkennbar sind, an dessen Leben das ›Heer der Surfer‹ in Gänze teilhat ‒ reagiert das Dispositiv der Produktionsverhältnisse, indem es zu einer gouvernementalen Vorrichtung wird, die dieses Leben einfach einsperrt. Im Herbst 2008 gab sich die Bewegung einen kollektiven Eigennamen: Anna Adamolo – das Anagramm von Onda anomala. Zuerst sichtete man Anna auf Facebook, dann eröffnete sie einen Blog. Den von ihr kontaktierten Nutzern des so-
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zialen Netzwerks wurde ein Vorschlag unterbreitet: »Wenn du ein Freund von AA wirst, bitten wir dich, Name, Profil und Status zu ändern, indem du deinen Namen durch ihren und dein Logo durch ihres ersetzt«. Sich einen von allen verwendbaren Eigennamen zu geben, ist das Zeichen einer allen gemeinsamen Kondition, in der Einzelerfahrungen eins werden, ohne dass dies allumfassend oder undifferenziert ist, eine dialektische Synthese darstellt oder gar einer Partei ähnelt (vgl. Adamolo 2009).8 Teils stellte man Ähnlichkeiten mit dem Zapatismus und Subcomandante Marcos fest, der sein Gesicht unter einer Sturmhaube verbirgt. Der Vergleich ist treffend: Beide Bewegungen rekurrieren auf eine entpersönlichte Figur, die die legitime Stimme aller ist (vgl. Capelli/Fiocchi 2009: 140). Die ›Welle‹ delegiert nichts an Anna Adamolo, weil sie selbst Anna Adamolo ist. »Wie bei jedem kollektiven Namen besteht die Kraft von AA darin«, dass sie die »Verbindung zwischen der Sprache und der von der Macht beherrschten Welt« aufhebt (Bazzichelli 2009: 84f.). Indem sie den »Akt der Benennung« auflöst, zeigt AA die politische Tragweite der Sprache und der Bedeutung der Wirklichkeit auf (vgl. Bazzichelli 2009: 84f.). Innerhalb dieses Netzwerks ist Anna Adamolo eine Art Avatar, eine kollektive, virtuelle Identität, mithilfe derer die Medien verwirrt und vorab in Untergrund-Kreisen getestete Praktiken auf ein großes Szenario angewendet werden (vgl. Bazzichelli 2010). Zu einem bestimmten Zeitpunkt klonen die Medienaktivisten der ›Welle‹ dann die Internetseite des Ministeriums und erheben Anna Adamolo zur ›Ministerin der Welle‹. Allerdings wird die Meldung in den Onlineausgaben einiger nationaler Tageszeitungen falsch dargestellt, da man die Leser über einen Hackerangriff auf der Seite des italienischen Bildungsministeriums (MIUR) informiert, der aber gar nicht stattgefunden hat. Es handelt sich um eine vorprogrammierte Fehlinformation: Das Klonen der Homepage entspricht dem »Hacken von Informationssystemen« (Adamolo 2009). Und das Ressort der ›Wellenministerin‹ wurde »eigens dafür ausgewählt, um mit dem Original verwechselt zu werden« (Adamolo 2009). Mittels Google Bombing schaffte man es übrigens, dass nur binnen weniger Wochen die falsche Homepage viel öfter besucht wurde als die echte (vgl. Adamolo 8
Andererseits kann man die Entscheidung, sich mit einer vielfachen kollektiven Identität auszustatten, nicht genug betonen, denn diese gibt die »Schwierigkeit preis, individuelle Zustände in einer breiten, womöglich politischen Erzählung zusammenzufassen« (Arienzo 2012: 247f.). Deshalb muss die Wahl von AA auch als Chiffre einer Problematik entschlüsselt werden. Da es der Zustand von Unterordnung und Erpressbarkeit schwierig gestaltet, »das eigene Gesicht zu zeigen«, versucht man »Individualisierungsprozesse explizit abzulehnen« (Arienzo 2012: 247f.). Einerseits stellt die Wahl von AA das Signal eines Versuchs dar, »ein gemeinsames und kollektives Selbst zu konstruieren«, weil man »starre und in symbolische, ausschließende Prozesse eingeschlossene Identitäten« scheut, andererseits ist sie Symptom eines »Zustandes der Fragmentierung«, der derart sozioexistenziell ist, dass er die Zusammensetzung einer »strukturiert-organisierten politischen, kollektiven Dimension« (Arienzo 2012: 247f.) problematisiert.
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2009). Die grundlegende Botschaft ist klar: Man kämpft einen Informationskrieg, einen kognitiven Krieg. Auf dem Spiel steht nichts Geringeres als die Veridiktion, also die Neudefinition dessen, was wahr beziehungsweise unwahr ist, und die Frage, wem das Recht zufällt, diese Trennlinie abzustecken. »Selbstreform durch Selbstbildung« – so lautete der immer wiederkehrende Slogan, den einige Gruppen des ›Heers der Surfer‹ skandierten (vgl. Ghelfi 2013: 461). Er bildete die Antwort auf die Schlüsselfrage, welche pädagogischen Instrumente sich an widerständiges Verhalten im Wissenssektor knüpfen lassen. Damit einher ging auch die Frage, wie man Wissen in den tertiären Bildungsbereich integrieren kann, das mit »Praktiken des Ungehorsams oder Praktiken außerhalb des vorgesehen Curriculums« (Ghelfi 2013: 461) verbunden ist. Wie lässt sich Prekarität im Bereich der Forschung bekämpfen? »Man fühlte, dass der Kampf für die Unabhängigkeit des Wissens in Protest für eine bessere Ressourcenverteilung umschlagen konnte« (Ghelfi 2013: 461). Daher die Strategie der Selbstbildung. Als Form einer ›alternativen Bildung‹ verstand man diese als »konstituierende Praktik«, die sich − indem sie auf die »Autonomie, Unabhängigkeit und auf horizontale Kooperationsprozesse« pochte, die ja »Koeffizienten der Freiheit« (Ghelfi 2013: 462f.) innerhalb von Wissensströmungen darstellen − im weitverbreiteten Wunsch niederschlug, sich auch über institutionelle Bildungsangebote hinaus Ausdruck zu verschaffen. »Studenten, Forscher und Postdocs entwickeln […] Kurse, wobei sie gemeinsam über die Methoden des Wissensaustauschs, die Diskussionsgegenstände und die kollektiven Bewertungsmodalitäten entscheiden« (Ghelfi 2013: 462f.). »Diese verbreiten sich über verschiedene Institute, […] entwickeln sich mittels der Beteiligung von Menschen ohne akademischen Hintergrund weiter und […] machen Erfahrungen mit transdisziplinären Spannungen« (Ghelfi 2013: 462f.). Und tatsächlich bestimmte man die Themen ausgehend von Problematisierungen, die sich quer durch die herkömmliche Aufteilung der Wissenschaftsdisziplinen erstreckten. Auf diese Art und Weise »handeln verschiedene Selbstbildungsstätten einen physischen Raum aus […] und dort, wo es möglich ist, auch […] die Anerkennung von Leistungen (wie etwa Credit Points), sodass diese Kurse teils zum ›offiziellen‹ Curriculum zählen« (Ghelfi 2013: 462f.).9 Die Selbstreform mittels Selbstbildung ist zwar den von der Basis in den vergangenen Jahrzehnten ausgeübten Seminarpraktiken geschuldet, aber dennoch ist es unangebracht, die Kontinuität mit den »durch die Frankfurter Schule inspirierten Gegenkursen« zu betonen (vgl. Illuminati 2008: 13). Durch die verstärkte Inflation von Credit Points dringt die Selbstreform in die postfordistische Universität ein – mit dem Ziel, deren Sinn und Dynamiken 9
Zur Selbstbildung als konstituierende Praktik vgl. Zannini (2011); zur konstituierenden Auswirkung von Bewegungen, die sich damit beschäftigen, Autonomie und »kontinuierliche institutionelle Dekonstruktion« zusammenzuhalten und sich damit der »poststaatlichen Governance« entziehen, vgl. Allegri (2009).
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umzustürzen.10 Indem sie einfordert, durch Credit Points anerkannt zu werden, nutzt sie die Waffen des Feindes und arbeitet an dessen Widersprüchen. Sie bedient sich all dessen, um – in Anlehnung an Negris antidialektische Imagination aus den Siebzigern – die Selbstaufwertung des kognitiven Kapitalismus seitens des Proletariats voranzutreiben. Das Komitee der Studenti in Crisi der Universität Pavia schreibt, Selbstbildung sei »eine Form der Selbstaufwertung, der Wiederaneignung von Werten, die gewöhnlich dem Tauschwert entgegengestellt werden« (Studenti in crisi − Pavia 2011: 168). Daher ist Wissen ein Gebrauchswert und eben kein Tauschwert, der sich in Geld umsetzen lässt und gemanagt werden kann. Deshalb entspricht die Schlacht um das Wissen einem Konflikt, der im Übermaß der zeitgenössischen Bildung die gleichen Merkmale der Hyperfinanziarisierung wiedererkennt und im spezifischen Falle die ihr entsprechende Bildungsblase (vgl. Bologna 2007a: 102f.; 2007b). In gewisser Weise korrelieren »Bildungsblase und Schuldenwirtschaft« demnach »eng miteinander« (Studenti in crisi − Pavia 2011: 168f.). Einssein und Gegenstück sein: Dies ist letztlich der Schüssel, der erlaubt, die erzählerische Macht der keineswegs selbstlosen ›Antiutopie‹ der Selbstbildung zu verstehen, deren Einsatz mitnichten ›das Wissen um seiner selbst willen‹ ist. Die Selbstbildung fordert Credits, wie auch der Arbeiter aus der Masse seinen Lohn verlangt. Sie fordert, die Gegenwart auf andere Art und Weise leben zu können anstatt leidenschaftslos eine Zukunft aufzubauen. »Sie spricht vom Wunsch, […] die Institutionen des Wohlfahrtsstaats zurückzuerobern« (Raparelli 2008), der auf einem neuen Gemeinen Recht basiert. Dennoch darf nicht verschwiegen werden, dass der Versuch, der postfordistischen Universität durch innere Sabotage ihre Schärfe zu nehmen, weniger erfolgreich war als erhofft. Im Übrigen ist die Errichtung eines Machtdualismus mit den universitären Governance-Organen an die aleatorische Zeitlichkeit der aktuellen Bewegungen geknüpft, welche abwechselnd unterschwellig sind und Kontinuitäten aufweisen sowie ziemlich rasch auftauchen (vgl. Ghelfi 2013: 466). Aus dem Italienischen von Matthias Edeler und Mara Nogai
Literatur Adamolo, Anna (2009): Sono Anna Adamolo. Voci e racconti dall’onda anomala, Santa Giustina: NDA. 10
Für eine Kritik vgl. Palermo (2011: 126): Nicht nur die »Inflation der Credits« sei schwerlich zu verallgemeinern, auch die Praktiken der Selbstbildung ließen die »Asymmetrie DozentStudent intakt«, da sie »konzertiert« durchgeführt werden.
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Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling Neue Räume der Kreativität und des Widerstands zwischen Zeugenschaft, Performance und Ausnahmezustand im Tunesien des demokratischen Übergangs Anna Serlenga
Der arabische Frühling: eine orientalische Erzählung Die aktuelle Entwicklung ist so heikel und schnell, dass sie von uns Wissenschaftlern neue Analyseinstrumente, neue Wege für die Forschung und neue Parameter zur Erfassung der Wirklichkeit verlangt. Wir benötigen einen neuen methodologischen Rahmen und es ist notwendig, ihn zu erfinden. Es bedarf einer Methodologie, die selbst kreativ und schöpferisch ist. (Mohamed Kerrou in Gandolfi 2013: 110) Die politische Entwicklung, die Tunesien in den letzten Jahren des demokratischen Übergangs erlebt hat, lässt nur wenig von der Erzählung erkennen, die die westlichen Medien 2011 dominiert hat. Blickt man heute auf die unterschiedlichen politischen Ergebnisse, zu denen die Aufstände in den verschiedenen Ländern Nordafrikas geführt haben, dann scheint der Wind des arabischen Frühlings unerwartete Richtungen eingeschlagen zu haben und offenbart das orientalische und vereinfachende Narrativ der Revolution. Interessant scheint mir, besonderes Augenmerk auf die von Alain Badiou definierte »lästige koloniale Beharrlichkeit« (Badiou 2012: 127) zu legen, die 2011 die Erzählung des politischen Geschehens systematisch begleitet hat. Hinsichtlich des konzeptuellen Rahmens, in dem sich der hiesige Beitrag bewegt, besteht die eigentliche Herausforderung meines Erachtens darin, ein Umdenken hervorzubringen und nach neuen Formen der Erzählung selbst zu suchen: Wie kann das, was sich in diesem Land ereignet, so erzählt werden, dass einige der zentralen Punkte des Geschehens dem Zuschauer auf der anderen Mittelmeerseite fragend einen Spiegel vorhalten? Die orientalischen Erzählweisen des arabischen Frühlings haben dazu geführt, dass sich das subversive und ansteckende Potential der Aufstände, das heißt die
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Verbreitung von Praktiken, teilweise zu einer Art Marke avanciert ist, die gefährliche historische Anklänge in sich trägt. Wie von vielen Wissenschaftlern und Intellektuellen deutlich gemacht wurde, ist im arabischen ›Frühling‹ ein direkter Verweis auf den Völkerfrühling von 1848 erkennbar, dem bedeutungsvoll das Adjektiv ›arabisch‹ vorangestellt ist. In einer äußerst scharfsinnigen Analyse stellt der Afrikanist, Historiker und Politologe Jean-François Bayart im Wesentlichen drei Punkte heraus, die in alldem anklingen und den angedeuteten historischen Vergleich rechtfertigen. Als erstes die Tatsache, dass den einzelnen Fällen eine gemeinsame Logik zugesprochen wird, um die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede deutlich abzuflachen: Wie journalistisch und intuitiv sie auch sein mag, die Analogie der Aufstände von 2011 in der arabischen Welt mit dem »Völkerfrühling« von 1848 (statt mit dem »Prager Frühling« von 1968) ergibt aus drei Gründen Sinn. Der historische Vergleich macht von vornherein deutlich, dass der sogenannte »Frühling« eigentlich im Plural dekliniert werden sollte, obwohl nur in der Einzahl von ihm die Rede ist. Von einem Land zum anderen war die Wirkung des mitreißenden Antriebs offensichtlich – wie in Europa 1848. Trotzdem hat jeder einzelne Fall seine eigene Besonderheit, sowohl was seinen Ursprung als auch seinen Verlauf angeht. (Bayart 2013) Als zweiten Grund nennt er das politische Schicksal des Völkerfrühlings von 1848, vor allem auf französischer Seite: Der anfänglichen Begeisterung folgt eine Niederlage auf ganzer Linie, dem revolutionären Frühling ein konservativer und repressiver Winter. Die Beschwörung des Zeitgeistes von 1848 und insbesondere des französischen Falls hatte auch den Vorteil daran zu erinnern, dass eine politische Revolution eine weitere in sich bergen kann. Im vorliegenden Fall ist es eine gesellschaftliche Mobilisierung, von der sie getragen wird. Die Revolution zögert aber nicht, diese wieder zu unterdrücken, sobald sie einmal Nutzen aus ihr gezogen hat: Der Umsturz der Juli-Monarchie im Februar führte zur Niederschlagung der Arbeiterbewegung im Juni und zur Errichtung einer ultrakonservativen Republik, die schließlich vom eigenen Präsidenten abgeschafft wird, um das zweite Kaiserreich zu errichten. Anders ausgedrückt: Auf den Februar folgt der Juni … dann der Dezember. (Bayart 2013) Und ihr folgt nicht zuletzt der Aufstieg des Nationalstaatsgedankens und eines globalen Kapitalismus, der von der industriellen Revolution desselben Jahres gekennzeichnet wird und die substanzielle Überlagerung der beiden Modelle bestätigt: Drittens und letztens sah das Jahr 1848 den gleichzeitigen Siegeszug des Nationenbegriffs, ja sogar des Nationalstaats, und des weltweiten Kapitalismus, der
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auf der Einführung des Freihandels, der industriellen Revolution, der Erfindung der Dampfmaschine, der Errichtung von interkontinentalen Zugstrecken und von Überseeleitungen für die Telegraphie aufbaute. Der »Völkerfrühling« hat gezeigt, dass es kein Nullsummenspiel, sondern ein Zusammenspiel zwischen der allgemeinen Verbreitung von Nationalstaat und Kapitalismus gab. Dieselbe Lehre gilt auch für den heutigen Mittleren Osten und den Maghreb. (Bayart 2013) Doch der arabische Frühling ist nicht der einzige Begriff, der im Zusammenhang mit den Ereignissen von 2011 geprägt worden ist. Der Fall Tunesiens ist dabei emblematisch: Denn abgesehen davon, dass es zusammen mit allen anderen arabischen Ländern in eine Riege panarabischer Staaten eingereiht wurde, ist die tunesische Revolution auch als ›Jasminrevolution‹ bezeichnet worden. Die weiße Blume ist auf keinem der Bilder von den Demonstrationen zu sehen, sondern ist eher ein Symbol für die touristische und folkloristische Darstellung des Landes. Massarelli schreibt hierzu: Man müsste sich zusammen mit den Tunesiern fragen, wieso man eine so weiße und duftende Blume Tagen widmet, die von den Kämpfen blutrot gefärbt und die in Tränengas erstickt wurden. Nie wurde auf den Demonstrationszügen oder auf dem Kasbah-Platz ein Strauß Jasmin in den Händen der Protestierenden gesehen. Der Zweifel lässt vermuten, dass dieses Etikett auch in diesem Fall der Fantasie der Europäer entsprungen ist, die sich zwischen simplen Orientalismen und den üblichen Wirtschaftsinteressen bewegt. (Massarelli 2011: 11) In einer interessanten ideologischen Umkehrung hat die islamische Republik Iran einen zweiten und von ihrem Blickwinkel aus gesehen effizienteren Begriff geprägt, um die Komplexität der Ereignisse wiederzugeben: ›Islamisches Erwachen‹. Alle bis hierhin geprägten Begriffe spiegeln also präzise Ideologien wider, welche durch ihre Beschreibungen versuchen, sich die Ereignisse anzueignen und in die eigenen Sinn- und Deutungskategorien einzugliedern, wie Paola Gandolfi erläutert: Von Anfang an haben zahlreiche Ausdrücke versucht, diese Prozesse begrifflich zu bestimmen: arabische Revolutionen, arabischer Frühling, arabisches Erwachen. Vielleicht zeigt uns diese terminologische Fülle wie immer nicht nur eine Vielzahl an Aspekten ein und derselben Wirklichkeit, sondern vielmehr den kulturellen, ideologischen und intellektuellen Hintergrund desjenigen, der diese Wirklichkeit betrachtet, erforscht und zu beschreiben versucht. (Gandolfi 2013: 11) Denn jede begriffliche Bestimmung, die etwas erzählt, lässt auch etwas weg: Die definitorische und bindende Strenge eines Ausdrucks verneint, während sie bejaht. Sie verneint alles, was sie nicht definiert. Das griechische legein verweist auf logos, was Wort, aber auch Verbindung bedeutet. Logos bindet den vermeintlichen
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Sinn eines Ereignisses, sodass das Wort den subversiven Spielraum der Handlung selbst einschränkt und so vor allem deren Erzählung und damit die Wirkungsmöglichkeiten oder die Auswirkung auf die Wirklichkeit beeinflusst. Der Völkerfrühling von 1848 endete, wie oben gezeigt, in einer politischen Niederlage. Welche Zukunft lässt sich also für diesen neuen Frühling auf der anderen Mittelmeerseite voraussagen? Erstens weist die Bestimmung ›arabisch‹ im Plural1 auf eine erste Distanz und Differenz zum Westen hin, homogenisiert jedoch gleichzeitig eine facettenreiche und komplexe Wirklichkeit. Unterdessen vereint sie alle von den Aufständen betroffenen Länder unter ein und demselben kolonialen Himmel, jedoch haben diese Länder, wie wir heute sehen können, aufgrund der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterschiede der einzelnen Staaten und der Beziehungen, die jedes einzelne Land mit der internationalen politischen Gemeinschaft unterhält, unterschiedliche Schicksale erlebt. Die durch das Wort ›arabisch‹ hervorgerufene Distanzierung zeigt eine vermeintliche ethnische oder Stammeshomogenität, die von einer monolithischen Identität der Bürger und der Proteste selbst ausgeht. So betont Darawsha in diesem Zusammenhang: Die in diesen Dokumenten [der Revolten, Anm. d. Verf.] verwendeten mannigfachen und verschiedenen Terminologien stellen einen sehr guten Ausgangspunkt zur Betrachtung der arabischen Welt dar, die voll von unterschiedlichen politischen und kulturellen Färbungen ist und sich sehr vom monolithischen SchwarzWeiß-Denken unterscheidet, mit dem der Westen den geopolitischen Raum Arabiens betrachtet und analysiert hat. (Darawsha 2012: 109) Zweitens scheint der ethnische oder regionale Ausdruck eine folkloristische Distanz zu einem Phänomen aufbauen zu wollen, das die internationalen Beziehungen verkehrt: Wie Corrao2 hervorhebt, war die Europäische Union im Namen der Stabilität, der wirtschaftlichen Sicherheit und des Kampfs gegen Islamismus und Einwanderung zu einem großen Teil an der Machterhaltung von Diktator Ben Ali beteiligt. 1
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Anmerkung des Übersetzers: Im Italienischen heißt der arabische Frühling primavere arabe, das bedeutet »arabische Frühlinge«, anders als der »Völkerfrühling«, primavera dei popoli, der im Singular steht. Auf diesen grammatischen Unterschied macht Serlenga hier aufmerksam. »Um die durch den Abbau der Marktschutzmechanismen hervorgerufenen Traumata und die möglichen Proteste derjenigen zu verhindern, die solche Maßnahmen als Gefahr für die nationale Industrie ansehen, seien der Europäischen Union zufolge stabile und pragmatische Regierungen nötig. […] Einige Merkmale wie politische Stabilität und Sicherheit haben dazu beigetragen, das Vertrauen in Tunesien bei internationalen Institutionen zu stärken, wobei das Land als ein ›guter Schüler‹ in Wirtschaftsfragen und als ein aufsteigendes Schwellenland dargestellt wurde. Jedoch lagen die einzigen Interessen der Europäischen Union, die einer Logik der ›kriminellen Heuchelei‹ folgt, schon immer in der Eingrenzung der illegalen Einwanderung und im Kampf gegen den Terrorismus« (Corrao 2011: 114f.).
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Die kolonialistisch angehauchte Distanzierung verneint dagegen die transnationale Auswirkung, die die neuen politischen Praktiken in Tunesien und Ägypten in vielen anderen Protesten desselben Jahres gezeigt haben. Die Besetzung des öffentlichen Machtraums der Kasbah und des Tahrir-Platzes entpuppt sich als effizientes Vademecum für die Occupy-Bewegung sowie für die Proteste der spanischen indignados ab Mai 2011: Zum ersten Mal versucht man, zusammen mit dem ägyptischen Tahrir-Platz, zur Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeiten einen öffentlichen Raum in der Nähe von Regierungsgebäuden zu besetzen (Massarelli 2011: 17). Die Herausforderung, die es anzunehmen gilt, besteht, so Gandolfi, wenn sie von der Notwendigkeit einer neuen ›revolutionären‹ Pädagogik spricht (vgl. Gandolfi 2013), nicht so sehr darin, eine Definition zu finden, welche die Wirklichkeit in bekannte und überholte – um nicht zu sagen, von einer kolonialen Vergangenheit der Gewalt und Demütigung geprägte − Modelle einschließt, sondern nach neuen Konzepten zu suchen, um das Existente auf wissenschaftliche und pädagogische Weise zu beschreiben. Denn, so Bayat am Schluss seines scharfsinnigen Artikels, die Samen, die die Aufstände in Tunesien und Ägypten gesät haben, könnten später an einem noch unbekannten Ort wieder aufkeimen und zu Tage treten – so wie die Schwalben, die jedes Jahr erneut bei ihrer Rückkehr den Himmel bevölkern und von einem neuen Frühling künden. Aber es ist unwahrscheinlich, dass die Ereignisse der letzten beiden Jahre die Gesellschaften nicht tief beeinflusst und nicht auch den Keim für weitere Veränderungen, für weitere Umbrüche gesät haben. Dies war übrigens auch der Fall des Völkerfrühlings von 1848. Auch seine Auswirkungen sind erst auf längere Sicht hin spürbar geworden, nämlich lange nachdem sich der Rauch der Kanonen ab 1852 aufgelöst hatte, die ihn in den verschiedenen Ländern des alten Kontinents erstickt hatten. In der Politik wie in der Natur folgen die Jahreszeiten aufeinander und gleichen sich nicht. Nichtsdestotrotz ist es sehr selten, dass Schwalben nicht in das Land zurückkehren, das sie einmal besucht haben. (Bayat 2013)
Der demokratische Übergang in Tunesien: Ausnahmezustand als Regierungsform Erster Artikel: Der Ausnahmezustand kann über die ganze oder einen Teil der Republik verhängt werden, sei es im Fall einer drohenden Gefahr als Folge von schweren Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung, sei es im Fall von Ereignissen, die auf Grund ihrer Schwere einen allgemeinen Notstand darstellen. (Verordnung Nr. 78/50 vom 26.01.1978, Regelung des Ausnahmezustandes in Tunesien)
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In diesem Sinne sollen also die Ereignisse betrachtet werden, die die politische Agenda des demokratischen Übergangs gekennzeichnet haben: Es soll die Entwicklung des politischen Prozesses beobachten werden, in dem der Ausnahmezustand zum Paradigma des Regierens avanciert (vgl. Agamben 2004), das zwischen der Unbestimmtheit von demokratischem Prozess und Sicherheitskontrolle schwankt. Ferner gilt es zu beleuchten, wie in diesem Zusammenhang die Formen des politischen Widerstandes performativ und daher ästhetisch ausgedrückt und dargestellt werden, wie sie dadurch Beispiele einer möglichen erneuerten politischen und ästhetischen Aktion beleuchten und selbst zu diesen werden können − selbst auf der anderen Seite des Mittelmeers.
Kurze politische Analyse der Jahre 2011-2014 Die raschen Entwicklungen, die Tunesien in den letzten Jahren gekennzeichnet haben, zeichnen sich durch eine Konstante aus: durch die Ausrufung des Ausnahmezustands, der vom 14. Januar 2011 bis zum 5. März 2014 kein einziges Mal aufgehoben wurde. Nachdem die ersten Monate des Jahres 2011 von den Erfahrungen und Forderungen der Kasbah gekennzeichnet waren, sah sich die Übergangsregierung unter Ministerpräsident Essebsi gezwungen, deren Forderungen anzunehmen, darunter vor allem die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung, welche die Grundrechtecharta neu gestalten und den Abbau der durch die Regierung von Ben Ali geschaffenen antidemokratischen Sicherheitsmaßnahmen vornehmen sollte. Zwischen den Instanzen sollte ein Prozess der Übergangsjustiz in Gang gesetzt werden, um die während der Revolutionsmonate begangenen Polizeiverbrechen ans Licht zu bringen und die dem Rassemblement constitutionnel démocratique (RCD) angehörenden Führungsschichten und Personen zu entfernen. Zudem sollte eine neue Grundrechtecharta entworfen werden, auf die dann die Wahl der ersten demokratischen Regierung des unabhängigen Tunesiens folgen sollte. Das Verfassungsprojekt ist im Rahmen politischer Forderungen zu situieren, die auf eine zunehmende Demokratisierung des Landes abzielen. Bei den ersten Übergangswahlen am 23. Oktober 2011 erhielt die moderat-islamistische Ennahda-Partei die Stimmenmehrheit. Rachid al-Ghannouchi, ihr Vorsitzender, hatte erklärt, bei den Wahlen nicht antreten zu wollen, denn er war erst infolge der Amnestie vom Januar 2011 aus dem Londoner Exil in seine Heimat zurückgekehrt. Diese Amnestie setzte übrigens auch verschiedene radikale Islamisten frei und führte im Mai 2011 in der heiligen Stadt Kairouan zur Gründung von Ansar alScharia, der ersten radikal-islamistischen Salafistenbewegung. Im Zuge der freiheitlichen Umbrüche wuchs sie zur Bewegung an und konnte sich nach Jahren der
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Unterdrückung durch das Regime frei äußern.3 Fabio Merone zufolge ist auch die Salafistenbewegung ein Kind der durch die Revolution geforderten Meinungsfreiheit. Das Verhältnis zwischen der Ennahda-Partei, die die Regierungsmehrheit in der Verfassungsgebenden Versammlung stellt, und Ansar al-Scharia sei zwar kontrovers, aber auch wichtig für die politischen Entwicklungen in den Jahren 2011 bis 2013. Wie der in Tunis lebende, spanische Intellektuelle und Journalist Santiago Alba Rico erklärt, ist die Ennahda eine in ihrem Inneren gespaltene Partei, wobei ein Flügel dem Salafismus und der andere den Liberaldemokraten nahesteht (vgl. Serlenga 2014: 342). Zur Garantie des politischen Pluralismus wird nach den Wahlen im Oktober Mustafa Ben Jaafars, Anführer der linken Partei Ettakol, am 22. November 2011 zum Präsidenten der Assemblée nationale consitutante (ANC) nominiert. Am 13. Dezember wird Moncef Marzouki, Präsident der Tunesischen Menschenrechtsliga und Leiter des linksnationalistischen Congrès pour la République sowie unermüdlicher Gegner Ben Alis, zum Präsidenten der Republik. So kann die Verfassungsgebende Versammlung im Januar 2012 ihre Arbeit aufnehmen. Ihr wird ein Jahr gegeben, um die Grundrechtecharta fertigzustellen und so den Weg für Wahlen zu bereiten, um die Übergangs- durch eine Regierung der Volksvertretung abzulösen. Hierfür setzt man den 23. Oktober 2012 als Frist, doch die Verfassung wird erst am 26. Januar 2014 verabschiedet. 3
»Der tunesische Dschihadismus entsteht in der zweiten Hälfte der 80er Jahre und wird in seiner Entwicklung stark vom algerischen Front islamique du salut (FIS) beeinflusst. Ein radikaler Flügel der Bewegung, der sich vom Mouvement de la tendence islamique (MTI, Vorgänger der Nahda) ablöst, gründet 1988 den Front islamique tunisien (FIT), eine Organisation, die sich an derjenigen in Algerien inspiriert. Mohammed Ali Hurath, Abdallah al Haji, Mohammed Khoujia und Mongi al-Hachmi sind ihre Gründer; die Hauptzellen befinden sich in Sfax und Tunis. Die Aktionen der nur kurz existierenden Gruppe sind weitestgehend bedeutungslos. Ein Teil ihrer militanten Anhänger taucht unter und flieht nach Peschawar, ins Hauptquartier des afghanischen Dschihad. Die Amerikaner nehmen sie in die Liste feindlicher Terrororganisationen auf. Während einige von ihnen sich am afghanischen Dschihad beteiligen, lässt sich Ali Hurath − nach verschiedenen Etappen in Algerien, Pakistan, Jugoslawien und Deutschland − in London nieder; weitere 200 Mitglieder der Gruppe verteilen sich auf verschiedene Länder in Europa. Durch seine Predigten auf dem englischen Religionssender Islam Channel werden die britischen Behörden auf ihn aufmerksam und werfen ihm vor, zu religiösem Fanatismus zu verleiten. Nach dem Sturz von Ben Ali tritt Hurath in Gespräche mit der tunesischen Botschaft in London, um sich über die Möglichkeiten zu informieren, wie die Bewegung als legale politische Partei zugelassen werden könnte. Vor der Presse erklärt er, dass circa hundert militante Anhänger im allgemeinen Durcheinander der Postrevolution aus den Gefängnissen entkommen seien und sich über die Städte der Republik verteilt haben. Ein Jahr später schließlich, am 29. März 2012, wird die Partei unter dem Namen ›Reformpartei‹ legal zugelassen und am 12. Mai im Kongresspalast in Tunis unter Anwesenheit von Scheichs und von Rachid al-Ghannouchi der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Präsident der ersten legalen salafistischen Partei wird Mohamed Khouja, der auch eines der Gründungsmitglieder der Bewegung in den 80er Jahren war« (Merone 2012).
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Dagegen ist das Jahr 2012 insgesamt durch eine lange Reihe subversiver Aktivitäten und Aggressionen vonseiten radikaler salafistischer Gruppen geprägt, die von der Polizei ungestört agieren können: In einer ›glücklichen‹ Kombination von Symbolen attackiert die Bewegung sowohl antike Mausoleen als auch Journalisten, Gewerkschaftler, Künstler jeder Richtung sowie die entsprechenden Veranstaltungen wie Ausstellungen, Aufführungen und Performances. So schaffen sie ein deutliches ideologisches Programm, das all das einer scharfen Zensur unterwerfen will, was nicht der fundamentalistischen Religionsmoral entspricht. Einer der offenkundigsten Fälle des Jahres 2012 ist ein gewaltsamer Angriff einer salafistischen Gruppe in der nördlich von Tunis gelegenen Stadt Jandouba am 26. Mai: Weil einige Mitglieder der Bewegung verhaftet wurden, setzen die mit Messern, Schwertern und Molotow-Cocktails bewaffneten Salafisten Polizeistationen in Brand, plündern Bars, in denen Alkohol ausgeschenkt wird, schüchtern Touristen in einem kleinen Hotel der Stadt ein, das von einem Anhänger der historischen Linken betrieben wird. Die Aggressionen führen zu Zusammenstößen mit der Polizei. Nichtsdestotrotz wird eine große Ratlosigkeit hinsichtlich der Verantwortung der EnnahdaPartei deutlich, der von vielen eine zu lasche Gangart gegenüber den Extremisten vorgeworfen wird, die man allzu oft ungestört agieren lässt. Die Positionen sind vielfältig: Die Opposition geht von einem wahrlichen Geheimabkommen zwischen den radikalen Gruppen und der Ennahda aus, während eher ›moderatere‹ Gruppen die Regierung bei der Lösung des Problems als unfähig bezeichnen, wenn man nicht in ein repressives Klima zurückfallen wolle. Ungestört verläuft auch der Angriff auf die Theatergemeinschaft von Tunis vom 25. März 2012: Anlässlich des Welttheatertags trifft sich vor dem Théâtre Municipal − einem symbolischen Ort für die städtische Theaterszene, da es von der Kulturpropaganda Ben Alis befreit wurde − eine große Gruppe von Künstlern, um eine Performance auf der Avenue Habib-Bourghiba zu veranstalten. Kurz nach dem Beginn der Veranstaltung begibt sich eine mit Knüppeln bewaffnete Gruppe von Salafisten auf den Platz und greift die Menschen unter den Augen einer gleichgültigen Polizei an. So beschreibt Moez Mrabet, Schauspieler, Regisseur und Lehrer am Institut Supérieur d’Art Dramatique, die Vorkommnisse in einem von mir geführten Interview: Am Tag des 25. März 2012, letztes Jahr, lief die Sache am Anfang eigentlich gut, wir waren mitten im Stadtzentrum von Tunis, auf der Avenue Habib-Bourghiba, um den Internationalen Theatertag zu feiern, und zwar mit einer Veranstaltung auf der Straße, und die Theaterschauspieler wurden Ziel eines Angriffs von vielen Salafisten; die Polizei war vor Ort, aber sie hat nichts unternommen: Wir haben einen Albtraum durchlebt an diesem Tag und man konnte klar sehen, dass das erst der Anfang war und dass das noch weiter gehen würde […] Allein gestern in Rgueb, in der Region von Sidi Bouzed, wurde einer Theatertruppe von einer Gruppe Sala-
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fisten und von Ennadhaoui untersagt aufzutreten. Das gehört also zum Alltag, das ist, was wir heute erdulden müssen, Aggressionen, Gewalt, Drohungen. Diese Leute sagen laut und deutlich, dass alles, was Kunst ähneln könnte – Künstler und all das – Ungläubige seien und dass wir keinen Platz in dieser Gesellschaft hätten. (Serlenga 2014: 312) Am 11. Juni 2012 folgt die Attacke auf das Palais Abdellia in La Marsa, vor den Toren der Hauptstadt, anlässlich einer als blasphemisch angesehenen Ausstellung. Dabei werden nicht nur Teilnehmer der Veranstaltung und die Künstler selbst angegriffen, sondern die Regierung stellt sich klar auf die Seite der Salafisten. Sie beschuldigt die Künstler selbst der Gotteslästerung und ordnet die Schließung des Ausstellungsraums an, wie in einer offiziellen Pressemitteilung des Ministeriums für Kultur wiedergegeben wird: »[…] angesichts der sich im Palais El Abdellia in La Marsa zugetragenen gefährlichen Schändungen, die den Glauben der Tunesier und die Werte des Heiligen verletzt haben, wurde die Entscheidung getroffen, diese Einrichtung zu schließen, um eine Revision ihrer Führung und Art der Nutzung vorzunehmen.« Der Pressemitteilung zufolge habe man auch entschieden, die Organisatoren der Ausstellung plastischer Kunst im Palais El Abdellia und all diejenigen gerichtlich zu verfolgen, die im Zuge der Ermittlungen wegen Nichteinhaltung der am 19. Januar 2012 unterzeichneten Verpflichtung genannt werden. (Directinfo/TAP 2012) In der darauffolgenden Nacht, dem 12. Juni 2012, kommt es in Sfax als Reaktion auf die Ausstellung im Palais Abdellia zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, in deren Folge in acht Landesregionen eine Ausgangsperre verhängt wird. Die öffentlichen gewalttätigen Ausschreitungen dauern an: Attackiert wird am 16. August das Festival Al-Aqsa in Bizerta, am 17. August in Menzel Bourgiba der Künstler Lofti Abdelli, am 24. August der Dichter Sghaier Ouled Ahmed, gefolgt vom Dichter Mohamed Hedi Oueslati einen Tag später. In all diesen Fällen zeigt sich die Ennahda (ebenso wie die Regierung) gleichgültig, die, obwohl sie die Taten als vermeintlich illegal und unzulässig erklärt, diese nicht unterbindet, sondern die Gruppen ungestört agieren lässt. Ihre Entscheidung erklärt sie teilweise damit, nicht zu einer repressiven Regierungsform zurückkehren zu wollen, in der wie unter dem Regime Ben Alis (dessen Zielscheibe die Ennahda-Partei war und über Jahre zur Untergrundarbeit gezwungen wurde) die islamischen Kräfte unterdrückt werden. Dieselbe ›fehlende Aufmerksamkeit‹ gilt bei Grenzkontrollen: Das ganze Jahr 2012 über werden illegal Waffen ins Land geschmuggelt.
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Der Ausnahmezustand: die stete Erneuerung einer temporären Vorkehrung Gleichzeitig dauert der Notstand ohne Unterbrechung an und lässt einige Journalisten und Intellektuelle nach dem Grund dieser juristisch-politischen Vorkehrung fragen, denn spätestens mit der Wahl der ANC am 23. Oktober 2011 beginnt die Anwendung der Ausnahmevorkehrung verdächtig zu werden. Auch wenn die Wahlen die verfassungsmäßige Legitimität der Nationalversammlung und die daran anschließende Neugestaltung der staatlichen Macht nur vorübergehend sicherstellen, so ist nicht klar, warum der Notstand immer wieder verlängert und gesetzlich neu formuliert wurde. Denn das Dekret Nr. 2011/4244 vom 28. November 2011 (vgl. Journal Officiel 2011/54: 1275) verhängt erneut den Notstand über ganz Tunesien und wird am 20. Dezember durch die − gesetzlich notwendige − Anordnung Nr. 3 verlängert. Das ganze Jahr 2012 lang ist über Tunesien der Ausnahmezustand verhängt,4 allerdings ungerechtfertigt, denn am 23. Oktober hätte die Übergabe der Verfassung stattfinden und damit die baldige Abhaltung von Wahlen auf der politischen Agenda stehen sollen: Warum also den Notstand verlängern? Diese Frage stellt sich auch die Journalistin Sana Sabouaï, die am 26. Juni 2012 im ersten von zwei auf Nawaat.org, einem Portal für alternative Berichterstattung, veröffentlichten Artikeln, die durchweg politischen Gründe für die Notstandsverhängung zu verstehen versucht (vgl. Sabouaï 2012). Beziehe man sich auf das Dekret Nr. 78/50 vom 26. Januar 1978, das den Notstand in Tunesien regelt,5 was wäre dann, im Jahre 2012, das noch nicht von der Terrorgefahr gekennzeichnet ist, die ›immanente Gefahr‹, vor der das Land durch die Anwendung von Notstandsmaßnahmen zu verteidigen wäre? Denn, so erinnert Sabouaï, der Notstand bedeutet auch eine starke Einschränkung von Zivilrechten. Erstmals war der Notstand nach der Flucht des Präsidenten ausgerufen worden, welcher jedoch nach Bildung der Übergangsregierung durch einen neuen Präsidenten ersetzt wurde. 2012 scheint die Sicherheitslage nicht derart instabil, um eine Ausnahmeregelung zu rechtfertigen, wie vom Pressebüro des Innenministeriums selbst erklärt wurde. Wenn das Problem an den – übrigens nie wirklich kontrollierten – Grenzen liegt, warum ist 4
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Dekret Nr. 2012/62 vom 30.03.2012 zur Verhängung des nationalen Notstands (vom 31. März bis zum 20. April 2012); Verlängerungsdekret Nr. 2012/76 vom 28.04.2012; Dekret Nr. 2012/142 vom 31.07.2012 zur Verhängung des nationalen Notstandes; Verlängerungsdekret Nr. 2012/204 vom 31.08.2012; Dekret Nr. 2012/214 vom 30.09.2012 zur Verhängung des nationalen Notstandes; Verlängerungserlass Nr. 2012/228 vom 31.10.2012. »Erster Artikel. Der Ausnahmezustand kann über die ganze oder einen Teil der Republik verhängt werden, sei es im Fall einer drohenden Gefahr als Folge von schweren Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung, sei es im Fall von Ereignissen, die auf Grund ihrer Schwere einen allgemeinen Notstand darstellen« (Dekret Nr. 78/50 vom 26.01.1978, Regelung des Ausnahmezustandes in Tunesien).
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es dann notwendig, den Notstand über das ganze Land zu verhängen? Die Journalistin zeichnet nur wenig später deutlich das Szenario Algeriens und Ägyptens nach, wo der Ausnahmezustand nie aufgehoben wurde. Dies sei illegal, so Sabouaï weiter, denn eine solch temporäre Vorkehrung kann nicht unbegrenzt erneuert werden; zudem hat sie die salafistischen Ausschreitungen nicht verhindert, die im Angriff auf das Palais Abdellia gipfelten. Es handelt sich folglich um eine unwirksame Maßnahme. Doch warum dauert sie dann noch weiter an? Diese bedenkliche Normalisierung des Ausnahmezustands führt, im Gegensatz zu den Revolutionstagen, dazu, dass sich die Menschen unmittelbar mit der Angst vor dem Terrorismus identifizieren und so polizeiliche Präsenz und Kontrolle als beruhigende Sicherheitsmaßnahmen wahrnehmen, ohne deren beunruhigende Aspekte zu erkennen.
Vom Ausnahmezustand zum Sicherheitsparadigma: Terrorismus und Unterdrückung Mit dem Angriff auf die amerikanische Botschaft am 14. September 2012 ändert sich die Lage. Die Ennahda gibt nun die Strategie der diskreten Toleranz auf, wird (scheinbar) aggressiv und repressiv. Die Reaktionen der Salafisten lassen nicht lange auf sich warten. Am 6. Februar 2013 wird Chokri Belaïd, Anführer des Front Populaire, der historischen Partei der tunesischen Linken, am hellichten Tage vor seinem Haus mit neun Schüssen ermordet: Vieles zum erklärtermaßen ersten politischen Mord im Tunesien des demokratischen Übergangs ist bis heute ungeklärt. Am 25. Juli 2013, dem Tag der Republik, folgt die Ermordung Mohamed Brahmis, eines ebenfalls herausragenden Politikers der Linken. Unter den zahlreichen Vermutungen über die Auftraggeber der beiden Morde vertreten einige die These, dass diese Beseitigung politischer Gegner einem halbstaatlichen Plan folge, der im Geheimen von der Ennahda getragen würde. Während die Linke der Ennahda-Partei vor allem das fehlende Eingreifen der Polizei gegen die mutmaßlichen salafistischen Morde vorwirft, sieht diese stattdessen den eigentlichen Grund für die Morde im islamischen Terrorismus und nähert sich so strategisch der aktuellen Regierungsopposition an. Inzwischen haben sich Dschihadisten, die der Terrororganisation Islamischer Staat beigetreten sind, in einem Video zu den beiden Morden bekannt. Gleich nach den beiden Ereignissen kommt es zu großen Protestmärschen mit jeweils über einer Million Demonstranten. Vor allem nach der Ermordung Brahmis fordern sie lautstark den Rücktritt der Regierung, welcher man Mittäterschaft vorwirft. Vom 26. Juli 2013 an formiert sich die Bewegung als ein dauerhafter Sitzstreik auf dem Bardo-Platz, gegenüber dem Sitz der ANC. Die Folgewoche ist von Tumulten geprägt: Während der Streik nach anfänglicher Beteiligung von Bürgern und Gewerkschaften wie der Union générale tunisienne du travail (UGTT) eine zunehmende Zustimmung von Oppositionsmitgliedern der ANC erlebt, die sich den Forderungen des Platzes anschließen – die sich im We-
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sentlichen unter der schon im Mai 2013 artikulierten Formel der Beendigung des ›nationalen Dialogs‹6 zusammenfassen lassen –, dauern die terroristischen Angriffe ununterbrochen an. Der erste von den vielen ihm folgenden Anschlägen ist das Attentat vom 29. Juli 2013 auf die Armeeeinheit, die auf dem Hügel Djebel Chambi stationiert ist, wobei acht Soldaten verstümmelt, verbrannt und getötet werden. Die geographische Nähe von Chambi zur algerischen Grenze markiert den Beginn des Terroralarms in Tunesien: Denn als Vergleichsmoment hat man in Tunesien insbesondere Algerien vor Augen.
Mögliche Szenarien Die politische Lage nach der Revolution wirft einige Fragen auf und lässt zahlreiche Szenarien zu. Vor allem bringt die anhaltende Verlängerung des Verfassungsprozesses, der am 23. Oktober 2012 hätte beendet werden sollen, einige Zweifel hervor: Erstens hält dies die Möglichkeit offen, ein demokratisch gewähltes Parlament durch das Exekutivsystem zu ersetzen, welches das Land in einem dauerhaften Notstand regiert und so die aktuelle Machtordnung, mit der Ennahda in der Mehrheit, aufrechterhalten würde. Zweitens lässt jedoch der Versuch der Destabilisierung und Delegitimierung durch die Oppositionspartei Nidaa Tounes − dem Bündnispartner des linken Flügels des Front Populaire, in der gesetzgebenden Versammlung, dem bis dahin einzigen demokratisch gewählten Organ des Landes −, der mit der durch den Terrorismus hervorgerufenen Strategie der Spannung zusammenfiel, einen ›sanften Staatsstreich‹ erahnen, der durch den nationalen Dialog eine Einigung zwischen den Parteien erlaubte. Die damalige Strategie der Spannung bringt aufgrund des Sicherheitsrisikos eine steigende Polizeikontrolle mit sich, welche ihrerseits durch Notstandsmaßnahmen ermöglicht wird, und destabilisiert die Regierung zunehmend. Nur eine Partei wie Nidaa Tounes scheint hieraus Nutzen gezogen zu haben, denn sie steht zwar in der Nachfolge des Rassemblement constitutionnel démocratique (RCD), der alten Partei Ben Alis, teilt aber mit der Ennahda und den internationalen Mächten das gleiche neoliberale Wirtschaftskonzept.7 6
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Hinter der Formel des ›nationalen Dialogs‹ verbirgt sich die Auflösung der Regierung, welche durch eine technische Regierung ersetzt wird, sowie ferner die Errichtung der Wahlkommission (Instance supérieure indépendante pour les élections, ISIE), die Beschleunigung des Verfassungsprozesses durch das Eingreifen von Verfassungsexperten und schließlich die Einrichtung einer Kommission zur audiovisuellen Kontrolle, das heißt eine par conditio über alle Massenmedien. Am 26. Oktober 2014 fanden die ersten demokratischen Parlamentswahlen in Tunesien statt, in denen Nidaa Tounes als stärkste Kraft hervorging. Im Vorfeld dieser Wahlen gingen die terroristischen Anschläge unvermindert weiter. Auf Grund dieser Attentate wurde zudem ein Antiterrorgesetz formuliert, das die Bürgerrechte der Bevölkerung massiv einschränkt. Die
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Angriff auf die Kulturproduktion: Kreativität als Form des Widerstands Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte. (Martin Niemöller zitiert nach Schreiber 1997: 74) Die Ereignisse von 2013, die mit den politischen Morden an Chokri Belaïd und Mohamed Brahmi ihren Anfang nahmen und von den Terroranschlägen von Chambri und den salafistischen Angriffen auf die Polizei gefolgt wurden, sind der Grund dafür, den Ausnahmezustand immer wieder zu verlängern, auch wenn das erste Dekret nur wenige Tage vor der Ermordung Belaïds verabschiedet wurde. Seit dem Mord am Anführer des Front Populaire sind alle von Sana Sabouaï gestellten Fragen hinfällig: Der Terrorismus existiert und er will Angst verbreiten. Seit 2013, das ganz im Zeichen des nationalen Notstands stand, ist ein Rückfall in autoritäre Strukturen zu verzeichnen: in einem merkwürdigen Zusammenspiel von terroristischen Attentaten und staatlicher Repression. Letztere richtet sich jedoch nicht direkt (oder zumindest nicht nur) gegen den islamischen Terrorismus, sondern auch gegen jenen Teil der Gesellschaft, der im Laufe des Jahres 2012 immer wieder von den Salafisten selbst angegriffen wurde: gegen Künstler, Musiker, Bühnenschauspieler, Kinoregisseure. In dieser symptomatischen Umkehrung avanciert eine subversive Handlung zur Staatspraxis. Seit dem Sommer 2013 folgen Verhaftungen von militanten Dissidenten, die aus dem Kulturbereich stammen: Filmschaffende, Musiker, Schauspieler, Filmproduzenten. Die ersten in einer langen Reihe sind die beiden Rapper Weld el 15 und Klaj BBJ, die während eines Konzerts am 22. August 2013 auf dem Festival von Hammamet auf der Bühne ohne Haftbefehl festgenommen werden. Wenige Tage später folgen die Verhaftungen des Filmproduzenten Nassredine Shili, weil er den Kulturminister mit einem Ei beworfen hat, und des Kameramanns Mourad Merzi, der die Aktion für den Fernsehsender Astrolab TV filmte. Wie der tunesische Blogger und Aktivist Azyz Amami, der für seine intensive alternative Berichterstattung vor und nach der Revolution bekannt ist, in einem offenen Brief an Edgar Morin erklärt, ist das, was per Gesetz angegriffen wird, keine bloße Tat oder Maßnahme wurde ohne irgendeine Reaktion der Bevölkerung legitimiert und angenommen (vgl. Mejri 2014).
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Straftat, sondern eine politische und legitime Stellungnahme (vgl. Amami 2013).8 Binnen weniger Wochen teilen acht weitere junge Filmemacher dieses Schicksal. Sie hatten sich im Haus des Regisseurs Nejib Abidi versammelt, um die Tonspur eines Dokumentarfilms über auf dem Meer verschwundene Bootsflüchtlinge fertig zu stellen,9 unter ihnen der Regisseur und Kameramann Abdellah Yahia und die Musiker Yahia Dridi, Slim Abida, Mahmoud Ayad und Skander Ben Abid sowie zwei junge Studentinnen und Aktivistinnen. Alle Verhafteten sind jünger als dreißig Jahre. Bereits einige Tage vor der Verhaftung wurden im Haus Abidis auf mysteriöse Weise zwei Festplatten gestohlen, die einen Teil des bereits gedrehten Dokumentarfilms enthielten. Doch damit nicht genug, denn bei der Verhaftung konnten dank der Notstandsmaßnahmen Polizisten der Drogenfahndung um vier Uhr morgens Abidis Haus ohne Durchsuchungsbefehl betreten. Nach einer erfolglosen Razzia überführten sie die acht Personen zu Ermittlungszwecken, wie etwa wegen Urinproben zum Nachweis von Drogen, ins Präsidium. Die Umstände und Vorwürfe sind in allen diesen Fällen gleich: Dank der durch den Notstand zugestandenen Befugnisse können Razzien ohne richterliches Mandat als Antiterror-Kontrolle durchgeführt werden. Die in den letzten Monaten ausgeübte Repression mit dem Ziel, insbesondere politische Aktivisten, Kunst- und Kulturschaffende und Journalisten zu treffen, erinnert auf traurige Weise an das Regime Ben Alis, das über Jahre hinweg unter Androhung von Folter und Gefängnisstrafen völliges Schweigen sicherstellte. Unter Scheinvorwürfen, wie Drogenkonsum oder Blasphemie, sind viele verurteilt worden, die meisten sind jünger als dreißig Jahre. Dies bedeutet, dass ein großer Teil der Bevölkerung nicht mehr in 8
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Azyz Amami, der übrigens im Mai 2014 unter denselben Vorwürfen verhaftet wird, schreibt: »Klay und Weld El 15 hatten öffentlich Lieder gesungen, die jeder kennt, sich im Internet anschaut und anhört. Ihre Texte sind gnadenlos, klar, deutlich, scharf und einschneidend. Sie greifen die verbliebenen drei Pfeiler Ben Alis sowie das neue Übel Tunesiens an: eine korrupte Polizei; eine korrupte Justiz; wohlhabende Familien, die für die Armut verantwortlich sind; politische Parteien, die nur an Machtpositionen interessiert sind. Klay geht sogar so weit, in einem der Lieder zu sagen: ›Haut alle ab, wir wollen keine Verfassung mehr‹ (schärfer formuliert natürlich). Weld El 15 legt in einem seiner Lieder den Finger auf das enge Verhältnis von Polizei und Justiz und drückt aus, was alle jungen Leute gegenüber der Polizei empfinden: Wut und unerträgliche Rachegelüste, was völlig normal ist, bedenkt man, was diese Polizei getan hat und immer noch tut. Nicht die Meinung an sich wird verurteilt, der A.C.A.B.Diskurs (›all cops are bastards‹) existiert und wird weiter existieren, ohne verboten, zensiert oder nicht einmal bestraft zu werden. Daraus aber eine Haltung gegenüber der Polizei zu machen, andere dazu zu bringen, diese Haltung ebenfalls einzunehmen und sie öffentlich in einer lehrhaften Rede lauthals zu verkünden, das wird verurteilt: nicht die Meinung an sich, sondern die öffentliche Stellungnahme. Und die Stellungnahme ist ein politischer Akt« (Amami 2013). Der Film von Nejib Abidi ist bislang noch nicht offiziell vorgeführt worden.
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der offiziellen politischen Debatte vertreten wird und seine Hoffnungen in die Revolution enttäuscht sieht. Wahrscheinlich beunruhigen aber gerade jene Menschen die instabile Regierung, denn sie bewegt sich auf dem schmalen Grat eines Staatsstreiches, der auf ein Abkommen zwischen den Parteien zur Aufteilung der Macht abzielt. Vor diesem Hintergrund kann Kunst zu einem notwendigen Engagement werden und Züge des politischen Widerstands annehmen. In einem Interview betont Kais Kriba, ein junger Journalist des Projekts für alternative Berichterstattung (Inkyfada), dass die Reaktionen der Regierung auf ein solch politisches Engagement jenes gefährliche und beunruhigende und somit subversive und schwer definierbare Potential anerkennt: Der Kampf, den alle Parteien im Moment austragen, ist ein Kampf im Umfeld der Macht und um Macht. Wir als junge Aktivisten waren immer dabei. Aber jetzt ziehen wir uns zurück, lassen die Parteien mit ihren politischen Spielchen allein, ohne denselben Fehler zu wiederholen. Die unabhängige Jugend wollte nicht daran teilnehmen und sich für diese niveaulose und traurige Aufführung, für diese Aneignung der gesellschaftlichen Kämpfe durch die Parteien einsetzen. Ich gebe zu: Wir sind enttäuscht und schauen jetzt auf diese »politische Schlacht«, die von vornherein verloren ist. Aber wir sind nicht passiv, jeder widmet sich einem eigenen, individuellen und kollektiven Projekt, mit den gleichen Träumen nach Veränderung. Dass wir das über den Journalismus, das Kino, die Musik machen, ist eine politische Entscheidung des Widerstands. Man denke nur an die engagierten Regisseure, an die Musiker oder die Bewegungen an der Basis wie das selbstverwaltete Kollektiv Blesh 7ess. (Del Pistoia 2013)
Je danserai malgré tout: Kunst, allem zum Trotz In diesem Zusammenhang erscheint es interessant, zwei Initiativen zu erwähnen, die trotz ihrer Verschiedenheit zwei Aspekte des zeitgenössischen performativen Schaffens in Tunesien verdeutlichen. Diese künstlerische Auseinandersetzung wird zum notwendigen Widerstand, zur Unterbrechung des gewaltsamen Kontinuums der Geschichte. Zugleich aber erschafft sie auch auf eine ästhetische Weise andere Codes der Identitätsdarstellung: Der staatlichen biopolitischen Kontrolle über die Körper seiner Bürger stellt diese Kunst die begehrende Potenz des Körpers entgegen.
Danseur Citoyen In Reaktion auf die salafistischen Aggressionen von 2012 entstand Danse Citoyenne, der Tanz der Staatsbürger. Dieses vom Kollektiv Danseur Citoyen ins Leben geru-
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fene Projekt verfolgt das Ziel eines populären Theaters und Tanzes, indem sie diese auf die Straße bringen. In der Tat ist seit der Revolution eine starke Ausbreitung des Breakdance in Tunesien zu verzeichnen: Die Vorstellung einer populären Straßenkunst, wie Rap und Graffitis, hat dazu geführt, dass viele talentierte Tänzer in Erscheinung getreten sind. Je danserai malgré tout nennt sich das erste Projekt der Gruppe, in welcher Tänzer mit klassischer Ausbildung, Breakdancer und Filmemacher aufeinandertreffen. Hierbei bewegt sich eine Gruppe von Tänzern durch die Stadt: an eher volkstümlichen und geschäftigen Orten, wie den Souks, auf den Straßen im Zentrum von Medina, in der Kasbah, in Metrostationen, aber auch vor institutionellen Gebäuden, wie dem Innen- oder dem Kulturministerium. Schnell und direkt improvisieren sie einen Tanz inmitten alltäglicher Kontexte: Die Menschen reagieren mit Erstaunen, mit dem Wunsch, sich zu beteiligen, aber auch mit bloßer Neugier oder Ablehnung. Die heimlich gefilmten Performances werden später auf YouTube veröffentlicht, um eine Streuwirkung zu erzielen. Auf diese Art fand das erste Video große Verbreitung. All dies ist eine Form des Widerstands gegen die aktuelle politische Lage. Denn wenn eine Art des moralischen Verbots von künstlerischen Ausdrucksformen im öffentlichen Raum existiert, so antworten die Tänzer mit der einfachsten Geste, frei von theatralischem Blendwerk oder großen medialen Aufrufen: nämlich indem sie ihre Präsenz und Kompetenz allen anderen Bürgern darbieten. So formuliert dies Bahri Ben Yamed, einer der Gründer von Danseur Citoyen: Wir haben einen Verein mit dem Namen Danseur Citoyen geschaffen. Er hat circa 2000 junge Mitglieder, die street art, Graffitis, Breakdance oder Zirkusnummern machen, die vielseitige Dichtung oder Musik erschaffen. Letzten Endes haben wir uns gesagt, jetzt müssen wir einen Aktionsplan finden, einen Widerstandsplan. So ist das Projekt Danseur citoyen entstanden. Nach dem Ereignis vom 25. März [2012] gab es etwas, das uns schockiert hat, nämlich dass diese Salafisten ja eigentlich unsere Brüder sind. Sie gehören zu diesem Land, sie sind unsere Nachbarn, unsere Cousins. Wir sind gegen niemanden. Jeder soll seine Freiheit ausdrücken, aber natürlich wird das von der anderen Seite ganz anders gesehen. Für sie bewegen wir uns im Verbotenen. Und was uns an diesem Tag so schockte war, dass sie uns sagten: Ihr macht Theater, Tanz, Musik, aber nicht auf der Straße, macht das im Theater. Gerade deshalb suchen wir ganz im Gegenteil eine Form der Kultur, der Nähe zu den Menschen, weil der einfache Tunesier von heute nicht die Möglichkeiten hat, ins Theater zu gehen […] Heute ist es so, als ob sie dir sagen, die Straße gehört dir nicht. Aber ich bin doch ein Bürger wie du, also gehört die Straße auch mir. Ihr macht eure Demonstrationen auf offener Straße, also haben auch wir das Recht unsere Kunst in der Nähe der Leute auszuüben. (Serlenga 2014: 312)
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Die Unentgeltlichkeit dieser Geste, die in den öffentlichen Raum dringt und diesen irritiert, entspricht einer Gabe, einem munus (vgl. Esposito 2004), jener Gabe, die beim Empfänger Gegenseitigkeit hervorruft und daher das alte Gemeinschaftsband wiederherstellt, welches sich in dieser Dynamik von Geben und Nehmen entwickelt. Es handelt sich um eine vergängliche Gemeinschaft, die sich im Moment der improvisierten Teilhabe an der Performance entzündet. Den Mittelpunkt des Ausdrucks bildet der Körper, ein neuer, befreiter Körper, der zu einem Symbol einer Gesellschaft im Übergang werden kann, welches deren viele Gesichter und Charaktere aufwertet und keine Schuldgefühle hervorruft. Es handelt sich also um einen Körper, der von einem gewissen radikalen Salafismus verneint und im Tanz von Danseur Citoyen befreit wird. Danse Citoyenne hingegen versteht sich einerseits als eine Gabe an die Bürger und andererseits als Forderung nach einem Existenzrecht für Künstler: mit dem Ziel einer Neugründung der Gemeinschaft, aber auch der Ästhetisierung politischen Widerstands.
Richard III – Court Circuit Während das Projekt Danseur Citoyen als eine öffentliche und reaktive Aktion entstand, ist das zweite Projekt hingegen ein Beispiel für eine Performance, die sich im Ausnahmezustand situiert und im normalerweise unteilbaren Binom von Zeugenschaft und Flucht oszilliert. Richard III – Court Circuit unter der Regie von Jaafar Guesmi stammt aus dem Jahr 2011/12 und ist eine Bearbeitung von Shakespeares Richard III. durch den tunesischen Bühnendichter Mahfoudh Ghazel. Die Arbeit erscheint mir aufgrund der hier genutzten Analysekategorien bedeutsam: Die durch die zeitgenössische Fabel hervorgerufene Spannung und das ständige Oszillieren zwischen den Polen von Zeugenschaft und Evasion erzeugt eine Anspielung, die als Metapher zur aktuellen politischen Lage Tunesiens fungiert. Das als Abschlussprojekt an der ISAD konzipierte Theaterstück entsteht inmitten des größten TheaterExperimentierlabors von Tunis, das alle angehenden Berufsschauspieler ausbildet. Unter diesem Zeichen steht auch die Aufführung von 2013: Es handelt sich um eine Suche, die ihre Hauptausdrucksmittel in Körper und Licht findet, und aus feinen Fäden eine Handlung spinnt, die das Zeitgeschehen zu erzählen vermag, ohne dieses jedoch zu einer getreuen Wiedergabe auf der Bühne zu verpflichten. Durch eine hohe performative und körperliche schauspielerische Leistung, welche von den, wenn auch schwachen, Spuren beseelt ist, die die Revolution vom Januar 2011 in der Kulturproduktion Tunesiens hinterlassen hat, erneuert das Stück die Theatersprache.
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Die Schwelle des Körpers oder Von biopolitischer Kontrolle und begehrender Potenz Um den tieferen Sinn dieser Theaterarbeit zu bestimmen, muss der Fokus auf die im Stück dominierende Schrift des Körpers gelegt werden, welche aus zahlreichen Gründen rührt. Die Schrift des Körpers artikuliert sich in erster Linie durch die cagoules, Männer mit Sturmhauben, welche das Geschehen zwischen den beiden Stoffen physisch beeinflussen: Ihr Auftreten zeugt von den Polizeikontrollen, die das Regime von Ben Ali geprägt und die ihre Spuren so tief in der tunesischen Gesellschaft hinterlassen haben, dass sie noch in dieser Phase des demokratischen Übergangs gegenwärtig sind. In dieser Unentscheidbarkeit zwischen dem Willen und Begehren der Figur sowie dem, was sie hervorruft, liegt die biopolitische Schizophrenie: die Unfähigkeit, die wirklichen Beweggründe der Bürger, ihre Wünsche und deren Äußerung zu erkennen (oft wird diese Ununterscheidbarkeit durch die von der Figur selbst erlittene Manipulation der Macht erzeugt und reicht bis zur völligen Übereinstimmung mit dem cagoule selbst). Ein Körper wird zum Interpreten der absoluten biopolitischen Kontrolle der Regierung über die eigenen Bürger, er wird zum Ausdruck der Perversität einer Macht, die es schafft, sogar in die häusliche Intimität einer Familie einzudringen und ihre Gefühle und Gedanken zu beeinflussen. Aber gleichzeitig ist der Körper auch Ausdruck der Macht des Begehrens, des Widerstandes: Nach den Worten der beiden Schauspieler findet seit dem Beginn der Revolution am 14. Januar 2011 ein bedeutsamer Wandel in Tunesien statt. In einer einzigen und gemeinschaftlichen Geste beschließen die bis dahin verborgenen und zensierten Körper, sich zu zeigen, zu existieren: Dégage! Und alles wird mit dem Körper dargestellt, vor allem seit der Revolution, als wir auf die Straße gingen, waren wir eins mit unserem Körper: Da sind wir also, wir müssen existieren, uns draußen zeigen, mit unseren Körpern; wir kennen uns nicht, wer bist du, ich kenne dich nicht, aber wir sind da, wir existieren körperlich, wir haben gesagt, wir sind da, um zu bleiben, um die Körper zu erwecken, weil wir uns als Tunesier einig waren, dieselbe Sprache zu sprechen … also haben wir uns gesagt, wir werden in der Aufführung eine Art Schrift des Körpers benutzen. (Serlenga 2014: 305) Vereinte Körper in einer Unterbrechung des gewaltsamen Kontinuums der Geschichte: Sie sind Augenblick, Schimmer (vgl. Didi-Hubermann 2012), flüchtiger Widerstand, der das biopolitische Herrschaftssystem stürzt und zur Kraft, zum kraftvollen Körper, zu einer Handlung wird, die für einen Moment die Gewalt der Macht umkehrt. Die Bilder, welche die Kraft der jungen Revolutionäre bezeugen, werden von dieser Geste durchdrungen: von einer erhobenen Hand, die entschlossen fortwährend vor- und zurückschwingt, ganz so als wolle sie den Diktator vertreiben. Diese Geste gleicht Rabii Brahim zufolge einer Welle: »Am 14. Januar ver-
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sammelten sich tausende tunesische Bürger, die sich fremd waren, die sich noch nie getroffen haben. Ungeplant brachten sie gemeinsam diese Geste hervor, die, wenn man sie sieht, eine Welle bildet« (Serlenga 2014: 305). Diese Körper eignen sich den öffentlichen Raum wieder an, der bis dahin nur von den Propagandabildern des Regimes dominiert wurde. Bürger und Künstler ergreifen erneut das Wort, um sich um die Dinge zu kümmern, die sie betreffen. Daher wird heute aber, neun Jahre nach dem Beginn der Revolution, die Fähigkeit der Sichtbarmachung durch den Körper zum bevorzugten Ausdrucksmittel von Verschiedenheit: Diese für einen Augenblick vereinten Körper sind das Schlachtfeld verschiedener Gesellschaftsprojekte (vgl. Mouffe 2007). Mit dem Aufkommen des Salafismus richtete dieser sein Augenmerk auf den Körper, der zuvorderst die Zugehörigkeit zur religiösen Bewegung darstellt: Der weibliche Körper wird bedeckt, dem Blick entzogen und der männliche mit einem langen Bart und dem traditionellen afghanischen Gewand versehen. Der Körper wird zum Terrain für eine vollkommen biopolitische Auseinandersetzung. Interessant an diesen mehrdeutigen Schwellen des Körpers ist, dass uns in der Performance die Wahl der Sprache und des körperlichen Codes etwas Anderes sagt: In dem Augenblick, in dem die Geste die Manipulation der Macht darstellt, kann sie sie aufdecken und sichtbar machen. Sie erweist sich als Widerstandstaktik. In seiner Schrift Noten zur Geste setzt sich Agamben ausgehend von der Analyse La Tourettes mit Sinn und Macht der Geste auseinander: Die Geste ist also dadurch gekennzeichnet, dass man in ihr weder etwas hervorbringt bzw. macht noch ausführt bzw. handelt, sondern etwas übernimmt und trägt. Das heißt, die Geste eröffnet die Sphäre des ethos als die dem Menschen eigenste Sphäre. Doch auf welche Weise wird eine Tätigkeit übernommen und getragen? (Agamben 2001: 59f.) In den weiteren Überlegungen führt Agamben einige praktische Beispiele an, darunter den Tanz: Wenn der Tanz Geste ist, dann indes nur, weil er nichts anderes ist als die Austragung und Darbietung des medialen Charakters der Körperbewegungen. Die Geste ist die Darbietung einer Mittelbarkeit […], das Sichtbarmachen eines Mittels […] als solchem. Sie lässt das In-einem-Medium-Sein […] des Menschen erscheinen und öffnet ihm auf diese Weise die ethische Dimension. […] Nur auf diese Art erlangt die dunkle Kantsche Wendung »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« eine konkrete Bedeutung. Diese ist jene Potenz der Geste in einem Mittel, die es in seinem eigenen Mittel-Sein […] unterbricht und allein so darbietet, aus einer res eine res gesta macht. (Agamben 2001: 60f.) In ihrer doppelten Natur von Ertragen und Erleiden, von Verkörpern und Darstellen liegt also die politische und ethische Dimension der Geste, welche sich in dem
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hybriden Raum zwischen Bezeugung und Flucht situiert. Politisch ist sie auch, und vor allem, im Zusammenhang mit dem Wunsch nach der Veränderung innerhalb der tunesischen Theatersprache: Es gilt, ein altes logozentrisches Modell durch einen Ansatz zu überwinden, der die Universalität des Körpers in einen Code überführt und so ein neues Band mit dem Zuschauer knüpft. Der Körper wird somit zu einer neuen Grenze, zu einem tragenden Element der Suche und zu einem Ort, wo die Lebendigkeit einer Theaterszene, die die Problematik der eigenen Wirklichkeit nicht auf eine antithetische Dialektik zwischen zwei Polen reduzieren will, einen Ausdrucksraum findet. Dabei versucht der Körper die Verschiedenheit wiederzugeben, aber auch die begehrende Kraft, die Möglichkeit nicht unterworfene Subjekte der Politik zu sein. Der Körper avanciert zu einer Schwelle, die sowohl zur Selbstdarstellung, zur Sichtbarmachung des Selbst als politischen Akt des Widerstandes, als auch gleichzeitig ein wehrloser, schmerzhafter, von der Macht geschundener Körper ist. Auch wenn diese Macht sich noch in einer subtilen Unterdrückung von Diversität ausdrückt, wie Laura Bazzicalupo erläutert: Körper: Das heißt Schwelle, innen und außen, innerhalb der Macht, die ihn durchzieht und ihn zum gelehrigen Subjekt von Therapien, Behandlungen, Protokollen und Manipulationen macht, und außerhalb, dem Ort der Gefühle, der nicht disziplinierten Leidenschaften, des Lachens und des Hohns, der die Ordnung sinnlich umstürzt, zerstört. (Bazzicalupo 2001: 385) Auf dieser Schwelle zwischen Innen und Außen, zwischen mir und der Welt befindet sich die wieder mit Sinn gefüllte Möglichkeit zu handeln, sich den Schicksalsschlägen des Lebens wie auch dem Glück des Seins, der Schönheit auszusetzen, in einer Beziehung mit mir selbst und auf grundlegende Weise mit dem Anderen. So wird der Körper zum biopolitischen Schlachtfeld und daher zum Raum der vielfältigen, vergänglichen und wechselnden möglichen Widerstandsformen: Der Körper bietet der Macht Angriffspunkte, gleichzeitig kann er aber auch, sogar in der Passivität der Unterwerfung, Widerstand und eine »Gegenmacht« erschaffen. […] Es gibt eine Umkehr, die sich auf Geist und Körper stützt: ein beständiges Ineinanderfließen von Fleischlichem und Geistlichem, ein Austausch von Körper und Seele, Trieben und Fantasie, Gedanken, die eine auf sich selbst zurückgeworfene Falte hervorbringen. Der Widerstand, auf den jede Art von Macht bei der Ausübung von Zwang trifft, wird zur aktiven Selbsterschaffung, also zur Autonomie, zur ästhetischen Geste der ethischen Selbstkonstruktion. (Bazzicalupo 2001: 387)
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Ausweichende Zeugenschaft oder Vom Theater in dunklen Zeiten Ausgehend von der radikalen Infragestellung früherer künstlerischer Praktiken, aber auch indem man die politische Rolle überdacht hat, welche Kunst und Theater in dieser Zeit der Ausnahme, des demokratischen Übergangs, einnehmen können, ergab sich zwangsläufig das Experimentieren mit der Theatersprache. Obwohl sie durch die miteinander verflochtenen, gegenteiligen Eigenschaften von Innovation und Evasion gekennzeichnet ist (wie die Verwendung eines klassischen archetypischen Textes wie Richard III., aber auch die Sprache des Körpers und des Lichts Ausdruck finden), gelingt es ihr dennoch, ein mahnendes Zeugnis abzulegen und die Gegenwart im Namen einer noch zu erschaffenden Zukunft zu unterbrechen. Dieses Zeugnis will nicht direkt sein und riskiert so, zu verflachen, wie die Sprache der durch das Fernsehen dominierten Wirklichkeit: Dieser Diskurs kehrt zum Ursprung der reinen Theatralität zurück, die, Hannah Arendt zufolge, »die politische Kunst par excellence« darstellt (Arendt 1967: 233). Dort wird der Zauber der gleichzeitigen Gegenwart von Schauspielern und Zuschauern zum Auslöser, um jenen Schwellenraum zu öffnen, der sich zugleich nach innen und nach außen hin öffnet: innen der Theaterraum, außen die Gesellschaft, auf die sich die kleinen, leichten Sinnverschiebungen auswirken, zu denen die Kunst einen Beitrag leisten kann. Dort wird jener indirekte Code zum Träger einer möglichen und flüchtigen Universalität. Dort entfaltet er seine Wirksamkeit. Dort kann er die eigene Zeit deuten und vorwegnehmen und auch über den Moment seiner Entstehung hin aktuell sein: gerade weil er den Diskurs auf eine andere Ebene als die der Wirklichkeit hebt und da in ihm Archetypen neue Schönheit und Poesie verliehen wird. Wie kann man in diesen dunklen Zeiten den Sinn der Theaterkunst wiederfinden, der erneut als Sprachrohr der Geschichte und der politischen Konflikte fungiert und an ihnen teilhat, der aus ihnen geboren wird und sich an die Gesellschaft wendet, die ihn hervorbringt? Die Antwort ist folgende: indem er einen unabhängigen Kosmos erschafft, der dennoch ganz und gar mit der die Kunst umgebenden Welt verbunden ist. An dieser Stelle sei ein Zitat Didi-Hubermans angeführt, der sich seinerseits auf einen Gedanken Arendts bezieht: In ihrem Loblied auf Lessing, das den Titel »Menschen in finsteren Zeiten« trägt, hat Arendt an die Situation dessen erinnert, der sich mit einer solchen Zeit konfrontiert sieht, einer Zeit, in der »die Öffentlichkeit doch die Leuchtkraft verloren« hat, einer Zeit, in der wir uns in der Ordnung der Gründe nicht mehr »erleuchtet« beziehungsweise »aufgeklärt« [éclairé] fühlen und in der Ordnung der Affekte nicht mehr »leuchtend«. In einer solchen Situation werden einige die Handlungsweise wählen, sich »aus der Welt« des Lichts zurückzuziehen, gleichzeitig aber auf etwas hinzuarbeiten, das »der Welt noch nützlich« sein kann, irgendeinen Schimmer, kurz gesagt. Sich zurückzuziehen, ohne sich ganz auf das eigene Selbst zu-
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rückzuziehen […] Nun wird das Leiden, das mit dem Rückzug verbunden ist, zur Freude […] zu jenem Verlangen, jenem Handeln trotz allem, das dadurch, dass es sich dem Anderen vermittelt, Sinn zu erzeugen vermag: »Der Sinn eines Gehandelten [erscheint] erst, wenn das Handeln selbst […] als eine Geschichte erzählbar geworden ist« schreibt Hannah Arendt in direkter Nachfolge Walter Benjamins. (Didi-Huberman 2012: 136f.) Aus dem Italienischen und Französischen von Daniel Fliege
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Die Relationalität des Prekären1 Zu einer Ökologie der Rahmung Stephan Trinkaus Die Lichtung ist in diesem Sinne wirklich ein lucus a non lucendo: Die Öffnung, die in ihr auf dem Spiel steht, ist wesentlich eine Öffnung auf eine Schließung, und derjenige, der ins Offene schaut, sieht nur ein sich Schließendes, sieht nur ein Nicht-Sehen. Agamben (2003: 78) Wie also gemeinsam sein, ohne das zu bilden, was die gesamte Tradition […] eine Gemeinschaft nennt […]? Nancy (2014: 142)
Rahmen und precariousness In der Einleitung zu ihrem 2009 erschienenen Buch Frames of War 2 skizziert Judith Butler eine Theorie des Rahmens (vgl. Butler 2009b). Dieses Konzept benutzt sie dabei in einem sehr weiten Sinne: Der Rahmen ermöglicht es ihr, den unmittelbar politischen Zusammenhang von Wahrnehmbarkeit, Intelligibilität und Anerkennung zu denken. Im Zentrum des Buches steht aber ein anderer Begriff, der bereits in Butlers letzten Veröffentlichungen von großer Bedeutung war: precariousness, die grundsätzliche Gefährdetheit und Verletzbarkeit des Lebendigen. Precariousness evoziert die Rahmung, sie ist Ausgesetztheit dem Anderen gegenüber, Angewiesenheit darauf, wahrgenommen, erkannt, anerkannt, aufgenommen 1 2
Dieser Text ist die stark gekürzte Fassung eines Teils eines größeren Forschungsprojekts. Ein weiterer Ausschnitt ist erschienen als »Prekäre Gemeinschaft« (Trinkaus 2015). Die deutsche Ausgabe übersetzt Frames nicht ganz ohne Grund aber doch, wie ich hoffe zeigen zu können, falsch als »Raster« (Butler 2010).
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zu werden. Leben liegt gewissermaßen immer schon in den Händen des Anderen, ist ein Zu-ihm-hin, ein reaching to (vgl. Butler 2009b: 3ff.). Es geht hier also um ein grundlegend relationales Konzept: Das Lebendige kann sich nicht in sich einschließen, es ist immer ein Über-sich-selbst-hinaus, ein Außer-sich-Sein, das niemals zur Ruhe kommt. Butler knüpft damit an Hegels Konzept eines »Kampfes um Anerkennung« (Butler 2009a: 216) an, verkehrt aber gewissermaßen dessen Herr/Knecht-Dialektik: Diese Dynamik gründet nicht in der Überwindung des Todes, sondern in der Prekarität, Fragilität und Sterblichkeit des Lebendigen. Der Rahmen antwortet auf diese Prekarität, er ist es, der sie trägt oder hält, das heißt, er rahmt sie, ohne sie stillstellen, beenden, fixieren zu können. Precariousness ist unaufhebbar und damit geschieht auch die Rahmung nicht ein für alle Mal, sie kann keine Schließung sein, sondern muss dieser Nichtfixierbarkeit, dieser Nichtrahmbarkeit, könnte man sagen, stattgeben. Der Rahmen oder die Rahmung muss wiederholt werden, wenn das Gerahmte bestehen will und sie ermöglicht überhaupt, dass etwas wiederholt werden kann, dass es etwas gibt, das wiederholt werden kann. Damit steht der Rahmen in der Bewegung des Über-sich-hinaus. Ganz im Gegenteil zeigt man, indem man den Rahmen infrage stellt, dass der Rahmen die Szene, die er begrenzen sollte, niemals vollständig in sich einschließt, dass immer schon etwas außerhalb seiner liegt, was den Sinn dessen, was innerhalb liegt, erst ermöglicht und erkennbar macht. Der Rahmen legt niemals ganz genau fest, was wir denken, anerkennen und wahrnehmen. Immer gibt es etwas, das den Rahmen überschreitet und unseren Sinn für das Reale erschüttert; anders gesagt ereignet sich hier etwas, das nicht in unsere vertraute Auffassung der Dinge passt. (Butler 2010: 16) Die Bestimmungen und Festlegungen des Rahmens sind also immer vorläufig, sie werden immer schon irritiert, unterlaufen von etwas, das sich nicht bestimmen, nicht anerkennen lässt. Precariousness ist nicht nur ein Angewiesen-Sein darauf, wahrgenommen, anerkannt zu werden; sie ist zugleich eine Irritation, eine Krise der Wahrnehmung und der Anerkennung, da sie immer etwas Nichtwahrnehmbares, Nichtanerkennbares impliziert, etwas, das nicht ein für allemal in einem Anerkennungsmuster ankommen kann. Im gegenseitigen Verwiesen-Sein von precariousness und Rahmen wird das Ereignis der Rahmung selbst, also das, was die Wahrnehmung überhaupt erst ermöglicht, zum Zeichen einer Nichtwahrnehmbarkeit, eines Intervalls zwischen dem, was wahrnehmbar und dem, was noch nicht oder nicht mehr wahrnehmbar ist. Eine nicht fassbare, gespenstische Bewegung zwischen Rahmung und Entrahmung, Innen und Außen: Was ist dieses Gespenst, das an den Normen der Anerkennung rüttelt, diese verdichtete Figur, die zugleich das Innere und das Äußere dieser Normen bildet? Als Inneres muss sie ausgetrieben werden, um die Norm zu reinigen; als Äußeres
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droht sie die Grenzen des Selbst aufzulösen. In beiden Fällen stehen Stabilität und Haltbarkeit der Norm infrage, oder anders gesagt: Diese Figur ist Zeichen dafür, dass Normen nur funktionieren, indem sie die jederzeit bestehende Möglichkeit ihrer Auflösung kontrollieren, die zugleich jedem Effekt, den die Norm erzielt, bereits innewohnt. (Butler 2010: 20f.)3 Der Rahmen konstituiert also einerseits das Wahrnehmbare, er bringt die Ordnung der Welt als ihre Wahrnehmbarkeit hervor, gibt aber gleichzeitig der Zerbrechlichkeit dieser Ordnung, ihrer notwendigen Vorläufigkeit und Instabilität statt. Der Rahmen ist gerade nicht Schließung, sondern der Zusammenhang von doing und undoing, von Konstituierung und Auflösung der Ordnung, der Wahrnehmbarkeit, der Anerkennbarkeit. Darin verbirgt sich eine Theorie des Mediums. Medien sind Rahmungen, die die Denk- und Wahrnehmbarkeit der Welt konturieren und eine je spezifische, gespenstische Bewegung von doing und undoing, von Rahmung und Entrahmung, Kadrierung und Dekadrierung hervorbringen. Während mediale Rahmen also einerseits Wahrnehmbarkeit ermöglichen, setzen sie zugleich deren Heimsuchung durch ein Nichtfixierbares, Gespenstisches ein. Rahmen sind insofern zugleich Teil spezifischer historischer Kontexte als auch das, was sich darin nicht fixieren, nicht bestimmen lässt. Die Hände, in die wir uns notwendigerweise schon immer begeben haben, sind nicht nur die des Anderen, sondern immer auch die eines anderen Anderen,4 der nicht nur – wie bei Lévinas – Gott oder Gerechtigkeit ist, sondern auch – wie Bourdieu und Durkheim sagen würden – »die einzige Instanz, die in Konkurrenz zum Rückgriff auf Gott treten kann« (Bourdieu 2001: 308): das Soziale als historisch Gewordenes und immer noch Werdendes. Schon in Die Macht der Geschlechternormen (Butler 2009a)5 hat Butler genau diese Auseinandersetzung mit den Ansätzen einer intersubjektiven Psychoanalyse bei Jessica Benjamin geführt, die versucht hat, Anerkennung in der Rahmung durch die Mutter/Kind-Dyade zu denken. Für Butler geht es dabei um den Moment, an dem der Dualismus der intersubjektiven Szene Herr/Knecht, aber auch Mutter/Kind auf die Veränderbarkeit, die Zeit, das Vergangen- und Im-Kommen-Sein geöffnet wird. Weder die precariousness noch der Rahmen als Wiederholbarkeit und Vorläufigkeit lassen sich in einer dyadischen Beziehung einschließen. 3
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Im Original lautet der letzte Satz etwas anders: »In either case, it figures the collapsibility of the norm; in other words, it is a sign that the norm functions precisely by way of managing the prospect of its undoing, an undoing that inheres in its doings« (Butler 2009b: 12). »Das Dritte, das ist nicht der konkrete Andere, der um das Begehren wirbt, sondern der oder das Andere des Anderen, der oder das ein Verhältnis des Begehrens in Anspruch nimmt, motiviert und überschreitet und es gleichzeitig grundlegend konstituiert« (Butler 2009a: 220). Der Originaltitel lautet Undoing Gender (Butler 2004).
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Wenn wir darüber hinaus bedenken, dass die Beziehungen, durch die wir definiert sind, nicht dyadisch sind, sondern immer auf ein historisches Erbe und Zukunftshorizonte verweisen, die nicht im Anderen enthalten sind, die aber so etwas wie das Andere des Anderen darstellen, dann scheint daraus zu folgen, dass das, was wir »sind«, grundsätzlich ein Subjekt in einer zeitlichen Kette des Begehrens ist, die nur gelegentlich und vorläufig die Form der Dyade einnimmt. (Butler 2010: 245)6 Butler antwortet damit auf Benjamins Versuch eine intersubjektive Triangulierung zu denken: Benjamin bezeichnet das als »Gemeinschaft im Dritten« oder »moral thirdness« (Benjamin 2006: 80).7 Das Interessante an dieser Position ist, dass sie das Dritte in die intersubjektive Situation integriert, also mit dem damit einhergehenden Phantasma einer Verschmelzung bricht, die der ödipalen Triangulierung, der Notwendigkeit einer Intervention des Vaters oder des Phallus zugrunde liegt. Insofern handelt es sich hier nicht mehr um eine Dyade, nicht mehr um eine Zweiheit, sondern innerhalb dieser Begegnung entsteht etwas anderes, das diese Begegnung erst ermöglicht. In der intersubjektiven Triangulierung geht es nicht um eine dyadische Einschließung oder Verschmelzung, sondern um die Erzeugung eines Dritten in den intersubjektiven Anerkennungs- und Verstehensprozessen. Butler weist auf etwas Anderes hin: Da Benjamin die Komplexität und Intimität der Begegnung mit der precariousness des Anderen auf ein symmetrisches Modell von Anerkennungsmustern beschränkt, erscheint sie als tatsächlich begrenzund in kulturelle Imperative überführbar: eben in die »moral thirdness« oder – schlimmer noch – in der deutschen Übersetzung: in die »sittliche Triangulierung« (Benjamin 2006: 80ff.). Dieses Dritte ist zwar nicht mehr patriarchal, die Anerkennung nicht mehr auf Herrschaft, Männlichkeit, Kampf und Unverletzbarkeit bezogen, es leugnet aber seinen historischen Kontext und damit auch die Heimsuchung durch dessen Gespenster. Benjamin scheint, folgt man Butler, so zu tun, als sei das Gespenstische des Prekären in einer angemessenen, verstehenden Triangulierung aufhebbar. Prekarität wird hier, so könnte man sagen, zum konstitutiven Außen eines stabil und ewig gedachten Verstehens. 6
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Die Passage beginnt wie folgt: »Es gibt also eine, von Hegel abstammende Sichtweise der Relationalität, die behauptet, dass das Selbst Anerkennung sucht und sie anderen anbietet, aber es gibt noch eine andere, die behauptet, dass der Prozess der Anerkennung selbst verrät, dass das Selbst immer schon außerhalb seiner selbst platziert ist. Das ist keine dezidiert ›postmoderne‹ Erkenntnis, weil sie sich vom deutschen Idealismus und früheren mittelalterlichen ekstatischen Traditionen herleitet. Sie gibt einfach nur zu, dass ›wir‹, die wir in Beziehung gesetzt sind, nicht unabhängig von diesen Beziehungen sind und uns selbst nicht außerhalb der dezentrierenden Effekte denken können, die diese Relationalität mit sich bringt« (Butler 2010: 245). Benjamin bezieht sich dabei vor allem auf Winnicott, auf den ich gleich kommen werde.
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Nach relationaler Auffassung ist aber psychisches Verstehen – das ist: das Dritte – keine »Sache«, die sich erwerben lässt. Verstehen entwickelt sich vielmehr in einem dialogisch strukturierten Prozess der Interaktion, als etwas, das wir miteinander teilen und das uns Gelegenheiten vermittelt, wechselseitig Anerkennung zu erfahren. Das geteilte Dritte schafft als Dialog einen mentalen Raum für Denken: für ein inneres Gespräch, das wir mit dem anderen in uns führen. (Benjamin 2006: 80) Es ist aber vielleicht nicht unbedingt nötig, die »gemeinsam erzeugte Erfahrung«, aus der, so Benjamin, die Triangulierung entsteht, auf diese Weise eindeutig zu fixieren. Wichtig erscheint mir festzuhalten, dass sich der Rahmen durchaus in Benjamins Begriffen beschreiben lässt: als ein gemeinsam erzeugtes Vermögen, das »sich in vorsymbolischen Erfahrungen von Anpassung und Wechselseitigkeit vollzieht«, dass sich dieser Rahmen aber, anders als Benjamin nahelegt, gerade nicht zuerst »auf Anerkennen und Anerkannt-Werden abzielt«, sondern vor allem »gemeinsam hergestellt und miteinander geteilt wird« (Benjamin 2006: 78). Es geht auch nicht darum, die Spannung zwischen diesen beiden Positionen aufzulösen. Es ist vielmehr gerade diese Spannung, in der die Rahmung in ihrer Komplexität denkbar wird: es also möglich wird, an der gemeinsam erzeugten Erfahrung als Drittes, der Notwendigkeit eines mentalen Raums des Dialogs mit der inneren Anderen als auch an der Unaufhebbarkeit der precariousness und deren Verstrickung in soziale Herrschaft und Machtverhältnisse festzuhalten, ohne sie sich gegenseitig aufheben oder einander ausschließen zu lassen. Das würde bedeuten, die Rahmung zugleich als Begrenzung und Ermöglichung, als Schnitt und Relation, als öffnende Schließung oder schließende Öffnung zu denken. Wenn dem aber so ist, dann wäre jedes Erscheinen an Prozesse der Rahmung und Entrahmung gebunden. Kein Schritt kann gemacht werden, kein Strich gezogen, ohne dass er in die Rahmung involviert ist. Rahmung wäre dann ein radikal relationales Geschehen oder eher die relationale Dimension jeder Praxis, jedes Erscheinens. In Die Wahrheit in der Malerei spricht Derrida davon, dass ein Strich, ein erster Zug niemals als er selbst und niemals ein erstes Mal erscheint: Er situiert sich zwischen der sichtbaren Umrandung und dem zentralen Phantom, von dem her wir faszinieren. […] Zwischen dem Außen und dem Innen, zwischen der äußeren und der inneren Randung, dem Umrahmenden und dem Eingerahmten, der Gestalt und dem Hintergrund, der Form und dem Inhalt, dem Signifikanten und dem Signifikat, und so weiter in allen zweiseitigen Gegensätzen. (Derrida 1992: 27) In dieser gespenstischen Bewegung zwischen Innen und Außen, An- und Abwesenheit, Wiederholung und Differenz ereignet sich das Erscheinen als Prozess der Rahmung. Das ist weder die Fülle des benjaminschen Verstehens noch die Leere
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der butlerschen Normativität, sondern etwas, das weder Leere noch Fülle, weder nichts noch etwas ist, in der das Prekäre also weder ausgeschlossen noch vernichtet, sondern gehalten wird. Wie lässt sich also eine Rahmung denken, die die Unaufhebbarkeit der Prekarität nicht ausschließt, sondern ihr stattgibt? Die das Dritte also gerade in dem sucht, was jede Norm, jede Ordnung, jede Schließung notwendig heimsucht? »In the midst of the work of the rational community«, schreibt Alphonso Lingis in seinem Versuch, eine Gemeinschaft derer zu denken, die ausgeschlossen, prekarisert, nicht anerkannt und unbetrauert bleiben, »there forms the community of those who have nothing in common, of those who have nothingness, death, their mortality, in common« (Lingis 1994: 13). Lässt sich eine Rahmung denken, die von der Gemeinsamkeit dieser nothingness ausgeht, die die Verletzbarkeit und Endlichkeit des Prekären in ihr eigenes un/doing übergehen lässt? Und damit nicht nur die Aufteilung von Rahmung und Gerahmten, sondern jede Form von Binarität unterläuft? Ein Erscheinen eines ›Nichts‹, das keine Negation, keine Vernichtung ist, sondern eben ein Erscheinen, ein Halten?
Empfindungskomplexe Art and nature, art in nature, share a common structure: that of excessive and useless production – production for its own sake, production for the sake of profusion and differentiation. Art takes what it needs – the excess of colors, forms, materials – from the earth to produce its own excesses, sensations with a life of their own, sensation as »nonorganic« life. […] Thus the first gesture of art is not, as Nietzsche believed, the exteriorization of one’s own bodily forces and energies, the transformation of flesh and blood into canvas and oil but a more primary gesture that requires a body’s prior separation from the earth, from nature, from its world. Deleuze understands, and on this point is in remarkable and rare agreement with Derrida, that the first gesture of art, its metaphysical condition and universal expression, is the construction or fabrication of the frame. (Grosz 2008: 9f.)8 Mit dieser Parallele beginnt Elizabeth Grosz ihre Studie zum Zusammenhang von Rahmung und Werden: Kunst und Natur entsprechen einander, beiden gemeinsam ist der Exzess, ja sie sind vor allem Produktion eines Exzesses von Farben, Form und Material. Aber sie unterscheiden sich auch und zwar ganz grundlegend, es ist eine »primäre Geste«, die diese Unterscheidung produziert: die Geste der Rahmung. Die Exzesse der Kunst gründen auf dieser rahmenden Geste als einem Moment der Differenzierung, der Teilung, in der ein neuer Exzess erscheinen kann. 8
Elizabeth Grosz schließt hier an die Konzeptionalisierungen des Ritornells in Tausend Plateaus (Deleuze/Guattari 1992) und Was ist Philosophie? (Deleuze/Guattari 2000) an.
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Wie aber ist diese Geste, diese Differenzierung, diese Teilung zu denken? Was stellt sie her und worin besteht sie selbst? Grosz schließt die obige Formulierung mit einem Zitat aus Was ist Philosophie? von Gilles Deleuze und Félix Guattari: »Die Kunst faßt ein Stück Chaos in einen Rahmen, um daraus ein komponiertes Chaos zu bilden, das spürbar wird oder aus dem sie eine chaoide Empfindung als Varietät gewinnt […]« (Deleuze/Guattari 2000: 244). Der Unterschied zwischen komponiert und nichtkomponiert ist folglich die Rahmung. Kunst, so könnte man also sagen, ist erst einmal kein Inhalt, aber auch keine Form, sie ist eine Rahmung oder hängt davon ab, dass sich Rahmung ereignet hat. Weder geht der Rahmen der Kunst noch die Kunst dem Rahmen voraus. Die Rahmung wäre demnach wiederum keine Schließung, sondern Öffnung auf ein ›Anderssein‹, ein Werden. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben am Ende von Was ist Philosophie? versucht, die Rahmung als Werden zu konzipieren (vgl. Deleuze/Guattari 2000). Dabei gehen sie von der Architektur als der ›ersten Kunst‹, also von tatsächlichen, materiellen Wänden, aus. Das Innen und das Außen, die dadurch entstehen, sind für sie aber keine Wesenheiten, nichts, was vor der Rahmung bereits bestanden hätte, sondern nur von der rahmenden Wand her zu verstehen ist. Sie wird nicht innerhalb eines Raums gezogen, der bereits da wäre, den sie also aufteilt, sondern sie bringt Raum überhaupt erst hervor. Die Wand ist insofern keine Grenze, keine Trennung, sondern Relation, Beziehung, die ein Außen und ein Innen als aufeinander bezogene Räume entstehen lässt. Innen und Außen wären insofern Aktualisierungen dieser Relationalität der Rahmung. Das heißt nicht, dass der Rahmen bestimmte Formen präjudizieren würde: In gewisser Weise ist er gerade der Übergang vom Virtuellen zur Aktualisierung, nicht mehr virtuell aber auch noch nicht bestimmt. Diese Rahmen ineinanderfügen oder alle diese Ebenen – Mauerstück, Fensterfläche, Bodenfläche, Schrägseite – verbinden: das ist ein zusammengesetztes System, reich an Punkten und Kontrapunkten. Die Rahmen und ihre Verbindungen halten die Empfindungskomplexe, geben den Figuren Halt, verschmelzen mit ihrem Halt-Geben, mit ihrer eigenen Haltung. Die Rahmen oder Flächenstücke sind keine Koordinaten, sie gehören zu den Empfindungskomplexen, deren Seiten, Schnittstellen sie bilden. (Deleuze/Guattari 2000: 222f.) Der Rahmen ist also Teil der Komplexe selbst, er ist kein Behältnis, keine Schließung, sondern ein Moment ihres Werdens. Rahmung und Entrahmung werden bei Deleuze und Guattari zu Momenten des Zwischen: Was eben noch als Grenze, als Umgrenzung erscheint, löst sich im nächsten auf, wird zum Zwischenraum: »Nun müssen die Ebenen wieder voneinander gelöst werden, um sie auf ihre Zwischenräume zurückzuführen, statt wechselseitig aufeinander, und um neue Affekte zu schaffen« (Deleuze/Guattari 2000: 223). Der Rahmen öffnet sich also quasi auf sich
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selbst. Er entgeht ja nicht dem Exzess, er bringt eine Differenz; einen anderen Exzess, einen komponierten Exzess ins Spiel. Indem er erscheint, öffnet er sich auf das Universum. Er ist Übergangsraum in dem Sinne, als es keinen Raum geben kann ohne ihn, keine Beziehungen, er aber genau das Moment ist, in dem sich das Etwas auf das Nichts, das Endliche auf das Unendliche öffnet. Alles ist durch ihn aufeinander bezogen, nur er bezieht sich auf nichts als den Bezug: Er wäre dann geradezu das Gegenteil des lacanschen Phallus oder eher so etwas wie ein Nichtphallus: weder Aufnahme noch Penetration, sondern Hervorbringung als Halten des Haltlosen durch das Haltlose. Die Fenstertür öffnet sich, wie bei Matisse, nur noch auf eine schwarze Farbfläche. Der Leib oder vielmehr die Figur bewohnt nicht mehr den Schauplatz, das Haus, sondern ein Universum, das das Haus (Werden) stützt. Es ist gleichsam der Übergang vom Endlichen zum Unendlichen, aber auch vom Territorium zur Deterritorialisierung. Dies ist in der Tat der Moment des Unendlichen: unendlich variierte Unendlichkeiten. (Deleuze/Guattari 2000: 215) Als diesen Übergang vom Endlichen zum Unendlichen, vom Territorium zur Deterritorialisierung, von der Aktualisierung zur Virtualität muss man sich meines Erachtens den Rahmen vorstellen. Wenn der Rahmen somit nicht der, die oder das Haltende ist, sondern das Halten selbst, das Ereignis des Haltens, dann ist das Kunstwerk auch unabhängig von seiner Schöpferin: Die Perzepte sind keine Perzeptionen mehr, sie sind unabhängig vom Zustand derer, die sie empfinden; die Affekte sind keine Gefühle oder Affektionen mehr, sie übersteigen die Kräfte derer, die durch sie hindurchgehen. Die Empfindungen, Perzepte und Affekte, sind Wesen, die durch sich selbst gelten und über alles Erleben hinausreichen. Sie sind, so könnte man sagen, in der Abwesenheit des Menschen, weil der Mensch, so wie er im Stein, auf der Leinwand oder im Verlauf der Wörter gefasst wird, selbst eine Zusammensetzung, ein Komplex aus Perzepten und Affekten ist. Das Kunstwerk ist ein Empfindungssein und nichts anderes: Es existiert an sich. (Deleuze/Guattari 2000: 191f.) Das Kunstwerk ist in der Abwesenheit des Menschen, weil die Affekte und Perzepte, die es ist und die es hervorbringt, nicht mehr diejenigen von Menschen sind, nicht die der Künstlerin und nicht die der Dargestellten, sondern selbständige ›Wesen‹. Sie sind nicht von einer souveränen menschlichen Autorschaft oder Subjektivität abhängig, sondern vom Prozess der Rahmung: wie der Mensch selbst. Der Rahmen unterläuft also nicht nur das Verhältnis von Autor und Werk, beides verflüchtigt, verströmt und hält sich in den Empfindungskomplexen und sucht die Vorstellung eines abgrenzbar Menschlichen, einer originären menschlichen Subjektivität selbst heim. Lässt sich also Subjektivität, ließe sich ›menschliche‹ Subjektivität fassen
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als dieses Konstellieren von Empfindungen, diese Rahmung als Selbstaffektion des Chaos, das Halten des Haltlosen durch das Haltlose?
Potential space Winnicotts Theorie des Subjekts ist räumlich: Es erscheint im potentiellen Raum des Spielens, der in der Beschäftigung mit dem, was Winnicott Übergangsobjekte genannt hat, entsteht. Übergangsobjekte sind keine Objekte, zu denen das Kind eine Beziehung hat, die Übergangsobjekte ermöglichen dem Kind vielmehr Beziehung zu den möglichen Objekten eines äußeren Nicht-Ich aufzunehmen, die es so vor dem Spiel mit den Übergangsobjekten für das Kind gar nicht gegeben hat. Insofern sind Übergangsobjekte selbst Beziehung, Relationalität, also das, was Ich und Nicht-Ich zugleich unterscheidet und verbindet. Objekte also, die eigentlich gar keine sind, die keinem Außen angehören, aber auch keinem Innen. Genau darin liegt ihre Bedeutung, dass sie Dazwischen sind: zwischen Subjekt und Objekt, Ich und Nicht-Ich, Anwesenheit und Abwesenheit der ›Mutter‹. Der Raum ist also nach Winnicott immer Beziehungsraum, aber er kann unterschiedlicher Qualität sein, er kann unterschiedliche Formen des Selbst hervorbringen. Gibt er der Unintegriertheit und Formlosigkeit statt, wird er zu einem Spielraum, der sich der Welt öffnet, sie aufnimmt, dann wird auch die Unabhängigkeit, die Autonomie dieser Welt dem Subjekt gegenüber erfahrbar, wird zu einer Qualität des Raums. Winnicott denkt nicht die Notwendigkeit der Schließung, der Grenze, der Regel, sondern ganz im Gegenteil die Notwendigkeit der Öffnung, des Form- und Regellosen, der Unintegriertheit: Das wahre Selbst ist bei Winnicott das unintegrierte, das formlose Selbst, das auf die Welt hin geöffneter Körper ist, das aber, als Incommunicado der Kommunikation, dem Austausch entzogen bleibt.9 Weder all- noch ohnmächtig, sondern gehaltene Haltlosigkeit, gerahmte Unendlichkeit. Das Ich erscheint hier nicht als eine fixierte Position, ja noch nicht einmal als Struktur, sondern als ein Vermögen, als Kreativität. Kreativität ist hier eine Bewegung des Zwischen, der Relationalität zweier Bewegungen, die sich gegenseitig ermöglichen. Der Raum dieser Ungerichtetheit braucht immer mehr als einen und er braucht keinen Dritten, der von außen hinzutritt, um ihn zu öffnen, wie beispielsweise die Figur des Vaters in der traditionellen psychoanalytischen Theorie. Die Öffnung liegt im Zwischenraum der Begegnung selbst. Sowohl der Eine des abgeschlossenen Subjekts als auch der Dritte des väterlichen Gesetzes beenden die Ungerichtetheit, führen entweder in die Isolation oder in die Ordnung. Wenn es 9
»Vergewaltigung und von Kannibalen Gefressenwerden sind bloße Bagatellen im Vergleich zur Vergewaltigung des Kerns des Selbst, zur Veränderung der zentralen Elemente des Selbst, die eintritt, wenn Kommunikation durch die Abwehr einsickert« (Winnicott 2001: 246).
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etwas Drittes gibt, dann eben diesen Raum des Zwischen, in dem Subjektivität und auch die Trennung zwischen den Subjekten, zwischen Subjekt und Objekt, in der Ungerichtetheit entsteht. Die Ermöglichung dieser Erfahrung von Relationalität, von Beziehung steht für Winnicott jedenfalls im Zentrum nicht nur seiner Therapie, sondern der Kultur insgesamt: Dieses Suchen und Finden von Beziehung in der kreativen Ungerichtetheit ist für ihn Kultur. Hieraus ergeben sich Hinweise für unser therapeutisches Vorgehen: nämlich unstrukturierte Erfahrung und kreative motorische und sensorische Impulse, die das Rohmaterial für das Spielen darstellen, zuzulassen. Auf der Grundlage des Spielens baut die gesamte menschliche Erfahrungswelt auf. Wir sind nicht länger introvertiert und extrovertiert. Wir erfahren das Leben im Bereich der Übergangsphänomene, in der aufregenden Verflechtung von Subjektivität und objektiver Beobachtung und in einem Bereich, der zwischen innerer Realität des Einzelmenschen und wahrnehmbarer Realität außerhalb des Individuums angesiedelt ist. (Winnicott 1974: 76f.) Die Erfahrung von Subjektivität wäre dann die Erfahrung dieser Ungerichtetheit, dieses ›Verströmens‹. Winnicotts ganze psychoanalytische Theoriebildung versucht im Grunde, diesen einen Zusammenhang zu denken: Es gibt keine Erfahrung des Selbst, wenn es nicht zu der Erfahrung dieser Unintegriertheit kommen kann. Ja, man kann, meine ich, sagen, gerade diese Entbindung des Unsinns von Sinn sei nach Winnicott Bindung/Rahmung: ermöglichen, geschehen, erscheinen lassen, aufnehmen. Der potential space Winnicotts, den er aus seinen klinischen Beobachtungen zu den Übergangsobjekten theoretisch entwickelt, ist insofern immer ein offener, also unbedingter und ungebundener Raum des Spielens. Und die Möglichkeit der Erfahrung dieses offenen, unintegrierten, ungebundenen Raums ist die Voraussetzung dafür, dass es Kultur, dass es Bindung gibt. Kultur wäre in diesem Sinne immer auch ein Halten dieser Unintegriertheit. ›Halten‹ (holding bei Winnicott, vgl. etwa Winnicott 2001: 71) wäre dann die Gleichzeitigkeit von Rahmung und Stattgabe oder besser Rahmung als Stattgabe von Unintegriertheit, Ungerichtetheit, Unbestimmtheit.
Formen des Zusammenseins-Mit Daniel Stern hat in einer neuen Einleitung zu seinem grundlegenden Buch über die relationale Welt und die Lebenserfahrung des Säuglings, die in vieler Hinsicht an Winnicott anschließt, noch einmal betont, dass sein Buch die scheinbar gegensätzliche Position eingenommen habe: Nicht die Differenzierung von Kind und Umwelt sei die Hauptaufgabe der Entwicklung, sondern »die Entwicklung einer wachsenden Bezogenheit« (Stern 2007: IV). Es geht Stern aber nicht darum, dass
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der Säugling tatsächlich als abgeschlossene Entität auf die Welt kommt, die erst allmählich in Kontakt zu einer Welt tritt, die es vorfindet, sondern dass »der Aufbau von Bindungen zu anderen Menschen«, nach Stern, die »eigentliche Entwicklungsaufgabe [ist], die sich dem Säugling stellt« (Stern 2007: VI). Diese Bindungen sind die Voraussetzung dafür, dass dieses Erscheinen des Säuglings, die Differenz, die dieses Erscheinen ermöglicht, zu Entwicklung wird. Man könnte sagen: Damit der Säugling überhaupt erst zum Säugling werden kann, braucht es diese Bindung, sonst ist er nichts, »no such thing«, wie Winnicott sagt.10 Worauf es Stern aber ankommt, ist, dass es dabei nicht um eine einseitige Aufnahme, nicht um Verschmelzung, sondern von Anfang an um Interaktion, Austausch, also um Beziehung und Relationalität geht. In der neuen Einleitung geht Stern dazu über, statt von inneren Objekten und Interaktionsmustern von »Formen des Zusammenseins-Mit« zu sprechen und zwar weil »diese Formulierung […] weniger Gewicht auf den Entstehungsprozeß [legt] und […] statt dessen das gelebte Phänomen [betont] und zwar auf eine Weise, die der Erfahrung näher kommt« (Stern 2007: IVf.). Damit trennt sich Stern sowohl von vermeintlich behavioristischem als auch von dem Vokabular der kleinschen Tradition der Psychoanalyse und begibt sich in den Bereich der Intuition Winnicotts. Denn das ist weiterhin der Ausgangspunkt bei Stern: Die Entstehung der Differenz und die Entwicklung von Bindung bilden einen gleichzeitigen Prozess: Was sich zwischen ›Mutter‹ und Kind ereignet, ist keine Verschmelzung, auch nicht die »Illusion« einer Einheit, wie es bei Winnicott heißt (vgl. Winnicott 1974: 20ff.), sondern von Beginn an ein Interagieren, ein Austausch, der sich niederschlägt im Selbstempfinden des Säuglings (und natürlich auch der ›Mutter‹), dem Auftauchen eines Selbst und der Entwicklung von Subjektivität. Auf diesen Austausch, auf diese Interaktion ist der Säugling angewiesen. Entsteht kein Zusammenhang mit der Welt, kein Zusammenspiel, eben kein ›Zusammensein‹, dann wird er sich nicht als Selbst erleben können. Die beiden zentralen Begriffe, über die Stern diesen Austausch zu beschreiben versucht, ist der der Amodalität und der Vitalitätsaffekte. Mit Amodalität versucht Stern, eine Dimension des Erlebens des Säuglings zu beschreiben, das der sinnlichen Wahrnehmung voraus-, über sie hinausgeht. Amodal ist nicht Sehen, Hören oder Schmecken, sondern etwas, das über die Aufteilung der Sinne hinausgeht. Stern zufolge bezieht sich diese Amodalität auf eben das Erleben eines Zusammenseins, das die Grundlage unseres Selbstempfindens, unserer Subjektivität bildet. Es ist amodal, weil es nicht von der Spezifik einzelner Sinne abhängt und es ist Zusammensein, weil es nicht auf die Konfrontation eines Subjekts mit einem 10
»There’s no such thing as a baby – meaning that if you set out to describe a baby, you will find you are describing a baby and someone. A baby cannot exist alone, but is essentially part of a relationship« (Winnicott 1964: 88).
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Objekt, sondern auf Vitalitätsaffekte bezogen ist, die »ununterbrochene Musik des Lebendigseins«, wie Stern auch sagt. Indem wir uns mithilfe der Vitalitätsaffekte aneinander orientieren und aufeinander abstimmen, können wir mit einem anderen Menschen »zusammen-sein«, das heißt, eine Basis entwickeln, auf der wir innerliche Erfahrungen nahezu kontinuierlich miteinander teilen. Auf diese Weise entsteht das Gefühl der Verbundenheit, das Gefühl, aufeinander abgestimmt zu sein, das uns wie eine ununterbrochene Linie erscheint. Es orientiert sich an der Aktivierungskontur, die sich in jeder Sekunde im gesamten Verhalten abzeichnet, und benutzt diese Kontur, um den Faden des gemeinschaftlichen Erlebens nicht abreißen zu lassen. (Stern 2007: 224) Amodale Wahrnehmung bezieht sich insofern auf das Sich-Ereignen von Relationalität, auf das Erleben von Zusammensein, das die Erfahrungswelt nicht nur des Säuglings auszeichnet. Winnicotts potential space meint nichts Anderes: Die Wahrnehmung der Welt, die Möglichkeit der Erfahrung eines Nicht-Ich, einer Öffnung auf etwas zugleich abhängig und unabhängig von mir Existierendes, das Erleben also eines Zusammenhangs zwischen mir und der Welt, eines Gemeinsamen und eines Trennenden, wird so möglich. Das, was mit uns geschieht, unser körperliches Empfinden, unsere sinnliche Wahrnehmung, wird so an eine grundlegende Erfahrung diskontinuierlicher Kontinuität, von Übergängigkeit gebunden: Es gibt keinen anderen Zugang zur Welt als dieses relationale und amodale Erleben von Zusammensein, es ist der Ort, wie Winnicott sagen würde, an dem wir leben. Stern spricht von Intensität, von Zeit und Gestalt als amodale Dimensionen des Erlebens, einem rhythmischen An- und Abschwellen von Intensitäten. Amodalität als Zusammensein wäre also die nicht oder nicht mehr wahrnehmbare Bedingung von Wahrnehmung: Man könnte sie Medialität nennen, Winnicott spricht von einem intermediären Bereich, Stern von »Formen des Zusammenseins-Mit« (Stern 2007: IV). Für Stern ist das die Grundlage allen Erlebens, aller Formen der Stabilisierung, der Wiederholbarkeit: der Repräsentation und des Gedächtnisses, des Empfindens von Subjektivität wie der Wahrnehmung von Objekten. Stern geht dabei von einer »Mikroperspektive« aus, die die Entstehung der inneren Welt des Säuglings aus »wiederholten, relativ kleinen Interaktionsmustern konstruiert« (Stern 2007: VI). In der psychologischen Säuglingsforschung heißt das contingency seeking, wobei es um das Finden/Herstellen dieses Gemeinsamen, das der Säugling mit der Welt teilt, geht. Winnicott hat diese Interaktionen bereits als »Spiegelfunktion von Mutter und Familie« (Winnicott 1974: 128ff.) zu konzeptionalisieren versucht: Die Wahrnehmung des Kindes entwickelt sich in Wechselwir-
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kung mit seiner Wahrgenommenheit durch seine Umwelt, die Art und Weise, in der diese reagiert, aufmerksam ist, offen ist.11 Genau diesen Zusammenhang hat Winnicott mit dem potential space zu beschreiben versucht: einen Bindungsraum, der zugleich Übergang, Öffnung, Rahmen ist, der der Trennung in Innen und Außen, Selbst und Anderem vorausgeht. Es handelt sich hier also um einen zuallererst relationalen, einen virtuellen Raum, der aus der Unbestimmtheit und Unintegriertheit der Vitalitätsaffekte eine rahmende Bewegung hervorgehen lässt. Das, was wir als die äußere Welt erleben, ist insofern kein ›wirkliches‹ Außen, so wie das Innen dem, was vor ihm war, nicht entgegengesetzt ist. Vorgängig ist immer die Bindung, die Relationalität. Es geht also um ein Zusammenspiel von Selbstempfinden und Interaktion, in dem sich beides nicht trennen lässt: Interaktion ist nur über die verschiedenen Dimensionen des Selbstempfindens möglich, Selbstempfinden hängt aber gleichzeitig davon ab, dass es zu Interaktionen überhaupt kommen kann, dass es also eine aufmerksame, haltende Umwelt gibt, die auf die Bewegungen des Körpers und die damit einhergehenden Empfindungen reagiert. Das Selbst ist nach Stern nichts anderes als dieses Empfinden, dieser ständige, nicht endende »körperliche Input«, den Stern als die Vitalitätsaffekte bezeichnet: »Der Körper tut niemals nichts« (Stern 2007: VI). All diese körperlichen Signale stammen vom Selbst – einem noch unspezifizierten Selbst. Sie werden nicht zwangsläufig beachtet. Sie müssen nicht ins Bewusstsein gelangen. Im Hintergrund aber sind sie vorhanden. Sie sind die nie verstummende Musik des Lebendigseins. Aus diesem Grund bezeichne ich die Veränderungen oder Modulationen dieser Musik als Vitalitätsaffekte. Nichts anderes als diese Musik ermöglicht das Auftauchen des Selbst […]. (Stern 2007: X) Damit diese Musik aber zu einer Empfindung des Selbst wird und ein primäres Bewusstsein ermöglicht, muss es zu einer Interaktion kommen, ein zweites Element muss erscheinen. Stern nennt es das »Intentionale Objekt«: Ein Selbstempfinden taucht als der lebendige, vitale Wahrnehmer des intentionalen Objekts auf. Dies bezeichne ich als das Empfinden eines auftauchenden Selbst – die Erfahrung des eigenen Lebendigseins in der Begegnung mit der Welt (oder mit sich selbst) in einem bestimmten Moment, ein Gewahrsein des Prozesses, eine Erfahrung zu leben. Die Inhalte der Erfahrung sind beliebig. (Stern 2007: X) Die Selbstempfindung ist also so etwas wie der körperliche Niederschlag des Zusammen-Seins, jedenfalls lässt beides sich nicht trennen. Es geht hier nicht 11
Peter Fonagy und Mary Target haben die diesbezüglichen Ergebnisse der jüngeren Forschung im Zusammenhang der Ausarbeitung ihrer Playing-with-Reality-Theorie zusammengefasst (vgl. Fonagy/Target 2007: 923).
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um Repräsentation, nicht um Bedeutung. Die Geschichte, die Sterns Die Lebenserfahrung des Säuglings erzählt, handelt vom allmählichen Auftauchen eines Selbst, das sich in der Interaktion mit seiner Umwelt als lebendiger Körper erfährt beziehungsweise in dieser Erfahrung konstituiert (vgl. Stern 2007). Aus diesen Formen des Zusammenseins-Mit, von denen Stern spricht, gehen also die Rahmungen der Subjektivität, die Subjektivität als Rahmung hervor. Wenn die Amodalität auf eben dieses Zusammensein bezogen ist, dann liegt gerade in ihrer Aufspaltung auf die Sinne, in der Vorstellung einer dem Innen entgegengesetzten Außenwelt, die durch die Sinne wahrgenommen wird, ein grundlegendes Prekärwerden dieses Zusammenseins: Es spaltet sich gewissermaßen auf in precariousness und Rahmen und tut so, als gehöre es einer Ökonomie der Anerkennung und der Anrufung an.
Die Perzeption in den Falten Diese Bewegung, in der Winnicott und Stern die Entfaltung der inneren Welt des Selbst und der äußeren Welt als gleichzeitig und ineinander verschränkt beschreiben, lässt sich in Zusammenhang mit der Bewegung der Falte bringen, wie sie Deleuze in seinem Leibniz-Buch herausgearbeitet hat.12 In Deleuzes von Leibniz geborgter Terminologie wären die Formen des Zusammenseins, der Mikrokosmos der Interaktionsmuster und Vitalitätsaffekte, die in der Begegnung entstehen, Falten. Wahrnehmen, so Deleuze, ist Entfalten, also nur durch Falten hindurch möglich: Dass wir immer in den Falten perzipieren, heißt, dass wir Figuren ohne Gegenstand erfassen, allerdings durch den gegenstandslosen Staub hindurch, den sie selbst auf dem Grund aufwirbeln und der sich legt, um sie einen Moment lang sichtbar zu machen. Ich sehe die Falte der Dinge durch den Staub hindurch, den sie aufwirft, und von dem ich die Falten absetze. Ich sehe nicht in Gott, ich sehe in den Falten. (Deleuze 2000: 153) Das Sehen, das Riechen, das Hören und Schmecken des Anderen, der Dinge, entsteht in der Amodalität der Vitalitätsaffekte, die ich im Aufwirbeln des gegenstandslosen Staubs als Begegnung/Berührung erlebe: Durch die Veränderung, die 12
Raymond Bellour hat diese Verbindung zwischen Deleuzes Konzept der Falte und Sterns Entwicklungstheorie bereits hergestellt und auf das Kino bezogen: »Hier sind wir sehr nahe an dem, was eine psychoanalytisch orientierte Lesart als Primärprozesse bezeichnen würde, und zwar im Zentrum ihrer sekundären Entwicklung. Das ist es, was Sterns Sichtweise – wie die ganz anders ausgerichtete von Deleuze/Guattari – sehr direkt und real berührt, indem sie einen neuen Zugang zur Beziehung von Verstehen und Begehren zwischen der Welt und ihrer Subjektivierung skizziert und andere Grenzen und Dynamiken zwischen Bewusstem und Unbewusstem entwirft« (Bellour 2005: 91).
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diese Begegnung in der Musik meines Lebendigseins hervorruft, das aber nur ›mein‹ Lebendigsein ist, weil ich seine Falte bin, ein Aufwirbeln, das sich mit mir, mit der Entwicklung meiner Subjektivität entfaltet. Schon vor seiner Leibniz-Studie hatte Deleuze in Foucault im Anschluss und hinter dem Rücken Foucaults daraus eine Theorie der Subjektivität gemacht. Das Innen der Subjektivität wäre demnach Faltung, gefaltetes Außen. Während das Falten somit eine Bewegung des Außen ist, wäre dann die Entfaltung Entwicklung der Subjektivität, Bewegung eines Innen. Wenn das Innen sich durch das Falten des Außen bildet, dann besteht zwischen ihnen eine topologische Beziehung: der Bezug zu sich ist homolog der Beziehung zum Außen, und beide stehen in Kontakt durch Vermittlung der Schichten, die relativ äußerliche (folglich relativ innerliche) Milieus sind. Das gesamte Innen ist im Außen aktiv präsent über der Grenze der Schichten. Das Innen verdichtet die Vergangenheit (lange Perioden) durch Verfahrensweisen, die nicht im Geringsten kontinuierlich sind, sondern das Innen einer Zukunft konfrontieren, die aus dem Außen kommt, die es auswechseln und neu erschaffen. (Deleuze 1992: 168) Die Faltung ist hier gewissermaßen raumzeitlich: Die Vergangenheit des Innen tritt in die Gegenwart der Zukünftigkeit des Außen und in der Entfaltung öffnen sie sich einander. Diese gefaltete Raumzeit oder Zeitraum lässt sich weder in den Koordinaten einer linearen Zeit noch in denen des euklidischen Raums fassen. Das ist es, was in der Ökologie der Rahmung, in der Rahmung des Selbst entsteht: eine Heterogenität der Raumzeit, eine gespenstische Beziehung zwischen Innen und Außen, zwischen Vergangensein und Zukünftigem, die ein Anders- und Neuwerden der Welt ist. Rahmung und Faltung, die intersubjektive Rahmung als Faltung, lassen sich zusammendenken als Heterogenese, in der sich die Welt, das Werden auf sich selbst öffnet. Eine Öffnung, die ein Prekärwerden der Entitäten und ihrer Ensembles bedeutet, ein Übergehen von der Stabilität zur Instabilität, der Unverletzbarkeit zur Verletzbarkeit, von den Relata zu den Relationen. In etwas anderem Zusammenhang hat Isabell Stengers von einer »Ecology of Practices« gesprochen und sich dabei auf ein Konzept von Deleuze bezogen. An ecology of practices may be an instance of what Gilles Deleuze called »thinking par le milieu«, using the French double meaning of milieu, both the middle and the surroundings or habitat. »Through the middle« would mean without grounding definitions or an ideal horizon. »With the surroundings« would mean that no theory gives you the power to disentangle something from its particular surroundings, that is, to go beyond the particular towards something we would be able to recognise and grasp in spite of particular appearances. (Stengers 2006: 187) »Penser par le milieu« hieße dann, diesen Zusammenhang von Grundlosigkeit und Partialität aufzunehmen: Wir sind prekäre Momente eines relationalen Prozesses,
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die darauf hoffen, dass diese Prozesse das singuläre Ereignis ihrer Aktualisierung halten werden. Könnte man also sagen, dass die Rahmung eine Ökologie ist, prozessuales Halten einer Prozessualität, eine »Form-des-Zusammenseins-Mit« als »Prozessform« (Whitehead 2001: 123ff.), die sich in der Gemeinschaft als Gleichzeitigkeit von Prekarität und Halten ereignet. Die Rahmung wäre dann das SichSelbst-Halten der Welt, Halten ihrer eigenen Haltlosigkeit, ihrer Unbestimmtheit, ihrer Prekarität.
Prekäre Gemeinschaft Der Rahmen ist also keine Schließung, er ist ein Zwischen, ein Halten, eine Ökologie. Es geht bei der Rahmung nicht um eine Aufteilung, nicht um die Raster der Wahrnehmung und der Anerkennung, sondern um die plurale Singularität (vgl. Nancy 2004) eines Zusammenseins-Mit, einer Mit-Teilung. Vielleicht bedeutet precariousness dann genau die Uneinholbarkeit der amodalen Beziehung zur Welt, in der wir aber alle notwendigerweise stehen: eine Gemeinschaft des Außer-sich, des Verletzbar-Seins, des Über-sich-selbst-und-die-Sinne-, Über-jedesInnen-und-Außen-hinaus-Seins. Der Rahmen wäre dann die Möglichkeit dieser Gemeinschaft, ohne sie selbst zu sein: Wäre er diese Gemeinschaft, würde er die precariousness aufheben, die Gemeinschaft auslöschen. In der von Heidegger kommenden Sprechweise Derridas und Lévinas’ hieße das etwa: Wir können nur geben, was wir nicht haben, worüber wir nicht verfügen können. Keine Gemeinschaft der Identitäten und Entitäten, sondern eine Gemeinschaft dessen, was sich weder stabilisieren noch vereinheitlichen lässt und das wir dennoch teilen, eine Gemeinschaft des Prekären, eine prekäre Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft kann nicht zum Behältnis werden, in das man eintreten kann und das vor den Unbilden der Welt schützt, sie besteht gerade in der Erfahrung der Unmöglichkeit eines solchen Behältnisses. Rahmung wäre dann Stattgabe dieser Unmöglichkeit. »Es ist ein differenziertes Versteckspiel, in dem es eine Freude ist, verborgen zu sein, aber ein Unglück, wenn man nicht gefunden wird«, wie Winnicott sagt (Winnicott 2001: 244). Die Ökologie der Rahmung als prekäre Gemeinschaft wäre insofern etwas völlig Anderes als Anerkennung. Diese prekäre Gemeinschaft ist gerade abhängig davon, dass es Nicht-Anerkennung, dass es gewissermaßen eine Anerkennung des ›Nicht‹ gibt, und sie findet sich in dem, was in jeder Anerkennung nicht anerkannt, was in jeder Wahrnehmung nicht wahrgenommen, in jedem Verstehen nicht verstanden wird: Sie ist eine »Falte-und-Katastrophe-des-Seins«, wie Julia Kristeva die mütterliche Erfahrung genannt hat (Kristeva 1989: 240). Rahmung ereignet sich dann gerade im Nichtsehen, Nichthören, Nichtriechen, Nichtberühren, Nichtverstehen des Zwischen und prekäre Gemeinschaft handelt davon, dieses ›Nicht‹, die-
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se scheinbare Negativität zu affirmieren, positiv zu fassen, ins Schwarz der Zwischenräume zu gehen.
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1. In September 2015 a selection of pictures caught my attention. Over a single weekend in Germany different groups of people, including families, were photographed gathering in different train stations to welcome Syrian refugees. Standing on both sides of the platform, they were bringing food, welcoming the arriving refugees with placards and balloons, clapping and cheering jostling for a glimpse of the newcomers. Back then, these images were flowing to our screens and newsfeeds counterbalancing the migration politics and the closure of borders announced in neighbouring countries such as Austria and Hungary. At the very moment I saw these train station images, I was overcome with feelings of relief and a belief in humanity. At the same time, although I could not say exactly what, there was something that was disturbing me so that I decided to investigate these feelings further. Indeed, the crucial necessity of solidarity does not have to prevent us from the need of investigating its mechanisms. The question is not about the evident existence of unbalanced positions in solidarity, but rather which aspects of the mechanisms perpetrate and reinforce them. In assuming this particular political topology, this article analyses the current political situation in Europe, tracing the risky genealogy of the model of sovereignty in the modern idea of solidarity. It also questions the emergence of a production of vulnerability as a form of control, disclosing the need for a decolonized solidarity in the current landscape of welcome policies.
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Figure 1 – Scheme of »Narration of migration«, image quoted after Argiris Mantikos/AP
2. By the beginning of the Syrian Civil War, 4,8 million refugees left the country, most of them fled to neighbouring countries such as Lebanon, Jordan and Turkey, and a part attempted to make dramatic journeys over sea to reach Western Europe. In order to investigate the use of the narration of migration, we can trace a line, within which we can consider (a) as the point of departure and (c) the arrival point. Everything after (a) and before (c), more than an empty space, is a crucial aspect of the journey to which we can refer to as (b): i.e. the journey itself. At the end of summer 2015, at the specific moment when the aforementioned pictures of train stations were taken, photos of the migration journey were all over the front pages of newspapers and social media newsfeeds, revealing images of sinking boats and masses of people walking for days and days. In these weeks, I was impressed that none of the images used by the media portrayed the equally-dramatic situation in Syria. The single image of the boy Alan Kurdi found dead on a Turkish beach on September 2nd moved apparently German chancellor to the point of reevaluating the political response to the situation, opening borders to accept Syrian refugees in Germany. It is fundamental to state here that it is not about questioning the content of the decision to take in refugees (which I had welcomed with great relief), but the structure of the decision. From the position of (c), was the reason of welcoming perceived as being (a) or (b)? More than a detail, moving the focus of the parameters of acceptance has crucial consequences, by flirting with the element of bravery within the reasons to welcome them. This was eventually the dangerous assonance I was sensing in the images taken at the train stations. We often see people stand at the sides at the end
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of a race or a marathon, holding signs and balloons, cheering at those passing, celebrating their efforts. Cheering people for the dramatic journey they were forced to make runs the risk of shifting focus from the reason to the effort, dangerously diverting attention from who is arriving and why, to how they arrived. Tracing the genealogy of the connection between bravery and compassion might clarify this point further. From their position overlooking the arena, the Roman Emperors used to look down at the gladiators, making the famous thumb up or down gesture at the climax of the battles. Here, the parameter for saving life was not one of compassion, but rather the one of bravery. While ignoring the situation in Syria, and presenting (b) – with the dramatic risks and the efforts it requires – as the reason for welcoming, bravery starts flirting with compassion. If for people that are escaping, the reason to leave is in (a), we are implicitly saying that the reason to welcome is (b). This shift creates a crucial problem: is for example someone arriving by plane less worthy of being accepted? I would like to explore in detail this relation with (b) (cf. UNHCR 2016). 3. Indeed we are not strangers to (b), but as each segment depends on two points, its definition as a place of risk and bravery is as dependent on (a) as it is on (c). Very often during this period, while hearing the voices of different politicians claiming the need to welcoming refugees, a crucial question was emerging: If Europe thinks it is necessary to welcome Syrian refugees, why was a humanitarian corridor not being opened? Such a corridor would mean an exceptional opening of borders similar to that which we see in moments of war for example. On the contrary, European attitudes are currently ambiguous on this matter: a need to welcome that coexists with the fact that refugees have to risk their lives in order to be welcomed. This is a hidden and perverse paradigm that raises crucial questions; though it might be clear that there are economic reasons behind this (opening the border would be an incentive for more people to come), is the risk of the journey kept and accepted as dissuasive element – as an innocent bodyguard at the door? And if not, what is the sense of this risk? How is it possible to celebrate the bravery of people that survived this risky journey that we contributed in creating? What is the sense of this passed risk that people are celebrating, instead of opposing? Is it necessary to see people in (b), because with its dangers and risks, (b) is the proof that (a) is really a riskier place to escape from? Or is there a perverse thought that – almost in a knightly brotherhood – (b) is the evidence that people are ready to risk their life to be part of (c). Or maybe it is not so much about what people have to prove us, but rather what Europe wants to prove them; and eventually what we want to prove to ourselves.
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4. It is important to remind ourselves that the risk of (b) is not simply accepted, but rather it is produced: the politics of (c) transform (b) into a space of vulnerability characterized by loss of money and precarious conditions. In The »illegal« traveller: an auto-ethnography of borders, Iranian scholar Shahram Khosravi explains how migrants do not travel illegally because they are vulnerable, they become vulnerable while traveling illegally. We have to speak here about a production of vulnerability that affects the body of migrants not only with risk but also with shame: Border crossing can be experienced in terms of honor and shame […]. A legal journey is regarded as an honorable act in the spirit of globalism and cosmopolitanism. The legal traveler passes the border gloriously and enhances his or her social status, whereas the border transgressor is seen as anti-aesthetic and anti-ethical (they are called »illegal« and are criminalized). […] For the first time since I crossed the first border, I was struck by the shame of my migrant illegality. Nowhere else had I experienced the border so tangible, powerful and distressing. Shame is a part of the punishment for transgression of the nationstate sovereignty. The worst was that I internalized the shame and for many years I lied about my route to Sweden. I pretended to be a quota-refugee, one of the thousands of conventional refugees the Swedish government takes to Sweden annually. Shame is an experience of being exposed to the disapproving gaze of others. There is a risk that the illegal migrant, subjected to a gaze and treatment that divests him or her of humanity, internalises the shame – as I did – and understands the lack of travel documents and documentation as personal deficiencies and inadequacies. The importance and centrality of shame in the experience of migration is still unexplored. (Khosravi 2007: 331f.) Vulnerability is not an ontological condition, nor a natural one, but the result of a production. Syrian citizens enter a zone of vulnerability through the situation in Syria. But the production of the segment – as with all segments – cannot be accomplished without a second point, where (c) defines (b). Nevertheless, what Khosravi underlines here is that, as everything else that is produced, this production of vulnerability is not simply the collateral effect of the policy: the production of vulnerability in (b) redefines the power relation at the moment of the encounter in (c). 5. If we go back to the Roman Emperor analogy, in the case of the gladiators, the question does not have to be how the emperor will decide, but rather how come he can decide. In Homo Sacer, while speaking about the role of the sovereign as the one that decides on the life of people, Giorgio Agamben coined the term ›bare life‹ to define a subject deprived of all rights and all instruments to decide on its own life (cf. Agamben 1998). The book of Agamben is subtitled Sovereign Power and Bare
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Life, marking the connection between the two. Though the crucial point in it is that the bare life is not the result of the decision of the sovereign, but rather it is its precondition. For Agamben, politics is grounded on rendering people vulnerable and abject, on subjection to a power so total that it can command life and death. In the example of the gladiators it is clear that their extreme vulnerability is the condition of dependency on the other’s decision. The more a life is vulnerable, the more it depends on foreign interventions. The production of vulnerability is a precondition of sovereignty: if a vulnerable life is dependent on the sovereign, the solidity of the sovereign depends on the vulnerability of others. The absence of humanitarian corridors and the production of (b) as a space of danger do shape the unbalance relation in (c), as if the predication was »We close the border, but sometimes we will eventually save you«. People are in so much endangered – a danger we are responsible for – that every gesture of saving arrives as an unexpected gift, installing a relation of dependency and gratefulness. The production of vulnerability is a production of dependency, which installs a relation of power. 6. Still, localizing the production of vulnerability in (b) might be reductive, and I would like to explore more forms of production by opening a reflection on extended temporality. In Decolonizing Solidarity, Australian scholar Clare Land discusses Aboriginal rights and indigenous struggles (cf. Land 2015). She speaks of people whose situation was not jeopardized in a journey (i.e. (b)), but that, being in (c), were dispossessed, turning them into vulnerable subjects. More than focusing on the colonial invasion, Land opens a reflection on the dynamics that produce a perpetration of an unbalanced position, while referring to Left-wing white activists, being politically supportive of aboriginal rights and indigenous struggle. The main point of Clare Land is that the discourse (both in the daily and mediatic sphere) surrounding solidarity risks a perpetuation of vulnerability production in the way in which it emphasizes the category of self-insufficiency in the dispossessed group. I speak here about the common way of portraying and treating people as victims; doing this as a form of denunciation of a situation, portraying people as ultimately vulnerable subjects risks reinforcing the perverse vertical status of solidarity. Land depicts an important situation in order to understand the existence of a production of vulnerability beyond the journey, and how the same production, more than being linked to a specific moment, becomes an ongoing process. We see here a second and different production of vulnerability: one that happens in (c) and that does not happen before the process of solidarity, but rather one that might appear inside the ongoing mechanisms of solidarity, transported by them. If we are not here to discuss the necessary action of helping people; it is important to address the risk of the discourse built through it: »I am here because you are a victim and, as a victim, you could not save yourself«. The danger of this posi-
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tion is immediately revealed: You need us, and we are the ones who can save you. Hence, we are the ones that can decide whether to save or not. Similarly, while acknowledging the fundamental importance of solidarity, Clare Land claims the value of addressing critical self-reflections in the dynamics and unbalanced positions that the discourse of solidarity might perpetuate, while drawing a vertical and paternalizing position that echoes the worst legacy of the colonial power. 7. There still remains a point of discussion which concerns the production of vulnerability: probably it is not simply what we want to prove to the other, rather it is something we want to prove to ourselves. During a lecture given in Brussels in May 2016, Shahram Khosravi spoke about a prominent image that became one of the symbols of the current dramatic situation (cf. Khosravi 2016). In the photo (see figure 1), Greek fisherman Antonis Deligiorgis is pictured saving Wegasi Nebiat, a girl from Ethiopia, from the waves off the coast of Rhodes. Firstly, as I am doing here, Khosravi recognized the incredible gestures of hundreds of people engaged in saving lives around Southern Europe; but considering in particular this image, we can also question the nuances of its mediatic use. Helena Smith wrote an article, published in The Guardian, entitled »The Story of the Greek Hero on the Beach« and wrote the following: [Antonis] Deligiorgis brought 20 of the 93 migrants to shore singlehandedly. »At first I wore my shoes but soon had to take them off,«, he said, speaking by telephone from Rhodes. »The water was full of oil from the boat and was very bitter and the rocks were slippery and very sharp. I cut myself quite badly on my hands and feet, but all I could think of was saving those poor people.« (Smith 2015) How is this image used beyond itself? In most articles, we find the description of a white man depicted as a hero, but we barely know the name of the woman. In the media, she is nothing but the instrument of a narrative and a vessel for possible collective subjectification. I was impressed that this image was reposted by conservative media, and was inserted into the discourse of right-wing politics, with a strange mechanism that needs to be explored. It was not an attempt to praise the fisherman but – through solidarity – an attempt to suddenly subjectify Europe as a civilization that cares about the other. To suddenly position ourselves as the anti-barbarian: the ones who welcome, pretending to forget how we achieved this privileged position that allows us to be the ones who ›save‹. This imaginary solidarity is used to reinforce the image of the so-called West as the most advanced civilization; thus the vulnerability of the other can also be used to construct the image of progressive values and humanitas that – isolated from the conditions that created this image – one wants to sell. While going back to the images with which we started, it is important to raise a question on the mediatisation of collective solidarity, through which, with the same exceptional (and limited in
The Production of Vulnerability: Heritage of Sovereignty and Decolonizing Solidarity
time) enthusiasm of a collective ritual, a people can prove to themselves that they are capable of solidarity, subjectifying themselves as a progressive people. 8. Going back to the etymology of the word ›solidarity‹ might help articulate a conclusion. The word comes from Latin solidum (whole sum), neuter of solidus (solid), which means rendering someone solid. Funny enough, solidity counts among the opposite of vulnerability, but the question is: Who is gaining solidity from the act of solidarity in this case? Is the attempt of solidifying the other a way of keeping it vulnerable? Or are we constructing a solid subject in ourselves, while making others vulnerable? It is important to remind ourselves that solidarity does not have simply to be defined as the support of the other, but that solidarity is an agreement between individuals, united around a common goal or against a common enemy. The double use reminds us of that, which is at the core of solidarity, and what has to be rendered solid: it is not the other (within the risk of a production of vulnerability in the dependency created by this act) but the relation with the other, in a form of trans-individuality, that is not used to reinforce the individual and a single position. Assuming that solidarity is never wrong, however, it transports with itself a cloud of postcolonial discourse that we must acknowledge in order to decolonize it. This is what these images say about a multiple production of vulnerability, while making bravery the reason for compassion and celebrating the risk as something that refugees had to prove to us. While reinforcing our dominant position as the sovereign who can save because we can also decide not to do it, in wanting to prove something to them by installing a relation of gratitude and dependency and in the collective ritual of our self-subjectification as progressive people: this is what we eventually want to prove to ourselves.
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Geographies of the Mediterranean Plural Subjects in the Diaspora Giulia de Spuches
The Mediterranean: Overlapping Territories, Intertwined Histories In the heartlands of the Mediterranean, the locution ›sailing the seas‹ (even in the sixteenth century) actually means ›to follow the coastline‹. Man – as everyone knows – leads his life and builds his institutions on the mainland, but one considers the movement of his own existence in terms of (reckless) navigation. It is no coincidence that in the De Rerum Natura Blumenberg resorts to explaining how the wreck is a metaphor for existence; how to navigate means to violate boundaries. Thus, the complementarity between stationary civilizations and those who defy the sea (Odysseus’ men without measure) is what truly tells us of the Mediterranean adventure. The metaphor of the sailing daredevil has been a tragic reality in the Mediterranean for too many decades. The shipwreck is no longer metaphorical, as since 1988, according to the blog Fortress Europe, about 20,000 young people have died trying to storm the Fortress Europe (cf. Del Grande 2016). Lucretius’ metaphor continues to tell the story of a safe variable distance. The range of this segment is given from being a spectator or an actor. Today’s Europe continues to consider the roles of spectator and actor as a symmetrical pair of opposites; however, it was already clear in the seventeenth century that this view was no longer possible. In fact, Pascal’s famous phrase »Vous êtes embarqué« does not allow us to observe the wreck from the shore. Europe behaves as if the wreck was an element of nature while it is obviously historical. In the story of today’s Mediterranean, traversed by the myth of Odysseus, the man who challenged its boundaries, the harragas (those who burn) are not attributed the same courage. The crossing of the Mediterranean really means burning one’s identity in the search for a new, de-territorialized space, a space of the diaspora. We can recognize the dissonances of the Mediterranean in this sea of overlapping territories and intertwined histories. In the words of Edward Said, territory, geography and power are all still to play for (cf. Said 1998)! If, in the past, it was possible to speak of Mediterranean cities as places of exchange, a real trait d’union
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of major economic powers, today the issue of security reveals the other side of the coin. It is no coincidence that naming and drawing the boundaries of the Mediterranean has always proved a difficult task for the many scholars who have attempted to do so. Is it possible to establish the boundaries to the north with the disappearance of the Olive groves, or to the south with the first compact palm trees? The many dissonances would suggest it is not. The Mediterranean is presented as a geopolitically defined border area controlled along military lines, where continuous crossings furrow and affect these fluid spaces. At this point I want to focus on how the border is far from being stable. We have heard a great deal about how the nation-state in its crisis has redefined and reconfigured the border issue. The border control in the field of migration is perhaps the most suited aspect to helping us understand these transformations. In fact, the power of states has begun to be exercised in a new way, with the projection of a line of demarcation within or beyond its official route; this has led to an increase in the border’s flexibility, both explicitly and implicitly. This practice can be found both on land and sea. The policy of the externalization of the border, whose goal was the closure of the Mediterranean, continues to have many devastating side effects.
Migration as Viewed by the North of the Mediterranean: A Request for Security The story of the cancellation of the variable safety distance between the ›colonial‹ center and the ›colonized periphery‹ creates a gap that the migrants must fill: on the one hand, this is a cartographic representation that has shrunk the world in such a way that this is feasible without friction; on the other hand, it is an event that often, in the space of one trip, creates individuals, be they migrants, expatriates, refugees, exiles, and so on. Nuances that are by no means irrelevant. If we adopt the First World perspective we will see that, rather than thinking of a geography of hospitality, the West imposes a geography of refoulement. In this gap, representation-reality and acceptance-rejection, millions of persons remain entangled; in this gap lies the suspension of one’s rights. If we read the website of the Italian Ministry of the Interior (cf. Ravioli 2017), ›immigration‹ is the second option on the list after the key word ›security‹. The links are not written in an alphabetical order, so can we deduce that they are sorted by importance or urgency? We cannot get a definitive answer. Let’s go to the immigration page and read the first few words: Migration policies have two main objectives – to ensure public order and public safety in the fight against illegal immigration, and to encourage the acceptance and integration of legal migrants by ensuring
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social cohesion. As we can easily see, the first of the two main goals comes under what I have called the geographies of refoulement, whilst the second falls into the category of hospitality. Am I showing bias with the order of these goals? Perhaps. Let’s then ask ourselves, what is the Ministry’s spending allocation to improve their stated goals? Unfortunately this data has been largely inaccessible since 2004, thanks to the insistence of the Government. In 2009, Italy provided resources of at least EUR 235 million for security policies (lack of ordinary operating expenses CIE), while only EUR 150 million went to fund policies of reception and integration (cf. Segre 2009). It seems, then, legitimate to ask what kind of state we live in. To understand the significance of this response we have to shift our gaze to the state’s power to decide who is, or is not, a citizen. The Institution, through its ever-changing laws, creates precarious lives in primis, then in the difficult task of showing an overview, often forgets that the immigration policies should be more regularly considered according to the perspectives of the community already in place. Instead, the instruments used for ›X-Ray Italy‹ consider only our point of view. But back to the precarious lives: the concept of citizenship automatically creates two states of being: inclusion and exclusion. The problem is that any attempt to conceptualize citizenship leads to new exclusions. We can refer here to Jean-Luc Nancy’s sense of community, which is not based on a communicative consensus and in which there are neither space nor stable identity boundaries to ensure safe integration of communication: »[b]eing in common, for Nancy, involves ›only a juncture‹, the sharing of a space of encounter« (Shapiro 2000: 82). The promotion of this situation, where consent is not taken for granted, produces a policy in which the community cannot achieve completeness. It is, in my view, a meeting place for the policy of citizenship that allows the experience of non-uniformity, of non-total membership within a community, creating a lasting plurality. It is through the construction process rather than in the taxonomies that you build a sense of citizenship. Along the same lines of reasoning on community offered by Jean-Luc Nancy is Judith Butler’s comment, when she spoke in 2006 of some illegal immigrants singing the U.S. National Anthem in the streets of several Californian cities. The nuestro himno pointing his finger at an issue that goes to the heart of the nation: whom does the national anthem belong to? Who is ›us‹? The response of the Bush administration, Butler tells us, is that the anthem may only be sung in English. Here there is a clear defense of the language, the language of the majority that is the criterion of participation. So Butler states: »The problem is not just one of inclusion into an already existing idea of the nation, but one of equality, without which the ›we‹ is not speakable« (Butler/Spivak 2007: 60). It is then evident from the case reported that the issue is of equality and commonality. From my point of view, if the former is a secondary legal requirement, we have to understand it in the sense proposed by Nancy because in spite of those singing the anthem being ille-
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gal immigrants, they are presented as a linguistically dissident community, which is, however, symbolically concordant. In fact, the phrase somos iguales during the anthem boldly reinforces the idea of pluralism.
Diaspora: Shifts in Meaning Since the beginning of the 1990s, the concept of diaspora has undergone a profound transformation, leading many theories of the frontier and paradigms of the diaspora to exhibit several common elements (cf. Gilroy 1993; Clifford 1994). The fact of the matter is that, as Tölölyan points out in the journal Diaspora. A Journal of Transnational Studies, since the end of the 20th Century, the semantic field of the term ›diaspora‹ has expanded to include terms such as immigrant, expatriate, refugee, stranger, exile community, overseas community, and ethnic community (cf. Tölölyan 1991: 4). In his introductory article to the journal Diaspora, Tölölyan’s line of argument on the concept of diaspora is fundamental in that it unveils the nation-state’s triumphant ideology based on the uniqueness and homogeneity of language, territory, law, and today, also the market. Furthermore, he sees in transnationalism a key element of those changes that have taken place over the last forty years, given that it incorporates a border that remains a thorn in their side, reminding the nation-state of the issue of otherness. Both political and feminist geographers deal with the problem of diaspora through the issue of the domestic, adopting different scales of reference without actually being two separate approaches. While the former are more interested in the issue of territoriality as a question of nationhood, the latter explore, through the theme of the household, how patriarchy is dominant (but often silent) in transnational movements. The shift from diaspora studies to those on the diasporic condition is a crucial moment and has been brought about by scholars in the fields of cultural and postcolonial studies. From their different standpoints, these scholars break the link between place and identity. Paul Gilroy, for example, talks of »dealing equally with the significance of roots and routes« (Gilroy 1993: 190). Roots and routes reveal how viewing movement and stasis as antithetical to each other is wrong. Hence the next step is to ask in what way diasporic identities are constructed. Again, it is Gilroy who explains how memory is more important than territory, demonstrating how to weave together the stories that support social memory. Narrating and renarrating creates a web that communicates the contents of »a direct relationship between the community of listeners […] and the constitution of a tradition that is redefined here as the living memory of the changing same« (Gilroy 1993: 198). The spatial dimension again becomes central to our reasoning if we conceive of it as being open to the possibilities of change in a relational process that is itself
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constantly changing. The space that is produced through such relations is, from the outset, part of a discourse that, by paying attention to multiplicity, denounces how history is too often told by the West, or, rather, by the heterosexual white man (cf. Massey 1993).
Migration through the Eyes of the Southern Mediterranean: You Wanted a Workforce, Men and Women Arrived Diaspora has become an increasingly fluid concept, which is why I have tried to reconstruct the meanings of the term, taking into account the ever-changing global situation. I will also be reflecting upon the domestic dimension: lodgings, homes, and their inevitable link to culture as a material and mental concept that emerges on a global, and globalizing, backdrop, where political and economic crises affect individual lives. After all, home and work are an indissoluble pair in the migrant’s experience. In Italy, as in France or elsewhere in Mediterranean Europe, the migrant is considered ›legal‹ only if s/he can claim access to both these elements. The discourse about this movement, about what it means, brings with it a reflection on the concept of identity. The latter, in view of this geopolitical discourse, is a spatial practice, an irreducible experience of the body. As I have said, the Mediterranean acts as a border zone defined geopolitically by borders controlled militarily, where the constant crossings mark fluid spaces. Scholars who study border zones argue that these have acquired increasing preeminence today precisely because they are critical territories (i.e. they are full of stories that produce new culture). Another feature of the frontier is being both inside and outside the rules, the place where, in the apt words of Gloria Anzaldua, »[the U.S.-Mexican border] es una herida abierta, where the Third World grates against the first and bleeds« (Anzaldua 1987: 3). I believe we can start talking about the Mediterranean as a scab that, before it has even properly formed, »hemorrhages again, the lifeblood of two worlds merging to form a third country – a border culture« (Anzaldua 1987: 3). Recapturing the thoughts of Clifford and Gilroy, how can one put together the geopolitical dimension of identity and the narrative? According to Susan Stanford Friedman, the cultural identity formation depends on the dialogic couple of sameness and difference. So: [n]arratives of identity require some form of intercultural encounter, some form of contact with another who is experienced as different. In terms of the roots/routes symbiosis, experiencing identity as roots requires some figurative or material engagement of routes through a contact zone of intercultural encounter. Conversely,
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identity developed through routes involves an experience of leaving roots, of moving beyond the boundaries of home. (Stanford Friedman 1998: 153f.) Tracking the migrants’ progress within these referential frameworks no longer requires following a straight line from departure to arrival, a schematic representation of kilometres travelled using an arrow, as it encompasses different stories that intertwine in a complex web of multi-territory experiences. In order to understand the condition of the diaspora, we must develop a geography of listening (cf. Guarrasi 2011). The way we listen is crucial because it places us in front of two concepts that do not seem, at first glance, to be connected: space and word. The opportunity to make one’s voice heard produces a space. This is a very different experience to simply bearing witness, as that would suggest the sub-alternate space where no resistance is ever shown to a voice being raised. I would like to further clarify this decisive passage using one of Spivak’s examples: Consider Halima Begum, a rural Bangladeshi for whom funding had been found for travel to the International Conference on Population and Development in Cairo in 1994. She spoke on her devastation by and her resistance against the coercive contraception organized by global pharmaceutical dumping in clear, Bengali prose, opening in the classical testimonial style: I, Halima Begum … (Spivak 1998: 9) Spivak comments that the UN did not have an adequate simultaneous interpreter and so, the next day, activist Halima Begum’s words were entirely misinterpreted, transformed from an act of resistance into the suggestion that this poor victim supported the type of aid provided by the West. Spivak uses this example to remind us of the centrality of the issue of responsibility when investigating this field. Indeed, if the West continues to assume it knows what the subordinate has to say, then it will never truly be able to listen. Spivak insists that responsibility is, in fact, an act of two parts: telling one’s own story and, simultaneously, recognising what has actually happened. At this point I would like to underline something that seems fundamental – that as far as migration is concerned, the question of gender is also an element of fundamental difference in many aspects, such as the body, culture, education, social relationships, and many more. The example given above undoubtedly highlights how translation can produce stereotypes, but we must also ask ourselves what it means for a woman, any woman, to speak in the public space. Furthermore, if we accept that many migrant women have a contradictory relationship with tradition, this question is even more urgent. Being the custodians of a tradition in which the patriarchy plays a primary role means that women occupy a space that is divided into two: the public, largely belonging to men, and the private, which is their own. This division, which (as we well know) is an integral part of the classical
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Greek social system, is often held up as the democratic space par excellence, which is ever-present, even in modern times. In light of this, I would like to take inspiration from Judith Butler’s critique of Hannah Arendt’s text The Human Condition. The American philosopher criticises the concept of politics in the classical Greek city-state proposed by Arendt, as this idea does not consider (or rather entirely takes for granted) that »in the private domain, a dark domain by the way, necessarily dark, slaves and children and the disenfranchised foreigners took care of the reproduction of material life« (Butler/Spivak 2007: 14f.). The elimination of the political from the private sphere has the immediate consequence of hiding the role played by those elements of material life that belong to the society’s cultural heritage – be they objects or knowledge and techniques that are passed on. How can we continue to consider the private space as being independent from the political space? Which tools do women possess to render themselves visible? The diaspora is a physical and mental path, not simply a movement to which conflict and violence are inherent (cf. Gilroy: 2003). If we look at this path from a female perspective in its in-between state as well as with its greater connection to a sense of responsibility, we can understand how much more painful it is when compared to the male. In this diasporic condition, the role played by the home and the sense of the domestic is pivotal, and it includes both the place it inhabits and the imaginary, which is full of what can often be profoundly ambivalent feelings. The home becomes a spatial imaginary: it contains a memory. The protagonists of the diasporic condition are, therefore, suspended: To be unhomed is not to be homeless, nor can the »unhomely« be easily accommodated in that familiar division of social life into private and public spheres. The unhomely moment creeps up on you stealthily as your own shadow and suddenly you find yourself […] the »unhomeliness« inherent in that rite of extra-territorial and cross-cultural initiation. (Bhabha 1994: 9) It is in this moment that the boundaries are blurred, and the private and the public cease to be divided: »[P]rivate and public, past and present, the psyche and the social develop an interstitial intimacy. It is an intimacy that questions binary, divisions through which such spheres of social experience are often spatially opposed« (Bhabha 1994: 27).
Conclusion: The Aporia of Stories Sicily is a place of arrival, and has once again become a true crossroads. The arrival, however, often occurs on the boats of the Italian Coastguard rather than those in which the people left their own land. These landings tell a unique story of migration – the one told by Europe. It is a story that feeds on subjugated knowledge, histor-
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ical contents that have been buried or masked in functional coherences or formal systematizations (cf. Foucault 1997). We know far too little of the local, diasporic, transnational knowledge of migration. I have demonstrated how the Italian state deals with this issue: how the politics of denial creates a sense of everything being turned on its head, that the request for security is the exclusive privilege of the North of this world. And so, the duty of immigration policy needs to be constructed so as to demonstrate how the variable of distance is no longer a segment, how the open wound is a part of our daily life. Space must be left for counter-stories, we must report the difficulty in telling stories. I would like to briefly tell two different stories: the first describes the impossibility of having a home, the second the impossibility of staying in a home. Where are the borders of the Mediterranean today, if a group of migrants who choose to call themselves the Tunisian Collective of Lampedusa (Collettivo dei Tunisini di Lampedusa) occupies a municipal building in Paris on May 1st 2011, demanding, as a group of refugees, a place where they can survive, saying: »We live in the open, we are scared, cold, hungry and we lack all the basic necessities of life. But in these difficult conditions we still retain our dignity?« (Savona 2011). How, wilfully changing the scale, can we comprehend the domestic life of migrants, if Sarkozy’s removal policies1 lead to a persistently nomadic existence that does not even end when one has reached Fortress Europe? The voice of the children of the Revolution, wholly embraced by Mediterranean Europe which watched the Maghreb countries excitedly, has chosen a name for itself that sounds like an open wound, describing the first ›outpost of progress‹, Lampedusa, as the centre of a web of information that bounces from south to north. But Lampedusa, as we all know, is not a place of arrival; it is the symbolic door to Europe, whilst simultaneously being the first symbol of European exception to be met by the migrants. It is not a place of arrival; it is an overflow like any other in the uncertainty of the liquid frontier of the Mediterranean Sea. The second story is taken from Abdelmalek Sayad’s 1993 interview with a retired factory worker, Abbas.2 It tells the story of Abbas, the first in his family to emigrate, and that of the migrant’s curse. The point I will focus on is his relationship with his children, the so-called second generation, and the daily conflict between a father and his children, both male and female. The difference, with his children, comes through the idea of work: ›our‹ work, for Abbas; ›their‹ work (that of France) for the second generation. The refusal to move beyond occasional work, talk of ›us and them‹ and how this keeps them separate from the ›norm‹. Rather more dramatic is the tale of his relationship with his eldest child, a daughter. The girl left home 1 2
These policies have afterwards been pursued by Hollande and Macron during the aggravating European refugee crisis, as well. Only his first name is given in the interview.
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at around 25 years, she is unmarried and she works, but her father simply passes on the information he gets from his wife. The interview slowly reveals how the girl’s growing-up radically changed his life: when she finished school at sixteen, she came home and did not again leave. Abbas tells how his daughter’s resistance was made manifest in silence, how she became ill and how, with the help of a social worker, she left home and has never returned (cf. Sayad 1993: 823ff.). Abbas’ story is full of nuance; though he does not feel guilty, he asserts that one of the curses of emigration is that you must accept the unacceptable. To conclude, it is by looking at this journey that we can perhaps understand the meaning of Toni Morrison’s phrase in Beloved – »not a story to pass on« (Morrison 1987: 324) – which, more than any other, defines the desire for and, at the same time, the impossibility of a collective historical memory. The crack shown by studies on the diaspora and the diasporic condition allows a space and a voice that enable to tell one’s story and that inevitably force the West to take on the responsibility of revisiting its own story. Translated from Italian by Alice Kilgarriff-Vighi
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Prekäre Räume Körper, Verletzbarkeit, Widerstände Chiara Giubilaro
Am 27. Dezember 1995, nur wenige Tage nach seinem Tod, wird Emmanuel Lévinas auf dem Friedhof in Pantin bei Paris beigesetzt. Besonders eine der damaligen Grabreden bewahrt die Spur seines Werks, ist Echo des Gewesenen, und führt dennoch seine Problematik fort, appelliert an das, was da kommen mag. Adieu lautet Jacques Derridas Ansprache an jenem Tag auf dem Friedhof von Pantin.1 In ihr hallt Lévinasʼ Werk wider und wird gleichzeitig zu etwas Anderem; die Rede enthält ein Zeugnis, welches sie unentwegt auf Künftiges projiziert, über die Grenzen von Lévinasʼ Schaffen – und Leben – hinaus. Das Denken von Emmanuel Lévinas bietet Derrida vor allem die Gelegenheit, daran anzuknüpfen, es lädt zu einem stets neuen und unverhofften Beginn ein, welcher nicht automatisch aus sich selbst rührt, sondern unbestimmt von außen vordringt: Each time I read or reread Emmanuel Lévinas, I am overwhelmed with gratitude and admiration, overwhelmed by this necessity, which is not a constraint but a very gentle force that obligates and obligates us not to bend or curve otherwise the space of thought in its respect for the other, but to yield to this other, heteronymous curvature that relates us to the completely other (That is, to justice, as he says somewhere in a powerful and formidable ellipsis: the relation to the other, that is to say, justice), according to the law that thus calls us to yield to the other infinite precedence of the completely other. (Derrida 1999: 9f.) Ebenjenes vollkommen Andere irritiert den Raum des Denkens, trifft, faltet und krümmt ihn. Jeder Beginn entspricht zwangläufig dieser ursprünglichen Notwendigkeit, diesem diskreten, wenn auch irreversiblen Appell (vgl. Derrida 1999: 11), der sich ihm entzieht und ihn von allen Seiten her übersteigt, indem er dessen Voraussetzungen und Fundamente radikal infrage stellt. Sich der Vorgängigkeit 1
Veröffentlicht wurde die Rede später im Band Adieu to Emmanuel Lévinas (Derrida 1999), der auch Derridas Vortrag A Word of Welcome enthält, den er ein Jahr später im Richelieu-Hörsaal der Sorbonne anlässlich einer in Gedenken an Lévinas organisierten Tagung hielt.
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des vollkommen Anderen zu unterwerfen, heißt, sich von etwas übermannen zu lassen, das von anderswo herkommt, von Ereignissen, die man weder kontrollieren noch denen man sich entziehen kann. Wenn der Raum des Denkens durch das Ereignis des Anderen gekrümmt wird, so bleibt dem Subjekt nichts weiter übrig, als von innen her auf diesen Appell zu antworten. Indem es durch seine Antwort einen vollkommen anderen Ort bestätigt, stellt es, von weit her, ebenso die Formen und die Grenzen dieses Raums infrage (vgl. Derrida 1999: 12). Die an jenem Tag in Pantin aufgeworfene und während der ganzen Rede ungelöste Frage kann wie folgt resümiert werden: Kann die Öffnung auf das Andere unsere Raumvorstellung derart irritieren, dass wir gezwungen sind, den Raum radikal neu zu denken? Oder anders gesagt, kann die außergewöhnliche Unterbrechung, die durch das Ereignis des Anderen auf das Selbst hervorgerufen wird, sich bis in den Raum des Denkens hinein niederschlagen, Kategorien infrage stellen, deren Annahmen verändern und sogar deren Horizont krümmen? Auch auf den hier folgenden Überlegungen lastet ein Anderswo, das ihren Anfang ebenso wie ihre Richtung beeinflusst hat. Dieser andere Ort hat jedoch weder einen Namen noch Grenzen. Er widersteht jeder Schließung, mehr noch, er existiert nur in seiner Negation, denn er öffnet sich auf stets unterschiedliche und verschiedenartige Schauplätze. Ebenjenes Anderswo, an dem die hiesigen Überlegungen einen Sinnhorizont zu fassen trachten, lässt sich nicht auf einen spezifischen Ort reduzieren, denn es ist in die Kraft einer Bewegung eingeschrieben, die die Welt, in der wir leben, mit zunehmender Intensität durchquert und ihr Bedeutung verleiht. Dieses Anderswo lässt sich in den Körpern derjenigen finden, die als Verbannte, Migranten, Flüchtlinge oder Staatenlose die eigene Heimat verlassen haben, um zu neuen Orten aufzubrechen. Sie hausen in den vielen Containern, welche die Staatsgrenzen zuhauf säumen, sie begeben sich auf Schiffen ans andere Ufer des Mittelmeers, kommen dort an, werden ausgewiesen oder finden sich in den Flüchtlingslagern an den Toren Europas wieder. Dieses Anderswo findet sich aber auch in den undurchsichtigen Namen, die wir diesen Menschen geben, in den Durchquerungen und Übergängen, vor allem aber auf dem Meeresgrund und inmitten der Wüste wieder, wo auf eine kaum vorstellbare Weise viele dieser Reisen und Leben ein jähes Ende finden. Das instabile und plurale Anderswo, das durch diese mobilen Körper hervorgebracht wird, brandet nicht nur an den Grenzen der Nationalstaaten, an der Mauer, die die Festung Europa umgibt, sondern auch innerhalb Europas, an den materiellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hürden, welche diese Migrationsflüsse hemmen und kontrollieren. All dies schlägt sich jedoch auch drastisch auf den Raum des Denkens nieder, da es ein störendes Element einführt. Dieses körperliche, instabile, plurale Anderswo trägt den politischen Sinn der hiesigen Überlegungen in sich ebenso wie eine ihn stützende Geographie.
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Geographische Veränderungen Um den Raum und darum, wie man ihn denkt, darstellt, aber vor allem darum, wie man ihn lebt und erlebt, ist heute eine entscheidende Partie im Gange, der wir uns nicht entziehen können. Edward Said erinnert uns, weshalb die Schlacht um die Geographie nicht nur Kanonen und Soldaten betrifft, sondern auch Vorstellungen, Formen, Darstellungsweisen und Dynamiken des Imaginären: »So wie niemand von uns außerhalb oder jenseits der Geographie steht, so ist niemand von uns vollständig frei vom Kampf um die Geographie« (Said 1994: 41). Der Raum betrifft uns. Auch wenn dies wohl eher verdeckt geschieht, so ist diese Auseinandersetzung doch viel entscheidender, als man gemeinhin annimmt. Solange wir den Raum als ein Produkt der Begrenzung und der Schließung begreifen und die Bewegung als eine Kraft, die sich an den Grenzen bricht, deren Sicherheit sie gefährdet, oder aber diese Grenzen überschreitet und so die Homogenität des von ihnen Umschlossenen aufs Spiel setzt, solange werden wir auch weiterhin entlang der Grenzen, seien sie nun nah oder fern, tote Körper auflesen. Die hiesige Herausforderung besteht also darin, den Raum und seine Beziehung zur Bewegung radikal neu zu denken und eine alternative Räumlichkeit hervorzubringen, die in der Lage ist, in Bezug auf jenes mobile und körperliche Anderswo, von dem eingangs die Rede war, Gestalt anzunehmen ‒ einen Raumbegriff, der imstande ist, die ganze Last der Verantwortung auf sich zu laden, die zwangsläufig aus alldem erwächst. Eine Alternative zu erschaffen, bedeutet ebenjenes Möglichkeitsfeld zu eröffnen, das von der Geschichte der Räumlichkeit bis vor Kurzem verschleiert, negiert oder unterdrückt wurde. Der sogenannte absolute Raum, jener unveränderliche und leere Behälter, der die westlichen Raumdiskurse lange Zeit unangefochten beherrschte (vgl. Smith/Katz 2009: 63), wird heute immer häufiger von anderen Raumvorstellungen infrage gestellt, die seine Objektivität allein dadurch auf die Probe stellen, dass es sie gibt. Dies ist von der Überzeugung getragen, dass die Produktion von anderen Räumen die effektivste Strategie ist, um den durchsichtigen Schleier aufzureißen, der – insbesondere räumliche – Darstellungen zumeist verhüllt. Die Gewalt des Offensichtlichen findet, um mit Barthes zu sprechen, im Raum einen ihrer stärksten Ausdrücke, denn sie zeigt, bis zu welchem Punkt der Eindruck von Natürlichkeit die zwischen den Falten der Repräsentation eingenisteten Machteffekte verbergen und verstärken kann (vgl. Barthes 2010: 98). Durch das Erschaffen eines anderen Raums und einer anderen Geographie soll hier eine subtile, aber auch unversöhnliche Form kreativen Widerstands geübt werden, der sich gegen eine spezifische Machtmechanik richtet, welche nicht nur Körper, sondern auch die von ihnen hervorgebrachten Räume affiziert. Für neue Leben einen anderen Raum erschaffen, wie Henri Lefebvre schreibt, der Geograph, von dem diese Geschichte zweifelsfrei ausgehen muss (vgl. Lefebvre 1974: 485).
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Die hier zu besprechenden Fragen lauten: Was geschieht in dem Moment, in welchem sich die Bewegung vor den Raum stellt, jenseits seines Seins und seiner Produktion? Ist es möglich, einen Raum – und eine Geographie – zu denken, die imstande sind, den von der Grenze erzeugten Kreis zu sprengen, die nicht nur ohne Grenzen auskommen, sondern, weit radikaler, deren Notwendigkeit infrage stellen? Und schließlich, was passiert, wenn der leere, unbewegliche und absolute Raum, der die westliche Philosophie beherrschte, nicht nur mit Körpern und Verwerfungen gefüllt wird, sondern auch und vor allem mit Ereignissen und Veränderungen, die betonen, dass der Raum unweigerlich auch immer mit etwas in Beziehung steht? Die Suche nach möglichen Antworten auf dieses Bündel von Fragen bewegt sich auf kleinem Raum, der durch eine mithin nicht wahrnehmbare, aber dennoch entscheidende Verwerfung hervorgerufen wird. Der Sinn des Raums muss meines Erachtens neu erfunden werden, und zwar mit einem einfachen Schritt und mit den vielen, schwierigen Fragen, die stets damit einhergehen und mit ihm verknüpft sind. Aber kein Schritt kann auf einen Körper verzichten, der im Begriff ist, gerade ebenjenen Schritt zu tun. Und genau mit diesem Körper soll unsere prekäre Geographie beginnen.
Instabile Körper Als »Ego« in einem Land, in einer unbekannten Stadt ankommt, nimmt er diese anfangs mit seinem ganzen Körper wahr: Geruch und Geschmack, Beine und Füße, wenn er nicht gerade mit dem Auto unterwegs ist. Mit dem Gehör erkennt er Geräusche, Stimmen und ihre Eigenschaften; mit dem Blick: Ereignisse fallen über ihn her, stechen ihm in die Augen. Ausgehend vom Körper nimmt man den Raum wahr, man lebt ihn, ausgehend vom Körper wird der Raum hervorgebracht. (Lefebvre 1974: 167) Jedweder Räumlichkeitsdiskurs muss heutzutage vom Körper ausgehen. Der Erste, der auf die Gründe für die Verdrängung des Körpers aus der Ideengeschichte und auf dessen notwendige dortige Wiedereingliederung hingewiesen hat, war Henri Lefebvre in einigen seiner Schriften nach 1975, die, abgesehen von einigen Ausnahmen, vor allem im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte wiederaufgenommen wurden (vgl. Lefebvre 1974; 1996). Die Ankunft von Ego in der Stadt, sein erster Kontakt mit dem Raum, der sich vor ihm öffnet, ist vor allem ein körperliches Ereignis, eine Beziehung, die alle Sinne betrifft. Durch die Reaktivierung und erneute Aneignung aller Sinne entzieht sich Egos Aneignung des Raums ebenjener sicht- und lesbaren Ordnung, welche diese über Jahrhunderte hinweg beschränkte. Raum sieht man weder, noch liest man ihn, er ist weder ein visueller Eindruck, noch eine geisti-
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ge Darstellung. Im Gegenteil: Man spürt und hört ihn, mit den Gesten und der Bewegung, die man in ihm vollzieht, waltet man in ihm. Seit den neunziger Jahren hat der Körper, der zum stummen Rest des philosophischen Subjekts des Okzidents degradiert wurde, in der Philosophie wieder zunehmend Einzug gehalten. Dies geht zweifelsohne auf einige feministische Positionen zurück und auf ihren Versuch, andere und alternative Formen weiblicher Subjektivität zu denken. Folgt man dem Vorschlag von Rosi Braidotti, so stellt ein neuer, körperzentrierter Materialismus den Ausgangspunkt für diese Neudefinitionen von Subjektivität dar. Das Subjekt wird verkörpert, nicht nur im bloßen biologischen Sinne, sondern durch den komplexen Ausdruck körperlicher, symbolischer und soziologischer Ordnungen (vgl. Braidotti 1994: 5ff.). Innerhalb dieses Szenarios brechen die von Judith Butler postulierte Materialität des Körpers (vgl. Butler 1995a; 1995b), die von Donna Haraway kritisierte Einseitigkeit des Blicks auf den Körper (vgl. Haraway 1991), Rosi Braidottis Konzept des verkörperten Nomadismus, die von Luce Irigaray vertretene Singularität geschlechtlicher Körper (vgl. Irigaray 1985) und viele andere gelebte Körper, welche die Theoriegebilde der Sozialund Kulturwissenschaften bewohnen, über die Ideengeschichte und den von ihr konstruierten Raum herein. Selbstverständlich ist es nicht der abstrakte Körper und ebenso wenig ein Körper im Allgemeinen, in dem dieser Diskurs seinen unabdingbaren Ausgangspunkt, seine unvermeidbare Aneignung der Welt sowie ihre ununterdrückbare Materialität sucht. Vielmehr trachtet er danach, ebenjene einzige Besonderheit zu unterstreichen, welche die Versuchung großartiger Erklärungen, so Adrienne Rich, auf ein Minimum reduziert: Perhaps we need a moratorium on saying »the body«. For it’s also possible to abstract »the« body. When I write »the body«, I see nothing in particular. To write »my body« plunges me into lived experience, particularity […]. To say »the body« lifts me away from what has given me a primary perspective. To say »my body« reduces the temptation to grandiose assertions. (Rich 1986: 215) Dieser Diskurs – und diese Geographie – geht von meinem Körper aus, denn nur hier kann der materielle Bezug Form und Konsistenz annehmen, nur hier kann sich der Unterschied konkret manifestieren und nur hier kann sich die Singularität des Risikos gewahr werden, das entsteht, wenn sie sich der Welt aussetzt. Nur hier kann die Macht getroffen und Widerstand gelebt werden. Von hier aus, von diesem Körper also, muss jedes Mal aufs Neue ausgegangen werden. Die sich anschließenden Gedanken folgen Adrienne Richs Einladung und dem Versuch, jedes Wort mittels des eigenen Körpers zu filtern. Nur so kann unsere Rede dem Risiko der Abstraktion, das jede Überlegung mit sich bringt, sowie der abstrakten Systematik und Kohärenz entgehen – wenn auch in dem Bewusstsein, dass jedweder Körper bei seinem Eingang in die Diskursordnung überbordet, sich als
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überschüssig erweist oder Reste zurücklässt. Daher wollen wir versuchen, innerhalb der hiesigen Argumentation Spuren von Körperlichkeit aufrechtzuerhalten, Spuren, die den Diskurs über die Materialität des Körpers – unserer Körper – einerseits verankern, und ihn andererseits zugleich bei jeder Bewegung ins Wanken bringen, ausgelöst durch jenes nicht reduzierbare Außen, das jedwede Bedeutung hervorbringt und diese gleichzeitig auch stört.
Unmögliche Verräumlichungen Mein Körper begnügt sich nicht damit, Raum einzunehmen, Teile von ihm zu bewohnen, er bewegt sich nicht innerhalb eines vorgefertigten Szenarios, sondern er erfindet ihn mit jedem Schritt neu. Der Raum wird in genau dem Moment begründet, in dem mein Körper seine Position verlässt, das eigene Außen einzunehmen versucht, die Geschlossenheit jenes beruhigenden Gefühls, sich am rechten – da eigenen – Platz zu befinden, aufgibt, sich öffnet und sich verlagert. Mit diesem Schritt und all der ihm innewohnenden enteignenden Kraft wird der Raum hervorgebracht. Es sind weder Zentren noch Grenzen, die dem Raum zugrunde liegen, die ihn hervorbringen und entstehen lassen. Es sind die Bewegungen, oder genauer gesagt, die Verräumlichung: I specify again that spacing is a concept which also, but not exclusively, carries the meaning of a productive, positive, generative force […]. It is not only the interval, the space constituted between two things (which is the usual sense of spacing), but also spacing, the operation, or in any event, the movement of setting aside. This movement is inseparable from temporization-temporalization and from la différance, from the conflicts of force at work in them. It marks what is set aside from itself, what interrupts every self-identity, every punctual assemblage of the self, every self-homogeneity, self-interiority. (Derrida 1981: 106f.) Zwischen Raum (espace) und Verräumlichung (espacement) erkennt Derrida einen Unterschied, dessen Dreh- und Angelpunkt Dynamik und Zeitlichkeit sind. Der Raum ist ein Intervall: das Produkt und die Spur einer gewesenen Bewegung. Er öffnet sich zwischen zwei Punkten und ist das eingefrorene Bild, das ihren Abstand bestimmt und erfasst. Die Verräumlichung hingegen ist diese öffnende, voranschreitende und verlagernde Bewegung selbst. Sie ist nicht der Rest, sondern der Prozess, der ebenjenen Rest hervorbringt; sie ist der Vorgang, nicht das Resultat. Als produktive, positive und erschaffende Kraft bringt die Verräumlichung in ihrer Bewegung den Raum hervor, verändert ihn mit jedem Schritt und setzt dabei dessen Schließungen, Abstände und Intensitäten stets aufs Neue aufs Spiel. Hierauf folgende, plurale und dissonante Verräumlichungen erschaffen und lösen den Raum auf und lassen so jeden Versuch einer Totalisierung oder Sinnzu-
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schreibung obsolet werden. Es geht darum, die Grenzen des eigenen Positionsraumes aufzubrechen und sich der Leere zu öffnen: Der Raum entspringt dem Begehren nach dem Anderswo. Es handelt sich hier weder um Eroberung noch um Aneignung. Und anders könnte es auch gar nicht sein, denn jene Räume entspringen der Bewegung, statt diese in sich aufzunehmen. Der Raum empfängt nicht, in seiner Hervorbringung liegt nichts Beruhigendes. Und das vor allem aus einem Grund: In dem Moment, in dem ich einwillige, mich zu bewegen, mich also radikal dem Spiel des Raums hinzugeben, setze ich mich unvermeidlich dem Ereignis und der ganzen unvorhersehbaren Kraft seiner Wirkung aus. Indem mein Körper sich nach außen hin öffnet und sich über die Grenzen der eigenen Position hinausbewegt, stößt er auf andere Körper. Der Raum wird stufenweise hervorgebracht, nämlich durch die zwischen diesen Singularitäten2 herrschende Spannung, durch die ihre Beziehung zueinander bestimmenden Worte, Gesten und Blicke, durch den Handel zwischen den Energien und Wünschen, die diesen Singularitäten innewohnen. Das räumliche Gewebe manifestiert sich somit in den Interaktionen singulärer Körper, die sich, indem sie die Grenzen ihrer eigenen Positionen überschreiten, dem Raum öffnen und sich dem Ereignis aussetzen, um sodann im eigenen Außen den Ort ihres Verhältnisses zueinander und ihres Unterschieds voneinander zu entwerfen. Jedes Mal, wenn dies geschieht, wird nicht bloß der Raum erschaffen, sondern eine Welt (vgl. Nancy 1986: 222). Daher ist das sich dem Raum öffnende Subjekt nicht imstande, dessen Ausprägungen zu kontrollieren oder Ergebnisse vorauszusehen. Keine Intention, keine Willensabsicht kann vor dem Ausmaß an Unvorhersehbarkeit, die jedes Ereignis mit sich bringt, geschützt werden. Mein Körper ist dem Raum ausgeliefert. Stets ist sein Gewebe unweigerlich plural. In seiner Eigenschaft als Produkt nicht-koordinierter Begegnungen und als Effekt unverbundener Bewegungen ist der Raum immer Ort und Ereignis pluraler Beziehungen. Anders als es verschiedene Stimmen der angelsächsischen Kulturgeographie immer häufiger behaupten (vgl. Massey 2005; Rose 1991), fußt der Sinn des Raums – dieses stets aufs Neue durch Dislokationen, Ereignisse und Veränderungen hervorgebrachten Raums – nicht auf Relationen. Eine relationale Sichtweise scheint mir nicht mehr auszureichen, in einigen Fällen ist sie sogar abwegig. Denn dieser Raum ist nicht einfach das Produkt von Relationen, er besteht nicht aus einem positiv verstandenen Geflecht miteinander interagierender Körper. Was hier auf dem Spiel steht, ist nicht die Relation, sondern dass diese sich ereignet. Dieses Ereignis ist nicht länger einfach nur der Grund für die Erschaffung des Raums, sondern affiziert ihn in gewissem Sinne. Das Ereignis der Relation betrifft meinen Raum, destabilisiert ihn und problematisiert ihn unwiederbringlich, und zwar in einer Art und einem Ausmaß, die in keinerlei Weise vorhersehbar oder kontrollierbar sind. 2
Zum Verständnis von Singularität vgl. Agamben (2003) und Nancy (2004).
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So wie Subjektivität für Lévinas nichts anderes ist als ein Bruch, den zu reparieren unmöglich ist (vgl. Lévinas 1991: 18), ist auch der Raum das Resultat eines Schocks, eines Schlags, der jegliche Autonomie und Schließung unterbricht, und der dessen Wahrnehmung verändert, indem sein Bild in Einzelteile zersplittert, ohne dass sich diese je wieder zusammensetzen ließen. Nur ein in sich geschlossenes und dem Ereignis der Relation gegenüber immunes Subjekt kann einen kohärenten, objektiven und unveränderlichen Raum hervorbringen. Sobald sich die Räumlichkeit für die Relation öffnet und sich dem Ereignis des Anderen aussetzt, deformiert sie sich zugunsten verschiedener Blickpunkte. Indem sie sich dem Anderen aussetzt, verändert sie sich und, wichtiger noch, krümmt sich unter dem Gewicht der Interaktion. Der Andere steht vor mir, schreibt Emmanuel Lévinas, von Angesicht zu Angesicht, aber seine Anwesenheit geht über mich hinaus – die Äußerlichkeit ist hier zu Überlegenheit geworden (vgl. Lévinas 1979: 291). Das Gesetz der Krümmung des intersubjektiven Raums reicht von Lévinas bis hin zu Derrida und erlangt dort seine politischste Formulierung (vgl. Derrida 1994: 270). Die durch die Relation im Raum hervorgerufenen Unausgewogenheiten und Veränderungen belegen nicht nur die Negation jeglicher Objektivität, sondern zeugen vor allem von der Unmöglichkeit eines direkten, linearen oder unmittelbaren Zugriffs auf den Anderen. Die Relation ist nicht einfach, ihr Raum ist unklar und verzerrt: Jeder Position oder Bewegung entsprechen Risiko und Unsicherheit. Doch in dieser Schwierigkeit ist gerade auch die Möglichkeit von Politik eingeschrieben und nicht deren Verneinung. Wie Gayatri Spivak luzide erkennt, schreckt die Krümmung des sozialen Raums politisches Handeln nicht ab, sondern all das, was uns vor der Existenz einfacher Gemeinschaften warnt. »Wenn man also diesen Imperativ, die Krümmung zu begradigen (die Unmöglichkeit eines direkten Zugangs, die Möglichkeit des Guten, in Böses umzuschlagen) – von der courbure also zur droiture ‒, als ›Wahnsinn‹ bezeichnet, dann ist es ein Wahnsinn, den die Geschichte der Politik schreibt« (Spivak 2003: 29f.). In der Veränderung des relationalen Raums, in der Instabilität der Positionen und der Unvorhersehbarkeit der Bewegungen, in einer gewissen Erfahrung des Unmöglichen, die ja stets mit radikaler Alterität einhergeht, stößt das Subjekt auf die Schwierigkeit politischen Handelns und entwickelt daraus neue Arten und neue Welten der Relation.
Verletzbarkeit und Widerstand Im Raum wird mein Körper rettungslos zur Schau gestellt. Der Raum ist nämlich der Herrschaftsbereich der absoluten Äußerlichkeit, er bietet weder verschlossene Stellen noch Deckung. In ihm birgt jedwede Erfahrung ein Risiko, einen Kontrollverlust, der in Zusammenhang steht mit unserer Öffnung hin zur Interaktion mit
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dem Anderen und den damit einhergehenden verschiedenen Formen von Abhängigkeit. Im Raum ist der Körper unbedeckt; in seiner Blöße bietet er sich dar und leidet, um erneut Lévinas anzuführen (vgl. Lévinas 1991: 15). Die Nähe zum Anderen wird zur Verletzbarkeit und eröffnet so die Möglichkeit, sich dem Trauma auszusetzen. Mit jedem Schritt auf sein Außen hin wird der Körper gewahr, von anderen Körpern abhängig und Opfer von Ereignissen zu sein, die letztlich stets über seine Absichten, Vorhaben und Möglichkeiten hinausgehen. Dieser Raum der Zurschaustellung und Verletzbarkeit ist jedoch keineswegs ein Raum der Passivität. Verletzbarkeit vollzieht sich nicht allein über eine generische Disposition, der man unterliegt, sie stellt keine hartnäckige Resignation oder regungsloses Dulden dar. In der hervorragenden Rede Judith Butlers anlässlich der Verleihung des Adorno-Preises im Jahr 2012 avanciert Verletzbarkeit zu jenem Punkt, an dem sich Prekarität und Performativität berühren können und müssen, denn genau diese Reibung bringt Formen eines verkörperten und pluralen Widerstands hervor, der sich weigert, die ihm verordnete Lebensweise zu akzeptieren. In diesem Sinne ist Verletzbarkeit – und ebenso Abhängigkeit, Prekarität sowie weitere Formen menschenunwürdiger Lebensumstände, mit denen wir uns in jeweils unterschiedlichem Ausmaß tagtäglich konfrontiert sehen3 – nicht bloß eine Bedingung, von der es sich zu befreien gilt, sondern die eigentliche Voraussetzung unserer Widerstandspraktiken. Ausgehend von dieser Schwäche sind Formen politischen Handelns zu entwerfen, die in der Abhängigkeit die Gelegenheit zum Zusammenschluss und in der Verletzbarkeit Reaktionsfähigkeit erkennen: […] vulnerability cannot be associated exclusively with injurability. All responsiveness to what happens is a function and effect of vulnerability, whether it is an openness to registering a history that has not yet been told, or a receptivity to what another body undergoes or has undergone, even when that body is gone. We can say that these are matters of empathy across time, but I want to suggest that part of what a body does (to use the phrase of Deleuze, derived from his reading of Spinoza) is to open onto the body of another, or a set of others, and that for this reason bodies are not self-enclosed kinds of entities. (Butler 2012: 49) Verletzbarkeit ist unter keinen Umständen der Dimensionen von Passivität zuzurechnen, ebenso wenig beschränkt sie sich auf Zweierbeziehungen: Butler scheint sich hier erheblich von Lévinas zu entfernen (vgl. Lévinas 1991: 15f.). Für sie bedeutet Verletzbarkeit nicht nur der erlittene Schlag, sondern insbesondere die Fähigkeit, 3
Unter den prekären Existenzen, die Judith Butler aufzählt, sind auch diejenigen, die zur Migration gezwungen sind, zum Warten auf eine Grenzöffnung, auf die Ankunft von Lebensmitteln oder den Erhalt eines Dokuments, ohne welches sie entrechtet sind (vgl. Butler 2012: 48).
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auf diesen zu reagieren. Es handelt sich um die produktive Dimension, die im Körper ausgelöst wird – beziehungsweise in den Körpern, die im öffentlichen Raum aufeinandertreffen, dort den Lebensbedingungen gemeinsam die Stirn bieten und ihnen Widerstand entgegenzusetzen versuchen. Die eigentliche Ursache für unsere Verletzbarkeit bilden nicht die in sich geschlossenen Körper. Sie liegt vielmehr außerhalb von ihnen, sie rührt nämlich aus jener Weise des Auf-der-Welt-Seins, die nicht unterdrückt werden kann und die Judith Butler ganz in der Tradition Lévinasʼ als Zurschaustellung definiert. Wir hingegen können, gemäß der hiesigen Argumentation, nicht anders, als diese Ursache als ›Raum‹ zu bezeichnen. Verletzbarkeit ist der Umstand des Ek-statisch-Seins, eines Körpers, der aus sich selbst herausgetreten ist (vgl. Butler 2012: 49). Butler zufolge sind die sexuelle Leidenschaft, der emotionale Schmerz oder die politische Wut ebenjene Kräfte, die mehr als andere diesen ek-statischen Zustand herbeiführen, indem sie das Subjekt seine individuellen Grenzen übertreten lassen und es, so ließe sich sagen, der Vernunft des Raums unterwerfen. Jedes Mal, wenn wir zu Geiseln einer dieser Kräfte werden, wird unser Körper gewahr, hüllenlos, gebunden und in einen Raum projiziert zu sein, der nichts weiter bietet als die Chance der Relation, welche Risiko und Möglichkeit zugleich ist. In diesem Raum des Wir ist mein Körper der Relation mit anderen Körpern ausgesetzt, also Körpern, die ihrerseits dem gleichen enteignenden Impuls unterliegen. Die politische Passion durchbricht die Grenzen des Selbst und bringt diesen Raum absoluter Äußerlichkeit hervor, in dem jedwede Forderung stattfinden kann und muss. Hier ist mein Körper in der Gemeinschaft mit Anderen und gemeinsam mit Anderen kann er an ein Wir appellieren, kraft dessen er für etwas kämpfen kann, was ihn betrifft und zugleich über ihn hinausgeht. Und tatsächlich können nur in diesem Raum Rechte eingefordert und Verletzbarkeit zur Gelegenheit politischen Handelns werden. In dem von Butler entworfenen Raum des Außen findet der Körper, der von Anbeginn an der Welt und der Relation überantwortet ist, in der eigenen Verletzbarkeit die Gelegenheit zu politischem Handeln, das keinen Kontroll- und Herrschaftsmechanismen untersteht und das Beziehungen herzustellen vermag, die von einem kollektiven Gefühl der Verantwortung inspiriert sind. Allein dieses kollektive Verantwortungsgefühl ist imstande, die Verletzbarkeit zu schützen, ohne sie zunichte zu machen. Indem der Raum uns dem Ereignis der Relation aussetzt und in eine Dimension unweigerlicher Verletzbarkeit überführt, avanciert er zum Produkt einer ursprünglichen Enteignung, zu einer uns verlagernden und uns infrage stellenden Bewegung. In diesem durch Fragilität und Relation gekennzeichneten Raum kann und muss der Sinn des Menschlichen neu erfasst werden. Der Raum, dessen Sinn diese Seiten wiederzugeben versuchen, wird durch Körper hervorgebracht, die darum wissen, dass in Beziehungen nicht nur der Grund für die eigene Fragilität eingeschrieben ist, sondern auch dass diese Be-
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ziehungen die eigene Menschlichkeit erst ermöglichen, und dass sie mit jedem Schritt aufs Neue bestätigen, dass es notwendig ist, beide zusammenzuhalten. Wir sind fragile Wesen, weil wir in Beziehung zueinander stehen. Nur wenn wir in der Schwäche, der uns jede Relation ausliefert, eine konkrete Modalität des Aufder-Welt-Seins erkennen, können wir Räume – und Geographien – einfordern, die in der Lage sind, in ihrem Inneren Spuren dieser Menschlichkeit zu konservieren.
Schlussfolgerungen Wenn sich ein Körper nach außen hin öffnet, sich über die Grenzen der eigenen Position hinausbewegt und sich dem Ereignis des Anderen aussetzt, so leitet er auch die Erschaffung einer Geographie in die Wege, die sowohl Bewegung und Dislokationen wieder in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu stellen vermag, als auch den Raum – entgegen der geographischen und philosophischen Tradition – als etwas weitaus Instabileres und hoffnungslos Prekäreres zu denken. Den hiesigen Gedanken liegt die Überzeugung zugrunde, dass der Raum die ihm entzogene Chance nur wiedererlangen kann, wenn man ihn nicht länger durch dessen Grenzen definiert, ihn nicht länger als unbeweglich und objektiv begreift und wenn man sein Entstehen nicht einer begrenzenden Geste zuschreibt, sondern einer irreversiblen Entgrenzung. Erst in der Instabilität und Dynamik liegt die Möglichkeit zur Veränderung. Erst wenn man dies anerkennt, existiert Politik und ist Ethik möglich, wie Derrida uns in Erinnerung ruft (vgl. Derrida 1996: 86). Wenn man sich bemüht, den Raum als beweglich und offen zu denken, also als einen singulären und dissonanten Beziehungen ausgesetzten Raum – und bestrebt ist, ihn auch so zu leben –, dann versucht man ebenso, eine Geographie zu entwerfen, die jenem inzwischen ohrenbetäubend lauten Appell gerecht wird, der uns von anderswo her erreicht, von einem Ort, der buchstäblich nur einen Schritt von uns entfernt ist. Wenn die Geographie auf diesen Appell antworten möchte, muss sie diesen Bewegungen nicht nur stattgeben, sondern versuchen, sich wahrhaftig von ihnen mitreißen zu lassen und ihre eigenen Kategorien und Darstellungen radikal infrage zu stellen. Die Bewegung überdenken, um am Leben zu bleiben, so lautet in aller Kürze die Herausforderung, der sich die Kulturgeographie heute stellen muss. In der berühmten Konferenz von Utrecht im Jahre 1983 erkannte Adrienne Rich in der Politik der Positionierung und in ihrer körperlichen Verankerung die Notwendigkeit einer radikalen Neudefinition nicht nur des feministischen Diskurses: If we have learned anything in these years of late twentieth-century feminism, it’s that that »always« blots out what we really need to know: when, where, and under what conditions has the statement been true? (Rich 1986: 214)
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Der Wahrheitsgehalt eines jeden Diskurses, so erklärt Rich, kann nicht von dessen spezifischen Zusammenhängen getrennt werden. Die gleiche Feststellung kann heute gelten und morgen jedwede Gültigkeit verlieren, sie kann hier wahr sein und anderswo falsch und sogar innerhalb desselben Kontextes je nach Anlass und Umständen von Mal zu Mal verschiedene Wertigkeiten annehmen. Die Geographie der Dislokation, deren Profil wir hier nachzuzeichnen versucht haben, kann sich also den drei soeben erhobenen Fragestellungen nicht entziehen: Wo, wann und unter welchen Bedingungen besitzt sie Gültigkeit? Offene Räume zu denken, deren Existenzgrundlage und zugleich Anlass zur eigenen Veränderung in der Bewegung liegt, kann unter gewissen Umständen politisch nicht produktiv sein oder, im schlechteren Falle, der ursprünglich anvisierten Richtung entgegenlaufen. Doch gerade in der Fragilität dieser wie auch jeder anderen geographischen Vorstellung kann die Theorie einen Raum für das Politische öffnen, dessen Diskontinuitäten und Widersprüche erfassen, sich den Gegebenheiten anpassen und sich ausgehend von Ereignissen und Veränderungen verlagern. Entscheidend ist also nicht so sehr, zu verstehen, wo, wann und unter welchen Bedingungen dieser Raum wahrhaftiger als andere gewesen ist. Vielmehr sollte man versuchen, sich zu fragen, wo, wann und unter welchen Bedingungen dieser Raum einmal als gerechter als andere gelten kann. Aus dem Italienischen von Sieglinde Borvitz und Britta Köhler
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Persona oeconomica in der Medienkommunikation Wider die Anästhetisierung für neue Räume der Medialität Vittoria Borsò
Meine Überlegungen nehmen ihren Ausgang vom Konzept der persona oeconomica, das ich vorgeschlagen habe, um die Kritik Roberto Espositos (vgl. Esposito 2013) am Begriff der ›Person‹ – schon seiner Genealogie nach ein Begriff ökonomischer Ordnung1 – auf Subjektivierungsprozesse im globalen Kapitalismus zu beziehen. Bei diesen haben sich Tendenzen des Liberalismus und Neoliberalismus verschärft, die Michel Foucault mit dem Begriff des ›Interessensubjekts‹ beschrieben hatte (vgl. Foucault 2006), ein extra-juridisches Subjekt, das sich einzig nach der eigenen Befriedigung ausrichtet. Mit der Radikalisierung der Herrschaft des Marktes im globalen Kapitalismus realisiert sich ein solches Subjekt auf der Grundlage eines imaginären Empowerments.2 Im Anschluss an Foucault und mit Blick auf die extremen Formen, die in der Gegenwart von einem solchen Subjekt angenommen werden, haben inzwischen stichhaltige Analysen die Vorstellung von Subjektivität unterlaufen. In der Einleitung seiner 1993 erschienenen zweiten Auflage von L’ère du vide betont der Genfer Philosoph Gilles Lipovetsky die Radikalisierung der in den 1980er Jahren bereits festgestellten narzisstischen Atomisierung von Subjekten (vgl. Lipovetsky 1993). Es sind Subjekte, die, wie Lipovetsky zeigt, eine unendliche Zahl von durch den Markt angebotenen Möglichkeiten à la carte zur Verfügung haben, so dass sich der Narzissmus in all seiner Radikalität manifestieren kann. Das 1
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Esposito sieht die Genealogie des Dispositivs im patristischen Begriff der dispositio im Sinne der Regierung der Menschen. Tertullians Versuch, die Dreifaltigkeit konzeptuell zu klären, stützt sich auf die Ökonomie des Verhältnisses zwischen den Personen (Vater, Sohn und Heiliger Geist), wobei der Sohn und der Heilige Geist dem Vater unterstellt werden müssen, um ein monotheistisches Gottesverständnis zu sichern. Tertullians utilitaristisches Vokabular ist im buchstäblichen Sinne ökonomisch. Wie sehr das (amphibiologische) Dispositiv der Person (vgl. Esposito 2013: 99) ökonomische Kriterien erfüllt, sieht man, so Esposito weiter, an der alleinigen Macht des Gläubigers über das Leben des Schuldners (vgl. Esposito 2013: 102). Shakespeares Der Kaufmann von Venedig ist eine der herausragenden literarischen Analysen dieser Macht. Vgl. den Beitrag von Laura Bazzicalupo in diesem Band und Bazzicalupo (2013).
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Subjekt wird zu einer Dependance der öffentlichen Szene, in der die individuellen Lebensstile eine narzisstische Absorption des Selbst erleben. Auch im Privaten fehlt der Widerstand des Anderen; vielmehr findet das Ich nur das wieder, was es »begehrt« (vgl. Lipovetsky 1993: 102). Begehrt wird dabei, was von der Ökonomie und ihren symbolischen Fetischen suggeriert wird. Das Kapital der eigenen Libido dient schließlich dazu, sich dem Imperativ individueller Personalisierungen entsprechend öffentlicher Symbole zu unterwerfen (vgl. Lipovetsky 1993: 43). So wird der Narzissmus zum neuen schwachen Kontrolldispositiv eines sozialisierenden und zugleich desozialisierenden – da die Relationalität zerstörenden – Selbstregierens, das den Wohlstand des puren Egos als Sorge hat (vgl. Lipovetsky 1993: 70). Schon 1999 hatte Slavoj Žižek die Leere im Zentrum des sich in der hegemonialen Ordnung als essentiell konstituierenden Subjektes3 und dessen Transformation beschrieben: Das Subjekt integriere sich nicht mehr – nach Lacan durch symbolische Kastration – in das Gesetz des Vaters, sondern sei ein perverses, polymorphes Ich geworden, das allein dem Gesetz des Genusses untersteht (vgl. Žižek 1999a: 265; Žižek 2015). Im Anschluss an derlei Analysen kann das Konzept der persona oeconomica Aspekte beleuchten, die wir ohne diese Formel nicht erkennen könnten, etwa die Paradoxalität eines solchen Subjektes: Tatsächlich inszeniert einerseits die starke, theatralische Semantik des Dispositivs der Person die Performativität eines Subjektes, das andererseits ex post, nämlich erst durch die Strategien des Marktes, reguliert wird. Die Performativität der Person, die das Interessensubjekt verkörpert, fungiert darüber hinaus im Falle des Scheiterns als das Dispositiv, welches das prekäre Subjekt in dem Moment hervorbringt, in dem es ihm die Würde der Person infolge seines Mangels an ökonomischem Empowerment abspricht; diese Würde spricht es ihm gerade deshalb ab, weil gemäß der Logik des Marktwettbewerbs ein gescheitertes Empowerment ein Grund zur Demütigung ist.4 Ein solches Subjekt leidet in extremis an der Gewalt der Verstummung und des Ausschlusses aus der Zirkulation des symbolischen Wertes des Lebens. In der aktuellen beschleunigten 3
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Anders als Laclau und Badiou, die das Subjekt als bei Entscheidungen emergent ansehen, was zugleich die Matrix der Hegemonie darstellt, so Žižek (1999a: 182), ist für Letzteren die Macht der das Ich gefangenhaltenden ödipalen Ordnung derart, dass das Subjekt wie eine essentielle Entität fungiert: »The Oedipal Order, this Gargantuan symbolic matrix embodied in a vast set of ideological institutions, rituals and practices, is much too deeply rooted and substantial entity to be effectively undermined by the marginal gesture of performative displacement« (Žižek 1999a: 264). So lautet seine Kritik an Butlers (und Foucaults) Resistenzthese in Bezug auf Subjektivierungsprozesse. Vgl. auch die Analyse der persona oeconomica als Dispositiv des Übergangs von der Gouvernementalität zur Bioökonomie in Bezug auf Mildred Pierce (1941), den Roman von James Cain, und die gleichnamige Verfilmung von 1945 durch Michael Curtiz mit Joan Crawford (vgl. Borsò 2015).
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Phase einer neoliberalen ökonomischen Politik, die sich überall auf dem Globus ausbreitet, ist die persona oeconomica zur Schwelle der Würde der Person selbst geworden. Gleichzeitig vollzieht sie sich in Momenten der drohenden Katastrophen als Dispositiv der Verdrängung der tief reichenden Krise, die sich die Subjektivität genauso einverleibt, wie sie die Stabilität der gouvernementalen Techniken aufrechterhält. Das Dispositiv der Person ist den Analysen Roberto Espositos zufolge tatsächlich deshalb ein semantisch gehaltvoller Begriff, weil es eine Verflechtung der theatralischen, der juridischen und der moralischen Semantik darstellt, das auf moralischer Ebene als Garant des Humanismus des Individuums fungiert (vgl. Esposito 2013). Es handelt sich um ein Dispositiv, das den Hiat zwischen nómos und bíos gerade deshalb nicht versöhnen kann, weil es diesen hervorbringt. Die ›Person‹ ist darüber hinaus eine Kategorie, die schon von sich her die Möglichkeit widerlegt, ein Recht auf Leben zu formulieren. Nicht zufällig erhält das Dispositiv der Person seinen Wert in den Momenten extremer Krise, wie seine fundamentale Rolle in der Erklärung der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg bezeugt. Die Individuen werden durch das Konzept der Person definiert, separiert und zusammengefasst; es ist ein Oberbegriff, der alle Hierarchien konstituiert, beinhaltet und bekräftigt und der auf dem »asymmetrischen Verhältnis« basiert, das »Einheit und Separation aneinander bindet« (Esposito 2013: 142), wie es bereits für das christliche Personen-Konzept der Fall war.5 Wenn wir diese Diagnose nun auch auf die persona oeconomica ausweiten, stellen wir fest, dass sie das Symptom einer neueren Krise ist: jener Krise des globalen Kapitalismus und seiner Auswirkungen auf die Länder der Eurozone. So werden im ersten der 54 Artikel der Präambel der Charta der Europäischen Union vom 18.12.2000 die Menschenrechte erneut auf Grundlage der Würde der Person definiert.6 Auch das Vokabular der Charta zielt auf die Individualisierung im Sinne einer Separation der Menschen; einer Separation, die durch generische Konzepte widergespiegelt wird: Männer, Frauen, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Kinder, Alte und Beeinträchtigte und sogar »nicht menschliche Entitäten« (zum Beispiel Institutionen und juridische Personen). Die Gemeinschaft wird geteilt und diese Unterteilungen werden unter dem Wert der ›Person‹ in Gruppen eingeteilt. Das Unbestimmte, das als vor-individuelles Apeiron Zutritt zu besonderen Individuati5
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Die Person ist »in ihre Extreme erweitert – und dies soweit, dass sie auch dasjenige noch umfasst, was sonst als res bezeichnet wird, wie der Sklave etwa – und zwar gerade, um das menschliche Geschlecht in eine unendliche Serie von Typologien zu unterteilen, die mit je verschiedenem Status ausgestattet sind, so wie es jene filii in potestates, die uxores in matrimonio, die mulieres in manu usf. sind; diese Typologie verläuft kontinuierlich weiter, indem sie immer neue Unterscheidungen hervorbringt« (Esposito 2013: 101). Artikel 20 akzentuiert die europäischen Grundrechte: die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz.
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onsprozessen geben könnte (vgl. Simondon 1989), wird geschlossen.7 In der Charta werden Individuen hingegen segmentiert und in generische Entitäten eingesperrt, die unter der Maske der ›Person‹ Körper und Evidenz erhalten. Die ›Person‹ produziert folglich verschiedene Grade der ›Nicht-Person‹, indem sie wie das hierarchisierende Dispositiv der Unterscheidung und der Exklusionen funktioniert, die sich aus dem Wertesystem ergeben. Im globalen Kapitalismus wird die Schwelle der Würde der Person durch das ökonomische Empowerment definiert. Unterhalb dieser Schwelle befindet sich das Prekariat, jene auf dem Globus inzwischen zahlreichen, instabilen Lebensformen, die man heute die »Abgehängten« nennt.8 Die Fragen, die wir stellen müssen, lauten: Welche Mechanismen bewirken, dass das Prekariat keine digna conditio im Sinne der Person ist? Und ist nicht die Dignität der persona oeconomica selbst, heute mehr denn je, ein insbesondere für die jüngere Generation instabiler Zustand, der sehr rasch als prekär eingestuft werden kann?
Vom Interessensubjekt zur persona oeconomica Wir müssen das Gespenst der Identität und der Schließung der Unbestimmtheit durch die persona oeconomica untersuchen, indem wir von der Herausbildung des neoliberalen Subjektes ausgehen, wie sie von Foucault analysiert wurde. Mit dem Neoliberalismus bildet sich die Form der Individuum-Person als Interessensubjekt aus. Wenn ich hier den Begriff aufgreife, der von Foucault entwickelt wurde, so geht es mir dabei vor allem darum, auf der Tatsache zu insistieren, dass dieses Subjekt, das unternehmerische Selbst, indem es seine Natur als juridisches Subjekt abstreift, nicht mehr einer Moral der Gemeinschaft unterworfen ist und dass es sich gerade durch seine Unabhängigkeit von ihr autorisiert.9 Die Konsequenzen sind bemerkenswert: Während, wie Esposito bemerkt, die Verbindung zwischen Subjektivität und Subjektivierung, die in der theologisch-juridischen Ausformung impliziert ist, von Hobbes auf das politische Terrain gebracht worden ist (vgl. Esposito 2013: 115) und Foucault ihre potentielle Anlage zum Widerstand beleuchtet 7
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Esposito bezieht sich auf die Simondon-Lektüre durch Deleuze, wenn Deleuze und Guattari (1997) anstelle des Subjekts prä-individuelle Singularitäten und nicht-persönliche Individualitäten vorschlagen (vgl. Esposito 2013: 216). Nach Trumps Wahlsieg bei den US-Präsidentschaftswahlen sprechen die Medien von einem »Aufstand der Abgehängten«. Dabei wurde dieser Begriff für das Prekariat bereits 2006 in einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gebildet (vgl. Neugebauer 2007). Die Selbstbezogenheit von allein auf das eigene Interesse orientierten ökonomischen Subjekten (»Subjekt[e] des Interesses«) und die totalisierende Einheit der juristischen Souveränität sind inkompatibel (vgl. Foucault 2006: 375ff.). Es handelt sich deshalb um extra-juridische Subjekte, die sich vom Gesetz dissoziieren.
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hat,10 so fehlt der Kategorie der persona oeconomica hingegen der subjektivierende Antagonismus, der die Subjektivierung hervorbringt und Widerstand ermöglicht. In der persona oeconomica entbehrt das Interessensubjekt, das sich durch das Gespenst der Autonomie autorisiert, auch der Relationalität zum (humanen und nicht-humanen) Anderen, was die Individuation beziehungsweise Transformationsprozesse ermöglichen könnte (vgl. Simondon 1989). Von der Spiegelbildlichkeit des eigenen Phantasmas eingenommen,11 ist es dem Zwang zur Wiederholung unterworfen. Es hat Angst, das bewegliche, fragile und instabile Fundament aufzugeben, auf dem die Kapitalisierung der Person basiert. Die Fragilität der Person ist grundsätzlich den materiellen Operationen geschuldet, die unter ihrer Maske stattfinden: Es handelt sich um die Verflechtung von einerseits Lebendigkeit (des Körpers) und andererseits Geistigkeit, Vernunft und Wille. Zugleich ist im Abendland die körperliche Lebendigkeit mit Resten von Animalität und damit von vegetativem Leben konnotiert, so dass die Person eine Verflechtung mit demjenigen darstellt, was sie einerseits hervorbringt und andererseits zugleich ausschließen möchte: der Nicht-Person. Die Animalität, welche die Person beherrschen und versklaven muss, befindet sich jedoch zugleich im Innern ihres Dispositivs – sie impliziert die Gefahr, in den Status des homo sacer zu verfallen, und zwar nicht mehr, indem dieser im Sinne Agambens vor die Mauern der Stadt gesetzt wird, sondern indem sie diesen ins Innere des ius einpflanzt.12 Eine solche Fragilität spitzt sich in der persona oeconomica zu, die die eigene »Animalität« den Zwecken des Interessensubjekts unterwirft. Die Fluidität des Körpers muss sich dabei den Regeln des höchstmöglichen Ertrags beugen und es wird dementsprechend das symbolische Kapital der Lebensformen und der korrespondierenden psychischen Stile gesucht,13 während der im Zeichen einer uniformellen Wiederholung stehende Subjektivierungsprozess der Wiederholung einer phantasmatischen Autonomie unterworfen ist, die den Subjektivierungsprozess letztlich annulliert. Unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus transformiert sich die Struktur der Person, die Esposito mithilfe der Stichwörter ›Vernunft‹ und ›Wille‹ durchdekliniert, unter anderem in die Begehrensmaschinerie des Interessensubjekts, das ex post durch die Strategien des Marktes reguliert wird.14 Das Dispositiv der persona oeco10 11 12
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Nachdem Hegel die unrechtmäßige Überlagerung von Personen und Dingen in der kantischen Kategorie der Menschenrechte angefochten hat (vgl. Esposito 2013: 135). Im Séminaire XVI liest Lacan Marx; das Phantasma ist eine Kompensation des Verlustes im Zusammenhang mit der Verblendung im kapitalistischen Diskurs (vgl. Lacan 2006). Der Kommentar bezüglich des ius personarum des römischen Rechts kulminiert in der Feststellung: »Am gegenüberliegenden Pol zur Person, aber im Innern ihres Dispositivs, war der Körper des damnatus lediglich die letzte Station eines stufenartigen Abstiegs, den die summa divisio als ihr vorausgesetztes Negativ implizierte« (Esposito 2013: 102). Vgl. Villacañas Berlanga in diesem Band. Vgl. auch Bazzicalupo in diesem Band.
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nomica, so wie es eben unter dem Gesichtspunkt der Bioökonomie beleuchtet wurde, nimmt Espositos Analysen zur Person insofern auf, als dieser die Person als ein Konstrukt begreift, das zugleich Einheit und Teilung voraussetzt:15 Auf der einen Seite liegt ein vollkommen menschlicher – rationaler, moralischer und geistiger – Kern, auf der anderen Seite ein animalischer oder gar dinglicher, der Willkür des geistigen Kerns ausgelieferter Rest (vgl. Esposito 2010: 46). Das Dispositiv der persona oeconomica ersetzt jedoch den rationalen, moralischen und geistigen Kern durch das Begehren nach ökonomischem Empowerment, das an die Stelle anderer Werte, wie etwa Intellekt oder freier Wille, tritt. Die unterschiedenen und gegensätzlichen Sphären, die das Dispositiv der persona oeconomica verinnerlicht, sind das ökonomische Empowerment und dessen andere Seite, die Nicht-Person,16 die der simplen biologischen Materie – der animalen Natur vergleichbar – untergeordnet werden.17 Diese Seite, die man sterben lassen kann, wird im prekären Leben externalisiert und vom Dispositiv der persona oeconomica ausgeschlossen, das dieses Leben hervorbringt. Dabei ist das prekäre Subjekt selbst verborgen, es ist unsichtbar. Im Narzissmus der eigenen Konstitution gefangen, gewährt die persona oeconomica der Prekarität in ihrem Sichtbarkeitsregime keinen Platz. Es ist deshalb notwendig, die Praktiken zu beleuchten, die Empowerment und Prekarität hervorbringen. Wir haben soeben die Essenzialität der prekären Person (persona precaria) demontiert, indem wir den Mechanismus ihrer Erzeugung offengelegt haben. Sie wird auf zweifache Weise hervorgebracht: sowohl als faktisches Korrelat des globalen Kapitalismus, dessen Kehrseite der Mangel ist,18 als auch als diskursive Erzeugung der persona oeconomica. Die zweite Operation, die ich auf Grundlage dieses ersten Schrittes vornehmen möchte, ist die Entkräftung der Begriffspaare Sicherheit/Prekarität, Stabilität/Instabilität, Bestimmtheit/Unbestimmtheit, was das Konzept der Prekarität radikal verändert. 15
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»Meine These lautet, dass dieser assimilierende und exkludierende Prozess der ›theologischpolitischen Maschine‹ geschuldet ist. Sie funktioniert, indem sie das trennt, was sie zu einen erklärt, und indem sie das vereint, was sie trennt, während sie zugleich einen Teil unter die Macht des anderen Teils stellt« (Esposito 2013: 5). Esposito beschreibt die Transformation unter der Herrschaft des globalen Finanzmarktes im Rahmen des Übergangs vom »welfare zum debtfare«: »Es ist, als wäre die Spaltung zur generellen Form der Einheit geworden. Die Menschen sind vereint durch die Verschuldung, die sie auch von ihnen selbst trennt und die sie von einem Modell der Entwicklung abhängig macht, das nur Verlust produziert« (Esposito 2013: 227). Sloterdijk (2005) ist hier offensichtlich die zentrale Referenz. Seit der ökonomischen und zugleich theologischen Fundierung des Personenbegriffs in der christlichen Theologie bildet sich eine Hierarchie zwischen dem geistigen Prinzip und dem Körper, dessen Status Esposito (2013: 104) als »im Raum ausgedehnt und deshalb in einer natürlichen Dimension unüberwindlich eingezwängt« definiert. Auf die paradoxe Beziehung von Wachstum und Verknappung hat schon Niklas Luhmann (1988:177-229) in Bezug auf materielle und immaterielle Werte (wie etwa Zeit) hingewiesen.
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Rethinking Precarity: Die Paradoxie von Prekarität und Sicherheit Mit der persona oeconomica nimmt das Konzept der Sicherheit, das seit der Etablierung jener gouvernementalen Techniken in Form der Sicherheit des politischen Körpers versprochen wird, eine Performativität an, die nicht mehr den sozialen Körper betrifft; Sicherheit bezieht sich vielmehr auf das Subjekt selbst, das sich als ökonomisch determiniertes Interessensubjekt konstituiert hat. Gleichzeitig verschiebt die Modalität, in der sich das Dispositiv der persona oeconomica bildet und in der es unter den Bedingungen der Kapitalisierung des Lebens agiert, den antinomischen Gegensatz von Sicherheit/Prekarität vom einzelnen Leben auf die performative Ebene des Kapitals. Neben der materiellen Zerstörung der Lebensbedingungen – zum Beispiel infolge der Destabilisierung nach dem Tsunami der Finanzökonomie – sind auch die Verschuldung und die Nicht-Valorisierung des prekären Subjekts Teil des Zerstörungswerks des ›würdigen‹ Lebens, das durch die Finanzökonomie und ihre Herrschaft über das Leben ausgelöst wurde. Die persona oeconomica integriert das Leben in jenen Mechanismus der Wertproduktion und in die Schuldenlogik, die von Walter Benjamin in seinem visionären Fragment Kapitalismus als Religion (Benjamin 1991; vgl. Borsò 2017) beschrieben wurde. Als Existenz des nackten Lebens ohne Wert wird die prekäre Person von der Gemeinschaft ausgesondert. In der Performativität der Person zeichnet sich folgende Korrelation ab: Wenn die persona oeconomica die Entität ist, die gemäß den bioökonomischen Technologien und dem sich als natürliche Logik des Lebenden aufzwingenden biopolitischen Darwinismus als würdig gilt, so besteht die Pein für diejenigen, die ›unwürdig‹, weil prekär, sind, im radikalen Ausschluss aus der polis oeconomica. SterbenLassen wird zum Kollateralschaden. Das Problem ist, dass das prekäre Subjekt selbst den Ausschluss als Selbst-Ausschluss und als Schuld interpretiert, die auf eine Unfähigkeit zurückgeführt wird, sich in Wettbewerb und Selektion durchzusetzen. Was ein einfaches Dispositiv der bioökonomischen Ordnung darstellt, wird in Bezug auf die persona oeconomica als ontologische Modalität interpretiert. Es gilt hingegen das Gegenteil: Allein gegenüber dem Apriori des Empowerments hat die ontologische Negativität des prekären Subjekts ihren Sinn. Erst das Empowerment bringt das prekäre Subjekt hervor, und zwar als ein Interessensubjekt, welches sich in der liberalen Ökonomie des 19. Jahrhunderts vollständig autorisiert; mit ihm kommt aber auch die prekäre Lebensform auf der Bühne des Sozialen mit der Figur des Flaneurs zum Vorschein – als Gegenpart zum bürgerlichen Subjekt. Wenn wir nun den Gegensatz Sicherheit/Prekarität betrachten und uns daran erinnern, dass die Zerstörung des prekären Subjekts sich als Korrelat des Empowerments der persona oeconomica vollzieht, dann finden wir in der Semantik des Prekären sein Gegenteil: die Sicherheit. ›Prekär‹ definiert in der Tat einen provisorischen Status, der frei von Garantien ist. Es ist der Status eines Subjekts, dessen Entwertung darin besteht, einem ungewissen, aleatorischen Werden un-
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terworfen zu sein, und darin, sich in einem »prekären Wohlstand«19 wiederzufinden, der riskiert, sich ins Schlechte zu verkehren.20 Die Entwertung der Prekarität bringt einen Zustand der Abhängigkeit mit sich, der Hilfsbedürftigkeit und folglich das Gegenteil der Autonomie des Subjekts. Gerade wegen seiner Heteronomie und seiner Instabilität scheint der prekäre Zustand das Gegenteil vom Subjekt des Empowerments zu sein, das seine Autonomie als unternehmerisches Selbst realisiert. Foucault hatte bereits die Aporie im Kontext der Unabhängigkeit des homo oeconomicus vom liberalen Staat aufgezeigt, der paradoxerweise das Regelwerk intensivieren muss, um die Freiheit des Marktes zu sichern (vgl. Foucault 2006). Die Paradoxie des Regierens radikalisiert sich mit dem Neoliberalismus des 20. Jahrhunderts, dessen reines Wettbewerbsprinzip politische Regelungen verlangt, die die formalen Bedingungen des freien Marktes sichern sollen. So konstituiert sich der Neoliberalismus unter dem Zeichen einer massiven gouvernementalen Intervention (vgl. Borsò 2013a).21 In seiner Einführung zur Vorlesung vom 14. Februar 1979, die dem deutschen Neoliberalismus gewidmet ist, nennt Foucault diese Intervention umso schwerfälliger und heimtückischer, als sie sich unter dem reinen Wettbewerb verschleiert (vgl. Foucault 2006: 185f.). Die Selbstbegrenzung des Staates, die den freien Wettbewerb sicherstellen soll, führt letztendlich zu einer »Marktökonomie ohne laissez-faire« (Foucault 2006: 188), das heißt einer aktiven, dirigistischen Politik, die heute Hand in Hand mit dem Regieren von Ökonomen in Banken und im Finanzsektor einhergeht. Die Paradoxien, denen die Ausübung von Freiheit des einzelnen Lebens unterworfen ist, sind also der persona oeconomica inhärent, denn der Anspruch des Einzelnen auf Freiheit und Schutz des unternehmerischen Selbst erfordert im Gegenzug, dass staatliche Prozeduren die Freiheit des Einzelnen sicherstellen (vgl. Foucault 2006: 97f.). 19
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Lebensverhältnisse unterhalb der Schwelle von 70 % des Durchschnittseinkommens werden als »prekärer Wohlstand« bezeichnet. Dieser geht mit Einschränkungen in zentralen Lebensbereichen sowie einer Armutsgefährdung in sozialen Risikosituationen einher (vgl. Statistisches Bundesamt 2006: 17). Prekär bedeutet unsicher, weil widerruflich. Im Lateinischen bedeutet precarius (zum Bitten gehörig) und precari (flehentlich bitten). Der deutsche Neologismus ist eine Entlehnung aus dem Französischen précaire (bittend erlangt, unsicher) und wurde während der napoleonischen Zeit erstmals gebildet (vgl. Kluge 2012: 646). Das neue Proletariat sei keine soziale Gruppe mehr, sondern ein Prekariat, nämlich eine »Zwischenzone« der Abhängigkeiten von Arbeitnehmern, die sich vervielfältigt haben (vgl. Vogel 2008). »Man sieht hier etwas, worauf ich gleich zurückkommen werde, nämlich dass schließlich, sosehr das Eingreifen der Regierung auf der Ebene der wirtschaftlichen Prozesse zurückhaltend sein soll, dieses Eingreifen im Gegensatz dazu massiv sein soll, sobald es um diese Gesamtheit von technischen, wissenschaftlichen, rechtlichen, demographischen, vereinfachend gesagt, gesellschaftlichen Gegebenheiten geht, die nun immer mehr zum Gegenstand des Eingreifens der Regierung werden« (Foucault 2006: 201).
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Die Fragilität der Person steigert sich in der persona oeconomica zum Extrem – nicht nur aufgrund der systematischen Gefahr der Veränderungen des ›Glücks‹ in der Finanzökonomie, sondern auch aufgrund einer inhärenten Instabilität: Die Vorstellung des Empowerments, die die persona oeconomica befördert, ist instabil. Das Subjekt wird durch das Gespenst dessen heimgesucht, was es eliminiert hat: nicht nur durch die Körperlichkeit – die man in der Alterität erfährt und die gleichsam wie das Trauma des Realen einbricht –, sondern vor allem durch die Relationalität, die auf der Erfahrung von Gemeinschaftlichkeit beruht und folglich auf der Erfahrbarkeit des Selbsts in der Relation zum Anderen. So ist paradoxerweise die Prekarität der persona oeconomica in den Akt der Autorisierung selbst eingeschrieben. Eine solche Prekarität hängt von den phantasmagorischen Zeichen ab, mit denen sie sich identifiziert – eine Phantasmagorie, die im Rahmen der Finanzökonomie und ihrer Derivate wächst.22 Kurzum: Es handelt sich bei der Prekarität um eine Fragilität, die der Entleerung der produktiven Funktion des Anderen geschuldet ist, sei dieses Andere der Staat, demgegenüber Subjektivierungsprozesse und Resistenzen möglich sind, oder der andere Mensch beziehungsweise die Technik, die Relationalität und damit auch Individuationsprozesse ermöglichen. Eingeschlossen im Gespenst der eigenen Stabilität ist die persona oeconomica von glattem Raum umgeben, der ohne die leiseste Andeutung des Anderen auskommt und der jedweder Möglichkeit von Aktualisierung und Transformation entbehrt.23 Vielmehr anästhetisiert sie sich in einer spiegelhaften Medialität, die das Ereignis des Unerwarteten und des Unmöglichen auslöscht – und mit dem Unmöglichen meine ich die Potenz, die die Öffnung gegenüber neuen Welten bedeutet. Ich werde auf die spiegelhafte Medialität und auf ihre Mediation zurückkommen. Wir müssen unter anderem die zerstörerische Performativität der persona oeconomica gegenüber beiden Formationen, nämlich der Person und der Nicht-persona oeconomica unterstreichen: Auf der einen Seite sehen wir ein isoliertes Subjekt des Empowerments, unfähig, sich auf der Beziehung zum Anderen oder auf der Antinomie zu ihm zu begründen – wo doch gerade die gouvernementale Relationalität die Individualisierung und die Subjektivierung ermöglicht hatte; auf der anderen Seite treffen wir auf ein prekäres, da solitäres Subjekt, das aus der Gemeinschaft ausgeschlossen ist. Erneut zeigt sich die Produktivität eines Kollapses der Konzepte und einer Sinnentleerung der Gegensatzpaare Sicherheit/Prekarität, Stabilität/Instabilität, 22
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Walter Benjamin transformiert den marxschen Begriff der Phantasmagorie der Ware (ein Trugbild, in dem die Produktionsverhältnisse unsichtbar werden) als ein Bewusstsein, das seine eigene Struktur verbirgt (vgl. Benjamin 1982: 55). Insoweit korrespondiert das Phantasmagorische mit der Analyse des Phantasmas gemäß Lacans Marx-Lektüre (vgl. Lacan 2006) beziehungsweise des marxschen Gespensts im Sinne Derridas (vgl. Derrida 2003). So etwa im Kapitel »Intensiv-Werden, Tier-Werden, Unwahrnehmbar-Werden« in Deleuze/Guattari (1997: 217-421).
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Bestimmtheit/Unbestimmtheit. Prekäres Leben ist der doppelte Preis für die Kapitalisierung des Lebens: In der Form der persona oeconomica ist der Preis, den es zu bezahlen gilt, der Verlust der Möglichkeit zu Subjektivierungs- oder Individuationsprozessen und die Produktion ihres Korrelats, das prekäre Subjekt ohne Bleibegarantie oder -recht. Aber dieser Zustand ist allein beklagenswert im Hinblick auf jene Schwelle der Würde des Lebens, die durch die persona oeconomica, das unternehmerische Selbst, definiert wird. Letzteres sieht in der Prekarität eine negative Ontologie, nämlich diejenige der Nicht-Person, die sich in der Not befindet, um Gaben zu bitten.
Fluchtlinien aus der Prekarität – Unbestimmtheit Ist die Semantik der Prekarität aus der Verbindung Sicherheit/Prekarität befreit, die den prekären Zustand in Lebensformen und ihrer Wert- und Entwertungslogik fixiert, und dann in die Unbestimmtheit des Lebendigen zurückgeführt, so kann sie auch umkippen. Die Instabilität ist der Zustand, den es zu durchlaufen gilt, damit sich die Erfahrung der Gabe, der Öffnung gegenüber dem Anderen, ereignet; es ist die personale Unsicherheit, die dem Körper Präsenz verleiht, jener Zustand der Vulnerabilität, der sich dem Antlitz des Anderen öffnet, um es mit Emmanuel Levinas zu sagen (vgl. Levinas 1987). Und es ist die Unbestimmtheit, die für die Potenz der Relationalität offen macht, die Potenz einer Virtualität, deren Vollzug nicht der Integration eines Kommunikationssystems bedarf, sondern Sprachgestus bleibt (vgl. Levinas 1998). Es ist die Intensität der Gesten, wenn die Zeichen noch die Potentialität des Unmöglichen aussprechen. Es ist schließlich jene psychomotorische Kontingenz, von der Niklas Luhmann wusste, dass sie notwendigerweise in der Kommunikation reduziert werden muss. Kommunikation war für Luhmann, wir erinnern uns, die Fiktion eines gelungenen sozialen Austauschs (vgl. Luhmann 1998: 156). Wenn die volle Figur des Interessensubjekts, das unternehmerische Selbst, in die ›anästhetisierende‹ Watte der Identität eingehüllt ist, um es mit einer Formel Vilém Flussers zu sagen (vgl. Flusser 1994), so öffnet die Erfahrung der Prekarität des Eigenen, der eigenen Instabilität, die Sinne für die Körperlichkeit des Erfahrbaren, für das Getroffen-Werden von der Krise des skopischen Regimes, von ihrer Entfremdung, die Charles Baudelaire im Blick des Flaneurs suchte, im Blick dessen, der unter den Bedingungen der Prekarität, der Bedingung der – aus bürgerlicher Sicht betrachtet ‒ Krankheit lebt.24 Mit dieser 24
Und tatsächlich hat er auf genau diese Weise den ausgehungerten, offenen Blick Constantin Guys beschrieben: Die Phänomenologie der Menge als Bewegung ist der Ausgangspunkt Baudelaires bei der Beschreibung des Blickes von Constantin Guys in Der Maler des modernen Lebens. Hier findet sich das zentrale Moment der Transformation von Subjektivität. Die
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Erfahrung beginnt man, so Flusser, die Daten des Sensiblen einer neuen, einer anderen Welt zu ›prozessieren‹ (vgl. Flusser 1994). Auch Lyotard bezeichnet die Ästhetik des Ereignisses als jenen Modus, in dem das fragile Subjekt25 von der Materialität der Daten abhängig wird. Erst in dieser ›Abhängigkeit von der Umwelt‹, die den Sinnen zu eigen ist, besteht eine Bereitschaft, das Zuvorkommen des Ereignisses zu erfahren. Die sinnlichen Daten sind nicht etwa Gegenstände der Erkenntnis; sie ereignen sich vielmehr ausgehend vom Stoff oder Fleisch der Welt und fließen auf das Subjekt zu, ohne dass reflektierende Urteile sie strukturieren oder mit Bezug auf eine vorbestimmte Gesetzmäßigkeit synthetisieren können. In den Sinnesdaten spielt bekanntlich die Kontingenz eine zentrale Rolle, die Lyotard produktiv, nämlich als gesteigerte Wahrnehmung des Partikulären deutet (vgl. Lyotard 1989: 48). Genau diese Instabilität ist die Modalität des Sich-Öffnens für die sensoriell-ästhetische Erfahrung, die die Transformation des Regimes der Sinne erlaubt. So hat es Jacques Rancière für die »Szenen des ästhetischen Regimes der Kunst« gezeigt (vgl. Rancière 2006; 2013). Es sind jene Transformationen, die das Zusammenspiel unserer Wahrnehmungen, Empfindungen und Interpretationen verändern. Sobald wir die Essenz des Gegensatzpaares Sicherheit/Prekarität dekonstruiert haben, berühren wir tangential die Problematisierung der Prekarität, wie sie sich bei Judith Butler findet (vgl. Butler 2004). Letztere unterscheidet zu Recht zwischen precarity auf der einen Seite, verstanden als soziopolitische Abhängigkeit und Erforschung des Menschen durch das Establishment, im Speziellen des globalen Kapitalismus, und precariousness auf der anderen Seite, definiert als Ethos des Respekts gegenüber der Fragilität des Lebens, repräsentiert durch das Antlitz des Anderen (vgl. Levinas 1987). Meine Fragestellung geht jedoch noch weiter. Sie beschränkt sich nicht auf einen ethischen Appell; sie konstatiert vielmehr die Fragilität des Lebens als ästhetische Erfahrung des empfindsamen (sensiblen) Subjekts,
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Menschenmenge und sich stetig verändernde Eindrücke in der modernen Stadt machen das Subjekt instabil. Mitten in der Menge der Passanten, ist der Mensch wie ein Rekonvaleszent, der nach langer Krankheit alle Freude des Lebens genießen möchte: »Zuletzt stürzt er sich in die Menge, einem Unbekannten nach, dessen flüchtig wahrgenommenes Gesicht ihn unversehens in Bann geschlagen hat« (Baudelaire 1989: 220). Vgl. dazu Borsò (2016). So beschreibt Lyotard das ästhetische Subjekt, das für das Ereignis offen ist: »Machen wir uns schwach und krank, wie Proust es tat, oder verlieben wir uns ernsthaft, gerade genug, um Tauben geräuschlos landen zu hören. In diesem Zustand verbleibt Cézanne lange regungslos, während sein Blick unaufhörlich die Montagne Sainte Victoire absuchte, das Auftauchen dessen erwartend, was er ›kleine Sensationen‹ nannte, und das sind reine Geschehnisse (occurrances) unerwartete Farben […] Weder aggressive Autonomie noch spontane Phantasie ermöglichen ein solches Aufblitzen« (Lyotard 1989: 45). Zur Ästhetik des Ereignisses vgl. Borsò (2018).
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das offen ist für die Welt, und zum anderen die Aporie des Gespenstes des Empowerments – ein Gespenst, das, nachdem es die Fragilität des Lebens verdrängt hat, das Subjekt in seinem Innern überfällt.
Medien, Medialität, Mediationen Die sensorielle und aisthetische Erfahrung geht aus dem immanenten, von potentiellen Bewegungen und Kräften durchdrungenen Raum der Materialität hervor und verleiht der Medialität einen je spezifischen Sinn. In diesem Raum sind Subjekte und Objekte nicht zentriert – Deleuze spricht in der Tat vom Subjekt als »lebende[r] Materie«, als einem »Indeterminationszentrum« (Deleuze 1997: 91, 97).26 Die Unbestimmtheit der Materialität des Medialen, aus der Artikulationen erst hervorgehen, nennt Deleuze le milieu, »die Mitte«. Sie ist der degré zero des Medialen. In der Materialität differenzieren und transformieren sich Medienformen. Diese Prinzipien begründen auch Deleuzes Bildtheorie des Kinos, in der Wahrnehmung und Subjektivität nachträgliche Ergebnisse vorgängiger Operationen sind.27 Schon das wahrgenommene Bild ist nachträglich, es ist die erste Stufe der Kadrierung.28 Im Sinne von Bergsons perception pure umschreibt Deleuze die Perzeption als »Rhema«, als ein Bild, das fließen muss (»qui doit s’écouler«).29 Der Raum der Bilder ist deshalb ein ›Dazwischen‹, ein materieller Übergang30 im Werden des Bildes und im Werden ausdifferenzierter Medienformen. In der Unbestimmtheit der 26
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Auch Judith Butler definiert Materialität als Ebene von Konsistenzen, Energien und Affekten (vgl. Butler 1995: 31). Butlers Position impliziert eine Theorie der Subjektivierung, die eine Materialität ohne Matrix voraussetzt. Ähnlich der Kognitionstheorie problematisiert Deleuze im zweiten Bergson-Kommentar eine »natürliche« Stufe der Wahrnehmung (vgl. Deleuze 1997: 85). Die Kritik richtet sich auch gegen Husserls Sinnintentionalität. Letztendlich sind für Husserl Standort und Leibgebundenheit unbedeutend (so auch Waldenfels 2006). »Bergson zufolge [wird] dieselbe Entwicklung, die die Materie zu Feststoffen organisiert, das Bild in immer differenziertere Formen der Wahrnehmung bringen, die die Festkörper zum Gegenstand hat« (Deleuze 1997: 93). »[Das Rhema reflektierte] ein sich verflüssigendes und über den Rahmen hinausgehendes Bild. Das Kamerabewusstsein würde ein Rhema, weil es sich in einer fließenden Wahrnehmung realisierte und so materielle Bestimmtheit – den Materiestrom – erreichte« (Deleuze 1997: 114). Mit Rückgriff auf Vertov bezeichnet Deleuze die Mitte als Intervall. Gegenüber dem Zeitintervall sind alle Formen des Mediums nachträglich, ja sie sind Übergänge zu verschiedenen Sprach- oder Bildtypen, die im ersten Band zur Kinotheorie beschrieben werden: Wahrnehmungsbild, Affektbild, Triebbild (Vermittlungsinstanz zwischen Affektion und Aktion), Aktionsbild, Reflexionsbild (Vermittlungsinstanz zwischen Aktion und Relationsbild) (vgl. Deleuze 1997). Im Aktionsbild transformiert sich das Intervall zum stabilen Zentrum eines sensomotorischen Schemas (vgl. Deleuze 1999: 50).
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materiellen Dimension ist die ›reine‹ Potenz zu finden, nämlich die Möglichkeit, eine Form zu werden oder für die Potentialität aller Formen offen zu bleiben. Erst im Prozess der Materialisierung werden Begrenzungen und Differenzierungen, Festigkeit, Oberfläche, Dichte et cetera hervorgebracht. Ästhetische Überschüsse, Resistenzen, Opazitäten können dabei kodifizierte Rahmungen unterbrechen, das Einfrieren der Bewegung (beziehungsweise die Mortifizierung des Lebens) in einem Bild verflüssigen und die Potentialität medialer Übergänge wieder sichtbar machen. In dieser Dimension des Materiellen liegt der Übergang von der Metaphysik des Sinns zur Immanenz des Sinnlichen, in der Bewegungen, Intensitäten und Kräfte diesseits des Sinns denkbar sind. Erst hier, in der Materialität des Medialen, können nicht nur Widerstand, sondern auch eine Ontologie der Relationalität und der Potentialität von Handlungen gedacht werden. Das Mediale kann sich aber schließen und zu einem Übertragungsraum zwischen separaten Medienformen werden. Dies ist der Regelfall bei der Konnektivität der Medien. Konnektivität heißt – so auch Michel Serres –, dass die topologische Komplexität und Vektorialität diagrammatischer Netzwerke auf die geometrische und klassisch lineare Übertragung zwischen separaten und geschlossenen Identitäten zurückgeführt wird, bei denen keine Reversibilität mehr gegeben ist (vgl. Serres 1991: 15). Die Vernetzungen basieren auf Linearität, räumlicher Statik und temporaler Irreversibilität. Die in verschiedene Richtungen gehenden, potentiellen Vektoren, die das diagrammatische Netz konstituieren, kommen hier zum Stillstand.31 Dieser Fall der Kommunikation stellt nach Serres einen Sonderfall des Netzwerkes dar, dessen geometrischer, kartesianischer Raum durch die Projektion einer eingeschränkten Perspektive entsteht (vgl. Serres 1991: 12). Eine derartige Kommunikation setzt Distanz voraus beziehungsweise produziert diese. In diesem Sinne unterscheide ich zwei unterschiedliche Modalitäten des medialen Raums: Auf der einen Seite finden im Raum der Konnektivität Übertragungen statt, welche die Formen globaler Kommunikation ermöglichen. Es ist der Raum der Globalisierung, verstanden im Sinne einer Weltgesellschaft,32 in der die Kommunikation funktional-integra31
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In der Topologie des diagrammatischen Netzes gibt es Situationselemente mit einem lokalen Determinationsvermögen, das das Lokale räumlich ausbreitet. Es kommt zu Abwandlungen des Determinationsflusses, zu Gruppierungen und zeiträumlichen Transformationen. Wir haben es mit einer Topologie zu tun, die Michel Serres »Philosophie der Relationen« nennt (Serres 1995: 293), bei der die Kräfte entscheidend sind. Dies zeigt die Dynamik der Raum- und Zeitdeixis in der Sprache, wie die Präpositionen oder Relationsverben: »auf, in, […], hin zu, […], gegen, unter, gemäß, […] entsprechend« (Serres 1995: 142ff.). Das Netzwerk ist ein fundierender Begriff in Stichwehs Konzept von Weltgesellschaft. Netzwerk wird hier aber als Verknüpfung zwischen Individuen und als Ermöglichungsraum von Handlung verstanden. An Netzwerken nehmen Individuen durch interessentypische Selektionen teil und kommunizieren zugleich auf Distanz und durch indirekte Beziehungen. Die Umwandlung in direkte Verbindungen würde eine Beendigung der Kommunikation zur Folge haben. Mit Netzwerken meint Stichweh die effektive globale Interrelation, die von einer
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tiv ist und Metaprozesse unterstützt, welche Widersprüche und Konflikte reduzieren oder ausschließen.33 Metaprozesse sind dazu geeignet, psychosensorische Friktionen der Kommunikation einzugrenzen und tendieren dazu, körperlich-materielle Prozesse einzudämmen, ja den Körper zu ›anästhesieren‹.34 Diese Kommunikationsform basiert auf Distanz oder produziert diese. Sie fördert einen Fetischismus der Technologie und die wachsenden Bedürfnisse nach Konnektivität, ja Konnektivitätspulsionen, die die Libido einbinden. Auf der anderen Seite können ästhetische Mediationen einen materiellen Sensibilitätsraum eröffnen, in dem Intensität, Nähe, Relationalität zum Partikulären und in Bezug auf die Welt eine eigene Kräftedynamik erzeugen. Eine Ontologie und eine Politik des Materiellen und Sinnlichen jenseits der Trennung von Subjekt und Objekt wird hier möglich (vgl. Massumi 2010), in der, wie bei Deleuze, biologische Körper mit dem Sozialen verbunden sind. Subjektivitäten sind dabei als Antwort auf Affekte, auf die körperliche Ansprache und Nähe des Anderen zu sehen, sei es human, nicht human oder ein Ding. Zwei Dinge sind deshalb zu bedenken: Der Konnektivitätsraum ist der Ort, an dem sich narzisstische Interessensubjekte bilden können, deren LibidoInvestitionen infolge steigernder Konnektivität vom Diktat des globalen Marktes gesteuert werden. In diesem Raum ist die Kommunikation tendenziell dematerialisiert und die affektive und körperliche libidinöse Dichte, die die Ökonomie in Gefahr bringt, reduziert. Das Leben – Menschen wie Dinge – sind tendenziell
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(intensiven) »globalen Interaktion« zu unterscheiden wäre (vgl. Stichweh 2000: 258f.; 2008). Globale Interaktion setzt in Stichwehs Verständnis ein lineares Netzwerk-Konzept voraus, in dem durch effiziente Funktionalisierung Geräusche, Störungen, Kontingenzen des diagrammatischen Netzwerkes (vgl. Serres 1994) zum Stillstand gebracht wurden. Zu soziologischen Netzwerk-Begriffen vgl. Baecker (2007: 226f.); zur Kritik von Weltgesellschaft als Kulmination des westlichen Rationalisierungsprozesses vgl. Vietta (2016). Funktionsgrenzen begründen Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und sind Voraussetzung zur Steigerung der Autopoiesis des Systems. So artikuliert Serres seine Kritik der Transformation der globalen Kommunikation, die die diagrammatische Kommunikation möglichst zum Stillstand bringt: Panoptes und Pan, die Halbgötter, die das Sehen und Hören bestimmen, haben nacheinander die Welt beherrscht. Die Argus-Augen von Panoptes behaupten die eigene beobachtende Präsenz und töten das Eigenleben des Beobachteten bis hin zur biopolitischen Überwachung auf dem Globus; Pan, der mit dem betörenden Geräusch Subjekte einschläfert, hat die dissidente Funktion verloren, die die symbolistische Poesie ihm zuschrieb. Aufgrund der Netzwerk-Übertragungen übt er vielmehr eine ubiquitäre Macht aus und übertönt sämtliche singuläre Räume durch eine Geometrie der Botschaft (vgl. Serres: 1994: 53), und dies verbindet sich in verheerender Weise mit der Ichnographie des Auges. Heterotopien wie das Fest oder der Karneval sind zum uniformen anästhetischen Erleben geworden. Vermittels globaler Konnektivität siegt mit Panoptes und Pan die Uniformität des Globalen über die einzelnen Sinne am Ort (vgl. Serres 1994: 55). Selbst Hermes, der Gott der Kommunikation, ersetzt alle lokalen Stationen durch ein ubiquitäres Zentrum (vgl. Serres 1994: 58).
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körperlose Zeichen, denen ökonomische Werte zueigen sind. Das Reale – das heißt der nicht symbolisierbare Tod – kehrt als Gespenst im Spiegelbild zurück (vgl. Žižek 1999b). Wenn der Andere in der narzisstischen Ökonomie des Subjekts vernichtet ist, dann erschöpft sich auch die Quelle des Begehrens und des Affekts. Anders gesagt: Es fehlt das Ereignis, welches uns betrifft und uns zum Antworten verleitet. So zerfällt ebenso der Bereich der Kräfte, die die Prozesse der Subjektivierung und des Widerstandes ermöglichen (vgl. Butler 2009). Die Mediation vollzieht sich in der Spiegelhaftigkeit des Mediums, welches dem Subjekt das narzisstische Bild vorhält, welches in der Logik von Identität und Differenz gefangen ist; einer Logik, die zugleich separierend und isolierend ist und die gerade den Strategien einer bioökonomischen Politik gehorcht. Natürlich sind beide Modalitäten dieser Räume – die sinnlich-materielle Produktion und die Konnektivität – nicht zwei voneinander getrennte Welten, die sich auf zwei Blöcke – die Medien und die ästhetischen Formate – verteilen. Sie sind eine diskontinuierliche Modalität des Mediengebrauchs, vom Raum der Mediation und der Produktion, wo die Investition des Begehrens möglich ist, hin zu einem Dispositiv der Konnektivität. Eine Mauer kann zu einer Mediation werden, zu einem differentiellen Raum der Repräsentation – womit ich mich auf Henri Lefevbre beziehe (vgl. Lefevbre 1974) – so wie es die Aufschriften auf der Plaza del Sol gewesen sind, die Ignacio Ramonet in Le Monde diplomatique (vgl. Ramonet 2011) gesammelt hat, noch bevor die Medien aus ihnen Diskurse der Konnektivität gemacht haben (vgl. Borsò 2013b). In den Motti, die Gomorra (vgl. Saviano 2006) einleiten, bezieht sich Roberto Saviano auf die umstrittene Kraft von Scarface (1983), dem Film von Brian de Palma, der sich mit Mitteln der Pop-Ästhetik gegen die Mythen Hollywoods richtet. Alle Mediationen, auch die der Werbung (vgl. Coccia 2017), können zu einem Raum der Produktion werden, wenn man den Blickwinkel verändert (vgl. Coccia 2012).
Epigraph: Baudelaire – Die Unbestimmtheit der Mediation und der Blick auf das prekäre Leben In Das falsche Geldstück lesen wir folgenden Abschnitt: Ich blickte ihm tief in die Augen, und sah mit Entsetzen, dass seine Augen von unbestreitbarer Treuherzigkeit leuchteten. Da erkannte ich denn, dass er zugleich ein Almosen geben und ein gutes Geschäft machen wollte; zwanzig Groschen und Gottes Herz dazu gewinnen, das Paradies erknausern und zuletzt noch kostenlos als ein Wohltäter dastehen wollte. (Baudelaire 1985: 223) Baudelaire, der die Erfahrung der Prekarität gemacht hat, scheint uns an die Rechnung zu erinnern, der wir uns in einer unvermeidlich auf die Strategien des Mark-
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tes ausgerichteten Welt nicht entziehen können. Der Erzähler dieses Kleinen Gedichts in Prosa beschuldigt einen naiven Wohltäter, falsch zu sein, wenn er einem Bettler Falschgeld schenkt, auf den Profit von vierzig Geldstücken schielt und zugleich unter dem Anschein der Philanthropie gratis das Herz Gottes erobern möchte. Wie aktuell dieser Text ist, dies zeigt die wachsende Bedeutung der corporate philanthropy im Sinne einer Tugend, die diejenigen erweisen, die mit Spenden die ausstehende Schuld gegenüber der wachsenden Prekarität des Lebens zu begleichen versuchen und sich zugleich als erfolgreiches Mitglied der Unternehmer- und Finanzwelt identifizieren. In seiner Interpretation mit dem Titel Falschgeld. Zeit geben I formuliert Jacques Derrida die Verbindung zwischen Ästhetik und Ethik der Gabe, die darin besteht, zu geben, ohne zu erwarten – und zwar weder die Erstattung der Gabe, noch die Vergrößerung des symbolischen Kapitals, das die Gemeinschaft an die Gabe bindet (vgl. Derrida 1993). Ein derartiges, funktionalistisches Konzept der Gabe ist aporetisch, so Derrida. Deren Voraussetzung, nämlich das Kalkül eines rationalistischen Subjekts, zerstört die Gabe als Gabe. Derrida zeigt das Nichts im Zentrum der rationalistisch-funktionalen Logik der Gabe auf und ›ent-setzt‹, i.e. setzt außer Kraft, die (nach Benjamin) mythische Gewalt des rationalistischen Kalküls. Die Gabe ist dagegen das Ereignis der Zeit – ein Ereignis, in dem das Subjekt erst aus der Relation zum Anderen hervorgeht. Gegen die marxsche Definition der Arbeit im Sinne des Gebrauchswerts35 ist also eine Ästhetik und Ethik der Arbeit als Ereignis des Zeitgebens zu formulieren. ›Der Zeit Zeit geben‹ ist nämlich die gegenläufige Bewegung des (schon für Baudelaire bürgerlichen) strategischen Kalküls, das die Gabe der Logik des Profits unterstellt und die Ökonomie der Zeit erzwingt, nämlich Zeit zu sparen oder zu gewinnen. Das Ereignis der Gabe bedeutet deshalb auch das Sich-Ereignen einer Eigenzeit, der Zeit der Ent-Werkung, der Außerkraft-Setzung der Verquickung von Nutzen und Arbeit. Die Gabe einer Eigenzeit könnte der ökonomischen Sackgasse von Tausch, Verpflichtung und Schuld entkommen (vgl. Rabaté/Wetzel 1993). In eigenen Begriffen formuliert: Es ist die Aufgabe der Kunst, die Unbestimmtheit wiederherzustellen und das Werden im raumzeitlichen Fluss und in den Fluchtlinien jenseits der Trennlinien anzustreben. Mag die Unbestimmtheit in der sozialen Kommunikation auch unmöglich sein – oder wenigstens wenig nützlich –, so ist sie dennoch die sinnlich-materielle Bedingung der ästhetischen Erfahrung. Ich meine damit die Erfahrung, die – angefangen bei der biologisch sinnlichen Materie – jeden von uns zur Entscheidung aufruft, ob wir dem prekären Leben mit dem Falschgeld des Leihens und des Schuldens begegnen wollen oder ob sich unsere Art und Weise, die Prekarität anzugehen, in echte Münzen 35
Mit seiner Ablehnung des Begriffs der marxschen Arbeit weist Derrida auch die Theologie des Gebrauchswerts hin, die lediglich eine Variation des Kalküls ist, das im Tauschwert enthalten ist.
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verwandeln lässt, indem wir dem Ruf des Unmöglichen antworten, indem wir uns verändern. Und ich schließe mit den Worten Baudelaires:
Konnte es [das falsche Geldstück] sich nicht in echten Geldstücken vervielfältigen? Konnte es ihn nicht auch ins Gefängnis bringen? […] Und so ließ ich meiner Phantasie die Zügel schießen, lieh meinem Freunde Geistesflügel und zog alle nur denkbaren Schlüsse aus allen nur denkbaren Hypothesen. (Baudelaire 1985: 223) Aus dem Italienischen von Lilja Walliser
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Update On Contemporary (Neoliberal) Governmediality Samuel Sieber
According to the promises of marketing campaigns and advertising, the power of present-day media technology is certainly not to be underestimated. Seemingly, many of the complex contemporary challenges discussed in this volume, such as the crises of economies and representation, a general lack of political vision, the rising claims of active citizens’ participation worldwide, or the manifold defiance of life’s precariousness, could be tackled by modern digital devices. Samsung’s 2013 flagship smartphone Galaxy S4, for example, was advertised to be much more than just a smartphone. Rather, it claimed to serve as a »life companion«, not simply acknowledging life in general, but making said life »richer, simpler, and more fun«. Designed to »simplify our daily lives«, the mobile device is simply »there for you« while monitoring »our health and well-being« (Fig. 1). Figure 1 – »Life companion«: Microsite for the Samsung Galaxy S4
Furthermore, it pledges to tend to the presumably lost virtues of community and coexistence in a fully globalised world. The Galaxy S4 is »all about together-
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ness«, it »helps bring us closer« and it »captures those fun moments when we are together« (Fig. 2).1 Figure 2 – »All about ›togetherness‹«: Microsite for the Samsung Galaxy S4
Indeed, such a self-assuring notion of technological capacity is part of the political and media feel-good rhetoric quite rightly rendered problematic by the chapters of this book. Undoubtedly, the promises of the industry’s advertising aim at whitewashing a much more complex power of modern digital technology. A smartphone such as the Galaxy S4 is part of a dispositif of power2 in the Foucauldian sense. First and foremost, both the supposedly individual S4-users and their alleged community must therefore be considered as highly overcoded biopolitical and neoliberal figures. The life through which the smartphone offers to accompany us, for instance, is one filled by daily tasks and lifelong projects including our health and fitness, the advertising thus promoting »Life Task« and »Life Care«. Similarly, it is surely no coincidence that the communities the Galaxy S4 believes to connect remain an oddly undetermined »togetherness« (cf. Samsung Electronics 2013). 1
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Samsung’s Galaxy S4 was introduced in mid-2013, the quotes are taken from the device’s global microsite (cf. Samsung Electronics 2013). Its successor, the Samsung Galaxy S5 presented in early 2014, put forward similar messages such as to »support a healthier lifestyle« or to better »capture lifetime moments« (cf. Samsung Electronics 2014). Throughout this article, I prefer the original Foucauldian term of the ›dispositif‹ over the more common English translation of the ›apparatus‹, since the latter suggests a primarily technological efficacy, especially in the field of (digital) media. Against this, a dispositif according to Foucault describes »a thoroughly heterogeneous ensemble consisting of discourses, institutions, architectural forms, regulatory decisions, laws, administrative measures, […] – in short, the said as much as the unsaid« (Foucault 1980: 194). As such, the concept of dispositifs is applicable both to specific media technologies and broader political or social phenomena influenced by media (cf. my detailed discussion of media dispositifs in Sieber 2014: 63ff.).
Update
Paradoxically, both the individual and communal life the smartphone claims to optimize are heavily afflicted by equal or similar media technologies. Jacques Derrida very aptly describes this genuinely political displacement caused by new media: What the accelerated development of teletechnologies, of cyberspace, of the new topology of »the virtual« is producing is a practical deconstruction of the traditional and dominant concepts of the state and citizen (and thus of »the political«) as they are linked to the actuality of a territory. (Derrida 2002: 36) Smartphones such as Samsung’s Galaxy S4 thus promise no less than to patch the very cracks they – together with antecedent media devices – have caused. The rapid and expansive globalization, the loss of any connection to the local, smouldering protests from the Arab Spring to the worldwide Occupy movements, or the peculiar international simultaneity of popular uprisings, are undoubtedly part of a political age heavily challenged by increasingly mobile media and expanding digital networks. It therefore comes as little surprise that the public indignation and incomprehension discussed in this book are not only voiced in, but particularly also on modern media. The political provocation of digital devices and networks lies in the mediality of media, precisely in the initially undetermined intermediate space which has modified political forms of communication and community from early cuneiform to the modern internet in different ways. It is therefore no coincidence that so called media revolutions become highly popular figures of speech in times of crises and catastrophes, wherever revolts and uprisings erupt. New media constantly render precarious that which Jean-Luc Nancy characterizes as the political experience of community (cf. Nancy 2000). One of Nancy’s more recent diagnoses precisely underlines this contemporary challenge which is, in fact, strongly media-related: On the one hand, there is the exposure of the world and, on the other, the end of representations of the world. This means nothing short of a transformation in the relation [that we name] »politico-philosophy«: it can no longer be a matter of a single community, of its essence, closure, and sovereignty; by contrast, it can no longer be a matter of organizing community according to the decrees of a sovereign. […] Community is bare, but it is imperative. (Nancy 2000: 35f.) In what follows, I will try to develop the thesis that at the very point of this fragile and precarious experience of community, the flexible and agile technologies of governmentality critically studied by Michel Foucault step in. Here, governmental dispositifs focus specifically on media in order to strategize, shape, operationalize, and control them. The previously discussed biopolitical and neoliberal notion of life companions is but one of many examples suggesting a vivid interplay of both media-based and political technologies of government. It is precisely this powerful
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connection I am attempting to convey with the term governmediality. In accordance with Foucault’s analysis of liberal and neoliberal governmentality, current phenomena of governmediality furthermore incorporates permanent processes of replacement and optimization in digital media’s culture and aesthetics. Therefore, the update figures as an accurate metaphor of a contemporary neoliberal governmediality.
Governing Media With the successful establishment of Twitter as a short, yet widely distributed and often topically leading medium, URL shortening services saw a substantial boom. By way of example, the service bitly offers to shorten long web addresses to brief letter sequences. Undoubtedly also convenient for everyday communication in emails, social media such as Facebook or YouTube, or on mobile phones, the short bitly addresses came in especially handy given the enforced brevity of tweets. In 2013, bitly was testing an extension of its services, allowing one to express feelings and opinions as part of the shortened URLs. Instead of the standard bitly, the indexical letter codes are preceded by abbreviations such as oppos.es/(expressing rejection), wtfthis.me/(signaling stunning surprise), or iwantth.is/(showing buying interest) (cf. Bitly enterprise o. Z.). In a way, both public indignation and approval herein shifted from the rather content-oriented browser-window to the hitherto mere locatory address bar. Figure 3 – Re-Territorializing the Web. Advertising Brochure for Bitly Enterprise
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However, bitly intrinsically serves another purpose: As the company’s advertising brochure diagnoses, »The web has become fragmented«, and it is supposedly only to be reunited with the help of bitly enterprise. The brochure is illustrated programmatically with two layering lines bringing to mind both the nodes and edges of communicational networks, and the pragmatic visualization of statistical data often encountered in business contexts (Fig. 3). Evidently, bitly never only served the user-friendliness of constantly expanding and increasingly complex digital networks. Unlike most regular web addresses, its shortened URLs, so called bitmarks, are traceable by their authors. How many times a bitmark is clicked, from which pages users are coming, and where they are heading after visiting a bitmarked webpage is available from individual stats pages – optionally processed as visualized graphs ready to fine tune advanced marketing strategies. The brochure promises »unparalleled business insight from the world’s largest social link sharing service« and to »increase social media traffic – and revenue – by finding the best-performing content with real-time reporting« (Bitly enterprise 2013: 2ff.).3 Bitly’s pledge to defragment and reunify the web in the name of trend analysis and marketing ploys is one of many current tactical strokes aiming to structure and organize the manifold and tortuous forms of online communication. So-called social media, generally perceived as democratic, free, and thus uncontrollable, require specific tactics to re-establish control mechanisms and maintain their productivity, both in a political and economic sense. As such, bitly’s understanding of a fragmented web and its urge to re-territorialize it dovetail an era of governmentality as Michel Foucault described it: First, by »governmentality« I understand the ensemble formed by institutions, procedures, analyses and reflections, calculations, and tactics that allow the exercise of this very specific, albeit very complex, power that has the population as its target, political economy as its major form of knowledge, and apparatuses of security as its essential technical instrument. Second, by »governmentality« I understand the tendency, the line of force, that for a long time, and throughout the West, has constantly led towards the pre-eminence […] of the type of power that we can call »government« and which has led to the development of a series of specific governmental apparatuses (appareils) on the one hand, [and, on the other] to the development of a series of knowledges (savoirs). (Foucault 2007: 144) 3
Bitly was and remains but one of several major actors engaged in collecting, analyzing and selling user data for marketing strategies or political campaigns. The ubiquitously deployed Google Analytics, marketing tools like MailChimp or Google AdWords and AdSense, or the use of Facebook user data in electoral campaigns bear witness to similar re-territorializing, governmedial strategies.
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Bitly draws on the statistical calculations and visualizations tracing – according to Foucault – back to the early demographic policies in the eighteenth century. It proposes vast digital networks as a seemingly manageable and thus controllable framework. Finally, bitly acts as an apparatus of security by directing the tangled, quasi-rhizomatic rampancy of the web into channels which can be both monitored and governed. It is for these discursive, yet incredibly powerful and effective governmental uses of media that I propose the concept of governmediality. The term originates from the works of German scholar Christoph Engemann, who, however, tends to use it with regards to the narrower field of a state’s interdependence with (digital) media: Both individuals and the state obtain their knowledge of themselves and of others via media, and this knowledge is the object of modern governments. The knowledge to govern is unthinkable without media, and modern governments are characterized by involving media in their politics. Governmediality is the attempt to grasp the interrelationship between media and governmental policies considering this political relevance of media. (Engemann 2013: 211) The indispensable role of media for governmental technologies has also been referred to by Peter Miller and Nikolas Rose, who subsume informational technologies as part of the many »humble and mundane mechanisms« characterizing modern forms of government: To understand modern forms of rule, we suggest, requires an investigation not merely of grand political schemata, […] but of apparently humble and mundane mechanisms which appear to make it possible to govern: techniques of notation, computation and calculation; procedures of examination and assessment; the invention of devices such as surveys and presentational forms such as tables; the standardization of systems for training and the inculcation of habits; the inauguration of professional specialism and vocabularies; building design and architectural forms – the list is heterogeneous and is, in principle, unlimited. (Miller/Rose 2008: 32) While both Engemann’s concept of governmediality and the claim for a finely woven analytical perspective by Miller and Rose validly emphasize a certain role of media technologies for modern governments, I make the case for a somewhat broader conception of governmediality, focusing on an earlier stage. Observing how a state utilises different media, or, less specifically, recognizing computational, calculatory, communicational, or informational technologies at work in any governmental setting, tends to skip the crucial moment when media itself becomes articulable and visible – and thus applicable – according to governmental principles.
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Therefore, I call governmediality the process of orchestrating different media as a means to govern; for instance, as instruments of conducting, agents of control, administrative machines or management tools. Many popular catch phrases of the digital realm, such as collective intelligence, (online-)communities, swarms, or social networks, appear to be circling around precisely such phantasms to monitor and govern the self as well as others (cf. Sieber 2014: 179ff.). Present-day governmediality is therefore observable not only in specific devices or applications like Samsung’s Galaxy S4 or bitly, but on a much larger scale of current digital culture and aesthetics. There are, however, other indications that further detail contemporary governmediality. Digital media is predominantly characterized by its extensive configurability and dynamic development. Since Apple’s famous advertising for the iPhone 3G, »There is an app for that«, computers, tablets, and smartphones not only require constant updates and optimization from App- and Play Stores. Rather, they are composed and framed from different applications, social networks, and multimedia formats, thereby gaining their allegedly individual and up-to-date status. This most flexible and dynamic configurability of digital media is essentially prototypical for a neoliberal governmentality as Foucault discussed it in the second part of his governmentality lectures. Present-day governmediality is, as I will discuss below, strongly coined within a neoliberal framework.
Update on Neoliberal Governmentality It may at first appear paradoxical that Foucault – after having convincingly established the almost entirely unbreached power of the technologies of government in Early Modern Age – claims a »crisis of governmentality« (Foucault 2008: 329) in the second part of his lectures in 1979. The governmentality discussed a year earlier, however, emphasizes »the process by which the state of justice of the Middle Ages became the administrative state in the fifteenth and sixteenth centuries and was gradually ›governmentalized‹« (Foucault 2007: 144). The states’ overwhelming governmental monopole coincidently obstructs the diffusion of technologies of government into further fields. The »raison d’État« (Foucault 2007: 314) calls for a police-apparatus (cf. Foucault 2007: 358f.), simultaneously administering and controlling a state’s population, subjects, lines of communication and trade areas. These premises of government are, according to Foucault, challenged at the outset of early liberalism. By calling for a »frugal government« (Foucault 2008: 28f.) from the end of the eighteenth century onwards, liberal mentality postulates economydriven principles of government – and thereby directly questions the raison d’État and the state’s police mechanisms.
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The cry for a frugal and economy-based governmentality, however, encloses more than mere leadership and management under the market’s aegis. Fundamentally, it implies expanding the marketplace’s schematics to what Foucault calls a »phenomenal republic of interests« (Foucault 2008: 46) including, but not limited to, the state. Liberalisms’ cunning tactic for Foucault involves no longer accepting the market as a juridically regulated field, but to declare it a »site of verificationfalsification for governmental practice« (Foucault 2008: 32). Knowing virtually no limits, this legislative valorisation of markets is accompanied by the notion of a willing and thus quasi natural subject of economic rationality – the so called homo oeconomicus. Assumedly voluntarily pursuing the markets genuine rules, said economic subjects require a much more liberal form of government than a state’s restrictive police-apparatus. »The new governmental reason«, according to Foucault, »consumes freedom, which means that it must produce it« (Foucault 2008: 63). Thus, a contradictory overcoding of the liberal agenda becomes apparent: And so, if this liberalism is not so much the imperative of freedom as the management and organization of the conditions in which one can be free, it is clear that at the heart of this liberal practice is an always different and mobile problematic relationship between the production of freedom and that which in the production of freedom risks limiting and destroying it. […] Liberalism must produce freedom, but this very act entails the establishment of limitations, controls, forms of coercion, and obligations relying on threats, etcetera. (Foucault 2008: 63f.) This liberal contradiction – which I consider to be exemplary for a much-underestimated synergy of modern governmentality and disciplinary societies of control4 – marks the springboard for yet another governmental shift during the rise of neoliberalism. The neoliberals’ rationality of government apparently takes into account the inherent paradox of forcedly administered, and thus controlled, economic and individual freedom. It considers itself a more dynamic conception in the broadest sense, trying to render any governmental flaw productive, as well as all forms of resistance. Therefore, neoliberalism orchestrates a re-coding of markets. No longer are they merely considered legislatively substantial places of trade and exchange to be protected or left alone, but rather as a universal principle of competition. Competitiveness, however, does not obey the seemingly natural idea of economic rationality. As Foucault points out, »competition as an essential economic logic will only 4
On the »Societies of Control« see Deleuze’s much-noted »Postscript on the Societies of Control« (Deleuze 1992). Often misapprehended is, as I argued elsewhere, the complementarity of Deleuze’s and Foucault’s line of argument between expanding control mechanism and (neo-)liberal governmentality (cf. Sieber 2014: 193ff.).
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appear and produce its effects under certain conditions, which have to be carefully and artificially constructed« (Foucault 2008: 120). In a nutshell, the neoliberal market is a regular and thus controllable mechanism. Following this idea, which is both economically and politically decisive, stabilizing the technologies of government into a seamless continuum appears to be achievable. To govern no longer implies a function segregating or connecting the different spheres of economy, politics, or society, and differentiating between individual or collective technologies of government becomes redundant. The flexible, quasi-universal competitive principle effectively works both on the large and small scale as a policy embracing and governing everyone and everything. For Foucault, the powerful watchword for this modern, newly flexible and perfected governmentality is the enterprise: The society regulated by reference to the market that the neo-liberals are thinking about is a society in which the regulatory principle should not be so much the exchange of commodities as the mechanisms of competition. […] Not a supermarket society, but an enterprise society. The homo oeconomicus sought after is not the man of exchange or man the consumer; he is the man of enterprise and production. (Foucault 2008: 147) The neoliberal art of government essentially installs a scalable entrepreneurial dispositif: as markets, policies, and societies become enterprises, subjectivity alongside is conceived as an »entrepreneurial self« (cf. Bröckling 2007: 73). Of course, neoliberal governmentality in fact aims to extend and intensify the manifold control mechanisms that have proven problematic, but that are continued by liberals in the name of the market economy. The field of digital media alone currently provides plentiful evidence of this. Today’s rampaging controversy over data security oscillating between the promises of Big Data or Data Mining, and the apparently voluntary abandoning of any individual privacy in social networks, online shopping and location-based media, is an obvious clue for the sustained prevalence of surveillance and monitoring practices. Since competition is a simultaneously regulated and regulatory affair, it always demands guidance and administration. Different, however, are the dulcet tones used as window-dressing for this new governmental control – flexibility, dynamic, growth or normalization –, suggesting an essentially contradictory controlled freedom. At the core of this somewhat crafty embellishment, however, rumbles the concession of a ubiquitous incompleteness, which not only concerns entrepreneurial subjects and societies, but the very apparatuses of government and security themselves. Driven by the ever-present force of competition, no neoliberal enterprise – be it individual, economic or political – ever reaches its conclusion. The price of considering that any divergence can be easily assimilated, and viewing any interruption as a mere temporary interference, is a virtually eternal imperfection that
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demands constant improvement. According to Ulrich Bröckling, the »entrepreneurial self« only exists in gerundive form and thus has to constantly produce and develop itself (cf. Bröckling 2007: 73). The same is true for any frugal technology of government which, in the lasting era of neoliberalism, is concentrated on its ongoing improvement and constant search for perfection. As adaptive and shifting as this incompleteness may be staged, however, it still admits to various deficiencies, if only in a temporal regard. Considering the diffusion and perfection of governmental power, the question if and how forms of individual empowerment are to be realized is certainly paramount and served quite rightly as a point of departure for this book. Based on Foucault’s work on liberal and neoliberal governmentality, I would argue in this respect that the entire concept of governmentality (and with it my notion of governmediality) by no means implies the collapsing of resistant or alternative forces in the presence of an overwhelming governmental dispositif. On the contrary, technologies of government are depending on technologies of the self which act prior to any form of domination or conduct, even though they are the target of governmental power. As Deleuze puts it, »resistance comes first« in all of Foucault’s works (Deleuze 1988: 89). And for Foucault it is exactly »this contact between the technologies of domination of others and those of the self« (Foucault 1988: 19) that determines governmentality. What the neoliberal flexibilization and dynamization intend to mask with their ubiquitous, all-absorbing, and thus virtually cybernetic dispositif is this priority of technologies of the self, or »flight lines« (cf. Deleuze 1988) permanently escaping governmental power. Neoliberal governmentality is hence much less hegemonic strategy than reactive tactics – and especially current notions of (digital) mediality provide respective evidence.
Neoliberal Governmediality As mentioned above, updating or optimizing digital networks and devices doubtlessly ranges among the most dominant metaphors of present-day media culture. Fast-paced technological development combined with very competitive sales markets cause a rapid obsolescence of computer gadgets and machines alike. Additionally, digital devices are considered fragmentary from the very moment they are purchased. Only when accessorized with different applications and accounts, and when connected to different networks and further devices, are they able to exploit their full social, aesthetic or even revolutionary potential. This perpetual configurability of digital media, however, is no coincidence from a perspective of media theory: What distinguishes old and new media alike is their mediality in the sense of an indeterminable interspace connecting and separating subjects and collectives alike
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(cf. Tholen 2002). Media, therefore, is at work precisely where technologies of government and technologies of the self meet, collide, or strengthen each other. This is why governmentality – from Early Modern Age to our neoliberal and biopolitical times – embraces media. One very significant example of the interplay between neoliberal government, a neoliberal notion of subjectivity, and an incomplete and fragmented disposition of mediality is the social network, Facebook. In 2011, Facebook introduced »Timeline«, reorganizing the layout of its profile pages. Crowned by a background filmstrip, the profile image and basic individual information, Facebook profiles ever since have consisted of a double-columned stream of status updates, visited locations, new »friends«, »liked« webpages, as well as uploaded or linked images and video clips. The introductory video5 – aptly titled »Tell your life story with a new kind of profile« – presents Timeline as a continuous project to present and network oneself, ideally creating a seamless flow of one’s life. Starting at a simple textbox indicating a birth date, the video framing hovers over grainy images of a childhood, shows a short video of a college graduation, highlights a changing relationship status, focuses a map indicating a honeymoon destination, displays images of the birth of a child and ends up at the profile’s top image showing a happy father and daughter. The video follows the timeline with increasing speed; bending the timeline’s perspective and rushing it towards an imaginary vanishing point (Fig. 4). As the introductory video fittingly illustrates, Facebook’s Timeline simultaneously implies an entrepreneurial self and an entrepreneurial medium, both of them matching a digitally linked apparatus generating, monitoring, and exploiting data.6 Ideally administered and actualized on a daily basis by Facebook users, the timeline nonetheless remains an ever incomplete but sharable representation of an individual life career. Similarly, Facebook as a medium is presented as a variable and fragmented inter-media configuration feeding on various text elements, location data, and audio-visual material. The social network too, however, lives off constant updating and supplementing7 – thus remaining peculiarly unfinished and flawed, both an amenable and exposed digital configuration. 5 6 7
Video available at: https://www.facebook.com/facebook/videos/vb.20531316728/2203694005397/?type=2&theater. For a critical insight into Facebook’s cunning practices of data gathering, monitoring and commercial utilization of user information, see Leistert/Röhle (2011). If not tended to regularly or specified otherwise, Facebook displays all user activities in the timeline profile.
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Figure 4 – A seamless flow of one’s life: Still from the Introductory Video of Facebook Timeline
Both as a technical and political process of optimization, the update indicates a modern dispositif of governmentality. Its phantasmal ideal is an entirely errorfree control mechanism anticipating any disturbance, deviance, or renitency. The operative words, however, are ›ideal‹ or ›phantasm‹. The nonappearance or failure of the updating process, a potentially necessary version leap, or a program or system change can never be safely ruled out – neither for media technology nor in the political sense. Certainly more so than in the twentieth century, which was dominated by unidirectional mass media, present day neoliberal governmediality exposes the configurability, variability, and openness of mediality. Undoubtedly, it is crucial to scrutinise the governmental actualization processes aimed at transforming such forms of media into part-way hegemonic forms of rule. The urge to update and optimise, however, also denotes the political potential of mediality, or, more precisely, the imminent advent of altered communication networks, the forthcoming intervention of new common spaces, and the impending surfacing of different aesthetical mechanisms. Conceived in the terms of life companions, network-unifying platforms or all-embracing timelines, the smartphones, internet services, and social networks indeed hardly support such a political capability of media. Considering them as governmedial configurations of a genuinely indeterminable mediality, however, both allows for the deconstruction of current governmental power and to stress the political, perhaps even revolutionary potency of digital media.
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Das Bild der Abjektion Antonio Rivera García
In den folgenden Überlegungen zum Bild der Abjektion sollen einige Kriterien diskutiert werden, anhand derer prekäres Leben und Zustände des Elends, die ein Gefühl der Empörung erwecken, auf adäquate Weise dargestellt werden können. Der Gebrauch von als abjekt geltenden Bildern soll vermieden werden, wenn er von unserer ersten Pflicht ablenkt oder diese korrumpiert, nämlich der Pflicht zur Ablehnung und folglich der Abjektion jener Zustände, die unerträglich und schmerzhaft sind. Tatsächlich ist es nicht einfach, zwischen einem abjekten und einem adäquaten Einsatz von Bildern, die ein solches Leben und solche Zustände zum Thema haben, zu differenzieren. So weist etwa Jean-Luc Nancy in seinem Essay über Gewaltbilder darauf hin, dass es in der Verantwortung des Regisseurs und des Publikums liege, zwischen schlechter Gewalt – der fanatischen – und guter Gewalt zu unterscheiden. Hierzu bedürfe es einer ›Kunst‹, die nicht a priori vorgegeben sein darf und nicht von einem Komplex an Normen und Gesetzen bestimmt ist (vgl. Nancy 2006: 31). Diese Grundannahme soll auch hier bezüglich der Differenzierung in Sachen Abjektion gelten. Gegenstand meiner Betrachtung ist die Debatte, die zu dieser Frage im Bereich der Filmkritik stattgefunden hat. Ihre Ergebnisse sind jedoch auf andere Medien oder Disziplinen erweiterbar. Im Folgenden widmen wir uns zunächst der These von Martha C. Nussbaum, welche das Gegenstück zu meiner Position darstellt und den Gebrauch der Kategorie des Abjekten in einem moralischen, politischen und ästhetischen Diskurs verdammt.
Gegen den öffentlichen Gebrauch der Abjektion oder des Ekelgefühls Martha Nussbaum zufolge sei Ekel mit der Angst verbunden, unser Inneres beziehungsweise unseren Körper mit dem zu kontaminieren, was ausgeschieden beziehungsweise abgestoßen wurde oder von einem kranken Objekt ausgeht – mit dem Abjekten also. Das Gefühl von Ekel oder Abscheu rühre aus dem Glauben, durch die Aufnahme oder den Kontakt mit jenem Objekt selbst verabscheuungswürdig
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und beschmutzt zu werden (vgl. Nussbaum 2006: 88). Welche Objekte rufen Aversionen hervor? Es sind vor allem diejenigen Tiere oder ihre Derivatprodukte, die gemeinhin mit Unrat assoziiert werden. Das bedeutet, Ekel konzentriert sich auf die Verwesung von Tieren und ihrer Abfälle, auf Tierkadaver und Tierkot. Alldem, erklärt Nussbaum, liege die Notwendigkeit zugrunde, eine klare Grenze zwischen unserer Menschlichkeit und unserer Animalität zu ziehen, zwischen Mensch und Tier (vgl. Nussbaum 2006: 89). Wenn Tränen das einzige Sekret des Menschen sind, welches nicht als widerwärtig empfunden wird, so liegt das daran, dass es nur von Menschen erzeugt werden kann. Viele Kulturen, wenn nicht alle, verbinden das Konzept der Menschenwürde mit der Fähigkeit, sich zu waschen und Unrat beseitigen zu können. Von den Situationen und Orten, in denen letzteres nicht möglich ist, wie zum Beispiel in Konzentrationslagern, Gefängnissen, Baracken oder an all jenen Stätten, an denen prekäres Leben waltet, behaupten wir, dass man dort den Menschen zum Zustand des bloßen Tieres herabwürdigen wolle. Und gerade dort wird unsere Verletzlichkeit erkennbar: im physischen Körper, dessen Bestimmung die Verwesung ist. Nicht zuletzt stehe Ekel, so Nussbaum, in Verbindung mit der Angst, sich sterblich oder morbid zu fühlen. Die Philosophin folgt hier dem Psychoanalytiker Ernest Becker, demzufolge die Exkretion dem Menschen seine abjekte Endlichkeit, seine fragile materielle Basis zeige. Daher rufe dies in uns einen Angstzustand hervor, eine Verletzlichkeit, die wir mit den übrigen Tieren teilen, und die auf der Erkenntnis basiert, dass wir zur Verwesung und zum biologischen Verfall bestimmt sind (vgl. Nussbaum 2006: 92). Diese nussbaumsche Analyse, die mit dem Wunsch verbunden ist, kein ›Tier‹ zu sein, gipfelt in der ethischen Regel, sich jeglichem sozialen (rechtlichen, ethischen, ästhetischen) Gebrauch des Ekelgefühls entgegenzusetzen. Zwar erwähnt Nussbaum jene Denker (Devlin, Kass, Miller, Kahan), für welche dieses Gefühl notgedrungen mit der menschlichen Verfassung in Verbindung steht und vorteilhaft sein kann, doch betont sie auch, dass der Ekel aus unserer schambehafteten Beziehung zu Verwesung und Sterblichkeit rühre, und dass er uns zu Gedanken über Hygiene nötige ebenso wie zum Kampf gegen Schmutz und gegen kontaminierende oder das menschliche Leben gefährdende Elemente. Dies erklärt, warum Ekel in der Vergangenheit die Selbsterhaltung förderte. Im Anschluss an Norbert Elias vertritt William Miller den Standpunkt, dass unser Zivilisationsgrad umso mehr zunimmt, je mehr Dinge wir als ekelerregend identifizieren und je höher die Hygiene und nicht zuletzt die Unduldsamkeit gegenüber Schlamm, Schmutz und unseren eigenen körperlichen Exkretionen ist. Diese These wird von Nussbaum mit dem Beispiel der antiken Römer angefochten, die sich weit mehr der Hygiene widmeten als beispielsweise die Briten (vgl. Nussbaum 2006: 115f.). Die Autorin von Hiding from Humanity ist vor allem angesichts der Gefahr beunruhigt, dass Individuen oder soziale Gruppen als abjekt stilisiert werden. Konkret nennt sie Fälle von Frauen, Juden und männlichen Homosexuellen. Sie macht
Das Bild der Abjektion
darauf aufmerksam, dass im Laufe der Geschichte den im untersten Bereich der sozialen Hierarchie platzierten Menschen oft Attribute des Ekels zugeschrieben wurden. Menschen, etwa Krüppel oder Kranke, wurden mit niederträchtigen Attributen versehen und in der sozialen Hierarchie herabgestuft. Dadurch also, dass die Aversion gegenüber dem Körper und seinen Ausscheidungen sehr oft im Dienste der Selbsterhaltung und Legitimierung sozialer Hierarchien stand, sieht sich Nussbaum veranlasst, den Begriff hinsichtlich Fragen praktischer oder sozialer Art zu verwerfen (vgl. Nussbaum 2006: 96f., 117). Sie missbilligt jegliche Verbindung von Ekel mit Zorn oder Empörung. Entsprechend auch den moralisierenden Ekel, wie ihn Rivettes berühmter Artikel Über die Niedertracht (Rivette 2006) thematisiert. In der Zusammenschau beider Positionen ist das Argument einleuchtend, dass Ekel eher mit erotischer Liebe als mit Zorn oder Empörung verbunden ist (vgl. Nussbaum 2006: 100f.). Tatsächlich können wir uns dazu gezwungen sehen, Zorn oder Ressentiments mit einem Freund zu teilen, dem ein Unrecht widerfahren ist oder dem Leid zugefügt wurde, ohne uns genötigt zu sehen, die gleiche erotische Leidenschaft zu teilen, die unser Freund zu einer bestimmten Person empfindet. Ersetzt man die erotische Anziehung durch Aversion, so ergibt sich die Folgerung, dass Abjektion gegenüber einer Sache kein gewichtiges Argument sein kann, um die Öffentlichkeit – den Anderen – zur Ablehnung des abjekten Objekts zu motivieren. Den »Ekelschrei«, der im vierten Satz von Mahlers 2. Symphonie zu hören ist, deutet Nussbaum als das Gegenstück zur res publica, weil der angeekelt aus der Welt flüchtende Künstler in Wahrheit zum antisozialen Romantiker wird (vgl. Nussbaum 2006: 105). Sie erachtet es auch nicht als konstruktiv, Rassisten, Terroristen oder korrupten Politikern gegenüber das eigene Angewidertsein zum Ausdruck zu bringen, also die Idee zu verfolgen, sie mit Exkretionen zu konnotieren, oder eine Gruppe von Bürgern, die sich durch ihre Immoralität ausgezeichnet hat, abschätzig zu behandeln (vgl. Nussbaum 2006: 106f.). Diese Haltung könne lediglich eine romantische Phantasie sozialer Reinheit hervorrufen, die eine gefährliche und aggressive Xenophobie verhüllt (vgl. Nussbaum 2006: 107). Der moralisierende Ekel ist ja im Grunde ein Einzelfall jenes projizierten Ekels, der den Anderen mit abstoßenden Attributen belegt. Wenn solche Attribute auf soziale Gruppen projiziert werden, ist es besonders gravierend, das heißt, wenn Juden, Muslime, Frauen, Homosexuelle und Menschen aus niedrigen sozialen Schichten oder mit prekären Lebensumständen als durch körperlichen Schmutz befleckt imaginiert werden: »All these [groups] are imagined as tainted by the dirt of the body« (Nussbaum 2006: 108). Die hieraus entstehenden Diskurse vertreten die Zweckmäßigkeit der Aussonderung dieser als schmutzig und widerwärtig erachteten Menschen (vgl. Nussbaum 2006: 107). Um nicht erneut die Rassenhygiene der Nazis zu zitieren (vgl. Esposito 2008: 112), soll hier der propagandistische Einsatz des Ekelgefühls unter Hindus angeführt werden, mit dem Gewalt gegen Muslime in Gujarat im März
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2002 gerechtfertigt wurde, die als den Körper der Nation befleckende, fremdartige Elemente dargestellt wurden (vgl. Nussbaum 2006: 114f.). Im Übrigen ist die Tatsache hinreichend bekannt, dass Aversion und Xenophobie häufig im Umgang mit denjenigen Angehörigen anderer Nationalitäten zum Tragen kommen, die aus ärmeren Ländern oder anderen Kulturkreisen stammen. Immerhin räumt Nussbaum ein, dass das Außerkraftsetzen des Ekels, so wie es bei Walt Whitman zu finden ist, übertrieben und möglicherweise wenig zweckmäßig sei (vgl. Nussbaum 2006: 120f.). In vielen Kulturen, sowohl in älteren als auch modernen, seien Abjektes und Lust in einem solchen Maß verflochten, dass ein hochhygienisches Bild des menschlichen Körpers wie das whitmansche als asexuell abgelehnt werden darf. Außerdem erscheint es unrealistisch, von den Menschen zu verlangen – wie es Whitman fordert –, dass sie sich angst- und ekelfrei in die Verwesung und die kurze Endlichkeit ihres Lebens fügen. Nussbaum lehnt den moralischen, rechtlichen und politischen Gebrauch des Abjekten vollständig ab. Ihrer Meinung nach beweist eine Gesellschaft ihren moralischen Fortschritt, indem sie Abscheu nicht mit der Gefahr oder der Empörung vermischt, die soziale Pathologien hervorrufen, und indem sie ihre Gesetze und sozialen Normen auf reale Gefahren gründet und eben nicht auf jenes Gefühl, welches mit unserer Sterblichkeit und Animalität einhergeht (vgl. Nussbaum 2006: 116). Abjektion ist ein schlechter Ratgeber für politische und rechtliche Belange, weil sie irrationalen Verhaltensweisen inhärent ist, weil sie zum Angriff von Individuen und besonders verletzlichen Gruppen benutzt werden kann und weil sie nicht zur Bekämpfung realer sozialer Pathologien beiträgt (vgl. Nussbaum 2006: 122).
Abjektion und Ambiguität: über die Grenze zwischen menschlicher Kultur und dem Anderen Nussbaums Theorie – ein liberal-republikanischer Standpunkt, der vernünftig und politisch korrekt erscheint – lehnt die öffentliche Instrumentalisierung von Ekel ab. Dies betrifft sowohl ethische als auch rechtliche, politische oder ästhetische Kontexte. Somit ergibt sich die Tatsache, dass in keinem rationalen Diskurs an das Abjekte appelliert werden kann. Dieses soll aus jeglicher Rhetorik getilgt werden, selbst aus jenen Diskursen, die von Zorn und Empörung Gebrauch machen. Entgegen der nussbaumschen Position, die meines Erachtens dem Optimismus Walt Whitmans bezüglich des jungen Amerikas sehr nahesteht, sollte der Gebrauch der Abjektion bei einigen Künstlern und Bildkritikern jedoch verteidigt werden. Sie arbeiten mit diesem Phänomen, um uns vor Zuständen sozialer Korruption zu warnen, ohne jedoch ihr Verhalten, wie Nussbaum befürchtet, in den Dienst einer romantischen, unrealisierbaren und gefährlichen Phantasie sozialer Reinheit
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zu stellen. Diese Apologie verlangt dennoch nach Vorüberlegungen zur Tragweite des Abjektionsbegriffs. Letztere erfolgen unter Rekurs auf die Werke Kristevas und Blumenbergs, zweier Autoren, die zwar voneinander entfernt erscheinen, tatsächlich aber durch Freud verbunden sind. Wie Kristeva gezeigt hat – und in diesem Ausgangspunkt stimmt sie mit Nussbaum überein –, führt uns das Abjekte jene archaischen und fragilen Zustände vor Augen, in denen sich der Mensch im Bereich des Animalischen bewegt (vgl. Kristeva 1982: 12). Das heißt, es führt uns in die primitiven oder anfänglichen Stadien der Menschheit und des Kindes: Mithilfe der Abjektion begrenzen primitive Gesellschaften den Kulturraum des Menschen und unterscheiden ihn von der bedrohlichen Welt der Animalität. Durch die Abjektion beginnt das Kind, sich von der Mutter zu lösen und zwischen einer eigenen und einer fremden Wirklichkeit zu unterscheiden. So führt uns das Abjekte in einen archaischen Zustand zurück, vor jene Grenze zwischen Tier und Mensch, also vor jenen Punkt, an dem sich die menschliche Spezies aufrichtet und den Schritt vom Dschungel in die Savanne wagt. Es ist jener Zustand, den das Kind erlebt, bevor es sich als Individuum begreift und die Sprache beherrscht, die ihm erlaubt, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen sich selbst und dem Anderen zu differenzieren. Was wir als Ekel oder Abscheu empfinden, ist im Grunde eine nützliche Grenze, »a repulsive gift« (Kristeva 1982: 9): Etwas löst sich von dem Anderen los, damit wir uns selbst abgrenzen und als eigenständig begreifen können. Das vom Abjekten verursachte intensive Gefühl der Unlust – Ekel, Abscheu oder körperliches Unbehagen – dient der Distanzierung gegenüber dem Anderen, dem Tierischen, und hilft uns somit, uns als Menschen zu konstituieren, oder, im Fall des Kindes, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Laut Blumenberg sind das Selbstbewusstsein und die Wahrnehmung unseres eigenen Körpers mit der vorgängigen Empfindung des Andersseins verbunden, mit der bedrohlichen Wirklichkeit, die außerhalb unseres Selbst liegt. In Anlehnung an Freud stellt er heraus, dass für diese Erfahrung, die das Bewusstsein des Anderen ermöglicht, eben nicht die Lust, sondern Unlust und Unbehagen wesentlich sind (vgl. Blumenberg 2006: 747f.). Die Anthropogenese ist ein Prozess, der die Rangordnung bestimmter Sinne über andere definiert: Der Fernsinn (Sehkraft und Hörvermögen) behauptet sich dem Nahsinn gegenüber (Tastsinn, Geschmack und Geruch) als überlegen. Laut Blumenberg, dem Philosophen der actio per distans, erlaubt ersterer die Erzeugung einer Distanz gegenüber einem Objekt und stellt somit die Grundbedingung dar, um maß- und wertvolle Informationen zu erhalten. Bereits die kantische Anthropologie hält fest: Je stärker die Reize der Sinne betroffen sind, desto mehr belehren sie. Dementsprechend sieht man, wenn das Licht zu stark ist, rein gar nichts: Die Gegenstände bleiben indifferent. So wird die Blendung zur treffendsten Metapher,
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um jene intensiv-erhabene Erfahrung der absoluten Realität zu beschreiben, die nur im Medium der Ekstase erreichbar ist (vgl. Blumenberg 2014: 743). Die Sinne der Nähe lassen uns weniger erfahren, weil wir durch sie intensiver empfinden als mit der Sehkraft oder dem Hörvermögen. Letztere sind insofern Sinne der Grenzsensibilität und solche, die besonders eng mit der Abjektion verbunden sind, da sie uns an die Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen (dem Nicht-Selbst) führen. Außerdem lassen sie uns den ambivalenten, unpersönlichen Punkt fühlen, an dem unsere Körperlichkeit beginnt beziehungsweise endet, an dem das Innen mit dem Außen zusammenfällt, an dem die Gegenstände indifferent werden (vgl. Blumenberg 2014: 738). Deshalb ähnelt das Erlebnis des Abjekten einem anderen exzessiven Erlebnis: dem der Erhabenheit. In beiden Fällen löst sich das Objekt auf. Solche Erlebnisse produzieren ein Gewölk von Sinneseindrücken, eine »zusammenhängende Masse von Empfindungen«, die uns in jenen archaischen Zustand versetzen, welcher der Isolierung der eigenen Realität und der Differenzierung zwischen Subjekt und Objekt vorausgeht (vgl. Blumenberg 2014: 747). Unter allen Sinnen ist der Geruchssinn derjenige, der die stärksten Grenzerlebnisse vermittelt. Durch starken Geruch hervorgerufene Abstoßung etwa stellt eine intensivere und intimere Erfahrung dar als die der Nahrungsaufnahme. Diese Intensität erklärt, warum der Geruchssinn der am wenigsten Information gebende und der am nächsten zur Unpersönlichkeit stehende Sinn ist. An ihm, so Blumenberg, ist die unvollständig gebliebene Unterscheidung zwischen einem eigenen und einem fremden Raum, zwischen innerer Welt und Umwelt festzumachen (vgl. Blumenberg 2014: 738f.). Freuds Unbehagen in der Kultur (1930) folgend behauptet Blumenberg, dass die Anthropogenese mit dem vitalen Relevanzverlust des Geruchssinns in Verbindung steht, welcher eintrat, nachdem der Mensch eine aufrechte Position eingenommen und sich die sexuelle Erregung vom Geruchs- hin zum Sehreiz verschoben hatte. Freud zufolge wird die Kulturschwelle des Menschen mit der Gründung der Familie überschritten und setzt so einen fatalen Kulturprozess in Gang. Hinsichtlich dieses Prozesses ist für unser Thema besonders relevant, dass Freud den Bedeutungsverlust des Geruchsreizes mit der ontogenetischen Differenzierung zwischen eigener und fremder Wirklichkeit verbindet. Mit der kritischen Ächtung des Geruchs, der Forderung nach kultureller Reinheit sowie dem Eintritt in eine Welt jenseits olfaktorischer Primärreize werden schließlich die intensiven Geruchsreize zunehmend mit Unangenehmem statt mit Angenehmem assoziiert – mithin mit dem, was abzusondern ist. Nur wenn sich der Geruchssinn vorrangig auf Unlust bezieht, kann er im Dienste der Abgrenzung gegenüber Tierischem und Fremdem stehen. Und gerade in der Distanzierung jener Quelle, die bei uns Abscheu auslöst, liegt die kulturelle Bedeutung des Abjekten. Das intensive Gefühl, dass etwas von außen in unseren Körper eindringt und
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ihn völlig durchdringt (und somit die Distanz zu den Faktoren aufhebt, die dieses Unbehagen in uns auslösen), kurz, das Gefühl des Ekels, hängt wesentlich mit den von Anderen erzeugten Gerüchen zusammen. Im Anschluss an Kant erklärt Blumenberg, dass der Geruchssinn zum Sinn der pessimistischen Welt wird, zumal der Mensch, wenn er alleine dem Naturzustand überlassen wird – dort, wo die Instinkte herrschen –, vorwiegend mit Aversionen hervorrufenden anstatt mit angenehmen Objekten konfrontiert ist (vgl. Blumenberg 2014: 744). In einem nächsten Schritt verbindet Blumenberg dieses Gefühl der Unlust mit dem Wirklichkeitsbewusstsein. Für die genussvolle Erfahrung ist eine Unterscheidung zwischen Wirklichkeit einerseits und Illusion beziehungsweise Imaginärem andererseits nicht relevant, währenddessen das Empfinden von Unlust die Existenz einer realen Größe außerhalb des eigenen Selbst voraussetzt, die das Subjekt nicht beherrschen kann (vgl. Blumenberg 2014: 747). Kristeva zufolge ruft das intensive Gefühl von Ekel und Unbehagen eine gewaltsame Rebellion gegen das abjekte Objekt hervor, um einen Raum zu begrenzen, ein Gebiet zu vermessen, das sich zum Ich folgendermaßen verhält: »Thus braided, woven, ambivalent, a heterogeneous flux marks out a territory that I can call my own because the Other, having dwelt in me as alter ego, points it out to me through loathing« (Kristeva 1982: 10). Vielleicht können die bisherigen Überlegungen zu einem besseren Verständnis der Frage beitragen, warum ein Film wie Salò (1975) an die Abjektion appelliert, nachdem Pasolini selbst anspruchsvolle, elitäre Produktionen wie Teorema (1968) oder Porcile (1969) als ungenügend erachtet hatte (vgl. Pasolini 2001: 2979ff.). Der Filmregisseur wollte in Salò extrem abjekte Bilder zeigen, sodass niemand diese mit Genuss konsumieren könne, ohne so seine Würde zu verlieren. Und all dies zum Zweck des Protests: gegen eine Welt des Konsums, gegen eine Welt, die gänzlich auf dem Versprechen einer unmöglichen jouissance fußt und gegenüber Kategorien wie Wahrheit oder Falschheit, Wirklichkeit oder Illusion gleichgültig ist (vgl. Stavrakakis 2007: 248ff.). Kraft gewaltsamer Bilder des Abjekten schuf Pasolini eine unerträgliche Geschichte (in der Abjektion ist Gewalt als Element immer präsent). Sie ruft zwingend Unbehagen und Schwindel hervor, ähnlich dem vom Nahsinn verursachten Gefühl. Ein Gefühl also, das beim Ansehen des Filmes dazu führen muss, für das dargestellte Objekt – eine Metapher für die verdorbene Gesellschaft um 1975 – Abscheu zu empfinden, so wie vor dem Geruch von Abfall. Mithilfe dieser Geruchsbilder wollte Pasolini im Zuschauer das Gefühl erzeugen, dass es notwendig sei, sich von der abjekten Wirklichkeit der Welt des Konsums abzuwenden, während das intellektuelle Kino Ende der 1960er Jahre nur auf das Verständnis abgezielt hatte. Kristevas Werk eignet sich besonders für unsere Analyse des Abjektionsbildes, weil auch sie das Abjekte auf einer sozialen Ebene denkt. Von diesem Standpunkt aus betrachtet bezieht sich Abstoßung nicht auf einen Mangel an Hygiene oder Gesundheit, sondern auf etwas, das die Identität stört, auf ein System oder eine
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Ordnung, bei der nicht mehr zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht, Leben und Tod unterschieden werden kann. Somit ist soziale Abjektion mit Ambiguität, mit Doppeldeutigkeit verbunden, mit dem, was, an der Grenze gelegen, unsere Urteile und Differenzierungen infrage stellt. Wenn es wahr ist, so Kristeva, dass jedes Verbrechen abjekt ist, weil es die Fragilität des Gesetzes entlarvt, so trifft dies noch offensichtlicher auf jene Verbrechen zu, die geplant, gerissen und heuchlerisch sind (vgl. Kristeva 1982: 4). Mit dem Berg von Kinderschuhen im Museum von Auschwitz ruft Kristeva ein Bild auf, über dessen Unmenschlichkeit sowie gleichzeitig adäquate Darstellung eines abscheulichen Verbrechens man sich zweifelsohne einig ist. Hier beruht das Unfassbare darin, dass der Tod sich mit der eigenen Lebensrealität vermischt: „The abjection of Nazi crime reaches its apex when death, which, in any case, kills me, interferes with what, in my living universe, is supposed to save me from death: childhood, science, among other things« (Kristeva 1982: 4). Diese Ambiguität – weder Innen noch Außen – verwandelt das Abjekte in etwas Perverses. Die in der religiösen Sphäre auch als Sakrileg bekannte Perversion besteht nicht in der Übertretung eines Verbots, einer Norm oder eines Gesetzes – tatsächlich wird von einem Festhalten am Gesetz ausgegangen1 –, sondern vielmehr in deren Korruption und Fehlleitung, wie es immer dann der Fall ist, wenn im Namen des Lebens getötet und das Leben in den Dienst des Todes gestellt oder das Allgemeingut dem Eigeninteresse untergeordnet wird. Die sozialisierte Gestalt des Abjekten ist dann die Korruption. Aus diesem Grund benutzt ein Film über die Perversion der Macht, wie beispielsweise Salò, die perverse Logik der absoluten Macht – ungeachtet der Tatsache, ob diese sich diffus oder konzentriert auf eine Vielzahl von Personen oder Institutionen bezieht. Es handelt sich um Macht, die als Anarchie oder reine Willkür verstanden wird und die Individuen zu Objekten degradiert. Gerade diese perverse Logik kann nur durch abjekte Bilder dargestellt werden, durch Bilder, die zugleich Metaphern für ebenjene Welt sind, in der Pasolini lebte. In ihrem Buch Powers of Horror hat sich Kristeva schließlich auf die perversen Züge der modernen Literatur konzentriert und die Werke Dostojewskis, Prousts, Kafkas und Artauds untersucht, die im Gegensatz zu den Sozialisten oder Anarchisten des 19. Jahrhunderts die Religion, Moral oder das Recht benutzen, um sie zu verzerren und zu verhöhnen (vgl. Kristeva 1982: 16ff.). Dennoch handelt es sich um Literatur, die mit dem Abjekten arbeitet und ringt, sich aber zugleich davon distanziert. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass einige bedeutende, nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Filme etwas Ähnliches zum Ziel haben. 1
In Bezug auf das Abjekte bei den Figuren Dostojewskis heißt es: »[…] abjection, on the other hand, is always brought about by that which attempts to get along with trampled-down law« (Kristeva 1982: 19).
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Rivettes und Daneys Kritik der abjekten Kunst Jacques Rivettes Über die Niedertracht und Serge Daneys Das Travelling in Kapo, beides Artikel über die Abjektion in der Filmkunst, können als Beispiele für den von Nussbaum kritisierten moralisierenden Gebrauch des Ekels gelten (vgl. Rivette 2006; Daney 2000). In diesen Essays ist das abjekte Objekt, von dem wir uns trennen sollen, das kritisierte Kunstwerk selbst, gegenüber dem wir ein Gefühl moralischen Ekels empfinden, denn: Es gibt Dinge, die man nur scheu und zitternd angehen darf; der Tod gehört zweifellos dazu, und wie soll man sich, wenn man etwas so Geheimnisvolles filmt, nicht wie ein Schwindler fühlen? Besser wäre in jedem Fall, sich diese Frage zu stellen und sie auf irgendeine Weise in das, was man filmt, einzubringen; […]. (Rivette 2006: 132) Wie Nussbaum will auch Rivette, das Thema der Abjektion mit dem des Todes verbinden, und im Grunde auch mit jeglicher Situation, welche die Prekarität unserer Existenz aufzeigt – hier erweist sich Rivette als begabter Schüler von André Bazin und seinem montage interdit (vgl. Bazin 1976). Rivette stellt hierbei Alain Resnais’ Nacht und Nebel (1955), dessen filmtechnische Aufarbeitung der Vernichtungslager nie ins Voyeuristische oder Pornographische verfällt, dem niederträchtigen und verabscheuungswürdigen Kapo (1960) Pontecorvos gegenüber (vgl. Rivette 2006: 131f.). Das abjekte Potential bei Pontecorvo konzentriert sich in einer Großaufnahme, in der die von Susan Strasberg gespielte Hauptdarstellerin sich das Leben nimmt, indem sie sich in den elektrischen Drahtzaun wirft. Rivette erklärt dazu folgendes: Der Mensch, der sich in diesem Augenblick zu einer Kamerafahrt vorwärts entscheidet, um den Kadaver in Aufsicht zu rekadrieren, wobei er es sich angelegen sein lässt, die erhobene Hand in einem bestimmten Winkel seiner endgültigen Kadrage zu fixieren, für diesen Menschen kann man nur tiefste Verachtung empfinden. (Rivette 2006: 131f.) Es geht hier nicht nur darum, dass, wie damals Godard vertrat, das Travelling als künstlerische Form eine Sache der Ethik sei (»Kamerafahrten sind eine Sache der Moral«, Rivette 2006: 131), sondern dass die unmoralische Manipulation von Fakten und Affekten durch die von Pontecorvo vorgenommene Ästhetisierung beim urteilsfähigen Zuschauer ein Gefühl der Verachtung und der Abjektion hervorruft. Die Aversion rührt aus der Ambiguität, aus einer konfliktlosen Doppeldeutigkeit, in der Entgegengesetztes und Unvereinbares ununterscheidbar zusammenfallen. 1992 sieht Daney den offenbarsten Beweis für solch eine künstlerische Abjektion im Videoclip des Songs We are the world, we are the children!, in dem die Bilder der reichen Sänger mit denjenigen darbender Afrikaner überblendet und verket-
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tet werden. Die Reichen nehmen den Platz ein, der nur den Menschen vorbehalten sein sollte, die in ärmlichsten Verhältnissen leben; sie ersetzen die Armen und löschen sie schließlich aus. Laut Daney müsste hier der Zuschauer erstens Empörung und Abscheu gegenüber solch abjekten, zweideutigen und perversen Bildern empfinden, in denen die Reichen den Armen die Schau stehlen, und zweitens in Verlegenheit darüber geraten, dass man von einem Zuschauer ausgeht, welcher erst »ästhetisch verführt werden muss« (Daney 2000: 36), um ihn dann gegen die Armut zu mobilisieren. In seinem Artikel Das Travelling in Kapo betont Daney, dass der Film oder der besagte Videoclip die ästhetische und moralische Distanzierung thematisiert, was symptomatisch für abjekte Objekte ist, die beim Betrachter Aversion und den Wunsch hervorrufen, sich von ihnen abzuwenden. Die sowohl bei Rivette als auch bei Daney aufgeworfene Frage hängt, im Gegensatz zu Godard, nicht direkt mit der brechtschen Verfremdung zusammen. In Resnais’ »Anti-Schauspiel« Nacht und Nebel (vgl. Daney 2000: 24) sei die gestellte Distanz zwischen dem gefilmten Individuum, dem Regisseur und dem Zuschauer die einzig mögliche, und deshalb handele es sich um einen gerechten Film, bei dem der Zuschauer keine Abscheu vor dem Kunstobjekt empfinden könne. Dagegen seien Kapo und der Videoclip We are the world unmoralisch, da sie Regisseur und Zuschauer, uns selbst also, dort platzieren, wo wir nie gewesen sind und nie sein wollen. Somit zwingen sie uns dazu, unsere reale Situation als Zuschauer zu verlassen – die eigentümliche Position eines Dritten oder Zeugen – und uns so in einen Bildrahmen einzufügen, als ob wir selbst Hauptdarsteller wären (vgl. Daney 2000: 36f.). Im Grunde ist Letzteres ein Merkmal des Hollywood-Kinos: Es fügt uns in einen Bildrahmen ein und zersetzt den Raum sowie die Fakten der Erzähllogik. Auf diese Art und Weise stimmt jede Großaufnahme mit den Aufmerksamkeitswechseln des Zuschauers überein, ganz so, als wäre er selbst Teil des Geschehens. Das Hollywood-Kino sowie das institutionelle oder kommerzielle Kino eines jeden Landes verorten den Zuschauer innerhalb eines Rahmens, um die Distanz zwischen den Protagonisten und den Zuschauern beziehungsweise Zeugen aufzuheben. Ein Beispiel hierfür ist die bekannte Duschszene in Spielbergs Schindlers Liste (1993). In Wahrheit bedeutet Godards Formel nämlich, dass das Travelling eine Frage der Moral sei, dass ein solcher Positionswechsel nicht zulässig ist und dass niemand im Namen der Anderen sprechen sollte. Deshalb schreibt Serge Daney am Ende seines Artikels, dass er sich bereits in jungen Jahren dem »guten« Kino verschrieben habe, »damit [der Film] mich lehre, mit dem Blick unaufhörlich zu spüren, in welcher Nähe oder Ferne vom Ich der Andere beginnt« (Daney 2000: 37). Ebenjenes gute Kino verdrängt den Zuschauer nicht aus seiner Position als Zeuge, es verkürzt nicht die Distanz zur absoluten Wirklichkeit und zum Anderen. Nur auf diese Weise kann man den Tabubruch vermeiden, der jene Zuschauer betrifft, die zur Diskriminierung, Beurteilung, Abtrennung nicht fähig sind und die sich auf
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der genussvollen Grenze zwischen Wirklichkeit und Illusion oder Imaginärem bewegen. Daney gibt ein anderes Beispiel dafür, wie man Bilder vom Tod drehen kann, ohne ins Unmenschliche zu verfallen. Hinsichtlich der Verfilmung unerträglicher Situationen von prekären Individuen nennt er etwa die Ermordung von Miyagi, der Ehefrau der Hauptfigur in Ugetsu – Erzählungen unter dem Regenmond (1953), einem Spielfilm von Kenji Mizoguchi. Der japanische Regisseur inszeniert den Tod mithilfe eines Panoramabildes, das genau das Gegenstück zum vermeintlich schönen und ästhetischen Travelling in Pontecorvos Kapo darstellt. Das Panoramabild entspricht einem Blick, der »so tut, als sähe er nicht« (Daney 2000: 27) und der den gewaltsamen Tod ohne jegliche Zurschaustellung zeigt, bis zu dem Punkt, dass der Zuschauer, wenn die Kamerabewegung nicht so langsam wäre, nichts gesehen hätte und der Mord außerhalb des Blickfelds geblieben wäre (vgl. Daney 2000: 27). Pontecorvo erzittert nicht vor den Vernichtungslagern, er verspürt keine Abscheu vor ihrem Anblick. Deshalb ist er dazu fähig, mithilfe einer vorwärts gerichteten und vergrößernden Kamerafahrt das zu beschönigen, wovon man sich aus moralischen Gründen abwenden sollte. Das Abjekte der ästhetischen Pornographie besteht darin, dass der Künstler gar keine Aversion gegenüber der Verwesung, den Abfällen oder den Kadavern empfindet, sondern lediglich ideologische Empörung. Folgt man Daney, so erweckt das Panoramabild von Erzählungen unter dem Regenmond deshalb den Eindruck, es sei aufgrund der schrecklichen Wirklichkeit etwas ungeschickt und benommen gefilmt worden. Es könnte ebenfalls den Eindruck einer fehlenden Beherrschung der Form erwecken (wie es bei Dokumentarfilmen der Fall ist, die ja das Unerwartete filmen), weil Mizoguchi tatsächlich den Krieg fürchtet und das Bedürfnis hat, vor dem widerwärtigen Kriegsspektakel zu flüchten (vgl. Daney 2000: 28). Die von Daney begründete Unterscheidung zwischen Pontecorvo und Mizoguchi ähnelt der von Kristeva beschriebenen Unterscheidung zwischen Sade und Proust. In der sadeschen Orgie verschwindet das Abjekte, weil der Schreibstil durch Methodik, Rhetorik und Regelmäßigkeit gekennzeichnet ist und im Kontext einer speziellen und spektakulären Philosophie steht (vgl. Kristeva 1982: 21). Für solch eine rationale und optimistische Schreibweise ist alles benennbar, wie es auch Roland Barthes vertreten hat (vgl. Barthes 1986): Nichts ist übermäßig, undenkbar, heterogen, nichts ist abjekt. Bei Mizoguchi und bei Proust geht es um das Schreiben und das Eintreten ›für‹ und ›gegen‹ das Abjekte. Deshalb baut Proust seine Erzählung nicht nur anhand des Abjekten auf, sondern schreibt gleichzeitig gegen die Rhetorik der Homogenisierung an und lässt das Verdorbene als Belästigung, Scham oder Borniertheit auftreten (vgl. Kristeva 1982: 21f.). Daney unterscheidet schließlich zwischen abjektem und grausamem Kino (vgl. Daney 2000: 28f.). Als begabter Schüler Bazins vertritt er die These, dass die Kunst der Grausamkeit auf der guten Seite stünde. Grausamkeit bedeutet einen Bruch
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mit der Kontinuität und der Homogenität sowie die Errichtung einer Distanz, die Hollywood und dem institutionellen Kino fehle. Seit Stroheim räume das Kino der Grausamkeit dem Zeigen einen höheren Rang ein als dem Erzählen. Bazin zufolge tötet es die Rhetorik und die Erzählkunst, die Ellipsen und Symbole, zugunsten eines Siegs der Offensichtlichkeit, der Hyperbel, der Diskontinuität und der Wirklichkeit, das heißt, zugunsten des Bildes an sich, welches nicht mehr einer Erzählung oder einer Bedeutung, also etwas, das außerhalb seiner selbst liegt, untergeordnet ist (vgl. Bazin 1982: 6ff.). Mizoguchi selbst bewies sich als ein Regisseur der Grausamkeit, indem er zwei unversöhnliche Bewegungen zugleich inszenierte und somit ein erschütterndes Gefühl erzeugte, nämlich »das zerreißende Gefühl des ›Nicht-eingreifen-Könnens‹ im Zustand der Gefahr« (Daney 2000: 29).
Pedro Costa und das Recht auf die Schönheit des prekären Lebens Die Kritik der Ästhetisierung oder der ästhetischen Pornographie bedeutet aber nicht, dass Schönheit abwesend ist, wenn ein Künstler das Leben von Menschen thematisiert, die ihrer Würde gewaltsam beraubt wurden oder deren prekäres Leben zum Elend degradiert wurde. Ein gutes Beispiel dafür sind die Filme Pedro Costas. Dieser portugiesische Regisseur nimmt hauptsächlich die am Elend leidenden Zeitgenossen in den Fokus: nicht so sehr die ausgebeuteten Arbeiter, sondern vielmehr die prekärsten Existenzen, die Ausgegrenzten und Ausgestoßenen, die an die elendsten Ränder der Stadt verdrängt worden sind, dort, wo sich Slums und Baracken erstrecken. Die von Costa gefilmten Männer und Frauen sind Drogenabhängige, wie die Hauptfigur in No quarto de Vanda (2000), oder in Hütten wohnende Immigranten aus den alten afrikanischen Kolonien Portugals, wie Ventura in Juventude en marcha (2006). Wie Rancière unterstrichen hat, sind Costas Filme keine politischen Manifestationen im Stil eines Francesco Rosi, in denen ein Weg von den Orten der Misere in die kapitalistische Maschinerie beschrieben wird, welche erstere produziert und am Laufen hält (vgl. Rancière 2012: 166). Sie ähneln auch nicht Straubs Filmen, der ja seine Kamera vom »Elend der Welt« entfernt (vgl. Rancière 2012: 166), um das Volk, Bauern und Arbeiter in einem Amphitheater oder im Felde zu platzieren. Ein Volk übrigens, das stolz eine gerechtere Welt für sich beansprucht und dafür die kollektive Größe des Altertums oder der modernen Revolutionen heraufbeschwört. Weder Erläuterung also, wie bei Rosi, noch Mobilisierung gegen die Misere, wie bei Straub. Costas Ausgangspunkt scheint auch nicht mit der dokumentarischen Tradition bazinscher Prägung übereinzustimmen, einer Tradition, zu der ja Rivette und Daney gehören und deren Motto folgendermaßen lauten könnte: Wenn man nicht in die künstlerische Abjektion verfallen will, so ist es unabdingbar, aus der Misere kein Kunstwerk zu machen (vgl. Rancière 2012: 167). Und dennoch ver-
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säumt es Pedro Costa nicht, die Schönheit zu zeigen, die innerhalb der elenden Wohnungen der Ärmsten anzutreffen ist. Als wäre er ein holländischer oder spanischer Maler des 17. Jahrhunderts, zeigt er unverwandt ein herrliches Stillleben der armseligen Gegenstände in den Hütten. Soll er dadurch, dass er die harte Wirklichkeit beschönigt, des Ästhetizismus beschuldigt werden? Empfinden wir hier die bereits genannte Aversion, jenes Gefühl einer verwickelten Ambiguität wie in Pontecorvos Kamerafahrten oder in dem besagten Videoclip gegen die Armut? Im Gegenteil: Costa ist von dieser künstlerischen Pornographie weit entfernt; seine Filme haben nichts mit denen Pontecorvos oder anderen »Retro«-Produktionen der 1970er Jahre wie Der Nachtportier (1974) von Cavani gemein. Tatsächlich hat Pedro Costa, so Rancière, die Orte des Elends so gefilmt, wie sie tatsächlich sind (vgl. Rancière 2012: 168). Er hat darauf verzichtet, Bühnenbilder zu schaffen und aus der Misere ein Objekt der Fiktion zu machen. Wie man im Film über die Drogensüchtige Vanda nachvollziehen kann, hat er viele Stunden mit Außenseitern der Gesellschaft verbracht und ihnen aufmerksam zugehört. In Costas Filmen existiert keine Abjektion, weil Abfälle, Misere, Verwesung oder Kadaver nicht wie bei Pontecorvo verbrämt werden. Jene Ambiguität oder Grenzauflösung, wie sie bei abjekten Kulturprodukten üblich ist, findet man bei ihm nicht. Es geht ihm nicht darum, das Schmutzige, das Hässliche, das Abfällige schönzufärben, sondern um etwas völlig anderes: Er fordert, dass auch die Elenden ein Recht auf Kunst und Schönheit haben. Die Suche nach Schönheit in den Behausungen der Armen, aber auch in ihren Worten, die nur scheinbar repetitiv und nichtssagend sind, gehört zu einer bestimmten Politik der Kunst, wie auch Rancière unterstreicht (vgl. Rancière 2012: 177): zu jener Politik der Kunst, die besagt, dass die Ästhetik, das Erschaffen von Schönheit, allen gemein ist und von Reichen und Armen, von Elite und Außenseitern geteilt werden soll. Aber es ist ebenso wahr, dass Costas Filme sich nicht auf die Kunst beschränken, den Reichtum der Armen an sinnlichen Erfahrungen wiederzugeben (vgl. Rancière 2012: 179f.). Vielmehr möchte Costa auch die Tragödie sichtbar machen, durch welche die Menschen in seinen Filmen zu ökonomisch und sozial ausgeschlossenen Wesen werden. Die Virtuosität des portugiesischen Regisseurs besteht darin, zwei gegensätzliche Situationen darzustellen, ohne dass diese miteinander vereinbar wären: Auf der einen Seite können seine Filme die Kunst der Armen durch Worte und Musik sicht- und hörbar machen, und zwar durch all jene Elemente, die sich auf ein gemeinsames Erlebnis beziehen, auf das Gemeinnützige, auf die res publica. Auf der anderen Seite vergegenwärtigen sie die Tragödie, den Riss, den Bruch, welche das Leben des Prekariats zerreißt und es an die äußeren Ränder der Gesellschaft treibt. Beide Realitäten ohne Lösung oder Synthese im stetigen Konflikt zu präsentieren, ist auch, obwohl Rancière dies nicht erwähnt, das Charakteristische der Kunst des Grausamen und somit das, was Costa in Mizoguchis Nähe rückt.
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Bilder des Abjekten gegen soziale und kulturelle Abjektion: Pasolinis Salò (1975) als Paradigma Für Serge Daney ist Pasolinis Salò das Werk dessen, »[der] beim Filmen des Bösen an nichts Böses denkt« (Daney 2000: 24). Dieser Film ist, wie Pasolini immer wieder betonte, eine brutale und gewaltsame Kritik an der Konsumgesellschaft sowie an der korrumpierten politischen und sozialen Macht im Jahr 1975. Und sie erfolgt durch den Vergleich der sozialen Korruption, dem Verfall der politischen und sozialen Gewohnheiten der Gegenwart, mit dem abjekten Verhalten der vier sadeschen Helden. Wir haben es abermals mit einem Beispiel zu tun, welches Nussbaum verwerfen würde,2 da der italienische Regisseur Abscheu einsetzt, um soziale und politische Kritik zu üben. Pasolini benutzt kaum erträgliche Bilder, um die Epoche zu kritisieren, in der sowohl er selbst als auch sein Publikum leben. Diese Kritik kann als metaphorisch bezeichnet werden, weil es sich sowohl um Bilder einer vergangenen historischen Wirklichkeit handelt als auch um die aus de Sades Fiktion Die 120 Tage von Sodom. Pasolini will aufzeigen, dass uns die Gesellschaft solch abjekte und anrüchige Verhaltensweisen aufzwingt, wie etwa diejenigen von Kindern, die gängige Hygienerituale noch nicht erlernt haben. Mit Ernesto de Martino ließe sich sagen, dass der Regisseur in einer kulturellen Apokalypse zu leben glaubt (vgl. Martino 1977: 670). Es handelt sich um eine Apokalypse, die kraft des Transzendierungsethos’, des In-der-Welt-sein-Sollens, eine Regression ins Anfangsstadium zur Folge hat, in jenen Ursprungszustand der Menschheit vor der Trennung zwischen tierisch und menschlich oder dem Zustand des bloßen biologischen Lebens. Die Regression beziehungsweise die kulturelle Apokalypse führt uns, wie Psychoanalytiker gezeigt haben, in einen Urzustand zurück, in dem das Kind noch nicht zur Ablehnung der Unreinheit und des Schmutzes (selbst der eigenen Exkremente) fähig ist. Die von Pasolini verwendeten Metaphern der Abjektion sollten im Licht dieser Überlegungen verstanden werden. Der abjekteste und unerträglichste Teil von Salò bezieht sich nicht auf das letzte Segment, das der mittelalterlichen Folterungen, sondern auf zwei Szenen der gemeinsamen Mahlzeiten und namentlich auf die skatologische Szene in der Mitte des Films inmitten des zweiten Höllenkreises. Es ist unmöglich, angesichts dieser Szene keinen Ekel und Brechreiz zu empfinden. Beim Zuschauer ein solch tiefes Unbehagen fühlbar zu machen, mag ein brutales und unkultiviertes Verfahren sein, aber es ist auch, Blumenberg zufolge, die sicherste Form, uns in die Wirklichkeit zurückzubringen und die Illusion zu überwinden, die ja eng mit der gefühlvollen Lust verbunden ist, welche das kommer2
Ein anderes Thema ist die Ablehnung von Pasolinis Pessimismus durch Didi-Huberman (2012), der meines Erachtens Pasolinis Diskurs nicht richtig verstanden hat.
Das Bild der Abjektion
zielle Kino und vor allen Dingen die Werbung hervorrufen (vgl. Blumenberg 2014: 744). Die skatologischen Szenen und der endzeitliche Sex sind die schrecklichste, brutalste und nicht zuletzt paradoxeste Verteidigung der bazinschen Distanz sowie des Postulats, den Platz des Anderen nicht einzunehmen. Deshalb ist Pasolinis Film nur scheinbar anti-bazinianisch: Er wendet sich nur vermeintlich kritisch gegen den Kritiker, der im sexuellen Akt und im Tod zwei »ontologische Obszönitäten des Kinos« gesehen hat (vgl. Joubert-Laurencin 1995: 290). Erneut wird hier sowohl mithilfe der als auch gegen die Abjektion gekämpft. Es geht um die Inszenierung einer grausamen und qualvollen Purifikationszeremonie, um die Überwindung des Abjekten sowie des Andersartigen kraft eines unreinen und kathartischen Prozesses. Dieser verlangt, im Abjekten, in den von der kulturellen Norm abweichenden Bildern zu versinken (denn nichts ist abartiger und perverser als Koprophagie) – und in einen ebenso perversen wie zweideutigen Stil (vgl. Kristeva 1982: 27ff.). Pasolinis abjekter Bildkatalog ist nur zu ertragen, wenn man eine distanzierte und puritanische Haltung einnimmt, die unsere Traumwelt verdrängt. Deshalb sind Pasolinis Worte absolut ernst zu nehmen, wenn er behauptet, dass sein Film »puritanisch und rigoros politisch« sei (Joubert-Laurencin 1995: 279). Puritanisch, weil neben der bereits erwähnten Regression Pasolinis Bilder der klarste Beweis für seine Absage an die Trilogie des Lebens waren, deren Rezeption seinerzeit derjenigen eines erotischen Konsumprodukts ähnelte; politisch, aufgrund seiner verzweifelten Verteidigung der Urteilskraft und der kritischen Distanz. Bezüglich dieser Distanz, die uns dazu befähigt, jene Ambiguität zu identifizieren und aufzulösen, hat die letzte von Pasolini gedrehte Szene eine fundamentale Bedeutung, obwohl sie nicht montiert wurde, da das entsprechende Negativ verschollen ist. Es handelt sich um eine Szene, in der alle Schauspieler, selbst jene, die die ermordeten Opfer gespielt hatten, in einem Schlusstanz erneut erscheinen. Jetzt begreifen wir Daneys Worte, wenn er die Meinung vertritt, dass der Autor von Salò, obwohl er das Böse gefilmt hat, nicht böse denkt. Pasolini zeigt das Unerträgliche damit die Zuschauer die Distanz, die Heterogenität sowie die Notwendigkeit einer Abwendung der narzistischen Mimesis abwägen können. Er stellt sie somit vor zwei unerträgliche Situationen: die der Opfer und die der Henker. Beide bilden die wirkmächtigste Metapher der ambivalenten Stellung des zeitgenössischen Menschen. Während uns die abjekten Essszenen schmerzhaft das Böse vor Augen führen, das in der narzisstischen Identifizierung mit den Opfern angelegt ist, dienen die letzten Sequenzen des Höllenkreises des Bluts dazu, Lüstling und Zuschauer gleichzusetzen, denn auch Letzterer lebt in einer Welt, in der die menschlichen Beziehungen pervertiert worden sind. Wie der Libertin mit dem Fernglas, so beobachtet auch der Zuschauer die ganze Sequenz über die Gräueltaten seiner Spielgesellen.
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Wir müssen schließlich einsehen, dass Salò nicht jene neuartige Kunsttendenz einleitet, die sich auf den Ausdruck des Abjekten konzentriert (vgl. Foster 1996) und besonders in den letzten Jahrzehnten etwa von der body-art, der performance oder der corpografía entwickelt worden ist. Dennoch wusste niemand besser als Pasolini, wie man abjekte Bilder gegen die Abjektion der zeitgenössischen Welt einsetzen kann.
Literatur Barthes, Roland (1986): Sade, Fourier, Loyola, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bazin, André (1976): »Schneiden verboten!«, in: ders. (Hg.): Was ist Film?, Berlin: Alexander, S. 75-89. Bazin, André (1982): The Cinema of Cruelty, New York: Seaver Books. Blumenberg, Hans (2014): Beschreibung des Menschen, Berlin: Suhrkamp. Daney, Serge (2000): »Das Travelling in Kapo«, in: ders. (Hg.): Im Verborgenen, Wien: PVS, S. 15-37. Didi-Huberman, George (2012): Das Überleben der Glühwürmchen, München: Fink. Esposito, Roberto (2008): Bíos. Biopolitics and philosophy, Minneapolis: University of Minnesota Press. Foster, Hal (1996): The Return of the Real. Art and Theory at the End of the Century, Cambridge: MIT Press. Joubert-Laurencin, Hervé (1995): Pasolini, portrait du poète en cinéaste, Paris: Cahiers du cinéma. Kristeva, Julia (1982): Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York: Columbia University Press. Martino, Ernesto de (1977): La fine del mondo. Contributo all’analisi delle apocalissi culturali, Turin: Einaudi. Nancy, Jean-Luc (2006): »Bild und Gewalt«, in: ders. (Hg.): Am Grund der Bilder, Zürich/Berlin: diaphanes, S. 31-50. Nussbaum, Martha C. (2006): Hiding from Humanity. Disgust, Shame, and the Law, Princeton: University Press. Pasolini, Pier Paolo (2001): Per il cinema, Bd. 2, Mailand: Mondadori. Rancière, Jacques (2012): Spielräume des Kinos, Wien: Passagen. Rivette, Jacques (2006): »Über die Niedertracht«, in: Seibert, Marcus (Hg.): Revolver: Kino muss gefährlich sein, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren, S. 130-133. Stavrakakis, Yannis (2007): The Lacanian Left. Psychoanalysis, Theory, Politics, Edinburgh: Edinburgh University Press.
Autorinnen und Autoren
Marco Assennato (Dr.), assoziierter Forscher am Laboratoire ACS (Architecture, Culture, Societé) der École nationale supérieure d’architecture (ENSA) ParisMalaquais. | Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Anthropologie, ethischpolitische Aspekte der Architektur, urbaner Raum und Umwelt | Publikationen (Auswahl): Paesaggio/Paesaggi. Vedere le cose (Hg., 2015), Pensare l’Europa. Quaderni della Fondazione Francesco Fabbri #1 (Hg., 2013), Linee di fuga. Architettura, teoria, politica (2011), Il paradossso dell’»uomo-ragno«. Pedagogia, intercultura e complessità (2009). Laura Bazzicalupo (Prof. Dr.), lehrt Politische Philosophie an der Universität Salerno und ist Vorsitzende der Società italiana di Filosofia politica. | Forschungsschwerpunkte: Biopolitische Gouvernementalität, Darstellung und politisches Subjekt | Publikationen (Auswahl): Crisi della democrazia (Hg., 2015), Politica. Rappresentazioni e tecniche di governo (2013), Eroi della libertà (2011), Biopolitica. Una mappa concettuale (2010), Superbia. La passione dell’essere (2008), Il governo delle vite. Biopolitica e economia (2006), Politica, identità, potere (2004) | Zusammenarbeit mit folgenden Zeitschriften: Diacritics, Filosofia politica, Ragion pratica, Iride. Daniel Blanga-Gubbay (Prof. Dr.), lehrt Politische Philosophie in der Kunst an der Académie Royale des Beaux Arts in Brüssel. | Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie, Performance | Publikationen (Auswahl): You Were Not Expected to Do This. On the Dynamics of Production (Mithg., 2017), Dancing Under Cover of a Fictional Rhythm (2016), The Movement of the Invisible (Mithg., 2016), The Time We Share. Reflecting on and through Performing Arts-One Introduction, Three Acts, and Two Intermezzos (Mithg., 2015). Gründer und Kurator der Forschungsplattform Aleppo. Vittoria Borsò (Prof. Dr.), lehrte Romanistische Literatur-und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. | Forschungsschwerpunkte: Biopolitik, Bio-Poetik und Epistemologie des Lebens in Literatur und visuellen Medien, Ästhetik von Visualität und Schrift, Iberian Postcolonialities, Literatur und Kultur Mexikos, Weltliteratur | Publikationen (Auswahl): Colonia-IndependenciaRevolución. Genealogías, latencias y transformaciones en la escritura y las artes de México
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(Mithg., 2017), Lateinamerika anders denken. Literatur – Macht – Raum (2015), Wissen und Leben – Wissen für das Leben. Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik (Hg., 2014), Espacios históricos – espacios de rememoración: la historia mexicana decimonónica en las letras y la cultura visual de los siglos XX y XXI (Mithg., 2014), Die Kunst, das Leben zu »bewirtschaften«. Biós zwischen Politik, Ökonomie und Ästhetik (Mithg., 2013), México: migraciones culturales – topografías transatlánticas. Acercamiento a las culturas desde el movimiento (Mithg., 2012), Benjamin – Agamben. Politics, Messianism, Kabbalah (Mithg., 2010), Die Macht des Populären. Politik und populäre Kultur im 20. Jahrhundert (Mithg., 2010), Das andere denken, schreiben, sehen. Schriften zur romanistischen Kulturwissenschaft (2008). Zahlreiche Aufsätze zu Literatur-, Kultur- und Medientheorie sowie zu den Literaturen Europas (Frankreich, Italien, Spanien) und Lateinamerikas. Sieglinde Borvitz (Dr.), lehrt Romanistische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. | Forschungsschwerpunkte: Biopolitik und Gouvernementalitätsstudien, Visuelle Kultur und Medienästhetik, Transgressives Schreiben, Italienische und Französische Literatur (insb. 19. bis 21. Jh.) | Publikationen (Auswahl): Liberté e(s)t choix. Verhandlungen von Freiheit in der französischen Literatur (Mithg., 2019), Metabolismo e spazio simbolico. Paradigmi mediali della Sicilia contemporanea (Hg., 2018), Phänomene der Verknappung in den romanischen Literaturen und Kulturen (Mithg., 2018), Controcorrente. Die kruden Visionen von Ciprì und Maresco (2014), Schwellen. Für eine neue Theorie des Raums (Mithg., 2014), Figurationen des Anderen (Mithg., 2011). María Luciana Cadahia (Prof. Dr.), lehrt Philosophie an der Pontificia Universidad Javeriana in Bogota, Kolumbien. | Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie und gegenwärtige politische Prozesse, Prozesse der Hegemonie und der Gegenhegemonie, Konstruktion des »gesunden Menschenverstands«, Kommunikationsmedien und zeitgenössische Ästhetik | Publikationen (Auswahl): Mediaciones de lo sensible. Hacia una crítica del Dispositivo (2017), Indignación y rebeldía. Crítica de un tiempo crítico (Mithg., 2013), Normalidad de la crisis/crisis de la normalidad (Mithg., 2012). Rodrigo Castro Orellana (Prof. Dr.), lehrt Philosophie an der Universität Complutense in Madrid. | Forschungsschwerpunkte: Zeitgenössische Philosophie, Politische Philosophie, Französische Philosophie, Lateinamerikanische Schule, Postkoloniale Theorien | Publikationen (Auswahl): La actualidad de Michel Foucault (Mithg., 2016), Poshegemonía. El final de un paradigma de la filosofía política en América Latina (Hg., 2015), Foucault Desconocido (Mithg., 2011), La Irrupción del Devenir: El Mayo Francés y la historia hecha Presente (Mithg., 2010), Foucault y el Cuidado de la Libertad: Ética para un Rostro de Arena (2008).
Autorinnen und Autoren
Giulia de Spuches (Prof. Dr.), lehrt Geographie und Geopolitik an der Universität Palermo. | Forschungsschwerpunkte: Urbane Phänomene, Geschlechter- und Genderkonstrukte im öffentlichen Raum, Grenze im Spannungsfeld von Repräsentation, geographischer Konzeption und Realität, Diasporastudien (Schwerpunkt Mittelmeer) | Publikationen (Auswahl): Abitare la diaspora in Europa. Il graphic novel come forma di geopolitica popolare (2016), Maredolce: l’invisibilità di un paesaggio imperiale. Geografie e memorie di un territorio (2015), Mediterraneo in diaspora. Soggetti plurali e nuove pratiche del domestico (2013), La città cosmopolita. Altre narrazioni (2011). Dario Gentili (Prof. Dr.), lehrt Moralphilosophie an der Universität Roma Tre. | Forschungsschwerpunkte: Moralphilosophie, Politische Philosophie, Rechtsphilosophie, Raumtheorie, Politische Topographien, Architektur, Stadttheorie, Biopolitik, Italian Theory. | Publikationen (Auswahl): Crisi come arte di governo (2018), Intellettuali di se stessi. Lavoro intellettuale in epoca neoliberale (Mithg., 2015), La linea del fuoco. Scritti, disegni, macchine (2014), Italian Theory. Dall’operaismo alla biopolitica (2012), Topografie politiche. Spazio urbano, cittadinanza, confini in Walter Benjamin e Jacques Derrida (2009). Chiara Giubilaro (Dr.), ist Postdoc Research Fellow in Kulturgeographie an der Universität Mailand. | Forschungsschwerpunkte: Mobilitätsgeographie, Ästhetik und Politik der Migration, Radikale Kartographie, Philosophische Raumtheorie | Publikationen (Auswahl): Corpi, Spazi, Movimenti. Per una geografia critica della dislocazione (2016). Pietro Maltese (Prof. Dr.), lehrt Pädagogik und Didaktik an der Universität Palermo. | Forschungsschwerpunkte: (Sozial-)Pädagogik in der postfordistischen Gesellschaft zwischen Bildung und Arbeit, Pädagogik im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Bildung (Habermas, Gramsci) | Publikationen (Auswahl): Gramsci, dalla scuola di partito all’Anti-Bucharin (2018), Vita, politica, rappresentazione. A partire dall’Italian Theory (Hg., 2016), L’università postfordista. Nuovi modi di produzione e trasmissione della conoscenza (2014), Generazioni precarie. Formazione e lavoro nella realtà dei call center (2011), Letture pedagogiche di Antonio Gramsci (2010), Il problema politico come problema pedagogico in Antonio Gramsci (2008), La teoria del discorso come pedagogia. Uno studio su »Fatti e Norme« di J. Habermas (2007). Giacomo Marramao (Prof. Dr.), lehrt Theoretische Philosophie an der Universität Roma Tre. | Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Zeit, Theorien der Macht, Säkularisierung, Globalisierung | Publikationen (Auswahl): Contro il potere. Filosofia e scrittura (2013), Die Säkularisierung der westlichen Welt (2006), Passaggio a Occidente. Filosofia e globalizzazione (2003), Kairós. Apologia del tempo debito (1992), Minima tem-
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poralia. Zeit, Raum, Erfahrung (1992), Macht und Säkularisierung. Die Kategorie der Zeit (1989). Elio Menzione, S. E. der Botschafter der Republik Italien in Deutschland von 2012-2014, vormals Botschafter der Republik Italien in Kuba (2001-2005), Südafrika (2008-2011) und Kolumbien (2011-2012) | Publikation: La sfida di New York. L’Italia e la riforma del Consiglio di Sicurezza dell’Onu (2017). Alice Pugliese (Prof. Dr.), lehrt Moralphilosophie an der Universität Palermo. | Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie, Edmund Husserl, Praktische Philosophie, Public Ethics | Publikationen (Auswahl): Der Spannungsbogen von Autonomie und Verletzlichkeit. Eine phänomenologisch-anthropologische Reflexion (2017), Phenomenology of drives: Between Biological and Personal life (2016), Rinnovamento e mediazione. Husserl e Dilthey di fronte alla storia (2015), Il movente dell’esperienza. Costituzione, pulsione ed etica in Edmund Husserl (2014), Unicità e relazione. Intersoggettività, genesi e io puro in Husserl (2009). Alexandra Rau (Prof. Dr.), lehrt Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. | Forschungsschwerpunkte: Gouvernementalität, Therapeutisierung der Gesellschaft, Prekarisierung, Gender, Sorgeverhältnisse | Publikationen (Auswahl): Macht und Psyche in entgrenzten Arbeitsverhältnissen. Reflexionen zur Sozialen Arbeit im Kontext von Neoliberalismus und Psychopolitik (2017), Historische Ontologie unserer selbst, Subjektivierung und Psychopolitik (2015), Geschlecht und Psychopolitik – zum Verhältnis von Subjektivierung und Macht (2013), Psychopolitik. Macht, Subjekt und Arbeit in der neoliberalen Gesellschaft (2010). Andrea Righi (Prof. Dr.), lehrt an der Universität Miami. | Forschungsschwerpunkte: Italienische Kulturwissenschaft, Kritische Theorie, Feministische Theorie, Neue Medien | Publikationen (Auswahl): TOTalitarian ARTs. The Visual Arts, Fascism(s) and Mass-society (Mithg., 2017), Italian Reactionary Thought and Critical Theory: An Inquiry into Savage Modernities (2015), Biopolitics and Social Change in Italy: From Gramsci to Pasolini to Negri (2011). Antonio Rivera García (Prof. Dr.), lehrt Philosophie an der Universität Complutense in Madrid. | Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie, Ästhetik | Publikationen (Auswahl): Paranoia política contemporánea, un caso de gnosticismo politico (2017), El contra-Leviatán de Miguel Abensour (2016), La crítica del absolutismo en el contexto de la emancipación Americana (2015), La ontología de la presencia. El pensamiento de Hans Ulrich Gumbrecht (Mithg., 2012), Schiller, arte y política (Hg., 2010), El Dios de los tiranos (2007), Reacción y revolución en la España liberal (2006), La política del cielo. Clericalismo jesuita y Estado moderno (1999), Republicanismo calvinista (1999).
Autorinnen und Autoren
Valerio Rocco Lozano (Prof. Dr.), lehrt Geschichte der modernen Philosophie an der Universidad Autónoma in Madrid. | Forschungsschwerpunkte: Deutscher Idealismus, Geschichtsphilosophie, europäische Philosophie | Publikationen (Auswahl): La herida del concepto (Mithg., 2016), Europa: tradición o proyecto (Mithg., 2013), Teología y Teonomía de la política (Mithg., 2012), La vieja Roma en el Joven Hegel (2011), Filosofía del Imperio (Mithg., 2010). Anna Serlenga (Dr.), ist Projektmitarbeiterin an der Iuav-Universität in Venedig. | Forschungsschwerpunkte: Ästhetik und Politik des Performativen, Arabic Performance Studies, Postkolonialismus, Biopolitik | Publikationen (Auswahl): Teatro di crisi: territorio e produzione culturale a Sarajevo (1992-2008) (2018), Tunisi. Piccola guida performativa (2014). Samuel Sieber (Dr.), ist Programm- und Kommunikationsberater für Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen, Medientheoretiker und freier wissenschaftlicher Mitarbeiter. | Forschungsschwerpunkte: Neue Medien, digitale Kommunikation und Intermedialität, Diskurs- und Dispositivanalyse, Medientheorie und -philosophie, Politische Philosophie, Ludologie/Game Studies | Publikationen (Auswahl): Constructions of Cultural Identities in Newsreel Cinema and Television after 1945 (Mithg., 2016), Macht und Medien. Zur Diskursanalyse des Politischen (2014). Trinkaus, Stephan (PD Dr.), forscht zu Geschlechtersoziologie an der Universität Bielefeld und hat 2017 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zum Thema »Prekäre Gemeinschaft – Zu einer diffraktiven Theorie des Haltens« habilitiert. Er ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift für Medienwissenschaft. | Forschungsschwerpunkte: Prekarität, kulturelle, sexuelle und soziale Differenz, Feministischer Materialismus, Fernsehen | Publikationen (Auswahl): Wissen, Materialität, Sorge: Into the Chthulucene II (2018), »Everything stays down where it’s wounded« – Precarious Ontologies and Ecologies of Poison (2017), »Wie Kommunikation aus dem Schweigen aufsteigt«: Das Prekäre des Spiels (2017), Geschlechter Interferenzen. Wissensformen – Subjektivierungsweisen – Materialisierungen (Mithg., 2013), Geste. Bewegungen zwischen Film und Tanz (Mithg., 2009), »Blank Spaces« – Inzest und Gabe als Figuren des Ursprungs von Kultur (2005). Salvo Vaccaro (Prof. Dr.), lehrt Politische Philosophie an der Universität Palermo. | Forschungsschwerpunkte: Französischer Poststrukturalismus, Kritische Theorie, Studien zur Governance, Gouvernementalität und Biopolitik | Publikationen (Auswahl): Critique de la grammaire politique (2017), Anarchist Studies. Una critica degli assiomi culturali (2016), Vita politica contingenza (Mithg., 2016), Agire altrimenti. Anarchismo e movimenti radicali nel XXI secolo (Hg., 2014), L’onda araba. I documenti delle rivolte (2012), Il governo di sé, il governo degli altri (Mithg., 2011), Pensare
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altrimenti. Anarchismo e filosofia radicale del Novecento (2011), Governance e democrazia (Mithg., 2009), Lo sguardo di Foucault (Mithg., 2007), Biopolitica e disciplina (2005), Globalizzazione e diritti umani (2004). José Luis Villacañas Berlanga (Prof. Dr.), lehrt Geschichte der Philosophie an der Universität Complutense in Madrid. | Forschungsschwerpunkte: Lateinamerikanisches Denken, Geschichte der Beziehungen zwischen spanischer und deutscher Philosophie, Kant und der deutsche Idealismus, Max Weber und sein Erbe, Carl Schmitt, Reinhart Koselleck. | Publikationen (Auswahl): Imperio, Reforma, Modernidad, Bd.: La Revolución intelectual de Lutero (2017), Enclyclopedia of Postcolonial Studies (Mithg., 2016), Teología política imperial y Comunidad de Salvación Cristiana (2015), Deificatio imperial y religión de salvación. Una perspectiva weberiana sobre el problema de la teología política (2013), La mano del que cuenta (2011), Poder y Conflicto. Ensayos sobre Carl Schmitt (2008), ¿Qué imperio: un ensayo polémico sobre el imperio hispánico? (2008), Kant en España (2005).
Soziologie Naika Foroutan
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Maria Björkman (Hg.)
Der Mann und die Prostata Kulturelle, medizinische und gesellschaftliche Perspektiven 2019, 162 S., kart., 10 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4866-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4866-3
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Soziologie Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)
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Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf
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