Leben in Gemeinschaft: Politische Anthropologie anhand Hesiod 9783787336968, 9783787336951

Hesiod, einer der frühesten bekannten europäischen Dichter, ist auch von philosophischem Interesse, vor allem in ethisch

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German Pages 228 [229] Year 2019

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Leben in Gemeinschaft: Politische Anthropologie anhand Hesiod
 9783787336968, 9783787336951

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Simon Varga

Leben in Gemeinschaft Politische Anthropologie anhand Hesiod

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3695-1 ISBN eBook: 978-3-7873-3696-8 www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2019. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: 3W+P GmbH, Rimpar. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Hesiods Politische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

eris: Wettstreit und Fortkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . dikê: Gerechtigkeit als Lebensprinzip . . . . . . . . . . . . . . . ergon: Selbstbestimmung durch Arbeit . . . . . . . . . . . . . oikos: Hausgemeinschaft als Lebensmittelpunkt . . . . . . philia: Notwendigkeiten der Freundschaft . . . . . . . . . . timê: Achtung des Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24 29 34 38 43 47

3. Überblick, Positionen und Klärungen . . . . . . . . . . . . . . . .

53

3.1 Hesiods Lebensbereiche und -beziehungen . . . . . . . . . . 3.2 Perspektiven der Hesiod-Interpretationen . . . . . . . . . . . 3.3 Hesiod als Beginn der Vorsokratik . . . . . . . . . . . . . . . . .

53 57 61

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit . . . . . . .

67

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Anthropologie der Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Gerechtigkeit – Gemeinschaft – Gemeinsinn . . . . . . . . 81 Mensch und Schaffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Familie als zentrale Lebensgemeinschaft . . . . . . . . . . . . 115 Freundschaft als unveräußerliche Lebensbeziehung . . . 134 Philosophische Kontemplation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

5. Grundlegung und Erweiterung politischer Anthropologie

163

5.1 Hesiods Grundlagen in Aufriss und Übertragung . . . . 164 5.2 Erweiterungsebene 1: politische Teilhabe . . . . . . . . . . . 165 5.3 Erweiterungsebene 2: kosmopolitische Identität . . . . . . 178

6. Definitionen, Kritiken und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . 191 6.1 Politische Anthropologie erster und zweiter Stufe . . . . 191 6.2 Ansätze der Anthropologiekritik mit drei Repliken . . . 197 6.3 Signifikante Lebensbereiche und Lebensbeziehungen . 203 7. ,Entscheiden‘ Mensch zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

6

Inhalt

▬ »Eine Lehre von der Kenntnis des Menschen, systematisch abgefasst (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. – Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht oder machen kann und soll« (Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Vorrede). ▬

Vorwort

E

ine Anthropologie zu entwickeln steht vor mindestens drei Problemen: Erstens tragen die Entwürfe etwaiger Menschenbilder oftmals die Etiketten unzulässiger Verallgemeinerungen, mitunter auch politischer oder bzw. und religiöser Ideologien. Zweitens stellt sich die berechtigte Frage, ob eine Anthropologie – eine Lehre vom Menschen, auch verstanden als eine Lehre vom Menschsein – überhaupt geleistet werden kann, zumal Begriffe wie Mensch, Individuum, Gemeinschaft usw. immer wieder Änderungen erfahren haben. Und drittens: Eine explizite Politische Anthropologie steht unter dem Generalverdacht, den Menschen der Zukunft zu bevormunden. Dabei ist es vor allem die Politische Anthropologie, die – wiederum mindestens – aus drei Gründen unverzichtbar erscheint. Zum einen ist es eine Notwendigkeit, einen Dialog über das Leben in Gemeinschaft zu führen. Zum anderen ist das Zusammenleben ein permanentes politisches Leben im weiteren Sinne, in allen Angelegenheiten des Menschseins in Gemeinschaft. Drittens sind es Menschenbilder, die bestimmen, wie wir in Zukunft unser Zusammenleben gestalten werden. Die vorliegenden Überlegungen basieren auf dem Vortrag Hesiod’s Political Anthropology, den ich am XXIII. World Congress of Philosophy in Athen gehalten habe. Seit diesen Tagen hat mich das Projekt viele Jahre kontinuierlich begleitet. Ich danke Otfried Höffe (Tübingen) und Josef Rhemann (Wien) für die kritischen, jedoch bestärkenden Einschätzungen und Kommentierungen. Ein Aufenthalt am Center for Hellenic Studies (CHS) der Harvard University hat es mir ermöglicht, das Vorhaben zu einem vorläufigen Abschluss zu bringen. Einer der Grundsätze des CHS, „to rediscover the humansim of the Hellenic Greeks“, ist mir leitendes Anliegen. Hesiod betrachtet das Zusammenleben so gut wie ausschließlich aus der Perspektive der (aus seiner Sicht unverzichtbaren) Lebensgemeinschaft des oikos heraus. – Ich widme dieses Buch meinen Eltern und meiner Familie. Washington D.C. & Wien, 2019

Simon Varga

Übersicht

In der vorliegenden Studie geht es um das Leben des Menschen in Gemeinschaft, um die Grundlegung einer politischen Anthropologie anhand von Hesiod, dabei vor allem durch den Text der Werke und Tage. Dieses Vorhaben wird nach einer kurzen Hinführung und dem Einstieg in das Feld der philosophischen Anthropologie im Allgemeinen (Kap. 1) in fünf Schritten umgesetzt: (i) Im ersten Schritt erfolgt eine direkte Darstellung der Ansätze und Themen der politischen Anthropologie bei Hesiod (Kap. 2). Dabei stehen insbesondere die Begriffe eris, ,guter‘ und ,schlechter‘ Konflikt (Kap. 2.1), dikê, Gerechtigkeit und Recht (Kap. 2.2), ergon, Arbeit und Tätigkeit (Kap. 2.3), oikos, Haus- und Hofgemeinschaft (Kap. 2.4), philia, Freundschaft (Kap. 2.5) und timê, (Gottes-)Achtung (2.6), im Mittelpunkt der Betrachtung. Alle diese Lebensbereiche und Lebensbeziehungen in der Darstellung Hesiods machen deutlich, dass die Werke und Tage nicht ausschließlich von mythologisch-theologischem oder sprachlich-dichterischem Interesse sind, sondern ebenso aus einer politisch-anthropologischen Perspektive Beachtung finden sollten. Anschließend daran folgt im Rahmen des nächsten Abschnitts (Kap. 3) eine komprimierte Zusammenfassung der sechs politischanthropologischen Bestimmungen Hesiods in Verbindung mit einer Auslegung des eigentlichen Ziels der Werke und Tage, nämlich des ,glückseligen Menschen‘ in gelingender Gemeinschaft (Kap. 3.1). Nicht alle der angesprochenen sechs Lebensbereiche und -beziehungen Hesiods haben bislang innerhalb der Philosophie Anerkennung erhalten, weshalb sich das nächste Kapitel mit aktuellen Forschungsmeinungen zu Hesiod auseinandersetzt und sich dabei für einzelne, aber doch bedeutende Korrekturen und Verdeutlichungen in der Interpretation ausspricht (Kap. 3.2). Die Bestimmung Hesiods als einen der ersten Vorsokratiker bildet den Abschluss des ersten Teils und erscheint insbesondere in Anbetracht der ethisch-politischen Dimensionen der Werke und Tage als überaus angebracht (Kap. 3.3).

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(ii) Nach der Übersetzung der politisch-anthropologischen Lebensbereiche und -beziehungen Hesiods folgen – unter gänzlicher Rücksichtnahme auf die notwendigen Einschränkungen des Vergleichs (Kap. 4) – Verortungen von eris, dikê, ergon, oikos, philia und timê im Spiegel der Philosophie der Neuzeit. Ziel ist es dabei u. a. aufzuzeigen, dass Hesiod in der Thematisierung dieser Dimensionen zentrale Themen der Geschichte der Philosophie rudimentär angesprochen und sie dadurch zumindest zum Thema gemacht hat. Vorausblickend sei an dieser Stelle festgehalten, dass in der Auseinandersetzung mit der Philosophie der Neuzeit keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit besteht, sondern vielmehr das Anliegen verfolgt wird, darzulegen, dass Hesiod in Werke und Tage wesentliche Themen der Philosophie bereits in Ansätzen bearbeitet hat. Anknüpfend an diese kursorische philosophiegeschichtliche Verortung erfolgt eine Übertragung dieser Motive in die Grundlegung einer politischen Anthropologie der Gegenwart, abgeleitet aus der Auseinandersetzung mit Hesiod und den erkennbaren Bezügen in der Philosophie der Neuzeit mit folgenden politisch-anthropologischen Perspektiven: Anthropologie der Kooperation (4.1); Gerechtigkeit – Gemeinschaft – Gemeinsinn (4.2); Mensch und Schaffen (4.3); Familie als zentrale Lebensgemeinschaft (4.4); Freundschaft als unveräußerliche Lebensbeziehung (4.5) und Philosophische Kontemplation (4.6). (iii) Der dritte Schritt (5.) entwickelt sich in drei Kapiteln, beginnend mit der Zusammenfassung der Grundlegung der politischen Anthropologie anhand von Hesiod und deren Übertragung, die in einem größtenteils unkommentierten, tabellarischen Gesamtüberblick dargestellt wird (5.1). Daran anschließend wird der Frage nachgegangen, welche Lebensbereiche und -beziehungen Hesiod in dem Text der Werke und Tage nicht oder nur am Rande erörtert und warum. Dabei handelt es sich insbesondere um zwei politische Perspektiven, die bei Hesiod keinen größeren Stellenwert in seinem Nachdenken über das Leben in Gemeinschaft zugesprochen bekommen, aber dennoch für die Entwicklung einer politischen Anthropologie überaus relevant erscheinen und auch aus einer Auseinandersetzung mit der politischen Philosophie der Antike heraus abgeleitet werden können.

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Übersicht

Zum einen handelt es sich um den Bereich der politischen Gemeinschaft des Menschen über das Haus, den oikos, hinaus. Weder die Gemeinde noch die Polis sind – im Vergleich zu den anderen Themen der sechs politisch-anthropologischen Dimensionen – für Hesiod in Werke und Tage verstärkt von Bedeutung. Dabei stand gerade dieser größere Bereich der politischen Gemeinschaft, die Gemeinde und die Polis, für die Philosophie der Antike nach Hesiod im unmittelbaren Fokus der politischen Philosophie. Dieser Aspekt, subsumiert unter den Begriff der ,politischen Teilhabe‘, soll in einem weiteren Schritt als erste Ergänzung zu Hesiod aus der Philosophie der Antike (durch Aristoteles) thematisiert und eine Übertragung in die Gegenwart geleistet werden (5.2). Zum anderen tätigt Hesiod keine Aussagen über etwaige polisübergreifende politische oder ethische Konzepte, was in Anbetracht des historischen Rahmens alles andere als verwunderlich ist. Dennoch ist insbesondere das kosmopolitische Argument eine geistige Errungenschaft der Philosophie der Antike, die vor allem für eine Politische Anthropologie unverzichtbar erscheint. Selbst vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Philosophie der Klassik, namentlich Platon und Aristoteles, keine kosmopolitischen Konzepte, sondern ihr politisches Denken über die politikê koinonia so gut wie ausschließlich in der Begrenzung der Polismauern nach innen entwickelt hat. Anhand der Sophisten, der Kyniker und der Stoiker lässt sich hingegen ein kosmopolitisches Konzept nachzeichnen, das ebenso wie der zuvor genannte Bereich der politischen Teilhabe zu einer politischen Anthropologie hinzugestellt wird: die ideelle kosmopolitische Identität des Menschen als politisch-anthropologisches Konstitutiv (5.3). (iv) Im nächsten Schritt (6.) werden drei Themen angesprochen und bearbeitet. Erstens erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der ,politischen Anthropologie‘ im Rahmen des aktuellen wissenschaftlichen Diskurses. Dabei wird die Politische Anthropologie ,erster‘ und ,zweiter Stufe‘ ausdifferenziert, um es zu ermöglichen, das potentielle Leistungsspektrum dieser Fachdisziplin in ihren Fragestellungen heute deutlicher fassen zu können (6.1). Zweitens folgt eine Auseinandersetzung mit der Anthropologiekritik, dabei insbesondere mit jenen kritischen Stimmen ausgehend aus dem 20. Jahrhundert, die das allgemeine Anliegen jeglicher philosophischer Anthropologie einer umfassenden, grundlegenden und Übersicht

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systematischen Kritik unterzogen haben. Abschließend folgt darauf eine partielle Replik auf die Kernargumentationen der Anthropologiekritik in drei Punkten, die nicht zum Ziel hat, die Anthropologiekritik pauschal zu widerlegen, sondern vielmehr aufzeigen soll, dass die Politische Anthropologie zwangsläufig historische Implikationen aufweist und aufgrund der permanenten Transformation des Verständnisses von Mensch, Politik und Gemeinschaft im Verlauf der Geschichte des Menschen korrigierbar und gestaltbar, also in einem gewissen Sinne offen bleiben muss (6.2). Drittens wird das in dieser Studie anhand von Hesiod abgeleitete ,Konzept signifikanter Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen in Gemeinschaft‘ entwickelt und in einer Übersicht dargestellt, ergänzt durch die Perspektiven der ,politischen Teilhabe‘ (vgl. Kap. 5.2) und der ,kosmopolitischen Identität‘ (vgl. Kap. 5.3). Dem geht eine kursorische Auseinandersetzung mit anderen Konzepten (wie John Rawls, Martha Nussbaum und Michael Walzer) voraus, um auf diesem Wege zu zeigen, dass Hesiod mit seinem Nachdenken bereits dem Anliegen nach einer möglichen Bestimmung des guten und gelingenden Lebens des Menschen in Gemeinschaft auf seine Art und Weise nachgegangen ist (6.3). (v) Abschließend erfolgt in einem fünften Schritt die Darstellung ausgewählter Ergebnisse. Zum einen wird nochmals Bezug auf die Politische Anthropologie als Fachdisziplin genommen. Zum anderen wird die Beschäftigung mit Hesiods Werke und Tage aus der Perspektive einer politischen Anthropologie angesprochen und festgehalten, dass Hesiod insbesondere zum Ausdruck bringt, dass der Mensch Wahlfreiheit in seiner Lebensführung bzw. -gestaltung hat und dass er individuell wie auch gemeinschaftlich darüber reflektieren kann. Hesiod und die Politische Anthropologie zeigen, was es heißen kann: ,Entscheiden‘ Mensch zu sein (7).

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Übersicht

1. Hinführung

»Was ist der Mensch?« – Mit dieser Frage nach dem Wesen des Menschen hat Immanuel Kant eine der wichtigsten Hauptfragen der Philosophie in einfacher, deutlicher Sprache erneut auf den Punkt gebracht und darüber hinaus festgehalten, dass alle anderen Fragen der Philosophie in ,weltbürgerlicher Bedeutung‘ – Was kann ich wissen?, Was soll ich tun?, Was darf ich hoffen? – im Grunde genommen auf diese eine Frage nach dem Menschen gerichtet und damit in Summe auch ein anthropologisches Thema sind (vgl. Kant: Logik, A 25). Seit den für uns heute nachvollziehbaren Anfängen des antiken griechischen Denkens steht diese Frage nach dem Menschen, neben anderen Themen, z. B. aus den Bereichen der Astronomie, der Mathematik oder der Theologie, in ihrem Grundanliegen im Zentrum vieler philosophischer Überlegungen. Die Philosophische Anthropologie, als Fach in der Neuzeit begründet, der Sache nach jedoch deutlich älter und dem Inhalt nach seit der Antike von größerem Interesse, hat es sich seit ihrem Beginn zur Aufgabe gemacht, diese eingangs angeführte Frage Kants einer umfassenden Beantwortung zuzuführen. Mögliche Antworten auf die ,Frage nach dem Menschen‘ sind in der Geschichte der Philosophie immer wieder gegeben worden, allerdings aus unterschiedlichen Perspektiven und mit den unterschiedlichsten Ergebnissen. Auffallend bei einer Auseinandersetzung mit der Geschichte der philosophischen Anthropologie ist, dass die Philosophie zu einer möglichen Beantwortung der kantschen Frage durch die Jahrhunderte hindurch bis heute keineswegs einfacher gelangen konnte bzw. gelangt ist, sondern im Gegenteil, immer schwieriger. Friedrich Nietzsche hat in der Genealogie der Moral im Jahr 1887 in seiner Art und Weise festgehalten, dass der Mensch ,unfestgestellter‘ als alle anderen ,Tiere‘ sei. »Denn der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgend ein Thier sonst, daran ist kein Zweifel, […]« (Nietzsche: Genealogie der Moral, III 13). 15

Im Verlauf der Geschichte der philosophischen Anthropologie scheint also – auf den ersten Blick – eine unmittelbare Kenntnis über das Wesen des Menschen eher ab- als zuzunehmen. In der Antike u. a. als fester Bestandteil des Kosmos, innerhalb der Ordnung der Natur, gedacht; im Mittelalter u. a. als Mittelpunkt, als Krönung der Schöpfung Gottes, in der Neuzeit u. a. als autonomes, selbstverantwortetes Lebewesen usw., steht die Philosophische Anthropologie heute in Aktualität und Bedeutung (zu Unrecht) am Rand. Und darüber hinaus wurden immer lauter werdende Zweifel zum Ausdruck gebracht, ob eine allgemeingültige Antwort auf die Frage Kants überhaupt in abschließender Art und Weise geleistet werden kann, worauf auch die Anthropologiekritik des 20. Jahrhunderts Bezug nahm. Dabei ist gerade die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Zeit, in der die Philosophische Anthropologie neue Impulse setzte, und das bereits in dem Bewusstsein um die Schwierigkeiten des Anliegens selbst. Wilhelm Dilthey, eine der wichtigsten Bezugspersonen philosophisch-anthropologischen Denkens des letzten Jahrhunderts, hält zur philosophischen Anthropologie im Allgemeinen fest: »Was der Mensch sei und was er wolle, erfährt er erst in der Entwicklung seines Wesens durch die Jahrtausende und nie bis zum letzten Worte, nie in allgemeingültigen Begriffen, sondern immer nur in den lebendigen Erfahrungen, welche aus der Tiefe seines ganzen Wesens entspringen« (Dilthey: Pädagogische Wissenschaft, 57).

Einer der zentralen Kritikpunkte am Grundanliegen, an den Bestimmungen und an den Konzepten der philosophischen Anthropologie lautet, ob es überhaupt möglich ist, das Wesen des Menschen allgemeingültig, gewissermaßen ahistorisch, zu bestimmen und festzuhalten (vgl. Kap. 6.2). Diese methodische Frage bzw. Kritik ändert allerdings nichts an der – nach wie vor aktuellen sowie prinzipiellen – ,Unfestgestelltheit Mensch‘, die Nietzsche in seiner Genealogie der Moral angesprochen hatte und die auch von anderen gesehen wurde. Max Scheler konstatiert in seinem Bemühen um ein Fortkommen der philosophischen Anthropologie am Beginn des 20. Jahrhunderts nachdrücklich:

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1. Hinführung

»Wir sind in der ungefähr zehntausendjährigen Geschichte das erste Zeitalter, in dem sich der Mensch völlig und restlos „problematisch“ geworden ist; in dem er nicht mehr weiß, was er ist, zugleich aber auch weiß, dass er es nicht weiß« (Scheler: Mensch und Geschichte, 120).

Angesichts rasanter technischer, biomedizinischer und politischer Entwicklungen, insbesondere in den vergangenen letzten Jahrzehnten des zurückliegenden 20. Jahrhunderts, sowie den damit verbundenen ethischen wie politischen Frage- und Problemstellungen, die bis heute aktuell sind und es auch noch in den kommenden Jahrzehnten sein werden, z. B. in der digitalen Kommunikation, der Gentechnik, der internationalen bzw. globalen Politik usw., eine sicherlich nicht gänzlich unzutreffende Analyse Schelers, die in Teilen ebenso wie Diltheys Befund zuvor an Nietzsches Attestierung erinnert. Allerdings zeichnet die Philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts insbesondere aus, dass viele ihrer Vertreter trotz aller systematischen Schwierigkeiten und der vielfach vorgetragenen fachlichen Kritik von Bedeutung und Brisanz des Grundanliegens dennoch zur Gänze überzeugt sind. »Wenn es eine philosophische Aufgabe gibt, deren Lösung unser Zeitalter mit einzigartiger Dringlichkeit fordert, so ist es die einer philosophischen Anthropologie. Ich meine eine Grundwissenschaft vom Wesen und vom Wesensaufbau des Menschen; […]« (Scheler: Mensch und Geschichte, 120).

In Anbetracht des Titels dieser Untersuchung stellt sich jedoch zuallererst die – aus heutiger Perspektive freilich berechtigte – Frage, welchen Beitrag ein antiker Autor wie Hesiod zu Klärung der kantischen Pointierung der Aufgaben philosophischer Anthropologie beitragen kann? Die Antwort lautet in aller Kürze: in Bezug auf eine Lösung der spezifischen anthropologischen, ethischen oder politischen Problemstellungen der Gegenwart kaum etwas; in Bezug auf einen Versuch, den Menschen als Menschen in seiner politischen Natur zu fassen und die wichtigsten Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen erstens aufzuzeigen und zweitens zumindest rudimentär zu diskutieren sowie dadurch deren Relevanz aufzuzeigen, hingegen einiges.

1. Hinführung

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Das Ziel der Studie ist somit u. a. der Nachweis der Ansätze einer politischen Anthropologie bei Hesiod, insbesondere in dem Text der Werke und Tage, wo meiner Ansicht nach zentrale Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen definiert werden – wenn auch bloß skizzenhaft und in der Sprache des Dichters. Hesiod zeichnet in seinem Denken eine Anthropologie vor und bringt diese in unmittelbare Verbindung mit dem guten und gelingenden Leben. Damit entwickelt er, lange vor dem klassischen griechischen Denken von Sokrates, Platon oder Aristoteles und bereits vor sämtlichen der sogenannten Vorsokratiker, Konnotationen zwischen Anthropologie und Ethik. Weiters soll nach diesem historischen Zugang gezeigt werden, dass Hesiod mit diesen Überlegungen aus systematischer Perspektive viele Bereiche des Lebens des Menschen bis heute thematisiert hat, auch wenn diese Bestimmungen zwar nicht als Antworten auf aktuelle philosophische Problemstellungen verstanden, aber als überaus anregende und allgemeingültige Ausgangspunkte philosophisch-politischer Anthropologie herangezogen werden können. Wer eine Politische Anthropologie zum Thema machen will, der muss ansatzweise klären, was darunter verstanden werden kann, zumal dieser Bereich wenig Aufmerksamkeit erfährt. Unbezweifelbare Tatsache ist, dass die Philosophische Anthropologie im Allgemeinen, und damit auch das Teilgebiet der spezifisch politischen Anthropologie, keine nebensächliche Spielerei einer Neben- oder Randdisziplin darstellt. Denn: „Anthropologische Vorstellungen bzw. Menschenbilder sind mehr als nur Glaubenssache. Sie bestimmen nicht nur, wie wir uns selbst und andere sehen, sondern auch, wie wir miteinander umgehen. Und damit haben sie weit reichende Auswirkungen darauf, wie wir miteinander leben“ (Bauer: 2013, 10). Im Bereich der politischen Anthropologie, der Lehre vom Menschen als Individuum innerhalb von (politischer) Gemeinschaft, trifft das besonders zu. Denn damit verbunden ist auch die ethische Frage, wie das gute Leben des Einzelnen und das gelingende Zusammenleben des Menschen in Gemeinschaft möglich ist und auf welche Lebensbereiche und -beziehungen es letztendlich dabei ankommt. Politische Anthropologie verstehe ich daher als diese Schnittmenge aus Ethik und Politik, die nach möglichen konstitutiven Charakteristika des Zusammenlebens fragt und deren Bedeutung für das individuelle gute und das gemeinschaftlich gelingende Leben des Menschen aufzeigt. 18

1. Hinführung

Diese Untersuchungen fokussieren also Kernthemen einer politischen Anthropologie, verstanden als das Fragen nach dem Leben des Menschen innerhalb von Gemeinschaft, dessen Mittelpunkt der Mensch als soziales und politisches Lebewesen ist. Der Bereich des Politischen ist damit weiter gefasst, als das heute zumeist der Fall ist, wenn von Politik im Allgemeinen gesprochen wird. Aristoteles hat diesen größeren Bereich des Politischen in der Verbindung von Ethik und Politik umfassend bestimmt. So u. a. durch die Definition des Menschen als zôon politikon, als politisches Lebewesen, d. h. als Lebewesen, das von Natur aus als Individuum innerhalb von Gemeinschaft lebt (vgl. Aristoteles: Politik I 2, 1253a1). Auch wenn andere Anthropologien, so z. B. jene von Thomas Hobbes und des homo homini lupus oder des bellum omnium contra omnes, den Ansichten von Aristoteles diametral gegenüberstehen, erscheint es dennoch auch heute noch als unstrittig, dass der Mensch sein Leben nicht zur Gänze losgelöst vom Zusammenleben mit anderen Menschen leben und führen kann. So hält es auch Aristoteles fest: Derjenige, der der Gemeinschaft mit anderen Menschen nicht bedarf, ist entweder ein wildes Tier oder aber ein Gott (vgl. Aristoteles: Politik I 2, 1253a28). Die aristotelische Verbindung von Ethik und Politik, die er auch zusammengefasst als die Philosophie der menschlichen Angelegenheiten (anthrôpeia philosophia) bezeichnet hat (vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik X 10, 1181b15), ist eine der wichtigsten Grundlagen einer politischen Anthropologie im weiteren Sinne. Und zuweilen hat auch Aristoteles die ,Philosophie der menschlichen Angelegenheiten‘ als ,politische Wissenschaft‘ (politikê) im umfassenden Verständnis bezeichnet. Ich verstehe daher in diesen Untersuchungen die Politische Anthropologie als einen Teilbereich der allgemeinen bzw. klassischen philosophischen Anthropologie. Die Politische Anthropologie fragt u. a. nach den grundlegenden Lebensbereichen und -beziehungen, die zum einen für das gute Leben des Einzelnen und zum anderen für das gelingende Zusammenleben des Menschen innerhalb von Gemeinschaft zentral sind. Diesem Unternehmen hat sich bereits Hesiod angenommen und dabei gezeigt, worauf es letztendlich im Leben des Menschen ankomme.

1. Hinführung

19

2. Hesiods Politische Anthropologie

Hesiod gehört zweifelsfrei zu dem engsten Kreis der wichtigen Autoren, die aus der griechischen Antike überliefert sind. Seine beiden Lehrgedichte, die Theogonie und die Werke und Tage, gelten als Zeugnisse einer „archaischen Philosophie“ (Gigon: 1968, 39), die als ein „vorwissenschaftliches Denken“ (Schmidt E.G.: 1991, 182) charakterisiert und gelegentlich auch, gemeinsam mit den Epen Homers, als „Ausgangspunkt der europäischen Philosophie“ (Schönberger: 2007, 99) begriffen werden können. Bereits in der Antike wurde den Erzählungen Hesiods – zumeist verbunden mit jenen Homers – große Aufmerksamkeit zuteil. Herodot würdigt beide Dichter insbesondere aufgrund ihrer umfassenden mythologischen Erzählungen und der dabei erfolgten Ausgestaltung und Gliederung der griechischen Götterwelt (vgl. Herodot: Historien, II 53). Ein weiterer Beleg für die nicht zu unterschätzende Bedeutung der frühgriechischen Dichtung für die Kulturund Geistesgeschichte der Antike ist ebenso die vielfache Kritik an deren ,Philosophie‘, die bereits beginnend in der Vorsokratik geäußert wurde und die bis in das Athen von Sokrates, Platon und Aristoteles reichte. Xenophanes war mit den anthropomorphen mythisch-theologischen Darstellungen der Götter bei Homer und Hesiod unzufrieden (vgl. Mansfeld, Xenophanes: 25; DK 21 B 11). Auch Heraklit übte an den sogenannten Volkssängern deutliche Kritik. Im Zuge dessen weist er allerdings ebenso auf den Stellenwert Hesiods zur damaligen Zeit, nämlich als ,Lehrer der meisten‘, hin (vgl. Mansfeld, Heraklit: 11; DK 22 B 104 / 14; DK 22 B 42 / 16; DK 22 B 40 / 17; DK 22 B 57). Über die Vorsokratik hinaus ist auch noch in Platons Politeia deutliche Kritik an der Dichtung und an den seiner Ansicht nach mehr als fragwürdigen Inhalten, die vor allem in Bezug auf die fokussierte Erziehung der Jugend innerhalb der Polis als problematisch erscheinen, nicht zu überhören (vgl. Platon: Politeia, 376d-377d). Diese Kritiken machen u. a. deutlich, welchen Stellenwert Homer und Hesiod – auch in politischen Dingen, wie eben z. B. in Bezug auf die Erziehung – gehabt haben.

21

Doch Hesiods Verdienst ist nicht allein auf sein mythisch-theologisches Denken, auf den Götterstammbaum der Theogonie verbunden mit der Systematisierung des antiken griechischen Mythos, zu beschränken. Denn die Werke und Tage führen zusätzlich ein Denken vor Augen, das sich darum bemüht, die zentralen Lebensbereiche und Lebensbeziehungen des Menschen zu thematisieren sowie deren notwendige Relevanz für das (alltägliche) Leben des Menschen herauszuarbeiten. Meine These ist, dass in Hesiods Werke und Tage Ansätze einer politischen Anthropologie zu finden sind, die ich anhand von sechs Dimensionen ausmache, die in dem Gedicht eine zentrale Rolle einnehmen: Wettstreit (eris), Gerechtigkeit (dikê), Arbeit (ergon), Haus (oikos), Freundschaft (philia) und (Gottes-) Achtung (timê), die ich als eine Form der Gottesfurcht und der Kontemplation interpretiere. Vorweg ist jedoch anzumerken, dass Hesiod in erster Linie Dichter war und wohl erst in zweiter Linie als Philosoph bezeichnet werden kann. Hinzu kommt, dass er seine Gedanken in der literarischen Form des Lehrgedichts vorgetragen hat und neben jenen Inhalten, die im Zentrum dieser Untersuchung stehen, auch über – aus heutiger Perspektive – gänzlich unwichtige Dinge spricht, etwa darüber, dass sich Mann und Frau nicht mit demselben Wasser waschen sollen (vgl. Erga: 751 – 753). Ebenso uninteressant erscheinen die Hinweise Hesiods an den Mann, wann, wo und wie der Stoffwechsel am besten durchgeführt werden soll (vgl. Erga: 726 – 731), o.Ä. Hesiod entwickelt in seinen Lehrgedichten keine stringente Philosophie. Das deutet bereits Hermann Fränkel an, der die Werke und Tage als „charaktervolles, aber nicht allzu systematisches Werk“ bezeichnet (Fränkel: 1962, 144). Bei dem Vorhaben der Erörterung der Ansätze einer politischen Anthropologie bei Hesiod soll daher nicht der Fehler begangen werden, den Text als ein in sich geschlossenes philosophisches System zu verstehen und dementsprechend auszulegen. Denn: „Wer nach Einheit in den epischen Dichtungen der archaischen Zeit sucht, läuft Gefahr, einen uns vertrauten Begriff, nach dem Einheit als eine durchkomponierte, unveränderliche, von einem Autor festgelegte Textform verstanden wird, auf eine Kultur zu übertragen, die diese Vorstellung weder in Theorie noch in der Praxis kannte“ (Ercolani/Rossi: 2011, 80). Hesiods Werke und Tage sind primär gesammelte Ideen, Vorstellungen und kurze, phasenweise 22

2. Hesiods Politische Anthropologie

aphoristische Pointierungen. Das bedeutet allerdings nicht, dass es sich um Gesprochenes ohne weitere Sinnhaftigkeit bzw. ohne reflektierten Inhalt handelt. Trotz dieser genannten Einschränkungen lässt sich meines Erachtens zeigen, dass Hesiod in Werke und Tage nachweislich eine Politische Anthropologie grundgelegt hat, die den Bezug zu aktuellen Themen politisch-anthropologischen Denkens nicht in allen Belangen zu scheuen braucht. Hesiod thematisiert und definiert in Werke und Tage unterschiedliche Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen, die erstens von unmittelbarem wissenschaftlichen Interesse, zweitens für das individuelle Leben und drittens auch für das politische Leben des Menschen innerhalb von Gemeinschaft von Bedeutung sind. In der Forschung jedoch hat Hesiods Politische Anthropologie bislang keine Aufmerksamkeit erfahren. Dass Hesiods Überlegungen auch von philosophischem Interesse sind, ist zum einen kein allzu großes Geheimnis, verlangt aber zum anderen heute nach einer umfassenden Begründung. Schlussendlich soll neben dem Hauptanliegen dieses Buchs, dem Nachweis der Ansätze einer politischen Anthropologie in Werke und Tage und deren systematischer Relevanz, gezeigt werden, dass wir Hesiods Zeilen nicht gänzlich als einen prosaischen Mythos vergangener Zeiten aus einer ethisch-politisch weit entfernten Kultur ansehen sollten. Dem Ansatz des Gedichts folgend, ist die Frage, ob sich in Werke und Tage philosophische Inhalte ausfindig machen lassen, klar und deutlich zu bejahen. Denn Hesiod selbst erhebt den – im Grunde genommen durch und durch philosophischen – Anspruch, mit seinem Text Wahres verkünden zu wollen (vgl. Erga: 10). Schon allein dieser Wahrheitsanspruch zeigt, dass Hesiod nicht nur aus historischer, sondern auch aus systematischer Perspektive von Interesse ist. Mit diesem Anspruch erhält der gesamte Text einen „universalen, (gesellschaftskritischen) Aspekt der Erörterung“, der „an eine breite Öffentlichkeit“ gerichtet ist (Erbse: 1993, 27). Den Versuch, diesem Ansatz gerecht zu werden, verorte ich insbesondere in den rudimentären politisch-anthropologischen Überlegungen über Wettstreit, Gerechtigkeit, Arbeit, Haus, Freundschaft und Gottesfurcht bzw. Kontemplation und damit einhergehend weniger in den Ausführungen Hesiods zum Mythos und zur Theologie, die allerdings – wie eingangs angesprochen – für die Kultur- und Geistesgeschichte von großer Bedeutung sind. 2. Hesiods Politische Anthropologie

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2.1 eris: Wettstreit und Fortkommen Auch wenn die Schwerpunkte dieser Untersuchungen im ethischpolitischen Bereich liegen, muss Erwähnung finden, dass der Mythos ein unermüdlicher und auch unverzichtbarer Bezugspunkt in Hesiods Denken ist. Das wird bereits in den ersten Zeilen der Werke und Tage deutlich und durchzieht den gesamten Text wie ein roter Faden. Deshalb sind gelegentliche Querweise zwischen der Theogonie und Werke und Tage in dieser Untersuchung durchaus angebracht, auch in Bezug auf die Grundlegung einer politischen Anthropologie. Die erste politisch-anthropologische Dimension, die in Werke und Tage angeführt wird, ist der Bereich der eris. Eris steht in der griechischen Mythologie für die Göttin des Streits und ist der Theogonie Hesiods zufolge eine Tochter der finsteren Nacht, der Nyx (Theogonie: 211 – 216). Sie gilt als Verursacher einer Vielzahl (zwischen-) menschlicher Probleme und ist der Grund für eine Reihe von charakterlichen Defiziten des Menschen. Hesiod hält dazu bereits in der Theogonie fest: »Die schreckliche Eris nun gebar die leidvolle Mühsal, das Vergessen, den Hunger, und tränenbringende Schmerzen, auch Schlachten, Kämpfe, Mord und Totschlag, Zwietracht, Betrug, Rede und Widerrede und, eng miteinander verbunden, Rechtsverletzung und Verderben und den Eid, der irdischen Menschen das größte Leid bringt, wenn einer willentlich falsch schwört« (Theogonie: 227 – 233).

Bemerkenswert ist allerdings, dass Hesiod in Werke und Tage zwei unterschiedliche Formen der eris kennt. Das ist eine andere, erweiterte Ansicht, als er sie noch in der Theogonie zum Ausdruck gebracht hat, wo nur die eine, schlechte Art der eris zum Thema gemacht wird. Hesiod geht auf diese Erweiterung gegenüber der in der Theogonie dargestellten eris selbst ein. Dadurch wird klar, dass die Theogonie vor Werke und Tage entstanden ist: »Nicht also gab es nur eine Art von Eris, sondern zwei sind es auf Erden. Die eine nun wird loben, wer sie erkennt, die andere verdient Tadel. Sie haben nämlich ganz verschiedenen Sinn, mehrt doch die eine schlimmen Krieg (polemos) und Hader, die verderbliche. Kein Sterblicher liebt sie, sondern nur unter Zwang ehren sie nach dem Willen der Götter die

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2. Hesiods Politische Anthropologie

lastende Eris. Die andere aber gebar die dunkle Nacht [Anm.: die Nyx] zuerst, und der hochthronende Kronide, der im Äther wohnt, barg sie in den Erdwurzeln und schuf sie den Menschen zum größerem Segen« (Erga: 12 – 19).

In Werke und Tage wird im Gegensatz zur Theogonie also zwischen einer schlechten und einer guten Form der eris unterschieden, wobei die gute eris zuerst, also vor der schlechten eris, geschaffen, allerdings von Zeus vor dem Menschen versteckt wurde (vgl. Erga: 17 – 19).1 Der Mensch muss sich die gute eris zu eigen machen, sie erarbeiten und sich selbst um sie bemühen. Hesiod spricht in dieser Differenzierung zum einen über Krieg, Konflikt und Rivalität (polemos) als Beispiele für die schlechte eris (vgl. Erga: 14), zum anderen aber auch über eine Form der Konkurrenz der Menschen untereinander von Natur aus, über wirtschaftlichen Wettbewerb im Alltag und über prinzipielle, innergesellschaftliche Konfrontation des Menschen mit seinesgleichen im besten Sinne, als Beispiele für die gute eris. Letztere, so Hesiod, leitet den Menschen zur Produktivität an, zumal niemand gegenüber seinem Mitmenschen ins Hintertreffen geraten will. »Ist einer auch träg, treibt sie [Anm.: die gute eris] ihn doch ans Werk. Sieht nämlich der Nichtstuer, wie sein reicher Nachbar mit Eifer pflügt, sät und sein Haus wohl bestellt, dann eifert der Nachbar dem Nachbarn nach, der zum Wohlstand eilt. Fördernd ist solcher Wetteifer für die Menschen, und so grollt der Töpfer dem Töpfer und der Zimmermann dem Zimmermann, der Bettler neidet dem Bettler, und der Sänger dem Sänger« (Erga: 20 – 27).2

Die Interpretation von Martin West, dass Hesiod in den zitierten Zeilen die schlechte eris zuerst anspricht – „He takes the bad Eris first because his main point is about the good one“ (West: 1978, 143) –, ist anhand des Textes nicht nachvollziehbar, zumal Hesiod in den Zeilen 12 und 13 bereits klar macht und vor den Ausführungen der schlechten eris erwähnt, dass die bessere eris die lobenswerte sowie für den Menschen wertvollere ist. 2 Albert von Schirding übersetzt diese Stelle: »Selbst noch den Trägen erweckt sie in gleicher Weise zur Arbeit. Jeden ergreift ja die Lust zur Arbeit, wenn er des andern Reichtum sieht, schon eilt er zu pflügen, zu pflanzen und das Haus zu bestellen. Der Nachbar läuft mit dem Nachbarn um die Wette nach Wohlstand; so nützt diese eris den Menschen. Töpfer eifert mit Töpfer, und Maurer eifert mit Maurer, und der Bettler beneidet den Bettler, der Sänger den Sänger.« 1

2.1 eris: Wettstreit und Fortkommen

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Die Zweiteilung der eris, die sich als Unterscheidung zwischen Streit, gewalttätigem bzw. kriegerischem Konflikt auf der einen Seite und Konkurrenz bzw. wirtschaftlichem (wie kulturellem oder sportlichem) Wettstreit auf der anderen Seite auf den Punkt bringen lässt, ist Hesiod zufolge ein konstitutives Motiv der menschlichen Natur. Der Mensch kann zwischen diesen beiden Formen prinzipiell wählen, wobei die Werke und Tage deutlich erkennen lassen, dass die schlechte eris den Menschen ins Unglück führt (vgl. Erga: 13 – 15). Sie verursacht blinde Habgier und vermehrt die Streitsucht unter den Menschen, so auch innerhalb der (politischen) Gemeinschaft. Der Natur des Menschen entspreche – nach Hesiod – jedoch die gute viel mehr als die schlechte eris. Otto Schönberger hat die gute eris Hesiods als eine Art „wirtschaftlichen Konkurrenzkampf“ interpretiert, der seiner Meinung nach als „Grundprinzip menschlichen Lebens“ verstanden werden könne (Schönberger: 2007, 66). Die gute eris schürt und fördert den persönlichen Ehrgeiz des Menschen und verursacht auf diese Weise eine zwischenmenschliche Wettbewerbssituation, die Entwicklung, Fortschritt und Wohlstand innerhalb der Gemeinschaft des Dorfes oder der Gemeinschaft der Polis möglich macht. Hesiod richtet in diesem Zusammenhang einen Appell an seinen Bruder Perses, mit dem er, dem Text zufolge, einen Streit über das väterliche Erbe führt. An diesen Bruder sind viele Zeilen des Gedichts gerichtet (vgl. z. B. Erga: 35 – 42; vgl. Schönberger: 2007, 102 – 103; Ercolani/Rossi: 2011, 92 – 93). Hesiod ermahnt seinen Bruder, sich nicht der schlechten eris zuzuwenden und sich nicht mehr von dem gemeinsamen väterlichen Erbe zu nehmen bzw. davon zu beanspruchen, als ihm zustehe. Weiters will er ihn dazu auffordern, sich aktiv um die eigene Lebensgestaltung zu bemühen, das Leben selbst in die Hand zu nehmen und sich dabei nicht von anderen Dingen im Handeln ablenken zu lassen (vgl. Erga: 27 – 30). Werke und Tage zufolge ist die zwischenmenschliche Konkurrenz, die gute eris, in der Übersetzung Schönbergers der Neid, bei Schirding als Eifern übertragen, offensichtlich ein nicht unwesentliches Charakteristikum des Menschen, das über kurz oder lang freilich auch Auswirkungen auf das Zusammenleben innerhalb der Gemeinschaft hat, wie es u. a. Robert Lamberton festhält: „We see what our neighbor has, and we want to have it, too, with the result that we work hard to 26

2. Hesiods Politische Anthropologie

compete and in the process ape the lifestyles of those more sucessful than ourselves. This is the thrust of Hesiodic sociology. […]. The first Strife, competition, glues society together and improves everyone’s lot. The other Strife is destructive contentiousness, which has the other opposite effect. At one extreme she is war, at the other, the squabbles of the law court“ (Lamberton: 1988, 112). Auch Lamberton hebt die konträren Ausrichtungen der beiden Formen der eris in Werke und Tage hervor und definiert dabei die unterschiedlichen Spannweiten. Die gute hält die Gemeinschaft zusammen und verbessert das Zusammenleben des Menschen und dadurch auch das Leben jedes Einzelnen. Die schlechte hingegen hat genau das Gegenteil zur Folge, nämlich den Zerfall der Gemeinschaft, wobei die unterschiedlichen Intensitäten dieser Form der eris vom unmittelbaren Krieg über zwischenmenschliche gewalttätige und boshafte Konflikte bis hin zu gerichtlichen Streitigkeiten reichen. Otfried Höffe übernimmt in seinen Überlegungen über den ,Wirtschaftsbürger‘ – als Kontrast zu den anderen beiden Seiten des Menschen als ,Staats-‘ und ,Weltbürger‘ – unter Berufung auf Hesiods Ausdifferenzierung der eris in Werke und Tage die Unterscheidung zwischen den zwei Formen menschlichen Neides. Neid liege grundsätzlich in der „Sozialnatur des Menschen“, zumal dieser nach Anerkennung strebe und sich aufgrund dessen mit anderen Menschen vergleiche: günstige oder ungünstige Verhältnisse, Erfolge oder Misserfolge, im Besitz oder in Bezug auf unterschiedliche Glücksgüter (vgl. Höffe: 2004, 72). Dieser auch als Schmerz wahrnehmbare (Anfangs-)Neid könne zweifach Fortsetzung finden: Erstens in der Form eines kreativen bzw. produktiven Neids, der „Anreiz- bzw. Motivationsneid“, der den Menschen dazu ansporne, Unterschiede gegenüber anderen verringern zu wollen, und auf diese Art und Weise zu größeren Leistungen motiviere: „Er hat Züge eines Wettkampfs, kann deshalb auch agonaler oder kompetitiver Wettbewerb heißen. Der kreative Neid gönnt durchaus dem anderen, was er hat, bemüht sich aber, ihm gleichzuziehen, sogar ihn zu überrunden“ (Höffe: 2004, 72). Zweitens in der Form des destruktiven bzw. Ressentiment-Neids, „ein bloß neidischer Neid“, der anderen das Mehr missgönnt und, anstatt selbst tätig zu werden, konterkariert und dekonstruiert. Beide Formen des Neids seien für das Menschsein konstitutiv. Wenn John 2.1 eris: Wettstreit und Fortkommen

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Rawls in seiner Theory of Justice (vgl. Kap. 4.2 und 6.3), so Höffe, die Neidfreiheit des Menschen zu einem Element von Rationalität erkläre, so könne das nur dann überzeugen, wenn damit das Freisein von Ressentiment-Neid gemeint sei. „Denn der kreative Neid führt zu einer vielfältigen Leistungssteigerung, lässt daher sowohl den kollektiven als auch für viele den distributiven Nutzen wachsen“ (Höffe: 2004, 72). Die Erweiterung, die Hesiods in Bezug auf die eris vornimmt, sollte nicht übersehen werden, wie dies etwa bei Christian Stadler der Fall ist, der ausschließlich die schlechte eris aus der Theogonie anführt und die gute eris aus Werke und Tage nicht in seine – zugegeben kurzen – Ausführungen zu Hesiod miteinbezieht. Das hat auch den fragwürdigen Schluss zur Folge, dass „erst Heraklit, 200 Jahre nach Homer und 100 Jahre nach Hesiod, als wahrhafter Philosoph angesprochen werden kann“ (Stadler: 2009, 16). Unter Miteinbezug der Werke und Tage ist dieser Befund nicht zur Gänze haltbar (vgl. Kap. 3.3). Hesiods Überlegungen mit Heraklit in Verbindung zu bringen, scheint jedoch naheliegend zu sein, insbesondere in Bezug auf die schlechte eris, die zuweilen auch als Krieg, polemos (vgl. Erga: 14), verstanden wird. Anhand Heraklit lässt sich zeigen, dass Konflikt und Krieg nicht nur bei Hesiod bekannte Motive sind, sondern auch in der auf ihn folgenden Philosophie Gegenstand geworden sind. »Krieg (polemos) ist von allen der Vater, von allem der König, denn die einen hat er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien gemacht« (Mansfeld, Heraklit: 50; DK 22 B 53).

Polemos steht im Altgriechischen nicht ausschließlich für den Krieg oder die bewaffnete, gewalttätige Auseinandersetzung im Speziellen, sondern auch für Streit bzw. den zwischenmenschlichen Konflikt im Allgemeinen. – Und die Auseinandersetzung kann im neutralen Sinne als Anstoß für neue wirtschaftliche, soziale bzw. politische Entwicklungen angesehen werden.3 Heraklit kennt auch den Begriff der eris: »Es gehört sich zu wissen, dass man weiß, dass der Krieg (polemos) etwas Allgemeines ist und Recht Zwiespalt (eris) und dass alles geschieht in Übereinstimmung mit Zwiespalt (eris) und so auch verwendet wird« (Mansfeld, Heraklit: 51; DK 22 B 80). 3

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2. Hesiods Politische Anthropologie

Da Hesiod seine Gedanken in Form des Lehrgedichts äußert, ist klar, dass er nicht alle Facetten der eris und die daraus folgenden Rückschlüsse auf das Leben des Menschen diskutieren kann. Nicht genauer thematisiert wird zum einen die Frage, in welcher Intensität diese Form der Konkurrenz unter Menschen im Sinne der guten eris tatsächlich geführt werden kann und soll. Es stellt sich zum anderen die Frage, ob das Handlungsmotiv des Neides, z. B. gegenüber dem Nachbarn und dessen geordnetem Besitz, sowie das darin implizierte individuelle Streben nach dem Mehr-haben-Wollen-als-der-andere in der Tat – wie mit Schönberger zuvor gezeigt – als Grundprinzip des menschlichen Lebens bei Hesiod und darüber hinaus verstanden werden kann. Weiters ist drittens fraglich, ob dieses Verhalten, auch wenn es im Sinne Hesiods in dem Verständnis einer guten eris zum Ausdruck kommt, eine Gesellschaft in ihrem inneren Zusammenhalt tatsächlich stärken kann, wie mit Lamberton ausgeführt, wenn dieser meint, dass die gute Form der eris, der Wettstreit, die politische Gemeinschaft zusammenschweißt. Ebenso ist zu Lamberton kritisch anzumerken, dass der Bereich dieser Form der eris alleine betrachtet nicht das ganze Spektrum und auch nicht die unmittelbare Hauptrichtung der „Hesiodic sociology“ darstellt, sofern von einer spezifischen ,hesiodschen Soziologie‘ überhaupt gesprochen werden kann. Manche Rückfragen an den Text müssen ungeklärt bleiben – Tatsache ist aber, dass das politisch-anthropologische Motiv der Konkurrenz bei Hesiod erstmals angesprochen und ausdifferenziert wird: zum einen die negative Konkurrenz, verstanden als jegliche Form des zwischenmenschlichen Konflikts in sämtlichen Variationen, vom Krieg bis hin zu prinzipiellen Streitigkeiten der Menschen untereinander; zum anderen die positive Konkurrenz, verstanden als innergesellschaftliche, geordnete Konfrontation, die individuelles wie auch gemeinschaftliches Fortkommen möglich macht.

2.2 dikê: Gerechtigkeit als Lebensprinzip Zumindest eine der drei zuvor angeführten Rückfragen an Hesiod in Bezug auf die gute eris lässt sich in Grundzügen beantworten, nämlich, welchem Regulativ der ökonomische Wettbewerb und die zwischenmenschliche Konkurrenz unterstellt werden soll. Der unver2.2 dikê: Gerechtigkeit als Lebensprinzip

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zichtbare Rahmen des individuellen Strebens, des persönlichen Ehrgeizes und des Wetteifers ist für Hesiod die Gerechtigkeit. Zum einen spricht er von der Göttin Dike, also von Gerechtigkeit und Recht zusammengefasst als Gottheit, die – der Theogonie zufolge – eine Schwester von Eunomia (,gute Gesetze‘) und Eirene (,Frieden‘) ist (vgl. Theogonie: 901 – 903). Zum anderen sieht Hesiod diese beiden Bereiche, Gerechtigkeit und Recht, jedoch auch als einen prinzipiellen gesellschaftspolitischen Wert an, der von der personifizierten Göttin Dike unabhängig erscheint. Der mythologische Bezug zur Dike wird jedoch nicht nur in der Theogonie bearbeitet, sondern ebenso in Werke und Tage, wo die direkte Verwandtschaft zwischen Zeus und Dike hervorgehoben wird. Dike, die Tochter des Zeus, so Hesiod, findet selbst unter den anderen Göttern größte Hochachtung. Sollte sie, im Olymp oder auf der Erde, Missachtung oder Beleidigung erfahren, ist eine Strafe durch Zeus persönlich zu erwarten. Auch über die politischen Machthaber auf Erden, über die Herrscher, so Hesiods Ansicht, wacht die Göttin Dike und straft durch Zeus sämtliches (politisches) Fehlverhalten (vgl. Erga: 257 – 261). Der Mensch kann nun nicht nur zwischen den zwei Formen der eris wählen, sondern auch zwischen den Wegen der Gerechtigkeit und dem Recht zum einen oder der Ungerechtigkeit bzw. der Anmaßung (hybris) zum anderen. Wenig überraschend ist, dass Hesiod den Weg der Gerechtigkeit empfiehlt, zumal seiner Ansicht nach die Ungerechtigkeit Unheil bringt, dem Einzelnen und der Gemeinschaft. Hesiod weiß jedoch, dass der Weg der Gerechtigkeit der schmalere Weg und daher schwieriger zu gehen ist und verlockend nahe am breiten Weg der Ungerechtigkeit liegt (vgl. Erga: 212 – 216). Derjenige, der das Recht bricht und damit auch den Weg der Ungerechtigkeit geht, so Hesiod, schadet sich selber am meisten (Erga: 264 – 265). Bemerkenswert ist, dass Hesiod in Bezug auf seine Ausführungen rund um das Thema von Gerechtigkeit und Recht nicht nur die individuelle Perspektive beleuchtet, sondern auch die gemeinschaftliche. Damit macht er deutlich, dass dieser Bereich auch für die politische Gemeinschaft des Menschen innerhalb der Polis unverzichtbar ist.

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2. Hesiods Politische Anthropologie

»Die aber Fremden und Heimischen rechten Bescheid geben und keinen Finger breit vom Recht abweichen, denen gedeiht die Stadt (polis), es blüht in ihr die Gemeinde, Friede (eirênê) herrscht im Land, der die Jugend nährt, und der weitblickende Zeus verschont sie vor leidvollem Krieg. Auch folgen weder Hunger noch Unheil gerechten Männern, sondern sie genießen die Früchte vollbrachter Feldarbeit bei frohen Festen« (Erga: 224 – 231).

Hesiod kennt also nicht nur eine individuelle oder bloß zwischenmenschliche Perspektive der dikê für den einzelnen Menschen. Vielmehr weiß er auch um die Wirkung der Gerechtigkeit auf das Leben der Menschen in ihrer Allgemeinheit (vgl. Erbse: 1993, 13). Und das, wie in der ersten Zeile der Textstelle angeführt, auch über den Rahmen der Polis hinaus, wenn Hesiod sagt, dass gegenüber Fremden und Heimischen gleiches, gültiges Recht gesprochen werden soll und keine Unterschiede in der Rechtsprechung gemacht werden dürfen. Jenes Gemeinwesen, so Hesiod, das sich daran hält, könne in eine gute Zukunft blicken, aus moralischer und ökonomischer Perspektive wie auch in Bezug auf das Wohlwollen der Götter. Das Nachdenken über die Gerechtigkeit aus politischer Perspektive, in Bezug auf die Polis und darüber hinaus, veranlasst Hesiod zu einer Kritik an der Ungerechtigkeit von Herrschern gegenüber den Beherrschten. Selbst von ,Königen‘ wird Gerechtigkeit eingefordert (vgl. Erga: 247). Im Zuge dieser Ausführungen fordert er gerechte – richterliche – Urteile (vgl. Erga: 262 – 263) und erinnert in unmissverständlicher Art und Weise daran, dass Götter selbst Könige richten (vgl. Erga: 267 – 269). Auch die – durch und durch politische – Fabel von Habicht und Nachtigall ist an die Herrscher gerichtet. Der Habicht, der für Tyrannei und Rechtsbruch steht, hält die Nachtigall, die den Dichter und dessen Gesang darstellt, in ihren Krallen und meint in zynischer Art und Weise, dass es für den vermeintlich Unterlegenen sinnlos sei, sich zu wehren (vgl. Erga: 201 – 211). Hesiod wehrt sich offensichtlich trotzdem, indem er in Werke und Tage weiter Missstände aufzeigt und seine Sicht der politischen Dinge darlegt. Hierin zeigt sich nun neben der Gerechtigkeit als Regulativ innerhalb der Polis also eine zweite, gänzlich politische Dimension, nämlich die politische Gerechtigkeit zwischen den Herrschern und den Beherrschten. 2.2 dikê: Gerechtigkeit als Lebensprinzip

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Das Thema der Gerechtigkeit ist in Werke und Tage zentral, und das bereits schon zu Beginn des Textes bis in den Mittelteil hinein. Der oftmalige Rückbezug Hesiods auf dieses Leitthema ist unübersehbar. „Between lines 213 and 285, words containing the root DIK occur no less than 27 times“ (Strauss Clay: 2009, 84). In Gerechtigkeit zu leben ist für den Einzelnen, aber auch für die politische Gemeinschaft das große Ziel und das vielleicht wichtigste Gut. Gerechtigkeit und Recht sind darüber hinaus jene Merkmale, die den Menschen vom Tier abgrenzen, und sind für das gute Leben des Menschen und für das gelingende Zusammenleben der Menschen untereinander von Zeus geschenkt worden (vgl. Erga: 276 – 280), der gemeinsam mit anderen Göttern die Ungerechten richtet (vgl. Erga: 320 – 326). Hesiods Wunsch nach Gerechtigkeit ist persönlich motiviert, geht jedoch über das Zwischenmenschliche hinaus. Er entwickelt die dikê als zentrales Lebensprinzip schlechthin und das außerdem, wie gezeigt, auch über die Grenzen der Polis hinaus: Auch gegenüber Fremden gilt es, gerecht zu sprechen und zu handeln. Hesiod entwickelt die Gerechtigkeit als Lebensprinzip aus dem mythisch-theologischen Denken heraus und bringt sie zugleich in Verbindung mit dem höchsten Göttlichen, mit Zeus. Vor allem mit den ersten beiden Zugängen erreicht er in der Tat eine globale Ebene: „The content is global, in touch with the principle of Justice itself, with the gods and the relations of gods and men, in touch, finally, with a vision of society ruled by justice, of what the world could be“ (Lamberton: 1988, 106). Hesiods Bemühungen um die Gerechtigkeit haben in der Geschichte der Philosophie, und das bereits in der Antike, Spuren hinterlassen, so z. B. auch in Platons Politeia. Dabei dreht Platon die biographisch-chronologische Reihenfolge um und spricht in Bezug auf die Eröffnung eines seiner Gerechtigkeitsdiskurse nicht von Homer und Hesiod, sondern vice versa, von Hesiod und Homer (vgl. Platon: Politeia, 363a). Die Vermutung liegt nahe, dass das der Tatsache geschuldet ist, dass Hesiod ungleich intensiver über die Gerechtigkeit spricht als Homer (vgl. Yamagata: 2010, 80). Platon bezieht sich allerdings überaus kritisch auf die frühgriechische Dichtung. Die Rückbezüge auf die Werke und Tage dienen zumeist als Gegenthese zu Platons eigener Meinung. Platon befürchtet, dass Hesiods Werk im Bereich der Erziehung (paideia) zu großen Schaden anrichten würde (vgl. Platon: Politeia, 378e). Auch wenn die Dich32

2. Hesiods Politische Anthropologie

terkritik bei Platon gelegentlich von ihm selbst revidiert wird, kann, wie schon in Bezug auf die vorsokratische Kritik an Hesiod, festgehalten werden, dass der ,Wetzstein Hesiod‘ für viele Generationen an Philosophen überaus wichtig gewesen ist. Doch auch im Bereich der dikê bleibt, ähnlich wie zuvor in Bezug auf die gute eris, einiges offen. Hesiod führt in Werke und Tage nicht genauer aus, was er unter dem Begriff des Rechts eigentlich versteht (vgl. Schmidt E.G.: 1991, 202). Hinzukommt, dass er keinen tatsächlichen Unterschied zwischen der (göttlichen) Gerechtigkeit und dem gesetzten (politischen) Recht zu kennen scheint, was jedoch in dem mythischen Bezug zur Göttin Dike, die für beide Bereiche in einer Person steht, nicht verwundern kann. Dennoch bleiben die Begriffe im Weiteren unbestimmt. Auf der einen Seite kann das kritisiert werden, zumal sich Hesiod selbst das Ziel vorgibt, Wahres und Allgemeingültiges auszusprechen, auch wenn es sich um ein Lehrgedicht und nicht um eine systematische Erörterung handelt. Denn Hesiod zeigt, dass er – wie etwa in der zweiten Hälfte der Werke und Tage, wo er detailliert auf die bäuerliche Lebensweise eingeht –, zu präzisen Beschreibungen auch in kurzen Versen in der Lage ist. Auf der anderen Seite ist jedoch sein Verdienst, als vermutlich erster Recht und Gerechtigkeit als wesentliches Merkmal menschlicher Gemeinschaft und des individuellen Lebens gekennzeichnet zu haben, ungleich höher einzuschätzen. Hervorzuheben ist die politische Dimension, die Hesiod mit seiner kurzen Abhandlung über die Gerechtigkeit eröffnet hat. Die Idee von Gerechtigkeit und Recht als „tragendes Lebensprinzip“ (Schadewaldt: 1978, 109) des Einzelnen und der Gemeinschaft ist erstmals bei Hesiod – lange vor Platon oder Aristoteles – auszumachen (vgl. Schönberger: 2007, 108 – 109). Hesiod erhebt – „wahrscheinlich unter Rückgriff auf orientalische Weisheitslehren“ – die „Gerechtigkeit zum zentralen Wert der Sozialmoral“ (Höffe: 2007, 19). Jede Gemeinschaft, die zusammenleben möchte, muss sich über die Gerechtigkeit definieren. Dabei ist jeder Mensch gefordert, sofern er sich für die dikê, nicht für die hybris entscheidet. Gerechtigkeit und Recht sind keine peripheren Bestimmungen, sondern konstitutive Elemente des Zusammenlebens. Dieses Bewusstsein über die Gerechtigkeit grenzt den Menschen nicht nur vom Tier ab, sondern ist für und unter den Menschen „das höchste Gut“ (Erga: 279). 2.2 dikê: Gerechtigkeit als Lebensprinzip

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2.3 ergon: Selbstbestimmung durch Arbeit Die Werke und Tage (ΕΡΓΑ ΚΑΙ ΗΜΕΡΑΙ) erzählen neben mythischtheologischen und politisch-anthropologischen Themen die Geschichte des Verhältnisses von Hesiod zu seinem Bruder Perses. Anlass dieser Erzählung ist wie bereits erwähnt der Streit über das gemeinsame väterliche Erbe (vgl. Kap. 2.1). Dem Text zufolge dürfte der Bruder Perses in diesem familiären Erbstreit seinen eigenen Vorteil gesucht haben, um sich – in der Auffassung Hesiods – unrechtmäßig an dem Erbe mehr zu bereichern, als es ihm zustand (vgl. Erga: 36 – 42). Dem möchte Hesiod entgegenwirken und seinen Bruder dazu anleiten, selbst tätig zu werden und sich eigenen Wohlstand sowie die damit verbundene gesellschaftliche Anerkennung zu erarbeiten, was ihn zu einem zufriedenen und erfüllten Leben führen soll. Hesiods Erzählung und die Figur des Perses, seien sie fiktiv oder nicht (vgl. West: 1978, 33 – 40; Blümer: 2001b, 5; Erconlani/Rossi: 2011, 92), sind keine literarischen Nebenschauplätze. Hinter den vielen Ermahnungen, die Hesiod an seinen Bruder richtet, stehen nämlich nicht ausschließlich subjektive Erfahrungen oder Empfindungen aus einem brüderlich-familiären Verhältnis. Vielmehr wird anhand dieses Erbstreits eine objektive Perspektive gerechten Lebens und Handelns entwickelt und allgemeingültige Kritik an fehlerhaftem und ungerechtem menschlichen Verhalten in der Gesamtheit geäußert. Wenn Hesiod seinen Bruder Perses in Werke und Tage für dessen Tun und bzw. oder für sein Unterlassen kritisiert, dann ist das zugleich auch eine Kritik am schlechten Verhalten des Menschen innerhalb von politischer Gemeinschaft schlechthin (vgl. Erbse: 1993, 17 – 18). Um ein gutes Leben führen zu können, ist es für Hesiod notwendig, der Arbeit nachzugehen sowie für den eigenen Lebensunterhalt und für das eigene Einkommen auf diesem Wege selbst Sorge zu tragen, anstatt durch Streit und Unrecht – schlechte eris bzw. hybris – zu versuchen, sich unrechtmäßig an dem Wohlstand anderer zu bereichern. Dabei betont Hesiod auch die Notwendigkeit der Arbeit (ergon) für das Leben des Menschen.

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2. Hesiods Politische Anthropologie

»Arbeit macht Männer reich an Herden und Habe, denn wer zupackt, ist Göttern um vieles erwünschter (und auch Menschen, denn Faulpelze hassen sie gründlich). Arbeit (ergon) bringt keine Schande, Nichtstun aber ist Schande. Regst du dich nämlich, beneidet dich bald der Faule, weil du reich wirst. Den Reichtum aber begleiten Ehre und Ansehen. Narr, der du warst! Für dich ist Arbeit ein Segen, wenn du den törichten Sinn von fremdem Gut ab- und zur Arbeit hinwendest und für dein Brot sorgst, wie ich dir rate« (Erga: 307 – 316).

Hesiod weiß, dass sich viele Menschen – ähnlich wie es sein Bruder Perses vorhat – auf Kosten anderer bereichern und so Wohlstand erreichen wollen. Sei es durch eine ausgeklügelte Rhetorik, durch Gaukelei bzw. Betrug oder durch Gewalt (vgl. Erga: 321 – 322). Doch solcher Wohlstand bleibe nicht lange erhalten, zumal er auf Kosten anderer entstanden ist und somit ein Unrecht darstellt (vgl. Erga: 325 – 326). Deshalb rät er seinem Bruder Perses eindringlich, nicht unrechtmäßigen Gewinn oder nur den eigenen Vorteil zu suchen, da insbesondere Betrug (moralisches und politisches) Verderben bringe (vgl. Erga: 351) und von den Göttern nicht unbemerkt bleibe. Hesiods Überlegungen zur Arbeit waren in der Antike bekannt, und das über die Vorsokratik hinaus. Xenophon erwähnt in seinen Erinnerungen an Sokrates, dass einige der Verse zum ergon aus Werke und Tage im Prozess gegen Sokrates eine Rolle gespielt haben. »Dann behauptete der Ankläger noch, er habe auch aus den berühmtesten Dichtern die schlimmsten Stellen herausgesucht und diese als Zeugnis verwendet, um seine Freunde zu unterweisen, wie sie schlecht und tyrannisch sein könnten. So habe er die Stelle aus Hesiod „Arbeit ist keinerlei Schande, nur Müßiggang ist Schande” sogar derart gedeutet, dass der Dichter dazu auffordere, keinerlei Tun zu unterlassen, auch nicht das ungerechte und schlechte Tun, sondern auch das zu tun, wenn es nur Gewinn bringe« (Xenophon: Erinnerungen an Sokrates, I 2, 56).

Der Vorwurf gegenüber Sokrates lautet in erster Linie, die Texte der altehrwürdigen Volksdichtung, die damals so gut wie jedermann zumindest in ihren Grundzügen gekannt hatte, falsch und sogar manipulativ ausgelegt zu haben, und es kommt verschärfend hinzu, dass er auch noch andere in diesen gefälschten Inhalten unterrichtet habe. In einer Reihe stehen hier Ungerechtigkeit, unmoralisches 2.3 ergon: Selbstbestimmung durch Arbeit

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Verhalten und das egoistische Profitstreben um jeden Preis nebeneinander. Sokrates’ – angebliche – Interpretation der hier angesprochenen Zeilen 310 und 311 der Werke und Tage ist allerdings nicht haltbar, zumal Hesiod den Unterschied von Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit kennt, vom unmoralischen Handeln abrät – insbesondere eben seinem Bruder Perses (vgl. Erga: 334). Abgesehen davon führt die Stelle aus Xenophons Erinnerungen an Sokrates nochmals vor Augen, welchen speziellen Stellenwert Hesiods Dichtungen bis hinein in die Zeiten von Sokrates, Platon und Aristoteles und darüber hinaus gehabt haben. Die Werke und Tage waren in der Antike ein zentraler Bestandteil bürgerlicher Allgemeinbildung und auch noch den Stoikern durchaus vertraut (vgl. Jedan: 2010, 202). Die Begriffe, mit denen Hesiod in Werke und Tage arbeitet, sind für die antike Philosophie zentrale Themen des Denkens geworden. Das wird auch in den Überlegungen zur Arbeit überaus deutlich. In der aristotelischen Philosophie trägt das sogenannte ergon-Argument einen großen Teil von dessen praktischer Philosophie. Ergon steht dabei jedoch nicht ausschließlich für Arbeit, sondern zumeist für Leistung, Funktion bzw. Aufgabe. In der Nikomachischen Ethik fragt Aristoteles nach dem ergon tou anthrôpou, nach der spezifischen Funktion bzw. nach der spezifischen Aufgabe des Menschen, die diesem von Natur aus aufgrund der Naturhaftigkeit des Menschseins – gewissermaßen automatisch – zukomme. Aristoteles ist überzeugt, dass dem Menschen eine solche Art der Leistung zugesprochen werden muss, wie er anhand eines Analogieschlusses zu belegen versucht (vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik I 6, 1097b28 – 34). So wie das Auge oder die Hand spezielle Funktionen und Aufgaben haben, so muss das auch beim gesamten Menschen der Fall sein. Aristoteles gelangt zu dem Schluss, dass diese spezifische Funktion des Menschen in einem tugendhaften Leben liegt (vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, I 6, 1098a16 – 19), das letztendlich auch die eudaimonia, die umfassende Glückseligkeit des Menschen, ermöglicht. Auch wenn das ergon-Argument in seiner Schlüssigkeit innerhalb der Forschung nicht unumstritten ist (vgl. Wolf: 2013, 40 – 45), wird daran jedoch deutlich, dass Hesiod in Werke und Tage Lebensbereiche und -beziehungen angesprochen hat, die in den darauffolgenden Jahrhunderten von der Philosophie intensiv bearbeitet worden sind.

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2. Hesiods Politische Anthropologie

Die Tatsache, dass Hesiod ,Arbeit‘ als wichtigen Bestandteil des Lebens des Menschen ansieht, mag aus heutiger Perspektive auf den ersten Blick trivial wirken. Bei genauerer Betrachtung und dem Versuch, das Allgemeine aus den Passagen der Werke und Tage herauszulesen, lässt sich allerdings zeigen, welche Überlegungen hinter dem Rat an Perses stehen, für den eigenen Lebensunterhalt selbst Sorge zu tragen und zu arbeiten. Der Mensch kann durch individuelle, selbstverantwortete Tätigkeit und durch eigene Initiative Not und Leid der Existenz aus eigener Kraft heraus mildern. Die materielle und immaterielle Zufriedenheit ist nicht ausschließlich eine Sache des Zufalls, des Glücks (bzw. in der Antike nicht nur eine Sache des Wohlwollens der Götter), sondern ist vom Menschen und seinem eigenen Engagement und der eigenen Tüchtigkeit mit abhängig. Das ist auch einer der Gründe dafür, warum Hesiod in Werke und Tage so ausführlich auf das bäuerliche Leben und den Jahreskalender für eine gelingende Landwirtschaft zu sprechen kommt. Das alles soll dazu dienen, das Fortkommen selbst in die Hand nehmen zu können und aktiv an der eigenen Lebensgestaltung zu arbeiten, um sich nicht der Hilflosigkeit und der Passivität in Bezug auf die eigene Lebensführung hinzugeben – und schon gar nicht der Ungerechtigkeit. Die Möglichkeit der Einflussnahme auf den eigenen Lebensverlauf ist für Hesiod ein wichtiges Thema, auch wenn diese Art der Lebensgestaltung eine schwierige und besonders anstrengende Angelegenheit ist. Denn die Götter haben vor das Gelingen und vor den Erfolg den Schweiß gesetzt, wie es in Werke und Tage heißt (vgl. Erga: 286). Mythologisch erklärt Hesiod diesen Sachverhalt anhand des Prometheus-Mythos. In Werke und Tage heißt es dazu, dass die Götter die Nahrung den Menschen gegenüber verborgen halten. Nur durch Mühe und durch Anstrengung kann der Mensch das Notwendigste erwirtschaften (vgl. Strauss Clay: 2003, 38). Auslöser für diesen Zustand war Hesiod zufolge die List des Prometheus, der Zeus das Feuer gestohlen und es den Menschen auf der Erde gebracht hatte (vgl. Erga: 44 – 59; ähnlich dazu vgl. Theogonie: 522 – 569). Hesiods Grundgedanke in Bezug auf das ergon ist, dass das Glück des Menschen und der Friede der politischen Gemeinschaft nicht in der schlechten eris oder in der hybris liegen, sondern im individuellen Streben des Menschen nach Fortkommen und Verbesserung seiner Lebensverhältnisse, vor allem durch redliche Arbeit (vgl. Schönber2.3 ergon: Selbstbestimmung durch Arbeit

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ger: 2007, 109). Um „Grundsätze einer Arbeitsmoral“ ausfindig machen zu können (Schmidt E.G.: 1991, 203; ähnlich dazu Ercolani/ Rossi: 2011, 89), bedürfte es jedoch genauerer Ausführungen zum ergon, die in Werke und Tage an dieser Stelle allerdings nicht geleistet werden. Hervorzuheben ist die These Hesiods, dass das Leben des Menschen nicht gänzlich theologisch, historisch oder soziologisch determiniert ist, sondern dass der Mensch durch Aktivität und durch Arbeit das individuelle wie auch das gemeinschaftliche Leben zumindest ein Stück weit selbstverantwortet gestalten kann.

2.4 oikos: Hausgemeinschaft als Lebensmittelpunkt Den wichtigsten politischen und sozialen Zusammenschluss des Menschen sieht Hesiod im oikos, verstanden als Haus-, Wirtschaftsund Sozialverband, mit dem Fokus darauf, so autark wie möglich in Gemeinschaft leben zu können. „If the poem’s first half concentrated on justice within the polis, its second half presents a narrowing of perspective, focusing on the oikos, the family farm, and neighbors rather than on the larger community“ (Strauss Clay: 2009, 84). Dem Bereich rund um den oikos und den dazugehörigen Regelungen des bäuerlichen Alltags widmet sich Hesiod in der zweiten Hälfte der Werke und Tage. In diesen Überlegungen spricht Hesiod erneut auch direkt zu Perses und fordert ihn dazu auf, die Sorge um den oikos keinesfalls zu vernachlässigen, verbunden mit der Befürchtung, dass sein Bruder anderenfalls eines Tages ein Leben ohne Hab und Gut als Bettler verbringen müsse (vgl. Erga: 396 – 400). Wenn Hesiod über diese Form der Lebensgemeinschaft spricht, dann fokussiert er neben den Ermahnungen an Perses den aus ökonomischer, sozialer und ethischer Perspektive notwendigsten und zentralsten Lebensbereich der archaischen Zeit in seiner Gesamtheit. Wichtig ist, bei dieser Betrachtung festzuhalten, dass der oikos für Hesiod in erster Linie eine sozialpolitische Gemeinschaft ist – denn selbst in der Hausgemeinschaft gilt es Recht und Gerechtigkeit zu leben – und erst in zweiter Linie eine materielle Gütergemeinschaft, auch wenn das alles unmittelbar verbunden ist mit den großen, tagtäglichen Herausforderungen der landwirtschaftlichen Arbeit und der Fürsorge für Familie und Hof. 38

2. Hesiods Politische Anthropologie

»Erst ein Haus (oikos), dann eine Frau und den Ochsen zum Pflügen; die Frau sei gekauft, nicht gefreit und soll auch die Ochsen antreiben. Setze alles Gerät im Hause gut instand, sonst musst du jemand anderen bitten, der Nein sagt, während du dastehst, die günstige Stunde verstreicht und dein Ertrag abnimmt. Nichts verschiebe auf morgen und übermorgen, denn nur, wer tüchtig anpackt und nicht alles verschiebt, füllt seine Scheuer. Zupacken fördert das Werk, und stets ringt ein unsäumiger Mann mit Unheil« (Erga: 404 – 413).

Hesiod handelt hier über die – aus seiner Sicht – wichtigsten Grundbedingungen der bäuerlichen Ökonomie. Mit einem Haus, einer Magd und einem Ochsen kann der wirtschaftliche Betrieb aufgenommen werden (vgl. Erbse: 1993, 23; ähnlich dazu Richarz: 1991, 18). Diese Stelle der Werke und Tage wurde bereits in der Antike oft zitiert und als Beleg herangezogen, so u. a. bei Aristoteles, der diese Passage in Politik I 2 anführt.4 In diesem Kapitel entwickelt er die Grundlagen seines Verständnisses von den unterschiedlichen Arten der politischen Gemeinschaften von Haus (oikos), Dorf (komê) und Polis (polis) (vgl. Aristoteles: Politik I 2, 1252b10-b30). Nur wenige Zeilen später, nachdem Aristoteles die Werke und Tage als Beleg für den Stellenwert des oikos in Bezug auf das Leben des Menschen zitiert hat, entwickelt er die beiden fundamentalen Grundbegriffe seiner politischen Anthropologie, zôon logon echon und zôon politikon (Pol. I 2, 1253a1– 18). Beide Bestimmungen wurden in der philosophischen Forschung und darüber hinaus vielfach und dabei auch durchaus heterogen interpretiert, worauf u.a. Wolfgang Kullmann hinweist (vgl. Kullmann: 1980, 419). Der wichtigste Aspekt bei der Auslegung des Begriffs zôon politikon ist, dass Aristoteles das Adjektiv ,politisch‘ nicht allein auf den Menschen bezieht, sondern ebenso auf andere Lebewesen. Denn in der Tierkunde I 1 differenziert er die allein existierenden Lebewesen von denen, die in Herden leben. Die in Herden existierenden Lebewesen teilt er weiter in verstreut lebende und in politisch lebende Tiere. Als Beispiel solcher politischen Tiere nennt Aristoteles nicht nur den Menschen, sondern auch die Bienen, die Wespen, die Kraniche und die Ameisen. Sie alle sind seiner Einschätzung nach Lebewesen, die durch ihr Zusammenleben in Gemeinschaft ihre jeweilige Natur entfalten. Alle diese Lebewesen vollbringen in diesem Zusammenleben eine gemeinschaftliche Leistung, das koinon ergon (vgl. Höffe: 2001, 24). Die aristotelische Definition des Menschen als zôon politikon ist also zuallererst als eine biologisch-anthropologische Aussage zu verstehen, die Aristoteles in seine Politik übernommen und dort zur Grundlage seiner politischen Überlegungen gemacht hat. 4

2.4 oikos: Hausgemeinschaft als Lebensmittelpunkt

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»Aus diesen beiden Gemeinschaften [Anm.: von Mann und Frau sowie dem Regierenden und dem Regierten] entsteht nun zuerst das Haus (oikos), und mit Recht sang Hesiod: „Sorge zuerst für ein Haus (oikos), für den Pflugstier und für ein Weib auch“, denn der Ochse vertritt bei den Armen die Stelle des Hausknechts. Die für das gesamte tägliche Leben bestehende Gemeinschaft (koinonia) ist also naturgemäß das Haus (oikos), dessen Glieder Charondas Brotkorbgenossen, Epimenides der Kreter aber Krippengenossen nennt« (Aristoteles: Politik I 2, 1252b9 – 16).

Zunächst ist es bemerkenswert, dass der Philosoph Aristoteles dem Dichter Hesiod in Bezug auf die Notwendigkeit des oikos für das Leben des Menschen Recht gibt. Dieser Aspekt ist keineswegs unbedeutend, zumal Aristoteles in der Entwicklung der Grundlagen seiner politischen Philosophie und Anthropologie an einem wichtigen Punkt angelangt, nämlich der fundamentalen Unterscheidung von Haus, Dorf und Staat, Hesiod gewissermaßen als Beleg anführt, sowie daran anschließend auch Charondas und Epimenides als Vergleich in seine Überlegungen einbringt. In Anbetracht der vielfachen Kritik, die in der Vorsokratik u. a. an Hesiod geäußert wurde (vgl. Kap. 2), scheint Aristoteles, zumindest in Bezug auf Stellen der Werke und Tage, einen anderen Zugang gefunden zu haben. Aristoteles bezieht sich in Politik I 2 auf die Zeilen 404 und 405 der Werke und Tage, wo Hesiod allerdings nicht – wie es das Zitat aus der Politik nahelegt – darauf zu sprechen kommt, dass sich sein Bruder Perses neben dem Haus und dem Stier auch um eine Ehefrau bemühen soll. Gemeint ist an der Stelle hingegen eine Magd bzw. eine Sklavin, die neben dem Haushalt auch in der Landwirtschaft tätig sein soll. Warum sich Hesiod für diese Reihenfolge entschieden hat und nicht die Ehefrau zuerst erwähnt, ist nicht geklärt und hat zuweilen die These aufkommen lassen, dass die von Aristoteles zitierten Zeilen in der heute überlieferten Fassung der Werke und Tage vielleicht nicht von Hesiod stammen könnten (vgl. West: 1978, 260; vgl. Schütrumpf: 1991, 199). Sollten die überlieferten Verse in Hesiods Werke und Tage echt sein, stellt sich hingegen die Frage, warum Aristoteles den Text nicht korrekt zitiert hat. Eine mögliche Erklärung könnte die damals übliche freie Verwendung der Verse der Dichter im Allgemeinen sein, die in den meisten Fällen aus dem Gedächtnis zitiert worden sind und 40

2. Hesiods Politische Anthropologie

weniger nach einer schriftlichen Überlieferung. Es könnte also durchaus möglich sein, dass Aristoteles den Vers ohne den konkreten Zusammenhang im Gedächtnis gehabt hat (vgl. Schütrumpf: 1991, 199). Auf die Ehefrau im Speziellen kommt Hesiod in Werke und Tage erst später zu sprechen, wobei er hier hauptsächlich über das ,richtige‘ Alter zum Zeitpunkt der Eheschließung spricht, jedoch nicht über die tatsächliche Gemeinschaft von Mann und Frau im oikos (vgl. Erga: 694 – 704).5 Auch wenn der oikos grundsätzlich dem Hausherrn unterstand (vgl. Erga: 570 – 575), lässt sich bereits bei Hesiod erkennen, dass die Hausgemeinschaft kein rechtsfreier Raum war oder ausschließlich despotisch beherrscht wurde, wie es später auch Aristoteles gesehen hat.6 Hesiod hat mit seinen Überlegungen zum oikos damit begonnen, sich als erster nachweislich über den zentralen Lebensbereich des Menschen der damaligen Zeit Gedanken zu machen. Der Hausgemeinschaft kommt dabei schon in Werke und Tage eine „umfassende, abstrakte Bedeutung“ zu, die den Begriff in den darauffolgenden

Generell ist festzuhalten, dass Hesiod über Frauen im Allgemeinen und Ehefrauen im Speziellen wenig bis gar nicht respektvoll spricht und oftmals diskreditierende Vergleiche anstellt (vgl. dazu u.a. Erga: 373 – 375; 695 – 705; 752 – 754; so auch Theogonie: 561– 612). 6 Der oikos ist für Aristoteles die für das gesamte tägliche Leben bestehende Gemeinschaft von Natur aus. In der Eudemischen Ethik hält er fest, dass der Mensch nicht nur ein für die Polisgemeinschaft, sondern auch ein für die Hausgemeinschaft bestimmtes Wesen ist (vgl. Aristoteles: Eudemische Ethik VII 10, 1242a23). Hinzu kommt, dass in der Hausgemeinschaft zuallererst die Anfänge von Freundschaft, Polisordnung und dem Recht sichtbar werden und dass die Hausgemeinschaft eine Form der Freundesgemeinschaft sei (vgl. Aristoteles: Eudemische Ethik VII 10, 1242b1-b4). In der Politik wird Aristoteles dazu überaus deutlich und entwickelt einen Vorzug der Tugend gegenüber der politischen Herrschaft im oikos: »Nun ist aber offenbar, dass die Tätigkeit der Hausverwaltung (oikonomia) ihre Bestrebungen in höherem Grade auf die Menschen als auf den leblosen Besitz richtet und mehr auf die Tugend (aretê) der Menschen als auf die Anhäufung von Besitztümern, die man Reichtum nennt, und unter jenen selber wiederum mehr auf die Freien als auf die Sklaven« (Aristoteles: Politik I 13, 1259b 18 – 23). Auch wenn das Thema der Herrschaft für Aristoteles durchaus ein wichtiges ist, lässt sich dennoch zeigen, dass der oikos für ihn eine Sozialgemeinschaft ist. Freundschaft, Recht und Tugend sind wichtiger als die Ökonomie und der Haushalt selbst, auch wenn letzteres notwendiger erscheint. Die Trennung ,frei‘ und ,unfrei‘ bleibt davon jedoch unberührt. 5

2.4 oikos: Hausgemeinschaft als Lebensmittelpunkt

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Jahrhunderten zu einem „zentralen Begriff der praktischen Philosophie gemacht hat“ (Spahn: 1980, 535). Bemerkenswert ist, dass die landwirtschaftliche Arbeit in Hesiods Darstellungen innerhalb des oikos nicht ausschließlich vom Knecht allein geleistet wird (bzw. geleistet werden muss), sondern in Gemeinschaft bzw. in Zusammenarbeit mit dem Hausherrn, der vorausgehen und den Knecht in seinen Tätigkeiten anleiten soll (vgl. Erga: 458 – 461; 469 – 470). Hesiod lässt seinen Bruder unmissverständlich wissen, dass im oikos kein Unrecht geschehen darf. Weder gegenüber der eigenen Familie noch gegenüber Verwandten, Fremden oder gegenüber den Göttern. Also weder innerhalb der Haus- bzw. Familiengemeinschaft, der erweiterten Gemeinschaft des oikos, noch gegenüber fremden Personen. Unmoralisches Verhalten innerhalb des Familienverbandes und häusliche Gewalt lehnt Hesiod strikt ab, zumal Zeus selbst solche Vergehen straft. »Ähnlichen Frevel [Anm.: wie durch den Raub, den Hesiod zuvor anspricht und verurteilt] begeht, wer einen Schützling oder Fremden misshandelt oder das Bett seines Bruders besteigt zum schamlosen Tun mit der Gattin auf heimlichen Lager oder sich ohne Verstand an Waisen versündigt und den greisen Vater an der schlimmen Schwelle des Alters beschimpft und mit harten Worten anfährt; dem grollt wahrhaftig Zeus selbst und belegt ihn zuletzt für sein ruchloses Tun mit drückender Buße. Du aber halte dein törichtes Trachten ganz fern von solcher Schuld« (Erga: 327 – 341).

Diese Forderung nach einem moralischen Bewusstsein innerhalb des Familienverbands des oikos ist bemerkenswert, zumal Hesiod dabei in viele verschiedene Richtungen denkt. Keinen Fremden, keinen Waisenkindern, nicht dem eigenen Bruder noch den eigenen Kindern und Schutzbedürftigen oder gegenüber den Eltern darf Unrecht getan werden. Hesiod betrachtet den oikos als den zentralen Mittelpunkt des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenlebens. Das Leben innerhalb der Polis, das Hesiod kennt, ist im Vergleich zum Leben im Wirtschafts- und Sozialverband der Hausgemeinschaft in Werke und Tage nur Randthema (vgl. Kap. 5.2). Als gelungen betrachtet Hesiod das Zusammenleben im oikos dann, wenn Hunger und Not vom Haus fernbleiben und Friede (eirênê) im Land (polis) herrscht (vgl. Erga: 224 – 237; ferner Erga: 360 – 365). 42

2. Hesiods Politische Anthropologie

Mit der ansatzweise erfolgten Herausarbeitung des Stellenwerts des oikos für das Leben des Menschen hat Hesiod begonnen ein Gebiet zu bearbeiten, das – mit einigen Verschiebungen in Form und Wertigkeit des Zusammenlebens im Haus – bis in die Gegenwart zentral geblieben ist. Die Ausführungen im Bereich der Vermeidung von Unrecht innerhalb des oikos sind dabei deutlich hervorzuheben. Hesiod kann daher als Vorläufer bzw. -denker des Primats einer Form der Tugendhaftigkeit gegenüber despotischer Herrschaft im politischen Zusammenleben innerhalb der Gemeinschaft des oikos, wie z. B. für Aristoteles (vgl. FN 5), angesehen werden.

2.5 philia: Notwendigkeiten der Freundschaft Hesiod formuliert – trotz oder vielleicht auch gerade wegen des Streits mit seinem Bruder um das väterliche Erbe – darüber hinaus Gedanken über die Freundschaft (philia). Auffällig dabei ist, dass diese Bestimmungen zur philia nicht allein im Allgemeinen getroffen werden. Der Dichter bemüht sich vielmehr darum, das Thema der Freundschaft aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Erstens spricht Hesiod über die Freundschaft im Allgemeinen, zweitens über das spezielle – und im Idealfall freundschaftliche – Verhältnis zwischen Nachbarn und drittens kurz über das Thema der Gastfreundschaft. Zur Freundschaft im Allgemeinen führt Hesiod in der Mitte der Werke und Tage aus: »Freund sei dem Freund und stehe dem bei, der dir beisteht. Gib auch dem, der dir gibt, und gib dem nicht, der nicht gibt. Dem Geber gibt jeder gern, dem Nichtgeber niemand. Geben ist gut, Raub hingegen ein Unrecht und führt ins Verderben« (Erga: 352 – 356).

Freundschaft, so Hesiod, bedarf zum einen der gegenseitigen Zuwendung, zum anderen eines gewissen Maßes an Vertrauen zueinander sowie weiters auch einer Form von zwischenmenschlicher Loyalität untereinander, zumal Hesiod noch an anderer Stelle dazu sagt, dass nur der Taugenichts ständig seine Freunde wechselt (vgl. Erga: 712). Freundschaft ist also kein einseitiges, ungleiches Abhängigkeitsverhältnis, sondern ein gegenseitiges materielles, aber auch 2.5 philia: Notwendigkeiten der Freundschaft

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immaterielles Geben und Nehmen. Dabei spricht Hesiod erneut das Thema Recht und Unrecht an. Raub und Diebstahl bzw. Betrug (vgl. Erga: 369) sollten in einer aufrichtigen und ausgeglichenen Freundschaft kein Thema sein. Hesiod weiß darum, dass Freundschaften gepflegt werden müssen und für das gute Leben des Menschen unverzichtbar sind. Insbesondere für das bäuerliche Leben ist es wichtig, unterstützende Freundschaften sowie ein gutes Verhältnis zu seinen Nachbarn zu haben. Vor allem in schwierigen Zeiten ist ein guter Nachbar unentbehrlich, teilweise auch überlebenswichtig (vgl. Erga: 341 – 345): »Ein böser Nachbar ist eine Plage, so sehr wie ein guter dir Glück bringt. Geltung wird dem zuteil, dem ein guter Nachbar zuteil ward. Auch wirst du wohl kaum ein Rind verlieren, wenn nicht der Nachbar ein Schuft ist. Lass dir vom Nachbarn gut zumessen und erstatte ihm reichlich mit gleichem Maß, ja reichlicher noch, wenn du es vermagst, damit du auch später in der Not einen verlässlichen Freund an ihm findest« (Erga: 345 – 351).

An dieser Stelle der Werke und Tage wird das Prinzip des freundschaftlichen Gebens und Nehmens deutlich. Unrecht, Neid und Missgunst sollen in einer gelungenen Nachbarschaft keine Rolle spielen. Dies gilt auch für die Gastfreundschaft, den dritten Bereich. In den Überlegungen hierzu formuliert Hesiod – fast beiläufig – sein politisch-anthropologisches Grundverständnis: »Lass dich auch weder übergastlich noch ungastlich nennen, auch nicht Gesellen der Schlechten oder Schmäher der Edlen. […]. Beim gästereichen Mahl sei nicht ungesellig; aus der Gemeinschaft (koinonia) erwächst das meiste Wohlwollen, und der Aufwand ist winzig« (Erga: 714 – 723).7

Aristoteles bezieht sich in seiner umfangreichen Abhandlung über die Freundschaft in der Nikomachischen Ethik ebenso auf diese Zeilen: »Soll man sich nun möglichst viele Menschen zu Freunden machen, oder wird es – wie man es im Fall der Gastfreundschaft für den angemessenen Rat hält, „nicht viele Gäste [zu haben] … aber auch nicht keine“ – auch bei der Freundschaft angemessen sein, weder ohne Freunde zu sein noch wiederum übermäßig viele Freunde zu haben?« (Aristoteles: Nikomachische Ethik IX 10, 1170b20 – 23). 7

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2. Hesiods Politische Anthropologie

Aus der Gemeinschaft, der koinonia, erwächst dem Menschen das meiste Wohlwollen. Diese Bedeutung der Gemeinschaft für den einzelnen Menschen ist in Werke und Tage ein überaus zentrales Motiv, nicht nur in Verbindung mit der philia, sondern auch in Bezug auf den zuvor thematisierten oikos als Sozial- und Wirtschaftsgemeinschaft. Allein auf sich gestellt ist das Leben für den Menschen beschwerlich, insbesondere eine bäuerliche Existenz verbunden mit der permanenten Sorge um Haus und Hof. Gemeinschaft und Freundschaft erleichtern das Leben, bieten Schutz und Hilfe, wenn es erforderlich ist, und beinhalten gegenseitige Unterstützung im Alltag und darüber hinaus. Die spezielle Form der Gemeinschaft, eben die Freundschaft, verpflichtet dabei, einem Freund gegenüber Solidarität und Loyalität zu zeigen. Die Bedeutung der koinonia im Allgemeinen und die Ausführungen zur philia im Speziellen scheint Peter Spahn in seiner Untersuchung zu übersehen, wenn er ausführt, dass Hesiod dem Menschen empfehle, sich nur „um seine eigene Arbeit zu kümmern“ und auf andere „keine Rücksicht zu nehmen und sich somit nicht ablenken zu lassen“ (Spahn: 1980, 538). Auch wenn Hesiod fokussierte und tadellose Arbeit in Werke und Tage lobt und sie für das Leben als unabdinglich ansieht – worauf Spahn vermutlich hinweisen möchte –, so braucht der Einzelne doch die Gemeinschaft mit anderen und die Freundschaft zu einigen Menschen in einem ausgeglichenen Maß, wie es der Text deutlich an mehreren Stellen zum Ausdruck bringt. Hesiod kritisiert, dass er in einer Zeit lebe, in der keine Gastfreundschaft, keine Familiengemeinschaft im Allgemeinen und keine familiären Bindungen und Gemeinschaften im Speziellen sowie keine zwischenmenschliche Freundschaft gelebt würden (vgl. Erga: 181 – 184). In Platons Philosophie wird die philia ebenso zum Thema gemacht, im Dialog Lysis auch in Verbindung mit Hesiod. Der Stellenwert des Dichters im Lysis ist vergleichbar mit dem in der Politeia, zumal auch die Untersuchungsmethode eine ähnliche ist. Ausgangspunkte des Gesprächs über die Freundschaft sind im Dialog Lysis Aussagen von Homer und Hesiod, weil sie, so Sokrates, als die Väter und die Führer der Weisheit gelten würden (vgl. Platon: Lysis, 214a). Doch dieses einleitende Lob wird dahingehend revidiert, dass Sokrates einen Widerspruch zwischen Homer und Hesiod in Bezug auf deren Aussagen zur Freundschaft ausfindig zu machen meint (vgl. 2.5 philia: Notwendigkeiten der Freundschaft

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Platon: Lysis, 214a6 – in Bezug auf Homer; 215c8-d1 – in Bezug auf Hesiod; vgl. Bordt: 1998, 163). Sokrates bezieht sich auf die Zeilen 25 bis 27 der Werke und Tage, wo Hesiod davon spricht, dass der Töpfer dem Töpfer grollt usw. (vgl. Kap. 2.1), und interpretiert dies dahingehend, dass hier die Ansicht geäußert werde, dass Freundschaft zwischen den Menschen auf Ungleichheit beruhen muss und nicht auf Gleichheit beruhen kann, da der Sänger den Sänger und der Bettler den Bettler primär als wirtschaftlichen Konkurrenten und als potentiellen Neider ansieht, nicht aber als Freund. Sokrates bzw. Platon verwenden die angeführte Stelle aus Hesiods Werke und Tage in einem anderen Kontext, zumal es sich eigentlich um die Ausführungen des Dichters zur guten eris handelt und nicht um jene zur philia. Abgesehen davon beinhaltet die gute eris keine Willkür und keinen radikalen Egoismus, sondern steht unter dem Aspekt der dikê. Weiters kennt Hesiod freilich auch die philia unter Gleichen, so z. B. in der Freundschaft zwischen benachbarten Bauern und deren bäuerlichen oikoi. Wie zum Bereich des ergon bereits angedeutet (vgl. Kap. 2.4), war die freie Verwendung der Dichtung in der Antike üblich – und gelegentlich fast Methode (vgl. Bordt: 1998, 163). Dennoch lassen sich anhand der Hesiod-Verwendung im Dialog Lysis in Bezug zur philia der Werke und Tage zwei Bereiche aufzeigen. Zum einen führt dieser Diskurs erneut die Relevanz und die Autorität vor Augen, die Hesiod in der griechischen Antike hatte. Zum anderen lässt sich nicht übersehen, dass seine Grundbestimmungen der relevantesten Lebensbereiche und -beziehungen des Lebens des Einzelnen innerhalb von (politischer) Gemeinschaft, seine Politische Anthropologie, im philosophischen Diskurs immer wieder aufgegriffen und – teilweise kritisch – diskutiert worden ist. Auch wenn Hesiod in seinen Ausführungen zur philia im Allgemeinen sowie in den Gedanken zur Nachbarschafts- und der Gastfreundschaft im Speziellen immer wieder auf die Nützlichkeit der Freundschaft zu sprechen kommt, betrachtet er sie nicht allein unter dem Kosten-Nutzen-Aspekt. Im Vordergrund steht vielmehr, dass das Leben für den Einzelnen allein schwerlich zu bestehen ist, insbesondere in Zeiten der Not, d. h. für Hesiod insbesondere in Zeiten des Ernteausfalls, ökonomischer Stagnation oder des Krieges. Hier sind verlässliche Freundschaften eine überaus wichtige Sache. Es lässt sich somit festhalten, dass Hesiod zwar im oikos, in der Wirtschafts46

2. Hesiods Politische Anthropologie

und Sozialgemeinschaft, das Kernelement seiner politischen Anthropologie ausmacht, aber auch über die Grenzen des oikos hinaus denkt, zumal er Gemeinschaft (koinonia) – und manchmal auch die politische Sphäre der Stadt (polis) –, insbesondere aber die Freundschaft (philia) der Menschen untereinander, zum Thema macht und deren Relevanz für das Leben des Menschen aufzeigt.

2.6 timê: Achtung des Mythos Eine Untersuchung zu Hesiod kann den mythisch-theologischen Charakter seiner Texte nicht gänzlich unberücksichtigt lassen, selbst wenn der Fokus auf die Grundlegung einer politischen Anthropologie anhand der Werke und Tage gerichtet ist. Auch hier und nicht nur in der Theogonie ist der antike griechische Mythos eine (Sub-)Dominante (vgl. Ercolani/Rossi: 2011, 78). So z. B. der Mythos des Prometheus (vgl. Erga: 43 – 59) oder die Erzählung der fünf Zeitalter der Menschheit (vgl. Erga: 106 – 200). Doch selbst die mythischen Komponenten – so entfernt sie von unserer heutigen Weltansicht auch stehen mögen – sind nicht leicht zu fassen, insbesondere die Erzählung Hesiods über die unterschiedlichen Weltzeitalter. Es handelt sich bei dieser Erzählung um eine Form der mythischen Anthropologie bzw. um eine mythische Schöpfungslehre, in der Hesiod den Versuch unternimmt, zu erklären, wie die Entwicklung hin zum gegenwärtigen Menschengeschlecht stattgefunden hat und warum. Fälschlicherweise wird dieser Mythos zumeist als ethisch-moralische Verfallsgeschichte des Menschen gedeutet – als eine „absteigende Linie“, „die in einer schrecklichen, geradezu apokalyptischen Zukunftsvision endet“ (Seybold/ Ungern-Sternberg: 1993, 223); als eine „pessimistische Version“ eines „verlaufenden Verfallsprozess“ (Nerczuk: 2010, 80); als eine „Verfallsgeschichte in fünf Weltaltern“ (Jedan: 2010, 200). In Werke und Tage wird jedoch nicht von einem kontinuierlichen Verfall gesprochen. Denn die sogenannte Heroengeneration, das vierte bzw. das erderne Zeitalter, zeigt, dass Hesiod hier an keinen permanenten Abstieg des Menschen von Geschlecht zu Geschlecht denkt, zumal er in Bezug auf das Heroenzeitalter von Halbgöttern, einem herrlichen Geschlecht, spricht, das besser und gerechter als das 2.6 timê: Achtung des Mythos

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vorhergehende, das dritte, gewesen sei (vgl. Erga: 156 – 160). Wichtiger ist jedoch, dass Hesiod in jedem der unterschiedlichen Zeitalter dem Menschen die freie Entscheidung zuspricht, zwischen hybris und dikê zu wählen. Der Mythos der fünf Weltzeitalter hat also auch eine politische Dimension und mahnt, wie so oft in Werke und Tage, Gerechtigkeit zu üben und das Recht einzuhalten. Hesiod greift also immer wieder auf den Mythos zurück. Selbst in den Ratschlägen für das alltägliche bäuerliche Leben des Menschen, den Empfehlungen für die sichere Seefahrt und den vielen Anmerkungen zum (Bauern-)Kalender – alles in der zweiten Hälfte der Werke und Tage – ist Zeus und dessen Allmacht immer wieder Bezugspunkt. Dieser permanente Miteinbezug der mythisch-theologischen Erzählung ist jedoch nicht bloß fromme Rhetorik, sondern der Versuch, alltägliches ökonomisches sowie politisches Leben und mythische Spiritualität miteinander in unmittelbare Verbindung zu bringen. Hesiod knüpft immer wieder den beschwerlichen Alltag der bäuerlichen Existenz an die mythische Religion und bringt dadurch oikos und Kultus miteinander in Verbindung. Bereits ein Blick an den Anfang des Textes führt die mythischtheologische Dimension deutlich vor Augen. Noch bevor Hesiod auf sein allgemeines und über sein spezielles Anliegen bzw. Vorhaben zu sprechen kommt, legt er ein klares Bekenntnis zu Zeus und dessen Allmacht ab: »Musen, die ihr in Liedern Ruhm verleiht, eilt von Pierien her, kündet von Zeus und besingt euren Vater; durch ihn sind sterbliche Männer beides: namenlos oder namhaft, berühmt oder ruhmlos nach Zeus’, des erhabenen, Willen. Leicht ja schenkt er Gewicht, bedrückt aber leicht auch den Starken, leicht mindert er auch den Glänzenden und erhöht den Niederen, leicht biegt er den Krummen gerade und lässt den Trotzigen schrumpfen, er, der hochdonnernde Zeus, der im höchsten Hause wohnt« (Erga: 1 – 9).

Zeus ist allmächtig und es ist unmöglich, seinen Entscheidungen zu entrinnen (vgl. Erga: 105). Die Werke und Tage sind von dieser Auffassung gänzlich durchdrungen. Zeus ist regelmäßiger Bezugspunkt, so gut wie omnipräsent und die höchste göttliche und teilweise auch moralische Autorität. Diese Tatsache darf nicht außen vorgelassen werden und muss bei der Grundlegung einer politischen An48

2. Hesiods Politische Anthropologie

thropologie anhand von Hesiods Werke und Tage berücksichtigt werden, zumal der religiöse Kultus zum Teil auch von politischer Bedeutung im weiteren Sinne ist. Denn im gemeinschaftlichen Leben des Menschen im oikos nimmt der Glaube an die Götter und die Pflege des Kultus eine zentrale Rolle ein. So u. a. bei den häuslichen sakralen Opferungen, wie z. B. bei der Tieropferung, den Weinspenden an die Götter oder aber auch in der Verwendung von Weihrauch im Haus (vgl. Erga: 335 – 341). Es liegt nahe, die Achtung (timê), die Hesiod in seinen mythischtheologischen Gesängen gegenüber Zeus und der Götterwelt ausdrückt, als eine Form der „Götterfurcht“ auszulegen (Schönberger: 2007, 101), die jedoch einer näheren Betrachtung bedarf, da sie sich nicht ausschließlich auf religiöse Demut oder auf unterwürfige Untertänigkeit beschränken lässt. Vielmehr erscheint die Gottesfurcht der Werke und Tage in der Mitte zu stehen zwischen einer frommen, distanzierten Ehrfurcht, die gleichzeitig jedoch verbunden ist mit einem – für Hesiod fast selbstverständlich wirkenden – persönlichen Vertrauen auf die Herrschaft und auf die Führung durch die Götter, sowie dem Vertrauen darin, dass eine gute Lebensweise gottgefällig ist und von den Göttern wohlwollend und belohnend zur Kenntnis genommen wird. Zeus ist zum einen zwar erhaben (vgl. Erga: 4), olympisch (vgl. Erga: 87), weitblickend (vgl. Erga: 228), machtvoll (vgl. Erga: 415), allsehend, allesgewahrend (vgl. Erga: 267) und selbst der König der Unsterblichen (vgl. Erga: 667), aber zum anderen – und diese Komponente wird in Werke und Tage überaus deutlich zur Sprache gebracht – auch Vater der Menschen (altgriech.: pater, vgl. Erga: 84; 144; 168; 258). Und Hesiod erinnert seinen Bruder Perses vor der Erzählung der fünf Weltzeitalter daran, dass die Götter und die Menschen vom gleichen Ursprung herstammen (vgl. Erga: 107). Als Paradebeispiel für eine solche Form der Gottesfurcht, zwischen Achtung und Ehrfurcht vor dem Göttlichen auf der einen Seite und dem Vertrauen, wie es ein Kind in seinen Vater setzt, auf der anderen Seite, gilt u. a. die alttestamentarische Figur des Ijob. Die Darstellung seines Lebens in der Bibel erinnert ansatzweise an einige der Ratschläge, die auch Hesiod in Werke und Tage erteilt, nämlich ein Leben zu führen, das sich an Gerechtigkeit und Recht orientiert, untadelig ist, das Böse meidet und vermeidet sowie alles in allem gottesfürchtig lebt 2.6 timê: Achtung des Mythos

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(vgl. Buch Ijob 1,1). Der Erzählung nach wird Ijobs Glaube an Gott aber intensiv auf die Probe gestellt, wobei er sich jedoch nicht dazu hinreißen lässt, Gott abzuschwören und das eben aufgrund seines starken Gottvertrauens, das auch auf seiner prinzipiellen Gottesfurcht basiert, die als eine spezifische Form menschlicher Zuversicht und der Hoffnung dargestellt wird (vgl. Buch Ijob 4,6). Zweifelsfrei lassen sich geistesgeschichtliche, jedoch vor allem kulturelle und ökonomische Verbindungen zwischen dem ,alten Orient‘ und dem ,alten Griechenland‘ herstellen, die deutlich machen, dass die griechische Kultur nicht ohne Einflüsse aus anderen Regionen entstanden ist, so z. B. aus dem Nahen Osten, u. a. Syrien, Phönizien oder aus Ägypten. Ausgelöst wurden diese Begegnungen durch kulturübergreifende, intensive Handelsbeziehungen über das Mittelmeer bereits im 8. Jahrhundert v. Chr., die zum Teil auch Auswirkungen auf die Gestaltung der griechischen Lebensweise hatten (vgl. Matthäus: 1993, 183 – 184). Bereits in den pseudo-platonischen Epinomis wird angeführt, dass die Griechen kulturelle und dabei auch wissenschaftliche Impulse von außen erhielten, diese jedoch, so Platon, „zu größerer Schönheit und Vollendung erhoben haben“ (Platon: Epinomis, 987e). Hesiod ist mit großer Wahrscheinlichkeit auch mit der altorientalischen Weisheitstradition in Berührung gekommen und dabei vermutlich ebenso mit dem Genre der didaktischen Literatur wie den alten Lebenslehren, die sich außerhalb Griechenlands bereits entwickelt hatten. Dass Hesiod in der Theogonie und in Werke und Tage mythisch-literarische Motive aus dem Orient aufgreift bzw. in seiner Dichtung mitverarbeitet hat, ist innerhalb der Forschung unbestritten (vgl. West: 1978, 28; Raaflaub: 1993, XVII-XVIII; Seybold/UngernSternberg: 1993, 229). Parallelen zwischen Hesiod und den Propheten des Alten Testaments sind darüber hinaus immer wieder in der Geschichte der Philosophie bis heute gezogen worden, so z. B. zwischen Hesiod und dem alttestamentarischen Propheten Amos, worauf bereits Eduard Meyer oder Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufmerksam gemacht haben (vgl. Seybold/UngernSternberg: 1993, 224 – 226). Insbesondere die vermutete ähnliche Entstehungszeit der Texte legt diese inhaltlichen Konnotationen nahe, wie z. B. die Rede über die Notwendigkeit von Recht und Ge50

2. Hesiods Politische Anthropologie

rechtigkeit. Und bereits Friedrich Hölderlin hat auf Parallelen und den grundlegenden Einfluss der altorientalischen Kultur auf das antike Griechenland hingewiesen (1790 in seiner Magisterarbeit mit dem Titel Parallele zwischen Salomons Sprichwörtern und Hesiods Werken und Tagen). Hesiod fordert von seinem Bruder Perses und von allen anderen, die sein Gedicht hören, die Achtung des Kultus und der Götter, vor allem gegenüber dem allmächtigen Vater Zeus, der in der Theogonie wie auch in Werke und Tage ein beständiger Bezugspunkt ist. Für Hesiod ist dabei unzweifelhaft, dass die mythische Religion im Leben des Menschen – und dabei insbesondere im Zusammenleben im oikos, vermutlich, aber nicht genauer ausgeführt auch in der Sphäre der Polis – zu einem guten und glückseligen Leben gehört. Die Bestimmungen und Ausführungen der sakralen Tätigkeiten des Menschen innerhalb der Gemeinschaft des oikos sind daher ein wichtiger Bestandteil der Werke und Tage (vgl. Erga: 724 – 726). Das zweite Menschengeschlecht, das silberne, von dem Hesiod im Mythos der fünf Weltzeitalter spricht, sei deshalb zugrunde gegangen, weil den Göttern, die im Olymp wohnen, keine Ehren erwiesen und keine Opfer dargebracht wurden (vgl. Erga: 128 – 143). Zumal es nach Hesiod Aufgabe bzw. Sitte des Menschen ist, im eigenen oikos die unsterblichen Götter zu ehren und ihnen zu opfern (vgl. Erga: 137 – 138). Was in Bezug auf die Ausführungen über die Gottesfurcht in Hesiods Werke und Tage – wie bereits schon in den Überlegungen zum ergon ausgeführt (vgl. Kap. 2.3) – bemerkenswert erscheint, ist die Tatsache, dass der Mensch nicht gänzlich dem Willen der Götter ausgeliefert oder ausgesetzt ist. Das macht Hesiod an mehreren Stellen deutlich, wo er dem Menschen die Möglichkeit zuspricht, zwischen guter und schlechter eris, zwischen dikê und hybris selbst wählen zu können. Dadurch wird ersichtlich, dass der Mensch sein Leben zu seiner Zufriedenheit und seinem Glück individuell selbst gestalten kann, wenn auch nicht gänzlich unabhängig von der Zuneigung und der Gunst der Götter. Zusätzlich kommt an dieser Stelle in Bezug auf die Gottesachtung bzw. die Gottesfurcht hinzu, dass der Mensch zwar um die göttliche Autorität weiß und sich dieser auch unterordnet, dabei aber ebenso in eine Beziehung zu den Göttern tritt, insbesondere zu Zeus. So wie 2.6 timê: Achtung des Mythos

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auch ein Sohn zu seinem Vater zumeist in dem Spannungsverhältnis von Autorität und Vertrauen aufwächst, sich individuell entwickeln und entfalten kann, so versteht Hesiod in Werke und Tage auch die Beziehung zwischen Mensch und Gott.

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2. Hesiods Politische Anthropologie

3. Überblick, Positionen und Klärungen

In diesem Abschnitt stehen drei Betrachtungen im Mittelpunkt. Erstens erfolgt ein komprimierter Überblick der sechs politisch-anthropologischen Dimensionen, verbunden mit einer konzentrierten Interpretation der letzten Zeilen aus Hesiods Werke und Tage (3.1). Zweitens wird die aktuelle Hesiod-Forschung in Bezug auf die dargestellten politisch-anthropologischen Schwerpunkte einer ergänzenden Kritik unterzogen (3.2). Drittens wird die These diskutiert, dass Hesiod ohne größere Einschränkungen durchaus als erster Vorsokratiker positioniert werden kann (3.3).

3.1 Hesiods Lebensbereiche und -beziehungen Anhand der Begriffe eris, dikê, ergon, oikos, philia und timê lässt sich eine rudimentäre Politische Anthropologie in Hesiods Werke und Tage nachweisen. Auch wenn diese Themen skizzenhaft dargestellt sind und ausschließlich in Ansätzen diskutiert werden. Die Lebensbereiche und -beziehungen, denen sich Hesiod zuwendet, sind darüber hinaus nicht nur in seinem Text zentral, sondern auch fundamentale Themen der Philosophie in ihrer Gesamtheit (vgl. Kap. 4). Die Bestimmungen zur eris, allen voran die Ausdifferenzierung zwischen guter und schlechter eris, zeigen, dass Hesiod um die Lebenspraxis des Menschen gut Bescheid weiß. Dabei ist es ihm wichtig hervorzuheben, dass die gute eris, verstanden als zwischenmenschlicher Konkurrenzkampf im besten Sinne, das Sich-mit-anderenMessen bzw. -Vergleichen, damit ferner verbunden der Wunsch nach Exzellenz, ein zentraler Bestandteil des Lebens ist. Das Streben des Menschen nach Fortkommen, der Verbesserung des Gemeinschaftlichen und die Weiterentwicklung des Individuellen ist von der schlechten eris – von Krieg, Rechtsbruch, Streit etc. – zu trennen. Die gute eris ist für das Leben des Menschen zuträglich und notwendig, die schlechte eris hingegen in jeglicher Hinsicht kontraproduktiv und zerstörerisch. Hesiod ist Realist genug, um das ganze Spektrum menschlicher Verhaltensweisen zu kennen und zu benennen. 53

Die Ausführungen zur dikê beinhalten eine zeitlose politische Dimension. Auch wenn vieles rund um dieses – für Hesiod zentrale – Thema des Gedichts auf den ersten Blick auf persönlichen Erfahrungen zu beruhen scheint, zeigt ein zweiter Blick die allgemeine Bedeutung von Gerechtigkeit und Recht für das Leben des Menschen auf. Gerechtigkeit und Recht sind für Hesiod nicht nur Prinzipien zwischenmenschlicher Beziehungen. Sie sind konstitutiv für das Zusammenleben des Menschen in Gemeinschaft. Sie sind unverzichtbare Grundlagen für das Haus und für die Polis. Darüber hinaus fordert Hesiod die Kenntnis dieser Bereiche auch bei politischen Machthabern, den Herrschern, ein und ruft sie dazu auf, Recht zu sprechen und im Rahmen ihrer Herrschaft Ungerechtigkeit(en) zu vermeiden. Damit erhalten die Werke und Tage einen gesellschaftspolitisch-kritischen Aspekt. Das Leben des Menschen in Gemeinschaft bedarf der individuellen Tätigkeit, der Arbeit und der Anstrengung. Hesiod bringt das mit seinen Überlegungen zum ergon zum Ausdruck, worunter er primär – aber nicht ausschließlich – die bäuerliche Arbeit und Fürsorge um den oikos, ferner auch Tüchtigkeit im weiteren Sinne, versteht. Der Mensch kann auf diese Art und Weise seinen Lebensverlauf zu einem guten Teil selbst beeinflussen, gestalten und ist daher weder soziologisch noch theologisch gänzlich determiniert. Denn durch vorausschauende Organisation der alltäglichen Tätigkeiten und durch fokussierte Arbeit kann der Mensch seine Existenz aus materieller und ökonomischer Perspektive sowie seine Lebensqualität in sämtlichen Lebensbereichen aus eigener Kraft heraus verbessern. Das ist eine Grundüberzeugung Hesiods in Werke und Tage, die seine Gedanken tragen. Dabei wird er nicht müde, immer wieder hervorzuheben, dass nicht Trägheit oder Betrug, sondern Tätigkeit und Gerechtigkeit zu einem guten Leben führen und letztendlich auch glücklich machen. Das Zusammenleben in der Gemeinschaft des oikos stellt für Hesiod den wichtigsten Lebensbereich des Menschen dar. Es ist der Ort, an dem alle anderen Lebensbereiche und -beziehungen zur Anwendung kommen: Handeln, Tätigkeit, Gerechtigkeit, Freundschaft und auch ,Kontemplation‘. Hesiod sieht den oikos als bevorzugten Lebensbereich des Menschen an, nicht die Gemeinschaft der Polis, die er zwar kennt, aber anscheinend eher als politisches Konstrukt, weniger als konkreten (politischen) Lebensraum des Menschen ansieht (vgl. 54

3. Überblick, Positionen und Klärungen

Kap. 5.2). Unverzichtbar für den oikos und für die Polis sind gleichermaßen Gerechtigkeit und Recht. Der oikos ist somit kein rechtsleerer Raum ausschließlich despotischer Herrschaft, sondern eine Gemeinschaft, in der es genauso wie in der Polis auch Gerechtigkeit und Recht zu leben gilt, mit dem Fokus auf das gute und gelingende Leben. Damit wird klar, dass der oikos neben einer Wirtschafts- vor allem auch eine Sozialgemeinschaft ist und nicht allein auf den Bereich des Materiellen oder des Ökonomischen eingeschränkt ist. Die unterschiedlichen Zugänge zur philia zeigen, dass Hesiod dieser Lebensbereich für das Leben des Menschen in all seinen Facetten wichtig ist. Diese Aspekte, die Freundschaft im Allgemeinen, die Freundschaft innerhalb der Nachbarschaft und die Gastfreundschaft im Speziellen, die in Werke und Tage ausgeführt werden, machen deutlich, dass Hesiod die Mühen und auch die Risiken des menschlichen Lebens im bäuerlichen oikos, insbesondere aus ökonomischer Perspektive, durch einen Verweis auf Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Freundschaft mildern möchte. Diese Formen der Freundschaft beinhalten ein gegenseitiges Geben und Nehmen und stellen kein einseitiges Nutzenverhältnis dar. Und: Hesiod bezieht die Notwendigkeit der Freundschaft für das Leben des Menschen auch auf das Zusammenleben im oikos. Dadurch macht er erneut deutlich, dass diese Form der Gemeinschaft des Hauses nicht nur Ort patriarchaler Herrschaft ist, sondern zusätzlich einer Form der Freundschaft untereinander bedarf. Die timê, die Hesiod in Bezug auf die Götter und auf den Kultus einfordert, ist in Werke und Tage ein omnipräsentes Thema. Dieser starke mythisch-theologische Ansatz beinhaltet jedoch keine gänzliche Abhängigkeit des einzelnen Menschen oder der politischen Gemeinschaft im Ganzen von der Götterwelt und von der Willkür und Launenhaftigkeit der Götter. Hesiod erkennt durchaus einen Raum des spezifisch menschlichen Lebens und Handelns, der von Zeus zumindest in einigen Belangen unabhängig erscheint. Das gute und gelingende Leben im oikos verlangt vor allem das eigene Engagement im Allgemeinen und der individuellen Tätigkeit und Tüchtigkeit im Speziellen. Ohne dieses (menschliche) Zutun scheint – Werke und Tage zufolge – ein gutes und gelingendes Leben, das mit der Praxis des Kultus verbunden ist, nicht möglich zu sein. Im oikos sollen auch die 3.1 Hesiods Lebensbereiche und -beziehungen

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Götter geehrt werden. Das alles zusammen, individuelles Leben und Tätigkeit innerhalb der Gemeinschaft des oikos, verbunden mit der mythisch-theologischen Komponente der Verehrung der Götter und der Opferung, ist nach Hesiod jene Lebensform des Menschen, die bei den Göttern im Olymp das meiste Gefallen und damit auch Anerkennung findet. Diese sechs Lebensbereiche und -beziehungen der Werke und Tage finden sich ansatzweise in den letzten Zeilen des Textes in komprimierter Art und Weise angedeutet. »Glücklich (eudaimon) (i) und gesegnet (ii) ist, wer all dies weiß (iii), im Tun beherzigt (iv), schuldlos gegen die Götter bleibt (v), auf den Vogelflug achtet (vi) und Übertretungen meidet (vii)« (Erga: 825 – 827).

Glücklich zu werden und Glückseligkeit im Leben zu erlangen, ist dem Menschen möglich (i). Dazu braucht der Einzelne jedoch Wissen zum einen (iii) und den Mut zur Tätigkeit zum anderen (iv). Beide Aspekte, Wissen und Tätigkeit, sind mit zwei weiteren Bereichen verbunden. Erstens mit der Kenntnis um die Natur und der Beachtung ihrer Gesetzmäßigkeiten (vi). Dieses Wissen soll dem Menschen helfen, seine ökonomische Existenz zu planen und das Leben aus materieller Perspektive vorausschauend absichern zu können. Zweitens der Bereich von Gerechtigkeit und Recht in allen – besonders auch in politischen – Belangen. Gerechtigkeit und Recht sind die Grundlage des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens des Menschen schlechthin. Unabdingbar mit alledem verbunden ist jedoch die Kenntnis um den Kultus, dessen Ausübung im Sozialverband des oikos und die Achtung der Götter im Olymp in sämtlichen Lebenslagen (v).8

Hans Blumenberg hat ausgeführt, dass ,Hesiods Mensch‘ durch Arbeit und Götterachtung nur seine „nackte, notvolle und dürftige Existenz“ absichern könne (Blumenberg: 2014, 38 – 39). Dem widerspricht der Abschluss der Erga, wo Hesiod vom glückseligen Menschen spricht. 8

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3. Überblick, Positionen und Klärungen

3.2 Perspektiven der Hesiod-Interpretationen Innerhalb der Hesiod-Forschung sind bereits einige der sechs Ansätze eines politisch-anthropologischen Denkens aus Werke und Tage benannt und teilweise intensiv sowie kontrovers diskutiert worden. Allerdings – soweit überschaubar – zum einen nicht alle der angeführten Ansatzpunkte und zum anderen nicht im Rahmen eines skizzenhaften Nachdenkens über eine Politische Anthropologie. Hinzu kommt, dass in vielen Untersuchungen zuweilen die unterschiedlichen Dimensionen nicht in ihrer grundsätzlichen Selbstständigkeit, in ihrer über die Dichtung hinausgehenden Allgemeingültigkeit und hinsichtlich des von Hesiod erhobenen Wahrheitsanspruchs betrachtet werden. Darüber hinaus ist zu bemerken, dass viele Untersuchungen sich zwar darum bemühen, die Vielfalt der Werke und Tage zu thematisieren, sich dabei aber zumeist mit allgemeinen Bestimmungen ausgewählter einzelner Aspekte beschäftigen, aber nicht das ganze Spektrum der Werke und Tage sichtbar machen können – weder in der Breite noch in der Tiefe. Hermann Fränkel ist der Überzeugung, dass Hesiod die Werke und Tage verfasst hat, um die Frage zu beantworten, auf welche Art und Weise der Mensch in seinem Leben selbst tätig werden muss, um letztendlich sein „Los zu verbessern“. Abgesehen von dieser kurzen inhaltlichen Charakterisierung hält Fränkel fest dass Hesiod nicht ausschließlich aus literarischer, sondern auch aus (philosophisch-) systematischer Perspektive von Interesse sei, zumal der Text zumindest Ansätze methodischer Fragestellungen und deren Beantwortungen beinhaltet – rudimentär, aber deshalb nicht weniger von Bedeutung. Zusammengefasst bringt Fränkel den erkennbaren methodischen Ansatz der Werke und Tage in der Frage auf den Punkt, welche Lebensbereiche und -beziehungen aus Hesiods Perspektive notwendig sind, um als Einzelner innerhalb von Gemeinschaft mit dem „Leben so gut wie möglich fertig zu werden“ (Fränkel: 1962, 128). Peter Spahn ist der Ansicht, dass Hesiods Werke und Tage – wie auch die Texte von Solon und Aischylos – „zu den bedeutendsten literarischen Dokumenten aus der Zeit der entstehenden Polisgesellschaft“ gehören, da er wie die anderen genannten antiken Autoren „zentrale gesellschaftliche Probleme seiner Zeit“ zum Thema mache. 3.2 Perspektiven der Hesiod-Interpretationen

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(So z. B. Landknappheit aufgrund stetiger Erbteilung, diktatorische Herrschaftssysteme auf Kosten der Bauern, Ungleichheiten in Bezug auf den Besitz o.Ä.) Aus diesem Befund heraus lasse sich weiter ableiten, dass Hesiod offensichtlich nicht ausschließlich mythischer Dichter, sondern auch politischer Gesellschaftskritiker gewesen sei. In Anbetracht der zeitlichen Verortung von Hesiods Leben im 7. Jh. v. Chr. ein bemerkenswerter Aspekt, der sich vor allem in Werke und Tage und anhand der Zugänge insbesondere zur dikê schlüssig belegen lässt. Dennoch meint Spahn, dass Hesiod in seinen Reflexionen „noch keine politische Kommunikationsebene“ erreicht habe (Spahn: 1980, 532 – 533). Henning Ottmann bearbeitet in seiner Darstellung der Geschichte des politischen Denkens, in der er Hesiod zu Recht nicht nur aus mythologischer Perspektive, sondern auch aus spezifisch politischer Perspektive betrachtet, die Themen des Wettstreits, der Arbeit, von Recht und Gerechtigkeit, den Mythos der fünf Weltzeitalter sowie die Fabel von Habicht und Nachtigall. Ottmann meint in Hesiods Werke und Tage drei unterschiedliche Adressatenkreise ausmachen zu können. Zum einen ist der Text – zumindest phasenweise – an den Bruder Perses gerichtet, insbesondere in Kombination mit dem Aufruf zur ehrlichen Arbeit. Zum anderen an die mächtigen ,Könige‘ der damaligen Zeit, verbunden mit der Aufforderung, die Gerechtigkeit zu achten und zu fördern sowie in unabhängiger Art und Weise Recht zu sprechen. Drittens ist der Text der Werke und Tage an die Bauernschaft gerichtet, in der Form eines Bauernkalenders und den dazugehörigen Bauernregeln für eine an der Landwirtschaft orientierte Existenz. Und auch Ottmann hält fest, dass die Werke und Tage seiner Ansicht nach die „erste Sozialkritik unserer Kultur“ formulieren (Ottmann: 2001, 48 – 49). Otto Schönberger ist der Ansicht, dass Hesiod die erste bekannte Persönlichkeit der europäischen Geschichte ist. Gegenüber Ottmann fügt Schönberger einen Adressatenkreis hinzu – nämlich jenen der allgemeinen Weltöffentlichkeit. Hesiod hat sich demnach darum bemüht, allgemeingültige Aussagen zu treffen, losgelöst u. a. von den persönlichen Problemen mit seinem Bruder Perses. Allerdings sieht Schönberger in Werke und Tage keine systematische Sachbelehrung gegeben, sondern eine Form von jeweils kurz skizzierten Lebensregeln anhand einzelner Aspekte der ländlichen Existenz. Aus inhaltlicher 58

3. Überblick, Positionen und Klärungen

Perspektive führt Schönberger in Bezug auf die Werke und Tage an, dass Hesiod über die „Macht von Gerechtigkeit und Ordnung im öffentlichen und privaten Leben“ spricht, weiters über die „Bedeutung von Recht und Arbeit im Zusammenleben der Menschen“ handelt und mit „Ratschlägen für die persönliche Lebensführung“ endet (Schönberger: 2007, 100). Andrea Ercolani und Luigi Enrico Rossi setzen sich mit den philologischen Aspekten und Diskussionen der aktuellen Hesiod-Forschung auseinander – mit Historizität, Authentizität, Überlieferung und Tradition –, die für die vorliegende Untersuchung jedoch nicht von Bedeutung sind, zumal hier die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem überlieferten Text (der den Autorennamen ,Hesiod‘ trägt) in der heute vorliegenden Form im Mittelpunkt des philosophisch-anthropologischen Interesses steht. Nach Ercolani und Rossi handeln die Werke und Tage von der „Erfahrung des Individuums in Arbeit und Gesellschaft“, „bieten in knapper Form Verhaltensmuster für den einzelnen innerhalb der Gesellschaft“ in Bezug auf zwischenmenschliches Verhalten, soziale Beziehungen und die Verbindung mit Institutionen und Arbeitsrhythmen der bäuerlichen Gesellschaft des archaischen Böotien (Ercolani/Rossi: 2011, 88). Diese Einschätzungen, die allesamt keineswegs falsch, aber bei genauerer Betrachtung doch unvollständig erscheinen, lassen sich anhand der sechs politisch-anthropologischen Dimensionen klarer fassen bzw. entfalten und dadurch manches in der Forschung vorherrschendes Urteil revidieren. Der – durchaus differenzierte – Befund von Ercolani und Rossi lässt sich konkretisieren, da mit der Grundlegung einer politischen Anthropologie der Werke und Tage gezeigt werden kann, welche Verhaltensmuster konkret angesprochen werden und wie das Leben des Einzelnen innerhalb der Gemeinschaft nach Hesiods Vorstellungen aussehen kann bzw. soll. Schönberger richtet den Fokus vor allem auf die Themen Gerechtigkeit, Recht und Arbeit. Interessant wäre dabei jedoch vor allem eine Untersuchung der Ratschläge, die Hesiod für die persönliche Lebensführung konkret entwickelt – auch wenn Schönberger keine systematische Sachbelehrung erkennt. Verwunderlich ist, dass Ottmann in seinen politischen Betrachtungen der Werke und Tage über eris, ergon und dikê spricht, dabei jedoch oikos, philia und timê, die auch von politischem Interesse im weiteren Sinne sind, größtenteils außer Acht lässt. 3.2 Perspektiven der Hesiod-Interpretationen

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Spahns Befund, dass Hesiod keine politische Kommunikationsebene erreiche, kann auf unterschiedlichen Wegen widerlegt werden.9 Und bei Fränkel drängt sich die Frage auf, wie und auf welche Art und Weise der Mensch sein Leben letztendlich durch individuelle Tätigkeit und Engagement verbessern kann? Hesiod hat in Werke und Tage auf diese Fragen spezifische Antworten angeboten und zumindest rudimentär aus systematischer Perspektive erörtert sowie dabei verschiedene Lebensbereiche und -beziehungen bestimmt, die ein gutes (eudaimon, vgl. Erga: 826) und gelingendes Leben des einzelnen Menschen in (politischer) Gemeinschaft möglich machen sollen. Anhand der politisch-anthropologischen Dimensionen von eris, dikê, ergon, oikos, philia und timê lässt sich diese These verifizieren. Dieses zentrale philosophische Anliegen ist in seiner Gesamtheit – im Bereich der politischen Anthropologie und auch in allen einzelnen Facetten, wie z. B. im Bereich der eris in Bezug auf die philosophischen Debatten über Konflikt und Kooperation – seit der griechischen Antike von Interesse und bis heute ein bedeutendes und mittlerweile interdisziplinäres Thema. Damit ist klar, dass bereits Hesiod dazu beiträgt, die Philosophische Anthropologie im Allgemeinen (und die Politische Anthropologie im Speziellen) als die „explizite Bemühung um ein systematisches und kritisch grundgelegtes Wissen vom Menschen“ (Haeffner: 2000, 17) auszuweisen. Dass dieses Anliegen keineswegs unauflöslich anachronistisch, überambitioniert oder schlichtweg unmöglich ist, Hesiod eben nicht bloß ein archaischer Dichter war und seine ,Philosophie‘ durchaus vergleichbar mit jener der (anderen) Vorsokratiker ist, kann nicht zuletzt anhand der Hesiod-Interpretation von Korbinian Golla aufgezeigt werden. Seiner Ansicht nach handelt es sich bei Werke und Tage um ein „in vielerlei Hinsicht einzigartiges Werk“, dem zuge-

1. Zugang: Hesiod fordert selbst von politischen Machthabern Gerechtigkeit und Recht ein. Dadurch wird die dikê auch zu einem politischen Lebensprinzip mit allgemeingültiger Bedeutung. 2. Zugang: Die Gemeinschaft des oikos ist ein politischer Verband im weiteren Sinne, verstanden als Wirtschafts-, vor allem aber als Sozialgemeinschaft. 3. Zugang: Die Überlegungen zur philia zeigen, dass Hesiod die politische Gemeinschaft prinzipiell schätzt, selbst wenn er im oikos den wichtigeren Lebensbereich des Menschen sieht und nicht in der Polis. 9

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3. Überblick, Positionen und Klärungen

sprochen werden muss, dass „dessen Komplexität auch uns Heutigen noch viele Rätsel aufgibt“ (Golla: 2016, 3 – 4). In dieser Rätselhaftigkeit sieht Golla allerdings keinen Nachteil, sondern vielmehr einen Vorteil, der darin ausgemacht werden kann, dass Werke und Tage „eine Vielzahl von Herangehensweisen und Deutungen zulässt, um nicht zu sagen: diese herausfordert“ (Golla: 2016, 4). Darüber hinaus handle Hesiod über „grundlegende Fragen des menschlichen Lebens“ (Golla: 2016, 17 – 18), er spreche im Grunde genommen von der conditio humana (vgl. Golla: 2016, 16 – 17; 260; zuvor vgl. Seybold/ Ungern-Sternberg: 1993, 224). Der Begriff der conditio humana wird in den folgenden Überlegungen nicht weiter verfolgt, zumal es sich um eine Fokussierung der politisch-anthropologischen Gedanken Hesiods im Speziellen handelt, die andere Bereiche, wie z. B. Mensch und Natur oder eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Mythos, unberücksichtigt lassen müssen – außer wenn es für das politische Verständnis Hesiods im weiteren Sinne als notwendig erscheint. Darüber hinaus hat der Begriff innerhalb der Geschichte der Philosophie immer wieder Kritik sowie unterschiedliche Auslegungen erfahren. Und nicht zuletzt geht es hier nicht darum, einen (weiteren) Überbegriff für das Denken Hesiods in Werke und Tage zu finden, sondern vielmehr darum, nach dessen konkreten Inhalten zu fragen. In Anlehnung an Golla geht es – wenn dann – um eine Ausdifferenzierung der conditio humana, um die Perspektiven der politischen Anthropologie Hesiods, verstanden als die Frage nach den zentralen Lebensbereichen und -beziehungen des Menschen im Leben in Gemeinschaft, sowie darum, diese zu übersetzen, zu übertragen und zu verorten.

3.3 Hesiod als Beginn der Vorsokratik Einleitend zu dieser Studie wurden bereits unterschiedliche Betrachtungen bzw. Urteile angeführt (vgl. Kap. 2.), die in Bezug auf Hesiods Texte von einer „archaischen Philosophie“ (Gigon: 1968, 39), einem „vorwissenschaftlichen Denken“ (Schmidt E.G.: 1991, 182) sowie vom „Ausgangspunkt der europäischen Philosophie“ (Schönberger: 2007, 99) sprechen. Diese drei genannten Bereiche, (i) archaische Philosophie, (ii) vorwissenschaftliches Denken und (iii) Ausgangs3.3 Hesiod als Beginn der Vorsokratik

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punkt europäischer Philosophie, erscheinen bei einer konkreten inhaltlichen Auseinandersetzung insbesondere mit dem Themenspektrum der Werke und Tage im Fokus als überaus angebracht – verlangen jedoch nach einer genaueren Erklärung. (i) Hesiods Denken ist nicht ausschließlich mythisch-theologisch, sondern auch praktisch-politisch orientiert. Beide Ansätze machen deutlich, dass es sich hierbei nicht allein um den antiken Mythos in seiner klassischen Form handelt, sondern um den Zugang zu einer rudimentären allgemeinen Philosophie, die eben zuweilen auch als archaische Philosophie bezeichnet wird. Auffallend dabei ist, dass als Beleg dafür zumeist die Theogonie, weniger die Werke und Tage herangezogen werden, wie z. B. bei Olof Gigon in Der Ursprung der griechischen Philosophie – Von Hesiod bis Parmenides. Gigon verortet den philosophischen Anspruch der Theogonie anhand der Begriffe Wahrheit, Ursprung und Ganzheit. „Die Wahrheit, der Ursprung, das Ganze sind die drei Begriffe, die auf der Ebene der formalen Kategorien das philosophische Gewicht der Theogonie bezeichnen“ (Gigon: 1968, 27). Die philosophischen Aspekte der Werke und Tage hingegen, die Ansätze ethisch-politischen Denkens, lassen sich, wie ausgeführt, anhand der sechs politisch-anthropologischen Dimensionen eris, dikê, ergon, oikos, philia und timê aufzeigen, die – in dieser Zusammensetzung weder ausführlich noch bezogen auf eine Politische Anthropologie – innerhalb der Forschung bislang keine Beachtung gefunden haben. Die Bezeichnung von Hesiods Denken als ,archaische Philosophie‘ ist somit treffend und sollte in der Fachphilosophie stärker wahrgenommen werden: Hesiods Denken ist nicht ausschließlich mythische Dichtung. Es handelt sich vielmehr um die Grundzüge archaischer philosophischer Reflexionen über Theologie, Anthropologie und Ethik im Allgemeinen – über mythisch-theologische Ansätze (Theogonie) und ethisch-politisches Denken (Werke und Tage) im Speziellen. Zu klären ist, was mit dem Titel einer ,archaischen Philosophie‘ genauer gemeint sein kann. Wilhelm Blümer führt in seiner Studie zu den mythologischen Partien der Werke und Tage an, dass ein Großteil der Argumente innerhalb der Hesiodphilologie aktuell aus Vorurteilen bestehe, wie z. B. in Urteilen wie „in dieser Frühzeit nicht möglich“, „für den archaischen Dichter typisch“, „einem archaischen 62

3. Überblick, Positionen und Klärungen

Autor nicht zuzutrauen“ o.Ä. (Blümer: 2001a, 283). Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Texten zeigt allerdings, dass Hesiod durchaus philosophische Gedankengänge zuzutrauen sind. Blümer führt darüber hinaus zwei mögliche Deutungen des Begriffs ,archaisch‘ an: zum einen als „veraltet-primitiv“ oder zum anderen als „altehrwürdig-originell“. In Bezug auf eine wertneutrale Verwendung „im Hinblick auf die uns erhaltene griechische Literatur“ kann der Begriff ,archaisch‘ auch im „zutreffenden Sinn“ gebraucht werden, nämlich als „am Anfang stehend“ (Blümer: 2001a, 283 – 284). Hesiod steht mit seinen Gedanken als Dichter an dem für uns heute nachvollziehbaren Anfang philosophischen Denkens. (ii) Neben der Bestimmung seines Denkens als archaische Philosophie, als überschaubares, anfängliches Philosophieren, werden die Texte Hesiods als vorwissenschaftliches Denken charakterisiert. Hans Diller hat in seinem Aufsatz Hesiod und die Anfänge der griechischen Philosophie – wie Gigon zuvor – einen Zugang über die Theogonie, weniger bis gar nicht über die Werke und Tage gewählt. Diller zufolge kommt die Theogonie dem Ziel philosophischer Welterklärung am ehesten nahe, verstanden als der Versuch „einer systematischen Erklärung des in der Welt Seienden“ (Diller: 1966, 693). Doch ähnlich wie Gigon vernachlässigt auch Diller die Werke und Tage als philosophisches Zeugnis, insbesondere aus praktischer bzw. ethisch-politischer Perspektive. Hartmut Erbse hat in Bezug auf Hesiod festgehalten, dass es „leichtsinnig ist, dem archaischen Dichter Mangel an Logik vorzuwerfen, wie das leider oft geschieht“ (Erbse: 1993, 18). Auch wenn die Form des Lehrgedichts keine klassische Stilform der Philosophie darstellt, so kann Hesiod doch nicht als unphilosophisch oder gänzlich unsystematisch bezeichnet werden. Dass es sich dabei um ein anderes Denken als z. B. bei Heraklit oder Xenophanes handelt, steht freilich außer Frage. Dennoch sind Hesiods Werke und Tage, wie es diese Studie zum Ausdruck bringen will, als das erste nachvollziehbare ethisch-politische Nachdenken über das Leben des Menschen in Gemeinschaft anzusehen. Im sogenannten antiken griechischen Mythos lassen sich somit zweifelsfrei bereits „Vorformen eines philosophischen Wirklichkeitsverständnisses“ aufzeigen (Ricken: 2007, 14).

3.3 Hesiod als Beginn der Vorsokratik

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(iii) Wie steht es nun um die Charakterisierung von Hesiods Denken als den Anfang des Beginns der europäischen Philosophie? Viele Geschichten der Philosophie beginnen mit der Vorsokratik; sie setzen namentlich zumeist mit dem ionischen Naturphilosophen Thales von Milet ein. Wolfgang Schadewaldt hat in seinen Tübinger Vorlesungen Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen – Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen jedoch nicht mit Thales begonnen, sondern mit der Dichtung und dabei auch mit Hesiod. Schadewaldt gelangt zu dem Schluss, dass Hesiod „der große Systematiker im Bereich des Dichterischen“ ist (Schadewaldt: 1978, 89 – 90) und eigentlich in eine Ausgabe der sogenannten Vorsokratiker mit aufgenommen werden müsse (vgl. Schadewaldt: 1978, 83). Auch wenn Schadewaldt diesen Befund primär aus der Theogonie, nicht aus dem Text der Werke und Tage heraus ableitet, ist dennoch festzuhalten, dass Hesiod durchaus als Vorsokratiker angesehen werden kann. Dabei – so Schadewaldt – soll jedoch nicht der Fehler begangen werden, Hesiod als Vorläufer der Vorsokratik zu betrachten. Vielmehr geht es Schadewaldt darum, Hesiod „ganz legitim dazurechnen“ zu können (Schadewaldt: 1978, 19). Schadewaldt führt an, dass er nicht der erste gewesen ist, der die Vorsokratik auf Hesiod ausweiten möchte. Diller, Gigon u. a. lassen sich durchaus als Unterstützer der These ,Hesiod als Vorsokratiker‘ anführen. Wichtiger erscheint es, nochmals deutlich darauf hinzuweisen, dass Hesiod kein ausschließlich mythisch-theologischer Dichter ohne Anspruch auf Wahrheit oder Allgemeingültigkeit gewesen ist. Seine Texte sind darüber hinaus neben dem mythischtheologischen auch von ethisch-politischem Interesse. Weiters ist jedoch korrigierend festzuhalten, dass Hesiods Legitimierung als Vorsokratiker und als archaischer philosophischer Denker eben nicht bloß von der Theogonie aus – wie es u. a. bei Diller, Gigon oder Schadewaldt der Fall ist –, sondern insbesondere über die Werke und Tage belegt werden kann. Besonders bemerkenswert und hervorzuheben ist die politische Dimension Hesiods innerhalb der Werke und Tage. Dieses erste, wenn auch skizzenhafte Nachdenken über das Politische im weiteren Sinne, über eris, dikê, ergon, oikos, philia und timê, macht deutlich, warum Hesiod als erster Vorsokratiker angesehen werden kann. Es handelt sich dabei – wie gesagt – um das Politische im Allgemeinen und nicht 64

3. Überblick, Positionen und Klärungen

um die Politik der Polis im Speziellen. Denn diese zuletzt genannte, spezifische Polis-Politik ist eine Dimension des Politischen, die Hesiod (noch) eher fern erschienen ist (vgl. Kap. 5.2). Damit wird zugleich klar, dass es sich hier um einen individuellen Zugang zum Politischen handelt, der den Einzelnen betrifft, dieser jedoch innerhalb von Gemeinschaft sein Leben führt und dies so gut wie möglich bewältigen möchte. Mit dieser Form des Denkens steht Hesiod zweifellos am Anfang. Nicht ohne Vorläufer, aber dennoch in einer neuen (philosophischen) Intensität, die – zumindest teilweise – den Mythos bereits abarbeitet. Es kann daher also bestätigt werden: „Die frühesten Manifestationen des griechischen politischen Denkens finden sich in den im späten 8. und frühen 7. Jahrhundert entstandenen Dichtungen Homers und Hesiods“ (Raaflaub: 1993, IX). Dabei ist insbesondere Hesiods Verdienst hervorzuheben, da er eindeutig, was durch die Werke und Tage belegt werden kann, „eine unserer wichtigsten Autoritäten für das frühe politische Denken der Griechen“ ist (Raaflaub: 1993, XVII). Mit diesen und anderen Befunden vor Augen und im Bewusstsein der allgemeinen politischen Bedeutung von Hesiods Dichtung fällt es überaus schwer bis unmöglich, Hesiod – „seiner Wirkung zum Trotz“ – als einen „frommen Dichter“ und „nicht als einen Philosophen“ (vgl. Ottmann: 2001, 41) zu sehen. Denn es sind gerade die Werke und Tage, die deutlich machen, dass Hesiod das Leben des Menschen nicht als (theologisch) determiniert begreift, sondern vielmehr anerkennt, dass der Mensch sein Leben zu einem guten Teil selbst gestalten kann. Darin liegt auch die politische Dimension Hesiods im allgemeinen, breiteren Verständnis, die ihn zu Recht als einen der ersten Vorsokratiker in der Geschichte der Philosophie erscheinen lässt.

3.3 Hesiod als Beginn der Vorsokratik

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

Im folgenden Kapitel stehen drei Perspektiven im Mittelpunkt. Erstens soll gezeigt werden, dass bereits Hesiod grundlegende philosophische Fragen angesprochen und zu bearbeiten begonnen hat, die in der Philosophie durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder Thema waren. Zweitens wird ansatzweise der Versuch unternommen, diese Grundthemen ins Verhältnis zu aktuellen ethisch-politischen Diskursen zu setzen. Drittens steht die Frage im Zentrum, wie die politisch-anthropologischen Dimensionen Hesiods aus Werke und Tage auf das Heute übertragen werden können. Gleich vorweg dazu drei Einschränkungen. Zum einen sollen keine direkten inhaltlichen Bezüge zwischen Hesiod und der Philosophie der Neuzeit hergestellt werden. Kaum jemand beruft sich in der jüngeren Geschichte der Philosophie namentlich auf Hesiod oder auf die Werke und Tage. Zum anderen können die thematischen Querverweise zwischen den antiken Ansätzen des Dichters und der Philosophie der Neuzeit und der Gegenwart nur skizzenhaft erfolgen, da jede einzelne Dimension des politisch-anthropologischen Denkens mittlerweile einen eigenen wissenschaftlichen Diskurs für sich darstellt. Drittens soll mit diesen nun vorliegenden Zugängen nicht gezeigt werden oder impliziert sein, dass die Werke und Tage auf heutige philosophische Frage- und Problemstellungen aus ethisch-politischer Perspektive eine umfassende Antwort geben können. Ein zeitlos aktueller sowie ein mehr als anregender Gesprächspartner und ein überaus interessanter Anknüpfungspunkt ist Hesiod jedoch allemal.

4.1 Anthropologie der Kooperation Hesiod hat mit der Differenzierung von guter und schlechter eris in Werke und Tage eine anthropologische Grundaussage getroffen. Seiner Ansicht nach steht es dem Menschen prinzipiell frei, sich zwischen kompetitiver Kooperation und zwischenmenschlicher – mitunter durchaus kriegerischer – Rivalität in Handeln und Leben zu entscheiden. Mit dieser Differenzierung hat Hesiod die Ambivalenz 67

menschlicher Verhaltensweisen im Gesamten, Krieg oder Kooperation, zerstörerischer Konflikt oder gewinnbringender Wettbewerb, zum Thema gemacht. In der Philosophie der Neuzeit ist diese Ambivalenz z. B. in der politisch-anthropologischen Philosophie von Thomas Hobbes oder in der Geschichtsphilosophie bei Immanuel Kant, jedoch auch in der Biologie, etwa bei Charles Darwin, Thema und hat bis in die Soziologie und in die – heute sogenannte – Soziobiologie der Gegenwart Resonanz ehalten, ausgehend von der Frage, ob der Naturzustand des Menschen näher am Konflikt, an Rivalität und potentieller bzw. latenter Gewalt oder doch eher an der Kooperation und am geordneten Wettbewerb untereinander orientiert ist. Thomas Hobbes beschreibt den Naturzustand des Menschen im Leviathan als einen des Krieges eines jeden gegen jeden (bellum omnium contra omnes). Und in De Cive zitiert Hobbes Plautus: Der Mensch sei dem Menschen ein Wolf (homo homini lupus). Im Leviathan führt Hobbes aus, dass seiner Ansicht nach in der menschlichen Natur drei konstante Konfliktursachen liegen, die das Zusammenleben der Menschen untereinander stark beeinträchtigen, nämlich Konkurrenz (competition), Misstrauen (diffidence) und Ruhmsucht (glory) (vgl. Hobbes: Leviathan, 95). Der Naturzustand des Menschen ist also für Hobbes ein beängstigender und ähnelt einem permanenten Kriegszustand. »Daraus ergibt sich klar, dass die Menschen während der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand befinden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen jeden. Denn Krieg besteht nicht nur in Schlachten oder Kampfhandlungen, sondern in einem Zeitraum, in dem der Wille zum Kampf genügend bekannt ist« (Hobbes: Leviathan, 96).

Auch Hobbes weiß darum, dass Krieg nicht ausschließlich militärisches Gefecht oder unmittelbare körperliche Gewalt bedeuten muss, sondern bereits im Willen zu Kampf und Konflikt zum Ausdruck kommt (vgl. Nida-Rümelin: 2008, 91). Der kriegerische Naturzustand könne nur durch die Autorität des Staates und durch das Schließen von Verträgen mit dem Souverän und mit den Mitmenschen zum Schutz aller ausgesetzt werden.

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

Hobbes begreift demnach – im übertragenen Sinne – Hesiods schlechte eris als den konstitutiven Naturzustand des Menschen. Auch er weiß um die potentielle und permanente Konfliktbereitschaft des (einzelnen) Menschen von Natur aus, die er, neben dem Staat und neben den Vertragstheorien durch die sogenannten natürlichen Gesetze eindämmen bzw. im Zaum halten will (vgl. Hobbes: Leviathan, 99 – 122). Der Unterschied zwischen Hesiod und Hobbes liegt – abgesehen von den unterschiedlichen historischen Konnotationen und von der inneren Kohärenz ihrer jeweiligen Philosophie – darin, dass Hobbes den Naturzustand des Menschen im kriegerischen Konflikt des Jedergegen-jeden ausmacht, Hesiod jedoch davon spricht, dass die gute eris dem Wesen des Menschen seiner Ansicht nach viel eher entspricht und dem Menschen als Menschen zuträglicher ist als die schlechte eris, wobei Hesiod um beide Seiten menschlichen Handelns und Lebens weiß. Gemeinsam hingegen scheint beiden die Ansicht zu sein, dass Krieg, Gewalt und Konflikt bei Hesiod und die Formen grenzenloser Konkurrenz, des Misstrauens und der Ruhmsucht bei Hobbes eine fundamentale Bedrohung für das Leben des Menschen in Gemeinschaft darstellen. Auch Kant spricht im vierten Satz der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht über die – seiner Ansicht nach dem Menschen eigentümlichen – Charakteristika der Ehr-, Herrschund Habsucht. Im Zuge dessen geht es auch um die Konkurrenz der Menschen untereinander, die Kant allerdings – ähnlich wie Hesiod – nicht nur individuell-destruktiv, sondern aus einer gesellschaftlichen Perspektive auch gemeinschaftlich-konstruktiv betrachtet. Die Konkurrenz der Menschen untereinander ist es, die nach Kant die Entwicklung von einfachen Formen des Zusammenlebens und der Lebensgestaltung hin zu kulturellen Leistungen und politischen Gestaltungsprozessen möglich macht. Und sie ist weiters dafür verantwortlich, dass der Mensch seine individuellen Begabungen entwickeln, weiterentwickeln und fokussieren kann. Die Basis dafür bildet nach Kant weder permanente Eintracht noch andauernde Harmonie im Zusammenleben, sondern der zwischenmenschliche Konflikt.

4.1 Anthropologie der Kooperation

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»Dieser Widerstand [Anm.: des Einzelnen gegenüber den Anderen] ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt seinen Hang zur Faulheit zu überwinden und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann. Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Kultur, die eigentlich in dem gesellschaftlichen Wert des Menschen besteht; da werden alle Talente nach und nach entwickelt, […]. […] in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe (würden) alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie Schafe, die sie weiden, würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen. Dank sei also der Natur für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht« (Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, A 393 – 395).

Konflikt und Zwietracht liege in der Natur des Menschen, auch wenn sich dieser um Eintracht bemühe. Dieser Befund ist deshalb nicht ausschließlich destruktiv, zumal Konflikt, Zwietracht und Konkurrenz erstens als Motor zivilisatorischen Fortschritts im Gesamten und zweitens als Ausgangspunkt individueller Entwicklung im Speziellen angesehen werden können. Kant konstatiert einen antagonistischen Mechanismus innerhalb der Gesellschaft, den er ,ungesellige Geselligkeit‘ nennt. Der Mensch neige demnach zu einem zweifachen Sozialverhalten: dem Hang zur sozialen Interaktion auf der einen Seite und dem Hang zur sozialen Isolation auf der anderen Seite (vgl. Kneller: 2011, 52). Festzuhalten ist, dass auch Kant die Chance der Weiterentwicklung bzw. des Fortschritts des Menschen durch Konkurrenz und Konflikt, individuell und als Gattung, sieht. Einer der markantesten Punkte in der Geschichte des anthropologischen Denkens ist zweifellos der biological turn innerhalb der Debatte über den Naturzustand des Menschen und dessen Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben, der spätestens – jedoch in deutlichster Art und Weise – mit Charles Darwin eingesetzt hat und bis heute vielfach das Menschenbild im Allgemeinen sowie die 70

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

Vorstellung vom Leben des Menschen in Gemeinschaft im Speziellen nachhaltig prägt. Er knüpfte an unterschiedliche Theorien der damals noch jungen Evolutionsbiologie an und entwickelte durch Ergänzungen und Weiterführungen sein System. In Über die Entstehung der Arten (On the Origin of Species)10 hat Darwin u. a. zwei biologische Grundprinzipien formuliert, die für seine gesamte biologisch-anthropologische Theorie leitend sind: zum einen spricht er über den war of nature (vgl. Darwin: Origin of Species, 61; 429), den Krieg bzw. den Konflikt- und Konkurrenzzustand innerhalb der gesamten Natur, zum anderen über den struggle for existence (vgl. Darwin: Origin of Species, 3; 27; 43; 54) bzw. den struggle for life (vgl. Darwin: Origin of Species, 49; 54; 102; 429), den Kampf um Existenz bzw. um das Dasein und um das (Über-)Leben jeder Spezies. Ab der 5. Auflage spricht Darwin diesbezüglich vom survival of the fittest, dem Überleben des ,Passendsten‘. Das Verhältnis sämtlicher Lebewesen untereinander ist nach Darwin geleitet von dem fortwährenden Ringen ums Dasein in seinen unterschiedlichen Facetten. Im 15. Kapitel in Über die Entstehung der Arten hält er fest, dass der beständig wiederkehrende Kampf ums Dasein ein permanentes Mittel der natürlichen Selektion sei, eine unvermeidliche Folge der unüberschaubaren Artenvielfalt, der alle Wesen, d. h. auch den Menschen als Gattung, betrifft. Selbst wenn Darwin im 4. Kapitel ausführt, dass der Kampf ums Dasein metaphorisch zu verstehen ist (vgl. auch Engels: 2007, 111 – 114) – und alle Lebewesen prinzipiell in Beziehung zu einander stehen – so sind der struggle for life und der war of nature unverzichtbare Grundkonstanten seiner Theorie. »All that we can do, is to keep steadily in mind that each organic being is striving to increase in a geometrical ratio; that each at some period of its life, during some season of the year, during each generation or at intervals, has to struggle for life and to suffer great destruction. When we reflect on this struggle, we may console ourselves with the full belief, that Der Gesamttitel der 1. Auflage aus 1859 lautet On the Origin of Species by Means of Natural Selection or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. Die 6. Auflage aus 1872, die Darwin selbst noch bearbeitet hat, wird zumeist unter dem Kurztitel The Origin of Species geführt (dt. Ausgabe Über die Entstehung der Arten aus 1876). 10

4.1 Anthropologie der Kooperation

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the war of nature is not incessant, that no fear is felt, that death is generally prompt, and that the vigorous, the healthy, and the happy survive and multiply« (Darwin: Orgin of Species, 61).11

Darwin hat mit seinen Untersuchungen das Menschenbild in radikaler Art und Weise revolutioniert und auch die Philosophische Anthropologie verändert. Nach der Theorie Darwins ist die Natur des Menschen aus biologischer Perspektive von einem fundamentalen Konkurrenzkampf geprägt, eingebettet u. a. in einen kriegerischen, permanenten Konflikt ums Dasein und um die eigene Existenz, dem alle Arten ausgesetzt sind. Der Mensch ist seiner Biologie nach in erster Linie ein Konfliktwesen, und zwar um seiner eigenen Erhaltung und um des eigenen Fortbestandes willen. Dass die Theorien Darwins nicht nur im Bereich der wissenschaftlichen Evolutionsbiologie Aufmerksamkeit erfahren haben, sondern auch aus gesellschaftspolitischer Perspektive, belegen heute gebräuchliche Begriffe wie ,Sozialdarwinismus‘ und ,Soziobiologie‘, die jedoch aktuell unterschiedliche Anwendungen erfahren. Darwin und sein Denken spielt dabei freilich eine wichtige Rolle, auch wenn nicht alle Entwicklungen und Neupositionierungen innerhalb dieser genannten Richtungen in direkter Linie auf Darwin zurückgeführt werden können. (Vermutlich teilt Charles Darwin mit dem ,Sozialdarwinismus‘ ein ähnliches Schicksal wie Karl Marx mit dem ,Marxismus‘.) In das Denken der Soziobiologie und des Sozialdarwinismus wurden Darwins Ansätze des war of nature und des struggle for life aufgenommen und weiterinterpretiert und neben der biologischen Komponente auch auf das menschliche Sozialverhalten übertragen. Richard Dawkins hat in Das egoistische Gen (The Selfish Gene) von 1976 darüber hinaus die These aufgestellt, dass selbst die Gene eines »Alles was wir thun können, ist: stets im Sinne zu behalten, dasz jedes organische Wesen nach Zunahme in einem geometrischen Verhältnisse strebt; dasz jedes zu irgend einer Zeit seines Lebens oder zu einer gewissen Jahreszeit, in jeder Generation oder nach Zwischenräumen um’s Dasein kämpfen musz und groszer Vernichtung ausgesetzt ist. Wenn wir über diesen Kampf um’s Dasein nachdenken, so mögen wir uns mit dem vollen Glauben trösten, dass der Krieg der Natur nicht ununterbrochen ist, dasz keine Furcht gefühlt wird, dasz der Tod im Allgemeinen schnell ist, und dasz der Kräftige, der Gesunde und Glückliche überlebt und sich vermehrt« (Darwin: Über die Entstehung der Arten, 99). 11

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

einzigen Menschen in einem gegenseitigen Konkurrenzkampf stehen und damit – wie alle anderen Arten auch als Ganzes – auf diesem Wege einer natürlichen Selektion im Sinne Darwins unterliegen. Die Wirkungsgeschichte der Theorien Darwins ist sicherlich noch nicht zur Gänze erfasst. Tatsache ist jedoch, dass seine Überlegungen die Philosophische und die Politische Anthropologie in großem Ausmaß beeinflusst und diesem Denken eine neue Richtung gegeben haben. Eine Reihe an Rückfragen stellen sich hier, wobei die zwei wichtigsten lauten, ob zum einen Darwins Grundlagen des war of nature und des struggle for life aus heutiger wissenschaftlicher Perspektive nach wie vor Gültigkeit haben und ob zum anderen die gängige Methodik des sogenannten Sozialdarwinismus bzw. der Soziobiologie angebracht erscheint, d. h. ob biologische Erkenntnisse aus den Bereichen der Evolutionsbiologie Schlüsse auf das Sozialverhalten des Menschen zulassen, ob diese übertragbar sind oder nicht.12 Kritik an Darwins Grundlagen des Krieges und des Kampfes in Bezug auf die Natur in Summe und damit auch in Bezug auf den Menschen hat der Neurobiologe Joachim Bauer geäußert. Neben vielen nach wie vor richtungsweisenden und gültigen Überlegungen und Theorien unterlag Darwin, so Bauer, auch Irrtümern: »Zu den Irrtümern, die sich bis heute gehalten haben, zählt Charles Darwins Grundannahme, die Evolution habe Konkurrenz, Kampf und Selektion zum zentralen Impetus lebender Systeme gemacht, und alles, was die lebende Natur entstehen lasse, müsse in diesem Rahmen gesehen werden. […] [Anm.: Dazu der Gegenbefund Bauers:] Darwins Modell übersieht die grundlegende Bedeutung des am Anfang aller Biologie stehenden Phänomens der Kooperation. […] [Anm.: Und schließlich die Gegenthese Bauers:] Nicht der Kampf ums Dasein, sondern Kooperation, Zugewandtheit, Spiegelung und Resonanz sind das Gravitationsgesetz biologischer Systeme. Im Zentrum der Biologie stehen wechselseitige Beziehung und Kooperation« (Bauer: 2013, 125; 130; 132 – 133).

In Bezug auf die erste Rückfrage ist hinzuzufügen, dass hier nicht Darwins Abstammungslehre im Fokus steht, sondern ausschließlich die beiden Ansätze des war of nature und des struggle for life einer rudimentären Kritik unterzogen werden sollen. 12

4.1 Anthropologie der Kooperation

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Bauer diskutiert als Beleg für diesen Ansatz eine Reihe von Studien und bezieht sich dabei auf Untersuchungen der sogenannten reward systems, der Motivations- und Belohnungssysteme im menschlichen Gehirn, die sich anhand von Dopamin, Oxytozin oder endogenen Opioiden mess- und sichtbar machen lassen. Nachweislich erfolgt eine hohe Ausschüttung dieser und anderer ,Glücksbotenstoffe‘, wenn der Mensch kooperiert, sozial interagiert, sich im Leben in Gemeinschaft wohlwollend zurechtfindet und intakte, größtenteils gelingende Beziehungen führt. Nach Bauer ist der Mensch – aus neurobiologischer Perspektive – ein Wesen, das auf soziale Resonanz und auf Kooperation, nicht auf Konflikt und permanente Konkurrenz hin angelegt ist. „Kern aller menschlichen Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden und zu geben“ (Bauer: 2013, 23). Doch nicht nur Studien aus der Neurobiologie, auch aus der Psychologie oder aus der Spieltheorie zeigen, dass das Alltagsverhalten des Menschen in erster Linie – wenn auch nicht ausschließlich bzw. kontinuierlich – auf Kooperation ausgerichtet ist und Aggression, Konflikt und schadhafte Konkurrenz nur in zweiter Linie Verhaltensoptionen des Menschen sind, die insbesondere zur Verteidigung und zur Abwehr von physischem und psychischem Schmerz dienen. Die moderne Neurobiologie, so die Überzeugung Bauers, „ließ die Konturen eines Menschen hervortreten, der von Natur aus, von den Genen bis zum Alltagsverhalten, auf Kooperation hin ,konstruiert‘ zu sein scheint“ (Bauer: 2013, 177). Dieser Ansicht steht nicht nur Darwin, sondern auch Dawkins konträr gegenüber sowie andere Soziobiologen, die Konflikt und Konkurrenz in das Zentrum biologischer Prozesse stellen und nicht Kooperation und Gemeinschaft im weiteren Sinne. »Dieser Umstand [Anm.: dass der Zuwachs an Komplexität der Lebewesen im Laufe der Evolution nur stattfinden konnte, weil kooperative Vorgänge eine zentrale bzw. die primäre Rolle spielten] wurde und wird in der Soziobiologie ausgeblendet. Aus der Sicht der Soziobiologie sind kooperative Mechanismen lediglich ein sekundäres, dem Überlebenskampf dienendes Phänomen. […]. [Anm.: Dem hält Bauer entgegen:] Ohne das Gelingen von Kooperation (als den primären Vorgang) kann nichts entstehen, was lebenstüchtig ist« (Bauer: 2013, 142; 168).

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

Bauers These ist ein (neuro-)biologisches, kein moralisches Urteil. Er impliziert nicht, dass der Mensch von Natur aus im moralischen Sinne ein ,guter Mensch‘ sei oder dass Krieg, Kampf und Konflikt dem Menschen völlig wesensfremde Charakterzüge sind. Das Ergebnis Bauers ist, dass die konstitutive Natur bzw. die ,Biologie‘ des Menschen nicht an negativer Konkurrenz oder am permanenten Kampf ums Dasein orientiert ist, sondern primär an gelingender Kooperation und funktionierenden Beziehungen. Das beinhaltet allerdings nicht, dass der Mensch immer dieser Naturanlage entsprechend handelt. Fehlende oder fehlgeleitete Erziehung, traumatische Erfahrungen, körperliche und seelische Verletzungen, Aggressionen, Gewalt etc. – all das und noch mehr haben Auswirkungen auf den Menschen und auf sein Handeln. Und auch darauf, wie wir in Gemeinschaft miteinander leben. Anhand dieser Diskussion, ausgehend von Hesiod und rund um den Begriff der guten eris (Wettstreit) und der schlechten eris (Krieg, Konflikt, Konkurrenz) können zumindest drei Ableitungen getroffen werden, die sich zweifelsfrei auch in eine Politische Anthropologie der Gegenwart in Grundzügen übertragen lassen: (i) der einzelne Mensch in sozialpolitischer Gemeinschaft, (ii) Kooperatives Streben als anthropologisches Konstitutiv, (iii) Agonalität und Exzellenz als Lebensprinzip. (i) Der einzelne Mensch in sozialpolitischer Gemeinschaft: Hesiod deutet in Werke und Tage mehrfach an, dass der Mensch für ein gelingendes und gutes Leben der Gemeinschaft mit anderen Menschen bedarf. Zentral dafür ist seiner Ansicht nach das Leben innerhalb der Gemeinschaft des Haus- und Familienverbands, im oikos. Auch wenn Hesiod sich über das Leben des Menschen in der politischen Gemeinschaft der Polis kaum bis gar nicht äußert – und wenn, dann interessanter Weise eher kritisch (vgl. Kap. 5.2) –, lässt sich festhalten, dass der wichtigste Bezugspunkt im praktischen Leben für Hesiod der Mitmensch ist. Auch seine Ausführungen zur philia verdeutlichen diesen Zugang. Der Einzelne braucht die Gemeinschaft und auch die Gemeinschaft ist auf das Mitwirken des Einzelnen angewiesen. Ohne intakte Gemeinschaft und soziale Bindungen kann der Mensch demnach weder ein gelingendes noch ein gutes Leben führen.

4.1 Anthropologie der Kooperation

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In der Geschichte der Philosophie ist Hesiods Perspektive des Lebens des Menschen in Gemeinschaft nicht ohne – wenn auch nur indirekte – Zustimmung geblieben. Die zôon politikon-Anthropologie (vgl. Kap. 1) des Aristoteles und ihre vermutlich beispiellose Wirkungsgeschichte ist dafür sicherlich einer der besten Belege. Auch bei Aristoteles, der in seinen Ausführungen zum oikos in der Politik Hesiods Werke und Tage zitiert (vgl. Kap. 2.4), ist der einzelne Mensch unauflöslich mit der politischen Gemeinschaft, der politikê koinonia, verbunden. Derjenige Mensch, so Aristoteles, der der Gemeinschaft mit anderen Menschen nicht bedarf, weil er für sich selbst genug, also autark ist, ist entweder ein wildes Tier oder aber ein Gott (vgl. Aristoteles: Politik I 2, 1253a28). Für die antike politische Philosophie ist das Denken über den Menschen unweigerlich mit einem Nachdenken über die politische Gemeinschaft im Ganzen verbunden. Demnach ist die Frage nach dem guten Leben des Einzelnen auch eine Frage nach dem gelingendem Zusammenleben des Menschen in Gemeinschaft und dabei insbesondere nach sozialpolitischer Gemeinschaft, wie bereits bei Hesiod in den Ausführungen über oikos und philia angedeutet hat. Heute scheint dieses Bewusstsein über das Leben als Einzelner innerhalb von sozialpolitischen Gemeinschaften wie Familien, Freundschaftsbeziehungen, Vereinen, Bezirken, Stadt oder Land – wenn überhaupt – zumeist zweitrangig zu sein, vor allem in Bezug auf die Perspektive eines vermeintlich guten Lebens. Dabei stehen individuelle Lebensansprüche und -konzepte meist über der Gemeinschaft, ,privat‘ über ,öffentlich‘ – und das ,Private‘ muss gegenüber der ,Öffentlichkeit‘ geschützt oder sogar verteidigt werden. Abgesehen davon wird ,Gemeinschaft‘ heute vom Politischen getrennt verstanden. Das antike Selbstverständnis von politischer Gemeinschaft als Synonym für das gelingende und gute Leben des einzelnen Menschen in Gemeinschaft(en) findet hingegen kaum bis gar keine Bedeutung. Als ,politische Gemeinschaften‘ werden heute politische Parteien oder politische Gruppierungen, Bürgerbewegungen oder Widerstandsgruppen angesehen, aber nicht das Leben des einzelnen Menschen innerhalb von Gemeinschaft schlechthin, d. h. das Leben der Bürgerin und des Bürgers über die familiären und freundschaftlichen Beziehungen hinaus im Landkreis, Bezirk, der Stadt oder dem Staat. 76

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

An dieser Stelle soll weder ein Plädoyer für den Kommunitarismus oder für den paternalistischen oder gar totalitären Staat gehalten noch sollen sämtliche Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen im engeren Sinne politisiert werden. Vielmehr soll erneut darauf hingewiesen werden, dass der Mensch auf seinen Mitmenschen angewiesen ist. Das individuelle gelingende und gute Leben kann auf sich selbst alleine gestellt nicht verwirklicht werden. Dabei handelt es sich um eine grundlegende Perspektive antiker politischer Anthropologie: zum einen ist ein gänzlich autarkes Leben fernab der politischen Gemeinschaft schon in wirtschaftlicher Hinsicht nicht möglich; zum anderen auch aufgrund fehlender sozialethischer Resonanz. Diese Einsicht ist nicht banal, sondern bei genauerer Betrachtung die notwendige Grundlage für die Betrachtung des Lebens des Menschen in Gemeinschaft und die unverzichtbare Basis der politischen Anthropologie in Summe. Der Mensch gehört von Natur aus in das Leben sozialpolitischer Gemeinschaft(en). (ii) Kooperatives Streben als anthropologisches Konstitutiv: Hesiod hat in Werke und Tage korrigierend zur Theogonie festgehalten, dass es zwei Arten der eris gibt, nämlich eine gute (positive Konkurrenz) und eine schlechte (negative Konkurrenz). Die gute eris, so Hesiod, sei vor der schlechten eris entstanden und daher dem Menschen und dessen Leben seiner Ansicht nach auch viel zuträglicher. Unbewusst hat Hesiod damit einen anthropologischen Diskurs vorweggenommen bzw. eingeläutet, der bis heute rund um die Thematik des Naturzustandes des Menschen Aktualität hat. Es ist die Frage nach der konstitutiven Natur des Menschen: Krieg, Konflikt und Rivalität im negativen oder Konfrontation, Konkurrenz und Wettbewerb im positiven Sinne. Zeichnet den Menschen als Menschen mehr kriegerische Rivalität oder doch eher kompetitive Kooperation aus? Wie gezeigt, wird diese Frage keineswegs eindeutig beantwortet. Sie ist jedoch auch keine Nebensächlichkeit, weil unser Menschenbild, d. h. wie wir uns in unserer Natur als Menschen heute sehen, auch Auswirkungen darauf hat, wie wir miteinander leben, miteinander umgehen und unser Leben in Gemeinschaft gestalten. Hobbes hat am Beginn der Neuzeit eine – im Kontrast zu Aristoteles – pessimistische Anthropologie entwickelt und den Menschen im Naturzustand als kriegerisch im weiteren Sinne beschrieben, als Überlebenskampf jeder gegen jeden. Gleichzeitig ist Hobbes davon 4.1 Anthropologie der Kooperation

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überzeugt, dass der Mensch diesen Zustand überwinden kann, ihm nicht gänzlich ausgeliefert ist, nämlich durch Kommunikation und durch Vertragsschluss zum gegenseitigen Schutz. Durch die Rechtsverbindlichkeit dieser Verträge kann sich der einzelne Mensch innerhalb von Gemeinschaft sicher fühlen und sein Leben nach seinen Vorstellungen und Überzeugungen gestalten und dementsprechend entfalten, jedenfalls solange die Rechte des Anderen dadurch nicht beschnitten oder eingeschränkt werden bzw. solange jeder der Vertragspartner seine Pflichten erfüllt und die vereinbarten Gesetze einhält. Doch damit ist die Frage nicht beantwortet, ob Hobbes’ Charakterisierung des Naturzustandes als bellum onmium contra omnes oder Darwins Theorie des war of nature Gültigkeit haben. Teile der modernen Neurobiologie scheinen mittlerweile Belege dafür gefunden zu haben, dass die Grundbedingung sämtlichen Lebens primär Kooperation, nicht Konflikt heißt. Diese zweite Ableitung schließt an die erste politisch-anthropologische Ableitung des Menschen als sozialpolitisches Wesen an. Schwer vorstellbar erscheint es, dass Menschen in Gemeinschaft mit einer permanent-potentiell kriegerischen oder konfliktträchtigen individuellen Naturanlage ausgestattet sein sollen. Dieser Zugang impliziert jedoch keine moralische Exzellenz des Menschen. Das grundsätzliche kooperative Streben in der Natur beinhaltet nicht, dass der Mensch als Teil dieser Natur im moralischen Sinne ausschließlich ,richtige‘ Entscheidungen trifft und danach handelt. Auch darüber weiß Hesiod bereits Bescheid. Ob die neurobiologische These des kooperativen Strebens als anthropologisches Konstitutiv zutreffend ist oder nicht, kann an dieser Stelle nicht endgültig entschieden werden. Es erscheint logischer, dass der Mensch grundsätzlich auf Kooperation und nicht auf Konflikt angelegt ist und dass sich die Natur primär, aber nicht ausschließlich durch Symbiose und Zusammenarbeit entfaltet. Darüber hinaus zeigt die Neurobiologie, dass sich menschliches Verhalten nicht allein mit genetischen Codierungen erklären lässt. Vielmehr prägen gegenwärtige individuelle Erfahrungen das zukünftige Verhalten des Menschen. „Wenn es um Verhalten geht, haben biographische Erfahrungen – vor allem solche in der Lernphase des Lebens – offensichtlich eine stärkere Wirkung als die genetische Abstammung“ (Bauer: 2013, 85). 78

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

(iii) Agonalität und Exzellenz als Lebensprinzip: Hesiods Ansprache der guten eris, auch verstanden als eine Form des gewinnbringenden Wettbewerbs, ist ebenso heute einer Betrachtung wert und sollte nicht beiläufig behandelt oder gar übergangen werden. Denn in der guten eris im Sinne einer nützlichen Konkurrenzsituation zwischen den Menschen untereinander spiegelt sich nicht nur ökonomisches Interesse, egoistisches Mehr-haben-Wollen-als-der-andere oder das bloße Überbieten des Mitmenschen wider. Vielmehr liegt diesem speziellen individuellen Streben ein vergangenes griechisches Kulturgut zugrunde, dessen Wiederentdeckung sich durchaus lohnt. Es handelt sich dabei um Agonalität, um Könnerschaft und um Exzellenz. Unter einem Agon (altgriech.: agôn, Wettkampf bzw. Wettstreit) wurde in der griechischen Antike ein sportlicher (z. B. Leibesübungen, Reiten, etc.) oder ein musischer Wettbewerb (z. B. Musik, Dichtung, etc.) verstanden, in dem sich die Kontrahenten nach klaren Regeln, unter Aufsicht und vor Publikum, untereinander in den jeweiligen Kompetenzen messen konnten. Der bekannteste sportliche Agon – damals wie auch heute wieder – waren und sind die Olympischen Spiele. Bereits bei Homer nimmt der Agon einen wichtigen Stellenwert im sozialpolitischen Leben des Menschen ein. In der Ilias wird Bezug nehmend auf Achill und dessen Erziehung das griechische agonale Verständnis zum Ausdruck gebracht. Denn es ginge im Rahmen des Wettstreits und im Bereich der persönlichen Entwicklung insbesondere darum, „immer der Beste zu sein und hervorzuragen vor anderen“ (Homer: Ilias, VI 206) bzw. „ausgezeichnet vor anderen“ zu sein (Homer: Ilias, XI 784). Der Althistoriker Jacob Burckhardt (1818 – 1897) hat die Agonalität, die er vor allem von ca. 1200 bis 500 v. Chr. für charakteristisch hält, als eine der wesentlichsten Kulturleistungen der Antike beschrieben (vgl. Burckhardt: 1977, 59 – 159). Der Wettstreit und das Streben nach Höchstleistungen hat sich auch auf Wirtschaft und Politik übertragen. Der (aristokratische) Grieche stellte sein Können unter Beweis. Er verglich sich mit seinen Mitmenschen und strebte nach Verbesserung der eigenen Kompetenzen. Der Wettkampf bzw. das Kompetitive war ein zentraler Bestandteil der Erziehung und ebenso im späteren Leben des Bürgers leitend.

4.1 Anthropologie der Kooperation

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Dem Agon der griechischen Antike liegt die Überzeugung zugrunde, dass der Mensch in seinem Denken und Handeln Exzellenz erreichen will und kann, zu außerordentlichen sportlichen wie auch zu musischen Fähigkeiten in der Lage ist und sich stets in seinen Kompetenzen verbessern kann. Das ist die eine Seite der agonalen Kultur. Die andere Seite ist der friedliche, geordnete Vergleich der Könnerschaft untereinander, das Messen mit Anderen. Beides zusammen macht die griechisch-agonale Kultur zu etwas Besonderem, denn vom individuellen Wettstreit untereinander profitieren nicht nur die Kontrahenten jeweils für sich, sondern auch die politische Gemeinschaft als Ganzes. Denn der Agon, d. h. das Verständnis für und das Streben nach Exzellenz der menschlichen Tätigkeiten, ermöglicht sowohl individuellen wie auch gemeinschaftlichen Fortschritt und Fortkommen. Dass es innerhalb des Agons über kurz oder lang auch zu Konflikten kommen kann, ist erstens menschlich und ist zweitens nicht immer zum Schaden des Einzelnen oder der Gemeinschaft. Kant weiß darum – wie gezeigt –, dass die Entwicklung der eigenen Talente gesellschaftspolitischer Reibflächen bedarf, des Vergleichs und des Messens untereinander. Harmonie und Eintracht erscheinen zwar auf einen ersten Blick als erstrebenswert, Veränderung, Entwicklung, Fortschritt und auch Exzellenz bedürfen jedoch auf den zweiten Blick – im Sinne Hesiods – einer Form der positiven Konkurrenz, der guten eris. Die Übertragung des griechischen Verständnisses des Agons auf heutige Lebensbereiche und -beziehungen bedeutet, das Bewusstsein dafür in Erinnerung zu rufen, dass der Mensch in seinem Handeln nach Exzellenz bzw. Perfektion streben, dass er seine Interessen und Begabungen professionalisieren und sich auch mit anderen vergleichen kann. Damit soll keiner permanenten Wettbewerbssituation unter stetigem äußeren Druck in Alltag, Schule oder Beruf, in sämtlichen Lagen des Lebens, das Wort geredet werden, sondern vielmehr die Perspektive der Möglichkeit von Exzellenz aufgezeigt werden. Und bereits Hesiod hat ausgeführt, dass selbst die gute eris, die positive Konkurrenz, ihre Grenzen hat und nicht die einzige oder unumstrittene Lebenseinstellung sein kann. Denn über dem Agon steht als eine Art Korrektiv die Gemeinschaft des oikos und die philia – vor allem aber die Gerechtigkeit.

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

4.2 Gerechtigkeit – Gemeinschaft – Gemeinsinn Hesiod hat mit seinen Überlegungen zur dikê, zu Gerechtigkeit und Recht, ein Thema zu bearbeiten begonnen, das zu den ältesten und sicherlich zu den wichtigsten Gegenständen der Philosophiegeschichte gehört – zeitlich betrachtet so gut wie ausnahmslos von der Philosophie der Antike bis hin zur Philosophie der Gegenwart. Und nicht nur innerhalb der europäischen Philosophie, sondern u. a. auch in der ägyptischen Mythologie, im Alten und im Neuen Testament sowie im Konfuzianismus ist das Nachdenken über das, was wir Gerechtigkeit nennen, fest verankert. Mit kaum einem anderen Ideal des Zusammenlebens wird jedoch offensichtlich mehr gerungen als mit jenem der Gerechtigkeit. Nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs, sondern darüber hinaus – und insbesondere – im alltäglichen Leben des Menschen innerhalb von Gemeinschaft. Die Fragen rund um das Thema der Gerechtigkeit haben deshalb keineswegs eine ausschließlich akademische bzw. theoretische Relevanz, sondern vor allem eine politische, eine tagesaktuelle Bedeutung und damit einen permanenten Einfluss auf das praktische Leben eines jeden Menschen, dabei ebenso auf aktuelle regionale, nationale oder internationale politische Gestaltungskonzepte und -prozesse. Der hohe Stellenwert der Gerechtigkeit zeigt sich neben ihrer Thematisierung in Werke und Tage u. a. darin, dass viele Denker der Antike, auf Hesiod folgend, die Gerechtigkeit zu den wichtigsten Grundtugenden des Menschen, zu den Primär- bzw. Haupttugenden (im späteren Verlauf zu den sogenannten Kardinaltugenden, lat.: cardo, Dreh- bzw. Angelpunkt), gezählt haben, selbst wenn die unterschiedlichen Tugendkataloge im Laufe der Geschichte der Philosophie in ihren Schwerpunktsetzungen voneinander abweichen. Die Gerechtigkeit findet sich dennoch zumeist an zentraler Stelle in allen diesen Katalogen wieder. In der Tragödie Sieben gegen Theben wird der Seher Amphiaraos als ein tugendhafter Mann beschrieben. Er gilt in dieser Darstellung insbesondere als besonnen (sophron), fromm (eusebes), tapfer (agathos) sowie gerecht (dikaios) (Aischylos: Sieben gegen Theben, 610), woraus die vier Tugenden der Besonnenheit, der Frömmigkeit, der Tapferkeit und der Gerechtigkeit abgeleitet werden können. In Platons Politeia, in der die Frage nach Gerechtigkeit einen hohen 4.2 Gerechtigkeit – Gemeinschaft – Gemeinsinn

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Stellenwert hat, werden die Tugenden der Tapferkeit, der Besonnenheit, der Weisheit und der Gerechtigkeit verstärkt hervorgehoben (Platon: Politeia, IV 427e) und in ihrer ethischen, aber auch in ihrer politischen Relevanz diskutiert. Cicero spricht in De officiis – Vom pflichtgemäßen Handeln von den Tugenden der Weisheit (lat.: prudentia), der Tapferkeit (lat.: fortitudo), der Mäßigung (lat.: moderatio) und der Gerechtigkeit (lat.: iustitia) (Cicero: De officiis, I 18 – 151). In allen drei Ausführungen, also bei Aischylos, Platon und auch bei Cicero, wird der Tugend der Gerechtigkeit somit ein wichtiger Wert für das Leben des Menschen zugesprochen. In der Neuzeit wurde der Diskurs über die Gerechtigkeit insbesondere aus einer gesellschaftspolitischen Perspektive geführt. Dieses Nachdenken über die Gerechtigkeit ist vielfach der tragende Leitgedanke des politischen Denkens, damit in Summe im Fokus geblieben. Diese Tatsache erschwert jedoch eine kursorische Auseinandersetzung mit dem Thema der Gerechtigkeit im Rahmen der Philosophie der Neuzeit zum einen. Allerdings ist diese Auseinandersetzung zum anderen für eine Politische Anthropologie, für ein Nachdenken über das individuelle gute Leben des Menschen in gelingender Gemeinschaft, verstanden als die Suche nach möglichen zentralen Lebensbereichen und -beziehungen, unverzichtbar. Im Vordergrund steht ein dreifaches Anliegen. Erstens geht es auch an dieser Stelle darum, aufzuzeigen, dass Hesiod mit seinen politisch-anthropologischen Schwerpunkten zentrale philosophische Themen bearbeitet hat. Zweitens soll die Thematisierung der Gerechtigkeit im Diskurs der Neuzeit zumindest auszugsweise angesprochen werden. Drittens steht das Bemühen im Zentrum, ausgehend von Hesiod bis in die Neuzeit, das Thema der Gerechtigkeit aktuell zu positionieren. All das beginnend mit David Hume, Jean-Jacques Rousseau und John Rawls. David Humes Auffassung von Gerechtigkeit erinnert nur noch rudimentär an die antiken Zugänge. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Hervorhebung des unmittelbaren Nutzens der Gerechtigkeit für das Leben des Menschen in Gemeinschaft. Eine theologische Ableitung oder einen Wert der Gerechtigkeit an sich, eine Gerechtigkeit, die um ihrer selbst willen im Leben des Menschen angestrebt bzw. verwirklicht werden soll, unabhängig vom Zustand der Gesellschaft oder einer konkreten Situation des Individuums, sieht Hume nicht:

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

»Darum hängen die Regeln der Fairness oder Gerechtigkeit voll und ganz von dem besonderen Zustand und der Situation ab, in denen sich die Menschen finden (i), und sie schulden ihren Ursprung und ihre Existenz nur dem Nutzen, der aus ihrer genauen und gleichmäßigen Beachtung für die Öffentlichkeit resultiert. Wenn man die Situation der Menschen zu einem beträchtlichen Grad umkehrt, d. h. wenn man extremen Überfluss oder extreme Armut schafft oder dem menschlichen Herzen vollkommene Bescheidenheit und Menschlichkeit oder vollkommene Habgier und Bösartigkeit einpflanzt, dann zerstört man das Wesen der Gerechtigkeit vollkommen und hebt ihre Verbindlichkeit für die Menschen auf, indem man sie voll und ganz nutzlos macht (ii). Die gewöhnliche Situation der Gesellschaft findet sich in der Mitte zwischen all diesen Extremen. […]. Darum werden die Vorstellungen von Eigentum in allen zivilen Gesellschaften notwendig (iii). Daraus leitet sich der Nutzen der Gerechtigkeit für die Öffentlichkeit ab. Und hieraus allein entsteht ihr Wert und ihre moralische Verbindlichkeit (iv)« (Hume: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, 22 – 23).

Hume ist der Ansicht, dass die Gerechtigkeit eine relative Tugend ist. Ihre Umsetzung hänge immer davon ab, in welcher Situation sich der Mensch befindet oder in welcher Verfassung die Gesellschaft als Ganzes gerade ist (i). Darüber hinaus spricht er von dem Nutzen der Gerechtigkeit für den Einzelnen, der – seiner Ansicht nach – in dem Schutz des Eigentums gegenüber dem Anderen liegt (iii). Darin alleine besteht nach Hume der Wert der Gerechtigkeit und ihre einzige moralische Verbindlichkeit (iv). Hume betrachtet die Gerechtigkeit nicht nur relativ, sondern bezeichnet sie darüber hinaus auch als ,künstliche Tugend‘ (vgl. Kuhn: 2003, XXVI). Seiner Ansicht nach entspringen Recht und Gerechtigkeit nicht aus der Natur, sondern sie sind ein soziales Gefühl, das „[notwendigerweise] durch Erziehung und menschliche Übereinkunft erzeugt wird“ (Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur Band III Über Moral, 562). In der Begründung dieser These der Gerechtigkeit als künstliche Tugend greift Hume interessanterweise auf eine Erzählung zurück, die Hesiod ebenso zu einem Bestandteil seiner Werke und Tage gemacht hat. Der Mensch, so Hume, schafft und definiert sich die Gerechtigkeit selbst, da sie als überaus nützlich für das Zusammenleben des Menschen innerhalb von Gemeinschaft für alle Seiten erscheint. Darin 4.2 Gerechtigkeit – Gemeinschaft – Gemeinsinn

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liegen – wie gezeigt – seiner Ansicht nach alleine Wert und moralische Verbindlichkeit: im Nutzen der Gerechtigkeit für das Zusammenleben. Die Positionierung der Gerechtigkeit als künstliche Tugend leitet Hume aus der Tatsache ab, dass die Gerechtigkeit in Zeiten völligen Friedens und der Harmonie oder aber auch in Zeiten des zerstörerischen Krieges und der Konfrontation – seiner Ansicht nach – keinen Wert mehr besitzt und somit nutzlos ist (ii). In beiden Extremen sind Begriffe wie Eigentum, Verpflichtung, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit obsolet. Diese Folgerungen, meint Hume, sind „so natürlich und so offensichtlich, dass sie nicht einmal den Dichtern entgangen sind, wenn sie das große Glück beschreiben, das mit dem goldenen Zeitalter“ verbunden sei (Hume: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, 23). Hume skizziert zum besseren Verständnis der zwei Extreme ergänzend zwei Fiktionen: zum einen die poetische Fiktion des goldenen Zeitalters, zum anderen die philosophische Fiktion des kriegerischen Naturzustandes. Es ist naheliegend, dass die erste Fiktion an Hesiod orientiert ist, auch wenn der Mythos der fünf Weltzeitalter in anderen Fassungen und Formungen, so z. B. in den Metamorphosen Ovids, der von vier Zeitaltern spricht, ebenso überliefert bzw. bearbeitet wird. Die zweite Fiktion ist namentlich an Hobbes und dessen Theorie des konflikt- und kriegsträchtigen Naturzustandes des Menschen orientiert. Beide Fiktionen, so Hume, haben gemeinsam, dass innerhalb ihrer Zustände die Gerechtigkeit für den einzelnen Menschen wie auch für die politische Gemeinschaft keinen Wert hat, sondern vielmehr bedeutungs- und nutzlos ist.13 In der Unterscheidung von Gerechtigkeit und Gleichheit sowie deren Nutzen für das politische Gemeinwesen, kommt Hume erneut in die Nähe Hesiods und zwar zum Thema der guten eris: »Historiker und sogar der gesunde Menschenverstand können uns jedoch zeigen, dass diese Ideen der vollkommenen Gleichheit, gleichgültig wie verführerisch sie erscheinen mögen, letztlich unmöglich zu verwirklichen sind; und wären sie dies nicht, dann wären sie für die menschliche Gesellschaft höchst schädlich. Auch wenn die Besitztümer der Menschen einmal vollkommen angeglichen werden könnten, so würden die verschiedenen Grade der Kunst, der Vorsicht und des Fleißes diese Gleichheit sofort wieder zerstören. Unterdrückte man diese Tugenden, würde man andererseits die schlimmste Armut schaffen, und statt einer Verringerung der Armut und der Bettelei würden diese für die ganze Gemeinschaft unvermeidbar werden« (Hume: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, 29). 13

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

Für Hume ist – in Kritik an Hobbes – klar, dass im Krieg eines jeden gegen jeden die Gerechtigkeit keinen Platz hat. In diesem Naturzustand des Menschen, insofern dieser nach Hume überhaupt tatsächlich in diesem Ausmaß ausgemacht werden kann, ist „die Aufhebung aller Gesetze der Gerechtigkeit eine notwendige und unfehlbare Folge ihrer absoluten Unnützlichkeit“ (Hume: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, 24). Hume streitet den Wert und die Bedeutung, vielmehr noch den unmittelbaren Nutzen der Gerechtigkeit für das Zusammenleben des Menschen nicht ab, möchte jedoch klar machen, dass der Gerechtigkeit zum einen keine metaphysische Ableitung zugesprochen werden kann, und zum anderen, dass der Nutzen der Gerechtigkeit für den einzelnen Menschen darin liegt, dass er gegenüber anderen Menschen rechtlich abgesichert und dass sein Eigentum geschützt ist. Die Gerechtigkeit ist seiner Ansicht nach eine soziale, aber utilitaristisch zu begründende, künstliche Tugend des Zusammenlebens des Menschen. Jean-Jacques Rousseau, der Hobbes, Hume und deren Positionen kannte, verfasste mit seiner Abhandlung Vom Gesellschaftsvertrag zweifelsfrei eine der wichtigsten Schriften der französischen Revolution und der Philosophie der Aufklärung, in der er zentrale Fragen der Staatstheorie sowie der politischen Philosophie der Neuzeit im Gesamten behandelt. Wichtiges Thema dabei ist u. a. die Frage nach der Legitimierung von Herrschaft und darüber hinaus die Frage, ob es „rechtmäßige und sichere Regeln für das Regieren geben kann“ (Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag I Einleitung, 5). Mit dieser Fragestellung ist ein Problem verbunden, das ebenso bereits Hesiod in Ansätzen angesprochen bzw. gekannt hat: nämlich die Suche nach gerechter, fairer Herrschaft – die Suche nach politischer Gerechtigkeit. Die Schwierigkeit dabei lautet: „Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor“ (Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag I 6, 17). Unverzichtbar für die Suche nach einer solchen Lebensform ist eine Betrachtung der Gerechtigkeit, der sich Rousseau auch zuwendet. Dabei stellt er Naturzustand und Gesellschaftszustand gegenüber.

4.2 Gerechtigkeit – Gemeinschaft – Gemeinsinn

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»Dieser Übergang vom Naturzustand zum bürgerlichen Stand erzeugt im Menschen eine sehr bemerkenswerte Veränderung, weil dadurch in seinem Verhalten die Gerechtigkeit an die Stelle des Instinkts tritt und seinen Handlungen die Sittlichkeit verliehen wird, die ihnen zuvor mangelte. Erst jetzt, wo die Stimme der Pflicht an die Stelle des körperlichen Triebs und das Recht an die des Begehrens tritt, sieht sich der Mensch gezwungen, der bislang nur sich selbst im Auge hatte, nach anderen Grundsätzen zu handeln und seine Vernunft zu befragen, bevor er seinen Neigungen Gehör schenkt. Obgleich er sich in diesem Stand mehrerer Vorteile beraubt, die er von Natur aus hat, gewinnt er dadurch so große andere, seine Fähigkeiten üben und entwickeln sich, seine Vorstellungen erweitern, seine Gefühle veredeln sich, seine ganze Seele erhebt sich zu solcher Höhe, dass er – würde ihn nicht der Missbrauch dieses neuen Zustands oft unter jenen Punkt hinabdrücken, von dem er ausgegangen ist – ununterbrochen den glücklichen Augenblick segnen müsste, der ihn für immer herausgerissen hat und der aus einem stumpfsinnigen und beschränkten Lebewesen ein intelligentes Wesen und einen Menschen gemacht hat« (Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag I 8, 22 – 23).

Der Übergang des Menschen vom Naturzustand in den Gesellschaftszustand ist mit einer ganzen Reihe an Veränderungen der Lebenswelt und der Lebensbeziehungen verbunden, die Rousseau in diesem Abschnitt komprimiert darstellt. Erstens tritt an die Stelle des individuellen Instinkts das Bewusstsein universaler Gerechtigkeit, welche nach Rousseau beim Menschen „nicht unter den natürlichen Bedingungen ihrer Existenz zu realisieren ist, sondern erst unter der Herrschaft positiver Gesetze“ (Herb: 2012, 40). Zweitens fordert das Zusammenleben im Gesellschaftsvertrag ein Leben des Menschen, das Handlungen und Verhaltensweisen an der Sittlichkeit der Gemeinschaft orientiert. Drittens führt Rousseau aus, dass an die Stelle des körperlichen Triebs die Stimme der Pflicht trete und an die Stelle des menschlichen Begehrens das Recht. Damit ist klar gesagt, dass das Leben im Gesellschaftsvertrag (Bürger-)Rechte, aber auch (Bürger-) Pflichten kennt. Viertens wird ein anthropologischer Perspektivenwechsel angedeutet. Der Individualismus des Naturzustandes wird durch die (politische) Gemeinschaft im Gesellschaftszustand ergänzt bzw. konfrontiert. Aufgrund dessen ist es nach Rousseau auch notwendig, dass der Mensch sein individuelles Leben im vernünftigen 86

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

Ausmaß an das Leben innerhalb dieser Gemeinschaft anpasst. Dazu ist seiner Ansicht nach die menschliche Vernunft hinzuzuziehen bzw. zu gebrauchen. Das Zusammenleben des Menschen innerhalb der Gemeinschaft des Gesellschaftsvertrags umfasst also mindestens die Bereiche der Gerechtigkeit, der Sittlichkeit, der Bürgerrechte und -pflichten sowie die Rücksichtnahme des Einzelnen auf das Gemeinschaftsgefüge als Ganzes. Der Gesellschaftszustand und der Gesellschaftsvertrag sind nach Rousseau zwingend notwendig, um den Menschen als Menschen entfalten zu können. Der Naturzustand des Menschen wird abgelegt, was nach Rousseau zwar auch einen (individuellen) Verlust an Handlungsmöglichkeiten für den Einzelnen bedeutet, aber der Gewinn an bürgerlichen Rechten im Gesellschaftszustand überwiegt deutlich: Der Mensch veredelt sich. Damit meint Rousseau, dass Stumpfsinn und Beschränktheit eines individuellen Egoismus dem Gemeinsinn, der Intelligenz und dem Menschsein im Gesellschaftszustand weichen müssen. Rousseau hält – im Gegensatz zu Hume – an anderer Stelle fest: „Alle Gerechtigkeit kommt von Gott, er allein ist ihre Quelle; aber wenn wir sie von so hoch oben zu empfangen wüssten, hätten wir weder Regierung noch Gesetz nötig“ (Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag II 6, 40). Der Mensch kommt also nicht darum herum, sein Leben innerhalb von Gemeinschaft durch Herrschaft zum einen und Recht und Gesetz zum anderen zu ordnen, zu strukturieren und damit auch gewisse Grundrechte des einzelnen Menschen innerhalb von Gemeinschaft zu schützen. Der Fokus liegt bei Rousseau darauf, jedem Menschen durch geregelte Herrschaft und gesetztes Recht ein gutes Leben zu ermöglichen, was – seiner Ansicht nach – die Gerechtigkeit als Tugend alleine nicht möglich machen kann. „Um die Dinge menschlich zu betrachten: die Gesetze der Gerechtigkeit sind mangels naturgegebener Folgen nichts unter den Menschen; sie sind nur zum Vorteil des Bösewichts und zum Nachteil des Gerechten, solange dieser sie der ganzen Welt gegenüber beachtet, ohne dass irgendjemand sie ihm gegenüber beachtet“ (Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag II 6, 40 – 41). Deshalb, so Rousseau, bedarf es für das Zusammenleben des Gesetzes, „um Pflichten und Recht miteinander zu verbinden und die Gerechtigkeit ihrem Gegenstand zuzuführen“ (Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag II 6, 41). 4.2 Gerechtigkeit – Gemeinschaft – Gemeinsinn

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John Rawls hat sich in Eine Theorie der Gerechtigkeit darum bemüht, die Theorien des Gesellschaftsvertrags, dabei auch jene von Rousseau, „zu verallgemeinern und auf eine höhere Abstraktionsebene zu heben“ (Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 12, 19). Damit möchte Rawls eine konkrete (moralische) Gegenkonzeption zu den großen Konzepten der Utilitaristen im Bereich der Gesellschafts- und Moraltheorie, u. a. zu Hume, entwickeln: »Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohles der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann. Daher lässt es die Gerechtigkeit nicht zu, dass der Verlust der Freiheit bei einigen durch ein größeres Wohl für andere wettgemacht wird. Sie gestattet nicht, dass Opfer, die einigen wenigen auferlegt werden, durch den größeren Vorteil vieler anderer aufgewogen werden. Daher gelten in einer gerechten Gesellschaft gleiche Bürgerrechte für alle als ausgemacht; die auf der Gerechtigkeit beruhenden Rechte sind kein Gegenstand politischer Verhandlungen oder sozialer Interessenabwägungen« (Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 19 – 20).

Mit dieser deutlichen Absage an den Utilitarismus spricht Rawls weiters von zwei Haupttugenden, die für Wissenschaft und Gesellschaft leitend sein müssten: Wahrheit und Gerechtigkeit (vgl. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 20). Beide Tugenden sollten nach Rawls kompromisslos für das Handeln des Menschen verpflichtend und für das individuelle Leben als auch für das Leben des Menschen in Gemeinschaft leitend sein. Rawls meint, dass seine Theorie in Summe zwar nicht besonders originell oder von Grund auf neu sei, aber dennoch eine weitere Stufe, eine weitere Entwicklung des klassischen Denkens des Gesellschaftsvertrags darstelle. Dafür entwickelt er zwei Prinzipien, die seiner Ansicht nach die Theorie der Gerechtigkeit in die Praxis umsetzen können. Es ist das zum einen die Wahlsituation im Urzustand (original position) und zum anderen der Schleier des Nichtwissens (veil of ignorance). Rawls schlägt nun vor, Gerechtigkeitsprinzipien losgelöst von kulturellen oder politischen Perspektiven zu generieren, die die Interessen aller Menschen berücksichtigen. Diese Wahl sollte vor der Vergesellschaftung stattfinden und durch einen repräsentativen Querschnitt an Menschen erfolgen. 88

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

»Der Leitgedanke ist vielmehr, dass sich die ursprüngliche Übereinkunft auf die Gerechtigkeitsgrundsätze für die gesellschaftliche Grundstruktur bezieht. Es sind diejenigen Grundsätze, die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden. Ihnen haben sich alle weiteren Vereinbarungen anzupassen; sie bestimmen die möglichen Arten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit und der Regierung. Diese Betrachtungsweise der Gerechtigkeitsgrundsätze nenne ich Theorie der Gerechtigkeit als Fairness. Wir wollen uns also vorstellen, dass diejenigen, die sich zu gesellschaftlicher Zusammenarbeit vereinigen wollen, in einem gemeinsamen Akt die Grundsätze wählen, nach denen Grundrechte und -pflichten und die Verteilung der gesellschaftlichen Güter bestimmt werden. Die Menschen sollen im voraus entscheiden, wie sie ihre Ansprüche gegeneinander regeln wollen und wie die Gründungsurkunde ihrer Gesellschaft aussehen soll. […]. Das rechtfertigt die Bezeichnung ,Gerechtigkeit als Fairness‘: Sie drückt den Gedanken aus, dass die Grundsätze der Gerechtigkeit in einer fairen Ausgangssituation festgelegt werden« (Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 28 – 29).

Der Ansatz von Rawls ist klar. Freie und vernünftige Menschen sollen, durchaus auch im Eigeninteresse, in einer anfänglichen Situation der Gleichheit untereinander jene Grundverhältnisse diskutieren und bestimmen, die für alle Menschen später im Rahmen des Zusammenlebens Gültigkeit haben werden. Sie legen die Grundregeln des Rechts und der Herrschaft, der Regierung, fest. Das ist die Gerechtigkeit als Fairness: die Grundsätze der Gerechtigkeit sollen in einer fairen, neutralen Ausgangssituation festgelegt werden. Der Gesellschaftsvertrag soll also durch jene Menschen bestimmt bzw. umfassend ausverhandelt werden, die sich später auch an diesen Vertrag – so wie alle anderen Menschen – zu halten haben. Die in sozialer Kooperation entwickelten Perspektiven sollen nach Rawls gerecht unter den Menschen zugänglich gemacht werden. Dazu gehören seiner Ansicht nach die gesellschaftlichen Grundgüter (vgl. Koller: 2013, 41) bzw. „sozialen Werte“ wie „Freiheit, Chancen, Einkommen, Vermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung“ (Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 83). Die Basis dieser sozialen Werte hat Rawls in Gerechtigkeit als Fairness – Ein Neuentwurf genauer dargelegt. Er spricht dabei über die Idee der freien und 4.2 Gerechtigkeit – Gemeinschaft – Gemeinsinn

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gleichen Personen, denen zwei moralische Vermögen zugesprochen werden: zum einen die Anlage des Gerechtigkeitssinns, also die Fähigkeit, „die für die fairen Bedingungen der sozialen Kooperation bestimmenden Prinzipien der politischen Gerechtigkeit zu verstehen“ und sie auch anzuwenden; zum anderen die Fähigkeit, „sich eine Vorstellung vom Guten zu machen, eine Konzeption des Guten zu vertreten“, d. h. eine Konzeption des guten und gelingenden Lebens entwerfen und danach leben zu können, sie gegebenenfalls zu revidieren, neu auszurichten und in Summe auch zu verwirklichen (Rawls: Gerechtigkeit als Fairness, 44).14 Anhand von Rawls zeigt sich hier in deutlicher Art und Weise, wie Ethik und Politik aufeinander Bezug nehmen und dass daher eine Politische Anthropologie notwendig ebenso auf beide Bereiche angewiesen ist. Dieser kurze Blick in den Diskurs über die Gerechtigkeit in der Philosophie der Neuzeit bis in die Gegenwart, zeigt, dass die Debatte freilich ein gänzlich komplexeres Gebiet geworden ist, als es noch bei Hesiod oder in der antiken Philosophie im Gesamten der Fall war. Darüber besteht keinerlei Zweifel. Es lässt sich aber auch festhalten, dass Hesiod bereits alle drei Ebenen der Gerechtigkeit gekannt und um deren Relevanz für das Leben des Menschen in Gemeinschaft in Ansätzen gewusst hat: erstens um die personale Gerechtigkeit (d. h. um die Gerechtigkeit als tugendhafte Haltung des Einzelnen im Alltag gegenüber dem Mitmenschen), zweitens um die politische Gerechtigkeit (d. h. um die Gerechtigkeit im Verhältnis von Herrschendem und Beherrschtem) und drittens um die theologische Gerechtigkeit (d. h. um jene Gerechtigkeit, für die im mythisch-theologischen Verständnis die Götter sorgen konnten, wenn sie es wollten, oder: die Götter haben in Bezug auf die Gerechtigkeit das letzte Wort). Mit dieser Kenntnis um die dikê allein ist es allerdings bei Hesiod nicht getan. Als Korrektiv zur eris ist die Gerechtigkeit für das Leben des Menschen zwar essentiell, vielfach leitend, jedoch nicht der letzte

Im Neuentwurf hat Rawls die fünf Grundgüter mit (1) Grundrechte und -freiheiten, Gedanken- und Gewissensfreiheit, (2) mit der Freiheit des Ortswechsels und der Berufswahl, (3) mit dem Zugang zu Macht und Privilegien von Ämtern und Positionen, (4) mit Einkommen und Vermögen und (5) mit der sozialen Basis der Selbstachtung und des Selbstwertgefühls bestimmt (vgl. Rawls: Gerechtigkeit als Fairneß, 100 – 101). 14

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

bzw. abschließende Lebensbereich. Denn Hesiod setzt anschließend an den Lobpreis der dikê nach und spricht darüber hinaus z. B. über die Notwendigkeit des oikos als unverzichtbaren Sozialverband des Menschen und über die Bedeutung der philia für das Leben des Menschen in Gemeinschaft. Somit bedarf es der Verbindung der Politik und des Politischen der Gemeinschaft mit der Frage nach dem guten und gelingenden Leben des Einzelnen, wie es u. a. Rawls gezeigt hat. Spuren dieser wichtigen Verbindung finden wir jedoch bereits bei Hesiod. Auch Otfried Höffe hat festgehalten, dass die Verwirklichung der Gerechtigkeit in der Gemeinschaft alleine noch nicht automatisch ein individuelles gutes und gelingendes Leben beinhaltet, selbst wenn damit aus politischer Perspektive schon sehr viel dafür geleistet wäre. Vielmehr bedürfe es weiterer sozialer Gemeinschaften und – wie bereits angeführt – der Verbindung von politischer Philosophie der Gemeinschaft und der ethisch-moralischen Frage nach dem guten Leben des Einzelnen. »Die politische Gerechtigkeit bedeutet viel und ist doch für ein gutes Zusammenleben zu wenig. Sie beschränkt sich nämlich auf das, was die Menschen einander schulden. Nicht nur die personale Moral fordert mehr, beispielsweise Freigebigkeit, Wohlwollen und Großzügigkeit. Auch zum „schönen“: zum angenehmen, guten und humanen Leben des Gemeinwesens reicht die politische Gerechtigkeit nicht aus« (Höffe: 2007, 118).

Die politische Gerechtigkeit ist ein hohes Gut und es wäre viel erreicht, wenn die unterschiedlichen Gemeinwesen die Tugend der Gerechtigkeit als erfüllt ansehen könnten. Für das humane, insbesondere gute Zusammenleben bestimmt Höffe jedoch über die Tugend der politischen Gerechtigkeit hinaus den freien Gemeinsinn, den er in drei unterschiedliche Bereiche aufteilt: (a) erstens in den sozialen, (b) zweitens in den kulturellen und (c) drittens in den ökologischen Gemeinsinn. Höffe orientiert diesen freien Gemeinsinn an dem griechischen Begriff der eleutheria, der antiken Tugend der Freigebigkeit; an der Haltung des freien Menschen, der in der Lage ist, sein eigenes Leben selbstverantwortet zu gestalten und innerhalb von Gemeinschaft auch zum Geben bereit ist: Der tugendhaft-freigiebige Mensch führt also ein individuelles gutes und gelingendes Leben und 4.2 Gerechtigkeit – Gemeinschaft – Gemeinsinn

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achtet dennoch auf das Gefüge der gesamten politischen Gemeinschaft. Dieser ,freie Gemeinsinn‘ sollte die Tugend der politischen Gerechtigkeit ergänzen: (a) Im sozialen Gemeinsinn drücken sich nach Höffe vielfache Formen der zwischenmenschlichen Freundschaften und Bindungen aus, wie u. a. Gastfreundschaft, Ehe-, Familien- und Nachbarschaftsbeziehungen, das Vereinsleben, gegenseitige Hilfe etc. „All diesen freundschaftlichen Bindungen gelingt, wozu Institutionen allein nicht fähig sind: eine Verflechtung der Menschen untereinander, die von der Sorge für Zusammenhalt und Eintracht statt von Zwietracht und Gewalt geprägt ist“ (Höffe: 2007, 119 – 120). (b) Der kulturelle Gemeinsinn betrifft die Gemeinsamkeiten von Sprache, Literatur, Wissenschaft oder Kunst und deren fürsorgliche Pflege. Hierbei nimmt nach Höffe vor allem die Verantwortung gegenüber kommenden Generationen eine wichtige Rolle ein. Der kulturelle Gemeinsinn bedeutet für den Einzelnen, konkret dazu beizutragen, „den künftigen Generationen ein mindestens ebenso reiches Kapital an Sprache und Kultur zu hinterlassen, wie er es erlebt hat“ (Höffe: 2007, 120). (c) Den ökologischen Gemeinsinn sieht Höffe aktuell als einen der wichtigsten an, wobei es seiner Ansicht nach darum gehen sollte, späteren Generationen „eine ökologisch bessere Bilanz zu vererben“ (Höffe: 2007, 121). Höffe führt an anderer Stelle aus, dass jede Generation ein dreidimensionales, nicht ausschließlich ökonomisches Sparen pflegen sollte: erstens ein konservierendes Sparen (von Institutionen, Ressourcen, …), zweitens ein investives Sparen (von Kapital, Infrastruktur, …) und drittens ein präventives Sparen (das Verhindern von Kriegen, ökologischen Katastrophen, …). Allerdings – so Höffe – finde aktuell genau das Gegenteil statt: „Die Gegenwart lebt auf Kosten der Zukunft“ (Höffe: 2007, 90). An dieser Stelle soll auf den Diskurs über Gerechtigkeit in der Geschichte der Philosophie nicht weiter eingegangen werden – zumal das nicht das Ziel dieser Studie ist. Bereits anhand der Werke und Tage zeigt sich, dass die Gerechtigkeit ein wichtiger, unverzichtbarer Lebensbereich des Menschen ist und zu einem guten und gelingenden Leben dazugehört. Doch damit ist es selbst bei Hesiod – wie bereits ausgeführt – noch nicht getan.

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

Rund um das Thema der Gerechtigkeit lassen sich zumindest drei politisch-anthropologische Ableitungen festmachen, die sich zum einen bereits bei Hesiod ansatzweise finden und die zum anderen auch Gegenstand der politischen Philosophie der Neuzeit waren und es auch heute noch in der Philosophie der Gegenwart sind: (i) Gerechtigkeit als personale Tugend, (ii) Politische Gerechtigkeit als Grundlage von Gemeinschaft, (iii) Eintracht und Gemeinsinn als Bedingungen guten Lebens. Unweigerlich gehören alle drei Ableitungen auch zur Grundlegung einer politischen Anthropologie dazu, zumal Gerechtigkeit und Recht dem Menschen als eigentümliche Gegenstände erscheinen, die für das Leben innerhalb von Gemeinschaft unverzichtbar sind. Und bereits Aristoteles hat festgehalten, dass die Vorstellungen von Recht und Unrecht den Menschen innerhalb der Natur einzigartig machen (vgl. Aristoteles: Politik I 2, 1253a15 – 19).15 (i) Gerechtigkeit als personale Tugend: Hesiods erster Zugang zu Gerechtigkeit und Recht ist unkompliziert und dennoch treffend. Es geht ihm in erster Linie nicht um große politische Ansätze, um Revolutionen gegen aktuelle Herrschaftsverhältnisse seiner Zeit bzw. um allgemeingültige Gerechtigkeitsnormen oder -programme. Hesiod will in Bezug auf Gerechtigkeit und Recht keine pauschalen Lebenskonzepte für die Allgemeinheit entwickeln, die der Einzelne innerhalb des Lebens in Gemeinschaft nur anzunehmen bzw. umzusetzen braucht, ohne Nachdenken oder ohne dazu etwas aktiv beitragen zu müssen. Der Ansatz lautet vielmehr: Das, was wir Gerechtigkeit nennen oder nennen wollen, geht vom einzelnen Menschen innerhalb des Lebens in Gemeinschaft aus und ist in seiner Grundform eine Lebenseinstellung bzw. eine Lebenspraxis und kein politisch verordnetes Konzept. Indem Hesiod seinen Bruder Perses in direkter Ansprache zur Gerechtigkeit auffordert, fordert er in indirekter Weise zum einen alle Menschen dazu auf, Gerechtigkeit bereits im engsten Umfeld zu leben, und zum anderen, das Recht des Zusammenlebens der Gemeinschaft zu achten.

Nicht miteinbezogen werden die Verweise Hesiods auf die ,(mythisch-) theologische Gerechtigkeit‘, da der Fokus dieser Untersuchung auf dem Bereich des politisch-anthropologischen Denkens liegt. 15

4.2 Gerechtigkeit – Gemeinschaft – Gemeinsinn

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In der Geschichte der Philosophie lassen sich viele unterschiedliche Konzeptionen von Gerechtigkeit ausfindig machen, die sicher wertvolle Beiträge für das Zusammenleben des Menschen geleistet haben oder nach wie vor leisten. Kein Ansatz scheint dabei jedoch so zeitlos und in seiner Grundlegung klar zu sein wie jener der Gerechtigkeit als personale Tugend. Aristoteles hat die Tugend (aretê), die Gutheit bzw. Tüchtigkeit des Menschen, als eine Disposition der Mitte beschrieben, die zwischen dem Mangel und dem Übermaß menschlichen Handelns liegt und in jeder Situation neu ausgelotet bzw. bestimmt werden muss (vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik II 2, 6, 8, 9). Ähnlich, wenn auch noch weit entfernt von Dichte und Schärfe der aristotelischen Philosophie fragt sich Hesiod, was in Bezug auf das Verhalten seines Bruders als gerecht angesehen werden bzw. wie er in Bezug auf das väterliche Erbe selbst gerecht handeln und selbst Gerechtigkeit erfahren kann. Mit der Bestimmung der Gerechtigkeit als personale Tugend ist auch das Bewusstsein des einzelnen Menschen für die Notwendigkeit und für den Nutzen der Gerechtigkeit in Bezug auf das Zusammenleben in Gemeinschaft verbunden. Die Notwendigkeit liegt auf der Hand: Ohne die Grundlagen der Gerechtigkeit kann es kein gutes und gelingendes Zusammenleben geben. Und auch der Nutzen ist evident: In einer Gemeinschaft zu leben, die sich zumindest der Grundlagen von Gerechtigkeit und Recht bewusst ist und diese einhält, ermöglicht es dem Einzelnen innerhalb dieser Gemeinschaft ein weitgehend sicheres Leben nach eigenen Vorstellungen, jedoch im Rahmen der Gesetze der Gemeinschaft, zu führen. Hume hat die Gerechtigkeit als ein ,soziales Gefühl‘ des Menschen beschrieben. Das soziale Gefühl der Tugend der Gerechtigkeit kann nicht medizinisch verschrieben, politisch verordnet oder diktatorisch befohlen werden. Es muss sich im Menschen entwickeln und vom Einzelnen in seinem Leben umgesetzt werden. Dazu bedarf es zum einen der Bereitschaft des Einzelnen, Gerechtigkeit leben zu wollen, zum anderen jedoch auch der grundlegenden politischen, wirtschaftlichen sowie sozialen Voraussetzungen dafür, ein solches Leben auch tatsächlich leben zu können, was in extremen individuellen wie gemeinschaftlichen Lebenssituationen oft nicht leicht von der Hand geht.

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(ii) Politische Gerechtigkeit als Grundlage von Gemeinschaft: Hesiods zweiter Zugang zu Gerechtigkeit und Recht gründet auf der persönlichen Erfahrung, dass dem gerechten Menschen innerhalb der Gemeinschaft nicht immer selbst auch so etwas wie Gerechtigkeit widerfährt. Das ist mit ein Grund dafür, warum er selbst gegenüber Königen und Herrschern in Werke und Tage (politische) Gerechtigkeit regelrecht einfordert. Bereits Hesiod führt dabei aus, dass die Grundlage der Gemeinschaft eines Bewusstseins von Recht und Gerechtigkeit auf sämtlichen politischen Ebenen bedarf, vom eigenen Leben im Alltag der politischen Gemeinschaft über die eigene Familie bis hin zu zwischenmenschlichen Freundschaften und vom oikos bis zur Polis. Die Frage nach politischer Gerechtigkeit umfasst auch die Frage nach fairer Herrschaft und nach fairen Regeln des Zusammenlebens, wie es u. a. Rousseau festgehalten hat. Das Zusammenleben des Menschen ist neben dem individuellen Gerechtigkeitssinn und der Gerechtigkeit, verstanden als eine personale Tugend, ebenso auf das gesetzte Recht angewiesen, das die rechtliche Grundlage des Zusammenlebens bildet und Rechte und Pflichten der Bürgerinnen und Bürger festlegt. Das gesetzte Recht ist dabei als unverzichtbare Notwendigkeit politischer Gerechtigkeit im Zusammenleben zu verstehen und sollte zumindest drei Ziele verfolgen: erstens gleiche Chancen für alle Bürgerinnen und Bürger zu ermöglichen (beruflich, politisch, …), zweitens den Einzelnen in seiner Freiheit innerhalb der Gemeinschaft rechtlich zu schützen (vor Eingriffen in die Privatsphäre, vor Übergriffen anderer, …) und drittens die Grundregeln des Zusammenlebens festzuhalten (Gesetze, Verträge, …) sowie in der dreifachen Gewaltentrennung von Legislative, Exekutive und Judikative auch zu pflegen und gegebenenfalls weiter zu entwickeln. Diese unverzichtbare Grundlage für das Leben des Menschen innerhalb von Gemeinschaft hat insbesondere die politische Philosophie der Neuzeit herausgearbeitet. Die Skizzierung des Naturzustandes dient dabei als deutliches Kontrastmittel, keinesfalls als Alternative: politische Gerechtigkeit auf der einen Seite und das Recht des Stärkeren auf der anderen Seite. Für das Zusammenleben des Menschen in Gemeinschaft ist die Bemühung um politische Gerechtigkeit unverzichtbar. Das wusste bereits Hesiod.

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(iii) Eintracht und Gemeinsinn als Bedingungen guten Lebens: Hesiods dritter Zugang zu Gerechtigkeit und Recht ist, dass mit der Umsetzung politischer Gerechtigkeit sicherlich bereits viel erreicht (wäre), aber dass das Leben des Menschen in Gemeinschaft allein auf der Grundlage der dikê noch nicht zur Gänze umfasst ist. Es bleiben für Hesiod noch weitere Lebensbereiche und -beziehungen nach eris und dikê zu besprechen, nämlich ergon, oikos, philia und timê. Auch wenn die Grundlage des Zusammenlebens von Gerechtigkeit und Recht ebenso für die anderen Bereiche Gültigkeit hat, so gehen zumindest der oikos, d. h. die Hausgemeinschaft, u. a. verstanden als Sozialgemeinschaft, und die philia, d. h. die Freundschaft, u. a. verstanden als Lebensbeziehungen über die Gemeinschaft des Hauses hinaus, einen Schritt weiter, als das klassische Verständnis von Gerechtigkeit und Recht impliziert. In diese Richtung deuten – wie gezeigt – auch Rousseau und Höffe. Rawls hat in seinen Überlegungen zum einen vom Gerechtigkeitssinn des Menschen gesprochen, zum anderen über die dem Menschen notwendig zuzusprechende Chance, eine Konzeption des guten und gelingenden Lebens individuell entwickeln, verwirklichen und gegebenenfalls auch korrigieren zu können. Gerechtigkeit und Recht sind demnach eine Art Vorbedingung des guten und gelingenden Lebens, das jeder einzelne Mensch im Rahmen dieser beiden Grundlagen, dem Gerechtigkeitssinn und der guten und gelingenden Lebenskonzeption, führen kann, soweit es äußere – oder aber auch innere – Umstände zulassen. Grundlage dafür ist jedoch die Funktionstüchtigkeit der politischen Gemeinschaft im Gesamten, der öffentlichen Strukturen und des öffentlichen Lebens, insbesondere der politischen Verwaltung und die Wahrung des sozialen Friedens. Auf dieser Basis kann der Einzelne eine Vorstellung des guten und gelingenden Lebens entwickeln, wofür es nach Höffe in ergänzender Art und Weise darüber hinaus des freien Gemeinsinns, einer Identifikation des Einzelnen mit der Gemeinschaft, verbunden mit einer Fürsorge für den Mitmenschen und der Freundschaft, in allen ihren möglichen unterschiedlichen Facetten und Varianten bedarf. Es ist offensichtlich, dass die Gerechtigkeit in Hesiods Werke und Tage einen zentralen Stellenwert einnimmt und dabei insbesondere in Bezug auf die gute eris als eine Art Korrektiv des zwischenmenschlichen geordneten Wettbewerbs angesehen werden kann. Doch min96

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

destens ebenso bemerkenswert erscheint es, dass die Gerechtigkeit eben nicht der einzige Lebensbereich ist, dem Hesiod eine grundlegende Notwendigkeit für das gelingende Leben des Menschen in Gemeinschaft zuspricht. Denn neben dem Bereich der dikê und der eris stehen – wie bereits ausgeführt – weitere Lebensbeziehungen wie der oikos, die philia oder die Lebensbereiche ergon und timê. Zweifelsfrei ist bereits bei Hesiod eine potentielle Verwirklichung der dikê aus persönlicher und politischer Perspektive überaus erstrebenswert. Doch in Werke und Tage wird ansatzweise deutlich, dass bloßes Recht und rein formale Gerechtigkeit nicht das volle Wesen des Menschen zur Entfaltung bringen, sondern dass darüber hinaus weiters soziale Kontakte, freundschaftliche Beziehungen und familiäre Bindungen zum Menschsein und zum guten Leben dazugehören. Auf eine einfache Formel gebracht: Das gute und gelingende Leben des Menschen beinhaltet Kenntnisnahme und Fürsorge um den Mitmenschen. Diese Form des Zusammenlebens übersteigt die klassischen Zugänge der Gerechtigkeitsdebatten und erfordert in ihrer Umsetzung eine Form von Eintracht und den freien Gemeinsinn.

4.3 Mensch und Schaffen Hesiod ist der Ansicht, dass der Mensch sein Leben durch Tätigkeit selbst gestalten kann und so für die Entfaltung des eigenen guten und gelingenden Lebens mit verantwortlich ist – und nicht bloß die Gunst der Götter ein glückliches oder unglückliches Leben vorherbestimmen. Das trifft nicht nur auf das individuelle, sondern auch auf das gemeinschaftliche Leben zu. Von dieser Selbstverantwortung des Menschen für das gute Leben und für das gelingende Zusammenleben als Einzelner in der Gemeinschaft ist Hesiod gänzlich überzeugt. Vieles, freilich nicht alles, liegt in der eigenen Hand des Menschen. Eine gelingende Lebensführung ist vom Engagement und der Tätigkeit des Einzelnen sowie von der Funktionstüchtigkeit der Gemeinschaft als Ganzes mit abhängig. Diese Einsicht hat für Hesiod in Werke und Tage großen Wert. Wie bereits angesprochen, kommen dem ergon-Begriff, der Tätigkeit bzw. dem Werk im umfassenden Sinne, in der Philosophie der Antike jedoch unterschiedliche Bedeutungen zu, wie z. B. jene der 4.3 Mensch und Schaffen

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tagtäglichen Arbeit verbunden mit der Fürsorge für Haus und Hof, u. a. bei Hesiod, oder einer spezifischen Funktion bzw. Tüchtigkeit des Menschen aufgrund der Natur des Menschseins, wie u. a. bei Aristoteles (vgl. Kap. 2.3). Ähnlich steht es mit dem heutigen Begriff der Tätigkeit, der trotz vieler unterschiedlicher Konnotationen aktuell zumeist mit dem Thema der Erwerbs- und Lohnarbeit in Verbindung gebracht wird. Alleine für diesen Aspekt lassen sich viele Anknüpfungspunkte in der Philosophiegeschichte der Neuzeit finden, wie in der Breite der Argumentationen bei so unterschiedlichen Philosophen wie John Locke, Karl Marx oder Josef Pieper. John Locke hat seine politische Philosophie im Allgemeinen und seine naturrechtliche Staatsphilosophie im Speziellen (vgl. Priddat: 2012, 80) auf Basis von drei Grundsätzen entwickelt, die für das Verhältnis von Mensch und Tätigkeit von Interesse sind: (i) dem Recht auf Selbsterhaltung, (ii) dem Recht auf Eigentum und (iii) dem Recht auf Selbstentfaltung. Mit der Fokussierung dieser Postulate hat Locke entscheidende Beiträge zur Entwicklung der politischen Theorie der Neuzeit geleistet. (i) Für Locke ist der Naturzustand des Menschen ein Zustand der vollkommenen Freiheit und ein Zustand der Gleichheit aller Menschen (vgl. Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, II 4). Trotz Freiheit und Gleichheit ist dieser Naturzustand für Locke jedoch nicht gesetz- bzw. grenzenlos. Denn im Naturzustand herrscht seiner Ansicht nach ein natürliches Gesetz, das jeden Menschen verpflichtet. »Und die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, wenn sie sie nur befragen will, dass niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll. Denn alle Menschen sind das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers« (Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, II 6).

Alle Menschen und die Welt sind Teil der Schöpfung Gottes und dieser hat die Welt nach Locke allen Menschen gemeinsam übertragen, um sie zum größten Vorteil, zur Annehmlichkeit und zum Genuss des Lebens zu nutzen (vgl. Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, II 26), weshalb die Selbsterhaltung des Menschen Recht und Pflicht zugleich ist, individuell wie gemeinschaftlich – und das in dieser Reihenfolge. 98

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

»Wie ein jeder verpflichtet ist, sich selbst zu erhalten und seinen Platz nicht vorsätzlich zu verlassen, so sollte er aus dem gleichen Grunde, und wenn seine eigene Selbsterhaltung nicht dabei auf dem Spiel steht, nach Möglichkeit auch die übrige Menschheit erhalten. Er sollte nicht das Leben eines anderen oder, was zur Erhaltung des Lebens dient: Freiheit, Gesundheit, Glieder oder Güter wegnehmen oder verringern, – es sei denn, dass an einem Verbrecher Gerechtigkeit geübt werden soll« (Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, II 6).

Das Recht des Menschen auf Selbsterhaltung ist für Locke vor allem auf die Ernährung und auf die Aneignung jener Güter bezogen, die die Natur hervorbringt und die grundsätzlich allen Menschen zur Verfügung stehen (vgl. Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, II 25). (ii) Eng verbunden mit Recht und Pflicht des Menschen auf Selbsterhaltung ist bei Locke das Recht des Menschen auf den Erwerb von Eigentum durch Arbeit. Wie bereits ausgeführt ist Locke der Ansicht, dass Gott die Welt den Menschen zum Leben in Gemeinschaft gegeben hat. »Er gab sie dem Fleißigen und Verständigen zur Nutznießung (und Arbeit sollte seinen Rechtsanspruch darauf bewirken), nicht aber dem Zänkischen und Streitsüchtigen für seine Launen oder Begierden« (Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, II 34).

Launen und Begierden des Menschen sowie Zank und Streit unter den Menschen erinnern unweigerlich an Hesiods Anmerkungen zur schlechten eris. Die positiven bzw. kooperativ-produktiven Züge des Menschseins sind bei Locke, ähnlich wie bei Hesiod, hingegen mit Arbeit und Recht benannt. Durch Tätigkeit bzw. Arbeit an den allgemeinen, natürlichen Gütern schafft der Mensch Eigentum durch Aneignung. Derjenige, der sich der Mühe der Aneignung durch Arbeit an den natürlichen Dingen unterzieht, hat nach Locke auch das Recht auf Eigentum daran, ausgelöst durch eigene Tätigkeit. »Wenn auch das Wasser, das aus der Quelle fließt, Eigentum aller ist, wer kann zweifeln, dass es dennoch im Kruge nur demjenigen gehört, der es geschöpft hat? Seine Arbeit hat es aus den Händen der Natur genom4.3 Mensch und Schaffen

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men, wo es Gemeingut war und allen ihren Kindern gleichmäßig gehörte, und er hat es sich dadurch angeeignet« (Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, II 29).

Der Stellenwert bzw. die Bedeutung der Arbeit im Prozess der Inanspruchnahme von Eigentum der natürlichen Güter ist nach Locke nicht zu unterschätzen. Seiner Ansicht nach macht die Arbeit den weitaus größten Anteil des Wertes des Besitzes bzw. des späteren Eigentums aus (vgl. Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, II 42). Die menschliche Arbeit an und mit den natürlichen Gütern schafft vielfach erst einen Wert der Dinge. Das Recht auf Privateigentum ist allerdings nach Locke kein unbegrenztes Recht. Die blinde und bzw. oder gierige Anhäufung von natürlichen Gütern und die damit verbundene Inkaufnahme der Schädigung des Mitmenschen oder anderer Gemeinschaften und der Natur widersprechen der politischen Philosophie Lockes, dabei vor allem dem Recht auf Selbsterhaltung sowie dem Recht auf Eigentum anderer. »So viel, wie jemand zu irgendeinem Vorteil seines Lebens gebrauchen kann, bevor es verdirbt, darf er sich durch seine Arbeit zum Eigentum machen. Was darüber hinausgeht, ist mehr als sein Anteil und gehört anderen« (Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, II 31).

(iii) Das Recht auf Selbstentfaltung und das damit verbundene permanente Streben des Menschen nach Glück ist für Locke eine anthropologische Konstante und die Grundlage menschlicher individueller Freiheit schlechthin. Alle Menschen suchen das bzw. ihr Glück – eine Einsicht, die bereits in der Philosophie der Antike, zumindest für den freien Bürger, leitend war und selbst in Hesiods Werke und Tage angesprochen wird. Denn Hesiod handelt – wie gezeigt – davon, wie der Mensch glückselig (eudaimon) werden kann und welche Prämissen dafür aus Hesiods Sicht notwendig sind. Für Locke ist das Streben nach Glück die höchste Vollkommenheit des Lebens. Er versteht dabei das Glück – ähnlich wie z. B. Aristoteles – als eine andauernde (und wahrhafte) Glückseligkeit, nicht als einen isolierten Glücksmoment.

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

»Demnach besteht die höchste Vollkommenheit einer vernunftbegabten Natur in dem eifrigen und unermüdlichen Streben nach wahrem und dauerndem Glück; ebenso ist die Sorgfalt, mit der wir uns selbst davor hüten, ein eingebildetes Glück nicht für das wirkliche zu halten, die notwendige Grundlage unserer Freiheit« (Locke: Versuche über den menschlichen Verstand, Buch II, XXI 51).16

Das Streben nach Glück (persuit of happiness) ist in der Neuzeit – trotz partieller Kritik am sogenannten Eudaimonismus, so z. B. bei Kant, Fichte oder Hegel – zu einem zentralen Motiv, auch der politischen Anthropologie, geworden. Die europäische Philosophie der Aufklärung nahm u. a. damit ihren Anfang und in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist, inspiriert durch Locke, das Recht auf das Streben nach Glück einer der drei genannten Schwerpunkte in der Präambel, neben dem Recht auf Leben und dem Recht auf Freiheit.17 Locke hat zu dieser Verankerung von life, liberty and happiness im politischen Bewusstsein einen großen Beitrag geleistet. Das menschliche Streben nach Glück ist also keine Entdeckung der Philosophie der Neuzeit. Das Neue an der Neuzeit ist somit nicht die Postulierung des persuit of happiness als Ganzes, sondern liegt insbesondere in zwei Details: erstens in der Bestimmung des Strebens nach Glück als individuelle bzw. personale Tätigkeit und zweitens in der Bestimmung des Strebens nach Glück als Tätigkeit, die jeder Mensch für sich alleine ausrichten kann und auch alleine ausrichten soll. Alle Menschen – so Locke – suchen nach dem Glück, aber nicht alle Menschen suchen ein Glück gleicher Art oder das Glück in denselben Dingen. Damit verbunden ist bei Locke eine deutliche Kritik an der Philosophie der Antike und an deren Versuchen, das Glück des Menschen allgemeingültig zu bestimmen bzw. kollektiv festzumachen, worin es denn letztendlich liegen kann: »As therefore the highest perfection of intellectual nature lies in a careful and constant pursuit of true and solid happiness; so the care of ourselves, that we mistake not imaginary for real happiness, is the necessary foundation of our liberty.« 17 »We hold these thrust to be self-evident, that all men created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness« (Declaration of Independence 1776, Präambel). 16

4.3 Mensch und Schaffen

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»Das dürfte auch der Grund sein, warum die Philosophen des Altertums vergeblich danach forschten, ob das summum bonum im Reichtum, im sinnlichen Genuss, in der Tugend oder in der Kontemplation bestehe; mit ebensolchem Recht hätte man darüber streiten können, ob Äpfel, Pflaumen oder Nüsse am besten schmeckten, und sich danach in Schulen teilen können« (Locke: Versuche über den menschlichen Verstand, Buch II, XXI 55).

Nach Locke ist es gänzlich einzusehen, dass unterschiedliche Menschen ihr Glück in unterschiedlichen Dingen oder Tätigkeiten suchen. Mit diesem Ansatz wird die Individualität eines jeden Menschen deutlich zum Ausdruck gebracht. Der Mensch hat in Bezug auf sein permanentes Streben nach Glück die individuelle Möglichkeit der Wahl. »[…], so besteht das größte Glück in dem Besitz derjenigen Dinge, die die größte Freude hervorrufen, und in der Abwesenheit alles dessen, was irgendwie Unannehmlichkeit und Schmerz verursacht. Das aber sind für verschiedene Menschen ganz verschiedene Dinge. […]. Die Menschen mögen verschiedene Dinge wählen und doch alle die richtige Wahl treffen« (Locke: Versuche über den menschlichen Verstand, Buch II, XXI 55).

Locke hat an seinen drei Postulaten aus geistesgeschichtlicher Perspektive freilich kein alleiniges philosophisches Urheberrecht. Die Fokussierung der individuellen Rechte des Menschen auf Selbsterhaltung, Eigentum und Selbstentfaltung in einem Blickfeld darzulegen, ist allerdings zweifelsfrei das große Verdienst von Lockes politischer Philosophie. Er hat mit diesem Denken eine Philosophie des neuzeitlichen Bürgers (mit-)begründet, die jedem Menschen die Möglichkeit zu einem guten und gelingenden Leben geben sollte. Trotz der Tatsache, dass sich viele der politischen Ansätze von Locke in modernen Demokratien als unveräußerliche Grundrechte wiedererkennen lassen, ist die darauffolgende Geschichte der Philosophie des Bürgers dennoch nicht konfliktfrei geblieben, vor allem nicht in Bezug auf das Recht des Menschen auf Besitz. Denn das Streben nach Privateigentum des Bürgers auf der einen Seite erzeugte den besitzund vielfach auch chancenlosen Arbeiter auf der anderen Seite. Diese sozialpolitische Entwicklung hatte Locke nicht vor Augen. Allerdings 102

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

wäre es eine mutwillige Verkürzung, seine Philosophie ausschließlich auf die Philosophie einer besitzenden Bürgerklasse zu reduzieren, zumal das Recht auf das Streben nach Glück in der politischen Theorie von Locke keinen Unterschied zwischen ,Mensch‘ und ,Mensch‘ macht. Karl Marx ortete in seinen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen kritischen Schriften den Primat der Ökonomie über sämtliche Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen und machte dafür insbesondere die kapitalistische Produktionsweise und die Politik des Kapitalismus als Ganzes verantwortlich. Über Marx zu sprechen ist aufgrund vielfacher Verkürzungen, versteinerter Dogmatisierungen, automatisierter Abwehrreflexe und wissenschaftlicher Tabuisierungen keine einfache Sache. An dieser Stelle soll weder eine Beurteilung der Philosophie von Marx im Ganzen noch eine politische Bewertung seiner sozialen Ansätze bzw. Vorstellungen im Speziellen oder eine philosophische Auf- oder Abwertung seiner Person bzw. seiner philosophischen Perspektiven erfolgen. Vielmehr steht im Vordergrund, einen jener Aspekte aus den Schriften von Marx herauszugreifen, der sich mit dem Denken einer politischen Anthropologie in Verbindung bringen lässt, so z. B. aus dem Text Die entfremdete Arbeit (in Zur Kritik der Nationalökonomie). Marx setzt an einem Punkt an, der bei Locke noch nicht virulent, aber im Grunde genommen bereits absehbar war: die Teilung der Gesellschaft in den Eigentümer und den Besitzenden auf der einen Seite und in den eigentumslosen Arbeiter auf der anderen Seite – für Marx das zu erwartende gesellschaftliche Ergebnis einer kapitalistisch-orientierten Nationalökonomie (vgl. Marx: Die entfremdete Arbeit, 559). Die Dichotomie zwischen Reichtum und Besitzlosigkeit, zwischen arm und reich, ist für Marx das Grundmotiv seiner wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Kritiken. »Die Arbeit produziert Wunderwerke für die Reichen, aber sie produziert Entblößung für den Arbeiter. Sie produziert Paläste, aber Höhlen für den Arbeiter. Sie produziert Schönheit, aber Verkrüppelung für den Arbeiter. Sie ersetzt die Arbeit durch Maschinen, aber sie wirft einen Teil der Arbeiter zu einer barbarischen Arbeit zurück und macht den anderen Teil zur Maschine. Sie produziert Geist, aber sie produziert Blödsinn, […]« (Marx: Die entfremdete Arbeit, 563).

4.3 Mensch und Schaffen

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Der Arbeiter, so Marx, wird selbst zum Gegenstand und die Arbeitskraft wird zur Ware. Und mit der „Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu“ (Marx: Die entfremdete Arbeit, 561). Diese Entwertung der Menschenwelt analysiert Marx u. a. anhand des Begriffs der ,Entfremdung‘ (vgl. dazu auch Ottmann: 2008, 158 – 161). Im Textabschnitt Die entfremdete Arbeit unterscheidet er vier Arten: (i) die Entfremdung vom Arbeitsprodukt, (ii) die Entfremdung im Arbeitsprozess, (iii) die Entfremdung vom Gattungswesen und (iv) die Entfremdung des Menschen vom Menschen. (i) Erstens konstatiert Marx die Entfremdung des arbeitenden Menschen von dem Produkt der Tätigkeit. Verkürzt gesagt: Der Arbeiter ist nicht Herr über das Ergebnis seiner Beschäftigung. Das Produkt der Arbeit gehört nicht dem Schaffenden, sondern einem Anderen. Auf der einen Seite wird der Arbeiter zwar für dieses Schaffen bezahlt, auf der anderen Seite jedoch, so Marx weiter, wird der Arbeiter durch die Angewiesenheit auf dieses Tätigkeitsverhältnis in eine kontinuierliche, unauflösliche Abhängigkeit versetzt, die beim Arbeitnehmer Armut und beim Arbeitgeber Reichtum schafft. Dieses Abhängigkeitsverhältnis, so Marx, reduziert den Menschen ausschließlich auf dessen Physis, auf seine Leistungs- und Produktionskraft. »Die Spitze dieser Knechtschaft ist, dass er nur mehr als Arbeiter sich als physisches Subjekt erhalten kann und nur mehr als physisches Subjekt Arbeiter ist« (Marx: Die entfremdete Arbeit, 563).

(ii) Zweitens spricht Marx über die Entfremdung des Menschen im Arbeitsprozess. In der Zeit der Arbeit ist der Mensch nicht bei sich selbst, sondern gänzlich, körperlich und geistig dem Produktionsprozess unterworfen, in dessen permanenter Abhängigkeit er lebt. Marx zufolge ist der Arbeiter in seinen Tätigkeiten als Arbeiter gewissermaßen zum Unglücklichsein verurteilt. Denn das wahre Wesen des Menschen kann im Rahmen der Arbeit als Arbeiter nicht verwirklicht werden. Frei und sich selbst bestimmend kann sich der Mensch daher nur dann fühlen, wenn er nicht arbeitet. Marx hält fest

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

»[…], dass die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d. h. nicht zu seinem Wesen gehört, dass er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Hause. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen« (Marx: Die entfremdete Arbeit, 564).

(iii) Drittens spricht Marx über die Entfremdung des Menschen von seinem Gattungswesen. Durch den Primat der Ökonomie und der gänzlichen Abhängigkeit von ökonomischen Prozessen in sämtlichen Lebensbereichen und -beziehungen ist dem Menschen, so Marx, freie und bewusste Tätigkeit nicht möglich. Doch freie und bewusste Tätigkeit ist das, worin Marx das eigentliche spezifisch Menschliche am Menschen zu erkennen meint. Eben das, was dem Gattungswesen Mensch als Menschen am meisten entsprechen würde. Doch auch hier liegt nach Marx eine Entfremdung vor. Hinzu kommt, dass der Arbeiter durch die Fesselung an seine Arbeit und dem damit verbundenen Verlust von freier und bewusster Tätigkeit, von der Bearbeitung der Um- und Mitwelt, von der Arbeit an und mit der Gesellschaft, ausgeschlossen ist. Auch das führe unweigerlich zur Entfremdung des Menschen von seinem Gattungswesen, dabei ebenso von (politischer) Gemeinschaft und Gesellschaft. »Denn erstens erscheint dem Menschen die Arbeit, die Lebenstätigkeit, das produktive Leben selbst nur als ein Mittel zur Befriedigung eines Bedürfnisses, des Bedürfnisses der Erhaltung der physischen Existenz. Das produktive Leben ist aber das Gattungsleben. Es ist das Leben erzeugende Leben. In der Art der Lebenstätigkeit liegt der ganze Charakter einer species, ihr Gattungscharakter, und die freie bewusste Tätigkeit ist der Gattungscharakter des Menschen« (Marx: Die entfremdete Arbeit, 567).

(iv) Viertens ergibt sich aus all dem zuvor gesagten nach Marx die Entfremdung des Menschen vom Menschen. Diese Art der Entfremdung hat zwei Perspektiven. Sie beinhaltet zum einen den Aspekt der Entfremdung des Menschen von seinem Gattungswesen, dem 4.3 Mensch und Schaffen

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menschlichen Wesen im Allgemeinen, und zum anderen den Aspekt der Entfremdung des Menschen vom Mitmenschen im Speziellen. Der Mensch sieht im Mitmenschen nicht mehr das Gattungswesen eines anderen Menschen, sondern, so Marx, ausschließlich einen (anderen) Arbeiter. So wie sich der Einzelne eben auch selbst unter dem Primat der Ökonomie verhaftet sieht. »Überhaupt, der Satz, dass dem Menschen sein Gattungswesen entfremdet ist, heißt, dass ein Mensch dem anderen, wie jeder von ihnen dem menschlichen Wesen entfremdet ist. […]. Also betrachtet in dem Verhältnis der entfremdeten Arbeit jeder Mensch den anderen nach dem Maßstab und dem Verhältnis, in welchem er selbst als Arbeiter sich befindet« (Marx: Die entfremdete Arbeit, 569).

Mit dem Begriff der Entfremdung beschreibt Marx auch Beziehungsverluste des Menschen, sei es gegenüber einer Tätigkeit, der Arbeit, dem eigenen Bewusstsein als Mensch oder gegenüber dem Mitmenschen. Dieser Verlust durch Entfremdung ist jedoch nicht ausschließlich eine ökonomische bzw. wirtschaftsethische, sondern ebenso eine anthropologische Einsicht. Menschliche Tätigkeit, insbesondere verstanden in der speziellen Form der Erwerbs- und Lohnarbeit, hat eine unverzichtbare Rolle eingenommen, die alle anderen Lebensbereiche und -beziehungen dominiert und den Menschen in seinem Menschsein verändert, was u. a. bis hin zur Marx’schen Entfremdung führen kann. Diese potentiellen Beziehungsverluste hatte Marx in Bezug auf den Arbeiter und dessen Lebensbedingungen der damaligen Zeit bereits deutlich vor Augen. Marx kann heute aus der Perspektive der politischen Anthropologie in drei Bereichen in mahnender und vielleicht auch warnender Art und Weise mindestens richtungsweisend sein. Erstens in Bezug auf die Bewusstmachung der aktuellen Dominanz der Ökonomie und des Ökonomischen über sämtliche Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen. Marx hat darauf hingewiesen, dass der Mensch nicht nur nach Arbeitskraft und -leistung bestimmt werden darf. Die Erwerbs- und Lohnarbeit ist nicht alles im Leben des Menschen und der Mensch kann und soll nicht ausschließlich über diese Form von Tätigkeit definiert werden. Damit verbunden hat er in deutlicher und – zugegebener Weise – in phasenweise radikaler Art den Gegensatz zwischen (Super-)Armen und (Mega-)Reichen diskutiert. Zweitens 106

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

hat Marx in Summe eine Verunmenschlichung, eine Verarmung im Sinne einer Entwertung der Lebens- und auch der Arbeitswelt konstatiert. Auf das Heute übertragen: Produktionsbedingungen jenseits jeglichen Respekts der Menschenwürde, der Verlust zwischenmenschlicher Beziehungen aufgrund der Ökonomisierung und nicht zuletzt wiederum die lückenlose Abhängigkeit menschlicher Existenz von Wirtschaft und Arbeit selbst. Drittens handelt Marx über den Verlust der freien und bewussten Tätigkeit des Menschen. Eben von jenen Tätigkeiten, die keinem Nutzens- und Maximierungskalkül unterliegen, die weder wirtschaftliche noch unmittelbare persönlichmenschliche Vorteile – erwarteter Weise – mit sich bringen. Darüber hinaus weist auch Marx ähnlich wie Hesiod auf die Gefahr missgünstiger, egoistischer und betrügerischer zwischenmenschlicher Konkurrenz für das Leben und für das Zusammenleben des Menschen hin (vgl. Marx: Die entfremdete Arbeit, 557 – 558). Josef Pieper spricht in seinem Buch Muße und Kult über eine grundlegende Überbewertung in der Bedeutung von ,Arbeit‘ für das Leben des Menschen in modernen Gesellschaften und ist darum bemüht, diesen Stellenwert anhand des Begriffs der Muße und ihrer Notwendigkeit für den Menschen, zumal er die Muße als das Fundament abendländischer Kultur bezeichnet, abzutragen. Im Zentrum seiner Zeitdiagnose steht dabei der moderne Arbeiter in der modernen Arbeitswelt. Der Befund lautet, dass die Muße, verstanden als Nicht-Aktivität und Ruhe, als Mühelosigkeit und Leichtigkeit, als Herausgenommen-sein aus werktäglicher Arbeitsfunktion „in der programmatischen Mußelosigkeit der totalen Arbeitswelt ganz und gar unkenntlich geworden“ ist (Pieper: Muße und Kult, 48). »Dieser Unterschied, diese Tatsache des nicht mehr vorhandenen unmittelbaren Zugangs zum ursprünglichen Begriff der Muße wird uns noch nachdrücklicher ins Bewusstsein treten, wenn wir dessen innewerden, wie sehr der Gegenbegriff, der Begriff und das Richtbild der Arbeit, fast den gesamten Bereich des menschlichen Wirkens, ja des menschlichen Daseins selbst, erobert hat und besetzt hält, und wie sehr wir selber geneigt sind, dem Anspruch recht zu geben, der von der Gestalt des ,Arbeiters‘ ausgeht« (Pieper: Muße und Kult, 81).

4.3 Mensch und Schaffen

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Die Gründe für diese Unkenntlichkeit der – und der Unfähigkeit zur – Muße heute sieht Pieper in unterschiedlichen Ursachen. Zum einen in der bereits angesprochenen prinzipiellen Überbewertung der Arbeitswelt des Menschen, verstanden als Überbewertung der tatsächlichen Bedeutung der Arbeitswelt für das Menschsein (vgl. Pieper: Muße und Kult, 48). Zum anderen in einer Überbewertung der Mühe und des Schweren im Gesamten (vgl. Pieper: Muße und Kult, 67; 69; 71) sowie drittens in einer dem Menschen aktuell eigentümlichen beziehungslosen Schmerzbereitschaft im Verständnis der eigenen beruflichen Tätigkeit wie auch viertens in einem selbstmörderischen Arbeitsfanatismus (vgl. Pieper: Muße und Kult, 81). Pieper hat mit diesen vier Symptomen eine treffende Analyse des Menschseins in der modernen kapitalistischen Arbeitswelt geleistet. Auch wenn dieser Befund freilich nicht auf alle Menschen innerhalb der Gesellschaft zutrifft, so ist mit dieser ,Unfähigkeit zur Muße‘, verbunden mit der Überbewertung von Beruf und beruflicher Tätigkeit, doch in direkter Art und Weise ein Phänomen angesprochen, das auch mit den Themen ,Stress‘, Verlust der ,Work-Life-Balance‘, subsumierbar auch unter den Begriff ,Burnout‘, kollektiver Überforderung im Alltag etc. in Verbindung gebracht werden kann. Bemerkenswert bei Pieper ist insbesondere der Zugang zu seinen Überlegungen. Denn kritisiert wird nicht in erster Linie die etwaige Ausbeutung durch eine globalisierte (Welt-)Wirtschaft oder die Arbeitspolitik moderner Demokratien im Ganzen, sondern vor allem die Einstellung des einzelnen Menschen zur Arbeit, zum eigenen Arbeitsethos und der Umgang mit der Bereitschaft zu individueller permanenter werktäglicher Aufopferung bis hin zum Selbstverlust. Piepers Anliegen ist eher ein politisch-anthropologisches Umdenken als ein Umsturz wirtschaftspolitischer oder sozialethischer Strukturen. Dieses Umdenken geht vom einzelnen Menschen aus und ist darum bemüht, das – durchaus heute fundamental wichtige – Verhältnis von Mensch und Erwerbsarbeit weder kleinzureden noch überzubewerten. Festzuhalten ist, dass sich Pieper nicht gegen menschliche Tätigkeit im Allgemeinen und nicht gegen die Arbeit des Menschen im Speziellen ausspricht, sondern vielmehr um Relativierung des Verhältnisses von Mensch und Arbeit bemüht ist, da die moderne Arbeitswelt „vieles verdrängt habe“ (Lehmann: 2007, 20). Das Menschsein, so 108

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

Piepers Überzeugung, entfaltet sich nicht allein in der Arbeitswelt und auch nicht in der völligen Aufopferung des Menschen in seiner beruflichen Tätigkeit. Mit dieser Ansicht steht er einem leistungsbezogenen Bewusstsein des Menschen allerdings keineswegs konträr gegenüber. Pieper erträumt sich keine Utopie, in der der Mensch ohne Arbeit und ohne Tätigkeit müßig dahinlebt. Kooperatives tätiges Streben, beruflicher Erfolg und Liebe zur Tätigkeit stellt Pieper keineswegs pauschal in Abrede. »Damit ist nichts gesagt gegen die Ausbildung, nichts gegen den Funktionär. Selbstverständlich ist beruflich spezialisierte Funktionsausübung die normale Gestalt menschlichen Wirkens; das Normale ist ,Arbeit‘, der Alltag ist Werktag. Die Frage aber ist: Kann die Welt des Menschen sich darin erschöpfen, ,Arbeitswelt‘ zu sein; kann der Mensch darin aufgehen, Funktionär, ,Arbeiter‘ zu sein; kann menschliche Existenz sich darin erfüllen, dass sie ausschließlich werktägliche Existenz ist?« (Pieper: Muße und Kult, 78).18

Zu ergänzen ist, dass Pieper den Begriff des Arbeiters umfassender sieht und breiter verwendet, als es z. B. Marx getan hat. Der moderne Arbeiter in der modernen Arbeitswelt ist nicht auf vermeintliche gesellschaftliche Klassen beschränkt, nicht auf Bildung oder Soziales zu reduzieren. Denn Pieper stellt auch hier einen anthropologischen Kontext her. Proletarität, so Pieper, ist die „Fesselung an den Arbeitsprozess und Bindung an den Gesamtvorgang der Nutzung“ (Pieper: Muße und Kult, 102 – 103). Sie betrifft somit so gut wie jeden Menschen, der in der Lohnarbeit seine alleinige Bestimmung und vielleicht auch seine Erfüllung sucht. Ein Ergebnis dieser Fesselung an die permanente Nutzung ist die „innere Verarmung des Menschen“ (Pieper: Muße und Kult, 103). Proletarität heute ist demnach mittlerweile ein allgemeines Symptom, das alle soziale Schichten der Gesellschaft betrifft (vgl. Pieper: Muße und Kult, 111).

Piepers Anliegen, wie gezeigt, ist es, die Überbewertung der menschlichen Arbeitswelt bewusst zu machen und die Notwendigkeit der Muße für das Leben des Menschen aufzeigen sowie die Muße mit Kontemplation in Verbindung zu bringen. Im Fest und im Kult, so Pieper, liege die tiefste Wurzel menschlicher Muße, insbesondere in der „kultischen Feier“ (Pieper: Muße und Kult, 120 – 121). 18

4.3 Mensch und Schaffen

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Es besteht kein Zweifel darüber, dass das heutige leitende Verhältnis in Bezug auf Mensch und Tätigkeit jenes von Mensch und Arbeit ist. Was in der Philosophie der Antike bei Hesiod und Aristoteles vielfach unumgänglich, aber nicht der Zweck des Menschseins bzw. Sinn des Lebens war, wurde spätestens mit der Philosophie der Neuzeit als Grundrecht eines jeden Menschen für die Verwirklichung eines selbstbestimmten Lebens verstanden: der Zugang zur Erwerbs- und Lohnarbeit. Was bei Locke als Entwicklungsfortschritt und als eine Art von Befreiung angesehen werden kann, ist bei Marx zur Verknechtung und Entfremdung geworden und darüber hinaus in der alleinigen Fokussierung bei Pieper zu einer inneren Verarmung des Menschen fortgeschritten. Peter Bieri hat in Eine Art zu leben festgehalten: „Wer seine Arbeit verliert, kann das Gefühl haben, dass damit auch seine Würde in Gefahr gerät“ (Bieri: 2013, 86). Damit in Verbindung steht nach Bieri ein weiterer, zweifacher potentieller Verlust des Menschen, nämlich jener von Selbstständigkeit und Anerkennung (vgl. Bieri: 2013, 87 – 88). Tatsache ist, dass der Verlust der Lohnarbeit heute zumeist den Verlust der Möglichkeit zur individuellen, selbstverantworteten Lebensgestaltung bzw. -planung in sämtlichen Lebensbereichen und -beziehungen bedeutet und physische, ökonomische, soziale und gesellschaftliche Dimensionen des Menschseins einer fundamentalen Bedrohung aussetzt – und auf das Selbstwertgefühl bzw. auf die psychologische Dimension des von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen Auswirkungen hat. So auch auf die von Bieri konstatierten Bereiche von Selbstständigkeit, Anerkennung und Würde. Ein aktuelles Verständnis von Mensch und Tätigkeit lässt sich, wie schon bereits in dem facettenreichen ergon-Begriff der Antike erkennbar, auf unterschiedlichen Ebenen entfalten und in unterschiedliche Konnotationen setzen: (i) Arbeit als Notwendigkeit – primär verstanden als Lohnarbeit zur Abdeckung unmittelbarer ökonomischer Bedürfnisse, mit dem Ziel, eine vorausschauende Lebensplanung möglich zu machen, (ii) Leistung als Selbstanspruch – bezogen auf das Bemühen des Menschen, in-etwas-gut-zu-sein, in Verbindung mit dem Bereich der Selbstständigkeit und der zwischenmenschlichen Anerkennung, (iii) Tätigkeit als Selbsterfüllung – im Kontext des individuellen praktischen Strebens des Menschen nach Glück und Glückseligkeit. 110

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

Auf allen diesen drei Ebenen menschlicher Tätigkeit liegen darüber hinaus auch unterschiedliche Formen menschlicher Würde, wobei zweifelsfrei jeder der genannten Bereiche einen eigenen philosophischen Diskurs darstellt. An dieser Stelle steht jedoch im Vordergrund aufzuzeigen, dass das breite Themenfeld von Mensch und Tätigkeit auch eine politisch-anthropologische Relevanz hat, wie bereits anhand von Locke, Marx, Pieper und Bieri zuvor ansatzweise dargestellt. (i) Arbeit als Notwendigkeit: Das Leben des Menschen heute ist in vielfacher Art und Weise und so gut wie untrennbar an die Erwerbsund Lohnarbeit gebunden. Berufliche Aus- und Weiterbildung ist aus individueller wie auch aus politischer Perspektive unverzichtbarer Bestandteil des Lebens und zur vorrangigsten Grundvoraussetzung für die Verwirklichung einer selbstbestimmten Existenz des Einzelnen innerhalb von Gemeinschaft geworden. Recht und Pflicht auf Selbsterhaltung des Menschen im Sinne von Locke ist – und das aktuell vielleicht mehr denn je – mit dem Bereich der Arbeit verbunden. Marx hatte jedoch erkannt, dass der Stellenwert der Arbeit für das Leben des Menschen ein totalitäres Primat der Ökonomie bzw. des Ökonomischen impliziert, das sämtliche Lebensbereiche und -beziehungen betrifft und das die unmittelbare, ständige Bindung des Menschen an Nutzbarkeit und Produktion mit sich brachte. Es ist die Fesselung an den Arbeitsprozess, so Marx, die den Mensch vom Menschen und vom Menschsein entfremdet. Das Ergebnis ist nach Pieper die einsame, programmatische Mußelosigkeit des totalen Arbeiters in der totalen Arbeitswelt. Der Grund für den Verlust von menschlicher Würde liegt in dem Bereich der Arbeit als Notwendigkeit jedoch nicht ausschließlich in der totalen Arbeitswelt, sondern ebenso in dem anderen – bedrohlichen – Extrem, nämlich in der ungewollten und vielleicht auch unverschuldeten Arbeits- und Mittellosigkeit. In beiden Extremen kann der Mensch an Würde verlieren. Zum einen in dem Bereich der Lohnarbeit, in der gänzlichen Fesselung an den Arbeitsprozess mit all seinen belastenden Begleiterscheinungen, die zu einer inneren Verarmung des Menschen führen können, sofern sich dieser ausschließlich in und aus dieser Tätigkeit heraus begreift. Zum anderen aber auch in dem Bereich der erzwungenen ökonomischen Passivität, die vielfach soziale und politische Isolation mit sich bringt, in der Arbeits- und Beschäftigungslosigkeit, in der der Mensch sein Leben 4.3 Mensch und Schaffen

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nicht mehr selbst zur Gänze in der Hand hat. Die totale Arbeitswelt auf der einen Seite, die dauerhafte Arbeits- und die damit über kurz oder lang verbundene Mittellosigkeit auf der anderen Seite: Eine Ambivalenz, die für die Lebenswelt der Extreme des Menschen heute beispielhaft erscheint. Das Primat der Ökonomie bringt zum einen die Notwendigkeit der Arbeit für das Leben des Menschen mit sich und verlangt zum anderen eine Form permanenten ökonomischen Denkens und ökonomischer Verantwortung des Einzelnen. Hesiod hat um all das bereits in Ansätzen gewusst. Die Erkenntnis über die Notwendigkeit der Arbeit um der Möglichkeit willen, das individuelle wie gemeinschaftliche Leben vorausschauend zu leben, zu organisieren und dabei vielleicht auch gut bzw. zumindest in zufrieden stellender Art und Weise leben zu können, ist nicht neu, aber mit Sicherheit immer wieder aktuell. Ohne den zumindest temporär gesicherten Zugang zur Erwerbs- und Lohnarbeit erscheint das alles jedoch heute für viele Menschen kaum möglich zu sein. Die sich gegenüberstehenden Extreme in Bezug auf den Bereich von Arbeit als Notwendigkeit wurden bereits benannt: Der Verlust an Würde aufgrund einer durchrationalisierten Arbeits- und Lebenswelt, bis in sämtliche Lebensbereiche und -beziehungen hinein, die keinen Platz für Muße und zweckfreies Menschsein zulässt, zum einen, sowie der Verlust an Würde aufgrund einer latent vermittelten Unnützlichkeit bzw. Unbrauchbarkeit an den Einzelnen durch die (politische) Gemeinschaft in der Form von andauernder Arbeitslosigkeit, zum anderen. (ii) Leistung als Selbstanspruch: Eine andere Ebene von Mensch und Tätigkeit liegt in dem Selbstanspruch, in-etwas-gut-zu-sein bzw. gut-sein-zu-können, d. h. in der Lage zu sein, Leistung zu erbringen. Mit dem Begriff der Leistung ist das ergon-Verständnis aus der Philosophie der Antike, neben der klassischen Übertragung als ,Werk‘ oder ,Arbeit‘, vermutlich auch am besten getroffen. Dabei muss es sich heute nicht zwingend um berufliche Spezialisierung oder ausschließlich um Formen der beruflichen Aus- bzw. Weiterbildung handeln. Denn es geht auch um allgemeine ausgeprägte oder erlernte Kompetenzen eines Menschen, die einen dazu befähigen, in einem Bereich in der Lage dazu zu sein, Leistung zeigen zu können: Beruf, Musik, Sport, Kunst, im Vereinsleben etc., zumal jeder Mensch Begabungen und Interessen hat, denen er ohne weitere Nutzenorien112

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

tierung und ohne ökonomische Absichten nachgeht. Die Form von Würde, die in diesem Bereich liegt, lässt sich in zweifacher Art und Weise verstehen. Erstens findet der Mensch in dieser Art der Tätigkeit eine Würde gegenüber sich selbst, verstanden als ein Bewusstsein darüber, in einer Tätigkeit bzw. in einem eigens abgesteckten Kompetenzbereich gut zu sein, sowie Kenntnisse, Fähigkeiten und Talente zu haben, die einem gegenüber anderen Menschen abgrenzen oder hervorheben, ihn besonders machen. Dieser Bereich lässt sich in direkte Verbindung mit den Themen des kooperativen Wettstreits und dem Streben nach Exzellenz bringen – wie es in ähnlicher Art und Weise in Bezug auf die gute eris, das kooperative Streben des Menschen, im Kontext zu Hesiod diskutiert worden ist –, worin ebenso Formen des Selbstanspruchs und der Selbstachtung liegen können. Leistung als Selbstanspruch umfasst somit den individuellen Anspruch des Menschen, inetwas-gut-zu-sein. Zweitens eröffnet diese spezielle Tätigkeit dem Einzelnen die Möglichkeit, durch den Mitmenschen Formen zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Anerkennung zu erhalten. In dieser Anerkennung einer Leistung oder Begabung durch den Anderen liegt ein weiterer spezifischer Aspekt der Beziehung von Mensch und Tätigkeit. Durch die Anerkennung einer Leistung wird das Gegenüber in seiner Würde gleichzeitig anerkannt und in seinem Selbstbewusstsein bzw. in seinem eigenen Selbstverständnis wahrgenommen. Nicht zuletzt handelt es sich hierbei um einen jener Bereiche, der die Individualität eines Menschen zu einem guten Teil ausmacht und durch das Erbringen individueller Leistung sichtbar macht. (iii) Tätigkeit als Selbsterfüllung: Das Wesen des Menschen in Bezug auf Mensch und Tätigkeit umfasst nicht alleine die Bereiche Arbeit und Leistung. Auch darum wusste Hesiod, zumal er – wie schon an anderer Stelle angesprochen – den Menschen nicht ausschließlich über den ergon-Begriff bestimmt hat, sondern auch über die anderen fünf politisch-anthropologischen Dimensionen, eris, dikê, oikos, philia und timê. Bereits Hesiod lässt diese Bereiche jedoch nicht alleine nebeneinander stehen, sondern subsumiert diese Lebensbereiche und -beziehungen unter dem Ziel bzw. dem Wunsch des Menschen, eudaimon, d. h. glückselig zu werden.

4.3 Mensch und Schaffen

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Locke hat diesen Gedanken, das Streben des Menschen nach dem Glück, verstanden als das Recht des Menschen auf Selbstentfaltung – wenn auch ohne direkten Bezug zu Hesiod – weiter getragen und als ein gänzlich individuelles Streben des Menschen nach Glück verstanden. Auch Marx ist der Ansicht, dass sich das Wesen des Menschen nicht allein in der Lohn- und Erwerbsarbeit entfaltet, sondern dass dem Menschen die freie und bewusste Tätigkeit eigentümlicher ist als die werktägliche Arbeit. Und Pieper sieht darüber hinaus insbesondere in den Bereichen der Muße, der selbstbestimmten freien Zeit des Menschen, die Möglichkeit des bewussten Menschseins fernab von ökonomischen Zwängen gegeben. Selbsterfüllung ist in diesem Zusammenhang als das zuvor angesprochene individuelle Streben nach Glück zu verstehen, das der Mensch durch freie Tätigkeit verwirklichen kann, losgelöst von Erwerbs- und Lohnarbeit in Zeiten eigenverantworteter Muße. Auch wenn Hesiod über diesen Bereich nicht gesprochen hat, so ist dennoch einer seiner Grundgedanken selbst hierfür in Bezug auf den Bereich von Mensch und Tätigkeit leitend: Der Mensch ist zu einem guten Teil seines eigenen Glückes Schmied, sowie er sich dafür entscheidet, in der eigenen Lebensgestaltung aktiv zu werden, und das eigene Leben dort, wo es möglich und sinnvoll erscheint, selbst gestaltet. Durch Tätigkeit, verstanden als Arbeit, Leistung und Selbsterfüllung, kann der Mensch sein individuelles Leben entfalten. Auf der letzten Ebene der Tätigkeit, Selbsterfüllung verstanden als das Streben nach Glück, ist der Mensch dazu angehalten, das zu tun, was er gerne macht. Denn rund um diese Momente liegt ein Glücksempfinden. Der Mensch mag hierbei unterschiedliche subjektive Entscheidungen, aber, wie es Locke treffend formuliert hat, dennoch die persönlich richtige Wahl treffen. Zweifelsfrei setzt die Tätigkeit als Selbsterfüllung heute eine ökonomisch zumindest temporär abgesicherte Existenz voraus. Arbeit, Leistung und Selbsterfüllung erscheinen somit als die drei primären Zugänge für eine Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Tätigkeit im Rahmen einer politischen Anthropologie, wobei diese drei Bereiche nicht immer voneinander unterschieden sein müssen.

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

4.4 Familie als zentrale Lebensgemeinschaft Der oikos zählt in der Antike zu den zentralen Untersuchungsgegenständen und ist bereits in der frühgriechischen Dichtung Thema, so in Homers Odyssee sowie in besonderer Art und Weise eben auch in Hesiods Werke und Tage (vgl. Kap. 2.4). Das Nachdenken über den oikos als Lebensgemeinschaft brachte den Bereich der Ökonomie hervor, anfänglich verstanden als die Lehre der Haushaltsführung im Rahmen der Haus- und Hofgemeinschaft. Die erste vollständig überlieferte griechische Ökonomik ist der im 4. Jh. v. Chr. entstandene Oikonomikos von Xenophon, ein Dialog über Haus- und Agrarwissenschaft unter der Beteiligung des Sokrates. Bei Aristoteles ist, wie gezeigt, das Nachdenken über den oikos Bestandteil der Politik, aber auch in der Eudemischen Ethik sowie in den pseudoaristotelischen Oikonomika Thema. Alleine mit diesen wenigen Verweisen lässt sich deutlich machen, dass dem oikos als einen zentralen Lebensbereich des Menschen in der Antike ein hoher Stellenwert zugesprochen wurde. Und wiederum ist diese Lebensgemeinschaft ein philosophisches Thema, das bereits Hesiod in seinen Überlegungen angesprochen hat. Die Philosophie der Neuzeit hat das Nachdenken über den oikos zum großen Teil unter dem Aspekt der Philosophie über die Familie geführt, so z. B. G.W.F. Hegel, und sich darüber hinaus gelegentlich auch mit dem antiken oikos-Verständnis auseinandergesetzt, so u. a. Max Weber und Hannah Arendt. Beide Themen, der antike oikos und die Auffassung der Familie in der Neuzeit, sind nicht gänzlich miteinander zur Deckung zu bringen. Ausgehend von Hesiod zeigen sich jedoch dennoch Überschneidungen, die für eine Politische Anthropologie von Bedeutung sind. Anhand von Hegel, Weber und Arendt soll an dieser Stelle die Philosophie der Familie und das neuzeitliche Verständnis des antiken oikos thematisiert werden. Aufgezeigt wird, dass erstens die Familie der wichtigste Bezugspunkt im Leben des Menschen ist, dass sich zweitens der antike oikos nicht auf ,Nutzen‘ oder ,Macht‘ alleine reduzieren lässt, sondern bereits ebenso eine ethische Dimension aufweist, und drittens, dass der Bereich der Familie – und der Bereich des antiken oikos – kein präpolitischer Lebensbereich, sondern ein genuin politischer Bereich ist.

4.4 Familie als zentrale Lebensgemeinschaft

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G.W.F. Hegel hat in den Grundlinien der Philosophie des Rechts auch über die Familie gesprochen, die, gemeinsam mit der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat, „die Gesamtheit möglicher sittlicher Verhältnisse darstellen“ (Horstmann: 2014, 204). Innerhalb der Familie unterscheidet Hegel erstens den Bereich der Ehe, zweitens den Bereich des äußerlichen Daseins, verstanden als das materielle Eigentum der Familie verbunden mit der Fürsorge darum, und drittens den Bereich der Erziehung der Kinder zur Sittlichkeit sowie der dazu gehörenden (später folgenden) Auflösung der Familie – verstanden als die erfolgte Verwirklichung der Selbstständigkeit der Kinder (vgl. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 160). (i) Ehe (§§ 161 – 169), (ii) Eigentum (§§ 170 – 172) und (iii) Erziehung (§§ 173 – 181) sind somit nach Hegel jene Bereiche, in denen sich die Familie entfaltet. (i) Der Bereich der Ehe ist für Hegel die Vereinigung von Mann und Frau, die aber weder auf das physische noch auf den Kontrakt allein und auch nicht ausschließlich auf die Liebe beschränkt ist. Vielmehr soll im Bereich der Ehe die Verbindung dieser drei Elemente verwirklicht werden. Es handelt sich um die Gemeinsamkeit von Mann und Frau in deren individueller Existenz und diese Gemeinsamkeit ist für Hegel in erster Linie ein sittliches Verhältnis, in der Symbiose von Physis, Kontrakt und Liebe. (ii) Der Bereich des Eigentums wird bei Hegel u. a. als gemeinsame Vorsorge für die Deckung der materiellen Bedürfnisse der Lebensgemeinschaft der Familie angesehen: Familie verstanden als eine Form der Gütergemeinschaft. Es handelt sich dabei um gemeinsames Eigentum und – so Hegel – jedes Familienmitglied hat das Recht an diesem Gemeinsamen, an den gemeinsamen Gütern, zu partizipieren. Auch wenn der Mann als Haupt der Familie die Verwaltung des Familieneigentums zu leisten hat, ist die Gütergemeinschaft allen zugänglich bzw. für alle da. (iii) Der Bereich der Erziehung betrifft die Familie als Ganzes. Nach Hegel haben die Kinder das Recht darauf, zum einen aus dem gemeinsamen Familienvermögen heraus ernährt zu werden, zum anderen aber auch das Recht darauf, Erziehung innerhalb der Familie zu erhalten. Denn:

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

»Was der Mensch sein soll, hat er nicht aus Instinkt, sondern er hat es sich erst zu erwerben. Darauf begründet sich das Recht des Kindes, erzogen zu werden« (Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 174).

Die zuvor angesprochene Auflösung des Familienverbands liegt in der Erziehung der Kinder zu eigenständigen, freien Persönlichkeiten begründet, die um die Grundlagen des Lebens des Menschen in Gemeinschaft Bescheid wissen, Orientierung innerhalb der politischen Gemeinschaft haben, womöglich einen Beitrag zur Gestaltung des Gemeinwesens außerhalb der Familie leisten und ihr Leben in Zukunft selbstverantwortet leben werden können. Ist das erreicht und sind die erwachsenen Kinder sittlich und rechtlich dazu in der Lage, ein eigenes Leben zu führen, hat das die Auflösung des Familienverbandes in Bezug auf den Bereich der Erziehung zur Folge. Doch mit der Darstellung dieser drei Bereiche der Familie, der Ehe, des Eigentums und der Erziehung ist noch nicht die Bestimmung der Familie an sich angesprochen. Denn Hegel hält gleich zu Beginn des Abschnitts zur Familie fest: »Die Familie hat als die unmittelbare Substantialität des Geistes seine sich empfindende Einheit, die Liebe, zu ihrer Bestimmung, so dass die Gesinnung ist, das Selbstbewusstsein seiner Individualität in dieser Einheit als an und für sich seiender Wesentlichkeit zu haben, um in ihr nicht als eine Person für sich, sondern als Mitglied zu sein« (Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 158).

Familie bedeutet für Hegel also in erster Linie Gemeinschaft, in der der Einzelne Mitglied, d. h. Teil dieser Gemeinschaft und nicht nur Person für sich selbst, in seiner Individualität, ist. Die Mitgliedschaft in dieser Gemeinschaft impliziert, einen gemeinsamen Lebensraum zu begründen, an dem alle innerhalb des Familienverbandes Anteil haben (wollen). Aber die tatsächliche Bestimmung dieser Gemeinschaft der Familie macht Hegel vor allem in der zwischenmenschlichen Liebe untereinander aus. Wenn hier über die Liebe innerhalb des Familienverbandes gesprochen wird, dann handelt es sich dabei doch um eine überraschend unjuristische Perspektive in Bezug auf eine Philosophie der Familie im Rahmen der Grundlinien der Philosophie des Rechts. 4.4 Familie als zentrale Lebensgemeinschaft

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Auf einen ersten Blick ist es in der Tat verwunderlich, dass Hegel zum einen über die Familie und zum anderen auch über die Liebe innerhalb dieser Lebensgemeinschaft spricht. Der zweite Blick eröffnet allerdings eine politisch-anthropologische Perspektive. Mit der Thematisierung des Lebensbereichs der Familie zeigt sich der besondere – und für Hegel fundamental wichtige – Stellenwert dieser Gemeinschaft für das Leben des Menschen, die neben Ehe, Eigentum und Erziehung vor allem die Verwirklichung der Liebe als Aufgabe hat. In einem Zusatz zu dem § 158 im ersten Abschnitt über die Familie führt Hegel sein Verständnis des Begriffs der Liebe näher aus: »Liebe heißt überhaupt das Bewusstsein meiner Einheit mit einem anderen, so dass ich für mich nicht isoliert bin, sondern mein Selbstbewusstsein nur als Aufgebung meines Fürsichseins gewinne und durch das Mich-Wissen, als der Einheit meiner mit dem anderen und des anderen mit mir. […]. Der erste Moment in der Liebe ist, dass ich keine selbstständige Person für mich sein will und dass, wenn ich dies wäre, ich mich mangelhaft und unvollständig fühle. Das zweite Moment ist, dass ich mich in einer anderen Person gewinne, dass ich in ihr gelte, was sie wiederum in mir erreicht« (Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 158).

Der Fokus ist hier auf die Liebe des Einzelnen zur und innerhalb der Gemeinschaft der Familie gerichtet. Diese Form der Liebe in der Familie bedeutet vor allem Gemeinschaft, ein Wissen um familiäre, d. h. um zwischenmenschliche Einheit. Den Verlust dieser Einheit bezeichnet Hegel als das Gefühl eines Mangels und der Unvollständigkeit des Menschen. Darüber hinaus beinhaltet die Liebe innerhalb der Familie auch ein Nehmen und Geben von Anerkennung. Die Liebe zu anderen Familienmitgliedern bedeutet demnach eine Überwindung des alleinigen Fürsichseins und die liebende Verbindung mit den anderen Familienmitgliedern innerhalb dieser Gemeinschaft. Damit wird auch der politisch-anthropologische Aspekt deutlich, nämlich die zwischenmenschliche Liebe in Gemeinschaft. Hegel ist der Ansicht, dass diese Form der Liebe nur in der Familie verwirklicht werden kann. Denn im Staat, so führt Hegel aus, lässt sich diese Form der zwischenmenschlichen, familiären Liebe nicht mehr finden. Im staatlichen Bereich zählt ausschließlich das Wissen um die Gesetze, die das Zusammenleben des Menschen ordnen. 118

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

Max Weber hat sich in Wirtschaft und Gesellschaft – Grundriss der verstehenden Soziologie u. a. mit Verständnis, Entstehung und Entwicklung des antiken oikos und der modernen Hausgemeinschaft aus historischer und soziologischer Perspektive auseinandergesetzt. Diese Thematisierung ist aus zwei Gründen für das Konzept einer politischen Anthropologie anhand Hesiod von Interesse. Erstens zeigt Weber überaus interessante Konnotationen, aber auch deutliche Unterschiede zwischen oikos und Hausgemeinschaft auf, die eine Verbindung herstellen lassen zu einer aktuellen Perspektive über die Philosophie der Familie. Zweitens spricht Weber dabei allerdings einen zentralen Bereich der Gemeinschaft des antiken oikos nicht an, der jedoch für das Zusammenleben im modernen Familienverband unverzichtbar ist und bereits im antiken oikos erkennbar gewesen ist, so wiederum z. B. bei Hesiod. Die zentrale Aufgabe des antiken oikos sieht Weber in der unmittelbaren organisierten Bedarfsdeckung gegeben, wobei er dieser eher allgemeinen Bestimmung zwei weitere Bestimmungen hinzufügt. Der oikos im antiken Verständnis ist erstens als ein autoritär gebildeter Großhaushalt zu verstehen, der zweitens als letztes Leitprinzip ausschließlich die naturale Deckung des Bedarfs des Herren im oikos verfolgt hat (vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft 2, III § 7). Weber nimmt also insbesondere die wirtschaftliche Perspektive des antiken oikos in den Fokus und trifft mit der Bestimmung des oikos als ökonomische Versorgungsgemeinschaft eine sicherlich treffende Analyse. Und die Bereiche von Autorität und Patriarchat gehören zweifelsfrei zum Verständnis des antiken oikos dazu. Auffallend ist jedoch, dass Weber in seinen historisch-soziologischen Überlegungen keine genuin ethische Perspektive des antiken oikos anspricht – ein Bereich, den jedoch bereits Hesiod in Werke und Tage thematisiert, wenn er darüber spricht, dass inerhalb des oikos keine Schamlosigkeit, keine Willkür und kein Unrecht ausgeübt werden sollen (vgl. Kap. 2.4). Es ist Hesiod, der die Notwendigkeit einer politischen Ethik im oikos erkannt hat und somit die Bereiche Autorität und Patriarchat mindestens ergänzt sowie die Wichtigkeit eines grundlegenden moralischen Bewusstseins im Zusammenleben im oikos aufzeigt.

4.4 Familie als zentrale Lebensgemeinschaft

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Die moderne Hausgemeinschaft hat Weber umfassender analysiert als den antiken oikos. Doch auch hier stehen die Themen Wirtschaft und Autorität im Zentrum, wobei Weber im Rahmen dieser Auseinandersetzung den Bereich des unmittelbaren Lebens in Gemeinschaft stärker hervorhebt. »Die Hausgemeinschaft ist nicht universell gleich umfassend. Aber sie stellt dennoch die universell verbreitetste ,Wirtschaftsgemeinschaft‘ dar und umfasst ein sehr kontinuierliches und intensives Gemeinschaftshandeln. Sie ist die urwüchsige Grundlage der Pietät und Autorität, der Grundlage zahlreicher menschlicher Gemeinschaften außerhalb ihrer. Der ,Autorität‘ 1. des Stärkeren, 2. des Erfahreneren, also: der Männer gegenüber Frauen und Kindern, der Wehrhaften und Arbeitsfähigen gegenüber den dazu Unfähigen, der Erwachsenen gegenüber den Kindern, der Alten gegenüber den Jungen« (Weber: Wirtschaft und Gesellschaft 2, III § 1).

Neben den Bestimmungen über Wirtschaft und Autorität sind zwei weitere Aspekte auffällig. Zum einen der Bereich der Hausgemeinschaft verstanden als kontinuierliches und intensives Gemeinschaftshandeln. Trotz der patriarchalen Perspektive spricht Weber in Bezug auf die Hausgemeinschaft von einer kollektiven Zusammenarbeit im weiteren Sinne, wo jede und jeder das Seine zum Gelingen des Zusammenlebens beiträgt, zumindest aus wirtschaftlicher Perspektive. Zum anderen schreibt Weber, dass die Hausgemeinschaft als die Grundlage vieler anderer menschlicher Gemeinschaften verstanden werden kann, womit an dieser Stelle die konstitutive Bedeutung der Hausgemeinschaft sichtbar wird und sich so eine Sichtweise auf das Leben des Menschen innerhalb von Gemeinschaft aus moralischer Perspektive entwickeln lässt. Hausgemeinschaft bedeutet nach Webers Analyse „Solidarität nach außen und kommunistische Gebrauchs- und Verbrauchsgemeinschaft der Alltagsgüter (Hauskommunismus) nach innen“ (Weber: Wirtschaft und Gesellschaft 2, III § 1). Weber sieht dieses Prinzip des Hauskommunismus bis in die Familie der Gegenwart hinein erhalten. In seiner Ausführung dazu wird dabei eine politischethische Perspektive der modernen Hausgemeinschaft angesprochen:

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

»Der hauskommunistische Grundsatz, dass nicht ,abgerechnet‘ wird, sondern dass der Einzelne nach seinen Kräften beiträgt und nach seinen Bedürfnissen genießt, (soweit der Gütervorrat reicht), lebt noch heute als wesentlichste Eigentümlichkeit der Hausgemeinschaft unserer ,Familie‘ fort, freilich nur als ein auf den Haushaltskonsum beschränkter Rest« (Weber: Wirtschaft und Gesellschaft 2, III § 1).

Hier zeigt sich eine rudimentäre politisch-ethische Dimension der modernen Hausgemeinschaft, der heutigen Familie. Alle haben das Ihre zum Gelingen des Lebens in dieser Gemeinschaft beizutragen, und „Hausgemeinschaft ist eben mehr als eine ,Hausbeziehung‘“ (Stachura: 2014, 289). Doch an dieser Stelle lässt sich auch eine andere, bemerkenswerte Beobachtung Webers festhalten, die eine genauere Betrachtung erfordert: die moderne Hausgemeinschaft in ihrer Beschränkung auf den Haushaltskonsum. Zuvor muss noch ein anderer – zumindest – sozialpolitischer Lebensbereich Erwähnung finden, den Weber ebenso thematisiert. Er spricht von drei grundlegenden politischen Gemeinschaften: der Hausgemeinschaft, der Nachbarschaftsgemeinschaft sowie von der Gemeinde. Weber führt – ähnlich wie Hesiod, jedoch ungleich genauer – aus, dass der außerordentliche Bedarf an Leistungen bei besonderen Gegebenheiten, also in akuten Notlagen und Gefährdungen der Hausgemeinschaft, durch eine andere, größere Form des Gemeinschaftshandelns gedeckt wird, das über die einzelne Hausgemeinschaft hinausgreift: nämlich die Hilfe der Gemeinschaft der Nachbarschaft. Weber meint, dass diese Form des Gemeinschaftshandelns, das die Nachbarschaftsgemeinschaft ausmacht, unterschiedliche regionale Intensitäten aufweist und „unter Umständen, speziell unter modernen städtischen Verhältnissen, zuweilen bis dicht an den Nullpunkt“ sinken kann (Weber: Wirtschaft und Gesellschaft 2, III § 2). Mit diesem Bereich, der über die einzelne Hausgemeinschaft hinausgeht, zeigt Weber eine aus soziologischer Sicht deutliche soziale, zuweilen auch ethische Komponente des Lebens des Menschen in Gemeinschaft auf. Weber hat in dem vorherigen Zitat aus Wirtschaft und Gesellschaft davon gesprochen, dass der hauskommunistische Grundsatz bis in die heutige Familie erhalten geblieben ist, wenn auch bloß als ein auf den reinen Hauskonsum beschränkten Rest. An einer anderen Stelle führt 4.4 Familie als zentrale Lebensgemeinschaft

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er dazu genauer aus, was damit gemeint ist, und zeigt dabei gleichzeitig deutliche Unterschiede zwischen dem antiken oikos, der modernen Haushaltsgemeinschaft und der aktuellen Familie auf: »Abgesehen davon, dass die Sicherheitsgarantie für ihn [Anm.: den Einzelnen] nicht mehr durch Haus und Sippe, sondern durch den anstaltsmäßigen Verband der politischen Gewalt geleistet wird, haben ,Haus und Beruf‘ sich auch örtlich geschieden und ist der Haushalt nicht mehr Stätte gemeinsamer Produktion, sondern Ort gemeinsamen Konsums. Der Einzelne empfängt ferner seine gesamte Schulung für das Leben, auch das rein persönliche, zunehmend von außerhalb des Hauses durch Mittel, welche nicht das Haus, sondern ,Betriebe‘ aller Art: Schule, Buchhandel, Theater, Konzertsaal, Vereine, Versammlungen, ihm liefern« (Weber: Wirtschaft und Gesellschaft 2, III § 6).

Weber ortet in seinen historisch-soziologischen Untersuchungen eine verlaufende „grundstürzende Änderung der funktionellen Stellung der Hausgemeinschaft, welche derart verschoben ist, dass für den Einzelnen zunehmend weniger Anlass besteht, sich einem kommunistischen großen Haushalt zu fügen“ (Weber: Wirtschaft und Gesellschaft 2, III § 6). Diese Stürzungen macht er in einem vierfachen Wandel aus. Erstens ortet Weber eine Verschiebung der Sicherheitsgarantie innerhalb der Hausgemeinschaft vom einzelnen Haus hin zum Staat und der staatlichen Obsorge. Zweitens spricht er eine hervorgekommene örtliche Trennung von Haus und Beruf an. Drittens ist damit verbunden auch die Tatsache, dass die Hausgemeinschaft – und heute die Familie – nicht mehr Ort der gemeinsamen Produktion, sondern des gemeinsamen Konsums geworden ist. Viertens ist für Weber nicht zuletzt mit der Verschiebung der genannten Örtlichkeiten verbunden, dass die persönliche Entwicklung (Selbstbewusstsein, Erziehung, Anerkennung, …) kaum noch innerhalb des Familienverbandes stattfindet, sondern außerhalb, wie eben z. B. in der Schule, in Vereinen bzw. anderen externen Gemeinschaften oder Einrichtungen. »Er [Anm.: der Einzelne] kann die Hausgemeinschaft nicht mehr als die Trägerin derjenigen objektiven Kulturgüter anerkennen, in deren Dienst er sich stellt, […]. […]. Auch dort wo die Hauseinheit äußerlich ungetrennt erhalten bleibt, schreitet im Verlauf der Kulturentwicklung der 122

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

innere Zersetzungsprozess des Hauskommunismus durch die zunehmende ,Rechenhaftigkeit‘ unaufhaltsam fort. […]. An die Stelle der ,geborenen‘ Teilnahme am Gemeinschaftshandeln des Hauses mit seinen Vorteilen und Pflichten ist also eine rationale Vergesellschaftung getreten. Der Einzelne wird in die Hausgemeinschaft zwar ,hineingeboren‘, aber er ist als Kind schon potentieller ,Kommis‘ und ,Kompagnon‘ des rational geordneten Erwerbsgeschäfts, welches durch die Gemeinschaft getragen wird. Es liegt offen zutage, dass eine solche Behandlung erst auf dem Boden reiner Geldwirtschaft möglich wurde und dass deren Entfaltung also die führende Rolle bei dieser inneren Zersetzung spielt« (Weber: Wirtschaft und Gesellschaft 2, III § 6).

Weber hält fest, dass die Änderung der funktionellen Stellung der Hausgemeinschaft in der Neuzeit auf einen inneren Zersetzungsprozess des Prinzips des Hauskommunismus zurückzuführen ist, der sich bis in die heutige Gemeinschaft der Familie hinein fortgesetzt hat (und vermutlich auch weiter fortsetzen wird). Den Hauptgrund dafür sieht Weber in einer rationalen Vergesellschaftung, verstanden als eine zunehmende Berechenbarkeit sämtlicher Lebensbereiche. Hannah Arendt hat in Vita Activa oder Vom tätigen Leben sich ähnlich wie Weber mit dem antiken oikos auseinandergesetzt und dabei den Versuch unternommen, die Grundlage des politischen Denkens der griechischen Antike in ihrer Gesamtheit zu charakterisieren. Beide Bereiche, das antike oikos-Verständnis und das antike griechisch-politische Denken, sind für eine aktuelle Philosophie der Familie aus politisch-anthropologischer Perspektive von Interesse. Am Rande: In einer Fußnote bezeichnet Arendt Hesiod – vor allem im Vergleich mit Homer – als den „einzigen griechischen Dichter von Format“ (Arendt: Vita activa, 423 – 424). Der oikos ist für Arendt ein Lebensbereich, der insbesondere aus der Tatsache der biologischen und ökonomischen Notwendigkeiten des Lebens des Menschen heraus verstanden werden muss. »Die Sphäre des Haushalts war dadurch ausgezeichnet, dass das Zusammenleben in ihr vornehmlich von den menschlichen Bedürfnissen und Lebensnotwendigkeiten diktiert war. […]. Das natürliche Zusammenleben im Haushalt hatte daher seinen Ursprung in der Notwendigkeit, und Notwendigkeit durchherrschte alle Tätigkeiten, die in diesen Bereich fielen« (Arendt: Vita activa, 40).

4.4 Familie als zentrale Lebensgemeinschaft

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Das stärkste Motiv des Zusammenlebens im oikos, in der Sphäre des Haushalts, ist also nach Arendt das Bedürfnis der Deckung des Bedarfs individueller Lebensnotwendigkeiten in Gemeinschaft gewesen. Diese Notwendigkeit, so Arendt, war das Grundmotiv aller anderen auf den oikos bezogenen Tätigkeiten. Die Notwendigkeitsgemeinschaft in der griechischen Antike, den Haushaltsbereich, bezeichnet sie als „präpolitisches Phänomen“ (Arendt: Vita activa, 41). Ein weiteres Charakteristikum des präpolitischen Phänomens oikos macht Arendt in der „präpolitischen Art des Menschenumgangs“ aus, vor allem in Bezug auf die despotische Machtausübung des Familienoberhaupts (vgl. Arendt: Vita activa, 37). An anderer Stelle spricht Arendt diesbezüglich von einem „präpolitischen Zwang, den der Herr über die Familie und ihre Sklaven ausübte“ (Arendt: Vita activa, 42). Der oikos ist für Arendt also erstens ein präpolitischer Lebensbereich in seiner Gesamtheit, zweitens eine unmittelbare Notwendigkeitsgemeinschaft und drittens ein Lebensbereich despotischer Herrschaft. Der politische Lebensbereich des Menschen ist hingegen nach Arendts Verständnis nicht im oikos, sondern ausschließlich in der politischen (Bürger-)Gemeinschaft der Polis auszumachen: »Griechischem Denken gemäß ist die menschliche Fähigkeit für politische Organisation von dem naturhaften Zusammenleben, in dessen Mittelpunkt das Haus und die Familie stehen, nicht nur zu scheiden, sie steht sogar in einem ausgesprochenen Gegensatz dazu« (Arendt: Vita activa, 35).

Jeder Bürger, so setzt Arendt fort, gehörte zwei Seinsordnungen an. Zum einen dem privaten Haus, dem oikos, verstanden als ein präpolitischer Lebensbereich. Zum anderen gehört er der öffentlichen Polis an, ihrer politischen Gemeinschaft und den politischen Gremien, verstanden als ein spezifisch politischer Lebensbereich. Diese Trennung bezeichnet Arendt als die „axiomatische Grundlage des gesamten politischen Denkens der Antike“ (Arendt: Vita Activa, 39). Die Grundlage von präpolitisch und politisch, von privat und öffentlich, von oikos und Polis, ist für Arendt die konstitutive Perspektive des antiken griechischen politischen Denkens schlechthin. Und diesen Polen ordnet sie darüber hinaus die Bereiche ,leben‘ und ,gut leben‘ zu. 124

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

»Ohne der Lebensnotwendigkeiten im Haushalt Herr geworden zu sein, ist weder Leben noch ,Gut-Leben‘ möglich, aber Politik existiert niemals einfach um des Lebens willen. Was die Bewohner der Polis betrifft, so existiert für sie das Leben innerhalb des Haushaltsbereichs lediglich um des ,Gut-Lebens‘ in der Polis willen« (Arendt: Vita activa, 47).

Arendt hat viele Bereiche des antiken oikos-Verständnisses und des antiken politischen Denkens treffend beschrieben. Anzumerken ist jedoch, dass Ausrichtung und Intensität mancher Bestimmungen Korrekturen bedürfen. So (i) die ausschließliche Betrachtung des Zusammenlebens im oikos unter dem Aspekt despotischer (Herren-) Herrschaft, (ii) die Reduktion des oikos auf die Deckung unmittelbarer Lebensbedürfnisse sowie die Reduzierung des Hauses auf den Bereich des einfachen (privaten) Lebens gegenüber dem (öffentlichen) guten Leben und (iii) das deutlich überzogene Spannungsverhältnis zwischen oikos und Polis, vielmehr aber die Kategorisierung des oikos als ausschließlich präpolitischen Lebensbereich des Menschen. (Zur „fatalen Neigung Arendts, in antithetischen Gegensatzpaaren zu denken“ vgl. Ottmann: 2010, 410.) (i) Wie bereits mit Weber festgehalten, ist der Bereich von Herrschaft bzw. von Autorität zweifelsfrei ein Kennzeichen des Zusammenlebens im antiken oikos gewesen, jedoch nicht allein. Denn neben dieser Herrschaftsperspektive ist der oikos ebenso als Sozialgemeinschaft zu verstehen, im engeren Sinne auch als das familiäre Zusammenleben in Gemeinschaft. Über die Bedeutung dieser Notwendigkeit des Zusammenlebens, nicht nur aus biologischer oder wirtschaftlicher, sondern auch aus sozialer Perspektive, hat bereits Hesiod nachgedacht. Die Werke und Tage zeigen, dass das Leben im oikos nicht bloß auf die Bereiche von Autorität und Wirtschaft begrenzt ist, sondern bereits die Grundlegung der potentiellen Verwirklichung der eudaimonia des Menschen beinhaltet. (ii) Die Bereiche Wirtschaft und Autorität innerhalb des oikos müssen daher ebenso mit dem Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen in Verbindung gebracht werden: Vater-Mutter, ElternKinder mit Großeltern, Bediensteten, selbst mit den Sklaven etc. So wird deutlich, dass die antike Hausgemeinschaft in ihrem Zusammenleben weiters nicht auf die Deckung der bloßen Lebensnotwendigkeiten beschränkt werden kann, sondern darüber hinausgehend 4.4 Familie als zentrale Lebensgemeinschaft

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auch den Lebensbereich der Familie aus familiärer Perspektive zwangsläufig mit beinhaltet haben muss. Nicht zuletzt macht sich Hesiod in Werke und Tage u. a. auch Gedanken über seine familiäre Bindung zu – bzw. über seine familiäre Beziehung mit – seinem Bruder Perses. (iii) Allein die Bestimmung des oikos als Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft und darüber hinausgehend auch als familiärer Lebensbereich des Menschen in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen macht deutlich, dass der oikos kein präpolitischer, sondern ein politischer Bereich im weiteren Sinne ist, der alle Facetten des politischen Lebens des Menschen im engeren Sinne bereits im Grundriss aufzeigt: Autorität bzw. Macht, Wirtschaft, Soziales, Erziehung, Pflichten, Verantwortung, Beziehungen, Familie sowie Ethik. Und wenn bereits Hesiod moralische Grundlinien für das Zusammenleben im oikos aufstellt, wird somit klar, dass der oikos, die Hausgemeinschaft und die Familie, schon alleine aufgrund des Zusammenlebens in Gemeinschaft auch einen ethischen Lebensbereich, in welcher Intensität auch immer, aufweist. In Bezug auf den antiken oikos kann daher ohne Vorbehalt, insbesondere mit dem Familienverband im Fokus, von einer politischen Ethik innerhalb dieser Gemeinschaft gesprochen werden. Die neuzeitliche Hausgemeinschaft hingegen sieht Arendt im Vergleich zum antiken oikos aus einer anderen Perspektive, die an die zuvor geäußerten Korrekturen anknüpft. Bereits in der Gesellschaft der Neuzeit sei, so Arendt, zu erkennen, dass der Haushalt (zuvor rein privat) und das Politische (zuvor rein öffentlich) in großen Teilen miteinander verbunden worden ist. Das Problem, den antiken oikos mit den Entwicklungen der Neuzeit zu vergleichen, liegt für Arendt somit vor allem darin, dass „die Neuzeit das Gesellschaftliche nicht eigentlich vom Politischen scheidet und unterscheidet“ (Arendt: Vita activa, 43). Die Verflechtung von Gesellschaft – bzw. treffender von Gemeinschaft – und Politik ist allerdings bereits in der antiken politischen Theorie zu erkennen. Für Hesiod ist der oikos in erster Linie Gemeinschaft und – auch das lässt sich in Werke und Tage erkennen – die Gemeinschaft der Familie ist die wichtigste Lebensgemeinschaft des Menschen. Hesiod ist davon so sehr überzeugt, dass er sogar die Empfehlung ausspricht, an der Politik der Polis so wenig wie möglich 126

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

zu partizipieren, um nicht die Fürsorge für den oikos aus dem Blickfeld zu verlieren. Die Grundüberzeugung ist davon jedoch unberührt: Das Leben des Menschen im Familienverband impliziert bereits die wichtigsten Lebensbereiche und Lebensbeziehungen des Menschen und ist aus ökonomischer, sozialer, politischer und ethischer Perspektive der zentrale Lebensraum des Menschen. Darüber hinaus – und dazugehörend – hat auch die Frage nach dem guten und gelingenden Leben und dem Streben nach der eudaimonia einen berechtigten Stellenwert innerhalb dieser Form des Zusammenlebens. Dieter Thomä hat den Bereich der Familie ebenso über die Themen Wirtschaft, Soziales und Politik (sowie über das rein biologische) hinausgehend gedacht und spricht vielmehr von Zusammengehörigkeit, von Gemeinschaft und von Vertrautheit innerhalb des Lebensbereichs des Familienverbandes. »Die Zusammengehörigkeit, die Eltern und Kinder, jenseits von Projektionen und Identifikationen, empfinden, beruht nicht nur auf biologischen Fakten, sie entsteht vielmehr vor allem dadurch, dass Eltern und Kinder ihr Leben gemeinsam leben, miteinander teilen. Die Bejahung des gemeinsamen Lebens, die Kindern und Eltern naheliegt, scheint statt formaler Übereinkunft oder zeitweiser Gemeinschaft eine besondere Form von Zusammengehörigkeit, von Vertrautheit zu schaffen« (Thomä: 2002, 167).

Einen besonderen Stellenwert, verbunden mit einer besonderen Verantwortung innerhalb der Familie, gibt Thomä den Eltern, die vor allem – aber nicht ausschließlich – in Zeiten der Not „ersatzlos, alternativlos verantwortlich für die Bewahrung und Förderung des Lebens ihres Kindes“ sind (Thomä: 2002, 187). Jedoch weiß Thomä gleichzeitig, dass die Familie, insbesondere heute, eine „subtile, fragile, riskante Lebensform“ ist (Thomä: 2002, 199), die auf gesellschaftspolitische Entwicklungen reagiert und dass sich dadurch auch das Zusammenleben innerhalb der Familie verändert. Statt des unmittelbaren Lebens »[…], trifft man nämlich immer öfter auf ein ausgedünntes, seltsam erlahmtes Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Im sozialen Stauraum Familie gibt es Ermüdungserscheinungen. Eltern- und KinderWelten haben sich in den letzten Jahren immer weiter voneinander

4.4 Familie als zentrale Lebensgemeinschaft

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entfernt. Die Familie scheint sich von einem Stauraum in einen sozialen Hohlraum zu verwandeln. […]. Offensichtlich büßt die Familie ihr Privileg als offizielle ,Sozialisationsagentur‘ für Heranwachsende ein; sie verliert im Vergleich zum Kreis der Clique und der Medien rapide an Einfluss. Zu fragen ist, wieweit die Funktionen, die die Familie als weicher Kern der Gesellschaft bislang erfüllt hat, durch andere Instanzen aufgefangen und ersetzt werden können« (Thomä: 2002, 191).

Die angesprochenen Ermüdungserscheinungen innerhalb des Familienlebens tragen nach Thomä ein Zerstörungspotential in sich, das Beziehung, Gemeinschaft und daher auch nicht zuletzt die Familie zersetzt. Diese Zerstörungspotentiale seien mit einer gewissen Leichtfertigkeit in Politik und Ökonomie in Kauf genommen und vorangetrieben worden. Dabei liegt die Bedeutung des gelingenden Lebens innerhalb der Gemeinschaft der Familie auf der Hand: »Wenn sie hält, was sie verspricht, dann finden Kinder in ihr ein Vertrauen, das nirgends sonst zu finden ist. Sie werden geliebt – ohne Sonderkonditionen, ohne Verfallsdatum, ohne Beweisnot. Müssen sie diese Liebe entbehren, dann fällt ein Schatten auf alle Beziehungen, die sich ansonsten anbieten« (Thomä: 2002, 192).

Thomä weist weiters einen genuin ethischen Bereich des Lebens in der Familie aus, der wiederum deutlich macht, dass in dem Zusammenleben im Familienverband nicht nur Wirtschaftlichkeit und Sozialität einen berechtigten Stellenwert haben, sondern auch der Bereich des Ethischen und damit verbunden letztendlich auch ein Bereich des Politischen im weiteren Sinne. »Die Ethik kommt nämlich nicht erst durch das Pflichtenheft des erwachsenen Lebens in die Erziehung hinein; die Ethik menschlichen Zusammenlebens steckt vielmehr schon in dem Gefühl der Zusammengehörigkeit, indem man – ob Kind oder Erwachsener – am Leben der anderen teilhat und sich über alle Gegensätze hinweg mit anderen verbunden fühlt« (Thomä: 2002, 198).

Der Lebensbereich der Familie lässt sich heute, sicherlich unter Möglichkeit der Hinzunahme vieler anderer, zusätzlicher Aspekte und Themen, insbesondere in drei Kernbereichen ausmachen: (i) Familie als Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft, (ii) Familie als po128

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

litischer Lebensbereich, (iii) Familie als Verwirklichung unmittelbarer Liebe. Trotz der von Weber konstatierten rationalen Vergesellschaftung sämtlicher Lebensbereiche und den damit verbundenen unterschiedlichen Zersetzungstendenzen der Gemeinschaft der Familie, auch trotz der Perspektive Arendts auf die Familie als eine Form der Notwendigkeitsgemeinschaft, bleibt Hegels Auffassung in ihrer Gesamtheit aktuell: Die Familie ist einer der wichtigsten Lebensbereiche und beinhaltet die wichtigsten Lebensbeziehungen des Menschen in Gemeinschaft. Aus politisch-anthropologischer Perspektive steht außer Frage, dass das Zusammenleben innerhalb der Familie für viele Menschen eine der wichtigsten Lebensformen ist. In diesem vorliegenden Zugang zu einem grundlegenden Verständnis einer Philosophie der Familie im Kontext einer politischen Anthropologie steht deshalb nicht die Frage im Vordergrund, ob diese Art der (politischen) Lebensform des Menschen richtig oder unrichtig, natürlich oder unnatürlich ist. Vielmehr geht dieser Ansatz von der soziologischen wie gesellschaftspolitischen Tatsache aus, dass zum einen das Leben im Familienverband auch aktuell ein zentraler Lebensbereich vieler Menschen in unterschiedlichen Kulturen ist, sowie zum anderen davon, dass die Familie zumeist der erste Raum zwischenmenschlicher Begegnungen im Laufe des Lebens ist, die ein Mensch in seinem Leben wahrnimmt, wie auch immer dieser Raum, zumeist als Familie bezeichnet, definiert, gestaltet oder ausgeprägt sein mag. (i) Familie als Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft: Die Familie ist nach wie vor – und ohne Zweifel – ebenso heute, wobei nicht ausschließlich, als eine Form von Wirtschaftsgemeinschaft zu verstehen. Die Für- und Vorsorge zur Deckung dringlicher Lebensbedürfnisse aller Familienmitglieder (Wohnen, Ernährung, Freizeit, …) aus ökonomischer Perspektive, verstanden als das Wirtschaften im eigenen Haus(-halt) mit den zur Verfügung stehenden erwirtschafteten Mitteln (Besitz, Eigentum, Geld, …) steht dabei im Vordergrund. Trotz aller angesprochenen Veränderungen, dem Wandel im Verständnis des Zusammenlebens vom oikos bis hin zur Hausgemeinschaft, ist diese wirtschaftliche Perspektive immer noch ein Kernbereich des Lebens in der Gemeinschaft der Familie und hat vielfach oberste Priorität.

4.4 Familie als zentrale Lebensgemeinschaft

129

Die Familie ist darüber hinausgehend jedoch auch als Sozialgemeinschaft zu verstehen. Die gemeinsame wirtschaftliche Fürsorge impliziert ein intensives Gemeinschaftsleben und -handeln aus zwischenmenschlicher bzw. aus sozialer Perspektive. Das Aus- und das Zurechtkommen der Menschen untereinander innerhalb der Familiengemeinschaft hat somit zwangsläufig eine soziale Dimension in sich, ohne die ein Leben in Gemeinschaft, innerhalb der Familie oder darüber hinaus, nicht denkbar ist. Im besten Fall bildet sich durch diese Art und Weise des Zusammenlebens ein Urvertrauen des Menschen in das Leben in Gemeinschaft, d. h. ein Bewusstsein über die Notwendigkeit und den Wert des Lebens in Gemeinschaften auch über den Familienverband hinaus. Denn die Familie stellt nicht nur aus wirtschaftlicher Perspektive einen Raum der Sicherheit dar, sondern auch aus sozialer, d. h. in diesem Falle auch aus gemeinschaftlicher Perspektive. Beide Bestimmungen, die Familie verstanden als Wirtschafts- und als Sozialgemeinschaft, sind keine trivialen oder nebensächlichen Ausführungen, sondern sie sind die Grundvoraussetzung für jegliche weiteren Entwicklungen und Interaktionen im Familienverband. Die Deutlichkeit dieser Notwendigkeit ist daher für eine Politische Anthropologie unverzichtbar und muss – vielleicht stärker denn je – hervorgehoben werden. Weber hat (wie gezeigt) vielfache Verschiebungen der Lebensbereiche der Hausgemeinschaft und der Familie, die bis heute ihre Gültigkeit haben, aufgezeigt: Die mittlerweile weit verbreitete Trennung von Haus und Beruf, der Wandel von einer Produktionsgemeinschaft hin zu einer Konsumgemeinschaft, die Auslagerung von Bildung und damit verbunden auch von Erziehung von der Familie in die Gesellschaft deuten nun darauf hin, dass ein Familienverband heute ohne wirtschaftliche Perspektive, deren Grundlagen zumeist außerhalb der Familie liegen, über kurz oder lang keine innerfamiliäre – d. h. auch keine sozialen – Perspektiven hat. Denn ohne eine wirtschaftliche Grundlage und Absicherung des eigenen Familienverbands kann die Familie heute an den anderen genannten Lebensbereichen (Konsum, Ausbildung, Bildung, …) nicht ausreichend bzw. umfassend partizipieren, wodurch u. a. die Bestimmung der Familie als Sozialgemeinschaft grundlegend konterkariert wird.

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

(ii) Familie als politischer Lebensbereich: Mit den wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen der Familiengemeinschaft ist die Grundlage für das Verständnis der Familie als politische Gemeinschaft mitbegründet. Also jener Bereich, den Arendt in Bezug auf den antiken oikos verneint bzw. ausgeschlossen hat. In den folgenden Ansätzen geht es allerdings darum, zu zeigen, dass das Leben in der Gemeinschaft der Familie nicht auf Wirtschaft und Soziales beschränkt ist, sondern auch den Bereich des Politischen im weiteren Sinne miteinschließt. Die Familie ist ein Lebensraum, der, über wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten hinausgehend, ein Bewusstsein des Politischen an sich und der politischen Praxis in sich trägt. Bei diesen Zugängen handelt es sich um nach innen gerichtete politische Perspektiven im weiteren Sinne, die sich mindestens in drei Bereichen ausfindig machen lassen können. Erstens ist mit der Familie als Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft die Möglichkeit der individuellen Persönlichkeitsentwicklung für alle gegeben. Sowohl für die Erwachsenen als auch und insbesondere für die Heranwachsenden. Dieser individuelle Aspekt, trotz des Lebens in der Gemeinschaft des Familienverbands, ist eine konstitutive Perspektive dieser Lebensgemeinschaft: der Mensch in seinem Bewusstsein als Individuum innerhalb und daher als Teil der Gemeinschaft der Familie. Politisch ist dieser Bereich daher zweifach. Zum einen aufgrund des Lebens als Individuum innerhalb von Gemeinschaft. Der Mensch steht als Teil der Gemeinschaft der Familie nicht nur in einem wirtschaftlichen oder sozialen Verhältnis, sondern auch in einem zwischenmenschlich-politischen Spannungsverhältnis, eben weil er Individuum in Gemeinschaft ist. Zum anderen ist die Familie auch deshalb als politisch im weiteren Sinne zu verstehen, weil hier von einem zwischenmenschlichen Umgang der Menschen untereinander, von individuellen Persönlichkeiten, die Rede ist, der über die Bereiche Wirtschaft und Soziales hinausgeht und sich nicht ausschließlich auf die Gemeinschaft innerhalb der Familie bezieht, sondern ebenso andere zwischenmenschliche Erfahrungen und Normen mitträgt. Es handelt sich im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung um die Zusammenführung von (internen) Erfahrungen aus dem politischen Raum der Familie im weiteren Sinne sowie von (externen) sozialen und gesellschaftspolitischen Erfahrungen aus dem politischen Raum im engeren Sinne. 4.4 Familie als zentrale Lebensgemeinschaft

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Zweitens ist also die Gemeinschaft der Familie der ursprüngliche Raum der Erziehung der Kinder mit dem Ziel, diese u. a. zu selbstbestimmten, mündigen und freien Menschen zu erziehen, damit sie sich in ihrer Individualität auch in anderen bzw. größeren Gemeinschaften orientieren und eventuell einen Beitrag innerhalb dieser anderen Gemeinschaften leisten können. Spätestens hier wird die Bedeutung der Familie als politischer Lebensbereich im weiteren Sinne deutlich. Es ist der Bereich der Erziehung, der dieses zweite Moment des Politischen innerhalb der Familie ausweist. Autorität, Führung und Rückhalt durch die anderen Familienmitglieder sind dabei einige von vielen unterschiedlichen Aspekten, die die politische Perspektive des Familienverbands deutlich machen. Denn die Erziehung soll, wie einleitend zu diesem zweiten Zugang erwähnt, über die wirtschaftlichen und sozialen Bereiche hinausgreifen und Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zur Entwicklung geben. Vielfach ist dieser Bereich jedoch nicht mehr innerhalb der Familie, sondern außerhalb von ihr Gegenstand, was wiederum zu einem politischen Spannungsverhältnis zwischen der internen Gemeinschaft der Familie und den externen Gemeinschaften außerhalb der Familie führt. Drittens ist auch die Ordnung innerhalb der Familie, wie immer diese im Konkreten ausgestaltet sein mag, eine politische Ordnung im weiteren Sinne, die, wie das Familienbild an sich, unterschiedliche Ausprägungen und Intensitäten, teilweise kulturgebunden, annimmt. Das Zurechtkommen des Individuums innerhalb familiärer Ordnung kann daher die Grundlage jener Möglichkeiten sein, sich auch in anderen politischen Ordnungen außerhalb der Familie, in allen anderen möglichen sozialen Gefügen zurechtzufinden. Dieser Aspekt der Ordnung innerhalb der Familie ist schließlich auch bei Hegel, Weber oder Arendt Thema. Aus all diesen nach innen gerichteten Perspektiven des Politischen in Bezug auf die Familie, Persönlichkeitsentfaltung sowie Erziehung als auch Familienordnung wird nach außen, vom Familienverband ausgehend und diesen übergreifend, sichtbar, dass die Rahmenbedingungen für die Möglichkeiten der Gestaltung des Familienlebens in Gemeinschaft auch politisches Thema im engeren Sinne, somit der Politik und des Staates, sein muss. Alle genannten Bereiche, wie Persönlichkeitsentfaltung, Erziehung und Familienordnung und darüber hinaus auch die Perspektive der Familie als Wirtschafts- und 132

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

Sozialgemeinschaft, verlangen innerhalb des Staates zumindest umfassende gesellschaftspolitische Akzeptanz des Lebens in der Gemeinschaft der Familie – besser noch nach einer umfassenden staatlichen Unterstützung dieser Lebensform. (iii) Familie als Verwirklichung unmittelbarer Liebe: Am Ende der skizzenhaften Betrachtung einer Philosophie der Familie im Kontext zur politischen Anthropologie steht der von Hegel angesprochene Bereich der Verwirklichung unmittelbarer Liebe innerhalb der Familie. Die zwischenmenschlichen Beziehungen im Familienverband gründen sich nicht alleine in den wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Bereichen, sondern haben darüber hinaus auch den Bereich der Liebe der Menschen untereinander zum Gegenstand. Sie ist in allen menschlichen Beziehungen der Familie zumindest in ihrem Grundsatz gegenwärtig, in der Verbindung der Eltern miteinander, in deren Bezug zu den Kindern, im Zusammenleben der Kinder untereinander sowie in deren Liebe gegenüber den Eltern, als auch in dem Bezug der Kernfamilie zur Großfamilie oder zur weiteren Verwandtschaft. Diese zwischenmenschliche Liebe kann zum einen als Grundlage aller anderen Bereiche der Familie angesehen werden oder zum anderen als der letzte verbleibende Kern dieser Gemeinschaft, wenn alle anderen Lebensbereiche einer konstitutiven Bedrohung oder temporären Gefährdung ausgesetzt sind. Sie beinhaltet dabei auch eine zweifache Perspektive: erstens die individuelle Selbstliebe sowie zweitens die Liebe zu den anderen Familienmitgliedern. Der Bereich der Selbstliebe umfasst den Bezug des Menschen zu seiner eigenen Individualität und Identität, d. h. in seinem Selbstverständnis als Individuum innerhalb von und gegenüber der Gemeinschaft der Familie. Die Liebe zu den anderen Familienmitgliedern beinhaltet insbesondere das Mindestmaß der Akzeptanz bzw. des Respekts und das Bewusstsein darüber, mit anderen Menschen familiär-verwandt zu sein. Diese Form der Liebe innerhalb des Zusammenlebens im Familienverband impliziert sicherlich noch viele andere Aspekte, die einer Erwähnung wert wären, die allerdings überaus facettenreich sind und intensiv oder aber auch weniger intensiv ihre Anwendung finden: Rücksichtnahme, Verzeihen, Hilfestellung, Rückhalt, Zusammenhalt, Freude, Gemeinsinn, Verantwortung, etc. Es ist nicht ausgeschlossen, 4.4 Familie als zentrale Lebensgemeinschaft

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dass der Mensch alle diese Facetten des Liebens und des Geliebtwerdens (und mehr davon) auch in anderen Gemeinschaften finden kann. Allerdings erst im Laufe des späteren Lebens. Die Familie hingegen könnte diesen Ort der zwischenmenschlichen Liebe bereits deutlich früher, nämlich von Geburt an, in Gemeinschaftlichkeit verwirklichen und leben. Selbst wenn die Lebensform der Familie subtil, fragil (Thomä) und in Zeiten rationaler Vergesellschaftung (Weber) und unter dem konstanten Lebensprimat des Ökonomischen (Marx, vgl. Kap. 4.3), der alle Lebensbereiche und -beziehungen dominiert, auch riskant erscheint.

4.5 Freundschaft als unveräußerliche Lebensbeziehung Hesiod hat in Werke und Tage unterschiedliche Bereiche der philia, der Freundschaft, thematisiert: eine allgemeine Perspektive, die die Notwendigkeit von Freundschaften für das Leben des Menschen deutlich macht, sowie die Nachbarschaftsfreundschaft und die Gastfreundschaft im Speziellen. Damit verbunden ist eine sozialanthropologische Bestimmung, nach der der Mensch aus der Gemeinschaft (koinonia) heraus das meiste Wohlwollen erfährt (vgl. Kap. 2.5). In der Philosophie der Antike ist die Freundschaft zentrales Thema. Für Aristoteles ist die philia eine Tugend (aretê) oder zumindest mit den Tugenden eng verbunden und sie ist für das Leben des Menschen unverzichtbar. Niemand, so Aristoteles, würde ein Leben ohne Freunde wählen (vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik VIII 1, 1155a1 – 7). Hinzu kommt: Die Freundschaft hebt selbst die Gerechtigkeit auf. Denn wenn Menschen wahre Freunde sind, bedarf es darüber hinaus nicht (mehr) der Tugend der Gerechtigkeit (vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik VIII 1, 1155a26). In der Philosophie der Neuzeit ist die philia im Vergleich zur Philosophie der Antike nur noch gelegentlich Gegenstand gewesen. Hinzu kommt, dass das Thema der zwischenmenschlichen Freundschaft heute zumeist soziologisches, weniger philosophisches Thema geworden ist. Anhand von Michel de Montaigne, Arthur Schopenhauer und Georg Simmel lässt sich dieser Eindruck belegen – und dennoch eine aktuelle Perspektive auf die Freundschaft im Grundriss darlegen. 134

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

Michel de Montaigne hat einen Essay mit dem Titel Von der Freundschaft verfasst, in dem er zum einen seine Sicht auf den Bereich der Freundschaft und deren unmittelbare Notwendigkeit für das Leben des Menschen darstellt, und zum anderen umfassende Kenntnis der antiken (politischen) Philosophie zeigt. Anfang nimmt Montaigne bei Aristoteles. »Zu nichts scheint uns die Natur so sehr bestimmt zu haben wie zur Geselligkeit. Und Aristoteles sagt, dass die guten Gesetzgeber mehr Sorge für die Freundschaft als für die Gerechtigkeit trugen. In ihr aber findet die Geselligkeit den letzten Grad ihrer Vollendung« (Montaigne: Von der Freundschaft, 9).

Montaigne knüpft hier in zweifacher Art und Weise an Aristoteles an. Erstens in der Bestimmung des Menschen zur Geselligkeit. Grundlage dafür ist die aristotelische zôon politikon-Anthropologie (vgl. Kap. 1), die den Menschen als ein Lebewesen ausweist, das sein Leben von Natur aus innerhalb von Gemeinschaft lebt. Zweitens spricht Montaigne über die enorme Bedeutung der Freundschaft für das Leben des Menschen, die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik mehrfach zum Ausdruck bringt und auch in einen politischen Kontext setzt. Montaigne bezieht sich dabei auf einen Befund aus jenem Text der Nikomachischen Ethik, der bereits einleitend zu diesem Kapitel über die Freundschaft angesprochen worden ist. Freundschaft, so Aristoteles, scheint selbst ganze Stadtstaaten im Inneren zusammen zu halten und „die Gesetzgeber scheinen sich mehr um sie zu bemühen als um die Gerechtigkeit“ (Aristoteles: Nikomachische Ethik VIII 1, 1155a22). Der Grund für diese Perspektive wurde bereits erwähnt: Nach Aristoteles hebt die Freundschaft im Grunde genommen selbst die Tugend der Gerechtigkeit auf. Montaigne gründet sein Verständnis der philia also auf die Position des Aristoteles. Dabei treten zwei Bestimmungen bei Montaigne selbst in den Vordergrund. Die Geselligkeit ist auch seiner Ansicht nach eine anthropologisch-politische Grundkonstante des Menschseins. Der Mensch lebt von Natur aus in Gemeinschaft. Und: Der letzte Grad der Vollendung von Gemeinschaft bzw. Geselligkeit sei die intensive zwischenmenschliche Beziehung der Freundschaft. Dennoch weist er auf einen Unterschied zwischen der Bestimmung des Menschen zur Geselligkeit als Grundlage und der Freundschaft als höchste Form der 4.5 Freundschaft als unveräußerliche Lebensbeziehung

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Vollendung der Geselligkeit hin. Geselligkeit liege in der Natur des Menschen, Freundschaften einzugehen, hingegen sind bewusste, individuelle und freie Entscheidungen, die der Einzelne trifft; „etwas im höchsten Maße Persönliches und Eigenes“ (Fetz: 2010, 35). »Und unser freier Wille kann nichts so völlig seine eigene Schöpfung nennen, wie die Zuneigung und Freundschaft« (Montaigne: Von der Freundschaft, 10).

Montaigne ist also der Ansicht, dass der Bereich der Freundschaft – der zôon politikon-Anthropologie gewissermaßen zum Trotz – ein individueller Bereich bzw. eine subjektive Entscheidung des Menschen ist. Es liegt im Ermessen des Einzelnen, Freundschaften zuzulassen, zu vertiefen oder aufzulösen. Die Geselligkeit mag ähnlich wie die Gemeinschaftlichkeit in der Natur des Menschen liegen, Freundschaften einzugehen hingegen ist nach Montaigne eine bewusste Entscheidung, die der Mensch in seiner individuellen Freiheit treffen kann. Für Montaigne liegt der Unterschied zwischen der Geselligkeit von Natur aus und der Freundschaft als bewusste individuelle Entscheidung vor allem in der Intensität der Zusammengehörigkeit. Er konstatiert, dass viele der zwischenmenschlichen Verbindungen zwar unter den Begriff der Freundschaft gefasst werden, diese allerdings diesem Ideal nicht entsprechen würden. »Im übrigen ist das, was wir gemeinhin Freunde und Freundschaften nennen, nichts weiter als Bekanntschaften und Vertraulichkeiten, die durch irgendwelche Anlässe und Bequemlichkeiten angeknüpft sind, mittels deren unsere Seelen sich miteinander unterhalten. In der Freundschaft, von der ich spreche, mischen und vereinigen sie sich beide in dermaßen völliger Verschmelzung, dass sie ineinander aufgehen und die Naht, die sie verbindet, nicht mehr finden« (Montaigne: Von der Freundschaft, 13).

Montaigne führt aus, dass Freundschaft nicht gleich allgemeine Bekanntschaft oder der einfache Ansatz von Vertrautheit sei, zumal diese beiden letzten Formen des zwischenmenschlichen Dialogs zumeist durch Anlässe begründet sind bzw. auf Bequemlichkeit beruhen. Freundschaft hingegen zeichne sich insbesondere durch um136

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

fassende, intensive zwischenmenschliche Nähe aus. Diese Art der zwischenmenschlichen Beziehung ist für Montaigne nichts Alltägliches und er ist sich bewusst, dass sich Freunde dieser Art schwer finden lassen. Auch diese Ansicht macht er durch einen Verweis auf die Antike, in Rückbezug auf die antike griechische Dichtung, deutlich: „Der alte Menander pries den glücklich, der nur den Schatten von einem Freunde gefunden habe“ (Montaigne: Von der Freundschaft, 17). Es ist nicht verwunderlich, dass Montaigne seinen Essay über die Freundschaft auf das Fundament der antiken Philosophie und der griechischen Dichtung gestellt hat. Denn dieser Diskurs ist eines jener wenigen Themen, die in ihrer Summe zeitlos aktuell geblieben sind, dem Ansatz und dem Inhalt nach, bis in die Philosophie der Gegenwart. Und manchmal scheint es so, als hätte die Philosophie der Neuzeit bis heute in Bezug auf die antiken Konzepte zur Freundschaft (so wie z. B. bei Hesiod, Aristoteles, Cicero, o.Ä.) wenige fundamentale Änderungen oder grundlegend Neues anzubieten. Diese Tatsache ist allerdings als ein Verdienst der Antike anzusehen und nicht als Defizit der Philosophie der Neuzeit oder der Gegenwart. Arthur Schopenhauer hat sich in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit, einer ,Eudämonologie‘, einer Anleitung zum Glücklichsein (vgl. Fleischer: 2001, 40), zur Freundschaft geäußert. Auffallend dabei ist, dass Schopenhauer, wie Montaigne, sich dabei gelegentlich auf Horaz und dessen Dichtungen auszugsweise bezieht, wenn auch ungleich weniger intensiv. (Und der erste Philosoph, dem sich Schopenhauer zuwendet, ist Aristoteles, an dem Montaigne ebenso Anfang genommen hat.) Schopenhauer ist sich bewusst, dass der Mensch in Gemeinschaft lebt. Dieses Zusammenleben verlange jedoch vor allem die Achtung der Individualität des Anderen. Diese Achtung hat auch für den Bereich der Freundschaft Gültigkeit. »Darum also müssen wir, um unter Menschen leben zu können, jeden mit seiner gegebenen Individualität, wie immer sie auch ausgefallen sein mag, bestehn und gelten lassen und dürfen bloß darauf bedacht sein, sie so, wie ihre Art und Beschaffenheit es zulässt, zu benutzen, aber weder auf ihre Änderung hoffen noch sie, so wie sie ist, schlechthin verdammen. Dies ist der wahre Sinn des Spruches: ,Leben und leben lassen.‘« (Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit, Abs. 21).

4.5 Freundschaft als unveräußerliche Lebensbeziehung

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Diese Achtung vor dem Anderen, mit all seinen Stärken und Schwächen, in seiner Individualität in Summe, ist demnach die notwendige Grundlage für das Leben des Menschen in Gemeinschaft. Schopenhauer ist wie Montaigne der Ansicht, dass die unmittelbare, „echte“ bzw. „wahre Freundschaft“ zwischen Menschen ein seltenes Gut sei. Und gleiches gilt auch für die zuvor angesprochene zwischenmenschliche gegenseitige Achtung, die nach Schopenhauer zumeist rein äußerlich demonstriert, allerdings nicht gelebt bzw. praktiziert werde. »Wie Papiergeld statt des Silber, so kursieren in der Welt statt der wahren Achtung und der wahren Freundschaft die äußerlichen Demonstrationen und möglichst natürlich mimisierten Gebärden derselben. […]. Jedenfalls gebe ich mehr auf das Schwanzwedeln eines ehrlichen Hundes als auf hundert solche Demonstrationen und Gebärden« (Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit, Abs. 33).

Dieser Abschnitt wirft, abseits des Bezugs auf Schopenhauers Affinität zu Hunden, die er immer wieder zum Ausdruck bringt, zwei Fragen auf: Was bedeutet erstens „wahre Achtung“ und was zweitens „wahre Freundschaft“? Die erste Antwort lautet, wie bereits festgehalten, dass „wahre Achtung“ zwischenmenschliche Akzeptanz des Anderen in seiner Gesamtheit beinhaltet, was Schopenhauer zu vermissen scheint, zumal seiner Ansicht nach nicht das Ideelle, das Innere (wie Gesinnung, Geschmack, Geisteskraft, …), sondern das Reelle, das Äußere (wie Materielles, Ansehen, Macht, …) leitendes Prinzip im Leben des Menschen in Gemeinschaft, der leitende Kontakt der „Verbindungen zwischen Menschen“, ist (Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit, Abs. 32). Die Achtung des Anderen liege nach dem Befund Schopenhauers gegenwärtig nicht in der Anerkennung der Person in Summe, sondern vielmehr in der Bewunderung des Demonstrativen, des äußerlichen Seins, und nicht in der vollen Akzeptanz der Individualität des Anderen. »Demzufolge wird jeder genommen nach seinem Amt oder Geschäft oder [seiner] Nation oder Familie, also überhaupt nach der Stellung und Rolle, welche die Konvention ihm erteilt hat: dieser gemäß wird er sortiert und fabrikmäßig behandelt. Hingegen was er an und für sich, also als Mensch vermöge seiner persönlichen Eigenschaften sei, kommt

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

nur beliebig und daher nur ausnahmsweise zur Sprache und wird von jedem, sobald es ihm bequem ist, also meistenteils, beiseite gesetzt und ignoriert« (Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit, Abs. 32).

Die zweite Antwort, die Frage nach dem Verständnis von „wahrer Freundschaft“, ist in Bezug auf eine Philosophie der Freundschaft von großem Interesse, zumal Schopenhauer überaus deutlich macht, was er unter „echter“ bzw. „wahrer Freundschaft“ versteht. »Wahre, echte Freundschaft setzt eine starke, rein objektive und völlig uninteressierte Teilnahme am Wohl und Wehe des andern voraus und diese wieder ein wirkliches Sich-mit-dem-Freunde-Identifizieren. Dem steht der Egoismus der menschlichen Natur so sehr entgegen, dass wahre Freundschaft zu den Dingen gehört, von denen man wie von den kolossalen Seeschlangen nicht weiß, ob sie fabelhaft sind oder irgendwo existieren« (Schopenhauer: Aphorismen zur Weltweisheit, Abs. 33).

Zwei Bestimmungen erscheinen in diesem Abschnitt zentral. Zum einen ist Schopenhauer der Ansicht, dass echte Freundschaft konkrete Teilnahme am Leben des Freundes bedeutet, jedoch eine „objektive“ und „uninteressierte“ Teilnahme, was auf einen ersten Blick befremdlich wirkt. Auf den zweiten Blick lässt sich jedoch erkennen, was Schopenhauer damit deutlich machen will: Seiner Ansicht nach ist Freundschaft in erster Linie mit einer Form der Fairness und der Uneigennützigkeit verbunden. Fairness im dem Sinne, dass ein echter Freund einem nicht nach dem Mund redet, sondern darum bemüht ist, Dinge, Situationen, Ereignisse so gut wie möglich – zum Wohle des Gegenübers, aber gerade deshalb objektiv – zu beurteilen, dabei nichts schönredend oder verblendend. Die Uneigennützigkeit hingegen beinhaltet den Aspekt, dass ich gegenüber dem Freund keinen Vorteil an dessen gegenwärtiger oder zukünftiger Lebenssituation suche oder zur eigenen Verwendung aufbereite, sondern in der Tat uninteressiert, soll heißen ohne eigene leitende Interessen an der Freundschaft und an der Persönlichkeit des Anderen, teilhabe. Schopenhauer relativiert diesen Zugang aus seinem anthropologischen Verständnis heraus jedoch selbst, wenn er ausführt, dass dieser fairen, uninteressierten Teilhabe zumeist der menschliche Egoismus im Weg stehe.

4.5 Freundschaft als unveräußerliche Lebensbeziehung

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Georg Simmel äußert sich in seiner Schrift Soziologie – Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung auch zum Bereich der intensiveren zwischenmenschlichen Lebensbeziehungen des Menschen. Er unterscheidet dabei drei Formen von Beziehungen, die über die bloße Zweckvereinigung seiner Ansicht nach hinausgehen und dadurch verstärkt von soziologischem Interesse sind: (i) die Bekanntschaft, (ii) die Freundschaft und drittens die Ehe; wobei die ersten beiden Zugänge im Rahmen einer Betrachtung der philia von besonderer Bedeutung sind. (i) Die Bekanntschaft ist für Simmel eine „soziologisch höchst eigentümliche Beziehung“ (Simmel: Soziologie, 395), die jedoch nicht gleich Freundschaft bedeute, sondern ausschließlich auf der bloßen Kenntnis um den Anderen aufbaut: »Dass man sich gegenseitig ,kennt‘, bedeutet in diesem Sinne durchaus nicht, dass man sich gegenseitig kennt, d. h. einen Einblick in das eigentlich Individuelle der Persönlichkeit habe; sondern nur, dass jeder sozusagen von der Existenz des andren Notiz genommen habe« (Simmel: Soziologie, 395).

Bekanntschaft bedeutet also nach Simmel die einfache Kenntnisnahme um die Existenz und impliziert nicht (gewissermaßen automatisch) die volle Wahrnehmung der Individualität bzw. der Persönlichkeit des Anderen in allen ihren Facetten. Erkennbar erscheint nach Simmel hingegen in der Bekanntschaft entweder nur das Äußere in einem rein gesellschaftlich-repräsentativen Sinn, in anderen Worten das öffentlich Wahrnehmbare von einer Person, oder ausschließlich das, was der Andere von sich aus zu zeigen bereit ist. Bereits die Bezeichnung der Bekanntschaft, so Simmel weiter, beinhalte von sich aus einen „Mangel eigentlich intimer Beziehungen“ (Simmel: Soziologie, 395), der auch bei den beiden zuvor genannten Aspekten ersichtlich wird: Bekanntschaft meint demnach Kenntnisnahme des öffentlichen Lebensbereichs zum einen und bzw. oder die Kenntnis um bestimmte, gefilterte und nach außen projizierte Aspekte der Persönlichkeit des Gegenüber zum anderen. Damit ist für Simmel allerdings auch verbunden, dass die Bekanntschaft seiner Ansicht nach der „eigentliche Sitz der ,Diskretion‘“ sei (Simmel: Soziologie, 395 – 396).

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

(ii) Der Bereich der Freundschaft baut für Simmel hingegen auf der Kenntnisnahme um die ganze Breite der Persönlichkeit des Menschen auf. Leitend für ein solches Verständnis ist die Philosophie der Antike, wo die philia als „eine absolut seelische Vertrautheit“ zweier Menschen verstanden wurde (Simmel: Soziologie, 400). Diesem antiken Bild von Freundschaft gegenüber konstatiert Simmel gegenwärtig allerdings eine wachsende Differenzierung von Freundschaften, der eine Form der Individualisierung des Menschen in der Neuzeit bis in die Gegenwart vorausgegangen sei, die eine solche völlige Vertrautheit zweier Menschen erschwere. »Vielleicht hat der moderne Mensch zuviel zu verbergen, um eine Freundschaft im antiken Sinne zu haben, vielleicht sind die Persönlichkeiten auch, außer in sehr jungen Jahren, zu eigenartig individualisiert, um die volle Gegenseitigkeit des Verständnisses, des bloßen Aufnehmens, zu dem ja immer so viel ganz auf den andern eingestellte Divination und produktive Phantasie gehört, zu ermöglichen. Es scheint, dass deshalb die moderne Gefühlsweise sich mehr zu differenzierten Freundschaften neigte, d. h. zu solchen, die ihr Gebiet nur an je einer Seite der Persönlichkeit haben und in die die übrigen nicht hineinspielen« (Simmel: Soziologie, 401).

Simmel ist also der Ansicht, dass die fortschreitende Individualisierung des Menschen, die bereits in Jugendjahren stattfinde, mit ein Grund dafür ist, dass das antike Freundschaftsideal heute nicht mehr in ihrem vollen Ausmaß verwirklicht werden könne. Vielmehr, so Simmel weiter, neige der Mensch in der Moderne zu differenzierten Freundschaften. Unter dem Begriff der differenzierten Freundschaften versteht er ein individuelles, selbstgesteuertes bzw. bewusstes SichOffenbaren auf der einen Seite und ein Sich-Verschweigen des Menschen gegenüber dem Anderen auf der anderen Seite (vgl. Simmel: Soziologie, 401). Soll heißen: Mit dem einen Menschen verbindet uns das Gesellige, aber nicht der Beruf, mit einem anderen das Geistige, aber nicht der Sport, mit wieder einem anderen das Religiöse, aber nicht das Wirtschaftliche, usw. Freundschaften der Moderne sind „themenspezifischer“ (Flam: 2002, 40). Jedoch ist Simmel der Ansicht, dass diese „so begrenzte und mit Diskretion umgebene Beziehung“, die differenzierte Freundschaft, „dennoch aus dem Zentrum der ganzen Persönlichkeit kommen“ kann (Simmel: Soziologie, 402). 4.5 Freundschaft als unveräußerliche Lebensbeziehung

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Hartmut Rosa hat in Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung die Freundschaft, neben Familie und Politik, als eine von drei horizontalen Resonanzachsen des Menschen bezeichnet. Auch Rosa unterscheidet die engere bzw. bewusste Freundschaft zweier Menschen von der bloßen gegenseitigen Bekanntschaft, zumal der Bereich der Freundschaft seiner Ansicht nach als eine besondere Form der „Tiefenresonanz“ verstanden werden kann, der Bereich der Bekanntschaft hingegen „eher auf die Akkumulation sozialen Kapitals hin angelegt“ sei, wobei etwaige Transformationen – Bekanntschaften, die zu Freundschaften werden oder vice versa – zweifelsfrei möglich erscheinen (Rosa: 2016, 359). Der Bereich der Familie, so beginnt Rosa seine Überlegungen zur Freundschaft, kann „die gebündelten (sozialen) Resonanzerwartungen der Moderne nicht oder jedenfalls nicht alleine erfüllen“ und bedürfe „deshalb einer Ergänzung“ (Rosa: 2016, 353). Diese Ergänzung der Resonanzerwartungen innerhalb der Familie sieht Rosa im Bereich der Freundschaft gegeben, die er als „Fenster zwischen Familie und adverser Sozialwelt“ versteht. Diese Beziehungen seien dann besonders wichtig, „wenn die familiären Resonanzachsen blockiert sind“. „Je brüchiger, unsicherer und kontingenter Familienverhältnisse werden, umso wichtiger werden diese sekundären Resonanzdrähte“, wie eben jener der Freundschaft (Rosa: 2016, 358). Im Vergleich zwischen den Lebensbereichen der Freundschaft und der Familie ortet Rosa insbesondere drei systematische Differenzen. Der Bereich der Freundschaft ist erstens nicht rechtlich oder politisch institutionalisiert, sie unterliegt also keiner vorgegebenen Organisation und keiner zwingenden Optimierung; zweitens handelt es sich bei der Freundschaft um außeralltägliche inszenierte Begegnungen, dabei auch verstanden als eine Form der Entlastung gegenüber dem zeitweise intensiven Familien- und Berufsleben; und drittens beinhaltet nach Rosa der Bereich der Freundschaft im Gegensatz zur Familie (in der Regel) eine physische Resonanzbarriere, z. B. in Bezug auf den Bereich der Pflege von Familienmitgliedern etc. (vgl. Rosa: 2016, 354 – 355). Idee und Praxis der Freundschaft haben nach Rosa im Verlauf der Moderne eine Transformation wie auch eine Aufwertung erfahren …

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

»[…] – zunächst insbesondere in der Kultur und Literatur als Empfindsamkeit – das Konzept der Freundschaft als Wahl- und Seelenverwandtschaft. Es basiert von Anfang an auf der Idee eines Zusammenstimmens, -schwingens oder -klingens zweier ,Seelen‘, mithin also auf einer Resonanzvorstellung, so dass sich diese sogar zur Begriffsbestimmung anbietet: Zwei Menschen sind Freunde, wenn zwischen ihnen ein Resonanzdraht (aus Sympathie und Vertrauen) vibriert« (Rosa: 2016, 353).

Strittig erscheint, ob es sich bei dieser Bestimmung der Freundschaft als Wahl- und Seelenverwandtschaft in der Tat um eine Form der Aufwertung bzw. um eine tatsächliche Transformation des Begriffs in der Moderne handelt oder ob dies nicht doch bereits eine Einsicht der antiken politischen Philosophie in Verbindung mit den damals vorherrschenden ethischen Diskursen gewesen ist. Unstrittig hingegen erscheint die Charakterisierung der spätmodernen Freundschaft bei Rosa, in der er einen unverzichtbaren Aspekt im Bereich der Lebensbeziehung der Freundschaft, im weiteren Sinne ergänzend zu den Perspektiven von Montaigne, Schopenhauer und Simmel, hinzufügt, nämlich die aus sozialer Perspektive für den Menschen wichtige Fähigkeit, in Freundschaften auch streiten zu können. »Spätmoderne Freundschaften haben in der Regel einen reflexiven Charakter, das heißt, sie reproduzieren sich in der und durch die Verbalisierung von Standpunkten und Positionen. In ihnen werden Lebensweisen und Praxisformen ,verhandelt‘. Daher gehört es unvermeidlich zum freundschaftlichen Resonanzgeschehen, sich wechselseitig zu irritieren und auch zu streiten« (Rosa: 2016, 359).

Neben der Konfliktfähigkeit ist auch die Bestimmung der spätmodernen Freundschaft als „reflexiv“, „reproduktiv“ und als Gegenstand des „Verhandelns“ von Interesse. Innerhalb der engen Freundschaft können – so Rosa – Lebensweisen und Praxisformen des individuellen Lebens in Gemeinschaft (gemeinsam) diskutiert, hinterfragt und im Bedarfsfall korrigiert werden. Diesem diskursiven Aspekt der Freundschaft, der mitunter auch zu Streitigkeiten führen kann, stellt Rosa den für die zwischenmenschliche Resonanz unverzichtbaren Aspekt des Verzeihens gegenüber, zumal der Mensch bei Konflikten und Streitigkeiten dazu neige, Resonanz eher zu blockieren als zu4.5 Freundschaft als unveräußerliche Lebensbeziehung

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zulassen oder zu vertiefen (vgl. Rosa: 2016, 360 – 362).19 Für Rosa ist dieser Aspekt des Verzeihens (in Anlehnung an Sören Kierkegaard, Martin Buber, Klaus-Michael Kodalle) nicht nur im Bereich der Freundschaft von Belang, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes ein wesentlicher und unverzichtbarer Aspekt des Lebens in Gemeinschaft. Rosa hat mit der Thematisierung der Freundschaft erneut aufgezeigt, wie wichtig diese Beziehung für das Leben des Menschen ist. Auffallend ist jedoch, dass Rosa die Perspektive auf den Begriff der Freundschaft sehr stark in Abgrenzung zum Begriff der Familie entwickelt, was seine zuvor angeführten drei systematischen Differenzen deutlich machen. Vielfach scheint es so, als ob die Freundschaft ausschließlich ein Kontrastbild zum Leben innerhalb der Familie darstelle. Zweifelsfrei gibt es Abgrenzungen des Familienlebens und der außerfamiliären Freundschaften des Menschen, allerdings ist die Freundschaft bei genauerer Betrachtung Wert und Tugend an sich, gänzlich unabhängig vom Familienstand oder den Familienbeziehungen und keine bloße „Ergänzung“ der Notwendigkeit des Menschen in Bezug auf außerfamiliäre Resonanz, und nicht bloß ein „Fenster“ zwischen Familie und Außenwelt. Wie einleitend zu diesem Abschnitt festgehalten, ist die Freundschaft seit der Antike ein bedeutender Gegenstand der Philosophie, so bereits bei Hesiod, und bei Aristoteles. Nicht zuletzt durch den Ansatz von Rosa wird auch aus soziologischer Perspektive deutlich, dass dieser Lebensbereich nach wie vor zu den wichtigsten des Menschen in Gemeinschaft gehört und im Leben des Menschen einen großen Stellenwert hat. Dabei erscheinen zumindest drei Aspekte als zentral: (i) Freundschaft als umfassende und achtsame Kenntnis, (ii) Freundschaft als faire und uninteressierte Teilhabe, (iii) Freundschaft als emotionale Form der Liebe.

Auch der von Rosa angesprochene diskursive Aspekt ist kein Alleinstellungsmerkmal der Spätmoderne, sondern bereits in der Antike verankert. Aristoteles hat festgehalten, dass Freundschaft u.a. durch das Teilen von Worten (logos) und Gedanken (dianoia) ihren Ausdruck findet: »Denn dies dürfte die Rede vom Zusammenleben bei Menschen bedeuten, und nicht wie beim Vieh das Grasen auf derselben Weide« (Aristoteles: Nikomachische Ethik, IX 1170b10 – 14). 19

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

(i) Freundschaft als umfassende und achtsame Kenntnis: Die Freundschaft ist nach wie vor eine zentrale Lebensbeziehung, seit jeher ein Lebensideal, auf das scheinbar kein Mensch von sich aus in seinem Leben gänzlich freiwillig zu verzichten bereit ist. Es mag auf einen ersten Blick diesbezüglich banal wirken, darauf hinzuweisen, dass Freunde in besonderer Art und Weise gegenseitig Kenntnis vom jeweils anderen nehmen. Jedoch wird auf einen zweiten Blick ersichtlich, dass das Sich-gegenseitig-Kennen im Rahmen der Freundschaft eben weit mehr bedeutet als eine bloße Kenntnisnahme der physischen und örtlichen Existenz des Anderen. Somit geht die umfassende und achtsame Freundschaft über die Verwandt- und Bekanntschaft zweifelsfrei hinaus, wie bereits anhand von Montaigne, Schopenhauer, Simmel und auch Rosa angesprochen. Und dieses Darüber-hinaus-Gehen der Freundschaft gegenüber der allgemeinen Bekanntschaft bedeutet insbesondere das gegenseitige Bemühen um eine umfassende und achtsame Kenntnis der Persönlichkeit des Anderen. Wobei die Charakterisierungen wie ,umfassend‘ und ,achtsam‘ einer weiteren Erklärung bedürfen. Die umfassende Freundschaft steht im Gegensatz zur differenzierten Freundschaft, von der Simmel bereits gesprochen hat. Im Unterschied zur umfassenden Freundschaft ist die sogenannte differenzierte Freundschaft eine selektive Lebensbeziehung, zumal sie sich bloß auf – entweder ausgewählte oder zugelassene – Ausschnitte der Persönlichkeit des Gegenübers bezieht und nicht den Menschen als Ganzes, nicht die Kenntnis und Vertrautheit aller wichtigen Facetten im Menschsein des Gegenübers in Summe im Blickfeld hat. Ausgewählt sind diese Ausschnitte dann, wenn einer gegenüber dem anderen freundschaftliche, aber eben spezifisch-selektierte Verbindungen aufnimmt, die einem selbst von wertfreiem Interesse oder schlichtweg angenehm erscheinen, und andere Bereiche dabei – mit oder ohne Absicht – unberücksichtigt lässt. Zugelassen sind diese Ausschnitte hingegen dann, wenn das Gegenüber sich dem Anderen ausschließlich über gewisse Beziehungsebenen zu erkennen gibt und andere – bewusst oder unbewusst – verschlossen hält. Umfassend ist Freundschaft dann, wenn sich Beziehungen nicht in selektierten oder in gefilterten Bereichen aufbauen, sondern sich auf die Kenntnis aller Stärken und Schwächen des Gegenübers, darüber hinaus in Zeiten der Not und in Zeiten der Freude und auf das 4.5 Freundschaft als unveräußerliche Lebensbeziehung

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Menschsein als Ganzes, auch in allen Phasen der Persönlichkeitsentwicklung zwischen den genannten Extremen, beziehen. Die umfassende Freundschaft steht also im Gegensatz zur differenzierten Freundschaft, wobei letztere zwar ebenso intensiv, wenn auch nur in Ausschnitten, geführt werden kann, dabei jedoch nur auf Teile der Persönlichkeit des Anderen Bezug nimmt und die anderen Teile – ganz gleich in welchem Verhältnis – somit entweder außer Acht lässt oder schlichtweg keine Kenntnis darüber hat. Die achtsame Freundschaft bzw. die achtsame Kenntnis des Einen über den Anderen, die auf der umfassenden Kenntnis der Person aufbaut und mit der keine differenzierte Freundschaft gemeint ist, hat bereits Schopenhauer in seiner Philosophie angesprochen. Dabei bezieht er diese Grundlage nicht nur auf die Freundschaft, sondern sieht darüber hinaus diese Form der zwischenmenschlichen Achtsamkeit gegenüber dem Mitmenschen als die Grundlage des Lebens des Menschen in Gemeinschaft schlechthin an. Es handelt sich bei der Achtsamkeit um eine wichtige Ergänzung, zumal es sich im Bereich der Freundschaft nicht bloß um die umfassende Kenntnis des Anderen, um eine Art Wissen um den Anderen ohne unmittelbare Auswirkungen auf die eigenen Person handelt, sondern eben um die Achtung des Freundes in seiner Persönlichkeit. Diese achtsame Kenntnis bringt es mit sich, an den Entwicklungen des Freundes uneigennützig interessiert zu sein, zum Wohle des Freundes und aus dem eigenen (moralischem) Anspruch heraus, ein guter Freund sein zu wollen. Achtsame Freundschaft beinhaltet somit als wichtigsten Aspekt kontinuierlichen Respekt und Anerkennung gegenüber dem Anderen innerhalb der Freundschaft in allen Situationen und Lebensphasen. Freundschaft als umfassende und achtsame Kenntnis der Person, des Freundes, impliziert daher das Bewusstsein über das Wesen des Anderen in seiner Vielfalt und die Achtung dieser Person, der Persönlichkeit des Anderen in seiner Summe, nicht nur in seinen Teilen. (ii) Freundschaft als faire und uninteressierte Teilhabe: Der Lebensbereich der Freundschaft beschränkt sich jedoch nicht auf eine umfassende und achtsame Kenntnis des Gegenübers allein, zumal diese Kenntnisnahme auch ein Kennzeichen von Verwandt- und Bekanntschaft sein bzw. dort zu finden sein kann. Vielmehr sind in einer aufrichtigen Freundschaft auf Augenhöhe – verstanden als eine 146

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

Lebensbeziehung, die auf Gleichheit und nicht auf Ungleichheit beruht – vorbehaltslose Fairness und uneigennütziges Uninteresse, eine faire und uninteressierte Teilhabe an Leben und an der Persönlichkeit des Anderen zentrale Bestandteile der freundschaftlichen Beziehung zwischen zwei Menschen. Darüber hinaus bilden die zwei Bereiche von Fairness und Uninteresse – beides Motive, die zuvor anhand der Philosophie der Neuzeit herausgearbeitet worden sind, so z. B. bei Schopenhauer –, den vielleicht wichtigsten Unterschied zwischen allgemeiner Bekanntschaft, verstanden als physische und örtliche Kenntnisnahme, und einer bewussten Freundschaft, die weit mehr bedeutet und beinhaltet als bloße Kenntnisnahmen, eben nämlich faire und uninteressierte zwischenmenschliche Interaktion. Die Fairness im Rahmen der Freundschaft liegt insbesondere in der vorbehaltslosen Offenheit und in der – vielleicht auch schonungslosen – Ehrlichkeit gegenüber dem Freund. Und zwar dort, wo es nach eigenem Ermessen angebracht und der Persönlichkeit des Anderen verträglich erscheint. Diese Fairness, u. a. verstanden als Offenheit und Ehrlichkeit gegenüber dem Freund, ist für eine möglichst objektive Einschätzung von Lebensweisen und der Bewertung von Lebenserfahrungen unverzichtbar und erscheint darüber hinaus im Rahmen der Freundschaft als notwendig. Nur auf dieser Basis des zwischenmenschlichen Umgangs erscheint es sinnvoll zu sein, Lebens- und Praxisformen in Freundschaft gemeinsam zu hinterfragen, in freundschaftlicher Art und Weise zu analysieren und durch das Reflektieren in der Lebensbeziehung der Freundschaft das eigene Leben vorausblickend – mit einem etwaigen gemeinschaftlichen Fokus auf das gute und gelingende Leben – gestalten zu können. Das Uninteresse zeigt sich darin, dass der Eine in der gegenwärtigen Lebenssituation des Anderen keinen Vorteil sucht, weder argumentativ, emotional, moralisch, ökonomisch noch politisch im weiteren Sinne. Und das trotz der unweigerlichen Tatsache, dass Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten in Freundschaften ebenso vorkommen können wie in allen anderen Lebensbereichen und -beziehungen auch. Der entscheidende Moment in diesem Bereich der Freundschaft ist jedoch, wie es Rosa festgehalten hat, zum einen die Fähigkeit innerhalb einer Freundschaft zu behalten, überhaupt in der Lage sein zu können, zu streiten, vielmehr jedoch zum anderen die unverzichtbare Fähigkeit, sich versöhnen zu können. 4.5 Freundschaft als unveräußerliche Lebensbeziehung

147

In der Fähigkeit des Menschen in Freundschaften streiten und sich versöhnen zu können, auf der Basis der Fairness und des Uninteresses, spiegeln sich zwei weitere grundlegende Aspekte wider. Denn erstens muss die Bereitschaft zur Versöhnung von beiden Seiten prinzipiell und permanent gegeben sein und zweitens beinhaltet diese potentielle Versöhnungsbereitschaft den konstitutiven Aspekt, dass dem Einen die Lebensbeziehung der Freundschaft zum Anderen nicht gleichgültig ist. Und wie bereits an anderer Stelle der politisch-anthropologischen Bestimmungen festgehalten, ist die Form des Streits, verstanden als eine zwischenmenschliche als auch als eine gesellschaftspolitische Reibfläche im besten Sinne, eines kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Fortkommens des Gemeinwesens zum einen und der Weiterentwicklung der Individualität des Menschen zum anderen für das Leben des Menschen in Gemeinschaft notwendig. Auch darum wusste bereits Hesiod. Doch wichtiger als das Gut-streiten-Können erscheint jedoch – wie gesagt – gerade innerhalb einer Freundschaft, und das zweifelsfrei, das sich Wieder-vertragen-Können. Eine faire und uninteressierte Teilhabe an Leben und Person des Freundes verlangt daher keine reibungslose zwischenmenschliche Beziehung. Und im Mittelpunkt steht die Chance, in dem Gegenüber nicht nur einen Mitmenschen, sondern einen Freund zu haben, der am Anderen fair und uninteressiert teilhat. (iii) Freundschaft als emotionale Form der Liebe: Die philia steht im Altgriechischen nicht ausschließlich für das, was heute zumeist mit dem Begriff der Freundschaft übertragen wird, sondern bezeichnet ebenso eine konkrete Form der Liebe: zu einer Sache (wie z. B. der Philosophie), zum Menschen an sich (wie z. B. der Philanthropie) oder zu einem einzelnen Menschen (wie z. B. dem Freund). Die Freundschaft zwischen Menschen, verstanden als emotionale Art der Liebe, ist immer wieder thematisiert und auch oft idealisiert worden, dabei insbesondere in der Philosophie und in der Literatur der Antike. Die emotionale, geistige Form der Liebe scheint das zentrale Element des Verständnisses der Freundschaft zu sein, gelegentlich auch als Sympathie (sympatheia: ,Mitgefühl‘, sympathein: ,mitfühlen‘, ,mitleiden‘) verstanden, das die beiden zuvor genannten Bereiche, die umfassende und achtsame Kenntnis der Person zum einen und die faire und uninteressierte Teilhabe zum anderen, zusammenfassend übersteigt und als Mitgefühl bzw. als Liebe bezeichnet werden kann. 148

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

Montaigne hat die Freundschaft bzw. das Eingehen des Menschen auf Freundschaften als eine individuelle, bewusste und freie Entscheidung des Menschen angesehen, die eine unmittelbare, intensive zwischenmenschliche Ebene, auch Zuneigung genannt, beinhaltet. Schopenhauer hat die Freundschaft als geistige Form der Liebe, konkret als ein Sich-mit-dem-Freund-identifizieren umschrieben. Simmel sprach, mit dem Idealbild der Freundschaft aus der Antike vor Augen, von der seelischen Vertrautheit zwischen zwei Menschen in Summe, die er als Kontrastbild zur (ausgewählten oder zugelassenen) differenzierten Freundschaft der Gegenwart positioniert. Und Rosa bezeichnet die Freundschaft als eine freie Wahl- und Seelenverwandtschaft, als einen Resonanzdraht zwischen zwei Menschen geknüpft aus Sympathie und Vertrauen: Freundschaft als eine Form zwischenmenschlicher Tiefenresonanz. All das und sicherlich noch mehr, beschreibt wie die Freundschaft als eine Form der emotionalen Liebe und des Mitfühlens verstanden werden kann. Der Bereich der Freundschaft lässt sich heute insbesondere, zweifelsfrei nicht ausschließlich, in den drei genannten Zugängen zumindest sichtbar machen. Erstens in dem Bereich der umfassenden und achtsamen Kenntnis der Person des Anderen, wobei das Bemühen im Vordergrund steht, das Gegenüber in seiner Gesamtheit wahrzunehmen, inklusive aller Stärken und Schwächen in Summe, fernab einer Selektion an ausschließlich nützlichen oder angenehmen Zügen, um dieser Ganzheit umfassende Achtsamkeit zukommen zu lassen. Zweitens, und hierin liegt der erste deutlich erkennbare Unterschied zwischen Bekanntschaft und Freundschaft, zeichnet sich dieser zwischenmenschliche Lebensbereich durch eine faire und uninteressierte Teilhabe am Leben des Anderen aus. Drittens, und sozusagen als große Klammer über die bereits genannten Facetten der Freundschaft und allem, was noch hinzugefügt werden könnte, steht der Bereich der zwischenmenschlichen Sympathie, der emotionalen, geistigen Liebe zwischen zwei Menschen, die zumeist im Begriff der ,echten‘ oder ,wahren‘ Freundschaft ihren Ausdruck findet. Die Freundschaft ist ein psychologischer, sozialer, politischer und ethischer Wert, den Hesiod in Werke und Tage bereits erkannt, benannt und dessen Bedeutung für das unmittelbare Leben des Menschen interpretiert hat. Und darüber hinaus weiß Hesiod ebenso um die Bedeutung von Gemeinschaft für das Leben des Menschen 4.5 Freundschaft als unveräußerliche Lebensbeziehung

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schlechthin, was sich in komprimierter Art und Weise in der Aussage Hesiods widerspiegelt, dass der Mensch aus der Gemeinschaft heraus, der koinonia, das meiste Wohlwollen erfährt (vgl. Kap. 2.5). Zweifelsfrei wurde mit diesen drei Bestimmungen ein Idealbild der Freundschaft skizziert, ein Wunschzustand entworfen auf dem Papier, dem die Realität und dem die eigenen individuellen Erfahrungen und Biographien oftmals konträr gegenüberstehen. Dennoch ist dieses Ideal der zwischenmenschlichen Freundschaft bereits seit der Philosophie der Antike verstärkt von Interesse und fand schon bei Hesiod Berechtigung bzw. Würdigung, nämlich in der Positionierung als einen der zentralen Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen in Gemeinschaft.

4.6 Philosophische Kontemplation Ein weiteres Anliegen Hesiods in Werke und Tage ist es, Alltag (Leben), Hausgemeinschaft (Ökonomie) und das Zusammenleben (Politik) mit einer Form der mythisch-theologisch orientierten Spiritualität, gekennzeichnet durch eine Symbiose aus Götterfurcht und Götterachtung, in unmittelbare Verbindung miteinander zu bringen. Kennzeichnend für diese Götterbeziehung, allen voran mit Zeus, sind die Anerkennung der göttlichen Autorität zum einen, andererseits jedoch auch eine paternalistische Zuversicht, eine väterliche Gottesbeziehung zum anderen. Zeus mahnt und bestraft, bietet jedoch auch An- und Rückhalt im Leben des Menschen (vgl. Kap. 2.6). Hervorzuheben ist nochmals, dass Hesiods Ansätze einer politischen Anthropologie keinen theologischen oder sozialen Determinismus, sondern vielmehr die Möglichkeit der Wahl des Menschen zum Ausdruck bringen. Der Mensch kann sein Leben zu einem guten Teil, wenn auch aus Sicht Hesiods nicht gänzlich autonom, aber dennoch weitgehend selbstbestimmt, leben und sich zwischen guter und der schlechter eris, zwischen dikê und hybris sowie zwischen Götterfurcht und Götterverachtung entscheiden. Viele Philosophien der Antike setzen sich – in unterschiedlichen Facetten und Intensitäten – mit dem mythischen Kult und mit der Theologie im weiteren Sinne auseinander: Xenophanes kritisierte den Mythos und stellte den seinen Beobachtungen zufolge kulturgebun150

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

denen Götterbildern der damaligen Zeit erste Perspektiven einer ,rationalen Theologie‘ gegenüber; Aristoteles sprach vom ,unbewegten Beweger‘ im Verständnis einer universalen kosmologischen ,Theologie‘; Cicero deutete die Religion aus dem Begriff relegere heraus – etwas aufmerksam befolgen bzw. gewissenhaft beachten. Darüber hinaus galt die Frömmigkeit (eusebeia) lange Zeit als eine der vier Haupttugenden, bis sie bei Platon nicht mehr aufscheint und durch die Weisheit ersetzt wird (vgl. Kap. 4.2). Und auch Hesiod wendet sich in Werke und Tage dem mythisch-religiösen Lebensbereich des Menschen zu. In Bezug auf eine Politische Anthropologie stehen zwei Bereiche im Vordergrund. Erstens die Frage nach dem Göttlichen als konstitutives anthropologisches Motiv. Zweitens die Frage nach der philosophischen (bzw. natürlichen oder rationalen) Theologie, somit die Frage nach dem Göttlichen aus genuin philosophischer Perspektive. Diese beiden Themen haben die Philosophie seit ihren Anfängen immer wieder beschäftigt. Somit scheint es keineswegs übertrieben zu sein, festzuhalten, dass die Frage nach der Kontemplation des Menschen als eine der Hauptschlagadern des philosophischen Denkens im Ganzen angesehen werden kann. In der Philosophie der Neuzeit finden wir dieses intensive Nachdenken u. a. bei René Descartes, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling oder Johann Gottlieb Fichte. René Descartes hat sich in seinen Meditationen über die Erste Philosophie der Gottesfrage zugewandt. Die dritte Meditation trägt den Titel Über das Dasein Gottes und ist von dem Vorhaben der ganzen Schrift geprägt: „Zu mir allein will ich reden und tiefer in mein Inneres blicken und mich so allmählich mit mir selbst bekannter und vertrauter zu machen suchen“ (Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie, III 1). Im Laufe dieser inneren Suche und dem inneren Dialog stößt Descartes – gewissermaßen unweigerlich – auf Gott. »Als Gott bezeichne ich eine unendliche, unabhängige, allweise, allmächtige Substanz, von der Ich selbst und alles, was etwa noch außer mir existiert, geschaffen worden ist. Ihre Vorzüge sind so groß, dass ich sie um so weniger als aus mir selbst hervorgegangen denken kann, je sorgfältiger ich sie ins Auge fasse. So ergibt sich aus dem oben Gesagten, dass Gott notwendig existiere« (Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie, III 22).

4.6 Philosophische Kontemplation

151

Descartes ist der Ansicht, dass der Mensch eine Schöpfung Gottes ist, einer unendlichen, unabhängigen, allweisen und allmächtigen Substanz. Dieses Denken über Gott, so ist Descartes überzeugt, könne nicht alleine aus der Vorstellungskraft des Menschen entspringen. Im Gegenteil, die Vorstellung und das Nachdenken über Gott, die Gottesvorstellung, sei dem Menschen durch sein Menschsein „angeboren“ (Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie, III 37), in die Schöpfung des Menschen durch Gott „eingepflanzt“ worden (Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie, III 38). Selbst wenn der sogenannte „cartesische Gottesbeweis“ in der Geschichte der Philosophie nicht viele Anhänger gefunden hat (Schmidt A.: 2009, 68), ist der Zugang zu diesem Thema bei Descartes von Interesse. Seiner Ansicht nach ist die Frage nach Gott keine Frage nach geoffenbarter Religion oder der Religionszugehörigkeit, der Konfession, sondern gewissermaßen das Ergebnis des einsichtigen und umfassenden Denkens des Menschen. (Denn über kurz oder lang stellt sich jeder Mensch in seinem Leben die Frage nach dem Göttlichen, ganz gleich, ob die Antwort auf diese Frage in einem Atheismus, einem Agnostizismus oder in einem Theismus seine Beantwortung findet.) Für Descartes ist es eindeutig, dass der Mensch, wenn er auf sein Inneres hört, sich zum einen um diese Frage nach dem Göttlichen nicht einfach herumschummeln kann und er zum anderen auch nur zu einer Antwort, dem Erkennen der Existenz und der Überzeugung vom Dasein Gottes, gelangen kann (vgl. Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie, III 25). Es handelt sich hierbei also um eine Form der Gotteserkenntnis, die keines Religionsbekenntnisses bedarf, sondern aus dem Denken des Menschen heraus entwickelt wird. Dazu, so Descartes, seien keine besonderen kognitiven Fähigkeiten nötig, sondern vielmehr die Bereitschaft, sich auf dieses (meditative) Denken einzulassen. »Alles dies kann man gewiss bei genauer Aufmerksamkeit durch das natürliche Licht ganz klar einsehen (lumine naturali manifestum)« (Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie, III 28).

Die Frage nach Gott kann sich dem Menschen dann in umfassender Art und Weise stellen, wenn er aufmerksam ist, auf sein Inneres hört, sich nicht durch Äußeres ablenken lässt und er sich durch das eigene 152

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

Denken dieser Frage sowie ihrer möglichen Beantwortung Schritt für Schritt annähert. Dieses Denken ist für Descartes das „natürliche Licht“ des Menschen, das keiner Offenbarung im religiösen Sinne bedarf, sondern vom Menschen selbst entwickelt bzw. verfolgt wird. Somit liefert Descartes ein Musterbeispiel einer philosophischen Theologie, die dem Anliegen nach seit der Antike Thema gewesen ist und die ihren – wenn auch fernen – Ursprung bereits in der mythischen Theologie, bei Homer und Hesiod, hat. Descartes schließt einen möglichen Irrtum seines Denkens nicht aus, auch wenn er einen solchen für nicht sonderlich wahrscheinlich hält. (Es braucht an dieser Stelle nicht eingehender ausgeführt zu werden, dass Descartes in seinen Meditationen keinen tatsächlichen Gottesbeweis, sondern vielmehr potentielle Denkwege der philosophischen Theologie entwickelt.) Selbst wenn das Denken über das Dasein Gottes in der Fassung der Meditationen über die Erste Philosophie falsch sein sollte, so Descartes, wäre es dennoch dem Grundanliegen nach, in der Frage nach dem Göttlichen und der Spiritualität des Menschen selbst, nicht automatisch bzw. kategorisch auch in Summe absurd. Und wenn doch, dann nur genauso absurd wie die Wahrheiten der vermeintlich exakten Wissenschaft der Mathematik. »Wäre also auch nicht alles wahr, was ich in den Meditationen der letzten Tage fand, so müsste die Existenz Gottes doch mindestens denselben Grad von Gewissheit für mich besitzen wie bisher die Wahrheiten der Mathematik« (Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie, V 7).

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling hat sich in der Schrift Über das Wesen der menschlichen Freiheit u. a. mit den Themen der Religiosität des Menschen und der Philosophischen Theologie auseinandergesetzt. Die anthropologische Grundlegung ist bei Schelling ähnlich wie bei Descartes. Letzterer betrachtet den Menschen als ein durch Gott geschöpftes Ebenbild Gottes (vgl. Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie, III 38) und Schelling ist der Ansicht, dass der Mensch – ähnlich wie Gott – ein freies und selbstbestimmtes bzw. selbsthandelndes Wesen ist (vgl. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 57). Kritik äußert Schelling jedoch an dem philosophischen Grundverständnis der Philosophie der Neuzeit, der damaligen Zeit und damit namentlich auch an Descartes: 4.6 Philosophische Kontemplation

153

»Die ganze neueuropäische Philosophie seit ihrem Beginn (durch Descartes) hat diesen gemeinschaftlichen Mangel, dass die Natur für sie nicht vorhanden ist, und dass es ihr am lebendigen Grunde fehlt. […]. Idealismus ist Seele der Philosophie; Realismus ihr Leib; nur beide zusammen machen ein lebendiges Ganzes aus« (Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 68).

Diese Kritik Schellings, die Konstatierung des gemeinschaftlichen Mangels an der Einsicht über die Lebendigkeit, überträgt er auch auf den Bereich der Philosophischen Theologie. Das Nachdenken über Gott innerhalb der Philosophie sei bloße Rede, als bloße Begrifflichkeit gedacht und geführt – fernab von der Existenz bzw. der Lebendigkeit. »Da nichts vor oder außer Gott ist, so muss er den Grund seiner Existenz in sich selbst haben. Das sagen alle Philosophien; aber sie reden von diesem Grund als einem bloßen Begriff, ohne ihn zu etwas Reellem und Wirklichem zu machen« (Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 70).

In einem späteren Teil der Schrift spricht Schelling über den Bereich der Religiosität des Menschen und stellt sich dabei die Frage, was sie in Bezug auf das unmittelbare Leben des Menschen letztendlich ausmache bzw. bedeute. »Wir verstehen darunter nicht, was ein krankhaftes Zeitalter so nennt, müßiges Brüten, andächtelndes Ahnden, oder Fühlenwollen des Göttlichen. Denn Gott ist in uns die klare Erkenntnis oder das geistige Licht selber, in welchem erst alles andre klar wird, weit entfernt, dass es selbst unklar sein sollte; und in wem diese Erkenntnis ist, den lässt sie wahrlich nicht müßig sein oder feiern. Sie ist, wo sie ist, etwas viel Substantielleres, als unsere Empfindungsphilosophen meinen. Wir verstehen Religiosität in der ursprünglichen, praktischen Bedeutung des Worts. Sie ist Gewissenhaftigkeit, oder dass man handle, wie man weiß, und nicht dem Licht der Erkenntnis in seinem Tun widerspreche« (Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 110 – 111).

Religiosität bedeutet demnach für Schelling eine Gewissenhaftigkeit des Menschen und damit löst er seine Philosophische Theologie von der religiösen Praxis, verstanden als religiöse Andacht oder als reli154

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

giöse Müßigkeit (vgl. Moiso: 1995, 190). Gott ist nach Schelling eine klare Erkenntnis des Menschen, das geistige Licht, aus dem seiner Ansicht nach alles andere deutlich werden kann. Daraus ergibt sich die unweigerliche Konsequenz, dass der Mensch so handeln soll, wie er es weiß, „und nicht dem Licht der Erkenntnis in seinem Tun widerspreche“. Schelling impliziert in der Erkenntnis der Gewissenhaftigkeit des Menschen und der praktischen Konsequenz daraus jedoch keinen theologischen Determinismus, sondern vielmehr die Grundlage der menschlichen Freiheit. »Nur der Mensch ist in Gott, und eben durch dieses In-Gott-Sein der Freiheit fähig. Er allein ist ein Zentralwesen und soll darum auch im Centro bleiben« (Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 132).

Johann Gottlieb Fichte spricht in Die Bestimmung des Menschen ähnlich wie Schelling von der Stimme des Gewissens, die für Fichte die Stimme des ewigen göttlichen Willens darstellt. Daraus folge die unmittelbare praktische Pflicht, dieser Stimme des Gewissens gemäß zu leben und sein Handeln danach auszurichten. »Sie, diese Stimme meines Gewissens, gebietet mir in jeder besonderen Lage meines Daseins, was ich bestimmt in dieser Lage zu tun, was ich in ihr zu meiden habe: sie begleitet mich, wenn ich nur aufmerksam auf sie höre, durch alle Begebenheiten meines Lebens, und sie versagt mir nie ihre Belohnung, wo ich zu handeln habe. Sie begründet unmittelbar Überzeugung, und reißt unwiderstehlich meinen Beifall hin: es ist mir unmöglich, gegen sie zu streiten« (Fichte: Die Bestimmung des Menschen, 117 – 118).

Für Fichte stellt der ewige göttliche Wille, im Ausdruck des individuellen Gewissens des Menschen, eine Verbindung zwischen Mensch und Gott zum einen und eine Verbindung zwischen den Menschen untereinander zum anderen her. „Das ist das große Geheimnis der unsichtbaren Welt, und ihr Grundgesetz, […]“ (Fichte: Die Bestimmung des Menschen, 168). Der göttliche Wille in der Form des menschlichen Gewissens ist für Fichte somit eine anthropologische Grundlage, ein „Grundgesetz“, das den Einzelnen mit den anderen Menschen in eine Gemeinschaft bringt und alle Menschen mitein4.6 Philosophische Kontemplation

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ander verbindet. In dieser anthropologischen Grundlage, sie gehört unmittelbar zur Bestimmung des Menschen dazu (vgl. Janke: 2010, 14), sieht Fichte ein menschliches Alleinstellungsmerkmal gegeben, das den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Es ist seiner Ansicht nach das Prinzip des menschlichen Lebens schlechthin. »Die Stimme des Gewissens, die jedem seine besondere Pflicht auflegt, ist der Strahl, an welchem wir aus dem Unendlichen ausgehen, und als einzelne, und besondere Wesen hingestellt werden; sie zieht die Grenzen unsrer Persönlichkeit; sie also ist unser wahrer Urbestandteil, der Grund und der Stoff alles Lebens, welches wir leben. Die absolute Freiheit des Willens, die wir gleichfalls aus dem Unendlichen mit herabnehmen in die Welt der Zeit, ist das Princip dieses unsers Lebens« (Fichte: Die Bestimmung des Menschen, 168).

Fichte sieht – ähnlich wie Schelling – zwischen dem Göttlichen und der Freiheit des Menschen keinen Widerspruch. Denn der Mensch hat die prinzipielle Möglichkeit der Wahl, in diesem Fall, auf das Göttliche in sich in Form des individuellen Gewissens zu hören oder nicht, auch wenn Fichte der Ansicht ist, dass es unmöglich sei, gegen die Stimme des Gewissens zu streiten. Doch diese Stimme muss davor zuerst gehört werden. Die dargestellten Ansätze von Descartes, Schelling und Fichte sollen hier keiner umfassenderen Untersuchung oder einer grundsätzlichen Kritik unterzogen werden. Vielmehr steht im Vordergrund aufzuzeigen, dass die Philosophische Theologie der Neuzeit vielfach dem Anliegen der Antike gefolgt ist, nämlich in dem Vorhaben, den Bereich der philosophischen Kontemplation ausschließlich aus dem Denken des Menschen heraus abzuleiten und zu begründen. Jedoch darf bei einer Thematisierung der Philosophischen Theologie der Neuzeit nicht vergessen werden, dass gerade diese Epoche – stärker als alle anderen Epochen zuvor – auch die Zeit intensiver Gesellschafts- und Religionskritik gewesen ist, geprägt u. a. durch Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud oder JeanPaul Sartre. (Wobei angemerkt werden muss, dass die Religionskritik keine Invention der Neuzeit gewesen ist, sondern bereits in der Antike praktiziert wurde, so z. B. durch den bereits mehrfach angesprochenen Xenophanes.) Ausgehend von der Religionskritik in der Neuzeit, verbunden mit wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Um156

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

brüchen, steht der philosophischen Kontemplation, verstanden als die Frage nach dem Göttlichen als Potential zum einen und der Philosophischen Theologie zum anderen, heute insbesondere das atheistische Weltbild des Naturalismus gegenüber. Holm Tetens hat in seinem Buch Gott denken – Ein Versuch über rationale Theologie sich dem Vorhaben der klassischen Philosophischen Theologie zugewandt. Diesem Ansatz stellt er den Naturalismus als Weltbild gegenüber und fasst diesen pointiert zusammen: »Der Mensch ist sowohl als Individuum als auch als Gattung eine zufällige, randständige und temporäre Episode in einem sinnleeren, unermesslichen weitläufigen und fast überall extrem lebensfeindlichen Universum. Das Glück und die Moralität sind diesem Universum vollständig gleichgültig« (Tetens: 2015, 55).

Wichtig ist darauf hinzuweisen, dass Tetens vom Naturalismus, nicht von den Naturwissenschaften (von Biologie, Physik, Chemie usw.) spricht, sondern das naturalistische Weltbild seinem Ansatz der philosophischen bzw. rationalen Theologie gegenüberstellt. Tetens zeigt auf, dass das Anliegen der rationalen Theologie als eine logisch begründbare Möglichkeit, als eine „vernünftige Hoffnung“ des Menschen (Tetens: 2015, 10), durchaus seine Berechtigung hat und sich gegenüber naturalistischen Positionen keineswegs von Haus aus geschlagen geben muss. Jedoch: Ein Philosoph, so Tetens, der heutzutage über philosophische Kontemplation nachdenke, müsse mit viel Kritik und auch mit fundamentaler Ablehnung, nicht nur, aber insbesondere im wissenschaftlichen Diskurs, rechnen, zumal aktuell innerhalb vieler Debatten seiner Einschätzung nach eine grundlegende „Theismusphobie“ zu beobachten sei (Tetens: 2015, 82). Tetens hält die Gottesfrage für ein zentrales Thema der Philosophie. Über Gott nachzudenken sei nicht eo ipso eine metaphysische Utopie, psychologische Selbsttröstung oder ein einfaches (oder komplexes) Hirngespinst des Menschen. Das ,Thema Gott‘ ist in erster Linie ein Gegenstand menschlicher Vernunft und Gott könne nach Tetens als ein „unendliches vernünftiges Ich-Subjekt“ verstanden werden. Diese Annahme sei eine nachweisbare „logisch-begriffliche widerspruchsfreie Möglichkeit“ (Tetens: 2015, 33 – 37). Damit sieht Tetens den Theismus genauso fest – oder aber auch genauso lose – in den jeweiligen Kernannahmen begründet wie den Naturalismus. 4.6 Philosophische Kontemplation

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Auch wenn Tetens die Frage nach der letztendlichen Gültigkeit des naturalistischen oder des theistischen Weltbilds auf logisch-argumentativer Basis nicht entscheiden kann (vgl. Tetens: 2015, 86 – 87), da die konstitutiven Fragen, die über den Tod des Menschen hinausgehen, aus rationaler Perspektive unbeantwortet bleiben müssen, bleibt dennoch der Ansatz der Philosophischen Theologie als eine Form der vernünftigen Hoffnung des Menschen davon unberührt. Und auch als philosophische Disziplin ordnet Tetens der Philosophischen Theologie einen berechtigten Stellenwert zu. »Um die Philosophie wird es erst dann wieder besser bestellt sein als gegenwärtig, wenn Philosophen mindestens so gründlich, so hartnäckig und so scharfsinnig über den Satz „Wir Menschen sind Geschöpfe des gerechten und gnädigen Gottes, der vorbehaltlos unser Heil will“ und seine Konsequenzen nachdenken, wie Philosophen zurzeit pausenlos über den Satz „Wir Menschen sind nichts anderes als ein Stück hochkomplizierte organisierte Materie in einer rein materiellen Welt“ und seine Konsequenzen nachzudenken bereit sind« (Tetens: 2015, 90).

Wie bereits angesprochen, liegt der Ansatz der Auseinandersetzung mit dem Bereich der philosophischen Kontemplation des Menschen im Rahmen einer politischen Anthropologie nicht in der detaillierten Kritik der skizzierten Ansichten von Descartes, Schelling, Fichte oder Tetens, sondern darin, zum einen die Frage nach dem Göttlichen als menschliches Charakteristikum und zum anderen das Kernanliegen der Philosophischen Theologie als essentiellen Bestandteil der Philosophie und des Menschseins aufzuzeigen, unabhängig von möglichen Ergebnissen der Beschäftigungen selbst, zumal bereits Hesiod um die Bedeutung dieses Lebensbereichs wusste. Dazu abschließend drei Ansätze: (i) die Gottesfrage als Alleinstellungsmerkmal des Menschen, (ii) Philosophische Theologie als Kernbereich der Philosophie, (iii) Philosophische Kontemplation als Lebensbereich: (i) Die Gottesfrage als Alleinstellungsmerkmal des Menschen: Der Mensch ist ein Wesen, das zu der Frage nach der Existenz des Göttlichen fähig ist. Diese Fähigkeit grenzt den Menschen scheinbar in deutlicher Art und Weise gegenüber anderen Lebewesen ab. In diesem Denkpotential ist die Bandbreite möglicher Antworten – wie bereits festgehalten – freilich breit gestreut: Atheismus, Agnostizismus oder Theismus sind dabei mögliche Standpunkte, die sich aus entspre158

4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

chenden Überlegungen ergeben können. Über kurz oder lang, die einen kürzer, die anderen länger, so die These, stellt sich jeder Mensch – sowie er in Freiheit, d. h. weitgehend selbstbestimmt leben kann – im Laufe seines Lebens der Frage, ob er als Lebewesen ein Zufall der Natur, das Ergebnis eines fortschreitenden Evolutionsprozesses oder der Schöpfung (und somit ein vorgesehener Bestandteil) einer metaphysischen Ordnung ist. Ein kontinuierliches Ausweichen gegenüber dieser Frage scheint kaum bis gar nicht möglich zu sein. Descartes, Schelling und Fichte haben in ihren Überlegungen zum Ausdruck gebracht, dass der Mensch von sich aus zur Frage nach Gott aus philosophischer Perspektive jedoch nur dann in ernsthafter Art und Weise gelangen kann, wenn er sich erstens auf dieses Fragen einzulassen bereit ist, zweitens in sich selbst blickt und mit sich selbst einen Dialog zu führen in der Lage ist sowie drittens dabei äußere Ablenkungen und Störungen im Laufe dieses Denkprozesses so gut wie möglich vermeidet. Dieses Bündel an Voraussetzungen und Kompetenzen – Bereitschaft, Reflexion und Muße – lässt sich am deutlichsten mit dem Begriff der Fähigkeit zur philosophischen Kontemplation des Menschen fassen. Tetens hat darüber hinaus aus aktueller gesellschaftspolitischer und wissenschaftlicher Perspektive festgehalten, dass diese philosophische Kontemplation, die auch in der Form Philosophischer Theologie ihren Ausdruck finden kann, gegenüber naturalistischen bzw. atheistischen Weltbildern nicht zwingend aus logischer Perspektive untergeordnet erscheinen muss. Der Mensch ist demnach offensichtlich ein Wesen, das der philosophischen Kontemplation fähig ist. Nur der Mensch scheint dazu in der Lage zu sein, nach Gott bzw. nach dem Göttlichen – in welcher Ausprägung und mit welchem Ergebnis auch immer – zu fragen. Ein kurzer historischer Blick in die Religionswissenschaften macht deutlich, dass diese Frage im Laufe der Jahrhunderte, von Kultur zu Kultur, in unterschiedlicher Art und Weise gestellt, beantwortet, vielfach tradiert und durch Generationen hindurch überliefert worden ist, in der Form von Mythen, Weltanschauungen und Religionen. Aus anthropologisch-historischer Perspektive ist damit eindeutig zu erkennen, dass die philosophische Kontemplation kulturübergreifend eine der Hauptschlagadern menschlichen Bewusstseins und des Menschseins, ein nicht wegzudenkender und vielfach zentraler Lebensbereich, gewesen ist. Und bereits Hesiod hat in Werke und Tage un4.6 Philosophische Kontemplation

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missverständlich auf diesen aus seiner Sicht unverzichtbaren Lebensbereich des Mythos, der Götterachtung sowie der Fürsorge um den Kultus, für das Leben des Menschen in Gemeinschaft in deutlicher Art und Weise hingewiesen. Diese anthropologisch-historische und anthropologisch-kulturelle Tatsache impliziert jedoch nicht, dass diese Hauptschlagader auch aktuell oder in Zukunft ein zentraler Lebensbereich des Menschen ist bzw. sein wird. Allerdings kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Frage nach Gott zum einen ein spezifisches anthropologisches Charakteristikum ist und dass zum anderen – sowie aufgrund dessen – die sogenannte Philosophische Theologie innerhalb der Geschichte der Philosophie ein zentraler Gegenstand der Philosophie gewesen ist, ausgehend aus der Philosophie der Antike. (ii) Philosophische Theologie als Kernbereich der Philosophie: Es ist eine Tatsache, dass sich die Philosophie seit ihrer für uns nachvollziehbaren Entstehung und den darauf gefolgten Entwicklungen immer wieder mit dem Bereich der philosophischen Kontemplation und der Frage nach dem Göttlichen auseinandergesetzt und diese, in welchen Ausformungen auch immer, zum Thema gemacht hat. Die von Tetens treffend konstatierte augenscheinliche Theismusphobie in akademischen und darüber hinaus auch in großen Teilen der gesellschaftspolitischen Diskurse, ausgenommen in den Irrungen fundamentalistischer politisch-religiös begründeter Radikalismen, impliziert somit die Ausgrenzung eines der philosophischen – und wie im vorherigen Punkt angesprochen auch philosophisch-anthropologischen – Kernbereiche schlechthin. Dadurch drängt sich die Frage auf, ob durch diese Ausgliederung der Gottesfrage die Philosophie grundlegende Teile ihrer umfassenden, allgemeinen Perspektiven auf das Menschsein, auf konstitutive Lebensbereiche und -beziehungen, verliert. Und weiters muss gefragt werden, ob eine etwaige Beantwortung der Frage Kants im Sinne des Motivs ,Was ist der Mensch?‘ in umfassender Art und Weise auch ohne einen Miteinbezug der Frage nach Gott überhaupt gegeben werden kann. Für Kant scheint das jedenfalls nicht möglich zu sein, zumal er dieser Frage eine unmittelbare Bedeutung in ebenso knapper und deutlichen Art und Weise zugesprochen hat, nämlich in dem Versuch zur Beantwortung der Frage ,Was darf ich hoffen?‘.

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

Für das aristotelische System der Wissenschaften ist die Frage nach dem unbewegten Beweger die Spitze der sogenannten Ersten Philosophie und nicht zuletzt dadurch in die Philosophische Anthropologie miteingebunden. Hesiod bewegt sich Aristoteles gegenüber eindeutig auf einer anderen Ebene, nämlich in dem Bereich des archaischen mythisch-religiösen. Doch bereits Hesiod weist in Werke und Tage zum einen darauf hin, dass die Spiritualität des Menschen Teil des Menschen und des Menschseins ist, und zum anderen, dass das Mythisch-Kultische im Leben einen besonderen Stellenwert einnehmen soll. Zwischen Hesiod und heute liegt zweifelsfrei eine lange Zeit philosophisch-theologischer Debatten, die jedoch – wie, darauf sei nochmals hingewiesen, Tetens konstatiert – heute eine breitflächige Flaute, mitunter auch eine Theismusphobie im Ganzen, erleben. Oftmals auf den Begründungen basierend, dass das Nachdenken über ,Gott und die Welt‘ verstaubt, kulturell wie politisch reaktionär, insbesondere unwissenschaftlich und zuweilen aus gesellschaftspolitischer Perspektive schlichtweg unverträglich erscheint. Doch gerade die Philosophische Theologie sollte vielmehr als eine umfassende Philosophie betrachtet werden, nicht als Glaubenslehre, als Esoterik oder als psychologisch Selbsttröstung bzw. metaphysische Utopie. Aristoteles, Anselm von Canterbury oder Thomas von Aquin, weiters Descartes, Schelling und Fichte haben gezeigt, dass die Diskussion der Gottesfrage nicht nur aus der Religion und ihrer jeweils spezifischen Theologie, sondern auch aus dem (Nach-)Denken des Menschen allein heraus geführt werden kann. Damit sind allerdings keine Theologie und keine Glaubenslehre in Abrede gestellt, sondern vielmehr mindestens ergänzt. Gott ist – worauf nicht zuletzt abermals Tetens hingewiesen hat – somit ebenso Gegenstand menschlicher Vernunft und nicht bloß Gegenstand der Religion(en). (iii) Philosophische Kontemplation als Lebensbereich: Hesiod hat deutlich gemacht, dass der Mythos zweifelsfrei zum Leben des Menschen dazugehört, und zwar nicht nur im Bereich des praktischen Kultus, der religiösen bzw. mythischen Feier, sondern auch im Alltag des Lebens selbst, in allen Werken und Tagen des Menschen. Im Verständnis der Philosophie der Neuzeit ist mit dem Bereich der philosophischen Kontemplation als Lebensraum des Menschen zumeist nicht der praktische Kultus angesprochen, sondern vielmehr die individuelle Auseinandersetzung des Menschen mit der Frage nach 4.6 Philosophische Kontemplation

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dem Göttlichen und der Philosophischen Theologie. Das Bewusstsein über diesen Lebensraum des Menschen bildet dabei die unverzichtbare Basis und findet seine Verwirklichung in den bereits angegebenen Bereichen der grundsätzlichen Bereitschaft des Menschen, sich auf dieses Denken einzulassen, auf den Bereich der Kontemplation, verstanden als eine in sich gerichtete Tätigkeit sowie auf die dafür notwendige temporäre Zeit der Muße, die ein äußeres (und inneres) Ungehindertsein impliziert. Für diese Art der Auseinandersetzung gibt es eine Reihe an unterschiedlichen Zugängen, die deutlich machen, dass die philosophische Kontemplation als Lebensraum einen wichtigen Lebensbereich darstellt: Descartes hat die Ansicht vertreten, dass die Fähigkeit des Menschen, sich Gott vorzustellen, angeboren und somit ein konstitutives anthropologisches Motiv ist. Schelling verstand die Religiosität des Menschen als eine Form der Gewissenhaftigkeit des Menschen. Für Fichte ist die Fähigkeit des Menschen zur Kontemplation ein anthropologisches Grundgesetz, das über den einzelnen Menschen hinaus alle Menschen untereinander in Gemeinschaft verbindet. Und Tetens hat festgehalten, dass Gott eine vernünftige Hoffnung des Menschen ist. Bereits anhand dieser wenigen, aber deutlichen Verweise lässt sich zeigen, dass dieser Lebensbereich auch für den Menschen heute in Bezug auf das gute individuelle Leben und das gelingende Zusammenleben des Menschen in Gemeinschaft von Bedeutung sein kann. Die Grundlegung einer politischen Anthropologie hat, wie einleitend angeführt, nicht die Aufgabe, Weltanschauungen, Religionen oder metaphysische Überzeugungen zu untersuchen, zu bewerten oder in einer Form von wissenschaftlicher Überheblichkeit zu karikieren. Was sie zu tun hat, ist hingegen, historisch wie systematisch aufzuzeigen, dass die philosophische Kontemplation des Menschen zum Menschsein dazugehört, wenngleich es zweifelsfrei in der Freiheit des Menschen liegt, diesen Lebensbereich – nach grundsätzlichen Überlegungen – bewusst auszublenden oder auszugrenzen, nach individueller Auseinandersetzung zu verneinen oder zu bejahen.

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4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

5. Grundlegung und Erweiterung politischer Anthropologie

Ausgehend von Hesiods Bestimmungen von eris, dikê, ergon, oikos, philia und timê wurde im Abschnitt zuvor – skizzenhaft und kursorisch – nach einer Verortung dieser Lebensbereiche und Lebensbeziehungen in der Philosophie der Neuzeit bis in die Gegenwart gefragt und mindestens festgehalten, dass diese Themen Hesiods weiterhin aus philosophischer Perspektive in unterschiedlichen gedanklichen Entwicklungen Gegenstand gewesen und auch heute nach wie vor von Interesse sind. Darüber hinaus wurde der Versuch unternommen, diese Perspektiven in eine mögliche aktuelle Politische Anthropologie zu übertragen, um deren potentielle Relevanz für das Leben des Menschen in Gemeinschaft heute aufzuzeigen. Im folgenden Abschnitt stehen drei Themen im Mittelpunkt: Zu Beginn folgt eine vorläufig unkommentierte Zwischenübersicht der bisherigen politisch-anthropologischen Betrachtungen in einer geordneten Gesamtdarstellung (5.1). Anschließend wird der Frage nachgegangen, welche weiteren Lebensbereiche und -beziehungen Hesiod in seinem Nachdenken nicht oder nur teilweise berücksichtigt hat, und ebenso der Frage nach dem Warum. Es handelt sich dabei insbesondere um zwei politisch-anthropologische Perspektiven, die in Werke und Tage keine nähere Erwähnung in Bezug auf das (politische) Leben des Menschen in Gemeinschaft finden, die jedoch bereits im Laufe der Antike Thema gewesen sind und die für die Grundlegung einer umfassenden aktuellen politischen Anthropologie nicht unberücksichtigt bleiben sollen. Zum einen geht es um die Notwendigkeit der unmittelbaren politischen Partizipation des Menschen im Leben in Gemeinschaft (5.2). Zum anderen geht es um den Bereich einer umfassenden kosmopolitischen Identität des Menschen, die bereits in der Philosophie der Antike – wenn auch auf unsicheren Umwegen – ihren Anfang genommen hat und darüber hinaus heute zentrales Thema politischer Anthropologie sein muss (5.3).

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5.1 Hesiods Grundlagen in Aufriss und Übertragung Zweifelsfrei ließe sich zu jedem der ausgehend von Hesiod abgeleiteten Punkte eine eigene und eingehende philosophische Abhandlung verfassen. Doch das vorrangige Ziel dieser erfolgten Herausarbeitung ist es vielmehr zu zeigen, dass erstens Hesiod mit seinem politischanthropologischen Nachdenken zentrale Lebensbereiche und -beziehungen angesprochen hat, die nach wie vor im menschlichen Lebensinteresse sind. Und zweitens, dass sich eine Übertragung dieser Ansätze von der Philosophie der Antike in die Gegenwart, mit dem Fokus auf eine Politische Anthropologie, verstanden als die Frage nach dem guten Leben des Einzelnen und dem gelingendem Zusammenleben des Menschen in Gemeinschaft, nicht nur machbar ist, sondern sich auch durchaus lohnt. Dieses Zwischenergebnis wird in späterer Folge um die zwei zuvor genannten Bereiche, die politische Partizipation und die kosmopolitische Identität, ergänzt (vgl. Kap. 6.3). eris – Anthropologie der Kooperation: (i) Der einzelne Mensch in sozialpolitischer Gemeinschaft (ii) Kooperatives Streben als anthropologisches Konstitutiv (iii) Agonalität und Exzellenz als Lebensprinzip dikê – Gerechtigkeit, Gemeinschaft, Gemeinsinn: (i) Gerechtigkeit als personale Tugend (ii) Politische Gerechtigkeit als Grundlage von Gemeinschaft (iii) Eintracht und Gemeinsinn als Bedingungen guten Lebens ergon – Mensch und Schaffen: (i) Arbeit als Notwendigkeit (ii) Leistung als Selbstanspruch (iii) Tätigkeit als Selbsterfüllung oikos – Familie als zentrale Lebensgemeinschaft: (i) Familie als Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft (ii) Familie als politischer Lebensbereich (iii) Familie als Verwirklichung unmittelbarer Liebe

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5. Grundlegung und Erweiterung politischer Anthropologie

philia – Freundschaft als unveräußerliche Lebensbeziehung: (i) Freundschaft als umfassende und achtsame Kenntnis (ii) Freundschaft als faire und uninteressierte Teilhabe (iii) Freundschaft als emotionale Form der Liebe timê – Philosophische Kontemplation: (i) Die Gottesfrage als Alleinstellungsmerkmal des Menschen (ii) Philosophische Theologie als Kernbereich der Philosophie (iii) Philosophische Kontemplation als Lebensbereich

5.2 Erweiterungsebene 1: politische Teilhabe Hesiod spricht in seinem didaktischen Epos drei politische Lebensbereiche des Menschen an: die Hausgemeinschaft (oikos), die darüber hinausgehende Gemeinde indirekt in der Form des Gemeindesaals (leschê) sowie den Stadtstaat (polis). Weiters sind die Werke und Tage – zumindest stellenweise – auch an weltliche Machthaber bzw. an politische Entscheidungsträger gerichtet, in der Form einer Anrede des Königs bzw. des Herrschers (basileus) oder der Herrscher (basilees), wobei die Übertragung mit dem Wort ,König‘ und dessen Konnotation im deutschen Sprachgebrauch nicht gänzlich treffend ist. Zur Zeit Hesiods, in der nachmykenischen Zeit nach den Palaststaaten, gehörten die basilees zu dem Kreis angesehener Männer in den Regionen, die aufgrund des vermehrten Besitzes von Land bzw. Vieh Einfluss und Autorität hatten sowie einen gehobeneren Lebensstil pflegen konnten. Dieses Ansehen war jedoch zumeist auch mit ökonomischen, politischen und militärischen Leistungen für die Region im Ganzen verbunden (vgl. Lotze: 2010, 18 – 19). Über den für Hesiod unverzichtbaren Stellenwert des oikos für das Leben des Menschen in Gemeinschaft wurde bereits an anderer Stelle gehandelt (vgl. Kap. 2.4), womit nun zu klären ist, welche Überlegungen zu den anderen beiden politischen Lebensbereichen, der Gemeinde und dem Stadtstaat, anhand der Werke und Tage angestellt werden können. Aus diesen Betrachtungen heraus lässt sich deutlich machen, welches politische Verständnis Hesiod über den Bereich des oikos hinausgehend gehabt hat und welchen Stellenwert er diesem Leben in (politischer) Gemeinschaft außerhalb des Hauses zuerkennt. 5.2 Erweiterungsebene 1: politische Teilhabe

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Der Gemeindesaal (leschê) war in der Antike – im Allgemeinen – ein Versammlungsraum, ein Gebäude mit weitgehend ausreichendem Platz, in dem sich die Gemeinschaft über das Haus hinaus treffen konnte. In diesen „Gemeindehallen“ bzw. „Gesellschaftshäusern“ (PREcA: Band XII (2), Sp. 2133, s.v. Leschai) wurden allgemeine Gespräche sowie konkrete Unterredungen, Verhandlungen und Geschäfte geführt (vgl. DnP: Band 7, Sp. 87, s.v. Lesche). Zumeist waren diese Gemeindesäle in der Nähe des Marktplatzes (agora) angesiedelt oder in der Nähe griechischer Heiligtümer, wo die Hallen zuweilen ebenso als Herberge benutzt wurden, wie z. B. der Gemeindesaal in Delphi: ein rechteckiger Saalbau, gestützt durch acht Innensäulen (vgl. DkP: Band 3, Sp. 587, s.v. Lesche). Bereits Homer erwähnt in der Odyssee diesen öffentlichen Gemeindesaal, wenngleich dessen gesellschaftlicher Wert und dessen Funktion zumindest dem Text nach nicht sonderlich positiv konnotiert zu sein scheint, sondern eher als ein Aufenthalts- bzw. Zufluchtsort für Bettler und Fremde (in abschätziger Art und Weise) angesehen wird. Melantho, eine der zwölf treulosen Mägde der Königin Penelope, richtet an Odysseus die schmähenden Worte: »Elender Fremder, du bist wohl so einer, den traf es am Zwerchfell! Hast nicht die Absicht schlafen zu gehen in das Haus eines Schmiedes oder in sonst eine Herberg (leschê)? Lieber hältst du viel Reden hier vor der Menge der Männer, recht dreist und ohne Scheu im Gemüte« (Homer: Odyssee, XVIII 326 – 330).

In den Doppelbiographien von Plutarch findet sich ein Abschnitt zu Lykurg, der – so die Überlieferung, deren Authentizität und Glaubhaftigkeit jedoch nicht gesichert ist – in Sparta eine neue politische Ordnung durchgesetzt haben soll, die in der Alten Geschichte als lykurgische Reformen bezeichnet wird. Dabei sollen auch große Teile der agogê, des Erziehungsprogramms der heranwachsenden Bürger Spartas, bestimmt worden sein. Abgesehen von der nicht geklärten Authentizität des Lykurg finden sich in den Aufzeichnungen Plutarchs interessante Hinweise auf Nutzen und Verwendung der Gemeindehallen in den antiken Stadtstaaten, in diesem Falle mit dem Fokus auf Sparta. Plutarch nimmt an einer Stelle Bezug auf die Geburtenselektion des Stadtstaats, bei der körperlich beeinträchtigte Neugeborene ausgegliedert und ausgesetzt wurden: 166

5. Grundlegung und Erweiterung politischer Anthropologie

»Das zur Welt Gekommene aufzuziehen unterlag nicht der Entscheidung des Erzeugers, sondern er hatte es an einen Ort zu bringen, leschê genannt (Sprechhalle), wo die Ältesten der Gemeindegenossen saßen und das Kind untersuchten und, wenn es wohlgebaut und kräftig war, seine Aufzucht anordneten und ihm eins der neuntausend Landlose zuwiesen; war es aber schwächlich und missgestaltet, so ließen sie es zu der sogenannten Ablage (apothetai) bringen, einem Felsabgrund am Taygetos. Denn sie meinten, für ein Wesen, das von Anfang an nicht fähig sei, gesund und kräftig heranzuwachsen, sei es besser, nicht zu leben, sowohl um seiner selbst wie um des Staates willen« (Plutarch: Lykurg, 16).

Neben dieser auf der politischen Ordnung Spartas gegründeten Geburtenselektion, die in der leschê durch Teile der politischen Gemeinschaft durchgeführt worden ist, beschreibt Plutarch auch die genuin gesellschaftliche Dimension der Gemeindehalle, dieses Raums außerhalb des oikos, und nimmt dabei Bezug auf die Sozialstruktur Spartas: »Die Männer unter dreißig Jahren kamen überhaupt nicht auf den Markt, sondern ließen, was sie bedurften, durch ihre Verwandten und Liebhaber besorgen, und auch für die Älteren galt es als eine Schande, sich fortgesetzt mit solchen Dingen beschäftigt sehen zu lassen, statt sich den größten Teil des Tages auf den Turnplätzen und in den sogenannten Sprechhallen (leschai) aufzuhalten. In diesen kamen sie zusammen und unterhielten sich gemütlich miteinander, ohne irgendwie an Dinge zu denken, die mit Gelderwerb oder mit Marktgeschäften zu tun hatten, sondern ihr Zeitvertreib bestand hauptsächlich darin, gute Handlungen zu loben und schlechte zu tadeln, unter Scherz und Gelächter, das unvermerkt zu Zurechtweisung und Besserung führte« (Plutarch: Lykurg, 25).

Ein letzter Einblick in Bezug auf Nutzen und Notwendigkeit der antiken Gemeindehallen soll mit Pausanias gegeben werden, der in seinen Beschreibungen Griechenlands die bereits eingangs angesprochene leschê bei Delphi darstellt und dabei detailliert die Gemeindehalle beschreibt, insbesondere die Gemälde, die die Halle verzierten und von dem bedeutenden Maler Polygnot stammen sollen. Hierbei nimmt Pausanias auf das zuvor angeführte Zitat der Odyssee des Homers Bezug. Dieses Zeugnis des Pausanias macht – mit der Un5.2 Erweiterungsebene 1: politische Teilhabe

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terstützung von Homer – deutlich, dass die Gemeindehallen offensichtlich in vielen antiken Poleis, den griechischen Stadtstaaten, ein öffentlicher sowie zentraler (Gemeinschafts-)Bau für das Gemeinwesen gewesen sind. »Über der Kassotis befindet sich ein Gebäude mit Gemälden des Polygnotos, eine Weihung der Knidier, das von den Delphern leschê (Halle) genannt wird, weil sie hier ursprünglich zusammenkamen und sich über die wichtigeren und die sagenhaften Dinge unterhielten. Dass es solche viel in ganz Griechenland gab, deutete Homer in der Schmährede der Melantho auf Odysseus an: „Willst du nicht endlich gehn und in der Esse des Schmiedes oder der leschê schlafen? Statt dessen schwatzst du hier endlos.“« (Pausanias: Beschreibungen Griechenlands, X 25,1).

Diesen Zeugnissen zufolge hatte die Gemeindehalle also vielfache Funktionen. Bei Homer handelt es sich um den ersten schriftlichen Beleg der leschê, wobei die Thematisierung in der Odyssee doch zwiespältig bzw. die Gemeindehalle nicht ausschließlich positiv konnotiert ist. Bei Plutarch treten zwei Dimensionen der leschê hervor. Zum einen ist das eine politische Dimension, verstanden als Ort des gesellschaftspolitischen Diskurses und der gemeinschaftlichen Entscheidungen. Zum anderen erfüllt die Gemeindehalle jedoch ebenso eine soziale Dimension: Sie ermöglicht zwanglose Kommunikation untereinander in einer ungezwungenen Atmosphäre, fernab des Alltags und der Ökonomie, aber dennoch in Verbindung mit einer ethischen Perspektive, nämlich dann, wenn es um das Reflektieren von guten oder schlechten Handlungen geht, auch wenn es, wie Plutarch anführt, im Scherz geschieht – aber dennoch „unvermerkt zu Zurechtweisung und Besserung führte“. Bei Pausanias wird die Wichtigkeit der leschê als Ort des zwischenmenschlichen Austauschs erneut hervorgehoben – der Austausch „über die wichtigeren und die sagenhaften Dinge“. Hesiod weiß um Bedeutung und Funktion des Gemeindesaals und somit um die Form einer Örtlichkeit, in der sich die politische Gemeinschaft außerhalb der Hausgemeinschaft, des oikos, begegnet. Allerdings erteilt Hesiod in Bezug auf diesen Gemeindesaal in Werke und Tage den Rat, sich von diesem Ort fernzuhalten, auch im Winter, wenn keine Feldarbeit möglich war und der Gemeindesaal auch als Wärmestätte zur Verfügung stand bzw. genutzt wurde. Doch Hesiod 168

5. Grundlegung und Erweiterung politischer Anthropologie

scheint in der Gemeindehalle keinen direkten Nutzen für das Leben des Menschen in Gemeinschaft zu sehen, im Gegenteil, eher die Gefahr eines Schadens: »Geh im Winter an der Werkstatt des Schmieds und am warmen Gemeindesaal (leschê) vorbei, wenn Frost den Mann von der Feldarbeit abhält, […]. Oft baut ein Nichtstuer auf eitle Hoffnung und öffnet in der Not sein Herz dem Bösen. Wenig nur nützt die Hoffnung, die ein Darbender hegt, der im Gemeindesaal (leschê) herumhockt und nicht genug zum Leben hat. Weise auch die Knechte noch mitten im Sommer an: „Ewig währt der Sommer ja nicht, drum flickt eure Hütten!“« (Erga: 492 – 502).

Der knappe Rat Hesiods, den Gemeindesaal zu meiden, hat unterschiedliche Gründe, die sich nicht alle ausschließlich aus der zitierten Stelle ableiten lassen, jedoch aus einer Gesamtbetrachtung der Werke und Tage zusammengestellt werden können. Zum ersten ist festzuhalten, dass Hesiod der festen Überzeugung ist, dass der Mensch sein Leben vorausschauend planen und selbst aktiv gestalten muss. Dieser Aspekt findet sich in der oben angeführten Stelle deutlich zum Ausdruck gebracht, auch wenn er in dieser Form an die Knechte gerichtet ist: Bereits im Sommer gilt es an den Winter zu denken und vice versa. Zum zweiten hält Hesiod – immer wieder und auch an dieser Stelle – fest, dass Müßiggang sowie Faulheit dem Fortkommen des Menschen schaden und aufgrund der nutzlosen Untätigkeit auch zum schlechten Denken und Handeln führen kann. Doch diese Verführung zum Bösen sei im Grunde genommen hausgemacht, eine indirekte individuelle Entscheidung des Menschen, die dieser nach Ansicht Hesiods insbesondere aufgrund ökonomischer Versäumnisse in der Vergangenheit und des Gefühls der Benachteiligung, sei sie auch eigentlich selbstverschuldet, trifft. Die politisch-anthropologische Position Hesiods ist also auch hier leitend: Der Mensch ist zur Tätigkeit, nicht zur Trägheit und zum sinnleeren Müßiggang bestimmt. Im Winter im Gemeindesaal zu sitzen, teilweise belanglose Gespräche zu führen und auf eine bessere Zukunft zu hoffen, ohne selbst tätig zu werden und das Leben – wo es möglich wäre – nicht in die eigene Hand zu nehmen, ist letztendlich in der Tat hoffnungslos. Zum dritten ist anzuführen, dass Hesiod über das bereits Gesagte hinaus der Ansicht ist, dass das Gerede bzw. das Geschwätz innerhalb der Gemeinschaft 5.2 Erweiterungsebene 1: politische Teilhabe

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außerhalb des Hauses und damit auch im Gemeindesaal schlecht und deshalb am besten zu vermeiden sei, und wenn es dann doch so weit kommt, führe dies zu Unheil, wie er an anderer Stelle der Werke und Tage ausführt: »Also handle und meide den schlimmen Leumund bei Menschen. Denn schlechter Ruf ist von Übel; leicht, ja kinderleicht holt man sich ihn, trägt aber schwer daran, und mühsam nur ist er zu tilgen. Nie nämlich verliert sich ganz ein Gerücht, das viele Menschen verbreiten; […]« (Erga: 759 – 763).

Aus diesen Gründen sieht Hesiod den Gemeindesaal kritisch – trotz der Tatsache, dass er – wie in Bezug auf die philia aufgezeigt – Gemeinschaft auch außerhalb des Familienverbands des oikos anerkennt, etwa bei der Nachbarschaftshilfe oder der Gastfreundschaft (vgl. Kap. 2.5). Dies reicht für Hesiod jedoch offensichtlich nicht aus, um sich positiv über den Gemeindesaal zu äußern. Hesiod lebte, so zumeist angenommen, in den Jahren um 700 v. Chr. herum. Geboren wurde er in Askra, einem Dorf bei Thespiai in Böotien, einer Region in unmittelbarer Nähe zur Polis Athen (Attika), im südwestlichen Mittelgriechenland. In der Alten Geschichte wird die Zeit, in der Hesiod lebte, als Archaik bezeichnet (ca. 750 – 500 v. Chr.). Es handelt sich hier um den Zeitabschnitt nach den sogenannten ,Dark Ages‘ und vor der Zeit der ,Griechischen Klassik‘. Die archaische Epoche lässt sich durch zwei Entwicklungen skizzenhaft charakterisieren: zum einen durch die Weiterentwicklung der Polis und zum anderen durch die griechische Kolonisation. Die Entstehung der Polis als politisches Gemeinwesen der Griechen ist „immer noch weit davon entfernt, geklärt zu sein“. Es gibt jedoch archäologische Indikatoren, die nahe legen, dass es in der Zeit zwischen dem 8. und dem 7. Jahrhundert v. Chr., also auch zur Zeit Hesiods, zu „Siedlungskonzentration“ und zu einem „bewussten Zusammenziehen“ im griechischen Raum gekommen ist (Schuller: 2008, 11), was die Fortentwicklung der Polis zweifelsfrei begünstigt hat. Weiters verstärkten die Griechen die Befahrung der Meere, verbunden mit umfassenden Kolonisierungsversuchen zwischen dem 8. und dem 6. Jahrhundert v. Chr., der apoikia – der ,Umsiedelung nach außen‘ – im Mittelmeerraum und an den Küsten des Schwarzen Meeres. Die historische Bedeutung dieser griechischen Kolonisierung 170

5. Grundlegung und Erweiterung politischer Anthropologie

liegt nicht nur in der Ausweitung des griechischen Sprach- und Kulturgebiets, sondern „noch mehr in der Verbreitung der gesellschaftlichen Organisationsform der Polis“ (Lotze: 2010, 31). Es war das Zusammenleben innerhalb der Polis, das vielerorts – wenn auch nicht überall – einen gewissen „Wohlstand“ der Bevölkerung ermöglichte (Schönberger: 2007, 101) und die Grundlage für die darauf folgenden wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Errungenschaften der griechischen klassischen Antike bildete. Die Übertragung des Begriffs der Polis in das Deutsche als ,Stadtstaat‘ ist ähnlich problematisch – wenn auch naheliegend – wie die Übersetzung des Basileus als ,König‘. Der Staatsbegriff ist aus heutiger Perspektive in Bezug auf die Polis zu weit gefasst, wohingegen der Stadtstaat wiederum als zu eng gefasst erscheint, da er suggeriert, dass die antike Polis ausschließlich eine Art städtisches Zentrum gewesen wäre. Tatsächlich umfasste die Polis beides, eine Art städtischen Kern (asty) und ein ländliches Gebiet (chôra), und beides zusammen bildete die Polis, wie z. B. die Polis Athen ganz Attika umfasste, obwohl sich alle Bürger dieser Polis, also auch jene in den ländlichen Regionen, als Athener verstanden (vgl. Varga: 2014, 89 – 96). Dennoch ist der Begriff des Stadtstaats als Übersetzung der Polis weit gebräuchlich. Gerade in Bezug auf Hesiods Werke und Tage ist es jedoch wichtig zu erwähnen, dass auch die ländlichen Regionen Teile der Stadtstaaten gewesen sind und ihre Bewohner Teile des politischen Gemeinwesens der Polis waren. Dieser rudimentäre althistorische Einblick macht deutlich, dass Hesiod die Organisationsform, die politischen Strukturen und das Leben als Teil einer Polis bereits kannte, was die Werke und Tage belegen, zumal Hesiod in seinem Gedicht gelegentlich von der Polis spricht. Bis zu welchem Grad der Entwicklung Hesiod die Entfaltung der Stadtstaaten kannte, ist nicht geklärt und zum einen Gegenstand der Altertumsforschung und zum anderen für die Grundlegung einer politischen Anthropologie im Grunde genommen zweitrangig. Festzuhalten ist, dass Hesiod um die Lebensform des Menschen innerhalb der politischen Gemeinschaft der Polis bereits gewusst und sich darauf in Werke und Tage gelegentlich bezogen hat, in ähnlicher Art und Weise wie auch auf den Gemeindesaal der Gemeinschaft. Drei Stellen machen den Polisbezug deutlich.

5.2 Erweiterungsebene 1: politische Teilhabe

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Erstens verbindet Hesiod mit der Polis die Möglichkeit der Sicherung des Friedens sowie des Wohlstands des Einzelnen und der politischen Gemeinschaft. Beides ist jedoch damit verbunden, dass die Polisgemeinschaft – gewissermaßen als Vorbedingung dazu – dem Recht den nötigen Raum der Entfaltung und die notwendige Relevanz zuerkennt. Erst diese Bedingung, so Hesiod, mache es möglich, dass der Mensch in Frieden und in Eintracht, in Auskommen und in Wohlstand in Gemeinschaft leben kann, und das über Generationen hinweg. Freilich verbunden mit der dafür notwendigen Fürsprache des Zeus. »Die aber Fremden und Heimischen rechten Bescheid geben und keinen Finger breit vom Recht abweichen, denen gedeiht die Stadt (polis), es blüht in ihr die Gemeinde, Friede herrscht im Land, der die Jugend nährt, und der weitblickende Zeus verschont sie vor leidvollem Krieg. Auch folgen weder Hunger noch Unheil gerechten Männern, sondern sie genießen die Früchte vollbrachter Feldarbeit bei frohen Festen« (Erga: 224 – 230).

Zweitens richtet Hesiod in Bezug auf das Zusammenleben innerhalb der Polis einen Appell an jene zuvor angesprochenen Könige, an die aristokratischen Großgrundbesitzer, die regionalen ,Herrscher‘, die vielfach den Takt des Zusammenlebens außerhalb des Hauses vorgaben und Einfluss auf die Rechtssprechung im Gemeinwesen hatten. Der Appell lautet, dass jene Könige Recht im Sinne der Gerechtigkeit sprechen und kein Unrecht ausüben, darüber hinaus nicht korrupt und bestechlich sein sollen. Hesiod untermauert diese Aufgabe der Rechtsprechung in zweifacher Art und Weise. Zum einen handelt es sich um ein ethisch-politisches Argument. Derjenige, der einem anderen Menschen ein Übel zufügt, schadet sich selbst – mindestens in späterer Folge – am meisten. Zum anderen ist hier wiederum die mythisch-theologische Perspektive leitend. Zeus sieht alles und kennt auch die Rechtsprechung innerhalb der Polismauern, so die Überzeugung Hesiods. »Davor nehmt euch in acht, ihr Könige (basilees) und Gabenfresser, richtet gerecht und schlagt euch Rechtsbeugung ganz aus dem Sinn. Sich selbst nämlich schafft Schlimmes ein Mann, der dem anderen Schlimmes zufügt, und ein schändlicher Plan trifft den, der ihn ausheckt, am 172

5. Grundlegung und Erweiterung politischer Anthropologie

schlimmsten. Blickt doch das allsehende, alles gewahrende Auge des Zeus, wenn es will, auch auf diese Sache und merkt gar wohl, welches Recht auch hier die Stadt (polis) in ihren Mauern beherbergt« (Erga: 262 – 268).

Drittens spricht Hesiod über mögliche Konsequenzen der Ungerechtigkeit in Bezug auf das Zusammenleben innerhalb der Gemeinschaft der Polis. Die Strafe ist ebenso in diesem dritten Bezug mythisch-theologisch konnotiert. Wichtig erscheint dabei allerdings der Hinweis, dass bereits ein einziger schlechter Mensch dafür genügt, das Gemeinwesen zu Fall zu bringen. Für diese Strafe, so Hesiod, würde Zeus im Fall des Falles persönlich sorgen. »Wem aber schlimme Gewalt und Freveltaten gefallen (hybris), denen verhängt Zeus, der weitblickende Kronide, gerechte Strafe, und oft schon büßte die ganze Stadt (polis) für einen Schurken, der Frevel und Missetaten verübt« (Erga: 237 – 240).

Hesiod kennt somit zwei weitere Ebenen des Zusammenlebens der politischen Gemeinschaft: den Gemeindesaal als Ort zwischenmenschlicher Begegnung und der Beratung über das Haus hinaus sowie den Stadtstaat als größere politische Organisationseinheit zur Wahrung von Ordnung und Recht. Von der leschê scheint Hesiod nicht sonderlich viel zu halten und in Bezug auf die Polis ist ersichtlich, dass er zwar um Nutzen und vielleicht um die Notwendigkeit dieser Gemeinschaftsform weiß, allerdings weder über ihre Unverzichtbarkeit noch über die Pflicht unmittelbarer politischer Partizipation des Einzelnen innerhalb der Gemeinschaft spricht, auch wenn er die Instanz der Polis in Bezug auf die Gerechtigkeit geradezu einfordert. Ein verstärktes gesellschaftspolitisches Bewusstsein über den Lebensbereich des oikos hinaus scheint Hesiod demnach für das Leben des Menschen in Gemeinschaft nicht zu empfehlen – oder er hält es für schlichtweg sekundär. Der oikos ist ihm vielmehr der zentrale Lebensbereich mit den notwendigen und unverzichtbaren Lebensbeziehungen. Die größere politische Gemeinschaft über das Haus hinaus nimmt in der politischen Anthropologie der Werke und Tage – abgesehen von der Rechtsprechung im Raum der Polis – keine grö5.2 Erweiterungsebene 1: politische Teilhabe

173

ßere bzw. bedeutende Rolle ein. Zumindest nicht in dem Ausmaß, in dem Hesiod über die anderen Bereiche wie eris, dikê, ergon, oikos, philia oder timê sich zu äußern bereit war. Dennoch kennt er – wie umfassend gezeigt – zwei weitere Ebenen über das Haus hinaus: die Gemeinde und die Polis. Und zumindest im letzteren Bereich wird er bei der Thematisierung der Notwendigkeit der Rechtsprechung und in Bezug auf die Äußerungen zur Wahrung der Gerechtigkeit in Summe auch insofern politisch im engeren Sinne. Einen intensiven Polispatriotismus, wie er insbesondere in der Philosophie der Klassik, so z. B. bei Platon oder Aristoteles, gefunden werden kann, scheint Hesiod (noch) nicht zu kennen. Das mag mehrere Gründe haben. Erstens geht es Hesiod um das gute und gelingende Leben des einzelnen Menschen innerhalb von Gemeinschaft und nicht um das Wohl, um die ökonomische Theorie oder um das politische oder militärische System der Polis als politische Gemeinschaft im Ganzen. Zweitens möchte Hesiod offensichtlich vielmehr darüber sprechen, wie der Mensch als Einzelner glückselig (eudaimon) werden kann – und dafür scheint der Rat Hesiods zu lauten, auf der einen Seite die politische Gemeinschaft als Sphäre des Rechts zwar nicht zur Gänze außer Acht zu lassen, auf der anderen Seite aber auch nicht allzu sehr an diesem Gemeinwesen aus politischer Perspektive zu partizipieren. Drittens ist die Nichtberücksichtigung der gesellschaftspolitischen Dimension der Gemeinde und der Polis vielleicht gegenüber Hesiod in Summe ein Anachronismus. Denn insbesondere die Polisausgestaltung bis hin zu ihrer klassischen Entwicklung wird noch dauern, ihre volle Ausprägung erst in den Jahrhunderten nach Hesiod erreichen und ist in diesem Ausmaß später wichtiger Gegenstand intensiver politisch-philosophischer Debatte. Wie bereits angeführt, kannte die Philosophie der Antike durchaus Konzepte der Notwendigkeit und Pflicht des Bürgers im Bereich der politischen Partizipation im Rahmen der Polis. In den beiden letzten Büchern der Politik (VII/VIII) hat Aristoteles seinen ,Staat nach bestem Ermessen‘ entwickelt, eine ,Polis nach Wunsch‘ (vgl. Aristoteles: Politik VII 4, 1325b36; VII 5, 1327a4; VII 10, 1330a26), in der er sich darum bemüht, die wichtigsten Aspekte seiner politischen Philosophie in der gedanklichen, theoretischen Entwicklung einer Polisgründung von ihrem Anfang an zu verankern. Dabei macht er 174

5. Grundlegung und Erweiterung politischer Anthropologie

überaus deutlich, dass der Bürger, der in Abgrenzung zu den Nichtbürgern steht (zu Sklaven, Frauen, Kindern, Fremden o.Ä.) für die politische Gemeinschaft, für das Wohl, den Fortbestand und die Weiterentwicklung der Polis, Verantwortung übernehmen muss. Jeder Bürger hat daher im Laufe seines Lebens zum einen die Erziehung durch die politische Gemeinschaft der Polis zu durchlaufen und zum anderen in späterer Folge auch Gemeinschaftsdienst zu leisten, z. B. im Rahmen militärischer, politischer oder kulturell-religiöser Tätigkeiten (vgl. Aristoteles: Politik VII 9, 1329a1 ff). Erst in Folge der Erfüllung dieser notwendigen Partizipation an der Entwicklung der Gemeinschaft eröffnet Aristoteles für den einzelnen Bürger einen Raum der ,Privatheit‘, der Muße eines individuellen Lebens (vgl. Varga: 2014, 165 – 171). Zum Leben des Bürgers gehört bei Aristoteles zwingend das Erfüllen politischer, d. h. vor allem gemeinschaftlicher Aufgaben und Pflichten. Von dieser Verantwortung, die Autonomie bzw. Freiheit in den Grenzen der politischen Verfassung der Polis ermöglichen, ist der Bürger an keiner Stelle in Politik VII und VIII entbunden. Damit zieht Aristoteles in seinem Staatsentwurf eine Verbindung von den Bereichen des öffentlichen Bürgers zum einen zum autonomen, unabhängigen Menschen – in der Regel ausschließlich der männliche Bürger – als Einzelnen innerhalb der politischen Gemeinschaft zum anderen. Es zeigt sich hier ein Konzept einer ,verantworteten Freiheit‘ (vgl. Varga: 2014, 168 – 169). Die Verantwortung liegt dabei in der umfassenden politischen Partizipation – die Freiheit in jener Sphäre, die sich anschließend an die Erfüllung dieser Pflichten ergibt, als Zeit des selbstbestimmten Lebens im Rahmen der Gesetze der Polis. In demokratisch verfassten Staaten der Gegenwart ist die politische Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger auf sämtlichen Ebenen, von der Kommunalpolitik bis hin zur Bundespolitik, unverzichtbarer Bestandteil des Zusammenlebens und die Grundlage der Funktionstüchtigkeit der Staatsgemeinschaft im Ganzen. Selbst wenn diese Teilhabe unterschiedliche Intensitäten und Formen aufweist, lassen sich dennoch drei Perspektiven der politischen Teilhabe deutlich machen, die alle miteinander gemeinsam haben, dass sie vom einzelnen Menschen und dessen konkreter Lebenseinstellung ausgehen: (i) politische Partizipation als Bürgerrecht und Bürgerpflicht, (ii) politische Verantwortung für Autonomie und Freiheit, (iii) politi5.2 Erweiterungsebene 1: politische Teilhabe

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sches Bewusstsein als Bekenntnis zur Gemeinschaft. Es handelt sich hierbei, bei der Partizipation, der Verantwortung und dem Bewusstsein, um einen individualpolitischen Zugang zur umfassenden politischen Teilhabe, der beinhaltet – in ähnlicher Art und Weise, wie es Hesiod in Werke und Tage zum Ausdruck gebracht hat –, dass der Mensch für sich in Bezug auf das gute individuelle Leben und auf das gelingende Zusammenleben in Gemeinschaft die Möglichkeit der Wahl hat. In diesem Falle die freie Wahl bzw. Entscheidung, sich für das gute und gelingende Leben einzusetzen und im Sinne des Eigenund Gemeinschaftswohls (politisch) tätig zu sein und an den politischen Gestaltungsprozessen im umfassenden Sinne teilzuhaben. (i) Politische Partizipation als Bürgerrecht und Bürgerpflicht: Das grundlegende Interesse und die grundsätzliche Bereitschaft des Menschen, an demokratischen Gestaltungsprozessen zu partizipieren, ist die erste Perspektive der umfassenden politischen Teilhabe. Die politische Partizipation ist zugleich Recht und Pflicht aller Bürgerinnen und Bürger, zumal es zum Verständnis moderner Demokratien gehört, dass alle Macht vom Volk ausgeht. Das impliziert, dass die Gemeinschaft des Staates in Gemeinsamkeit – und trotz aller etwaigen Meinungsverschiedenheiten im öffentlichen Diskurs – darüber zu entscheiden hat, wie das Zusammenleben geregelt, gestaltet bzw. in welcher Art und Weise es novelliert werden soll. Die Formen politischer Partizipation sind mannigfaltig, so z. B. das Wahlrecht und dessen Ausübung verstanden als moralische und demokratische Pflicht, direkte Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene als Möglichkeit der Gestaltung der unmittelbaren Lebensräume der Gemeinschaft, ein grundsätzliches Interesse am Geschehen der Tagespolitik und an deren Debatten etc. Diese politische Teilhabe verstanden als politische Partizipation ist – wie eingangs angeführt – Bürgerrecht und Bürgerpflicht zugleich. Politik und Demokratie, die gemeinsame Gestaltung und Verwaltung des Gemeinwesens und der Organisation des Lebens in Gemeinschaft in Gegenwart und Zukunft, ist auf die politische Partizipation des Einzelnen angewiesen. Somit ist klar, dass der Lebensbereich des Politischen im engeren Sinne ein Lebensbereich ist, der alle Menschen innerhalb der Gemeinschaft betrifft und auch durch ein Mindestmaß an politischer Partizipation durch alle Bürgerinnen und Bürger, so z. B. durch die Inanspruchnahme des Wahlrechts, mitgestaltet werden muss. 176

5. Grundlegung und Erweiterung politischer Anthropologie

(ii) Politische Verantwortung für Autonomie und Freiheit: Politische Verantwortung des einzelnen Menschen gründet sich auf der bewussten Teilnahme an den bereits angesprochenen unverzichtbaren politischen Gestaltungsprozessen der Gemeinschaft in Summe. Damit verbunden ist in weiterer Folge ebenso die Bereitschaft, für diesen Prozess der Gestaltung auch Verantwortung als Einzelner für die (politische) Gemeinschaft zu übernehmen. Diese Form der politischen Verantwortung ist nicht zwingend mit der Übernahme von politischen Ämtern oder gesellschaftspolitischen Funktionen verbunden, sondern vielmehr mit der grundsätzlichen Bereitschaft des Menschen, in unterschiedlichen Gemeinschaftsformen, wie z. B. in Vereinen, Hilfsorganisationen, Interessensvertretungen etc., Engagement zu zeigen sowie Verantwortung zu übernehmen, um auf diese Art und Weise das Leben in Gemeinschaft über den eigenen Haus- und Familienverband sowie über den eigenen Freundeskreis hinaus bewusst mit zu tragen. Diese Form der politischen Verantwortung ist jedem Menschen, der ein Leben in Gemeinschaft führt, verbindlich zuzusprechen. Die Wahrnehmung dieser politischen Verantwortung, verstanden als Teilnahme am politischen Gestaltungsprozess der Gemeinschaft, in der Politik im engeren oder im Bereich der Gesellschaftspolitik im weiteren Sinne, ist die moralische Bedingung für die individuelle Inanspruchnahme von Autonomie und Freiheit des Einzelnen innerhalb der Gemeinschaft im Rahmen der Grundbestimmungen über das staatliche Zusammenleben. Erst durch die Übernahme dieser politischen Verantwortung, begründet in der politischen Partizipation, sind Bürgerinnen und Bürger dazu aufgefordert und berechtigt, ihr individuelles Leben zu leben und in Autonomie und Freiheit – in den Grenzen der Bestimmungen des Staates über das Zusammenleben wie z. B. dem Grundgesetz, der Gewaltentrennung, der Meinungs- und Religionsfreiheit, der Anerkennung des Rechtsstaats und der Menschenrechte, der Achtung demokratischer Grundprinzipien etc. – sowie unter dem Schutz des Staates nach ihrem eigenen Dafürhalten zu leben und nach eigenen Vorstellungen nach persönlicher Zufriedenheit und bzw. oder dem individuellen Glück zu streben, soweit sich der Einzelne dazu entscheidet.

5.2 Erweiterungsebene 1: politische Teilhabe

177

(iii) Politisches Bewusstsein als Bekenntnis zur Gemeinschaft: Die Ebenen der politischen Partizipation und der politischen Verantwortung lassen sich in der Ebene des politischen Bewusstseins des Menschen zusammenführen, was als ein klares Bekenntnis des Einzelnen für das Leben in Gemeinschaft angesehen werden kann. Dieses politische Bewusstsein, das es im Laufe des Lebens durch die Teilhabe an allen anderen politisch-anthropologischen Lebensbereichen und -beziehungen zu entwickeln gilt, bringt zum Ausdruck, dass der Einzelne sein Leben nicht individualistisch oder egoistisch führen bzw. leben möchte, sondern um den Mitmenschen innerhalb der Gemeinschaft Sorge und Verantwortung – in welcher Form und Intensität auch immer – zu tragen bereit ist. Partizipation und Verantwortung als Ausdruck des politischen Bewusstseins des Menschen in Gemeinschaft machen deutlich, dass dem Einen das Leben des Anderen nicht völlig gleichgültig ist. Die Philosophie der Antike hat diese Lebensbereiche des Politischen, Partizipation, Verantwortung und Bewusstsein, wenn auch auf den Bürger beschränkt, bereits erkannt, wobei sie Hesiod in Bezug auf das gute und gelingende Leben des einzelnen Menschen in Gemeinschaft noch fern erschienen sind.

5.3 Erweiterungsebene 2: kosmopolitische Identität Hesiod spricht über die Lebensbereiche außerhalb des Hauses, die Gemeinde und den Stadtstaat – wenn überhaupt dann – in zurückhaltender Art und Weise. Kaum verwunderlich ist daher, dass er zu überregionalen politischen Perspektiven, wie z. B. zu Polis übergreifenden geographischen Regionen, kulturumfassenden griechischen Perspektiven über die einzelne Polis hinaus, über etwaige wirtschaftliche oder politische Stadtstaatenbünde, geschweige denn zu einer anthropologisch-kosmopolitischen Perspektive des Menschseins im Allgemeinen findet. Die Nichtthematisierung einer kosmopolitischen Identität des Menschen ist nicht zuletzt auch deshalb nicht verwunderlich, weil das kosmopolitische Denken zwar von Grund auf ein Verdienst antiker griechischer Philosophie ist, jedoch nur auf Umwegen und fernab der klassischen politischen Philosophie zu seiner Gestaltung fand. Es ist bemerkenswert, dass die Anfänge des kosmopolitischen Denkens in der Philosophie der Antike ihren Ur178

5. Grundlegung und Erweiterung politischer Anthropologie

sprung nicht in den bedeutenden und wirkungsmächtigen Philosophien und Schulen von Platon oder Aristoteles haben. Im Gegenteil – Platon wie auch Aristoteles haben ihr ethisch-politisches Denken primär auf den Lebensraum der Polis bezogen. Wer sich den ersten Entwicklungen kosmopolitischen Denkens in der Philosophie der Antike zuwenden möchte, der muss sich insbesondere an die Strömungen und Schulen (i) der Sophisten, (ii) der Kyniker und (iii) der Stoiker halten (vgl. Varga: 2017, 111 – 129). (i) Trotz der Tatsache, dass die Sophisten in der Geschichte der Philosophie seit der Antike keinen besonders guten Ruf genießen, ist festzuhalten, dass ihnen das kosmopolitische Denken offensichtlich nicht völlig fremd gewesen ist. In Platons Protagoras eröffnet der Sophist Hippias einen Redebeitrag mit den Worten: »Ich denke, sagte er, ihr versammelten Männer, dass wir Verwandte und Befreundete und Mitbürger von Natur sind, nicht durch das Gesetz. Denn das Ähnliche ist dem Ähnlichen von Natur aus verwandt, das Gesetz aber, welches ein Tyrann der Menschen ist, erzwingt vieles gegen die Natur« (Platon: Protagoras, 337c-d).

Auf der einen Seite ist nicht geklärt, wen Hippias hier konkret anspricht. Ist es eine Anrede an alle Anwesenden? Richtet sich das Gesagte an alle Hellenen? Oder gar an alle Menschen? Auf der anderen Seite ist jedoch ein grundlegender Verdienst einiger Sophisten, erkannt zu haben, dass die Bürgerschaft und darüber hinaus die Freundschaft unter Menschen von Natur aus (physis) gegeben ist und nicht erst durch die Ordnung der Polis, durch Recht und Gesetz (nomos) entsteht. Auch wenn die Quellenlage zu diesen und weiteren sophistisch-kosmopolitischen Ansätzen nur in Teilen erforscht ist und manche dieser Quellen sich nicht eindeutig zuordnen und auslegen lassen, lässt sich anhand der angeführten Stelle dennoch deutlich machen, dass ein mögliches kosmopolitisches Argument in der Philosophie der Antike nicht gänzlich unbekannt bzw. undenkbar gewesen ist. (ii) Deutlicher erscheint die Sache jedoch bereits im Kynismus zu sein. Der bekannteste Kyniker ist Diogenes von Sinope, um den sich innerhalb der Geschichte der Philosophie vielerlei Legenden ranken, die sich zwar nicht alle belegen lassen, die aber charakteristisch für die Philosophie des Kynismus im Gesamten sind. Dass Diogenes zu 5.3 Erweiterungsebene 2: kosmopolitische Identität

179

Lebzeiten mit seinem Lebensstil bereits in der Antike für Aufsehen gesorgt hat und vielfach aufgefallen ist, belegen zahlreiche Erwähnungen in Philosophie und Literatur. Eine der wichtigsten Quellen dazu ist der Doxograph Diogenes Laertius, der viele solcher Erzählungen und Legenden über die Philosophen der Antike aufgezeichnet hat. In dieser Quelle lässt sich das ,kosmopolitische Argument‘, dessen Begriff, nachweislich zum ersten Mal in der Geistesgeschichte belegen: »Gefragt nach seinem Heimatort, antwortete er [Anm.: Diogenes von Sinope]: „Ich bin ein Weltbürger“ (kosmopolitês)« (Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen VI 2, 63).

In diesem Textausschnitt findet sich nun erstmalig die Bezeichnung des kosmopolitês. Etymologisch ist dieser Begriff eindeutig zu klären: kosmos steht für die Welt, im engeren Sinne für die Ordnung des Alls, und politês für den Bürger. Zusammengesetzt ergibt das soviel wie den ,Bürger der Welt‘. In dieser knappen Antwort des Diogenes auf die Frage nach seinem Heimatort steckt eine dreifache Provokation. Erstens scheint Diogenes der Ansicht zu sein, dass er kein Teil einer existenten politischen Gemeinschaft einer Polis ist. Das kommt einem gesellschaftspolitischen Affront gleich, zumal alle, Männer, Frauen, Kinder und selbst Sklaven – ohne politische Rechte –, Teile einer Polis, wenn auch größtenteils keine freien Bürger gewesen sind. Zweitens bezeichnet Diogenes anstelle der Bürgerschaft oder der Teilhabe an der politischen Gemeinschaft einer Polis den Kosmos als seine Polis. Damit bringt er unweigerlich zum Ausdruck, dass die Politik der Polis für ihn keine direkte Bedeutung für sein unmittelbares Leben, im kynischen Sinne an den Prinzipien der Askese, der Tugend und an der Autarkie orientiert, hat. Drittens ist in dieser Provokation eine gesellschaftspolitische Sprengkraft in Summe enthalten. Die hier bei dem Kyniker Diogenes erstmals auszumachende Verwendung des Begriffs des kosmopolitês, des Bürgers der Welt, geht zum einen zwar in der Tat als ein gesellschaftspolitischer Zynismus in die Geistesgeschichte ein, ist zum anderen jedoch der nachweisbare Beginn der politischen Philosophie des Kosmopolitismus und wird auf andere Philosophien Einfluss haben. 180

5. Grundlegung und Erweiterung politischer Anthropologie

(iii) Anhand der römischen Stoa, die vielfach an der griechischen Stoa Anfang genommen hat, lässt sich die zuvor gelegte kynische Spur kosmopolitischen Denkens in deutlicher Art und Weise wieder aufnehmen. Der Römer Seneca hat in seiner Schrift De otio – Über die Muße die Zweistaatenlehre der griechischen Stoa rezipiert und damit das kosmopolitische Argument wieder aufgenommen sowie dazu beigetragen, dass der Kosmopolitismus als anthropologische Perspektive aus der gesamten Stoa nicht wegzudenken ist. »Zwei Staatswesen wollen wir uns im Geiste vorstellen: das eine groß und wirklich allgemein, das Götter und Menschen umfasst, darin wir nicht auf diesen Winkel achten oder jenen, sondern die Grenzen unseres Staates mit der Sonne ausmessen; das andere, dem uns als Bürger zugeordnet hat die Bedingung der Geburt (es kann das von Athen sein oder von Karthago oder irgendeiner anderen Stadt), das nicht allen Menschen zugehört, sondern bestimmten. Manche bemühen sich zu derselben Zeit um jedes der beiden Staatswesen, das größere und das kleinere; manche nur um das kleinere, manche nur um das größere« (Seneca: De otio – Über die Muße, IV 1).

Seneca spricht eine Doppelstaatsbürgerschaft des Menschen an, die für das stoische politische Denken – und darüber hinaus auch für die stoische Anthropologie, das stoische Menschenbild – konstitutiv ist: die politische Staatsbürgerschaft im kleineren und die kosmopolitische Staatsbürgerschaft im größeren Sinne. Für die Stoiker ist klar, dass der Mensch von Natur aus neben seiner politischen Staatsbürgerschaft auch Bürger der Welt, also auch ein kosmopolitischer Bürger der Weltgemeinschaft ist. Das Besondere liegt hier nicht nur in der kosmopolitischen Identität der Stoiker selbst, sondern in der Betonung, dass allen Menschen diese ,kosmopolitische Staatsbürgerschaft‘ zuzusprechen sei. Freien und Unfreien, Männern, Frauen und Kindern und – in diesem Falle – über Rom und das römische Reich hinaus. Und bereits Marc Aurel hat diese kosmopolitische Anthropologie bzw. Identität offensichtlich verinnerlicht: »Die staatliche Gemeinschaft und das Vaterland ist für mich als Antonius Rom, für mich als Menschen der Kosmos. Was diesen Gemeinschaften nützlich ist, das allein ist für mich nützlich« (Marc Aurel: Wege zu sich selbst, VI 44).

5.3 Erweiterungsebene 2: kosmopolitische Identität

181

Im stoischen Denken lassen sich in Summe zwei Ergänzungen zur politischen Philosophie der Antike festhalten, die in ihrer Grundlegung zuvor noch nicht in dieser Art und Weise Gegenstand des antiken politischen Denkens gewesen sind. Zum einen handelt es sich um die bereits angesprochene erweiterte kosmopolitisch-anthropologische, eine politisch grenzübergreifende Perspektive des Menschseins, den ,Bürger der Welt‘ als Ergänzung zur unmittelbaren realen politischen Staatsbürgerschaft; und zum anderen um eine erweiterte philosophisch-anthropologische Perspektive, nämlich dass alle Menschen von Natur aus gleich und mit demselben Denkvermögen ausgestattet sind. Aus heutiger Sicht und in Bezug auf das Zusammenleben in modernen Demokratien mögen diese Bereiche vielleicht politisch antiquiert wirken. Beide Perspektiven, die Einführung eines kosmopolitisch-anthropologischen Arguments des Bürgers der Welt als zweite Form der Staatsbürgerschaft und die Erweiterung einer philosophisch-anthropologischen Bestimmung des Menschen, nämlich die Gleichstellung aller Menschen und das auch in Bezug auf das menschliche Denkvermögen, sind jedoch weder in den Anfängen der Philosophie, in der Archaik, noch in der Klassik, und damit nicht im umfassenden und intensiven politischen Denken über die Gemeinschaft der Polis bei Platon und Aristoteles in dieser Art und Weise Thema gewesen. Zur ersten Perspektive: Das politische Denken der Stoiker in der Antike implizierte also die kosmopolitisch-anthropologische Bestimmung, dass allen Menschen auf der Welt untereinander gemeinsam ist, dass sie von Natur aus Bürger dieser Welt sind und nicht ausschließlich politische (Staats-)Bürger. Dieses Menschenbild hat auch auf das soziale Verständnis der Stoiker grundlegende Auswirkungen. Denn es gilt nun nicht nur für die politische Bürgerschaft Verantwortung und Fürsorge zu tragen, sondern auch im Rahmen der kosmopolitischen Bürgerschaft. Und das impliziert die Verpflichtung zu einem Grundmaß an Solidarität aller Menschen untereinander, die sich darin widerspiegelt, dass der Mensch dem stoischen Verständnis auf zwischenmenschliche Kooperation und nicht auf Konflikt von Natur aus ausgerichtet sei. Dieses Denken wird ebenso bei Marc Aurel in Grundrissen deutlich:

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5. Grundlegung und Erweiterung politischer Anthropologie

»Denn wir sind da, um zusammenarbeiten, wie die Füße, Hände, Augenlider oder die Reihen der oberen und unteren Zähne. Gegeneinander zu arbeiten, wäre gegen die Natur« (Marc Aurel: Wege zu sich selbst, II 1).

Zur zweiten Perspektive: Darüber hinaus ist die Stoa der Ansicht, dass alle Menschen von Natur aus gleich sind. Jeder Mensch hat an demselben Denkvermögen Anteil und ist aufgrund dieser Anteilhabe Mitglied der Weltgemeinschaft des Menschen. Diese Perspektive ist eine philosophisch-anthropologische Erweiterung, die in der Philosophie der griechischen Klassik nicht in dieser Art und Weise thematisiert worden ist. Der Kosmos vereint in der Stoa die Menschen von Natur aus, d. h. ohne Zutun des Menschen, zu einem Menschengeschlecht. Abermals wird dieser Ansatz bei Marc Aurel ersichtlich: »Wenn uns das Denkvermögen gemeinsam ist, dann ist uns auch die Vernunft (logos), durch die wir vernünftig sind, gemeinsam. Wenn dies zutrifft, dann ist auch die Vernunft, die bestimmt, was zu tun ist oder nicht, uns allen gemeinsam. Trifft dies zu, so ist auch das Gesetz uns allen gemeinsam. Wenn dies richtig ist, dann sind wir alle Bürger. In diesem Falle haben wir teil an einer Art von Staatswesen. Wenn dies zutrifft, dann ist der Kosmos (kosmos) gewissermaßen ein Staat (polis). Denn zu welchem gemeinsamen Staatswesen, so könnte jemand fragen, sollte das gesamte Menschengeschlecht (anthrôpôn genos) sonst gehören? Von dort aber, d. h. aus diesem gemeinsamen Staat (tês koinês tautês poleôs), haben wir unser Denkvermögen, unser vernünftiges Wesen und unser Bedürfnis nach dem Gesetz« (Marc Aurel: Wege zu sich selbst, IV 4).

Das kosmopolitische Denken hat sich in der Philosophie der Gegenwart (mit ihren interdisziplinären Zugängen) ausdifferenziert und damit verbunden an Komplexität zugenommen, die zweifelsfrei über die Ansätze des antiken kosmopolitischen Denkens hinausgeht. Und von Hesiod findet sich in diesen Diskursen – sicherlich zu Recht – keine Spur. Auffallend bei den Debatten ist, dass die Anfänge des kosmopolitischen Denkens in der Philosophie der Antike zumeist nur kurz angesprochen werden, und zwar in unterschiedlicher, allzu oft verkürzter Art und Weise, dabei manchmal auch mit falschen Konnotationen (vgl. FN 20). Darüber hinaus wird der Eindruck vermittelt, dass es sich bei den antiken Ansätzen – wenn überhaupt – nur 5.3 Erweiterungsebene 2: kosmopolitische Identität

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um rudimentäre Vorstufen des modernen Kosmopolitismus handle, die nicht mehr zeitgemäß erscheinen und die in der Antike mehr „individualistische Lebenseinstellung“ (Fuchs/Zürn: 2006, 247) gewesen sein sollen. Weiters wird konstatiert, dass in der Antike aus dem kosmopolitischen Denken keine unmittelbaren „politischen Konsequenzen“ gezogen wurden (Höffe: 2016, 75). Seyla Benhabib merkt in ihren Studien an, dass es in den letzten zwei Jahrzehnten ein „bemerkenswertes Wiederaufleben des Interesses am Kosmopolitismus gegeben“ habe, und zwar vielfach über die Fachgrenzen der Philosophie hinaus (Benhabib: 2016, 21). Aufgrund der zuvor angesprochenen Komplexität des Themas heute und „einigen echten Herausforderungen für den zeitgenössischen Kosmopolitismus“ sowie den unterschiedlichen kosmopolitischen Ausrichtungen und Konzepten der Gegenwart, die sich teilweise konträr gegenüber stehen, liege manchmal jedoch die Vermutung nahe, dass das „kosmopolitische Projekt“ in Summe „nur noch ein Scherbenhaufen“ sei (Benhabib: 2016, 41). Und dennoch plädiert Benhabib für einen „Kosmopolitismus ohne Illusionen“, der sich „ohne allzu viel utopisches Getöse“ insbesondere darum bemühen müsse, internationales Recht, dessen Entwicklung und Einhaltung, dabei vorrangig im Bereich der Menschenrechte, trotz aller Problematiken ihrer Legitimierung, voranzutreiben bzw. auszubauen (Benhabib: 2016, 41). Eine ihrer kosmopolitischen Argumentation erinnert der Intention nach an die antiken Ansätze der Stoa, denen sich Benhabib in ihren Untersuchungen – zumindest kurz – zuwendet: »Für mich beinhaltet der Kosmopolitismus die Anerkennung, dass Menschen moralische Personen sind, die in gleicher Weise Anspruch auf rechtlichen Schutz haben, und zwar auf Grund von Rechten, die ihnen nicht als Staatsangehörige oder Mitglieder einer ethnischen Gruppe zukommen, sondern als Menschen als solche« (Benhabib: 2016, 33).

Diese Argumentation steht dem zuvor angesprochenen stoischen philosophisch-anthropologischen Denken sehr nahe, zumindest in Bezug auf den Gleichheitsgrundsatz und in der Rede vom ,gleichen Menschsein von Natur aus‘. Bereits angesichts dieser einen Facette kosmopolitischen Denkens der Gegenwart lässt sich festhalten, dass die Grundlagen des antiken politischen Denkens heute noch eine 184

5. Grundlegung und Erweiterung politischer Anthropologie

wichtige Grundlage moderner kosmopolitischer Zugänge bilden, wenngleich sie dabei wesentliche Bestimmungen ausblenden, wovon anschließend noch die Rede sein wird.20 Julian Nida-Rümelin unterscheidet vier unterschiedliche Ausrichtungen kosmopolitischen Denkens: den anthropologischen, den politischen, den ökonomischen und den sozialen Kosmopolitismus (vgl. Nida-Rümelin: 2006, 232). Für die Grundlegung einer politischen Anthropologie erscheinen insbesondere der anthropologische und der politische Kosmopolitismus verstärkt von Interesse zu sein. In Anlehnung an Jürgen Habermas bestimmt Nida-Rümelin den anthropologischen Kosmopolitismus als eine Form „der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen, ihrem gleichen moralischen Status und dem sich daraus ergebenden normativen Gebot gleichen Respekts“ (Nida-Rümelin: 2006, 233). Auch diese Bestimmung erinnert ähnlich wie jene von Benhabib an die stoische Konzeption kosmopolitischen Denkens, den Gleichheitsgrundsatz. Damit verbunden ist die Notwendigkeit des zwischenmenschlichen Respekts, der aus den gleichen moralischen Vorbedingungen abgeleitet wird. Politischen Kosmopolitismus hingegen bestimmt Nida-Rümelin als das Streben „nach einer globalen Staatlichkeit und der mit dieser Staatlichkeit verbundenen Weltbürgerschaft“ (Nida-Rümelin: 2006, 232). Und

Benhabib ist in Hinsicht auf ihre Rezeption des kosmopolitischen Denkens in der Philosophie der Antike in zwei Punkten zu korrigieren. Erstens spricht sie über den Kyniker „Diogenes Laertius“ (vgl. Benhabib: 2016, 24), wobei sie allem Anschein nach Diogenes von Sinope meint. Zweitens spricht sie einen wichtigen Punkt der aristotelischen politischen Philosophie an, den sie jedoch in einen falschen Kontext setzt: »Was bedeutet es, ein kosmopolites oder Weltbürger zu sein? Um außerhalb der Stadtmauer zu leben, heißt es bei Aristoteles, müsse man entweder ein wildes Tier oder ein Gott sein, da aber Menschen keines von beidem seien und da der kosmos nicht die polis sei, sei der kosmopolites überhaupt kein richtiger Bürger, sondern irgendein anderes Wesen« (Benhabib: 2016, 24). Aristoteles spricht an dieser Stelle der Politik nicht von der Polis, sondern von der politikê koinonia, der politischen Gemeinschaft, die nicht automatisch mit der politischen Gemeinschaft der Polis gleichzusetzen ist. Seine politisch-anthropologische Aussage lautet viel mehr, dass derjenige Mensch, welcher der politischen Gemeinschaft (der politikê koinonia) mit anderen Menschen nicht bedarf, weil er für sich selbst genug, also (politisch) autark ist; derjenige ist nach aristotelischer Ansicht somit „entweder ein wildes Tier oder aber ein Gott“ (Aristoteles: Politik I 2, 1253a28). 20

5.3 Erweiterungsebene 2: kosmopolitische Identität

185

eine prinzipielle Spannung sieht Nida-Rümelin zwischen den Konzepten des Kosmopolitismus und jenen des Kommunitarismus (vgl. Nida-Rümelin: 2006, 232). Die zuvor angeführten einführenden Überlegungen zu den Strömungen und Schulen der Sophisten, der Kyniker und der Stoiker lassen sich treffend unter dem Begriff des anthropologischen Kosmopolitismus zusammenführen, der in Bezug auf die Philosophie der Antike in diesem Bereich verstärkt von Interesse ist, zumal ökonomische bzw. soziale kosmopolitische Facetten zu dieser Zeit kaum bis gar nicht ausgemacht werden können. Grund dafür ist insbesondere das Fehlen (gesellschafts-)politischer Auswirkungen des kosmopolitischen Denkens auf das unmittelbare Leben des Menschen in Gemeinschaft. Es ist vielmehr ein „apolitischer Kosmopolitismus“ (Höffe: 2002, 238), jedoch ausschließlich im engeren Sinne, der neben einem realpolitischen Mangel in Bezug auf das praktische Leben des Menschen allerdings eine ideelle anthropologische Um- und Weitsicht zugleich impliziert. Auf der einen Seite ist aus der Geschichte der politischen Praxis der Antike heraus festzuhalten, dass die Ansätze des kosmopolitischen Denkens keine realpolitischen Auswirkungen auf das Zusammenleben gehabt haben. Bei den Griechen wurden aus dem kosmopolitischen Denken „keine politischen Konsequenzen“ gezogen (Höffe: 2016, 75). Vielmehr habe sich die Antike „mit einem philosophischen Kosmopolitismus und einem Humanitätsideal“ abgefunden, das allerdings „politisch folgenlos bleiben“ würde (Höffe: 2016, 76). Die antike „Kosmo-Polis“, so Höffe, „sei ein offener, erneut aber weder rechtlich noch politisch qualifizierter Lebensraum“ (Höffe: 2016, 76). Auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, dass in der Antike Ansätze eines anthropologischen Kosmopolitismus entwickelt wurden, die zu einem tragfähigen – nicht unumstrittenen – Grundmotiv von allgemeiner Menschenwürde und individuellem Menschenrecht geworden sind. Dieser Zugang beinhaltet eine politische Perspektive, wenn auch im weiteren Sinne, nicht in der politischen Praxis, d. h. im engeren Sinne. Der Mensch ist realpolitischer Staatssowie ideeller Weltbürger zugleich. Diese Perspektive impliziert, im Menschen in erster Linie einen kosmopolitischen Mitbürger zu sehen, allen kulturellen, sozialen oder politischen Unterschieden zum Trotz – und in zweiter Linie einen anderen Staatsbürger. 186

5. Grundlegung und Erweiterung politischer Anthropologie

Für das Vorhaben der Entwicklung einer politischen Anthropologie aus den Denkansätzen der Werke und Tage, in weiterer Folge auch aus der politischen Philosophie der Antike in Summe heraus, stellt sich nun jedoch die Frage, wie zwischen diesen beiden Teilen, Hesiod und dem antiken kosmopolitischen Denken, eine Vermittlung bzw. Verbindung vollzogen werden kann. Im Vordergrund steht daher nun das Bemühen um eine Zusammenführung des rudimentären politisch-anthropologischen Ansatzes bei Hesiod und den kosmopolitischen Perspektiven der Philosophie der Antike, insbesondere der Stoiker, deren kosmopolitisch-anthropologischen und der philosophisch-anthropologischen Argumentation. Und das trotz der Tatsache, dass Hesiod auf die Lebensbereiche der politischen Teilhabe und der kosmopolitischen Identität des Menschen nicht zu sprechen kommt. Hesiod entwickelt in Werke und Tage kein politisches Programm, er verkündet keine königliche bzw. aristokratische Politik, die ,von oben herab‘ den Menschen für ihr Zusammenleben innerhalb der Polis verordnet werden soll. Sein Anliegen stellt vielmehr den einzelnen Menschen und dessen unmittelbares Leben in den Mittelpunkt der Betrachtung. Er agiert daher vielmehr – um im Bild zu bleiben – ,von unten hinauf‘. Hesiod vermittelt also kein politisches Programm im engeren Sinne, das in den politischen Gremien per Beschluss festgelegt wird und damit gültige Rechtsnorm für das Zusammenleben annimmt, sondern er setzt vielmehr in der Bewusstseinsbildung des einzelnen Menschen in Bezug auf das gute und gelingende Leben des Menschen in Gemeinschaft an. Damit entzieht er sich in vielen Bereichen, nicht in allen, wie z. B. nicht bezüglich der dikê, dem politischen Diskurs, der Politik der Polis im engeren Sinne und vielleicht damit auch von der von ihm oftmals befürchteten politischen Willkür der Herrscher. Hesiod bestimmt also seine Lebensbereiche und -beziehungen fernab der spezifischen Politik der Polis, jedoch nicht gänzlich losgelöst von ihr, somit aber im Rahmen des Lebens des Menschen in Gemeinschaft. Diese Allgemeingültigkeit ist allerdings kein politisches Rezept im engeren Sinne, sondern – wie angeführt – vielmehr eine Form der individuellen Bewusstseinsbildung des einzelnen Menschen in Gemeinschaft.

5.3 Erweiterungsebene 2: kosmopolitische Identität

187

Die stoischen Überlegungen zum kosmopolitischen Denken sind ähnliche Wege gegangen. Das kosmopolitische Argument wird aus der Natur des Menschseins begründet und nicht als politisches Konzept oder Programm entwickelt, über das sich die politische Gemeinschaft einigen könne oder aber vielleicht auch nicht. Der stoische Kosmopolitismus formuliert – um es nochmals deutlich zu machen – eine anthropologische Grundkonstante des Menschseins, die nicht wegzudenken oder wegzuargumentieren ist. Der Mensch ist von Natur aus auch ,Bürger der Welt‘. Diese Bürgerschaft hat keine politischen Konsequenzen im engeren Sinne, als vielmehr ethische, soziale, vielleicht schlichtweg menschliche Bedingungen in sich. Damit ist kein Verlust der realen Staatsbürgerschaft, der nationalen, kulturellen, sozialethischen oder sozialpolitischen Kultur des Einzelnen verbunden, sondern eine politische Ergänzung im weiteren Sinne. Der rudimentäre Ansatz Hesiods und das stoische kosmopolitische Denken in Verbindung legen es aus politisch-anthropologischer Perspektive nahe, von einer ,kosmopolitischen Identität als Lebenseinstellung‘ des Menschen zu sprechen, fernab politischer Institutionalisierung und Instrumentalisierung. Im Gegenteil, dem systematischen Ansatz Hesiods und dem inhaltlichen Denken der Stoiker folgend, steht diesen antiken Zugängen und Überlegungen das Konzept des politischen Kosmopolitismus im heutigen Verständnis – z. B. in der Definition Nida-Rümelins – konträr gegenüber. Weder in Hesiods politischer Anthropologie noch in dem kosmopolitischen Denken der Stoiker geht es in den hier angesprochenen Dimensionen, wie gesagt in Bezug auf Hesiod mit der Ausnahme im Bereich der dikê, um die realpolitische Verwirklichung dieses Denkens. Hesiod braucht kein gesetztes Recht, kein Gesetz der Polis, um zu wissen, wie er im oikos glückselig (eudaimon) werden kann. Und die Stoiker wissen, dass die kosmopolitische Identität dem Menschen von Natur aus zugesprochen ist. Es geht in beiden Ansichten um keine realpolitischen Programme, nicht um die Errichtung eines organisierten Weltstaats, einer Weltpolis inklusive weltstaatlicher Organisationsformen, ferner auch nicht um eine unmittelbare realpolitische Staatsbürgerschaft innerhalb einer Weltgemeinschaft. Vielmehr sollen – bei Hesiod wie bei den Stoikern – jene Lebensbereiche und Lebensbeziehungen aufgezeigt werden, die für das Menschsein charakteristisch bzw. unverzichtbar erscheinen. 188

5. Grundlegung und Erweiterung politischer Anthropologie

Darüber hinaus ist festzuhalten, dass das stoische Konzept in weiterer Folge keinen unmittelbaren Widerspruch zwischen Kommunitarismus und Kosmopolitismus kennt, was die zuvor rezipierte Zweistaatenlehre deutlich macht. Der Mensch ist (und bleibt) zum einen Bürger des Staats und zum anderen bzw. gleichzeitig ist er aber ebenso von Natur aus ,Bürger der Welt‘. Diese im weiteren Sinne politisch-anthropologische Perspektive entzieht der Entscheidung zwischen Kosmopolitismus oder Kommunitarismus den Boden. Denn dem Menschen wird durch das kosmopolitisch-anthropologische und durch das philosophisch-anthropologische Argument die lokale bzw. kommunale, kulturelle und politische Identität nicht abgesprochen. Vielmehr wird das Menschsein um die Sphäre der kosmopolitischen Identität erweitert und eine globale humanistische Perspektive zusätzlich eröffnet. Somit begründet sich der Lebensbereich und die Lebensbeziehung der kosmopolitischen Identität als Lebenseinstellung in der Form einer politisch-anthropologischen Dimension, die keine unmittelbaren politischen Bezüge im engeren Sinne auf das Leben des Menschen in staatsrechtlicher Hinsicht, jedoch umso mehr ethisch-politische bzw. moralische Auswirkungen auf das Leben des Menschen in Gemeinschaft hat. Es handelt sich hierbei um eine Zusammenführung, die in ihrem antiken Charakter jedoch nicht individualistisch geprägt ist, also um keinen Kosmopolitismus als „individualistische Lebenseinstellung“ (contra Fuchs/ Zürn), sondern vielmehr um ein allgemeingültiges philosophischanthropologisches Konzept. Mehr kann an dieser Stelle in Bezug auf die Verknüpfung der hesiodschen Methode mit dem stoisch-kosmopolitischen Denken im Sinne der Grundlegung einer aktuellen politischen Anthropologie nicht geleistet werden. Dass es sich dabei allerdings in Summe um ein notwendiges und auch um ein im Grunde genommen unverzichtbares Thema im Rahmen der Betrachtung und Entwicklung einer politischen Anthropologie handelt bzw. handeln muss, hat Immanuel Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht überaus deutlich gemacht. In seiner Vorrede dazu unterscheidet er zwischen der Möglichkeit einer physiologischen und einer pragmatischen Orientierung der Anthropologie:

5.3 Erweiterungsebene 2: kosmopolitische Identität

189

»Eine Lehre von der Kenntnis des Menschen, systematisch abgefasst (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. – Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht oder machen kann und soll« (Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, [119] 10 – 15).

Es liegt nahe, Hesiods Perspektiven auf das Leben des einzelnen Menschen in (politischer) Gemeinschaft in dem Verständnis einer pragmatischen Anthropologie im Sinne Kants aufzufassen oder auszulegen, eben als eine einleitende Thematisierung jener Lebensbereiche und Lebensbeziehungen, die der Mensch in seinem Leben von sich aus anstreben und gestalten kann – vielleicht auch muss –, selbst wenn die Trennung zwischen dem ,Naturwesen Mensch‘ und dem ,Freiheitswesen Mensch‘ bei Hesiod freilich nicht in ganzer Schärfe durchgeführt werden kann. Tatsache ist jedoch, dass die Werke und Tage mehrfach deutlich machen, dass der Mensch zum einen sein Leben vielfach selbst gestalten kann, und zum anderen, dass der Mensch in vielen Belangen die Wahl hat, seinem Leben Richtung zu geben. Der Bezug einer pragmatischen Anthropologie zu einem anthropologischen Kosmopolitismus ist für Kant offensichtlich. Es geht im anthropologisch-pragmatischen Blickfeld nicht um das Erkennen des Menschen in seiner Umwelt, um die Erkenntnis der „Sachen in der Welt“, wie „z. B. der Tiere, Pflanzen und Mineralien in verschiedenen Ländern“. Vielmehr – so Kant – handelt es sich dann um eine pragmatische Anthropologie, wenn sie von der „Erkenntnis des Menschen als Weltbürger“ handelt (Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, [120] 5 – 10).

190

5. Grundlegung und Erweiterung politischer Anthropologie

6. Definitionen, Kritiken und Perspektiven

Im folgenden Abschnitt stehen drei Bereiche im Mittelpunkt. Erstens werden die Philosophische Anthropologie im Allgemeinen und die Politische Anthropologie im Speziellen als Fachdisziplinen diskutiert, mit dem Ziel, die Politische Anthropologie im Themenspektrum der Philosophie einzuordnen und auszudifferenzieren (6.1). Zweitens wird die Anthropologiekritik, dabei insbesondere jene des 20. Jahrhunderts, zumindest ansatzweise zum Thema gemacht, somit weder ausgelassen noch pauschal zurückgewiesen (6.2). Drittens wird die Politische Anthropologie Hesiods, deren Verortung in der Philosophie der Neuzeit und deren Ergänzung durch die beiden Lebensbereiche der politischen Teilhabe (vgl. Kap. 5.2) und der kosmopolitischen Identität des Menschen als Lebenseinstellung (vgl. Kap. 5.3), ergänzt sowie der Frage nachgegangen, was dieses Konzept gegenüber anderen Entwürfen hervorhebt (6.3).

6.1 Politische Anthropologie erster und zweiter Stufe Anfang genommen wurde zu Beginn dieser Studie Immanuel Kant und seiner umfassenden, aber dennoch zentralen Frage „Was ist der Mensch?“ (vgl. Kap. 1). Die Philosophische Anthropologie ist als Fachrichtung ein Entwurf der Neuzeit, wobei sie der Sache nach zweifelsfrei bis in die Philosophie der Antike, bis zu ihren Anfängen, zurückreicht. Die vieldiskutierten Konzepte von Max Scheler (1847 – 1928, z. B. Die Stellung des Menschen im Kosmos aus 1928), Helmuth Plessner (1892 – 1985, z. B. Die Stufen des Organischen und der Mensch aus 1928) und Arnold Gehlen (1904 – 1976, z. B. Studien zur Anthropologie und Soziologie aus 1963) u.v.m. haben dazu beigetragen, dass der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert viel Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, gleichzeitig aber auch viel Kritik nach sich zog: nicht nur inhaltlich, an einzelnen Positionen und Argumenten, sondern insbesondere methodisch, in der Form einer Kritik an Legitimation, Notwendigkeit und Nutzen philosophischanthropologischen Denkens überhaupt. Doch es waren bereits 191

Scheler, Plessner und Gehlen selbst, die sich den Schwierigkeiten philosophischer Anthropologie bewusst waren, und dennoch beharrlich die grundsätzliche Unverzichtbarkeit philosophisch-anthropologischen Denkens für Wissenschaft und Leben hervorgehoben haben. Max Scheler konstatiert in Die Stellung des Menschen im Kosmos bereits zu Beginn, dass der Anthropologie in ihren unterschiedlichen Ausrichtungen – er unterscheidet zwischen einer naturwissenschaftlichen, einer philosophischen und einer theologischen Anthropologie – „jede Einheit“ untereinander fehle. Die Folge daraus sei zwangsläufig, dass aktuell keine übereinstimmende „Idee vom Menschen“ und des Menschseins in seiner Summe vorliege. Den Grund dafür sieht Scheler in der wachsenden „Vielheit der Spezialwissenschaften“ seiner Zeit, die, „so wertvoll diese sein mögen“, das Wesen des Menschen mehr verdecken als offenlegen würden. Darüber hinaus habe jede der drei genannten Anthropologien mit internen Erosionen und Orientierungsdebatten zu kämpfen. All das zusammen fokussiert Scheler in der These, dass „zu keiner Zeit der Geschichte der Mensch sich so problematisch geworden ist wie in der Gegenwart“ (Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 11). Ein ernüchternder Befund für das 20. Jahrhundert, den er – wie zu Beginn dieser Studie bereits angeführt – ebenso in Mensch und Geschichte attestiert hatte. Der Mensch sei sich gegenwärtig „völlig und restlos problematisch geworden“, weil „er nicht mehr weiß, was er ist, zugleich aber auch weiß, dass er es nicht weiß“ (Scheler: Mensch und Geschichte, 120; vgl. Kap. 1). Gründe genug für Scheler, einen neuen Versuch einer philosophischen Anthropologie auf breitester Grundlage zu unternehmen, die sich darum bemüht, den Menschen und das Menschsein zu fassen. Helmuth Plessner spricht in Die Stufen des Organischen und der Mensch von tiefgehenden Spannungen zwischen der Naturwissenschaft und der Philosophie, die zwangsläufig auch zu schwerwiegenden Problemen zwischen philosophischer und biologischer Anthropologie führen würden (vgl. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, 9). Und darüber hinaus scheint es seiner Meinung nach mehr als fraglich zu sein, ob zur Zeit der Veröffentlichung der Schrift überhaupt ein grundsätzliches Interesse an philosophischer Anthropologie in den Wissenschaften bestanden habe (vgl. Plessner: 192

6. Definitionen, Kritiken und Perspektiven

Die Stufen des Organischen und der Mensch, 14). Die Verbindung von Biologie und Philosophie in Bezug auf eine umfassende Anthropologie ist für Plessner jedoch unverzichtbar, womit er in ähnlicher Art und Weise wie Scheler, dessen Überlegungen er kannte, darum bemüht ist, die ausdifferenzierten Wissenschaften in ihren Spezialgebieten zumindest in Bezug auf die Frage nach dem Menschen zusammenzuführen. Der Grundsatz Plessners dabei lautet, dass ohne eine „Philosophie des Menschen keine Theorie der menschlichen Lebenserfahrung in den Geisteswissenschaften“ und ohne eine „Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen“ möglich sein kann (Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, 63). Eine Theorie der Geisteswissenschaften, so Plessner, welche die Wirklichkeit des menschlichen Lebens „begreiflich zu machen sucht, ist nur als philosophische Anthropologie möglich“ (Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, 65). Arnold Gehlen handelt in ähnlicher Art und Weise wie Scheler über eine aktuelle Uneinigkeit anthropologischen Denkens in seinen unterschiedlichen Ausprägungen sowie darüber, dass unter dem Namen der philosophischen Anthropologie „viele verschiedene und untereinander kaum vergleichbare Bemühungen“ bereits hervorgetreten sind (Gehlen: Zur Systematik der Anthropologie, 11). Dennoch sieht er die Herausforderung gegeben, dem „steigenden Bedürfnis einer allgemeinen philosophischen Anthropologie zu entsprechen“, wie es seiner Ansicht nach bereits Scheler getan hat (Gehlen: Zur Systematik der Anthropologie, 13). Und auch Gehlen wendet sich dem Vorhaben zu, eine „Gesamtwissenschaft vom Menschen“ möglich zu machen, der er die Hypothese zugrunde legt, dass der Mensch „ein einheitlicher und einer Wissenschaft zugänglicher Gegenstand ist“, und zwar in zweierlei Hinsicht. So zum einen als Einheit in der Spezies Mensch und zum anderen als einzelner Mensch in bzw. für sich (Gehlen: Zur Systematik der Anthropologie, 17). Seit der Zeit der umfassenden Anthropologiekritik (vgl. Kap. 6.2), insbesondere im Anschluss an Scheler, Plessner und Gehlen, so Otfried Höffe, dominiere die Philosophie ein „nachanthropologisches Denken“ und die Philosophische Anthropologie führe als Fachdisziplin „ein Dasein am Rande der großen Debatten“ (Höffe: 1992, 5). Doch selbst von diesem Rand aus greifen philosophisch-anthropologische Ansätze immer wieder in die Diskurse der Gegenwart ein, zu 6.1 Politische Anthropologie erster und zweiter Stufe

193

Recht, was nicht zuletzt – wenn auch etappenweise – dazu beigetragen hat, dass die Frage nach dem Menschen im Motiv Kants „wieder Konjunktur“ hat (Jörke: 2005, 9). Die „Strategie des Seiteneinstiegs“, so bezeichnet Höffe eine Möglichkeit, der philosophischen Anthropologie neues Gewicht zu geben und neuartige anthropologische Akzente zu setzen, nämlich durch eine verstärkte Thematisierung der politischen Anthropologie (Höffe: 1992, 9), ist offensichtlich vorerst gelungen. Es ist nicht zur Gänze übertrieben, wenn heute von einer „Renaissance der politischen Anthropologie“ gesprochen wird, die als eine „Art Gegenreaktion“ auf eine „postmoderne Verflüssigung des Humanen einerseits und der realen Gefährdungen andererseits“ verstanden werden kann (Jörke: 2005, 9). Diesen Entwicklungen steht jedoch nicht nur die Anthropologiekritik aus dem 20. Jahrhundert gegenüber (vgl. Kap. 6.2), sondern bereits die Tatsache, dass der Begriff der politischen Anthropologie in seiner Zusammensetzung einer grundlegenden Erklärung bedarf, zumal aus heutiger Perspektive die Verbindung von Mensch (privat) und Politik (öffentlich) zumeist getrennt wird, wohingegen die Philosophie der Antike diese Aufteilung in dieser Art und Weise nicht kannte. Hinzu kommen Unbestimmtheit und Unschärfe des Begriffs selbst: „Politische Anthropologie kann vieles heißen“ (Mehring: 2009, 26) – ihr Begriff „ist unscharf“ (Jörke: 2005, 10). Die Politische Anthropologie ist zuallererst eine Teildisziplin der allgemeinen philosophischen Anthropologie, wobei letztere es sich zur Aufgabe macht, den Menschen in seinen biologischen, kulturellen, sozialen und auch in seinen politischen Dimensionen und Eigenschaften in seiner Gesamtheit zu erfassen. Der Unterschied zwischen der philosophischen Anthropologie und der politischen Anthropologie liegt somit auf der Hand und dreht sich um den Begriff des Politischen. Für eine Klärung erscheint es sinnvoll, zwischen einer politischen Anthropologie erster und zweiter Stufe zu unterscheiden, wobei sich die beiden Stufen nicht zwingend gegenseitig bedingen müssen, aber freilich gegenseitigen Bezug aufeinander nehmen können. Die Politische Anthropologie erster Stufe fragt nach dem Leben des Menschen in Gemeinschaft, verstanden als eine Frage nach dem Leben des Einzelnen innerhalb von politischer Gemeinschaft im weiteren Sinne. Es geht hierbei um eine Untersuchung – und um eine 194

6. Definitionen, Kritiken und Perspektiven

mögliche Bestimmung – der grundlegenden, signifikanten Lebensbereiche und Lebensbeziehungen, in denen der Mensch als Einzelner in Gemeinschaft lebt. Hierbei stehen weniger spezifische soziale Verhaltensmuster im Blickfeld, die mehr dem Bereich der Sozialanthropologie zuzurechnen sind, sondern vielmehr jene Themen, die den Menschen in Bezug auf das Zusammenleben mit dem Mitmenschen zum Menschen in Gemeinschaft machen. Und damit verbunden ist unweigerlich die Frage, wie der Einzelne ein gutes Leben innerhalb gelingender Gemeinschaft leben bzw. verwirklichen kann. Die Politische Anthropologie zweiter Stufe wendet sich dem Verhältnis von Mensch und Politik im engeren Sinne zu. Gegenstand sind dabei Frage- und Problemstellungen rund um das Thema Menschsein und Politik, um politische Notwendigkeiten und politische Konsequenzen aufgrund etwaiger anthropologischer Bestimmungen. Es geht dabei u. a. um kommunale, nationale oder aber auch um internationale politische Gestaltungsprozesse auf der Basis (politisch-) anthropologischer Überlegungen sowie um politische Institutionalisierungen, um die (Um-)Gestaltung bestehender politischer Institutionen und deren gegenwärtige und zukünftige Rechtfertigung, um staatliche Ordnung, um die Verfassung im Ganzen, um Grundrechte sowie um die Fragen nach allgemeingültigen notwendigen Rechtsprinzipien und Rechtsnormen aus nationaler und internationaler Perspektive. Das alles zumeist mit dem Fokus, Rechtsräume zu definieren und zu gestalten oder nach deren Legitimation zu fragen. Notwendigkeit und Nutzen der politischen Anthropologie in erster und zweiter Stufe für aktuelle Diskurse der politischen Philosophie werden bereits mit dieser Unterscheidung ersichtlich. Das Leben des Menschen in Gemeinschaft kann nicht ohne eine – zumindest individuelle – Bestimmung der wichtigsten Lebensbereiche und -beziehungen gelebt werden, worin immer der Einzelne auch seine Schwerpunkte setzen mag. Dabei handelt es sich um einen Bezug zur politischen Anthropologie erster Stufe. Und dass der Politik heute in ihren unterschiedlichen Ausprägungen und Richtungen, u. a. in Parteiideologien, weiters in politischen sowie in gesellschaftspolitischen Handlungen, spezifische Menschenbilder zugrunde liegen, die diese politischen Handlungen motivieren und Gesetze, Rechtsräume gestalten, ist evident. Hier handelt es sich um einen Bezug zur politischen Anthropologie zweiter Stufe. 6.1 Politische Anthropologie erster und zweiter Stufe

195

Die Verknüpfung von Mensch und Politik im Rahmen politischer Anthropologie ist nach wie vor essentiell und in der Philosophie der Antike bereits erkannt worden. Anthropologische Perspektiven sind für das Zusammenleben, für politische Diskurse und für die Politik selbst unverzichtbar. Beiden Bereichen, der Anthropologie und der Politik, kommen dabei ihre spezifischen Aufgaben zu, die sich auch in ihrer Verknüpfung widerspiegeln. Es darf nicht übersehen werden, dass anthropologische Vorstellungen, Menschenbilder, „mehr als nur Glaubenssache“ sind. „Sie bestimmen nicht nur, wie wir uns selbst und andere sehen, sondern auch, wie wir miteinander umgehen. Und damit haben sie weit reichende Auswirkungen darauf, wie wir miteinander leben“ (Bauer: 2013, 10). Über kurz oder lang bestimmen unsere anthropologischen Perspektiven, deren Einflussnahme auf Gesellschaft und Politik, wie wir unser Leben innerhalb von (politischer) Gemeinschaft gestalten. Damit ist klar, dass die Politik „mehrere Arten anthropologischer Vorgegebenheiten im Auge behalten“ muss, „wenn sie ihr Ziel erreichen will“ (Birnbacher: 2009, 182). Und ebenso wird deutlich, dass die Politische Philosophie, „ob zugestanden oder nicht“, ein „Stück Anthropologie“ miteinschließt (Mittelstraß: 1992, 48). „Anthropologie und Politik gehören zusammen. Sie sind systematisch miteinander verbunden“ (Ottmann: 1992, 69) und bedingen einander in vielerlei Hinsicht. In diesem Zugang liegen jedoch auch jene Probleme mitbegründet, die die Anthropologiekritik – oft treffend und mit Recht – vorgetragen hat. Selbst wenn der Zusammenhang von Anthropologie und Politik in seiner Grundlegung offenkundig ist, so müssen beide Bereiche in einer Art und Weise flexibel sein, die Änderungen und Korrekturen zulassen und eine Politische Anthropologie weder als Dogmatik noch als Ideologie entwickeln. Davon ist das Grundanliegen jedoch unberührt, eine „politische Philosophie“ ist „ohne differenzierte und korrigierbare Anthropologie nicht möglich“ (Siep: 1992, 132). Die Verknüpfung von Anthropologie und Politik im Sinne einer politischen Anthropologie erster und zweiter Stufe ist nicht neu, denn die Themen sind im Grunde genommen bereits bekannte Motive aus den Anfängen der Philosophie. Und schon damals war ersichtlich, was auch für die Politische Anthropologie der Gegenwart zutreffend erscheint: „Anthropologie und Politik sind untrennbar, aber ihr 196

6. Definitionen, Kritiken und Perspektiven

Verhältnis bleibt heikel“ (Birnbacher: 2009, 193). Auf diese sensiblen Schnittmengen hinweisend und die historischen Realitäten des Totalitarismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielfach vor Augen, hat die Anthropologiekritik ihre methodischen Bedenken gegenüber dem Projekt jedweder Form der Anthropologie geäußert.

6.2 Ansätze der Anthropologiekritik mit drei Repliken Viele der bis heute vorgebrachten Kritiken gegenüber der philosophischen Anthropologie im Allgemeinen und der politischen Anthropologie im Speziellen lassen sich in ihrer philosophischen Urheberschaft kaum noch ausmachen, da sich viele der Argumente inhaltlich überschneiden und sich gelegentlich auch wiederholen, aber dennoch zumeist eine jeweilige spezifische Konnotation und unterschiedliche Ausrichtungen zum Ausdruck bringen. Eine etwaige Sammelklage gegen die Unternehmungen der philosophischen Anthropologie könnte u. a. folgende Punkte beinhalten: Erstens werden Bedenken und eine grundlegende Skepsis gegenüber einem möglichen Nachweis von anthropologischen Konstanten des Menschen und des Menschseins überhaupt geäußert. Zweitens findet sich immer wieder im Rahmen der Anthropologiekritik die Befürchtung formuliert, dass anthropologische Perspektiven zum einen für Ideologien nutzbar und bzw. oder zum anderen überhaupt gleich als politisch motivierte Ideologien unter dem Deckmantel einer moderneren Wissenschaftlichkeit entwickelt und propagiert werden. Drittens wird gegenüber anthropologischen Denkmustern ein Paternalismusverdacht zum Ausdruck gebracht, der – aufgrund der pauschalen Verallgemeinerung des Menschenbilds durch vermeintlich ahistorische Charakteristika des Menschenseins – über kurz oder lang einen Autonomieverlust beinhalten könnte, zumal das Leben in anthropologischen Schranken als eine Art der (,väterlichen‘) Bevormundung gegenüber einem individuellen und selbstverantworteten Leben angesehen wird. Viertens – verschärfend gegenüber dem Paternalismusverdacht – ist ein prinzipieller Dogmatikverdacht anthropologischer Motive in der Kritik, der dem Ideologieverdacht nahesteht. Fünftes werden anthropologische Bestimmungen unter dem Stichwort einer unzulässigen ethnozentrischen Verallgemeinerung kriti6.2 Ansätze der Anthropologiekritik mit drei Repliken

197

siert, verbunden mit der Frage nach der Legitimation von allgemein formulierten Menschenbildern, die bloß von einem bestimmten Teil der Menschen bzw. aus einem politischen Blickwinkel eines einzigen Kulturkreises bestimmt oder gar diktiert werden. Die Anthropologiekritik ist mit vielen Namen aus der Geschichte der Philosophie verbunden. Hartmut Rosa sieht z. B. Michel Foucault als „Endpunkt einer langen, von Kant über Hegel und den deutschen Idealismus bis zu Marx und der kritischen Theorie und von Nietzsche zu den Poststrukturalisten“ hinführenden Entwicklung an, in „welcher die Hoffnung darauf, einen überzeitlichen, ungeschichtlichen Begriff des Menschen zu finden, immer schwächer wurde“ (Rosa: 2009, 165). In der jüngeren Philosophiegeschichte sind (u. a.) George Lukacs, Jürgen Habermas und insbesondere Max Horkheimer zu nennen, die sich gegenüber den unterschiedlichen Vorhaben philosophischer Anthropologie kritisch geäußert haben. Horkheimer hat in seinen Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie ausgeführt, dass Bemühungen und Aussagen anthropologischen Denkens stets „nur einzelne Gruppen der Gesellschaft“ erfassen bzw. erfassen könnten, aber dennoch einen allgemeingültigen Anspruch erheben würden (Horkheimer: 1935, 249). Im Zuge seiner Ausführungen kritisiert er auch die philosophisch-anthropologischen Ansätze Schelers, den er als Begründer der modernen philosophischen Anthropologie ansieht, sowie dessen Versuch, eine umfassende Grundstruktur des Menschseins darzulegen, und resümiert auf das Vorhaben: „[…] – diese Aufgabe ist unmöglich. […]. Eine Formel, die ein für allemal die Beziehung zwischen Individuum, Gesellschaft und Natur bestimmte, gibt es nicht“ (Horkheimer: 1935, 251). Und selbst dann, so Horkheimer, wenn Schelers Zeitdiagnose, nämlich dass der Mensch zu keiner Phase in der Geschichte sich selbst so problematisch gewesen sei wie heute, zutreffen würde, wäre dies „nicht sonderlich quälend“ (Horkheimer: 1935, 261). Vielmehr sollten seiner Ansicht nach die tatsächlichen, aktuellen (politischen) Qualen des Menschen gelindert werden. Ein Hauptproblem philosophischer Anthropologie verortet er in der latenten Gefahr, entweder zu viel oder zu wenig aussagen zu wollen (Horkheimer: 1935, 259). Dennoch seien anthropologische Studien „keineswegs wertlos“, allerdings weder allgemeingültig noch zeitlos, sondern – im Gegenteil – kulturspezifisch und historisch (Horkheimer: 1935, 260). 198

6. Definitionen, Kritiken und Perspektiven

Nach Horkheimer seien die „menschlichen Eigenschaften“ vielmehr „in den Gang der Geschichte verschlungen“, von Epoche zu Epoche und darin von Gruppe zu Gruppe andersartig konnotiert und definiert, somit durch keinen „einheitlichen Willen geprägt“ (Horkheimer: 1935, 275) – und daher auch nicht enzyklopädisch bestimmbar. In seinen Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie versucht Horkheimer seine Kritik in einer kurzen historischen Auseinandersetzung mit den Begriffen von Arbeit und Leistung und deren unterschiedlichen inhaltlichen Bestimmungen innerhalb der Geschichte zu stützen. Seiner Ansicht nach sei beides, die Notwendigkeit der Arbeit und das Verständnis von bzw. für Leistung, durchaus charakteristisch für das Leben, wobei die Menschen erst nach der Zeit der Renaissance, in „diesen harten Jahrhunderten“, äußerst „schwer genug erkennen gelernt“ hätten, dass „der Genuss nicht von den Göttern, sondern von der eigenen Arbeit“ abhänge (Horkheimer: 1935, 270). Eine Einsicht, die bereits bei Hesiod in ähnlicher Art und Weise zumindest angesprochen wird. Die Grundkritik Horkheimers an der philosophischen Anthropologie hingegen ist in ihrer Deutlichkeit nicht zu überhören: „Der Versuch, den Menschen als feste oder werdende Einheit zu begreifen, ist eitel“ (Horkheimer: 1935, 275). Viele Anthropologiekritiken lassen sich in dem Grundanliegen zusammenfassen, den „Menschen nicht in einem ahistorischen Gehäuse der seinsmäßigen Unwandelbarkeiten für alle Zukunft einzusperren“ (Greven: 2009, 67). Gegenüber diesem möglichen Verdacht ist insbesondere die Politische Anthropologie nicht von sich aus erhaben, denn sie teilt vor allem ein grundlegendes Problem jedweder Anthropologie, das Bernd Ladwig treffend (und ähnlich wie Horkheimer) auf den Punkt gebracht hat: Das allgemeine Problem der Anthropologie ist, dass über den Menschen „nicht zu wenig, sondern zu viel gesagt werden kann“ (Ladwig: 2009, 249). Auch kann die Politische Anthropologie, so sie ernsthaftes Anliegen ist, der Kritik nicht einfach ausweichen und die Kernpunkte der Argumente nicht blind ignorieren. Zumindest dann nicht, wenn sie als philosophische Fachrichtung ernst genommen werden will. Sie muss ihrer Legitimation, ihren „Beweislasten“ zweifelsfrei nachkommen (Jörke: 2005, 58).

6.2 Ansätze der Anthropologiekritik mit drei Repliken

199

Die Frage, die sich nun anschließend an diesen kursorischen Überblick über die Anthropologiekritik stellt, lautet, ob die Politische Anthropologie überhaupt in der Lage dazu ist, allgemeingültige Aussagen über das Leben des Menschen in Gemeinschaft und über politische Legitimation mit anthropologischer Begründung zu treffen? Die Beantwortung dieser Frage erfolgt in drei Schritten und soll deutlich machen, dass dieses vermeintliche Anliegen bereits dem Grundverständnis einer politischen Anthropologie widerspricht und darüber hinaus dem Philosophieverständnis einer praktischen bzw. politischen Philosophie nicht entsprechen kann. (i) Die Politische Anthropologie erster Stufe beschäftigt sich mit der Frage nach den wichtigsten Lebensbereichen und Lebensbeziehungen des Menschen in Bezug auf das gute Leben des Einzelnen in gelingender (politischer) Gemeinschaft, selbstredend mit (möglichen) Schnittmengen zur politischen Philosophie, zur Ethik und – wobei nicht zwingend – zur Politik sowie zur politischen Anthropologie zweiter Stufe. Eine Politische Anthropologie erster Stufe widmet sich insbesondere den Bereichen Mensch, Leben und Gemeinschaft. Alle diese Begriffe wurden im Laufe der Geschichte der Philosophie immer wieder in unterschiedlichen Verknüpfungen aufgegriffen. Bereits einleitend zu dieser Studie wurde auf die konträren anthropologischen Auffassungen des Menschenseins im Naturzustand von Aristoteles und Thomas Hobbes hingewiesen (vgl. Kap. 1). Was in der Philosophie der Antike als Teil des guten und gelingenden Lebens galt, z. B. die moralische Pflicht des Bürgers zur politischen Partizipation innerhalb der Polis, gehört heute nicht mehr zwingend zu der Bestimmung eines guten Lebens. Und auch der Begriff der Gemeinschaft erfuhr durch die Jahrhunderte hindurch von der Antike an unterschiedliche Ausprägungen: der Mensch in Gottesgemeinschaft, in der Bürgergemeinschaft, in einer Staats- oder Interessensgemeinschaft bis hin zu den soziologischen Thesen der ,rationalen Vergesellschaftung‘ sowie einer fortschreitenden gesellschaftlichen bzw. sozialen ,Individualisierung des Individuums‘ des Menschen in der Gegenwart. All das macht deutlich, dass eine Politische Anthropologie erster Stufe keine zeitlose Allgemeingültigkeit postulieren kann, sondern aus ihrer Zeit heraus verstanden werden und deshalb immer Raum für Korrekturen zulassen muss.

200

6. Definitionen, Kritiken und Perspektiven

(ii) Für die Politische Anthropologie zweiter Stufe stellt sich die Sache im Vergleich ungleich prekärer da. Denn die Frage nach dem politischen Zusammenleben des Menschen im engeren, also im gesellschaftspolitischen und in dem genuin politischen Bereich, muss geradezu auf gewissen anthropologischen Annahmen aufbauen, um ein gelingendes Zusammenleben des Menschen überhaupt möglich zu machen. Bürgerrecht, Wahlrecht, Religions-, Meinungs- und Gedankenfreiheit sind umrungene, erkämpfte politisch-anthropologische Perspektiven, die die Grundlage vieler moderner Demokratien bilden. Hier hinzuzufügen, dass auch an dieser Stelle Platz für Korrekturen sein muss, ist angesichts gegenüber den historischen Prozessen, die hinter diesen Errungenschaften stehen, eine fahrlässige Herabwürdigung. Die Entwicklung politischer Grundrechte des Menschen, die auf der Anthropologie der Gleichheit aller Menschen aufbauen, ist vielmehr einer jener Punkte politischer Anthropologie, die als unantastbar gelten (sollten). Doch der Bereich politischer Institutionen, von Verwaltung und Recht des modernen Staats hingegen, das Selbstverständnis eines Staats etc., muss unweigerlich ebenso wie eine Politische Anthropologie erster Stufe Raum für Korrekturen und Weiterentwicklungen zulassen. Hier stellt sich freilich die zwingende Frage, wie weitreichend diese Korrekturen vollzogen werden sollen oder dürfen. (iii) G.W.F. Hegel war in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts der Ansicht, dass die Philosophie die Aufgabe habe, ihre Zeit in Gedanken zu fassen, und jeder Mensch sei darüber hinaus auch ein „Sohn seiner Zeit“ (Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, 26). Nun mag es aus aktueller wissenschaftlicher Perspektive durchaus berechtigt sein, über diesen Ansatz Hegels zu streiten, die Politische Anthropologie scheint jedoch unweigerlich daran gebunden zu sein, zumal ihre Begriffe wie (im weiteren Sinn der politische) Mensch, Gemeinschaft, Staat etc. selbstredend im Kontext der jeweiligen Zeit gedacht, weitergedacht und gegebenenfalls auch – wo es zulässig erscheint – revidiert werden können oder müssen. Ein umfassendes Geschichtsbewusstsein, Kenntnis vom Leben des Menschen in Gemeinschaften vergangener Epochen, kann dabei freilich behilflich sein, die heutige Zeit treffender in Gedanken zu fassen.

6.2 Ansätze der Anthropologiekritik mit drei Repliken

201

John Stuart Mill hat in On Liberty vom Menschen als progressive being gesprochen (vgl. Mill: On Liberty, 36). Der Mensch ist demnach ein Wesen mit einer weitestgehend offenen Zukunft, die er selbst durch die Ausbildung grundlegender menschlicher Fähigkeiten gestalten kann und muss. Zweifelsfrei ist ebenso diese Aussage eine spezifische anthropologische Perspektive, ein mehr oder weniger konkretes Menschenbild, demgegenüber so gut wie sämtliche der zuvor angeführten Anthropologiekritiken in gleicher Art und Weise entgegengestellt werden können wie anderen Anthropologien gegenüber. Diese Aussage Mills vom Menschen als progressive being angenommen, fordert unweigerlich jede Generationsgemeinschaft auf, darüber zu verhandeln, was den Menschen und das Menschsein in Gemeinschaft ausmacht bzw. in Zukunft ausmachen soll, aus individueller und gemeinschaftlicher Perspektive. Die Politische Anthropologie ist darüber hinaus dazu verpflichtet, kritisch mit ihren Aussagen aus gesellschaftspolitischer Perspektive umzugehen, um etwaige Dogmatisierungs- oder Ideologisierungsmissbräuche – zumindest frühzeitig – zu erkennen und ihnen entgegenzutreten. Allerdings sind politische Folgeabschätzungen schwer und zugleich sensibel vorzunehmen und jede Anthropologie sollte „sich vor anthropologischem Wunschdenken ebenso hüten wie vor anthropologischem Zynismus“ (Birnbacher: 2009, 184). Gleichzeitig muss jedoch einleuchtend sein, dass der Mensch als denkendes, handelndes und entscheidendes Subjekt auf der Ebene alltäglicher Erfahrung gar nicht umhin kommt, „bestimmte Annahmen darüber zu machen, was es heißt, ein Mensch zu sein“ (Rosa: 2009, 166). Auch Hesiod hat in Werke und Tage den Menschen als Instanz der Selbstentscheidungen zumindest rudimentär entworfen und darauf aufbauend festgehalten, was aus seiner Perspektive das selbstentscheidende und sich weiterentwickelnde Wesen Mensch in seinem Leben in Gemeinschaft beachten und auf welche Lebensbereiche und -beziehungen besonderer Wert gelegt werden sollte – ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne Anspruch an jeden Menschen, dass er sich danach richtet, zumal jeder Mensch in seinem Leben nach Hesiod die freie Wahl hat. Dieser Zugang ist für eine Politische Anthropologie der Gegenwart leitend. Es muss „ohne Angst vor ,anthropologischen Zügen‘ verhandelt werden, was es heute überhaupt heißen kann, vom menschlichen Wesen zu sprechen“ (Arndt: 2009, 162). Denn ohne 202

6. Definitionen, Kritiken und Perspektiven

dieses anthropologische Denken, ohne Menschenbild, so scheint es, ist – trotz des zeitweiligen Auftretens eines Gefühls von Orientierungslosigkeit – ein Leben des einzelnen Menschen in politischer Gemeinschaft weder aus theoretischer noch aus praktischer Perspektive denkbar.

6.3 Signifikante Lebensbereiche und Lebensbeziehungen In der Philosophie der Gegenwart finden sich unterschiedliche Konzeptionen, die in ihrem Kernanliegen jenem von Hesiod ähnlich sind – zweifelsfrei unter anderen Vorzeichen sowie mit einer vielfach deutlicheren argumentativen Prägnanz und Intensität. Es handelt sich auch dabei um Bemühungen, den Menschen zum einen in seinem individuellen Menschsein und zum anderen in seinem Menschsein in Gemeinschaft zumindest in Umrissen zu umschreiben. Aktuell oftmals in Verbindung mit dem Versuch, eine Liste an Grundfähigkeiten und bzw. oder von Grundgütern zu erstellen, die alle Menschen aufgrund ihres Menschseins besitzen oder die ihnen zugänglich sein sollten, um jedem Menschen zumindest die potentielle Chance zu geben, ein weitestgehend selbstbestimmtes gutes Leben innerhalb von gelingender (politischer) Gemeinschaft zu führen. Zu nennen sind dabei u. a. John Rawls, Martha Nussbaum und Michael Walzer. Alle diese Konzeptionen haben unterschiedliche Ansätze und Perspektiven, was einen Vergleich untereinander erschwert und darüber hinaus einen Vergleich mit Hesiod und seinen Lebensbereichen und Lebensbeziehungen ausschließlich in Grundzügen möglich macht (und nur mit Vorsicht aufgrund gänzlich anderer historischer Vorzeichen sinnvoll erscheint). Allen gemein ist jedoch, dass sie den Menschen in der Verbindung von politischer Philosophie, politischer Anthropologie und darüber hinaus in der Verknüpfung von Ethik und Politik denken und daraus ihre Schlussfolgerungen ziehen. Rawls benennt in Gerechtigkeit als Fairness fünf Grundgüter, die seiner Ansicht nach jedem Menschen zugesprochen werden müssen und die zur Verwirklichung zweier sogenannter moralischer Kompetenzen erforderlich erscheinen: zum einen der Gerechtigkeit im Sinne eines grundlegenden Gerechtigkeitsverständnisses des Men6.3 Signifikante Lebensbereiche und Lebensbeziehungen

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schen in Bezug zu anderen Menschen sowie in Bezug auf das Zusammenleben und zum anderen eine Idee des Guten, die es dem Menschen ermöglicht bzw. diesen dazu befähigen soll, ein (individuelles) Konzept vom guten Leben zu erstellen und umsetzen zu können (vgl. Kap. 4.2). Als Grundgüter betrachtet Rawls Allzweckmittel und soziale Beziehungen, die Bürgerinnen und Bürger als freie und gleiche Personen für die Dauer ihres ganzen Lebens benötigen (vgl. Rawls: 2014, 99). Notwendig für eine solche Zusammenstellung von Grundgütern sei vor allem eine „ungefähre Vorstellung von rationalen Lebensplänen, aus der hervorgeht, warum diese Pläne normalerweise eine bestimmte Struktur haben und auf bestimmte Grundgüter angewiesen sind, um entworfen, revidiert und erfolgreich ausgeführt werden zu können“ (Rawls: 2014, 100). Die fünf Grundgüter, die Rawls gegenüber Eine Theorie der Gerechtigkeit in seinem nachgelegten Neuentwurf Gerechtigkeit als Fairness entwickelt und die zum einen individuelle wie gemeinschaftliche Gerechtigkeit und zum anderen eine individuelle Umsetzung von bereitgelegten Lebensplänen unmittelbar möglich machen sollen, sind: (1) Grundrechte und -freiheiten, Gedanken- und Gewissensfreiheit, (2) Freiheit des Ortswechsels und der Berufswahl, (3) Zugang zu Macht und Privilegien von Ämtern und Positionen innerhalb der Gesellschaft, (4) Einkommen und Vermögen sowie (5) Selbstachtung, Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen verbunden mit der dafür notwendigen sozialen Basis innerhalb von Gemeinschaft (vgl. Rawls: 2014, 100 – 101). Die Sicherstellung dieser fünf Grundgüter für alle Bürgerinnen und Bürger soll dazu beitragen, dass der Einzelne die potentielle Möglichkeit hat, beide angesprochenen moralischen Vermögen, die Gerechtigkeit und die Idee des Guten sowie den eigenen entworfenen – und gegebenenfalls auch revidierten – Lebensplan zu verwirklichen. Nussbaum hat ihre Liste von Fähigkeiten, ohne die ihrer Ansicht nach ein menschliches Leben gar nicht – oder wenn dann nur äußerst unzureichend – gelebt werden könne, als „starke vage Theorie des Guten“ bezeichnet. Es handle sich dabei um eine „sehr allgemeine, vorläufige und evaluierte Theorie“, auf der Basis, dass „bestimmte Aspekte des menschlichen Lebens eine besondere Bedeutung“ hätten (Nussbaum: 1999, 47), eine „Minimaltheorie des Guten“ (Nussbaum: 204

6. Definitionen, Kritiken und Perspektiven

1999, 58). Und Aufgabe des Staates sei es in weiterer Folge, den Menschen zu einem guten Leben durch die Sicherstellung dieser Kompetenzen und Interessen zu befähigen. Vage nennt Nussbaum ihren Ansatz aus zwei Gründen. Zum einen ist ihre Idee, dass „wir eine [Anm. zumindest] vage Vorstellung davon teilen, was es bedeutet, als Mensch in der Welt zu leben“ (Nussbaum: 1999 47). Zum anderen erhebt Nussbaum nicht den Anspruch, dass ihre Aufstellung vollständig, sondern vielmehr offen sei. Es handelt sich also um eine Liste, die ergänzt werden kann, so wie es Nussbaum selbst immer wieder in ihren Arbeiten getan hat. Nussbaums Anliegen ist es nicht, den Menschen in seiner Ganzheit umfassend, abschließend zu beschreiben oder Charakteristika allgemeingültig und zeitlos auszusprechen, sondern vielmehr die Diskussion einer rudimentären temporären Bestandsaufnahme des Menschseins. Eine komprimierte Version dieser Fähigkeiten lautet: (1) Fähig zu sein, ein langes (lebenswertes) Leben führen zu können. (2) Fähig zu sein, eine gute Gesundheit und eine sichergestellte Ernährung zu haben, Sexualität ausleben zu können und mobil zu sein. (3) Fähig zu sein, unnötigen Schmerz vermeiden und freudvoll leben zu können. (4) Fähig zu sein, die fünf Sinne zu benutzen, zu phantasieren, denken, schlussfolgern. (5) Fähig zu sozialen Bindungen zu sein, Sehnsucht, Abwesenheit und Dankbarkeit empfinden zu können. (6) Fähig zu sein, sich eine Auffassung des Guten zu bilden und selbstkritisch leben zu können. (7) Fähig zu sein, mit anderen verbunden leben zu können (Familie, Freunde). (8) Fähig zu sein, in Beziehung zur Natur und der Welt zu leben. (9) Fähig sein zu lachen, zu spielen und Erholung zu haben. (10.1) Fähig zu sein, das eigene Leben zu leben. (10.2) Fähig zu sein, das eigene Leben in eigener Umwelt und im eigenen Kontext zu leben (vgl. Nussbaum: 1999, 57 – 58). Walzer hat in Spheres of Justice das Anliegen der Schaffung einer komplexen Gleichheit verfolgt, die – seiner Ansicht nach – im Zeitalter des Pluralismus für das Zusammenleben unumgänglich sei. Ziel Walzers ist jedoch „nicht die Abschaffung aller Unterschiede“, „wohl aber die Beseitigung einer bestimmten Konstellation von Unterschieden“, und zwar auf der Grundlage, dass „wir einerseits zwar sehr verschieden voneinander, andererseits aber auch erkennbar gleich sind“ (Walzer: 1992, 17). 6.3 Signifikante Lebensbereiche und Lebensbeziehungen

205

Walzer entwickelt dazu zentrale soziale Grundgüter, die zum einen einer gerechten Verteilung untereinander zugeführt und zum anderen nach Bedürftigkeit, Qualifikation, Verdienst etc. verteilt werden sollen: (1) Zugehörigkeit, Mitgliedschaft (Familie, Nachbarschaft, Verein), (2) Sicherheit und Wohlfahrt (Staatlichkeit, Fürsorge), (3) Geld und Waren, (4) Ämter im Bereich der Gesellschaftspolitik, (5) Arbeit, (6) Freizeit, (7) Erziehung und Bildung, (8) Verwandtschaft und Liebe, (9) Göttliche Gnade, (10) Anerkennung und (11) politische Macht. Walzer will anhand dieser Bestimmungen das Bild einer Gesellschaft zeichnen, „in der soziale Güter und Werte nicht als Mittel der Herrschaft genutzt werden bzw. nicht als solche genutzt werden können“ (Walzer: 1992, 19). Eine solche Gesellschaft sei nach Walzer durchaus möglich, und ist in dem gemeinsamen Verständnis von sozialen Gütern bereits in vielen Staatsgemeinschaften aktuell latent existent. Die Schwierigkeiten solcher und ähnlicher Listen in Theorie und Praxis sind schnell erfasst, jedoch keineswegs einfach zu lösen: Wer entwickelt diese Aufstellungen in welcher Art und Weise bzw. aus welchem wirtschaftlichen, kulturellen, sozialen, politischen oder wissenschaftlichen Umfeld heraus und für wen? Welche inhaltlichen Schwerpunktsetzungen erfolgen dabei und auf welchem philosophisch-anthropologischen Fundament bzw. aus welchem politischanthropologischen Blickwinkel heraus? Stehen solche Aufstellungen anderen unterschiedlichen politischen Auffassungen im Allgemeinen und individuellen Lebensplänen im Speziellen – sowie der dem Menschen prinzipiell zuzusprechenden Entscheidungsfreiheit in Bezug auf die eigene Lebensgestaltung – neutral gegenüber? Zum einen ist festzuhalten, dass die angeführten Modelle keinen Absolutheitsanspruch erheben. Rawls spricht von einer ungefähren Entwicklung rationaler Lebenspläne, Nussbaum vom Teilen einer zumindest vagen Vorstellung davon, was es bedeuten kann, als Mensch in der Welt zu leben, einer Minimaltheorie, und Walzer geht es nicht um die Abschaffung aller zwischenmenschlichen Unterschiede, sondern um die Beseitigung spezieller Konstellationen von Unterschieden in Bezug auf Herrschaft und Gerechtigkeit. Zum anderen lassen sich die zuvor angeführten Einwände jedoch nicht zur Gänze auflösen, was allerdings in der Natur der Sache liegt, ebenso wie bei den Problemen der philosophischen und dabei insbesondere der politischen Anthropologie in Summe (vgl. Kap. 6.2). 206

6. Definitionen, Kritiken und Perspektiven

In Anbetracht der Entwicklungen innerhalb des Gemeinschaftlichen und des Politischen im Laufe der Geschichte, ist in Bezug auf die Grundlegung einer signifikanten politischen Anthropologie unstrittig, dass (soziale) Grundgüter bzw. Grundfähigkeiten, politisch-anthropologische Dimensionen, keine zeitlose konstante, sondern vielmehr eine temporäre variable Summe bilden (müssen), die wesentlich davon beeinflusst wird, wie der Mensch das gute individuelle Leben des Einzelnen und das gelingende Zusammenleben in Gemeinschaft bestimmt. Unverzichtbar ist zweifelsfrei die Notwendigkeit dieses Diskurses über das gute und gelingende Leben sowie dessen dafür notwendige Voraussetzungen in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft. Die Konzepte von Rawls, Nussbaum und Walzer sind hier weder vollständig dargestellt noch in dieser Weise selbsterklärend, sondern würden eine intensivere Untersuchung der einzelnen Aspekte in ihrem spezifischen Kontext erfordern. Dennoch lassen sich durchaus Überschneidungen zwischen den Lebensbereichen bzw. -beziehungen und den Bestimmungen von Rawls, Nussbaum und Walzer benennen, die abermals zeigen, dass Hesiod von politisch-anthropologischem Interesse ist. Die Politische Anthropologie Hesiods, deren Übersetzung, Übertragung und Erweiterung als ,Konzept signifikanter Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen in Gemeinschaft‘, umfasst nun acht Punkte, die teilweise deckungsgleich mit aktuellen Positionen sind, in manchen Bereichen jedoch auch neue Perspektiven (wieder) eröffnen: Konzept signifikanter Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen in Gemeinschaft 1. eris – Anthropologie der Kooperation: (i) Der einzelne Mensch in sozialpolitischer Gemeinschaft (ii) Kooperatives Streben als anthropologisches Konstitutiv (iii) Agonalität und Exzellenz als Lebensprinzip 2. dikê – Gerechtigkeit, Gemeinschaft, Gemeinsinn: (i) Gerechtigkeit als personale Tugend (ii) Politische Gerechtigkeit als Grundlage von Gemeinschaft (iii) Eintracht und Gemeinsinn als Bedingungen guten Lebens 6.3 Signifikante Lebensbereiche und Lebensbeziehungen

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3. ergon – Mensch und Schaffen: (i) Arbeit als Notwendigkeit (ii) Leistung als Selbstanspruch (iii) Tätigkeit als Selbsterfüllung 4. oikos – Familie als zentrale Lebensgemeinschaft: (i) Familie als Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft (ii) Familie als politischer Lebensbereich (iii) Familie als Verwirklichung unmittelbarer Liebe 5. philia – Freundschaft als unveräußerliche Lebensbeziehung: (i) Freundschaft als umfassende und achtsame Kenntnis (ii) Freundschaft als faire und uninteressierte Teilhabe (iii) Freundschaft als emotionale Form der Liebe 6. timê – Philosophische Kontemplation: (i) Die Gottesfrage als Alleinstellungsmerkmal des Menschen (ii) Philosophische Theologie als Kernbereich der Philosophie (iii) Philosophische Kontemplation als Lebensbereich 7. Politische Teilhabe (i) Politische Partizipation als Bürgerrecht und Bürgerpflicht (ii) Politische Verantwortung für Autonomie und Freiheit (iii) Politisches Bewusstsein als Bekenntnis zur Gemeinschaft 8. Kosmopolitische Identität als Lebenseinstellung

Besonders hervorzuheben ist die abweichende Perspektive der politischen Anthropologie der Werke und Tage Hesiods, die gegenüber den Konzepten von Rawls, Nussbaum und Walzer festgestellt werden kann. Hesiod denkt über das Leben des Menschen in Gemeinschaft nach. Er konzentriert sich dabei insbesondere auf jene Lebensbereiche und Lebensbeziehungen, die seiner Ansicht nach signifikant für das Leben in Gemeinschaft bzw. aus Hesiods Sicht unverzichtbar sind, und spricht in erster Ordnung über jene Dinge, die den Menschen in Gemeinschaft ausmachen (eris, dikê, oikos, philia), und in zweiter Ordnung über individuelle Perspektiven (ergon, timê), die jedoch 208

6. Definitionen, Kritiken und Perspektiven

auch die Gemeinschaft in Summe betreffen, wohingegen Nussbaum von Fähigkeiten spricht, die in erster Bestimmung dem einzelnen Menschen zuzusprechen sind oder dem Einzelnen durch die Gemeinschaft zugänglich sein bzw. ermöglicht werden sollen, zweifelsfrei in Verbindung mit politischen Konsequenzen für die politische Gemeinschaft in weiterer Folge. Und auch Rawls und Walzer handeln in erster Linie über Grundgüter, die dem einzelnen Menschen zuzurechnen sind, freilich ebenso in Verbindung mit späteren Auswirkungen auf das Leben des Menschen in Gemeinschaft, jedoch beginnend beim Individuum. Das ist keine Kritik, sondern eine Konstatierung, eine Feststellung unterschiedlicher Zugänge und anthropologischer Perspektiven aus Antike und Gegenwart in ein und derselben Fragestellung, nämlich jener nach dem guten Leben des Menschen in gelingender (politischer) Gemeinschaft – die Kernfrage politischer Philosophie und philosophischer Anthropologie schlechthin. Viele der zuvor angeführten Zugänge des Konzepts signifikanter Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen in Gemeinschaft finden sich in ihrer Übertragung nach wie vor in den Programmen der Gegenwart verankert: das Thema der Gerechtigkeit (Pkt. 2), der Tätigkeit (Pkt. 3), der Familie (Pkt. 4), der Freundschaft (Pkt. 5) und der politischen Teilhabe (Pkt. 7). Auf einen ersten Blick wird dabei jedoch weiters ersichtlich, dass die Lebensbereiche und -beziehungen der eris (Pkt. 1), der timê (Pkt. 6) und der kosmopolitischen Identität als Lebenseinstellung des Menschen (Pkt. 8) in den Ansätzen von Rawls, Nussbaum und Walzer hingegen unterbestimmt erscheinen. Zwei der drei Punkte ließen sich mit einem gewissen Maß an Interpretationswillen relativ problemlos subsumieren: die kosmopolitische Identität u. a. bei Nussbaum unter dem Punkt ,Beziehung zur Welt und zur Natur‘; die timê u. a. bei Rawls unter dem Punkt der ,Grundrechte und Grundfreiheiten‘. Schwieriger erscheint eine Einordnung hingegen in dem Bereich der eris, die den einzelnen Menschen in sozialpolitischer Gemeinschaft umfasst, dessen kooperative Wesenszüge hervorhebt und das Streben des Menschen nach Agonalität und Exzellenz als Lebensprinzip ausweist. Dieser Bereich, den Hesiod in Werke und Tage bereits thematisiert hat, lässt sich bei Rawls, Nussbaum und Walzer kaum einordnen.

6.3 Signifikante Lebensbereiche und Lebensbeziehungen

209

Hesiod weiß Bescheid, dass nicht jeder Mensch seinen in Werke und Tage gegebenen Ratschlägen folgen wird, wird folgen können oder aber auch nicht folgen wollen wird. Wie schon öfters angesprochen, ist Hesiod der Überzeugung, dass der Mensch in seinem Leben die Wahl hat, u. a. zwischen den beiden Formen der eris, dem destruktiven Konflikt auf der einen Seite, der schlechten eris, und der Agonalität auf der anderen Seite, der guten eris, zum einen sowie weiters zwischen dikê, der Gerechtigkeit, und hybris, der Zwietracht, zum anderen etc. Hesiod ist also der Ansicht, dass nicht jeder Mensch dazu in der Lage oder nicht willens ist, ein Konzept des Guten im Allgemeinen sowie ein Konzept vom guten und gelingenden Leben in Gemeinschaft im Speziellen zu entwickeln, sondern sich bewusst dagegen entscheidet, gegen Kooperation und Gemeinschaft usw., und mit dieser Entscheidung vielleicht individuell zufrieden, dem Leben in Gemeinschaft dadurch aber in Bezug auf die Gerechtigkeit im Zusammenleben nicht zuträglich ist. Hesiod kennt somit das ,Janusgesicht‘ des Menschen in Bezug auf eris und dikê und er geht nicht davon aus, dass jeder Mensch von sich aus die gute eris und die dikê als signifikante Lebensbereiche und -beziehungen für das individuelle Leben in Gemeinschaft wählt. Mit großen Abstrichen kann dennoch davon gesprochen werden, dass Hesiod sowohl die aristotelische als auch die Hobbes’sche Anthropologie – der Mensch lebt von Natur aus in Gemeinschaft vs. der Mensch ist dem Menschen ein Wolf – kennt und um beide Seiten des Menschseins weiß, selbst wenn er die gute eris eindeutig gegenüber der schlechten eris bevorzugt. Hesiod ist der Ansicht, dass sich der Mensch auf ein Konzept des guten und gelingenden Lebens in Gemeinschaft einlassen, sich dafür entscheiden kann oder aber auch nicht. Und diese Entscheidung kann dem Menschen weder durch andere Menschen abgenommen noch von der Politik der Gemeinschaft für den einzelnen Menschen stellvertretend getroffen werden.

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6. Definitionen, Kritiken und Perspektiven

7. ,Entscheiden‘ Mensch zu sein

Die Unterscheidung Kants zwischen einer physiologischen und einer pragmatischen Anthropologie (vgl. Kap. 5.3) deutet indirekt darauf hin, dass der Mensch dazu in der Lage ist – und vielleicht in manchen Dingen aus moralischer Perspektive dazu verpflichtet ist –, Fähigkeiten zu entwickeln, zu erlernen, sie sich selbst anzueignen und sich im Menschsein im Laufe des Lebens weiterzuentwickeln, worauf auch Mill mit der Bestimmung des Menschen als progressive being im Allgemeinen hingedeutet hat (vgl. Kap. 6.2). Die pragmatische Anthropologie wendet sich aus der Perspektive Kants jenen Dingen zu, die der Mensch „als freihandelndes Wesen aus sich selber macht oder machen kann und soll“ (Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, [119] 10 – 15). Dabei handelt es sich im Wesentlichen um eine Politische Anthropologie erster Stufe (vgl. Kap. 6.1). Hesiod hat in Werke und Tage einen ähnlichen Zugang zum Ausdruck gebracht und darüber gesprochen, was der Mensch in seiner ihm prinzipiell zuzusprechenden Wahlfreiheit – die aufgrund mythisch-theologischer Konnotationen nicht mit jener Selbstbestimmung (Autonomie) des Menschen im Sinne Kants in Verbindung gebracht werden kann – aus sich und aus seinem Leben machen kann. Und darüber hinaus hat Hesiod ausgeführt, was der Mensch seiner Ansicht nach auch aus sich machen soll: nämlich z. B. den Weg der guten eris und den Weg der dikê zu gehen, nicht der schlechten eris oder der hybris. In Summe hat Hesiod also in rudimentärer Art und Weise darüber gesprochen, was es seiner Ansicht nach dafür braucht, um ein gutes Leben in gelingender Gemeinschaft zu führen. Und für diese Lebensweise kann sich der Mensch nach Hesiod zu einem guten Teil entscheiden und dafür vieles reflexiv erlernen, was nicht zuletzt über die politisch-anthropologischen Lebensbereiche und -beziehungen von eris, dikê, ergon, oikos, philia und timê hinaus die vielen Ausführungen zur praktischen Lebensführung des Menschen, wie Ackerbau, Schifffahrt, Kalender etc. zum Ausdruck bringen. Unverzichtbar für dieses Leben ist nach Hesiod das gelingende Leben des Menschen in Gemeinschaft. 211

Aristoteles führt in seiner Nikomachischen Ethik aus, dass ein ,sich selbst genügendes Leben‘ nicht Isolation, sondern funktionstüchtige Gemeinschaft mit anderen Menschen bedeutet, mit Familie, mit Freunden und der politischen Gemeinschaft: »Mit ,autark‘ meinen wir nicht, was für einen Menschen allein genügt, für jemanden, der ein isoliertes Leben führt, sondern was auch für die Eltern, Kinder, Ehefrau, allgemein für die Freunde und Mitbürger genügt, da der Mensch seiner Natur nach in die politische Gemeinschaft gehört« (Aristoteles: Nikomachische Ethik I 5, 1097b10 – 12).

Der Mensch, so Aristoteles, gehört von Natur aus in die Gemeinschaft. Er ist ein ,Gemeinschaftslebewesen‘. Aufgrund dessen ist es notwendig, über dieses Leben in Gemeinschaft zu reflektieren. Autarkie erlangt der Mensch nicht durch Abschottung gegenüber der Gemeinschaft, sondern im Gegenteil durch ein Leben in Gemeinschaft. Diese Bestimmung beinhaltet jedoch nicht, dass der Mensch von Natur aus ein guter Mensch im ethisch-moralischen Sinne ist, sondern impliziert zuallererst die Aussage, dass der Mensch in Gemeinschaft lebt und auf Gemeinschaft mit anderen Menschen für das Überleben wie auch für das gute Leben angewiesen ist. Hesiod sieht das ähnlich, zumal der Mensch seiner Ansicht nach das meiste Wohlwollen aus der Gemeinschaft erfährt. Hesiod ist in Werke und Tage um eine zweifache anthropologische Ordnung bemüht. Zum einen geht es ihm um die Ordnung des Lebens des Menschen in politischer Gemeinschaft, die seiner Ansicht nach im Zusammenleben im oikos ihren Anfang nimmt. Zum anderen geht es ihm um die Ordnung des individuellen Lebens, insbesondere im Bereich der menschlichen Tätigkeiten und in Bezug auf den mythischen Kult. Beide Ansätze, die Ordnung des Lebens in der Gemeinschaft wie auch die Ordnung des individuellen Lebens sind Themen einer politischen Anthropologie erster Stufe (vgl. Kap. 6.1). Diese von Hesiod angestrebte Ordnung in Summe betrifft in erster Linie das Leben des Menschen an sich und richtet sich nur in kurzen Ansätzen auch an eine politische Anthropologie zweiter Stufe, z. B. dann, wenn Hesiod von jenen Menschen Gerechtigkeit in ihren Handlungen einfordert, die seiner Ansicht nach politische Verantwortung tragen oder politische Macht in Anspruch nehmen. Ansonsten handelt es sich bei Hesiod nicht um die Ordnung politischer Institutionen, es 212

7. ,Entscheiden‘ Mensch zu sein

geht nicht um ein politisches Programm im engeren Sinne, um eine Weiterentwicklung seiner politischen Anthropologie zu einer politischen Institutionentheorie, sondern um das Erkennen und um das aktive Gestalten der unmittelbaren Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen in Gemeinschaft. Dieser Zugang impliziert jedoch nicht, dass Hesiod jegliches politisches Ordnungsgefüge über das Haus hinaus kategorisch ablehnt und für völlig belanglos für das Leben des Menschen ansieht (vgl. Kap. 5.2), sondern er hebt vielmehr hervor, dass der Mensch in Bezug auf sein eigenes Leben zum einen Selbstverantwortung und zum anderen in vielen Dingen Wahl- und Entscheidungsfreiheit hat. Der Mensch sollte sich nicht allein auf das (göttliche) Schicksal oder auf die (weltliche) Politik verlassen, sondern sein Leben vielmehr selbst aktiv gestalten, und zwar dort, wo das möglich erscheint, wie z. B. in Bezug auf eris, dikê, ergon, oikos, philia und timê. Es ist ein Konzept humaner Grundfähigkeiten, das die essentiell notwendige Verbindung von politischer Anthropologie und Ethik zum Ausdruck bringt, sowie in erster Instanz für das politische Zusammenleben des Menschen im weiteren Sinne sowie in zweiter Instanz für die Politik im engeren Sinne unverzichtbar erscheint. Es ist keineswegs übertrieben, von einer ,Lehre‘ Hesiods in Werke und Tage zu sprechen, und das aus mindestens drei Gründen. Erstens hat Hesiod seine Gedanken in der Form des didaktischen Epos zum Ausdruck gebracht, das durch seinen Stil, durch das Argument und seine Perspektive deutlich macht, dass es sich hier um weit mehr als um eine mythisch-literarische Kunstform handelt, nämlich um eine skizzenhafte Landkarte vom Leben des Menschen in Gemeinschaft. Zweitens erhebt Hesiod in seinem Text bereits zu Beginn von sich aus den Anspruch, dass er seinem Bruder Perses durch die Zeilen des Textes Wahres verkünden will. Drittens spricht Hesiod am Ende der Werke und Tage an, dass derjenige Mensch glückselig (eudaimon) werden kann, der all das Gesagte weiß, danach lebt und sich darum bemüht, die Natur und die Götter zu achten und von sich aus selbst tätig wird (vgl. Kap. 3.1). Damit bietet Hesiod in Ansätzen eine politische Ethik des gelingenden Lebens an, eben mit dem möglichen Ziel, als Einzelner im Leben in Gemeinschaft letztendlich glückselig zu werden.

7. ,Entscheiden‘ Mensch zu sein

213

Es lässt sich daher festhalten, dass Hesiod in Werke und Tage politisch-anthropologische Grundkonstanten des Menschenseins zur Sprache gebracht hat, die – ob sie richtig oder falsch, als ,zu viel‘ oder als ,zu wenig‘ beurteilt werden mögen – in der Geschichte des Menschen von der Philosophie der Antike bis zu den interdisziplinären Diskursen der Gegenwart immer wieder Thema gewesen sind und es vermutlich auch weiterhin bleiben werden, ganz gleich aus welcher aktuellen Perspektive bzw. Einschätzung der Dinge. Der Blick in die Geschichte der Philosophie der Neuzeit bis in die Gegenwart im Rahmen der Verortung und Übertragung der von Hesiod angesprochenen Themen (vgl. Kap. 4.) hat das deutlich gemacht und gezeigt, dass Hesiod bereits viele Gegenstände der politischen Philosophie im Allgemeinen und der politischen Anthropologie im Speziellen thematisiert hat. Allein das sollte hinreichen, um Hesiod nicht ausschließlich als Dichter, sondern darüber hinausgehend auch als Vorsokratiker anzuerkennen (vgl. Kap. 3.3). Doch wichtiger als diese Einordnung ist zweifelsfrei die Gewichtigkeit seiner politisch-anthropologischen Argumentation selbst. Eine der politisch-anthropologischen Perspektiven, neben den anderen Lebensbereichen und -beziehungen, überrascht am meisten. Nach Hesiod hat der Mensch die Möglichkeit der Wahl, um so sein Leben selbst zu bestimmen und zu gestalten. Es sind das – in Anbetracht des starken Götterbezugs Hesiods – mindestens ,kleine Freiheiten‘, über die der einzelne Mensch im vollen Umfang in Bezug auf die eigene Lebensgestaltung verfügt. Diese prinzipielle Eigenschaft des Menschen, sein Leben in vielen Bereichen selbst gestalten zu können, beinhaltet auch die Möglichkeit, sich mit ganzem Bewusstsein gegen eine der sechs politisch-anthropologischen Lebensbereichen und -beziehungen zu entscheiden, wie z. B. für die hybris, gegen die dikê, für die schlechte eris und damit gegen die gute eris usw. Hesiod ist zwar der Ansicht, dass damit zwangsläufig zumindest ein Teilverlust an einem guten und glückseligen Leben verbunden ist, was allerdings alleine in der Entscheidung des Einzelnen liegt. Die von Hesiod thematisierten Lebensbereiche und -beziehungen vermitteln darüber hinausgehend indirekt auch eine Lehre von Genügsamkeit, Bescheidenheit und Zufriedenheit, schlichtweg von den Möglichkeiten, aus sich heraus ein gelingendes Leben mit Maß zu führen, das zu einem guten Teil in den eigenen Händen liegt. 214

7. ,Entscheiden‘ Mensch zu sein

Hesiod führt in Werke und Tage einen politisch-anthropologischen Dialog, dessen Weiterführung bereits die Thematik verlangt. Dabei richtet er sich zum einen an seinen Bruder Perses und zum anderen an den Menschen als Menschen – er redet über den Menschen und gleichzeitig auch mit ihm, in einfacher Sprache und oftmals mit direkter Anrede. Und vielleicht kann Hesiod mit diesem rudimentären Denken auch zu einer politischen Anthropologie heute beitragen, die die Dinge wieder etwas einfacher sieht und unvermittelt zur Sprache bringt. Es geht Hesiod darum, in groben Zügen zu zeigen, dass eine politisch-anthropologische Ordnung für das individuelle Leben des Menschen in Gemeinschaft unverzichtbar ist, und darüber hinaus darauf aufmerksam zu machen, dass der einzelne Mensch in politischer Gemeinschaft viele Entscheidungen selbst trifft. Er verhandelt, was es heißen kann: ,Entscheiden‘ Mensch zu sein. In diesem dialogischen Sinne sollen die beiden Ergänzungen des politisch-anthropologischen Konzepts Hesiods, die politische Teilhabe (vgl. Kap. 5.2) und die kosmopolitische Identität des Menschen als Lebenseinstellung (vgl. Kap. 5.3), als eine skizzenhafte Fortführung dieser ,Landkarte‘, dieses ,Dialogs‘ mit und über den Menschen angesehen werden, zumal Hesiod diese beiden Themen wenig oder gar nicht anspricht. Beide Bereiche waren in späterer Folge jedoch in der Philosophie der Antike nach Hesiod zentraler Gegenstand und wurden als Perspektiven des Menschseins in der politischen Philosophie der Antike verankert. Mit dem weiterentwickelten ,Konzept signifikanter Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen in Gemeinschaft‘, wird deutlich (vgl. Kap. 6.3), dass der Mensch in seinem Leben auf andere Menschen angewiesen ist, die Gemeinschaft mit anderen Menschen braucht, um Autarkie zu erlangen, und dass das Auskommen mit dem Anderen unumgänglich ist, um ein gutes und gelingendes Leben in Mitten der Um- und Mitwelt führen zu können. Die Politische Philosophie und die Politische Anthropologie sind für das Zusammenleben des Menschen ein unverzichtbarer Bestandteil zwischenmenschlicher und politischer Kommunikation, in der im besten Falle auch die Geschichte der Philosophie zur Beratung hinzugezogen wird. Ohne grundlegende Überlegungen darüber, wie wir als Menschen untereinander zusammenleben wollen, ist eine zukünftige Gestaltung des Gemeinwesens nicht denkbar. Der Dialog 7. ,Entscheiden‘ Mensch zu sein

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mit Hesiods Perspektiven auf das Leben in Gemeinschaft und das anhand seiner Werke und Tage übertragene ,Konzept signifikanter Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen in Gemeinschaft‘ können dazu nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine grundlegende Orientierung dafür geben, das individuelle wie auch das gemeinschaftliche Leben zu ordnen. Unaufgeregt, und mit Blick auf die Zukunft von Mensch und Politik zwangsläufig in Teilen ergebnisoffen oder zumindest mit dem einen oder anderen Fragezeichen, jedoch ohne anthropologischen Zynismus und ohne anthropologische Utopie, sondern vielmehr als ein Nachdenken über das Leben des Menschen in Gemeinschaft, ein Menschsein der Mitte, und nicht der Extreme.

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7. ,Entscheiden‘ Mensch zu sein

Literaturverzeichnis Texte Aristotelis, Ethica Nicomachea, hg. von Ingram Bywater, Oxford Classical Text (Oxford: 1894). Aristotelis, Politica, hg. von William D. Ross, Oxford Classical Text (Oxford: 1957). Hesiodi, Theogonia opera et dies scutum, hg. von Friedrich Solmsen, Oxford Classical Text (Oxford: 1970). Platonis, Rempublicam, hg. von S. R. Slings, Oxford Classical Text (Oxford: 1993).

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217

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Gehlen, A. 191 – 193. Gigon, O. 21, 61 – 64. Golla, K. 60 – 61. Greven, M.Th. 199. Haeffner, G. 60. Hegel, G.W.F. 101, 115 – 118, 129, 132 – 133, 198, 201. Heraklit 21, 28, 63. Herb, K. 86. Herodot 21. Hobbes, T. 19, 68 – 69, 77 – 78, 84 – 85, 200, 210. Höffe, O. 27 – 28, 33, 39, 91 – 92, 96, 184, 186, 193 – 194. Homer 21, 28, 32, 45 – 46, 65, 79, 115, 123, 153, 166 – 168. Horkheimer, M. 198 – 199. Horstmann, R.–P. 116. Hume, D. 82 – 85, 87 – 88, 94. Ijob 49 – 50. Janke, W. 156. Jedan, C. 36, 47. Jörke, D. 194, 199. Kant, I. 15 – 17, 68 – 70, 80, 101, 160, 189 – 191, 194, 198, 211. Kneller, J. 70. Koller, P. 89. Kuhn, M. 83. Kullmann, W. 39. Ladwig, B. 199. Lamberton, R. 26 – 27, 29, 32. Lehmann, K. 108. Locke, J. 98 – 103, 110 – 111, 114. Lotze, D. 165, 171.

Marc Aurel 181 – 183. Marx, K. 72, 98, 103 – 107, 109 – 111, 114, 134, 156, 198. Matthäus, H. 50. Mehring, R. 194. Mill, J.S. 202, 211. Mittelstraß, J. 196. Moiso, F. 155. Montaigne, M.d. 135 – 138, 143, 145, 149. Nerczuk, Z. 47. Nida–Rümelin, J. 68, 185 – 186, 188. Nietzsche, F. 15 – 17, 156, 198. Nussbaum, M. 14, 203 – 209. Ottmann, H. 58 – 59, 65, 104, 125, 196. Pausanias 167 – 168. Pieper, J. 98, 107 – 111, 114. Platon 13, 18, 21, 32 – 33, 36, 45 – 46, 50, 81 – 82, 151, 174, 179, 182. Plessner, H. 191 – 193. Plutarch 166 – 168. Priddat, B.P. 98. Raaflaub, K. 50, 65. Rawls, J. 14, 28, 82, 88 – 90, 96, 203 – 204, 206 – 209. Richarz, I. 39. Ricken, F. 63. Rosa, H. 142 – 145, 147, 149, 198, 202. Rousseau, J.–J. 82, 85 – 88, 95 – 96.

Schelling, F.W.J. 151, 153 – 156, 158 – 159, 161 – 162. Scheler, M. 16 – 17, 191 – 193, 198. Schmidt, A. 152. Schmidt, E.G. 21, 33, 38, 61. Schönberger, O. 21, 26, 29, 33, 49, 58 – 59, 61, 171. Schopenhauer, A. 134, 137 – 139, 143, 145 – 147, 149. Schütrumpf, E. 40 – 41. Schuller, W. 170. Seneca 181. Seybold/Ungern–Sternberg 47, 50, 61. Siep, L. 196. Simmel, G. 134, 140 – 141, 143, 145, 149. Spahn, P. 42, 45, 57 – 58, 60. Stadler, C. 28. Stachura, M. 121. Strauss Clay, J. 32, 37 – 38. Tetens, H. 157 – 162. Thomä, D. 127 – 128, 134. Varga, S. 171, 175, 179. Walzer, M. 14, 203, 205 – 209. Weber, M. 115, 119 – 123, 125, 129 – 130, 132, 134. West, M. 25, 34, 40, 50. Wolf, U. 36. Xenophanes 21, 63, 150, 156. Xenophon 35 – 36, 115. Yamagata, N.

32.

Schadewaldt, W. 33, 64.

Personenregister

227

Stellenregister Erga 1 – 9: 48. 4: 49. 10: 23. 12 – 19: 24 – 25. 13 – 15: 26. 14: 25, 28. 17 – 19: 25. 20 – 27: 25. 27 – 30: 26. 35 – 42: 26. 36 – 42: 34. 43 – 59: 47. 44 – 59: 37. 84: 49. 87: 49. 105: 48. 106 – 200: 47. 107: 49. 128 – 143: 51. 137 – 138: 51. 144: 49. 156 – 160: 48. 168: 49. 181 – 184: 45. 201 – 211: 31. 212 – 216: 30. 224 – 230: 172.

228

224 – 231: 31. 224 – 237: 42. 228: 49. 237 – 240: 173. 247: 31. 257 – 261: 30. 258: 49. 262 – 263: 31. 262 – 268: 172 – 173. 264 – 265: 30. 267: 49. 267 – 269: 31. 276 – 280: 32. 279: 33. 286: 37. 307 – 316: 35. 320 – 326: 32. 321 – 322: 35. 325 – 326: 35. 327 – 341: 42. 334: 36. 335 – 341: 49. 341 – 345: 44. 345 – 351: 44. 351: 35. 352 – 356: 43. 360 – 365: 42. 369: 44. 373 – 375: 41.

396 – 400: 38. 404 – 413: 39. 415: 49. 458 – 461: 42. 469 – 470: 42. 492 – 502: 169. 570 – 575: 41. 667: 49. 694 – 704: 41. 695 – 705: 41. 712: 43. 714 – 723: 44. 724 – 726: 51. 726 – 731: 22. 751 – 753: 22. 752 – 754: 41. 759 – 763: 170. 825 – 827: 56. 826: 60.

Theogonie 211 – 216: 24. 227 – 233: 24. 522 – 569: 37. 561 – 612: 41. 901 – 903: 30.