Anthropologie kultureller Vielfalt: Interkulturelle Bildung in Zeiten der Globalisierung [1. Aufl.] 9783839405741

Im Prozess der Globalisierung stoßen zwei Dynamiken aufeinander. Die eine zielt auf die Nivellierung kultureller Untersc

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
I Globalisierung und Interkulturalität
2. Globalisierung und kulturelle Vielfalt
Kulturelle Vielfalt
Interkulturelle Bildung
3. Erziehung und Bildung in der globalen Welt
4. Das Fremde als Korrektiv: Der Andere als Bildungsherausforderung
Globalisierungsfolgen: Zur Ausgangssituation von Bildung heute
Interkulturelle Bildung und die Bedeutung des Anderen für unser Selbstverständnis
Der mimetische Umgang mit dem Anderen
Interkulturalität und ästhetische/aisthetische Bildung
Der Andere im Bild
Ausblick
II Interkulturelle Bildung
5. Immaterielles kulturelles Erbe als Aufgabe von Erziehung und Bildung
Der menschliche Körper
Der performative Charakter von Ritualen und sozialen Praktiken
Mimesis und mimetisches Lernen
Andersheit und Alterität
Interkulturelle Bildung und die Notwendigkeit anthropologischer Forschung
6. Von der internationalen Zusammenarbeit zur interkulturellen Kooperation – Neue Aufgaben universitärer Bildung
7. Interkulturelle Bildung – Erfahrungen aus deutschfranzösischen Begegnungen
Interkulturelle Bildung und das Problem des Verstehens
Das Deutsch-Französische Jugendwerk
Rituale als Formen interkultureller Bildung im deutschfranzösischen Jugendaustausch
III Anthropologische Forschung und Reflexion
8. Die Jenseitsstruktur des Menschen
Körper, Raum und Bewegung
Der Andere
Phantasie
9. Kassandra oder die Grenzen des menschlichen Umgangs mit Zukunft
10. Reflexive Anthropologie: Geschichte, Kultur, Philosophie
Philosophische Anthropologie
Anthropologie in der Geschichtswissenschaft
Kulturanthropologie
Historische Anthropologie
Der Körper als Zentrum der Anthropologie
Perspektiven
Anmerkungen
11. Die anthropologische Herausforderung des Offenen
Der Umzug ins Offene am Anfang der Menschwerdung
Weltoffenheit
Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit
Medialisierung und Globalisierung
Homo absconditus: Komplexität und Unsicherheit
12. Ausblick
Literatur
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Anthropologie kultureller Vielfalt: Interkulturelle Bildung in Zeiten der Globalisierung [1. Aufl.]
 9783839405741

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Anthropologie kultureller Vielfalt

2006-08-16 16-40-16 --- Projekt: T574.sozialtheorie.wulf.anthropologie / Dokument: FAX ID 0081123723340962|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 123723340970

Christoph Wulf (Dr. phil.) ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaft, Mitglied des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie, des Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen« und des Graduiertenkollegs »InterArts« an der Freien Universität Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Historische Anthropologie, Pädagogische Anthropologie, Interkulturelle Bildung, Mimesis- und Imaginationsforschung, Performativitäts- und Ritualforschung, ästhetische und interkulturelle Erziehung. Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren u.a.: Stanford University, The University of Tokyo, The Kyoto University, Intitut Universitaire de France, Université de Paris: Nanterre, Saint Denis, Denis Diderot, Universiteit van Amsterdam, Stockholms Universitet, University of London, Fondazione San Carlo in Modena.

2006-08-16 16-40-17 --- Projekt: T574.sozialtheorie.wulf.anthropologie / Dokument: FAX ID 0081123723340962|(S.

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) T00_02 autor.p 123723340986

Christoph Wulf

Anthropologie kultureller Vielfalt Interkulturelle Bildung in Zeiten der Globalisierung

2006-08-16 16-40-17 --- Projekt: T574.sozialtheorie.wulf.anthropologie / Dokument: FAX ID 0081123723340962|(S.

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) T00_03 innentitel.p 123723341058

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Projektmanagement: Gero Wierichs, Bielefeld Herstellung: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-574-X Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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) T00_04 impressum.p 123723341138

Inhalt 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I Globalisierung und Interkulturalität

2. Globalisierung und kulturelle Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturelle Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interkulturelle Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Erziehung und Bildung in der globalen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Das Fremde als Korrektiv: Der Andere als Bildungsherausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Globalisierungsfolgen: Zur Ausgangssituation von Bildung heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interkulturelle Bildung und die Bedeutung des Anderen für unser Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der mimetische Umgang mit dem Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interkulturalität und ästhetische/aisthetische Bildung . . . . . . . . . . . Der Andere im Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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31 31 37 50 52 55 60

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7) T00_05_inhalt.p 123723341154

II Interkulturelle Bildung

5. Immaterielles kulturelles Erbe als Aufgabe von Erziehung und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der menschliche Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der performative Charakter von Ritualen und sozialen Praktiken Mimesis und mimetisches Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andersheit und Alterität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interkulturelle Bildung und die Notwendigkeit anthropologischer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Von der internationalen Zusammenarbeit zur interkulturellen Kooperation – Neue Aufgaben universitärer Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Interkulturelle Bildung – Erfahrungen aus deutschfranzösischen Begegnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interkulturelle Bildung und das Problem des Verstehens . . . . . . . Das Deutsch-Französische Jugendwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rituale als Formen interkultureller Bildung im deutschfranzösischen Jugendaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III Anthropologische Forschung und Reflexion

8. Die Jenseitsstruktur des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körper, Raum und Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phantasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Kassandra oder die Grenzen des menschlichen Umgangs mit Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Reflexive Anthropologie: Geschichte, Kultur, Philosophie . . . . . . . . Philosophische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anthropologie in der Geschichtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturanthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Körper als Zentrum der Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 11. Die anthropologische Herausforderung des Offenen . . . . . . . . . . . . . Der Umzug ins Offene am Anfang der Menschwerdung . . . . . . . Weltoffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medialisierung und Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Homo absconditus: Komplexität und Unsicherheit . . . . . . . . . . . . .

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12. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung | 9

1. Einleitung

Das verstärkte Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen und das damit verbundene Problem des Umgangs mit kultureller Differenz und Vielfalt ist eine der großen Herausforderungen unseres Jahrhunderts. Grund dafür ist die Globalisierung, die zwischen vielen Menschen verschiedener Kulturen, die noch vor kurzem keinen Kontakt miteinander hatten, intensive Austauschverhältnisse erzeugt. Da der Tausch eine Grundbedingung gesellschaftlichen Zusammenlebens ist, die alle sozialen Beziehungen des menschlichen Lebens beeinflusst, gewinnt mit der Globalisierung auch der Umgang mit kulturellen Gemeinsamkeiten und Differenzen an Bedeutung. Im Prozess der Globalisierung stoßen zwei Dynamiken aufeinander. Die eine zielt auf die Nivellierung kultureller Unterschiede und die Angleichung weltweiter Entwicklungen an universelle Normen und Werte, die andere betont die Differenz der kulturellen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen in den verschiedenen Regionen der Welt. Beide Dynamiken bedingen einander und stehen in einem komplexen Wechselverhältnis. Der Motor der einen Dynamik ist das kapitalistisch organisierte Weltwirtschaftssystem, das auf die globale Erzeugung und Befriedigung von Bedürfnissen und Konsumwünschen ausgerichtet ist; die Triebfedern der anderen Dynamik sind die unterschiedlichen Traditionen, Lebensformen und Lebensperspektiven, die für die kollektive und individuelle Identität eine zentrale Rolle spielen. Mehr als jemals zuvor leben Menschen gleichzeitig in verschiedenen Kulturen und müssen deren Widersprüche und Konflikte aushalten und mit ihnen im Alltagsleben umgehen. Dazu sind neue Kompetenzen erforderlich, aus denen sich auch neue Anforderungen an das Bildungswesen ergeben. In dieser Situation bilden sich neue Unsicherheiten an der Stelle traditioneller Sicherheiten; einst etablierte Gewissheiten weichen neuen Formen relativer Gewissheit. Ein umfassendes Verständnis der Alterität anderer Menschen und Kulturen wird notwendig. Dieses impliziert, mit Anderen zu leben, sie als Spiegel der vertrauten Lebenswelt zu erfahren und sie als Chance zur Erweiterung der eigenen Weltsicht zu erleben. Unangemessen ist eine Einstellung, die das Fremde am Eigenen misst und

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10 | Anthropologie kultureller Vielfalt es nur soweit zulässt, wie es mit den eigenen Werten und Sichtweisen in Übereinstimmung gebracht werden kann. Stattdessen bedarf es einer Haltung, in der das Fremde als Erweiterung der eigenen Lebenswelt angesehen wird. Doch dies ist nicht einfach. Das Fremde löst Irritationen aus. In der Begegnung mit ihm werden die Grenzen seiner Verstehbarkeit erfahren, die darin liegen, dass es sich in der eigenen Kultur nicht repräsentieren lässt, ohne seinen Charakter als Fremdes zu verändern oder gar zu verlieren. Interkulturelle Bildung vollzieht sich in einer Beziehung, in der sich das Fremde und das Eigene erst als Fremdes und Eigenes herausbilden. Weder das Fremde noch das Eigene existieren unabhängig voneinander; sie konstituieren sich vielmehr relational. Ihr relationaler Charakter beinhaltet auch, dass es sich in beiden Fällen nicht um einander gegenüberstehende, eindeutig voneinander unterscheidbare Sachverhalte handelt; vielmehr berühren sich Fremdes und Eigenes, überlagern und durchdringen sich, so dass sich die Grenzen zwischen ihnen verflüssigen und immer mehr hybride Phänomene entstehen. Handelt es sich um Begegnungen mit anderen Menschen, dann geht es vor allem um die Anerkennung ihrer Alterität und der damit verbundenen Rechte auf Differenz. Die mit der Globalisierung einhergehende, auf Normierung und Vereinheitlichung zielende Dynamik tendiert zu einer Reduzierung und langfristigen Überwindung von Alterität. Selbst wenn diese Entwicklung heute eher mithilfe von Verführung als mithilfe manifester Gewalt durchgesetzt wird, entstehen bei der Verdrängung gewachsener Lebensformen Widerstände, Konflikte und Aggressionen. Zu den universellen, mit der Globalisierung eine größere Verbreitung findenden Werten und Normen gehören auch die Menschenrechte. Trotz ihrer Ursprünge im Christentum und in der Aufklärung liefern sie die normative Basis für die Staatengemeinschaft und das UN-System. Obwohl sie unterschiedlich gedeutet werden und manche ihrer Interpretationen auch kritisch zu diskutieren sind, bilden sie heute das weitgehend akzeptierte Fundament der Weltgesellschaft. Dies sehen selbst ihre Kritiker so, die auf die ungewollten, häufig gewalthaltigen Nebenwirkungen von Handlungen verweisen, die im Namen der Menschenrechte begangen werden. Wenn im Weiteren von Schutz und Förderung kultureller Vielfalt die Rede ist, so wird davon ausgegangen, dass die dazu erforderlichen Handlungen auf der Basis der Menschenrechte vollzogen werden, zu denen auch das Recht auf individuelle und kollektive kulturelle Identität gehört. Zu den universellen Werten der Menschheit gehören auch Frieden und Nachhaltigkeit. Was unter diesen Begriffen zu verstehen ist, hängt vom jeweiligen historischen und kulturellen Kontext ab, in dem sie verwendet werden. Unter den Bedingungen manifester Gewalt bedeutet Frieden mit der bloßen Abwesenheit manifester Gewalt etwas anderes als unter den Bedingungen struktureller oder symbolischer Gewalt, unter denen die Herstellung und Ausbreitung sozialer Gerechtigkeit das Ziel ist. Entsprechendes gilt für Nachhaltigkeit. Die mit der Erziehung zur Nachhaltigkeit verbundenen Zielvorstellungen unterscheiden sich im Hinblick auf die

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1. Einleitung | 11

Mangelgesellschaften Afrikas von den Zielvorstellungen in Bezug auf die Überflussgesellschaften der USA und Europas. Selbst wenn Frieden, kulturelle Vielfalt und Nachhaltigkeit in den Regionen der Welt Unterschiedliches bedeuten, verbinden sich mit diesen Begriffen Vorstellungen, von deren Verwirklichung die Zukunft der Menschheit abhängt. Gelingt es nicht, die Weltgesellschaft friedlich und nachhaltig weiter zu entwickeln, ist die Zukunft der Menschen gefährdet. Angesichts der möglichen Zerstörung der Welt durch Atombomben und durch den Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen bedarf es trotz regionaler und lokaler Unterschiede auch universeller, an der Herstellung und Ausbreitung sozialer Gerechtigkeit orientierter Perspektiven menschlichen Handelns. Im Zentrum steht die Frage, wie die universellen Ansprüche von Frieden und Nachhaltigkeit auf regionale und lokale Bedingungen so bezogen werden können, dass konstruktives Handeln möglich ist. Eine wesentliche Voraussetzung dafür liegt in der Fähigkeit, mit kultureller Differenz und Alterität umzugehen. Die Herstellung und Vermittlung dieser Kompetenz ist daher eine zentrale Aufgabe des Bildungswesens, der Medien und der praktischen Politik. Im ersten Teil dieses Buches gilt es daher, die Zusammenhänge zwischen Globalisierung und Interkulturalität zu untersuchen (Wulf 2002). Globalisierung erfordert den Umgang mit kultureller Vielfalt, die ihrerseits von den Bedingungen der globalen Welt beeinflusst wird. Globalisierung und Interkulturalität bedingen einander und schaffen dadurch neue Probleme und Perspektiven für Bildung und praktisches Handeln. In diesem Wechselverhältnis geht es um das Verstehen des Nichtverstehens und den kreativen Umgang mit Alterität. Untersucht werden die ästhetischen Dimensionen interkultureller Bildung und die Möglichkeiten einer mimetischen Anähnlichung an den Anderen (Wulf 2005). Sodann werden Fragen und Probleme der interkulturellen Bildung selbst zum Thema. Bildung ist eine interkulturelle Aufgabe (Wulf 1995), in deren Rahmen der menschliche Körper und seine Sinnlichkeit eine zentrale Rolle spielen. Interkulturelle Bildung ist Voraussetzung dafür, dass die von der Globalisierung initiierten Prozesse auf die unterschiedlichen kulturellen Bedingungen der Weltregionen bezogen werden können. Die Vermittlung interkultureller Kompetenz ist für das Leben in der globalisierten Welt eine der wichtigsten Aufgaben von Erziehung und Bildung. Die dazu erforderlichen Fähigkeiten können in den europäischen, immer stärker durch Migration bestimmten Gesellschaften erworben und in den Austauschprozessen zwischen den Ländern und Regionen Europas weiter entwickelt werden. Kulturelle Kompetenz kann vermittelt werden: in der Auseinandersetzung mit dem immateriellen kulturellen Erbe, d.h. mit den Lebens- und Arbeitsformen, den Ritualen und Tänzen anderer Kulturen; in der interkulturellen Kooperation zwischen Schulen und Universitäten; im Jugendaustausch, wie er exemplarisch im Rahmen des Deutsch-französischen Jugendwerks seit mehr als vierzig Jahren stattfindet. Im Zentrum interkultureller Bildung steht der Umgang mit dem

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12 | Anthropologie kultureller Vielfalt Fremden, der nur gelingt, wenn auch Erfahrungen der Selbstfremdheit zugelassen werden. Montaigne beschreibt den Zusammenhang zwischen Fremd- und Selbsterfahrung treffend, wenn er darauf hinweist, dass wir alle aus vielen Flicken und Fetzen so kunterbunt und unförmig zusammengesetzt sind, dass jeder Lappen in jedem Augenblick sein eigenes Spiel mit uns treibt und es daher zwischen uns und uns selbst ebensoviel Verschiedenheit gibt wie zwischen uns und anderen. Diese Überlegungen bringen ein Menschenbild zum Ausdruck, das angesichts von Globalisierung und kultureller Diversität sehr relevant ist. Zugleich machen sie deutlich, wie notwendig in dieser Situation anthropologische Forschung und Reflexion ist. Denn seit längerer Zeit kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die aus der europäischen Kultur hervorgegangenen Menschenbilder den Maßstab für Bilder vom Menschen aus anderen Kulturen darstellen. In der Unterschiedlichkeit der Menschenbilder kommen verschiedene kulturelle Identitäten zum Ausdruck. Zwischen diesen bestehen Gemeinsamkeiten und Differenzen, die mehr denn je intensiver Erforschung bedürfen. Angesichts der gegenwärtigen Lebenssituation der Menschen muss von einer prinzipiellen Gleichwertigkeit der anthropologischen Bilder, Entwürfe und Vorstellungen ausgegangen werden, ohne dass dies dazu führen darf, dass die eigenen Wert- und Normenentscheidungen ausgeschlossen werden. Was versteht man in Anbetracht der Tatsache, dass Anthropologie ihren Ursprung in der europäischen Wissenschaftsgeschichte und Philosophie hat, heute unter anthropologischer Forschung und Reflexion? Angesichts der Komplexität der gegenwärtigen Situation ist ein in sich geschlossenes Konzept von Anthropologie nicht mehr möglich. Vielmehr bedarf es einer wechselseitigen Verschränkung mehrerer Paradigmen der Anthropologie. Zu deren wichtigsten gehören die naturwissenschaftlich ausgerichtete Evolutionsforschung, die Philosophische Anthropologie, die Anthropologie in der Geschichtswissenschaft (historische Anthropologie), die Kulturanthropologie (Ethnologie) und die Historische Anthropologie (Wulf 2004). Während sich die Evolutionsforschung und die Philosophische Anthropologie darum bemühen, einen allgemeinen Begriff des Menschen zu entwickeln, zielen die anthropologischen Forschungen in der Geschichtswissenschaft, die Kulturanthropologie und die Historische Anthropologie auf die historische und kulturelle Vielfalt der Menschen. Deshalb sind in diesen drei Bereichen diachrone und synchrone Untersuchungen besonders geeignet, Fragen historischer und kultureller Diversität zu bearbeiten. Hinzu kommen eine erhebliche Vielfalt in methodischen Fragen und eine transnationale Ausrichtung großer Teile der anthropologischen Forschung und Reflexion. Um historische und kulturelle Vielfalt besser zu begreifen, das Verständnis von Interkulturalität zu vertiefen und interkulturelle Bildung zu fördern und dadurch einen Beitrag zu Frieden und Nachhaltigkeit zu leisten, bedarf es einer Intensivierung der historisch-anthropologischen

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1. Einleitung | 13

Forschungen in den Kultur- und Sozialwissenschaften (Wulf 1997, 2001, 2004). In diesem Rahmen werden u.a. thematisiert: Körper, Raum, Zeit, Bewegung, Alterität, Weltoffenheit und Zukunft. Werden diese Begriffe auf Bildungsprozesse bezogen, kommt es zum Oszillieren zwischen Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit, zwischen den Möglichkeiten des homo sapiens und den Abgründen des homo demens. Im Anblick der Komplexität dieser Situation gibt es keine einfachen Lösungen. Je mehr wir von den Menschen und ihren Lebensbedingungen in der globalisierten Welt wissen, desto mehr wachsen auch das Nichtwissen und die Erkenntnis der Begrenztheit unseres Selbstverständnisses. Insofern der Mensch ein homo absconditus ist, ist er sich nur in Ausschnitten und nicht in seiner Gesamtheit begreifbar. Welche Konsequenzen sich daraus für Erziehungs- und Bildungsprozesse in einer auf interkulturelle Verständigung angewiesenen Welt ergeben, ist nach wie vor eine offene Frage.

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9- 13) T01_01 einleitung.p 123723341234

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) vak 014.p 123723341274

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I

Globalisierung und Interkulturalität

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) T01_011 RESPEKT I.p 123723341290

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) vak 016.p 123723341298

2. Globalisierung und kulturelle Vielfalt | 17

2. Globalisierung und kulturelle Vielfalt

Kulturelle Vielfalt Die auf die Vereinheitlichung der Welt zielende Globalisierung ist durch folgende Elemente gekennzeichnet, die sich auch nachhaltig auf die Entwicklung der Europäischen Union und das Verhältnis der in ihr zusammengeschlossenen Länder auswirken (Appadurai 1996; Beck 1997; Münch 1998; Scheunpflug/Hirsch 2000; Wulf/Merkel 2002): •









Die Globalisierung internationaler Finanz- und Kapitalmärkte, die von Kräften und Bewegungen bestimmt werden, welche von den realen Wirtschaftsprozessen weitgehend unabhängig sind. Damit einher geht der Abbau von Handelsschranken, die Steigerung der Kapitalmobilität und der Einflussgewinn der neoliberalen Wirtschaftstheorie. Die Globalisierung der Unternehmensstrategien und Märkte mit global ausgerichteten Strategien der Produktion, Distribution und Kostenminimierung durch Verlagerung. Die Globalisierung von Forschung und Entwicklung und Technologien mit der Entwicklung globaler Netzwerke, neuer Informations- und Kommunikationstechnologien sowie die Ausweitung der Neuen Ökonomie. Die Globalisierung transnationaler politischer Strukturen mit der Abnahme des Einflusses der Nationen, der Entwicklung internationaler Organisationen und Strukturen und dem Bedeutungszuwachs von Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs). Die Globalisierung von Konsummustern, Lebensstilen und kulturellen Stilen mit der Tendenz zu ihrer Vereinheitlichung. Die Ausbreitung des Einflusses der neuen Medien und des Tourismus und die Globalisierung von Wahrnehmungsweisen und Bewusstseinsstrukturen, die Modellierung von Individualität und Gemeinschaft durch die Wirkungen der Globalisierung sowie die Entstehung einer Eine-Welt-Mentalität.

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18 | I Globalisierung und Interkulturalität Die Globalisierung erfasst heute auch in steigendem Maße den Bereich der Kultur und führt hier zu einer zunehmenden Uniformierung. Gegen diese Entwicklung gibt es in allen Teilen der Welt vermehrten Widerstand. Doch auch die Versuche der dominierenden angelsächsischen Kultur, sich gegenüber den kleineren Kulturen durchzusetzen, gewinnen immer mehr an Gewicht. Dies lässt sich am Beispiel der Verhandlungen im Rahmen der World Trade Organisation (WTO) und insbesondere des General Agreement on Trade of Services (GATS) verdeutlichen. Mit einer »Liberalisierung« des Kulturbereichs droht eine wachsende Vereinheitlichung der Kultur und damit eine Einschränkung kultureller Vielfalt. Die Gleichbehandlung kultureller Güter mit den Waren des globalen Warenverkehrs birgt große Gefahren für die weltweite Erhaltung kultureller Vielfalt. Im Unterschied zu den USA sind in Europa viele Kulturgüter stark regional und lokal ausgeprägt und verankert. So gibt es z.B. in Deutschland etwa 6000 Museen mit 100 Millionen Besuchern jährlich. Mit der ungebremsten Ausweitung der von der amerikanischen Kulturindustrie dominierten Unterhaltungskultur würde die Nutzung vieler regionaler und lokaler Kulturgüter noch stärker in Gefahr geraten, als dies ohnehin schon der Fall ist. So besuchen gegenwärtig zwei Drittel aller deutschen Kinobesucher amerikanische Filme. In den kleineren Ländern Europas ist das Verhältnis zwischen den mit geringen finanziellen Mitteln hergestellten eigenen kulturellen Produktionen und den mit gewaltigem finanziellen Aufwand für die globale Verbreitung produzierten kulturellen Waren noch ungünstiger. In den armen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas erreicht die Verdrängung regionaler und lokaler Kulturen ein noch weit darüber hinaus reichendes Ausmaß. Gäbe es bei den GATS-Verhandlungen keine Ausnahmeregelungen für den Bereich der Kultur, würde sich die global vernetzte Kulturindustrie zu Lasten der regionalen und lokalen Kultur ungehindert durchsetzen. Dann könnte sich beispielsweise die Hollywood-Filmindustrie um Fördergelder für den jungen deutschen Film bewerben. Denn im Namen der uneingeschränkten Freizügigkeit von Dienstleistungen und Waren wäre jedes Land verpflichtet, allen anderen Ländern die gleichen Rechte einzuräumen, die es den Waren- und Dienstleistungsproduzenten des eigenen Landes gewährt. Auf Initiative Frankreichs und anderer europäischer Länder hat sich der Widerstand gegen die Gleichbehandlung von Kulturgütern und Waren weiter verstärkt. Denn Kultur braucht Freiheit und Vielfalt, Schutz und Förderung ihrer Vielfalt. Die GATS-Verhandlungen sind nur ein Beispiel dafür, wie die Entwicklungen einer uniformierenden Globalisierung zur Benachteiligung oder sogar Bedrohung kleinerer Kulturen und ihrer Kulturgüter führen. Die Gefährdung kultureller Vielfalt geht noch weiter, und die Forderung nach der Erhaltung kultureller Vielfalt weist weit über den Bereich der Kulturgüter hinaus. So heißt es in der »Allgemeinen Erklärung zur kulturellen Vielfalt« der 31. Generalkonferenz der UNESCO von 2001, »dass Kultur als Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften angesehen werden sollte, die eine Gesell-

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schaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen, und dass sie über Kunst und Literatur hinaus auch Lebensformen, Formen des Zusammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen umfasst.« Kulturelle Vielfalt wird als ein gemeinsames Erbe der Menschheit bestimmt, angesichts dessen es darum geht, von einer kulturellen Diversität zu einer allseits akzeptierten kulturellen Pluralität zu gelangen, die zu umfangreichen neuen Entwicklungsmöglichkeiten führen kann. Kulturelle Vielfalt wird als Menschenrecht bestimmt; die davon abgeleiteten Rechte werden als Garanten der kulturellen Vielfalt angesehen. Kulturelles Erbe wird als Ursprung und Ausgangspunkt kultureller Kreativität begriffen. Daher sind Kulturgüter keine Waren; ihre Erzeugung bedarf des Schutzes und der Unterstützung der Kulturpolitik. Deshalb gilt es, die Herstellung und Verbreitung von Kulturgütern weltweit zu unterstützen und die dazu erforderliche Zusammenarbeit des öffentlichen und des privaten Sektors zu fördern. Für diese Bemühungen war die Verabschiedung des »Übereinkommens zum Schutze der Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen« durch die Generalversammlung der UNESCO im Herbst 2005 eine wichtige Unterstützung.

Interkulturelle Bildung Diese Situation erfordert auch Konsequenzen für das Bildungswesen. Auch in seinem Rahmen bedarf es einer bewussten Auseinandersetzung mit den sich neu entwickelnden Lebensbedingungen. Ohne die in den jeweiligen Ländern gegebenen kulturellen Bedingungen von Veränderungen ausschließen zu wollen, ist es notwendig, die Gefährdung kultureller Vielfalt zu thematisieren und in diesem Prozess Position zu beziehen. Dazu ist es erforderlich, Maßnahmen zu treffen, die kulturelle Vielfalt fördern und daraus Konsequenzen für das Verständnis von Erziehung und Bildung abzuleiten. Deswegen ist Erziehung in Europa mehr denn je eine interkulturelle Aufgabe (Wulf 1995, 1998), ohne deren Annahme wichtige Herausforderungen im Rahmen der Europäischen Union nicht erfüllt werden können. Die Schwierigkeiten liegen heute darin, einerseits dem Anspruch auf kulturelle Vielfalt gerecht zu werden, andererseits den Veränderungen der einzelnen Kulturen nicht normativ im Wege zu stehen. Denn die Entwicklung der Europäischen Union führt notwendigerweise auch zu Veränderungen der einzelnen europäischen Kulturen. Dabei geht es um ein ausgeglichenes Verhältnis von »Anähnlichung« und Differenz. Ein solcher Anspruch erfordert kulturellen Wandel unter Achtung kultureller Vielfalt. Ist das Bildungswesen in den Ländern Europas vor allem auf die jeweilige Nationalkultur ausgerichtet, so bedarf es heute der verstärkten Öffnung für andere europäische Kulturen und einer Orientierung an den Grundsätzen der Europäischen Union. Angesichts dieser Situation reicht es nicht, »Bildung« lediglich als einen geistigen, auf die Förderung von Individuen bezogenen Prozess zu begreifen. Vielmehr gilt es, die performa-

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20 | I Globalisierung und Interkulturalität tive Seite interkultureller Bildung zu fördern (Wulf/Göhlich/Zirfas 2001; Wulf u.a. 2001, 2004). Für das Gelingen interkultureller Bildungsprozesse sind folgende Aspekte von zentraler Bedeutung: 1. Kulturalität und Interkulturalität; 2. Alterität und Hybridität; 3. Mimetische Lernprozesse. Kulturalität/Interkulturalität: Der heute gebräuchliche weite Begriff von »Kultur« bezeichnet alles das, was Menschen schaffen bzw. geschaffen haben und umfasst daher auch komplexe Verbindungen heterogener Elemente aus mehreren Kulturen. Um diese Aspekte von Kultur zu bezeichnen, spricht man daher heute auch von Transkulturalität, von hybriden Kulturphänomenen oder aber von Glokalität, wenn man die Überlagerung lokaler durch globale Strukturen bezeichnen will. Angesichts dieser Situation ist der inter- bzw. transkulturelle Aspekt von Bildung in Europa von zentraler Bedeutung. Eine solche Bildung ist umso mehr erforderlich, als immer mehr Menschen mehrfache, vielfältige und dynamische kulturelle Identitäten haben. Jugendliche machen die Erfahrung, dass »Kultur« nicht mehr wie noch im 19. Jahrhundert nach dem Modell einer Insel oder eines nach außen abgeschlossenen, über das Territorium einer Nationalkultur gestülpten »Containers« begriffen werden kann. Interkulturelle Bildung ist dementsprechend nicht als ein Lernen zwischen voneinander abgeschotteten Kulturen zu verstehen. Vielmehr überlagern sich die verschiedenen Herkünfte, Ansätze und Fokussierungen von Kultur so, dass sich Globales, Regionales und Lokales durchdringen. Der von Roland Robertson (1992) geprägte Begriff der Glokalisierung (glocalism) bringt diese Durchmischung von Globalem und Lokalem, von Universellem und Partikularem zum Ausdruck, durch die neue Formen kultureller und sozialer Komplexität entstehen. Durch die Überschneidung und Interdependenz verschiedener kultureller Elemente bildet sich keine in sich abgegrenzte kulturelle Einheit, sondern eine tiefe kulturelle Vielfalt der Lebensbedingungen (KrügerPotratz 1999; Herzog 1999; Gogolin 1998). Trotz Globalisierung und Europäisierung, Regionalisierung und Lokalisierung von Kultur, Erziehung und Bildung werden zwischen Italien und Dänemark, Holland und dem Vereinigten Königreich, Deutschland und Frankreich erhebliche kulturelle Unterschiede bestehen bleiben (Dibie/Wulf 1999; Hess/Wulf 1999). Diese sind an die unterschiedlichen Sprachen und die mit ihnen verbundenen Vorstellungswelten gebunden. Ein Vergleich der Bedeutungsfelder und Konnotationen von Wörtern wie Religion, Natur, Familie, die in den genannten Sprachen sogar den gleichen etymologischen Ursprung haben, macht dies deutlich. In der Wahrnehmung und Akzeptierung von Differenzen bilden sich Gemeinsamkeiten eher heraus als in Versuchen, von Unterschieden abzusehen. Angesichts dieser Situation ist zwar eine Reduzierung, nicht jedoch ein Verlust der Vielfalt zu erwarten. Alterität/Hybridität: Im Zentrum einer als interkulturelle Bildung verstandenen Bildung steht die Begegnung mit dem Fremden, mit der Alterität.

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Diese ist konstitutiv für die Bildung der jungen Menschen heute. Denn sie sind es letztlich, die zukünftig den Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen führen und dabei auch Erfahrungen mit den drei verbreiteten Strategien der Reduktion des Fremden auf das Bekannte machen, dem Logozentrismus, dem Egozentrismus und dem Ethnozentrismus (Waldenfels 1990; vgl. in Kap. 4). Damit interkulturelle Bildung gelingt, müssen die jungen Menschen die Erfahrung der Fremdheit machen, d.h. unter anderem das Fremde in sich selbst erfahren. Nur auf dieser Basis ist Offenheit für den Anderen, ist heterologisches Denken, ein Denken vom Anderen her möglich. Aus dieser Situation ergeben sich neue Aufgaben; zu diesen gehört es, neue Repräsentationen des Anderen, neue Loyalitäten und Solidaritäten zu entwickeln. Die Prozesse der Europäisierung und Globalisierung durchdringen heute alle Lebensbereiche und erhöhen die Komplexität der Lebenswelten und Lebensformen. Über kulturelle Unterschiede hinweg bewirken diese Prozesse Ähnlichkeit, nicht jedoch Gleichheit. Gegen den Versuch, Ähnlichkeit auf Gleichheit zu reduzieren und dadurch Differenzen zu nivellieren, gibt es Widerstand, in dessen Rahmen man zurecht auf dem Wert der Einmaligkeit und Unhintergehbarkeit des Partikularen besteht. Angesichts dieser Entwicklungen müssen sich Erziehung und Bildung verstärkt der Aufgabe stellen, junge Menschen dabei zu unterstützen, die durch die Ausweitung des Wissens entstehenden Ansprüche eigenverantwortlich zu handhaben und durch Wissen, Experiment und Erfahrung ihre Fähigkeiten zu entfalten, mit der gestiegenen Komplexität des Lebens und der Lebensführung umzugehen. Mit der Europäisierung von Kultur und der Zunahme der kulturellen Mischungen wird es immer schwerer, zwischen Eigenem und Fremdem zu unterscheiden. Dies liegt daran, dass die meisten Menschen an mehreren Kulturen Anteil haben, durch die sie in jeweils einmaliger Weise geprägt werden. Diese Situation ist u.a. Folge der Dynamisierung gesellschaftlicher Entwicklungen, der wachsenden Mobilität und der Entkoppelung von nationaler und kultureller Identität. In diesen Prozessen kommt es darauf an, das Fremde in der eigenen und das Eigene in der fremden Kultur wahrzunehmen und aus dieser Wahrnehmung eine kritische Perspektive auf die eigene und die fremde Kultur zu entwickeln (Eder 2000). Diese Sichtweise ermöglicht es, Anschlüsse und Übergänge zwischen verschiedenen Kulturen herzustellen. Ein auf sozialer Homogenisierung, ethnischer Fundierung und interkultureller Abgrenzung beruhendes Konzept von Kultur reicht nicht aus, die Prozesse kultureller Assimilation angemessen zu begreifen. Stattdessen lässt sich innerhalb der Europäisierung eine zunehmende Vernetzung der Kulturen konstatieren. Dies führt zu Hybridbildungen, deren Ursprünge sich häufig kaum noch bestimmen lassen. »Für jede einzelne Kultur sind tendenziell alle anderen Kulturen zu Binnengehalten oder Trabanten geworden. Das gilt auf der Ebene der Bevölkerung, der Waren und der Informationen. Weltweit leben in der Mehrzahl der Länder auch Angehörige aller anderen Länder dieser Erde; immer mehr

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22 | I Globalisierung und Interkulturalität werden die gleichen Artikel – wie exotisch sie einst auch gewesen sein mögen – allerorten verfügbar; zudem machen die elektronischen Kommunikationsmedien alle Informationen von jedem Punkt aus identisch verfügbar« (Welsch 2001, S. 265). Für die Offenheit gegenüber dem Anderen, den Angehörigen fremder Kulturen gibt es jedoch auch Grenzen. Sie werden durch das Diskriminierungsverbot der Menschenrechte geschaffen, die die normativen Grundlagen der Europäischen Union und der Weltgemeinschaft bilden, auf die sich alle Menschen und gesellschaftlichen Gruppen berufen können. Inwieweit diese Auffassung auch im Hinblick auf die Weltgemeinschaft allgemein akzeptiert wird bzw. inwieweit hier Modifikationen erforderlich sind, ist ein kontroverses Thema im weltweiten Dialog der Kulturen. Mimetisches Lernen: In diesem Prozess der Transformierung der Nationalkulturen, der Durchmischungen regionaler und lokaler kultureller Elemente sowie der Hybridbildung spielen mimetische Prozesse eine zentrale Rolle. In ihnen werden Elemente einer symbolischen und imaginären Welt auf kulturelle Elemente einer anderen Welt bezogen. Dies kann in Form einer Berührung, einer Anähnlichung oder auch in Form einer Abgrenzung geschehen (Gebauer/Wulf 1992, 1998). In den mimetischen Prozessen im Bereich kulturellen Lernens entsteht etwas Neues. So führt z.B. die Nachahmung von Symbolisierungen in anderen Kulturen zu neuen Bildern und Gestalten, Formen und Metaphern in der »eigenen« Kultur. Der mimetische Bezug auf die afrikanische Kunst in der Malerei am Anfang des 20. Jahrhunderts und die Entstehung des modernen Jazz oder des Reggae sind dafür Beispiele. In mimetischen Prozessen erschließen sich die Menschen die kulturellen Welten, in denen sie leben und denen sie begegnen. Sie nehmen die Welt auf, lassen sie aber nicht passiv über sich ergehen, sondern antworten auf sie mit konstruktiven Handlungen. Was sie von der Welt empfangen, wird von ihnen in ihren eigenen Handlungen geformt. In mimetischen Akten erzeugt jeder Einzelne durch seine eigenen Handlungen die vorgefundene Welt noch einmal. Mimetisch erzeugte kulturelle Welten sind nie solipsistisch, sondern offen für Gemeinsamkeit. Mimetische Prozesse sind zweierlei: Nachahmung von etwas Gegebenem und dessen Formung, insofern es für das Subjekt noch keine festgelegte Gestalt besitzt. Dies gilt auch für die Anähnlichung an das Fremde, den mimetischen Umgang mit Alterität (Gebauer/Wulf 1992, 1998, 2003). Verhilft im obigen Beispiel die Bezugnahme auf eine lokale künstlerische Praxis den europäischen und amerikanischen Künstlern dazu, eine neue Kunst- bzw. Musikrichtung zu schaffen, so sind solche Prozesse heute jedoch nicht auf Künstler, Musiker und Schriftsteller begrenzt; sie erfassen das alltägliche Leben vieler Menschen. Über die Globalisierung des Marktes und der neuen Medien werden Waren, Muster und Praktiken verbreitet, die auf lokale und regionale Traditionen stoßen, welche in mimetischen Prozessen neue Lebensformen und Kulturen des Performativen erzeugen. Es kommt zu tiefgreifenden Veränderungen der lokalen und

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regionalen, der nationalen und globalen Kulturen; es entstehen kulturelle Überlagerungen, Mischungen und Hybridbildungen, die zu neuen Formen kultureller Identitätsbildung führen (Bhabha 2002; Kein Nghi Ha 2004). Zu diesen gehört die Entwicklung kulturübergreifender performativer Gemeinsamkeiten zwischen den Angehörigen verschiedener Kulturen. Für diese spielen Rituale und Ritualisierungen eine erhebliche Rolle (Wulf u.a. 2001), deren performativer Charakter die Bedeutung des Verstehens angesichts der Gemeinsamkeit der Handlung in den Hintergrund treten lässt (Wulf/Göhlich/Zirfas 2001). Solche performativen Handlungen tragen zu neuen Formen kultureller Identität bei. Aufgrund der Globalisierungsprozesse kommt es vermehrt zu Spannungen zwischen den Tendenzen der Uniformierung von Kultur und dem Anspruch auf kulturelle Vielfalt als einem Menschenrecht. Angesichts der Komplexität der damit verbundenen Probleme können diese nur in ihrem jeweiligen Kontext bearbeitet werden. Dies setzt neue Kompetenzen des Umgangs mit Alterität voraus, zu deren Entwicklung das Bildungswesen einen Beitrag leisten kann. Somit gehört die Auseinandersetzung mit Fragen der Kulturalität und Transkulturalität, mit Alterität und Hybridität sowie mit der Förderung mimetischer Prozesse als Strategien der Entwicklung eines heterologischen Denkens zu den wichtigen Aufgaben einer als interkulturelle Bildung verstandenen Erziehung in Europa.

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3. Erziehung und Bildung in der globalen Welt

Wie kann eine globale Perspektive von Erziehung und Bildung am Anfang des 21. Jahrhunderts entwickelt werden, die zugleich die regionalen Differenzen der Erziehungssysteme berücksichtigt? Die Aufgabe ist schwierig. Sinnvoll kann sie nur von einer Arbeitsgruppe erfüllt werden, in der die verschiedenen Regionen der Welt repräsentiert sind und in der dadurch regionale Differenzen in die globale Perspektive einbracht werden können. Am 11. April 1996 wurde von einer internationalen Arbeitsgruppe eine globale Perspektive auf Erziehung und Bildung vorgelegt. Dabei handelte es sich um den mit Spannung erwarteten Bericht von Jacques Delors, den Vorsitzenden der internationalen UNESCO-Kommission »Education for the 21st Century«, mit dem Titel Learning: The Treasure Within. Viele Erwartungen und Gerüchte gingen ihm voraus. Man fragte sich, was angesichts der in den Regionen und Ländern der Welt so unterschiedlichen Voraussetzungen für Erziehung und Bildung von einem internationalen Bericht erwartet werden könnte. Wie würde ein solcher Bericht mit den Differenzen zwischen den Religionen, Kulturen und Gesellschaften umgehen? Würde es ihm gelingen, eine ähnliche Bedeutung wie der 1972 erschienene Faure-Bericht zu erlangen, in dessen Folge sich die Vorstellung vom lebenslangen Lernen in den internationalen Diskursen über Erziehung und Bildung durchsetzte? Der Bericht sollte die globalen Bedingungen bestimmen, unter denen im 21. Jahrhundert Erziehung und Bildung voraussichtlich stattfinden werden. Dabei wollte man sich nicht auf eine Bedingungsanalyse beschränken, in der die Möglichkeiten von Bildung und Erziehung vor allem auf ökonomische Bedingungen reduziert werden. Im Unterschied zu derartigen Bestandsaufnahmen geht der Bericht davon aus, dass Entwürfe für Erziehung und Bildung nicht auf die Beschreibung der Realbedingungen reduziert werden dürfen. Erziehung und Bildung seien eine Utopie. Erziehung und Bildung werden dem Kommissionsbericht zufolge im nächsten Jahrhundert durch eine Reihe von Konfliktformationen gekennzeichnet sein:

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Die Spannung zwischen Globalem und Lokalem. Einerseits sollen sich immer mehr Menschen als »Weltbürger« mit einer gemeinsamen Verantwortung für die Erde begreifen, ohne dass sie dadurch jedoch dazu gebracht werden sollen, ihre Verbundenheit mit ihrem lokalen und nationalen Kontext aufzugeben. Die Spannung zwischen Universalem und Individuellem. Die Tendenz zur Globalisierung des menschlichen Lebens ist nicht nur auf Wirtschaft und Politik begrenzt; sie erfasst auch Kultur und Erziehung. Sie enthält große Chancen, aber auch unübersichtliche Risiken. Es bedarf eines sorgfältigen Ausgleichs zwischen der Unhintergehbarkeit des Einzelnen und seiner Eingebundenheit in bestimmte kulturelle Traditionen und der Tendenz, durch die Globalisierung von Politik, Wirtschaft und Kultur neue Lebensformen und Lebenszusammenhänge zu schaffen. Die Spannung zwischen Tradition und Modernität. Wie kann man für Entwicklungen der Gegenwart und der Zukunft offen bleiben, ohne seine eigenen kulturellen Traditionen zu verraten? Wie kann es gelingen, die verschiedenen Dynamiken konstruktiv aufeinander zu beziehen? Welche Rolle spielen dabei moderne Technologien und neue Medien? Die Spannung zwischen langfristigen und kurzfristigen Überlegungen. Was unter einer kurzfristigen Perspektive als sinnvoll erscheint, kann in einer langfristigen Perspektive betrachtet ein gravierender Fehler sein, und umgekehrt. Dies gilt z.B. für Investitionen im Bildungswesen, deren Wirkungen sich erst mittel- und langfristig zeigen. Die Spannung zwischen notwendigem Wettbewerb einerseits und der Sorge um Chancengleichheit andererseits. Bei Reformen im Bildungsbereich ist diese Spannung nicht grundsätzlich aufhebbar. Einfache Entweder/ oder-Lösungen stellen unzulässige Reduktionen dar. Im Rahmen lebenslangen Lernens gilt es daher, die antagonistischen Kräfte Wettbewerb, Kooperation und Solidarität nach Möglichkeit ins Gleichgewicht zu bringen. Die Spannung zwischen der außerordentlichen Ausweitung des Wissens und der menschlichen Fähigkeit, es zu assimilieren. Im Zentrum steht der Auftrag des Bildungswesens, junge Menschen dabei zu unterstützen, den Anforderungen neuer Wissenszusammenhänge gerecht zu werden und durch Wissen, Experiment und Entwicklung ihre persönlichen Fähigkeiten zu entfalten. Die Spannung zwischen Geistigem und Materiellem. Nur wenn es gelingt, die Dynamiken dieser beiden Bereiche auszubalancieren, wird die Menschheit Wege finden, das Leben auf der Erde so zu gestalten, dass sie überlebt.

Erziehung soll einen Beitrag dazu leisten, die Menschen zu befähigen, mit diesen Spannungen und Konfliktformationen umzugehen und dadurch an einer gemeinsamen Zukunft der Menschheit mitzuarbeiten. Erziehung muss als lebenslanger Prozess und als Wert an sich begriffen werden. Wiewohl sie sich den Anforderungen zu stellen hat, die aus den gesell-

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26 | I Globalisierung und Interkulturalität schaftlichen, ökonomischen und politischen Entwicklungen stammen, darf sie nicht auf die Erfüllung dieser Ansprüche reduziert werden. Erziehung und Bildung müssen flexibel sein und Diversität und Heterogenität der Welt und ihrer Regionen berücksichtigen. Lernen ist der zentrale Begriff des UNESCO-Berichts, an den große Hoffnungen geknüpft werden: Die Rede ist von einer »Lerngesellschaft«, in der »lebenslanges Lernen« für alle Menschen, jedoch in unterschiedlicher Form und mit unterschiedlichen Inhalten stattfinden soll. Vier Formen des Lernens werden unterschieden: • • • •

Zusammenleben lernen, Wissen lernen, Handeln lernen, Sein lernen.

Lernen soll sich auf das menschliche Zusammenleben beziehen und dazu beitragen, es konstruktiv und im Geiste des Friedens zu gestalten. Gegenseitiges Verständnis soll gefördert und Fähigkeiten zur produktiven Lebensgestaltung sollen angebahnt und entwickelt werden. Unter den vielen Formen des Wissens kommt dem wissenschaftlichen Wissen für die Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels besondere Bedeutung zu. Wichtig ist darüber hinaus die Entwicklung von Handlungskompetenz in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Erziehungs- und Bildungsanstrengungen sollen sich auf die Förderung des Gedächtnisses, der Reflexion, der Imagination, der Gesundheit, der ästhetischen und kommunikativen Fähigkeiten, auf die Erziehung und Bildung des Einzelnen mit seinen spezifischen Bedürfnissen richten. Angesichts von 900 Millionen Analphabeten und 130 Millionen nicht beschulten Kindern sind verstärkte Anstrengungen im Bereich der Grunderziehung erforderlich. Nach Möglichkeit sollen sie jedoch nicht zu Lasten des Sekundarschulsystems und des Hochschulsystems gehen, zu denen immer mehr junge Menschen Zugang verlangen. Gesteigert werden sollen die internationalen Anstrengungen, die armen Länder dabei zu unterstützen, die Quantität und die Qualität ihrer Bildungssysteme auszubauen. Der Erfolg von Bildungsreformen hängt davon ab, inwieweit sie von den Gemeinden einschließlich Eltern, Lehrern, Schulleitern, von der Öffentlichkeit und der internationalen Gemeinschaft getragen werden. Die Kommission betont die Bedeutung der Dezentralisierung und der aktiven Partizipation von Lehrern für das Gelingen von Erziehungs- und Bildungsreformen. Im Einzelnen empfiehlt die Kommission folgende Maßnahmen internationaler Kooperation: •

verstärkte Anstrengungen zur Förderung von Mädchen und Frauen im Bildungsbereich;

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Vergabe eines Viertels der Entwicklungshilfe internationaler Organisationen als Bildungshilfe; Verzicht auf Schuldenerlasse und auf Kredithilfen bei Reduktionen im Bildungsbereich; weltweite Einführung moderner Informationstechnologien zur Vermeidung bzw. Verringerung einer weiteren Kluft zwischen armen und reichen Ländern; verstärkte Berücksichtigung von NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen) für die internationale Kooperation.

Organisiert ist der Bericht der Delors-Kommission in neun Kapiteln, deren Titel bereits ihren programmatischen Charakter verraten: Von der lokalen Kommunität zu einer Weltgesellschaft Weltweite Interdependenz und Globalisierung bestimmen heute das Alltagsleben der Menschen. Da ihre Auswirkungen immer umfassender werden, müssen die durch sie bedingten Herausforderungen in Kultur, Erziehung und Gesellschaft nachhaltig bedacht werden. Eine große Gefahr besteht darin, dass eine Kluft entsteht zwischen einer kleinen Anzahl von Menschen, die mit diesen neuen Lebensbedingungen produktiv umgehen können, und einer Mehrzahl von Menschen, die ihnen ohnmächtig ausgeliefert sind. Schließlich soll es darum gehen, die Zunahme wechselseitigen Verständnisses und Verantwortungsbewusstseins sowie Solidarität zu fördern. Erziehung und Bildung haben die Aufgabe, die Menschen dabei zu unterstützen, sich in diesen weltweit neuen Lebensbedingungen zurechtzufinden. Von sozialem Zwang zu demokratischer Partizipation Bildungspolitik muss weit gespannt sein; sie darf nicht zum sozialen Ausschluss von Individuen oder Bevölkerungsgruppen beitragen. Im Rahmen von Sozialisation und Erziehung sollen gesellschaftliche Ansprüche und individuelle Rechte auf persönliche Entwicklung miteinander vermittelt werden. Erziehung kann grundlegende gesellschaftliche Probleme nicht lösen, doch kann sie zu ihrer Handhabung beitragen. Schulen erfüllen ihre gesellschaftlichen Aufgaben nur, wenn sie Angehörige von Minoritäten fördern und ihnen helfen, in ihrem gesellschaftlichen Umfeld angemessen zu leben. Erziehung zu Demokratie und staatsbürgerlichem Verhalten muss in der Schule erfolgen. Dort wird demokratische Partizipation einschließlich der Fähigkeiten zu Verständnis und kompetentem Urteil geübt und entwickelt. Erziehung und Bildung sollen Kindern und Erwachsenen dabei helfen, einen kulturellen Hintergrund zu entwickeln, der es ermöglicht, Ereignisse und Informationen einzuordnen und in ihrem historischen Kontext zu begreifen.

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28 | I Globalisierung und Interkulturalität Von ökonomischem Wachstum zur menschlichen Entwicklung Es bedarf eines neuen Modells von »Entwicklung«, in dessen Rahmen die gegenwärtigen Lebensbedingungen der Menschen stärker zu berücksichtigen sind. Benötigt werden Untersuchungen über die Zukunft der Arbeit und über die Veränderungen der Arbeitswelt infolge der technologischen Entwicklungen. Die Zusammenhänge zwischen Entwicklungs- und Bildungspolitik bedürfen neuer Reflexion und besserer Gestaltung. Erforderlich sind weitere Anstrengungen zum Ausbau der Grundbildung in allen Regionen der Welt. Die vier Pfeiler von Erziehung und Bildung Lebenslanges Lernen beruht auf folgenden vier Pfeilern: Wissen lernen, Handeln lernen, Zusammenleben lernen, Sein lernen. Allgemeinbildung mit vertiefender Konzentration in einigen Bereichen und das Lernen des Lernens sollen verstärkt gefördert werden. Es gilt die Fähigkeit zu erwerben, in unterschiedlichen lokalen und internationalen Situationen sachgerecht zu handeln. Eine kompetente Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Menschen in gegenseitiger Achtung soll gefördert werden. Ein akzeptierender Umgang mit den Unterschieden zwischen den Menschen muss gelernt und geübt werden. Im Bildungssystem sollen deshalb nicht nur mehrere Formen des Wissens, sondern auch verschiedene Formen des Lernens und Könnens vermittelt werden. Lebenslanges Lernen Da die im nächsten Jahrhundert vom Einzelnen zu erbringenden Leistungen alle bisherigen Anforderungen übersteigen, können sie nur mithilfe lebenslangen Lernens erfüllt werden. Daher bedarf es in einer sich für diese Erfordernisse vorbereitenden »Lerngesellschaft« weit gefächerter Angebote und Lerngelegenheiten. Von der Grundbildung zur Universität Schwerpunkt der weltweiten Bildungsanstrengungen soll die Förderung der Grundbildung unter besonderer Berücksichtigung der Primarerziehung und der in ihrem Rahmen erfolgenden Entwicklung der Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeit sein. Grundbildung muss besser auf die besonderen Bedingungen und Möglichkeiten der jeweiligen Länder und Bevölkerungsgruppen bezogen werden. Schreib- und Leseprogramme für Analphabeten sind nach wie vor erforderlich. Eine bessere Vermittlung naturwissenschaftlichen Grundwissens ist notwendig. Die Zahlenrelation zwischen Lehrern und Schülern soll nach Möglichkeit verbessert werden bzw. im Falle ihrer Unzulänglichkeit durch den Einsatz moderner Unterrichtstechnologien kompensiert werden. Angebot und Art der Sekundarschulerziehung sollen im Kontext lebenslangen Lernens neu bedacht werden. Mit Hilfe von Bildungsberatung soll das Schulwesen durchlässiger gemacht und seine Chancengerechtigkeit soll verbessert werden. Die Universitäten sollen so ausgestattet werden, dass sie die Studenten auf

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Forschung und Lehre vorbereiten können und ein Spezialwissen vermitteln, das den Erfordernissen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens gerecht wird. Die Universitäten sollen allen offen stehen, die die Voraussetzungen zum Studium haben. Sie sollen verstärkt international kooperieren. Sie sollen autonom und in Forschung und Lehre frei sein. Nur so können die Universitäten den erwünschten Einfluss auf die gesellschaftlichen Entwicklungen ausüben. Insgesamt soll im Bereich der Sekundarund der Hochschulbildung ein möglichst breites und differenziertes Bildungsangebot bereitgestellt werden. Lehrer auf der Suche nach neuen Perspektiven Die soziale und ökonomische Situation von Lehrerinnen und Lehrern ist in den Ländern der Welt sehr unterschiedlich. In vielen bedarf sie einer radikalen Verbesserung, damit die Lehrer ihre für die gesellschaftliche Entwicklung ihres Landes wichtige Arbeit angemessen erfüllen können. Um eine Vielfalt von Erziehungs- und Bildungsprozessen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen initiieren und durchführen zu können, bedarf es der Koordination und Kooperation verschiedener »Lernorte« und der Heranziehung unterschiedlich qualifizierter Menschen. Da die Qualität schulischer Erziehungs- und Bildungsprozesse weitgehend von der Fähigkeit der Lehrer abhängt, ist kontinuierliche Lehrerfortbildung unerlässlich. Lehren und Unterrichten sind nicht nur individuelle Tätigkeiten. Zu ihrer Verbesserung sind Teamarbeit und Koordination erforderlich. Um den Anforderungen heutigen Lebens gerecht zu werden, bedarf es des Austauschs von Lehrpersonal. Durch nationalen und internationalen Austausch kann dazu beigetragen werden, Verantwortungsbewusstsein und Solidaritätsgefühl in der nächsten Generation auch über Ländergrenzen hinweg zu entwickeln. Entscheidungen für Erziehung: der politische Faktor Ausrichtung und Qualität des Erziehungssystems beeinflussen weitgehend Orientierung und Qualität der Gesellschaft. Deshalb bedarf es öffentlicher Debatten über Erziehungsfragen und des Engagements der gesellschaftlichen Entscheidungsträger in diesen. Dezentralisierung und relative Autonomie der Bildungsinstitutionen verbessern deren Qualität. Erziehung und Bildung sollen auf jeden Fall unter der Verantwortung des Staates bzw. der Kommunität bleiben. Die Finanzierung des Bildungswesens obliegt dem Staat und der Öffentlichkeit. Hilfen von privater Seite sind zu begrüßen, können jedoch Staat und Öffentlichkeit nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Bei der Finanzierung des Bildungssystems ist lebenslanges Lernen als Perspektive für alle zu berücksichtigen. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sind zur Erweiterung des Bildungsangebots für mehr Menschen heranzuziehen. Besonders in der Erwachsenenbildung kommen ihnen bislang nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten zu. Dies gilt wiederum in besonderem Maße für die Entwicklungsländer.

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30 | I Globalisierung und Interkulturalität Internationale Kooperation: Erziehung und Bildung in der Weltgemeinschaft (global village) Internationale Kooperation ist im Bereich der Erziehung heute eine Notwendigkeit. Bildungsinvestitionen sollen als Investitionen in die Zukunft begriffen werden. In ihrem Rahmen bedarf es einer besonderen Förderung der in vielen Teilen der Welt benachteiligten Mädchen und Frauen. Besondere Förderung verdienen auch der regionale Austausch und die regionale Kooperation. Die Internationalisierung von Curricula soll durch die Verwendung moderner Informationstechnologien gefördert werden. Internationale Organisationen sollen in der Förderung von Bildungsprojekten partnerschaftlich zusammenarbeiten. Die UNESCO soll dazu Anregungen geben und als Forum für den internationalen Informationsaustausch dienen. Aus alldem ergeben sich eine Reihe kritischer Rückfragen, von deren Beantwortung die Einschätzung des Berichts abhängen wird: •









Bis zu welchem Punkt erfüllt der Bericht seine Intention, eine allgemeine Perspektive für die menschliche Entwicklung (human development) mit Hilfe von Erziehung und Bildung zu entwerfen? Ist der Bericht trotz Modifikationen im Epilog durch Einzelbeiträge aus verschiedenen Regionen der Welt nicht zu stark eurozentrisch akzentuiert? Mindert nicht der universelle Anspruch und Charakter des Berichts seine Relevanz für die verschiedenen Regionen der Welt und hätte nicht eine regionale Spezifizierung seinen Wert für die Reform des Bildungswesens erhöht? Vermeidet der Bericht nicht in unzulässiger Weise Konflikte und Kontroversen, wie sie etwa bei Übernahme des in der UNESCO seit langem erörterten Konzepts der »nachhaltigen Entwicklung« als Bezugspunkt für Erziehung entstanden wären? Sind die dem Bericht zugrunde liegenden anthropologischen Voraussetzungen und Annahmen über die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen nicht zu optimistisch?

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4. Das Fremde als Korrektiv: Der Andere als Bildungsherausforderung

Globalisierungsfolgen: Zur Ausgangssituation von Bildung heute Statt einer die Uniformierung der Menschen fördernden bedarf es einer reflexiven, kritischen und heterogenen Globalisierung, in deren Rahmen es darauf ankommt, eine Reihe der bisherigen Entwicklungen zu modifizieren und die kulturelle Vielfalt, die Herausforderung des Anderen sowie die anthropologische Reflexion historischer und kultureller Unterschiede in die Globalisierungsdynamik einzubeziehen. Der Versuch, eine universelle Globalisierung durchzusetzen, greift zu kurz. Nach dem Todes Gottes (Nietzsche), nach dem Tode des Menschen (Foucault), d.h. nach dem Ende der Geltung des abstrakten männlichen europäischen Menschen als Modell des Menschen, ist eine universelle Globalisierung und das ihr zugrunde liegende und sie legitimierende eurozentrische Menschenbild überholt (Wulf 1997, 2001). Die Ereignisse des 11. Septembers 2001 und ihre Folgen haben dies auch einer größeren Öffentlichkeit deutlich gemacht. In dieser Situation verändert sich der Horizont für Erziehung und Bildung, deren globale Dimensionen an Bedeutung gewinnen. Im Zusammenhang mit Friedenserziehung und internationaler Erziehung, mit Umwelterziehung und Erziehung zu nachhaltiger Entwicklung sowie mit multikultureller bzw. interkultureller Erziehung ist die Notwendigkeit globalen Lernens schon seit längerem gesehen worden. Doch erst allmählich setzt sich die Einsicht durch, dass die Globalisierungsprozesse der Gegenwart eine Herausforderung darstellen, der sich das Erziehungs- und Bildungswesen nicht entziehen kann, wenn es dazu beitragen will, die nachwachsende Generation auf eine verantwortliche Mitgestaltung dieser Prozesse vorzubereiten. Für diese Aufgabe hat der Umgang mit dem Anderen eine erhebliche Bedeutung. Er führt zu einem veränderten Verständnis von Kultur, die nicht mehr nach dem Modell einer abgeschlossenen Insel begriffen werden kann, deren Bewohner mit den Bewohnern anderer Inseln in

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32 | I Globalisierung und Interkulturalität Kontakt treten. Vielmehr ist der Andere der fremden Kultur heute häufig Teil der eigenen kulturellen Welt, oder er dient als Hinweis auf das Fremde in uns, dessen Kenntnis eine wichtige Voraussetzung dafür darstellt, an den Prozessen einer differenzierten und reflexiven Globalisierung teilzunehmen. Angesichts der Globalisierung wichtiger Bereiche des Lebens und weltweiter politischer, ökonomischer und kultureller Integration bedarf es einer verstärkten Akzeptanz von Unterschieden und der Förderung der Gemeinsamkeiten. Dabei sind die Spannungen zwischen dem Lokalen, dem Regionalen und dem Globalen unvermeidbar. Immer mehr Menschen werden ihrer Mitverantwortung für das Schicksal des Planeten bewusst, doch gleichzeitig sind sie ihrem lokalen, regionalen und nationalen Kontext mit allen daraus resultierenden Ansprüchen verhaftet. Wertkonflikte und Verunsicherungen sind die Folge. Zwei gegenläufige und zugleich einander bedingende Tendenzen gesellschaftlicher Entwicklung lassen sich feststellen, die beide zu den zentralen Konstitutionsbedingungen von Erziehung gehören. Eine Entwicklungstendenz zielt auf eine Intensivierung der Individualisierung, die andere auf eine Verstärkung der Globalisierung. Hierin kommen die widersprüchlichen Bedingungen heutiger Vergesellschaftung zum Ausdruck: Jeder Einzelne soll ein individuelles Leben unter gesellschaftlichen Bedingungen führen, die sich von ihm jedoch wenig bestimmen lassen. Selbstorganisation des Lebens mit der Erwartung, ein gelingendes Leben zu führen, heißt die Aufgabe. Jeder soll sein Leben aktiv gestalten, es konstruieren, Verantwortung übernehmen (Krüger/Marotzki 1999). Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung werden verlangt. Entscheidungsfähigkeit und Reflexivität gehören zu den wichtigsten Kompetenzen der Lebensführung. Doch zugleich werden diese Prozesse zunehmender Individualisierung durch die Auswirkungen der vom Einzelnen nicht kontrollierbaren Globalisierung bestimmt. Es entsteht ein Wechselverhältnis: Die heutigen Formen gesteigerter Individualisierung werden erst durch die Prozesse der Globalisierung möglich; zugleich erfordern diese eine Intensivierung der Individualisierung. Nachhaltig sind die Auswirkungen dieser Prozesse auf die Erziehung und Sozialisation von Kindern und Jugendlichen; vielfältig sind ihre ungewollten Nebenwirkungen. Der als Globalisierung gekennzeichnete gesellschaftliche Wandel der Gegenwart ist ein multidimensionaler Prozess, der ökonomische, politische, soziale und kulturelle Auswirkungen hat und das Verhältnis von Lokalem, Regionalem, Nationalem und Globalem verändert (Beck 1997; Münch 1998). In diesem Prozess werden vor allem folgende Veränderungen für die Erziehung wichtig: Arbeit wird knapp. Hatte man eine Expansion der Arbeitsmöglichkeiten und neue Horizonte für einen global verschränkten Arbeitsmarkt erwartet, so sind diese Erwartungen bisher nur bedingt erfüllt worden. Zwar kam es zur Entstehung neuer Arbeitsmöglichkeiten, doch führten die neuen Entwicklungen auch dazu, dass Arbeit knapp wurde. Dies gilt vor allem für die wenig qualifizierte Arbeit. Daran ändern auch die Hoffnungen auf einen

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Übergang von der Arbeits- zur Dienstleistungsgesellschaft nichts. Die weitgehende Bindung des Lebenssinns sozialer Subjekte an die Arbeit wird für immer mehr Menschen nicht länger möglich; sie muss daher in ihrer historischen Bindung ans Christentum und an die Entstehung und die Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft überprüft werden (Paragrana 1996). Aus dieser Überprüfung ergeben sich Konsequenzen für das Erziehungswesen. Die Auflösung der Bindung vieler Ausbildungsgänge an bestimmte Berufe sowie die stärkere Berücksichtigung und Förderung von Schlüsselqualifikationen wie Kooperations- und Innovationsfähigkeit, Leistungs- und Reflexionsfähigkeit, Medien- und interkultureller Kompetenz steht an. Neben der Vermittlung von Spezialwissen hat Erziehung die Aufgabe, zur Entwicklung von Fähigkeiten beizutragen, die in Umfang und Dauer wachsenden Bereiche außerhalb der Arbeitswelt zu gestalten. Um die mit der Globalisierung komplexer werdenden Lebens- und Arbeitszusammenhänge bewältigen zu können, sind daher nicht geringere, sondern verstärkte Investitionen in den Bereich der Bildung erforderlich. Die Globalisierung führt mit der Akzeleration der Zeit zur Reduzierung der Entfernungen in der menschlichen Erfahrung sowie zur Kenntnis neuer, weit entfernt liegender kultureller und sozialer Räume. Diese im Rahmen der Globalisierung entstehenden Räume entsprechen nicht mehr den durch Grenzen und Grenzkontrollen voneinander abgeschlossenen Territorien der Nationalstaaten. Mit Hilfe der Neuen Medien (Telefon, Fernsehen, Computer) werden gewaltige Entfernungen annähernd mit Lichtgeschwindigkeit überwunden (Bilstein/Miller-Kipp/Wulf 1999). Der Raum schrumpft (Liebau/Miller-Kipp/Wulf 1999). Der zu seiner Überwindung notwendig werdende Zeit- und Kostenaufwand ist gering. Bilder, Diskurse und der Massentourismus bringen das Ferne in die Nähe. Die traditionelle Ordnung von Raum und Zeit, Ferne und Nähe, Fremdem und Vertrautem wird aufgelöst. Neue Vermischungen und »Verunreinigungen« entstehen. Die langsam wachsende transnationale Weltgesellschaft ist nicht durch Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit, sondern durch Vielfalt, Differenz und Komplexität charakterisiert. Zwar sind die Bilder, die den erst seit einigen Jahrzehnten sichtbaren »Planet Erde« abbilden und ihn als »Heimat« des Menschen im Weltraum zeigen, schon tief in unserer inneren Bilderwelt und unserem Imaginären verankert, doch besagen diese Bilder nicht, dass die Erde in kultureller, ökonomischer oder politischer Hinsicht homogen ist oder dabei ist, homogen zu werden. Die entsprechenden Thesen über die Amerikanisierung (McDonaldisierung) der Welt greifen zu kurz. Weder Amerika noch Europa sind der Mittelpunkt der Welt. Die Welt hat viele kulturelle, ökonomische, politische transnationale Zentren, in denen unterschiedliche globale Technologie-, Finanz-, Medien-, Bild-, Diskurs-Szenarien entstehen (Castells 1996). Die Bedeutungsverringerung der Nationalstaaten. War bisher der Nationalstaat mit seinem abgegrenzten Territorium Ort und Träger von Kultur und Erziehung, so führt die Globalisierung zur Verringerung der Bedeutung der Nationalstaaten. Diese Souveränitätseinbuße führt zu einer neuen

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34 | I Globalisierung und Interkulturalität Dynamik der internationalen Politik. War diese im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überwiegend durch die Interessen der Nationalstaaten bestimmt, so entsteht nun ein offener Horizont mit bislang unbekannten Möglichkeiten politischen Handelns. Damit kommt es auch zu tiefgreifenden Änderungen von Erziehung und Bildung. Der Souveränitätsverlust der Nationalstaaten hat mehrere Gründe. Einmal delegieren sie eine wachsende Zahl von Entscheidungen an supranationale Gremien. Ein Vorteil für die Nationalstaaten liegt hier im Einflussgewinn, in den europäischen bzw. sogar globalen Wirkungen ihrer kooperativ getroffenen Entscheidungen. Dadurch wirken sie zwar an diesen Entscheidungen mit, treffen sie aber nicht mehr allein. Außerdem entmachten die multinationalen Konzerne die Nationalstaaten, indem sie sie gegeneinander ausspielen. So entwickeln sie ihre Produkte in Ländern mit hohem technologischen know how, produzieren diese Produkte in Billiglohnländern und zahlen Steuern in Ländern mit geringem Steuersatz. Indem die multinationalen Konzerne in ihren Sitzländern Arbeitsplätze vernichten und Steuern einsparen, bürden sie den Nationalstaaten die Kosten für die wachsende Zahl von Arbeitslosen auf. Zugleich entziehen sie ihnen jedoch durch den Wegfall von Steuern die Möglichkeit, die für die sozialen Leistungen erforderlichen finanziellen Mittel aufzubringen. Daher verfügen die Nationalstaaten nicht mehr über ausreichende Ressourcen zur Finanzierung von Bildung, Gesundheit und Sozialem. So geraten sie in immer größere Schwierigkeiten, ihre traditionellen Aufgaben wahrzunehmen und ihre Integrationsleistungen zu erfüllen. Mit dieser Entwicklung geht auch ein Bedeutungsverlust der Nationalkulturen einher, dessen Auswirkungen auf den Bereich der Erziehung und Bildung besonders wichtig und nachhaltig sind. Noch immer ist Kultur heute weitgehend Nationalkultur und als solche an ein Territorium, eine gemeinsame Sprache, an gemeinsame Traditionen und Erinnerungen, Symbole und Rituale gebunden. Im Rahmen von Bildungseinrichtungen wie Schule werden andere Nationalkulturen im Allgemeinen nur insofern wahrgenommen, als sie mit der Herausbildung der eigenen Nationalkultur verbunden sind (Wulf 1995, 1998). Im Curriculum der Schule dienen andere Kulturen als Folie, um die Einzigartigkeit der eigenen Kultur und mit ihr der eigenen Nation herauszustellen. Ein Blick in die Schulbücher verdeutlicht diese Sicht. Zwar findet man in mitteleuropäischen Schulbüchern nur noch selten Feindbilder von anderen Nationen, doch bleibt der Blick auf andere Nationalkulturen in der Regel eingeschränkt und perspektivisch begrenzt. Dies gilt vor allem für den Geschichts-, weniger jedoch für den Fremdsprachenunterricht, der sich stärker am Selbstverständnis der Nation orientiert, deren Sprache gelernt wird. Mit der Bedeutungszunahme der Regionen innerhalb der Europäischen Union findet allmählich auch eine stärkere Berücksichtigung der regionalen Elemente im schulischen Unterricht statt. Dies gilt für Sprachen, regionale Kulturinhalte und kollektive Erinnerungen gleichermaßen. Wie weit eine Repräsentation dieser Traditionen in schulischen Curricula erfolgt, hängt davon ab, wie

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stark das jeweilige Bildungswesen zentralisiert bzw. dezentralisiert organisiert ist. Eine weitere Reduzierung des nationalen Charakters von Erziehung und Bildung findet durch die mit der Globalisierung begründeten Ansprüche statt, neue Inhalte aus anderen Regionen der Welt in die schulischen Curricula aufzunehmen. So können es Schulen in Europa heute nicht mehr verantworten, chinesische und japanische Geschichte und das Selbstverständnis dieser Länder nicht zur Kenntnis zu nehmen. Entsprechendes gilt für Mexiko, Brasilien und den auch in globaler Perspektive nach wie vor marginalisierten afrikanischen Kontinent. Der Bedeutungsverlust von Nationalstaat und Nationalkultur führt nicht zur Entstehung einer neuen Weltkultur. Zwar finden die der Globalisierungsdynamik zugrunde liegenden eurozentrischen Werte, Normen, Lebenspraktiken und Lebensstile eine globale Verbreitung, doch ersetzen sie nicht einfach andere Kulturen. Stattdessen initiieren sie eine kulturelle Auseinandersetzung mit den traditionellen Kulturen. Im Verlauf dieser Prozesse kommt es zur Veränderung sowohl der europäischen Werte und Lebensformen als auch der traditionellen Kulturen. Aus diesen Überlagerungen entstehen neue kulturelle Mischungen und Konfigurationen. So erzeugen Film, Fernsehen und Computer unterschiedliche Produkte in Indien, China und den USA. Allerdings darf diese inhaltliche und ästhetische Differenz der Produkte nicht dazu führen, ihre im medialen Charakter liegende Ähnlichkeit zu übersehen, die als solche schon einen Beitrag zu neuen globalen Formen der Kommunikation darstellt, deren Tiefenwirkungen auf die Wahrnehmungs- und Kommunikationsstruktur in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden können. In anderen Fällen gehen Tradition und Moderne seltsame Formen der Koexistenz ein, die dazu führen, dass Unterschiedliches und Widersprüchliches nebeneinander bestehen bleiben. Manchmal führt diese Situation zu Gewalt auslösenden Zusammenstößen von Werten und Lebensformen, die umso stärker sind, je weniger die Globalisierungsdynamik den Lebenspraktiken und Werten der traditionellen Kultur Raum gibt bzw. je mehr sie versucht, diese zu nivellieren (Wimmer/Wulf/Dieckmann 1996; Dieckmann/Wulf/Wimmer 1996; Heitmeyer/Soeffner 2004). Die verschiedenen Herkünfte, Ansätze und Fokussierungen von Kultur überlagern sich, so dass sich Globales, Regionales und Lokales durchdringen. Robertsons (1992) Begriff der Glokalisierung (glocalism) bringt diese Durchmischung von Globalem und Lokalem, von Universellem und Partikularem zum Ausdruck, durch die neue autonome Formen kultureller und sozialer Komplexität entstehen. Durch die Überschneidung und Interdependenz verschiedener kultureller Elemente entsteht keine in sich abgegrenzte kulturelle Einheit, sondern eine tiefe kulturelle Vielfalt der Lebensbedingungen (Krüger-Potratz 1999; Herzog 1999; Gogolin 1998). Die Unterschiede zwischen den Nationalkulturen sind an die unterschiedlichen Sprachen und die mit ihnen verbundenen Vorstellungswelten gebunden und bleiben bestehen. Je genauer wir nach den Gemeinsamkeiten suchen, desto deutlicher sehen wir auch die Unterschiede (Hamburger

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36 | I Globalisierung und Interkulturalität 1999). Zwar ist eine Reduzierung, nicht jedoch ein Verlust der Vielfalt zu erwarten. Die Entstehung einer einheitlichen, die Unterschiede aufhebenden Weltkultur oder europäischen Kultur ist kaum zu erwarten. Für Erziehung und Bildung ergeben sich aus dieser Situation neue Aufgaben; es gilt, neue Repräsentationen des Anderen, neue transnationale Loyalitäten und Solidaritäten zu entwickeln. Die ökologische und die Friedensbewegung haben beispielsweise erste Formen transnationaler Zusammenschlüsse und Handlungen von Bevölkerungsgruppen entwickelt, etwa gegen den Shell-Konzern, als dieser eine Bohrinsel in der Nordsee versenken wollte, oder gegen die französische Regierung, als diese ihre unterirdischen Atomversuche im Pazifik nicht stoppen wollte. Ermöglicht werden solche über die Grenzen von Ländern und Regionen hinausgehenden Aktionen durch neue, sich allmählich entwickelnde globale politische und kulturelle Werte und Perspektiven. In der Situation erhöhter Komplexität der Lebenswelten und Lebensformen durch die Prozesse der Globalisierung gehört es zu den schwierigsten Aufgaben im Bildungswesen, zwischen den Ansprüchen auf Chancengleichheit und den Erfordernissen des Wettbewerbs zu vermitteln. Unter dem Anspruch der Chancengleichheit bedarf es der besonderen Förderung sozial benachteiligter Jungen und Mädchen. Unter dem Anspruch der Unterstützung für das Leben in der globalisierten Gesellschaft bedarf es der Entwicklung von Fähigkeiten der Selbstbehauptung. Die eine Zielsetzung richtet sich auf Solidarität, die andere auf Individualität. Zwischen beiden Zielsetzungen besteht oft ein antinomisches Verhältnis, das keine einfachen Kompromissbildungen zulässt. Um Kultur-Kompetenz zu vermitteln, bedarf es entsprechender Erziehung, Bildung und Sozialisation. Mit dieser These werden zwei Probleme aufgeworfen. Zum einen gilt es zu bestimmen, was unter Kultur-Kompetenz zu verstehen ist; zum anderen ist zu klären, wie sich diese vermitteln lässt. Nach meiner Auffassung kann Historische Anthropologie einen zentralen Beitrag zur Bestimmung von Kultur-Kompetenz liefern. Ihre Untersuchungen beziehen philosophische, auf das Selbstverständnis und die Selbstauslegung von Kultur bezogene Fragen auf Analysen der historischen Bedingungen einer Gesellschaft und auf die Erforschung ihrer Kulturalität. Dabei berücksichtigen diese Untersuchungen nicht nur Geschichtlichkeit und Kulturalität der untersuchten Themen und Sachverhalte, sondern auch ihre eigene Historizität und Kulturalität. Dadurch erzeugen sie eine neue Komplexität anthropologischer Erkenntnis, die häufig im Rahmen transdisziplinärer und internationaler Arbeit noch vertieft wird und außerdem eine auf ihre Forschungen bezogene reflexive Anthropologie-Kritik einbezieht (vgl. Kap. 10; s.a. Wulf 1997; Wulf/Kamper 2002). Zu den zentralen Bereichen kultureller Kompetenz und Historischer Anthropologie gehört die Auseinandersetzung mit dem Anderen bzw. dem Fremden; sie erst ermöglicht es den Angehörigen differenter Kulturen, ihr jeweiliges Selbstverständnis zu entwickeln. Auch das Erziehungs- und

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Bildungssystem leistet dazu einen Beitrag. Mehr als je zuvor ist Erziehung in Europa heute eine interkulturelle Aufgabe (Wulf 1995; Krüger-Potratz 2004). Die Entwicklung eines vereinten Europas bedarf einer interkulturellen Bildung der nachwachsenden Generation. Erfolgt diese nicht, ist es kaum möglich, bei Berücksichtigung des Eigen- und Selbstbestimmungsrechts der Angehörigen der verschiedenen europäischen Kulturen in der Europäischen Union zusammen zu leben. Bislang sind die europäischen Bildungssysteme stark national ausgerichtet. Wenig berücksichtigen sie andere europäische Kulturen; wenn sie dies tun, so geschieht dies noch immer vor allem aus der Perspektive der nationalen, mit dem jeweiligen Staat verbundenen Kulturen. Erst allmählich gewinnen neue, über den jeweiligen Nationalstaat hinausgehende Gesichtspunkte und Loyalitäten an Bedeutung. Der Zusammenhang mit dem Bedeutungsverlust der Nationalstaaten infolge der europäischen Vereinigung und der Globalisierung der Märkte ist offensichtlich. Noch viele Reformen sind notwendig, um interkulturelles Lernen in den Erziehungs- und Bildungssystemen Europas so zu realisieren, dass die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen den verschiedenen europäischen Kulturen eine angemessene Berücksichtigung finden (Wulf 1998).

Interkulturelle Bildung und die Bedeutung des Anderen für unser Selbstverständnis Im Zentrum interkultureller Erziehung und Bildung stehen die Begegnung mit dem Fremden und der kompetente Umgang mit dem Anderen (Wimmer 1997). Dafür spielt die Entdeckung des Anderen in sich selbst eine wichtige Rolle. Fragt man sich, welche Bedeutung dem Anderen in Erziehung und Bildung heute zukommt, so bedarf es einer historisch-anthropologischen Untersuchung des Anderen. In dieser sind drei Aspekte wichtig: • • •

die Unhintergehbarkeit des Anderen, Differenz und Alterität, Reduktion und Verdrängung.

Die Unhintergehbarkeit des Anderen »Unser süßestes Dasein ist relativ und kollektiv, und unser wahres Ich ist nicht ganz in uns. Kurz, der Mensch in diesem Leben ist so eingerichtet, daß man nie zum rechten Genuß seiner selbst ohne Zutun anderer gelangen kann« (Rousseau 1981, S. 427). So beschreibt Rousseau die konstitutive Abhängigkeit des Einzelnen vom Anderen. Nicht nur bedarf zu einem glücklichen Leben jeder Mensch des Anderen; er bedarf seiner auch, um sich an sich selbst zu erfreuen. Der Einzelne hat nicht die Möglichkeit, auf andere Menschen zu verzichten. Selbst wenn er sich vom Umgang mit ihnen zurückzieht, lebt er dennoch auf sie bezogen. Erst andere Menschen

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38 | I Globalisierung und Interkulturalität ermöglichen ihm das Gefühl der eigenen Existenz. Der Grund dafür liegt in unserer Fähigkeit, Empfindungen und Gefühle auf andere, uns fremde Menschen richten zu können. Ohne Berührung, Ansprache und Blick des Anderen, ohne seine Repräsentationen in uns können wir nicht leben. Der Andere dient uns als Spiegel, uns selbst zu sehen, zu entdecken und zu erforschen. Er ermöglicht es uns, Repräsentationen unserer selbst im Inneren wahrzunehmen und dadurch Bewusstsein zu entwickeln. Wegen dieser Angewiesenheit auf andere Menschen und ihre Repräsentationen ist menschliche Wirklichkeit von Grund auf soziale Wirklichkeit. Um in seiner Existenz bestätigt zu werden und sich entfalten zu können, bedarf bereits das kleine Kind der Zuwendung und Berührung des Anderen in Gestalt der Eltern. Die kindliche Hilfsbedürftigkeit und die auf sie gerichtete Komplementaritätsbeziehung der Eltern ist Ausdruck von »Unvollkommenheit«. Erst infolge der elterlichen Sorge kann sich das Kind aus seiner »Minderwertigkeit« befreien. Die Ungleichheit des Verhältnisses zwischen Kind und Erwachsenen regt die mimetische Fähigkeit des Kindes an. Sein Begehren zielt darauf, sich auf den Anderen zu beziehen und ihm ähnlich zu werden. Gefördert werden diese Prozesse durch das auf das mimetische Handeln des Kindes reagierende Verhalten der Eltern. Ihr mimetisches Handeln antwortet auf den kindlichen Wunsch nach Anerkennung und fördert die zu seiner Erfüllung entwickelten Aktivitäten. In den sich in der Kleinfamilie von Anfang an entfaltenden Wechselspielen zwischen Eltern und Kind entsteht das familiale Zugehörigkeitsund Gemeinschaftsgefühl (Wulf u.a. 2001). Bereits bei seiner Geburt ist das Kind für ein gesellschaftliches Leben prädisponiert. Im Verlauf der frühkindlichen Entwicklung diversifizieren und spezialisieren sich diese Dispositionen. In Berührungen und Zuwendungen erfolgt ein präverbaler Austausch zwischen Eltern und Kind. Ansprache und Blick vermitteln ihm ein Bewusstsein vom Anderen. Im Angesprochen- und Angeblickt-Werden erfährt das Kind seine Existenz. Im Zusammenspiel mit Eltern und anderen Bezugspersonen finden Erkundungen der Welt statt und bilden sich frühe Formen des Selbstbewusstseins. Mit Hilfe der Sprache betritt das Kind die Welt des Anderen. In dieser frühen kindlichen Entwicklung spielen mimetische Prozesse eine entscheidende Rolle. Sie sind wechselseitig; sie zeigen sich im körperlichen Zusammenspiel zwischen Eltern und Kind, im Austausch von Berührungen, Blicken und rituellem Handeln. Mutter und Vater bringen dem Kind ihre Zuneigung zum Ausdruck. Ihre Gefühle rufen die mimetische Reaktion des Kindes hervor. Diese ist Antwort und Vorgabe für weitere Einwirkungen der Eltern. Eine Gemeinschaft entsteht, in deren Kontext das Kind seine Aktivitäten entfaltet: sehen, berühren, erinnern, sprechen. Ohne das Vorbild der Eltern gibt es keine Aufforderung zur Nachahmung. Die Eltern machen vor, ermuntern und bestätigen die Aktivitäten des Kindes durch ihre Reaktionen. Im Austausch mit ihnen entwickelt sich das Kind als soziales Wesen. Es erfährt seine Angewiesenheit auf andere Menschen und erlebt die Anerkennung seiner Existenz als notwendige Bedin-

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gung seines Lebens. Im mimetischen Verhältnis zwischen ihm und dem Anderen entsteht seine personale Struktur. In ihre Entwicklung gehen viele Figurationen des Anderen ein, die das archaische Selbst des Kindes überlagern und sich mit ihm verbinden. In der Begegnung mit den Angeboten und dem Begehren der Menschen seiner Umgebung schafft sich das Kind ein Selbstbild, das es im Verlauf seiner Lebensgeschichte weiter entwickelt. Das Selbstbild entsteht in Folge der Rückmeldungen der Anderen; es bildet sich in den mimetischen Prozessen zwischen dem Kind und den Anderen (Gebauer/Wulf 1992, 1998). Der zwischenmenschliche Austausch erfolgt nicht nur in der Gegenwart. Über das intergenerative Zusammenleben vollzieht er sich auch zwischen den Generationen. Über die Teilnahme an Sprache, Schrift und Brauchtum reicht der Austausch weit in die Geschichte zurück und ist zugleich auf Zukunft bezogen. Auf den kulturellen Leistungen vergangener Generationen bauen die nachwachsenden Generationen auf. Die Zeitlichkeit des Lebens verstärkt die Angewiesenheit des Einzelnen auf die Gemeinschaft. Selbstgenügsamkeit, Autonomie und Souveränität sind illusionär. Individuelle Entfaltung bedarf der Gemeinschaft. Ohne Bezug auf Gemeinschaft und Kommunität drohen Isolierung und Erstarrung. Aufgrund dieser Situation und der darin zum Ausdruck kommenden menschlichen Unvollkommenheit bedarf es der wechselseitigen Anerkennung der Angehörigen einer Kommunität. Sie ermöglicht es dem Einzelnen, seinen Ort in der Kommunität zu finden und sein soziales Selbst zu entwickeln. Erfolgt Anerkennung nicht im erforderlichen Ausmaß, fühlt sich der Einzelne randständig und ausgegrenzt, wird er »unsichtbar«. Einsamkeit und Verbitterung sind die Folge. Nicht nur für die Genese des Einzelnen spielt der Andere eine bestimmende Rolle. Auch für jede Gruppe, jede Gemeinschaft und jede Kultur ist das Verhältnis zum Anderen konstitutiv. Der Andere ist zum Eigenen komplementär. Mit Hilfe von Grenzziehungen und Ordnungsmustern werden die Differenzen geschaffen, die den Anderen unterscheidbar machen. Warum jemand als Anderer begriffen wird, hängt vom historischen und kulturellen Kontext und seinen symbolischen Ordnungen ab. Wie das Eigene und das Fremde einander voraussetzen, so stehen der Einzelne und der Andere in komplementärer Relation. Weder ist der Einzelne ohne den Anderen noch ist der Andere ohne den Einzelnen begreifbar. Die mit der menschlichen Konstitution gegebene Spaltung führt dazu, dass sich Menschen zu sich selbst verhalten. In dieser Situation der Reflexivität liegt auch die Voraussetzung der Wahrnehmung des Anderen. Je nach Aufmerksamkeitsrichtung können sich seine Figurationen verschieben und sich in wechselnden Ausprägungen präsentieren. Die Plastizität menschlicher Konstitution ermöglicht ein hohes Maß an Vielgestaltigkeit. Wer als Anderer empfunden wird, ergibt sich aus Prozessen des Sich-inBeziehung-Setzens mit einem inneren oder äußeren Gegenüber. Vielfältig sind die Figurationen des Anderen: der Fremde, der Feind, der Irre, das andere Geschlecht, das Gespenst, das Böse, das Unheimliche, das Heilige.

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40 | I Globalisierung und Interkulturalität In diesen Fällen kommt es zu Überlagerungen zwischen konkreten Ausprägungen des Anderen und dem ganz Anderen. Jede konkrete Figuration des Anderen verweist auf das sich der Bestimmung und Festsetzung entziehende ganz Andere. Im Falle Gottes ist die Überlagerung eines personifizierten Anderen durch das ganz Andere besonders deutlich. Doch zeigen sich diese Überschneidungen auch bei anderen Figurationen. Wenn das radikal Andere den konkreten Anderen überlagert, zeigt dessen Figuration über sie hinausweisende Züge. Diese Vielschichtigkeit des Anderen ergibt sich aus der symbolischen Ordnung der Sprache.

Differenz und Alterität Die europäische Zivilisation ist mit ihrem Hang zum Universalismus immer in der Gefahr gewesen, die Differenz zum Fremden zu zerstören und das Fremde unter dem Anspruch der Gleichheit zu assimilieren. Andere Länder und Kulturen sollten nicht anders bleiben, sondern sich in der Auseinandersetzung mit der europäischen Kultur so verändern, dass sie Teil einer von Europa bestimmten Weltkultur werden konnten. Diese Einstellung wirkte sich auch innerhalb Europas aus. Mehrere Nationen hatten den Anspruch, den Maßstab für den europäischen Geist, die europäische Zivilisation, die Weltkultur abzugeben. Hegemonialkämpfe in Europa und in der Welt waren die Folge. Statt das Besondere jeder Kultur, jeder kulturellen Ausprägung zu stärken, gerieten die europäischen Nationen in Gefahr, das Partikulare dem Universellen, dem Allgemeinen zu opfern. Für den Zusammenhang interkulturellen Lernens bedeutet dies, dass es in seinem Rahmen das Besondere jeder Kultur, jeder kulturellen Ausprägung zu stärken gilt, damit es nicht den nationalen Universalismusansprüchen geopfert wird. Mehr denn je kommt es heute darauf an, den Partikularismus der verschiedenen Kulturen zu akzeptieren und ihn zur Entfaltung kommen zu lassen, ihn nicht durch Subsumtion unter ein Allgemeines zu vernichten. Erst auf der Grundlage der Akzeptanz und eines unterstützenden Umgangs mit der Differenz anderer Kulturen und anderer Menschen lassen sich transnationale Gemeinsamkeiten entdecken und ihre Entwicklung fördern. Ohne transnationale Gemeinsamkeiten ist die Zukunft Europas kaum denkbar; doch müssen diese vor dem Hintergrund der Akzeptanz des Partikularen entwickelt werden, an dem Europa so reich ist. Trotz nationaler Unterschiede gibt es aufgrund ähnlicher gesellschaftlicher Bedingungen in den europäischen Ländern auch starke Gemeinsamkeiten. Diese erstrecken sich auf die demokratischen Strukturen, die kulturellen Traditionen und die Wirtschaftsordnung. Sie umfassen Lebenserwartungen und Lebensstile. Diese Gemeinsamkeiten bilden eine Basis für die Entwicklung grenzüberschreitender Loyalitäten. Gefördert wird diese Entwicklung von vielen Faktoren, zu denen auch die Neuen Medien gehören. Die Bedeutung der Massenmedien für die Bildung des Bewusstseins tritt immer deutlicher zutage. Überall berichten

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sie über die gleichen Ereignisse und fördern die Verbreitung gleicher Informationen. Fernsehen und Telekommunikation z.B. unterstützen die Verbildlichung der Welt. Dies ist eine Erscheinung, die in allen industrialisierten Gesellschaften zu beobachten ist. Die Tendenz, die Welt nicht nur ins Wort, sondern vor allem ins Bild aufzulösen, scheint ein bestimmendes Merkmal gegenwärtiger Gesellschaften zu sein. Das Fernsehen visualisiert die Welt; annähernd mit Lichtgeschwindigkeit berichtet es über Ereignisse überall in der Welt. Eine Simultaneität zwischen Ereignissen und weltweit verbreiteten Berichten über diese Ereignisse wird möglich. Informationsbeschleunigung, Verbildlichung und Miniaturisierung bestimmen die mediale Wahrnehmung. Die Telekommunikation ersetzt die Berührung mit den Gegenständen, den Körpern, der Natur. Das Fernsehen strukturiert unsere Raumwahrnehmung und reduziert sie auf eine Wahrnehmung von Flächen. Informationen bestimmen unser Zeitgefühl, in dem Vergangenheit und Zukunft der Gegenwart geopfert wird. Die mediengerechte Darstellung der Welt prägt das ästhetische Empfinden. Wir gewöhnen uns daran, dass die Realität ihrer Verbildlichung geopfert wird. Die Bilder werden andererseits zu Waren, die der Vermarktung unterliegen. Der Prozess der Abstraktion und der Verbildlichung, der sich seit dem Beginn der Neuzeit in immer intensiveren Schüben vollzieht, erhält damit eine bislang nicht gekannte Intensität. Die weltweite Ausbreitung dieser Form medialer Wahrnehmung stellt ein wichtiges Element der Globalisierung und Universalisierung von Wahrnehmungsgewohnheiten, Einstellungen, Werten und Kenntnissen dar. Diese fördern die Globalisierung der Waren, des Geldes und der Zeichen und intensivieren die Dynamik der Industriegesellschaften, die darauf zielt, das Unbekannte des Partikularen auf das Bekannte des Globalen zu reduzieren. Gegenüber dieser allerorts anzutreffenden Dynamik zum Allgemeinen gilt es, gerade auch im Rahmen interkultureller Bildung, das Andere des Allgemeinen, das Besondere der verschiedenen Kulturen zu stärken, damit es nicht durch Subsumtion unter das Allgemeine verdrängt oder gar vernichtet wird. Die kulturelle Vielgestaltigkeit ist ein Merkmal Europas, das erhalten zu werden verdient. Anstatt Kultur als eine geistige und wertbezogene Einheit zu sehen, lässt sie sich besser als ein Konglomerat tiefer Differenzen, als eine Pluralität von Zugehörigkeiten und Seinsweisen, als tiefe Vielfalt begreifen. Ein solches Verständnis von Kultur entsteht aus Erfahrungen mit der Dezentrierung der Welt und der Fragmentarisierung der Kultur. Eine solche Einstellung trägt dazu bei, weniger negative Empfindungen und Aggressionen gegenüber dem Fremden zu entwickeln und sich gegenüber seiner Alterität zu öffnen. In der Akzeptanz der Differenz liegt eine entscheidende Voraussetzung für die Entstehung eines interkulturellen Bewusstseins. Erst Kenntnis und Akzeptanz der Unterschiedlichkeit des Anderen machen den Weg frei für Verständigung, Sympathie und Kooperation. Im Verhältnis zum Anderen lassen sich drei Dimensionen unterscheiden:

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42 | I Globalisierung und Interkulturalität •





Die erste Dimension umfasst die Werturteile über den Anderen. Wie schätzt man den Angehörigen einer fremden Kultur ein? Fühlt man sich angezogen oder abgestoßen? Was sind die Folgen solcher Empfindungen und Gefühle? In der zweiten Dimension steht die Annäherung an den Anderen im Mittelpunkt. Welche Möglichkeiten kommunikativen Handelns bestehen? Sucht man den Anderen, wünscht man seine Nähe, identifiziert man sich mit ihm, assimiliert man sich an ihn oder unterwirft man sich ihm in einer Euphorie für das Fremde? Schließlich geht es in der dritten Dimension darum, ob und wie weit man den Anderen kennt und wie substantiell das Wissen über ihn ist. Dieser Kenntnis und diesem Wissen kommt auch dann Bedeutung zu, wenn man keinen unmittelbaren Umgang mit dem Anderen hat.

Diese drei Dimensionen der Alterität stehen in einem komplementären Verhältnis. Gemeinsam ist ihnen die Bejahung der Exteriorität des Anderen. Die Akzeptanz des Anderen erfordert Selbstüberwindung; erst die Selbstüberwindung erlaubt die Erfahrung des Anderen. Die Fremdheit des Anderen erleben zu können setzt die Bereitschaft voraus, auch den Anderen in sich selbst kennen lernen zu wollen. Kein Individuum ist eine Einheit; jeder Einzelne besteht aus fragmentarisierten und auch widersprüchlichen Teilen mit eigenen Handlungswünschen. Rimbaud, Freud, Gide haben wie viele andere diese Erkenntnis thematisiert. Durch die Verdrängung der gröbsten Widersprüche versucht zwar das Ich, seine Freiheit herzustellen, doch wird diese immer wieder von heterogenen Triebimpulsen und normativen Geboten eingeschränkt. Die Einbeziehung ausgesperrter Teile der eigenen Person in die Selbstwahrnehmung ist daher eine unerlässliche Voraussetzung für einen akzeptierenden Umgang mit dem Anderen. Somit geht es im Rahmen interkultureller Bildung immer wieder um das ausgesperrte, nicht zugelassene, den Normen der Gesellschaft und des Individuums widersprechende Andere, das mit dem Körper und mit der Natur verbunden ist und das der Repräsentation durch Sprache und Denken Widerstand leistet. Dabei verweist besonders Rimbauds Wort: »Ich ist ein Anderer«, auf den Aspekt der Abhängigkeit des Ich vom Anderen in Folge der Konstitution des Ichs durch den Anderen. Die Komplexität des Verhältnisses zwischen Ich und Anderem besteht darin, dass das Ich und der Andere sich nicht als zwei voneinander abgeschlossene Entitäten gegenüber stehen, sondern der Andere in vielfältigen Formen in die Genese des Ichs eingeht und sich dort festsetzt. Dieses Ich darf nicht als ein geschlossener Kern begriffen werden. Angemessener ist eine Vorstellung, die von vielen durch Gräben und Spalten getrennten Fragmenten ausgeht, die sich unter dem Einfluss verschiedener Formen und Gestalten des Anderen gebildet haben. Der Andere ist nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Individuums. Der im Ich internalisierte Andere erschwert den Umgang mit dem Anderen außen. Aufgrund dieser Konstellation gibt es keinen festen Standpunkt

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diesseits oder jenseits des Anderen. In vielen Ausprägungen des Ichs ist der Andere immer schon enthalten. Wer der Andere ist und wie er gesehen wird, ist jedoch nicht nur abhängig vom Ich. Genauso wichtig sind die Selbstdeutungen, die sich der Andere gibt. Sie müssen keineswegs homogen sein, gehen aber in jedem Fall in das Bild ein, das sich das Ich vom Anderen macht. Diese Konstellation zwischen Ich und Anderem verweist auf den sozialen Charakter des Menschen. Jedes Individuum bedarf zu seiner Genese anderer Menschen. Schon nach Auffassung Platons und Aristoteles’ vollzieht sich die menschliche Entwicklung besonders im Kindes- und Jugendalter über Mimesis, über die Nachahmung von Vorbildern und die zunehmend eigenständige und kreative Gestaltung dieser Bezugnahmen. Ermöglicht werden diese Entwicklungen durch die anthropologisch bedingte Angewiesenheit des Kindes auf den Anderen. Diese Angewiesenheit umfasst die drei Zeitdimensionen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Jeder Erwachsene, der sich einem Kind zuwendet, ist selbst Ergebnis vielfältiger kultureller Prozesse, die er in »verdichteter Form« an die nachwachsende Generation weitergibt. Für die Gegenwart des Kindes verkörpert er die Geschichte seiner Kultur in aktueller Gestalt. Die Verarbeitung der im Erwachsenen verkörperten Kultur schafft im Kind den Ausgangspunkt für die Gestaltung seiner Zukunft. Über die Angewiesenheit des Individuums auf Sozietät wirkt der Andere auf den Einzelnen über Geschichte und Gegenwart auch auf die Zukunft. Insofern Identität ohne Alterität nicht gedacht werden kann, beinhaltet der Umgang mit dem Fremden, und damit auch interkulturelle Bildung, ein relationales Verhältnis zwischen einem fraktalen, in seiner jeweiligen Ausprägung irreduziblen Ich und einem vielgestaltigen Anderen. Für das Verständnis ihrer Beziehung sind zwei Aspekte besonders wichtig: •



die Unhintergehbarkeit der Individuen. Aufgrund unterschiedlicher Lebensräume, Lebenskonstellationen und Lebensgeschichten liegt in jedem Individuum eine einmalige Verbindung von Alterität und Identität vor, die zum spezifischen Ausgangspunkt interkultureller Bildung wird. die Geschichtlichkeit des Eigenen und des Fremden einschließlich ihrer Beziehung zueinander, sowie die doppelte Geschichtlichkeit interkultureller Bildungsprozesse. Sie gilt einmal für den Zeitpunkt, in dem diese Prozesse stattfinden, der durch jeweils spezifische Bedingungen gekennzeichnet ist. Sie gilt zudem für den geschichtlichen Charakter der Inhalte und Themen, die zum Gegenstand interkulturellen Lernens werden.

Beinhalten die Frage nach dem Anderen und die Frage nach dem Eigenen einander wechselseitig, dann sind Prozesse der Verständigung zwischen Fremdem und Eigenem und damit auch Prozesse interkultureller Bildung immer auch Prozesse der Selbstthematisierung und Selbstbildung. Wenn sie

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44 | I Globalisierung und Interkulturalität gelingen, führen sie nicht nur zur Einsicht in die Nicht-Verstehbarkeit des Fremden. Sie bewirken auch Selbstfremdheit. Angesichts der auf die Entzauberung der Welt und das Verschwinden des Exotischen zielenden gesellschaftlichen Entwicklung besteht die Gefahr, dass in Zukunft die Menschen in der Welt sich nur noch selbst begegnen und es ihnen an einem Fremden fehlt, in Auseinandersetzung mit dem sie sich entwickeln können. Wenn der Verlust des Fremden eine Gefährdung menschlicher Entwicklungsmöglichkeiten bewirkt, dann kommt seinem Schutz, d.h. der Verfremdung des Bekannten und der Bewahrung der Selbstfremdheit, hohe Bedeutung zu. Bemühungen um die Erhaltung des Fremden im menschlichen Inneren und in der Außenwelt wären dann notwendige Gegenbewegungen gegen einen die Differenzen nivellierenden Globalismus (Wulf/Merkel 2002). Interkulturelle Bildungsprozesse stehen notwendigerweise in diesem für sie konstitutiven Spannungsverhältnis. Die Einsicht in die Unhintergehbarkeit des Individuums ist eine Konsequenz aus der Einsicht in die Gefährdung des Fremden. Nur zu leicht kann das Schwinden des Fremden auch zum Verlust des Individuellen führen, das sich aus der spezifischen Verarbeitung des Fremden konstituiert. Die Unhintergehbarkeit des Individuums greift das in jedem Individuum wirkende Bedürfnis nach Selbstvergewisserung auf. Selbstvergewisserung zielt auf ein Wissen darüber, wie das Individuum geworden ist, was es ist und was es werden will. In der Genese dieses Wissens spielen Selbstthematisierung, Selbstkonstruktion und Selbstreflexion eine wichtige Rolle. Derartiges Wissen ist nur vorläufig und verändert sich im Verlauf des Lebens. André Gide drückt diese Erfahrung in den Falschmünzern so aus: »Ich bin immer nur das, was ich zu sein glaube, und das wechselt so unablässig, dass – wäre ich nicht da, um den Verkehr zu vermitteln – oft mein Wesen vom Abend das vom Morgen nicht wiedererkennen würde. Nichts kann verschiedener von mir sein als ich selbst.« Individualität enthält keinen gleichbleibenden Kern; sie ist voller Widersprüche und Paradoxien. Sie ist das dynamische Ergebnis einer Auseinandersetzung mit der Sozietät. Kein Individuum ist sich selbst genug und kann sich aus sich heraus allein gestalten. Jedes Individuum ist auf eine Kommunität bzw. Sozietät angewiesen, von der es mit Hilfe von Mimesis vieles übernimmt, um es im Laufe seines Lebens zu erwerben und an andere Menschen weiterzugeben. In Erziehung und Bildung, Arbeit und Politik, Unglück und Glück ist jedes Individuum auf Andere angewiesen. Über das Leben mit Anderen und ihre Anerkennung bildet und verändert sich sein Selbstverständnis. Kein Individuum kann aus der Allgemeinheit bzw. dem Allgemeinen abgeleitet werden. Es gibt eine Unvordenklichkeit des Individuums, eine Nichtidentität. Diese Nichtidentität macht die Unhintergehbarkeit des Individuums aus. Nichtidentität führt zur Erfahrung der Selbstfremdheit, die eine der wichtigsten Voraussetzungen für den gelingenden Umgang mit dem Anderen ist. Für interkulturelles Lernen spielt die Unhintergehbarkeit des Individuellen, die Nichtidentität, die Leerstelle im Einzelnen, eine entscheidende

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Rolle. Auf das Bewusstsein von der Nichtidentität des Individuums gründet die mögliche Offenheit gegenüber dem Anderen. Deshalb darf interkulturelles Lernen nicht auf den Erwerb von Fähigkeiten des Umgangs mit Minderheiten begrenzt werden. Die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen, mit dem Anderen in der eigenen Kultur und im Individuum selbst ist für Bildung konstitutiv. Angesichts der Bemühungen um die Entwicklung einer Europäischen Union und angesichts der Tendenzen zur Globalisierung und weltweiten Vernetzung von Politik, Wirtschaft und Kultur können Erziehung und Bildung nicht mehr ausschließlich nationalstaatlich organisiert bleiben. Die Auseinandersetzung mit dem Fremden der eigenen und anderer Kulturen erhält eine neue Bedeutung und muss eine neue Qualität gewinnen. Sie besteht darin, dass interkulturelle Bildung vom Fremden, vom Anderen her entworfen werden muss. In der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen, mit dem Anderen in der eigenen Kultur und dem Fremden in der eigenen Person soll die Fähigkeit entwickelt werden, vom Fremden bzw. vom Anderen her wahrzunehmen und zu denken. Durch diesen Perspektivenwechsel gilt es, die Reduktion des Fremden auf das Eigene zu vermeiden. Versucht werden soll, das Eigene zu suspendieren und es vom Anderen her zu sehen und zu erfahren. Ziel ist die Entwicklung heterologischen Denkens. In seinem Mittelpunkt steht das Verhältnis von Vertrautem und Fremdem, von Wissen und Nichtwissen, von Gewissheit und Ungewissheit. Infolge von Enttraditionalisierung und Individualisierung, Differenzierung und Globalisierung sind viele Selbstverständlichkeiten des alltäglichen Lebens fragwürdig geworden und erfordern individuelle Reflexion und Entscheidung. In solchen Lebenszusammenhängen, in denen auch die Kriterien selbst in Fluss geraten, aufgrund derer Individuen Entscheidungen treffen, wächst das Ausmaß der erforderlichen Reflexivität. Wie nie zuvor werden vom Individuum eine sein Leben gestaltende Aktivität und die Übernahme von Verantwortung für diese Gestaltung verlangt. Dabei ist eine häufige Überforderung des Einzelnen unvermeidbar. Denn der Gestaltungsspielraum, der dem Individuum in Folge dieser Entwicklungen zuwächst, geht nur allzu oft nicht mit einem wirklichen Gewinn an Freiheit einher. Häufig hat der Einzelne nur in solchen Situationen und Kontexten einen Entscheidungsspielraum, wo er die Bedingungen und Voraussetzungen der Entscheidungssituation nicht verändern kann. Im Umweltbereich ist dies beispielsweise oft der Fall. Hier kann der Einzelne zwar umweltbewusste Entscheidungen fällen, die ihm auch immer wieder nahe gelegt werden. Aber diese Entscheidungen und Handlungen haben auf die gesellschaftlichen wie ökologischen Makrostrukturen, welche die Qualität der Umwelt wirklich bestimmen, nur wenig Einfluss. Unter den Lebensbedingungen der »reflexiven Moderne« (Beck) kommt auch dem Umgang mit dem Anderen wachsende Bedeutung zu. Bei vielen vom Individuum verlangten Entscheidungen geht es um eine Gestaltung des Verhältnisses zwischen Vertrautem und Fremdem. Die

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46 | I Globalisierung und Interkulturalität Veränderung unseres Wirklichkeitsverständnisses führt zu einer neuen Sicht des Fremden und des Anderen. Im Unterschied zur Antike, in der die Wirklichkeit im Augenblick ihres Erscheinens unwiderstehlich ist, in Differenz zum Mittelalter, in dem die Wirklichkeit von Gott garantiert wird, und anders als in der Aufklärung, in der die souveräne Vernunft das Begreifen und den Umgang mit der Welt sichert, gibt es heute keine verlässliche Realität. Wirklichkeit ist nicht länger homogen, sie erscheint konstruiert und interpretiert und wird fraktal und heterogen erfahren. In immer mehr Lebenszusammenhängen gibt sie sich als etwas dem Subjekt weitgehend Unverfügbares, Widersetzliches und zunehmend auch Bedrohliches. Mit der eigenen Weltsicht kommt sogleich der Andere mit seiner Konstruktion und Interpretation der Welt ins Spiel. Pluralität ist eine notwendige Folge fraktaler Wirklichkeitserfahrung. Keine Sicht der Welt kann alleinige Gültigkeit beanspruchen. Jede Interpretation findet ihre Grenze in der Sicht des Anderen. Eine neue Komplexität in der Erfahrung der Welt entsteht, in der die Sicht des Anderen als Möglichkeit immer mitgedacht werden muss. Mit der Zunahme der Undurchschaubarkeit der Welt wächst die Verunsicherung des Einzelnen, der die Differenz zwischen sich und dem Anderen aushalten muss. In dieser Situation werden Ungewissheit und Unsicherheit zentrale Merkmale gesellschaftlichen Lebens. Ihren Ursprung haben sie einerseits in der Welt außerhalb des Menschen, andererseits in seinem Inneren, und schließlich im Wechselverhältnis zwischen Innen und Außen. Angesichts dieser Situation fehlt es nicht an Versuchen, diese Unsicherheit durch scheinbare Gewissheiten erträglich zu machen. Doch helfen diese »Gewissheiten« nicht, die verlorene Sicherheit wiederzugewinnen. Ihre Geltung ist relativ und entsteht meistens durch den Ausschluss von Alternativen. Was ausgeschlossen wird, bestimmen einerseits die psychisch-soziale Konstitution des Einzelnen und andererseits die gesellschaftlichen Machtstrukturen und die aus ihnen resultierenden Prozesse des Setzens und Ausschließens von Werten, Normen, Ideologien und Diskursen. Im Bereich interkulturellen Lernens sind die epistemologischen Bedingungen des Wissens besonders wichtig. Mit der Pluralität der Wirklichkeits- und Wissenschaftsauffassungen wird die Erfahrung der Differenz zu einem bestimmenden Moment in der Produktion und in der Handhabung individuellen und gesellschaftlichen Wissens. Sie erst erlaubt die Erfahrung des Anderen, ohne die kein konstruktiver Umgang mit fremden Kulturen möglich ist. Bei diesen Erfahrungen spielt der Umgang mit Kontingenz eine entscheidende Rolle. Kontingent ist, was auch anders möglich ist. Was in der Planung als unverfügbar erkennbar wird, was zufällig, aber auch durch Handeln beeinflussbar ist, ist kontingent. Kontingenz bezeichnet also einen Spielraum offener Möglichkeiten. In ihm werden Ereignisse kontingent, die manchmal in Folge von Handlungen entstehen, ohne dass vorher angebbar wäre, wie und warum sie sich so und nicht anders einstel-

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len. »Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes, Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist« (Luhmann 1984, S. 152). Diese Bestimmung von Kontingenz lässt sich auch als eine Beschreibung heutiger Wirklichkeitserfahrung mit der für diese konstitutiven Rolle des Anderen begreifen. Der Umgang mit dem Anderen ist ein Umgang mit Kontingenzen, der nur begrenzt planbar ist. Die Ergebnisse sind partiell zufällig und bleiben daher unvorhersehbar. Doch gerade dadurch entstehen aus Kontingenzen neue Erfahrungsmöglichkeiten von Fremdem und Eigenem, die bis dahin unbekannte Horizonte und Ordnungen erzeugen. Im Verlauf dieser Prozesse entsteht ein Bewusstsein der Virtualität, das zu einem neuen Umgang mit dem Anderen führt. Hier liegen Freiräume und Chancen interkulturellen Lernens, die der Gestaltung harren und für die Gelegenheiten geschaffen werden müssen.

Reduktion und Verdrängung Der Diskurs über den Anderen macht auf die mit dem Egozentrismus, Logozentrismus und Ethnozentrismus einhergehenden psychologischen, epistemologischen und kulturellen Verkürzungen aufmerksam (Waldenfels 1990). Auch wenn es zeitweilig den Anschein hatte, als gelänge eine Entschleierung des Anderen, so hat sich dieser Eindruck nicht bewahrheitet. Mitten im Alltäglichen, Bekannten und Vertrauten werden Dinge, Situationen und Menschen fremd. Die erwartete Sicherheit und Vertrautheit der Lebensbedingungen wird fragwürdig. Zwar hat die Strategie, das Andere durch Verstehen aufzulösen, dazu geführt, dass vieles Fremde zu Bekanntem geworden ist und dass an die Stelle von Verunsicherung und Bedrohung Sicherheit und Vertrautheit getreten sind. Doch ist diese Sicherheit oft nur Schein; hinter ihrem Rücken und an ihren Rändern haben sich Unsicherheit und Gefährdung nicht verringert. Die Geste des Sichdie-Welt-vertraut-Machens hat die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Mit der Zunahme des Bekannten vergrößert sich der Umfang des Unbekannten. Mit Hilfe der Ausweitung des Wissens gelingt es nicht, die Komplexität der Lebenszusammenhänge zu verringern. Je mehr das Wissen über Phänomene und Zusammenhänge zunimmt, desto mehr wächst auch das Nichtwissen. Immer wieder zeigt sich Nichtwissen und verweist das Wissen und ein auf ihm basierendes souveränes menschliches Handeln auf ihre Grenzen. Das Andere wird häufig auf dasselbe reduziert, doch wird es dadurch nicht überwunden. Es artikuliert sich im Zentrum und an den Grenzen des Bekannten und fordert seine Berücksichtigung. Elias (1976), Foucault (1976), Beck u.a. (1995) haben die Prozesse der modernen Subjektkonstitution und der Entstehung des Egozentrismus

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48 | I Globalisierung und Interkulturalität detailliert beschrieben. »Technologien des Selbst« (Martin u.a. 1993) werden dazu verwendet, Subjekte zu bilden. Viele dieser Strategien orientieren sich an Vorstellungen von einem in sich geschlossenen Selbst, das als subjekthaftes Handlungszentrum unter dem Anspruch steht, ein eigenes Leben zu führen und eine eigene Biographie zu entwickeln. Die ungewollten Nebenwirkungen der Entwicklungen zu einem sich selbst genügenden Subjekt sind vielfältig. Nicht selten scheitert das Sich-selbst-setzendeSubjekt am Akt der Selbstsetzung. Die erhoffte Selbstbestimmung und das erwartete Glück autonomen Handelns werden von anderen, sich diesen Ansprüchen nicht unterordnenden Kräften konterkariert. Die Ambivalenz der Subjektkonstitution zeigt sich darin, dass der ihr inhärente Egozentrismus einerseits als Überlebens-, Aneignungs- und Machtstrategie, andererseits als Reduktions- und Nivellierungsstrategie dient. Der in der Zentrierung auf die Ich-Kräfte liegende Versuch, den Anderen auf seine Nützlichkeit, seine Funktionalität und seine Verfügbarkeit zu reduzieren, scheint gleichzeitig gelungen und gescheitert zu sein. Daraus ergibt sich für den Umgang mit dem Anderen ein neuer Horizont und ein neues Erkenntnis- und Aufgabenfeld. Der Logozentrismus hat dazu geführt, vom Anderen wahrzunehmen und zu verarbeiten, was der Vernunft entspricht. Was nicht vernunftfähig und vernunftförmig ist, gerät nicht in den Blick, wird ausgeschlossen und abgewertet. Wer auf der Seite der Vernunft steht, ist im Recht. Das gilt selbst von der eingeschränkten Vernunft funktionaler Rationalität. Erwachsene haben gegenüber Kindern, Zivilisierte gegenüber Primitiven, Gesunde gegenüber Kranken Recht. Durch den Besitz der Vernunft beanspruchen sie, denen überlegen zu sein, die über Vorformen oder Fehlformen der Vernunft verfügen. Wenn sich der Andere vom Allgemeinheit beanspruchenden Charakter der Sprache und der Vernunft unterscheidet, wachsen die Schwierigkeiten, sich ihm anzunähern und ihn zu verstehen. Nietzsche, Freud, Adorno und viele andere haben diese Selbstgefälligkeit der Vernunft der Kritik unterzogen und gezeigt, dass Menschen auch in Zusammenhängen leben, zu denen die Vernunft nur unzulänglichen Zugang hat. Nachhaltig hat auch der Ethnozentrismus die Unterwerfung des Anderen betrieben. Todorov (1982), Greenblatt (1995) und andere haben die Prozesse der Zerstörung fremder Kulturen analysiert. Zu den schrecklichsten Taten gehört die Kolonialisierung Lateinamerikas im Namen Christi und der christlichen Könige. Mit der Eroberung des Kontinents geht die Vernichtung der dortigen Kulturen einher. Bereits beim ersten Kontakt wird der Anspruch auf Anpassung und Assimilierung erhoben. Versklavung oder Vernichtung sind die Alternativen. Mit einer ungeheuerlichen Herrschaftsgeste wird das Eigene durchgesetzt, als müsse eine Welt ohne den Anderen bzw. das Andere geschaffen werden. Mit Hilfe eines machtstrategischen Verstehens wird es möglich, die Ausrottung der indigenen Völker zu betreiben. Die Indios begreifen nicht, dass sich die Spanier skrupellos berechnend verhalten und ihre Sprache zur Täuschung einset-

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zen: Freundlichkeit meint nicht, was sie vorgibt; Versprechen dienen nicht dazu, etwas zu vereinbaren, sondern dazu, den Anderen zu hintergehen. Jede Handlung dient anderen Zielen als vorgegeben wird. Legitimiert wird dieser Umgang mit dem Interesse der Krone, dem Missionsauftrag des Christentums und der Minderwertigkeit der Eingeborenen. Verschwiegen und aus dem eigenen Selbst- und Weltbild ausgegrenzt werden Goldgier und ökonomische Motive. Kolumbus nimmt von den Eingeborenen das wahr, was er schon weiß. Er sieht in ihrer Welt nur Zeichen, die ihn auf Bekanntes verweisen und die er in Bezug auf seinen Referenzrahmen liest, einordnet und interpretiert. Dieser Referenzrahmen gleicht dem Bett des Prokrustes, in das alles Fremde so hineingezwungen wird, dass es in dessen vorgegebene Strukturen »passt«. Der Andere wird von den Bildern und Symbolen des Eigenen zugedeckt und in sie eingeschlossen. Was sich nicht einfügt, bleibt außerhalb der Wahrnehmung und der Verarbeitung. Dadurch entsteht keine Bewegung zum Anderen. Staunen und Verwunderung sind die Folge. Man berichtet von der Einmaligkeit und Außergewöhnlichkeit der gesehenen Welt und vergleicht sie mit Traumbildern. Eine solche Beschreibung entrückt das Gesehene. »Die Verwunderung ist die Erfahrung eines doppelten Versagens, eines Versagens der Worte – es bleibt nur der stammelnde Rückgriff auf alte Ritterlegenden – und eines Versagens der Augen, insofern der Anblick eines Gegenstandes keinerlei Gewähr mehr dafür bietet, dass er auch wirklich existiert« (Greenblatt 1995, S. 204). Die Verwunderung wird zu einer Hürde, die die Bewegung zum Anderen blockiert und die Erregung intensiviert. Mit der sich aus der Blockade der Bewegung zum Anderen ergebenden Distanz wächst das Begehren, diese Grenze zu überschreiten. Zwei Wege bieten sich an. Der eine führt über die Bildung von Repräsentationen des Anderen, über Figurationen, in die das Fremde transformiert wird, so dass ein Umgang mit ihm möglich wird. Zu dieser Form gehören auch die Versuche diskursiver Annäherung an den Anderen sowie die in der Verschriftlichung entstehenden sprachlichen Repräsentationen. Wird dieser Weg beschritten, kommt es zu einer Form der Akzeptanz des Anderen, die sich auf den Anderen im Außen und Fremden und den Anderen im Eigenen und Vertrauten erstreckt. In den figurativen, diskursiven und literalen Repräsentationen wird der Andere zum Eigenen und das Eigene zum Anderen. Der andere Weg betont die unüberwindbare Differenz, die keine Umwandlung des Anderen ermöglicht. »Die Bewegung verläuft über die Identifikation zur vollkommenen Entfremdung: Einen Augenblick lang kann man sich selbst nicht vom Anderen unterscheiden, aber dann macht man den Anderen zu einem radikal fremden Gegenstand, einem Ding, das sich ganz nach Belieben zerstören oder einverleiben lässt« (Greenblatt 1995, S. 206). Diesen Weg wählen die spanischen Eroberer. Sie können und wollen die Differenz zur Welt der Eingeborenen nicht aushalten. Daher wollen und müssen sie diese Welt in Besitz nehmen. Ihr Traum vom Besitz gilt dem Land, dem Gold, den Körpern und Seelen der Menschen. Doch ihre Besitzergreifung ist nur

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50 | I Globalisierung und Interkulturalität nach der Zerstörung möglich. Erst infolge der Zerstörung verliert diese Welt ihre Andersheit. Über ihre Trümmer lässt sich unbekümmert verfügen. Sie erst ermöglichen die erstrebte Inbesitznahme der anderen Welt. Für die Spanier sind Zerstörung und Besitznahme Schutz vor der Gefahr, sich an die Eingeborenen zu verlieren. In den wiederholt berichteten fiktiven Geschichten vom Kannibalismus der Indios kommt die Angst der Eroberer davor zum Ausdruck, getötet und verschlungen, aufgelöst und assimiliert zu werden. Die in der Rhetorik dieser Geschichten produzierte Abscheu vor den kannibalischen Eingeborenen ist ein Versuch, Abstand gegenüber der Faszination durch den Anderen zu gewinnen. Die Zerstörung der Eingeborenen schafft nachhaltig Distanz und lässt sich als Selbsterhaltungs- und Überlebensstrategie der Spanier begreifen. Wenn die Eingeborenen vernichtet sind, können sie ihre Andersheit nicht mehr ausdrücken; sie verlieren ihre Bedrohlichkeit. Die Eroberer nehmen in Besitz, was sie bekommen können, und verfügen darüber beliebig: kein Widerstand, keine Auseinandersetzung. Sie begnügen sich nicht mit der Inbesitznahme der Reichtümer und der Frauen; ihr Begehren richtet sich außerdem darauf, die religiösen Energien der Eingeborenen auf ihre eigenen Symbole umzulenken und so die Imagination der Indios zu unterwerfen und neu zu besetzen. Nicht Öffnung gegenüber dem Fremden und Bereicherung, sondern Inbesitznahme und Zerstörung sind die Folge. Egozentrismus, Logozentrismus, Ethnozentrismus greifen als Strategien der Transformation des Anderen ineinander und verstärken sich wechselseitig. Ihr Ziel ist die Assimilation des Fremden ans Eigene und seine damit verbundene Beseitigung. Diese Prozesse zeigen sich in vielen Bereichen. Sie zerstören nicht nur die Vielfalt der Kulturen. Sie zerstören auch das Leben vieler Menschen in Gesellschaften, die starken Veränderungsund Anpassungszwängen unterliegen. Dies ist besonders der Fall, wenn sich lokale oder regionale Kulturen auflösen, ohne dass an ihre Stelle andere kulturelle Werte treten, die den Menschen helfen, sich unter den veränderten Lebensbedingungen zurecht zu finden.

Der mimetische Umgang mit dem Anderen Die immer mehr Lebensbereiche durchwirkende Globalisierungsdynamik führt dazu, dass es schwerer wird, dem Anderen als dem Nicht-Nichtidentischen und Fremden zu begegnen, der für den Einzelnen und die Gemeinschaft eine konstitutive Funktion hat. Unter den Verfahren des Umgangs mit dem Anderen kommt mimetischen Prozessen eine zentrale Bedeutung zu (Gebauer/Wulf 1992, 1998). Taussig (1993) verdeutlicht diese Prozesse am Beispiel von Figurinen der Cuna, unter denen einige im Aussehen und in der Kleidung den weißen Kolonisatoren ähneln. Indem die Cuna durch einen mimetischen Akt Repräsentationen der Weißen in Form von Figurinen schaffen, gelingt es ihnen, die weißen Kolonisatoren zu verkleinern und ihnen ihren bedrohlichen Charakter zu nehmen. Mit

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Hilfe magischer Verfahren sind sie nun in der Lage, Macht über die als übermächtig erlebten Weißen auszuüben. Die kulturanthropologische Literatur kennt zahlreiche derartige Beispiele. In ihnen findet eine Annäherung an den Anderen dadurch statt, dass eine Repräsentation von ihm hergestellt wird. Mit der Schaffung dieser Repräsentation werden Gefühle und Einstellungen dem Anderen gegenüber zum Ausdruck gebracht und dargestellt. Der Andere wird in die eigene Symbolwelt überführt; die Beziehung zu ihm wird verkörperlicht. In der Repräsentation wird etwas sichtbar gemacht, das vorher nicht greifbar war. Die Herstellung einer Repräsentation der Weißen ist daher keine bloße Imitation, sondern eine mimetische Handlung, durch den unter Bezug auf Vorgegebenes Neues entsteht. Der mimetische Akt ist keine bloße Reproduktion, sondern eine kreative Handlung. Die Herstellung dieser Figuration der Weißen ist ein Versuch, mit ihrer Fremdheit umzugehen. Hinter der Hervorbringung dieser Repräsentation stehen Irritation, Verunsicherung und der Wunsch, das Unbekannte und Faszinierende der Weißen durch ihre figurative Darstellung und deren Bezug auf die eigene Symbolwelt zu begrenzen. In dieser Mimesis der Weißen geht es den Cuna nicht darum, die Weißen als Andere in den Motiven ihres Handelns und in den Werten und Symbolisierungen ihrer Kultur zu verstehen, als vielmehr darum, die Bedeutung der Weißen für die Cuna zum Ausdruck zu bringen und darzustellen. Die mimetische Erzeugung dieser Repräsentationen ist eine imaginäre und symbolische Inbesitznahme der Weißen, die aus dem Bedürfnis nach Klärung der Beziehung zu den Weißen erfolgt. Mimetische Annäherungen an den Anderen können mit Hilfe verschiedener Formen der Repräsentation erfolgen. Neben der Herstellung von Texten und Bildern spielen Gesten und Rituale, Spiele und Tauschhandlungen eine wichtige Rolle. Bei der Schaffung von Repräsentation überlagern sich das Eigene und der Andere. Jede Repräsentation des Anderen hat eine performative Seite. In ihr wird etwas zur Darstellung gebracht; in ihr erfolgt eine Vergegenständlichung bzw. Verkörperung. Die mimetischen Energien führen dazu, dass eine Repräsentation nicht ein bloßes Abbild eines Vorbildes ist, sondern sich von diesem unterscheidet und eine neue Welt erzeugt. In vielen Fällen bezieht sich die Repräsentation auf eine noch nicht ausgebildete Figuration des Anderen und ist die Darstellung eines Nichtdarstellbaren, seine Vergegenständlichung bzw. seine Verkörperung. Dann erzeugt Mimesis die Figuration der Repräsentation, das Objekt der Nachahmung selbst. In mimetischen Prozessen wird das Fremde in die Logik und Dynamik der eigenen imaginären Welt eingefügt. Dadurch wird das Fremde in eine Repräsentation transformiert. Als Repräsentation wird es noch nicht zum Eigenen; es wird zu einer Figuration, in der sich Fremdes und Eigenes mischen, zu einer Figuration des Dazwischen. Dem Entstehen einer solchen Figuration des »Dazwischen« kommt in der Begegnung mit dem Anderen außerordentliche Bedeutung zu. Eine mimetisch geschaffene Repräsentation bietet die Möglichkeit, das Fremde nicht festzusetzen und einzuge-

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52 | I Globalisierung und Interkulturalität meinden, sondern es in seiner Ambivalenz als Fremdes und zugleich Bekanntes zu erhalten. Die mimetische Bewegung gleicht einem Tanz zwischen dem Fremden und dem Eigenen. Weder verweilt sie beim Eigenen noch beim Anderen; sie bewegt sich hin und her zwischen beiden. Repräsentationen des Anderen sind kontingent. Sie müssen nicht so sein, wie sie sind; sie können sich auch in anderen Figurationen bilden. Zu welcher Figuration die mimetische Bewegung führt, ist offen und abhängig vom Spiel der Phantasie und dem symbolischen und sozialen Kontext. Keine Form der Repräsentation oder Figuration ist notwendig. Viele differente und heterogene Formen sind denkbar. Welche Figuren getanzt werden, welche Formen des Spiels gewählt werden, ergibt sich in der mimetischen Bewegung. Mimesis des Anderen führt zu ästhetischen Erfahrungen; in ihnen kommt es zu einem Spiel mit dem Unbekannten, zu einer Ausweitung des Eigenen ins Fremde. Sie bewirkt eine Anähnlichung an das Fremde. Sie ist sinnlich und kann sich über alle Sinne vollziehen; sie führt nicht zu einem »Hineinfallen« ins Fremde und zu einer Verschmelzung mit ihm. Eine solche Bewegung implizierte die Aufgabe des Eigenen. Sie wäre Angleichung, Mimikry ans Fremde unter Verlust des Eigenen. Mimesis des Fremden beinhaltet Annäherung und Abstand in einem, Verweilen in der Unentschiedenheit des Dazwischen, Tanz auf der Grenze zwischen Eigenem und Fremdem. Jedes Verweilen auf einer Seite der Grenze wäre Verfehlung, entweder des Eigenen oder des Fremden, und das Ende der mimetischen Bewegung. Die mimetische Annäherung an den Anderen ist ambivalent. Sie kann gelingen und zu einer Bereicherung des Eigenen werden. Sie kann aber auch fehlschlagen. Die Begegnung mit dem Anderen oszilliert zwischen den Polen des Bestimmten und des Unbestimmten. Wieweit es gelingt, Verunsicherungen durch das Nicht-Identische des Anderen auszuhalten, entscheidet über das Gelingen der Annäherung und des Umgangs mit dem Fremden. Weder das Eigene noch das Andere dürfen als in sich abgeschlossene und voneinander vollständig getrennte Einheiten begriffen werden. Vielmehr bestehen Fremdes und Eigenes aus einer sich in »Fragmenten« konstituierenden Relation. Diese Relation bildet sich in Prozessen der Anähnlichung und Differenz; sie ist historisch und verändert sich nach Kontext und Zeitpunkt.

Interkulturalität und ästhetische/aisthetische Bildung Wie in der interkulturellen Bildung, so wird auch in der ästhetischen bzw. aisthetischen Bildung die Erfahrung des Anderen gemacht. Folgende Aspekte von Kunst und ästhetischer Bildung sind u.a. geeignet, einen spezifischen Beitrag zur interkulturellen Erziehung zu liefern (Bougthon/Mason 1999): •

Kunst ist nicht durch Sprache begrenzt. Die Produkte der Kunst sind zwar

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Ausdruck verschiedener Kulturen, doch sie sind nicht an Sprache und Worte gebunden und sind daher Kindern und Jugendlichen unterschiedlichen Alters aus differenten Kulturen zugänglich. Kunst ist für die Bestimmung von Identität wichtig. Sie spielt eine wichtige Rolle dabei, die Identität einer sozialen Gruppe, einer Kultur, einer Nation zu bestimmen. Sie stellt eine wichtige Möglichkeit dar, Kindern und Jugendlichen ihr kulturelles Erbe zu vermitteln und sie mit der Identität anderer Kulturen vertraut zu machen. Alle Kulturen bringen Werke der Kunst hervor. Diese sind so unterschiedlich wie die Kulturen selbst. Im Kunstunterricht kommt es darauf an, etwas von dem Reichtum und der Unterschiedlichkeit der Kulturen zu erfahren. Kunst fordert Vorstellungen von kultureller Überlegenheit heraus. Sie macht es möglich, die Vorstellungen von der Unterlegenheit oder Überlegenheit der eigenen Kultur über andere zu bearbeiten und zu zeigen, wie Kulturen voneinander abhängen und sich gegenseitig beeinflussen und befruchten. Kunst bringt kulturellen Wandel zum Ausdruck. Die Auseinandersetzung mit Kunstwerken verschiedener historischer Zeiten vermittelt den spezifischen Charakter einer Epoche; sie fasst den »Zeitgeist« in Worte. Sie zeigt seinen historischen Charakter und vermittelt einen Eindruck von den historischen Wandlungen einer Kultur. Kunst eignet sich dazu, Fragen der Gleichwertigkeit der Kulturen zu bearbeiten. Die Auseinandersetzung mit Kunst vermittelt die Erfahrung, dass jede Kultur einen unterschiedlichen und durchaus bereichernden Beitrag zur Vielfalt der Weltkulturen liefert und dass es zwar möglich ist, von der Andersheit der Kulturen, jedoch nicht von der Überlegenheit einer über die anderen auszugehen.

Diese Aspekte machen deutlich, wie wichtig der Umgang mit Kunst für die Erfahrung des Anderen ist. Wie interkulturelle Erziehung ermöglicht die ästhetische bzw. sogar die aisthetische Erziehung Erfahrungen des Fremden und trägt dadurch dazu bei, eine zentrale Dimension von Kultur-Kompetenz zu entwickeln. Ästhetische bzw. aisthetische Erziehung ist wesentlich Erziehung für den Umgang mit Bildern (Mollenhauer/Wulf 1996). In einer Zeit, in der im Zusammenhang mit der Ausbreitung der Neuen Medien das Bild einen immer wichtigeren Platz in der europäischen Kultur eingenommen hat, ist die Frage Was ist ein Bild? zu einer der zentralen Fragen der Kulturwissenschaften geworden (Boehm 1994; Belting/Kamper 2000; Belting 2001). Diese Frage führt unmittelbar zum Umgang mit Kunst und zur ästhetischen bzw. aisthetischen Erziehung. Hier geht es nicht wie in den Neuen Medien darum, Kinder und Jugendliche mit Bildern verschiedener Kulturen zu überschütten; vielmehr geht es darum, im Umgang mit Kunstwerken Erfahrungen zu machen, die etwas vermitteln, das sich im Alltag der Informations- und Unterhaltungsindustrie nicht erfahren lässt. Es ist die

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54 | I Globalisierung und Interkulturalität Erfahrung des Anderen, die die Ordnungen des Alltags aufbricht und neue Horizonte erscheinen lässt. Die Erfahrung des Anderen in der Kunst und in der ästhetischen Erziehung ist wesentlich an die menschliche Bildkraft, die Phantasie gebunden. Greifbar wird diese nur in ihren Konkretisierungen. Sie selbst entzieht sich einer eindeutigen Bestimmung. Phantasie umfasst die Fähigkeit, Bilder wahrzunehmen, auch wenn das Abgebildete nicht anwesend ist. Sie bezeichnet das Vermögen inneren Sehens. Ihre früheste begriffliche Erwähnung findet sich in Platons Politeia. Im 10. Buch wird die Mimesis des Malers definiert als Nachahmung von etwas Erscheinendem, so wie es erscheint. Bei Aristoteles heißt es in De anima III, 3: Die Phantasie ist »ein Vor-Augenstellen, wie der Gedächtniskünstler verfährt, der sich bestimmte Bilder aussucht«, und sie ist »das, wonach, wie man sagt, in uns eine Erscheinung (phantasma) entsteht«. In der römischen Antike tritt imaginatio an die Seite von phantasia. Imaginatio bezeichnet die aktive Kraft, Bilder in sich hineinzunehmen, sich einzubilden. Paracelsus hat dieses Wort dann als »Einbildungskraft« ins Deutsche übersetzt. Phantasie, Imagination, Einbildungskraft sind drei Begriffe für das menschliche Vermögen, Bilder von außen nach innen zu nehmen, also Außenwelt in Innenwelt zu verwandeln, sowie für die Fähigkeit, innere Bilderwelten unterschiedlicher Herkunft und Bedeutung zu schaffen, zu erhalten und zu verändern. Menschliches Sehen ist nicht voraussetzungslos. Zum einen sehen wir die Welt anthropomorph, dass heißt auf der Grundlage der in unserem, dem menschlichen Körper liegenden physiologischen Voraussetzungen. Zum anderen gehen in unser Sehen historisch-anthropologische bzw. kulturelle Voraussetzungen ein. Das heißt z.B.: Nach der Erfindung und Verbreitung der Schrift ändert sich das Sehen im Vergleich zum Sehen in der oralen Kultur. Wie die Forschungen der Gestaltpsychologie gezeigt haben, spielt die Phantasie schon bei der bloßen Wahrnehmung, etwa bei der komplementären Wahrnehmungsergänzung, eine Rolle. Entsprechendes gilt für den kulturellen Referenzrahmen, der erst den gesehenen Dingen ihren Sinn und ihre Bedeutung verleiht. Jedes Sehen ist historisch und kulturell ermöglicht und eingeschränkt zugleich. Als solches ist es veränderbar, kontingent und zukunftsoffen. Arnold Gehlens Versuch, die Phantasie zu verorten, weist trotz erheblicher Unterschiede in der Argumentation in eine ähnliche Richtung. So schreibt er: »Auf dem Grunde der Geschiebe des Traumes oder der Zeiten verdichteten vegetativen Lebens – in der Kindheit oder im Kontakt der Geschlechter, gerade da, wo die Kräfte werdenden Lebens sich anzeigen, gibt es wohl, unter sehr wechselnden Bildern, gewisse Urphantasien eines Vorentwurfs des Lebens, das in sich die Tendenz zu einem Mehr an Formhöhe, an ›Stromstärke‹ spürt: diese aber als Anzeichen einer unmittelbaren vitalen Idealität, d.h. einer in der substantia vegetans liegenden Richtung nach einer höheren Qualität oder Quantität hin – wobei selbst das Recht zu dieser Unterscheidung fraglich bleibt« (Gehlen 1978, S. 325). Gehlen deutet Phantasie als Projektion von Antriebsüberschüssen. Doch

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vielleicht geht sogar die Phantasie schon den Antriebsüberschüssen voraus, »damit der Lebensdrang sich in ihr Bilder seiner Befriedigung entwerfen« kann (Flügge 1963, S. 93). In jedem Fall ist in Gehlens Sicht Phantasie an den Status des Menschen als »Mängelwesen«, an seine residuale Instinktausstattung und an den Hiatus zwischen Reiz und Reaktion gebunden. Damit steht sie in Beziehung mit Bedürfnissen, Triebregungen und Befriedigungswünschen. Doch erschöpft sich Phantasietätigkeit nicht in diesen. Menschliche Plastizität und Weltoffenheit verweisen auf die Notwendigkeit ihrer kulturellen Gestaltung. Phantasie spielt hierbei eine so zentrale Rolle, dass der Mensch »als Phantasiewesen so richtig bezeichnet [wäre], wie als Vernunftwesen« (Gehlen 1978, S. 317).

Der Andere im Bild In Bildern wird der Andere bzw. das Fremde in vielfältiger Form erfahren. Es macht Bilder mehrdeutig. Die Vermutung, sie entstünden aus der Angst vor dem Tode bzw. aus der Angst, sterben zu müssen, lange vor der Entwicklung des Bewusstseins, ist nicht abwegig. Dietmar Kamper vermutet, das Bild habe »... den Zweck, die Wunde zuzudecken, aus der die Menschen stammen. Doch dieser Zweck ist uneinlösbar. Jede Deck-Erinnerung erinnert auch. Deshalb ist jedes Bild im Grunde ›sexuell‹, auch wenn es der Bewegung nach tief ›religiös‹ ist. Von daher läßt sich das Bild – wie Roland Barthes es tut – als ›Tod der Person‹ titulieren. Mittels der Angst spielt das Bild die Hauptrolle bei der Ablenkung des menschlichen Begehrens. Es substituiert die erfahrene Gleichgültigkeit der Herkunft. Es steht an der Stelle des ersten Bösen. Es hält zunächst die Hoffnung aus, daß die Stimme der Mutter mitschwingt durch alle Ambivalenzen. Es dreht sich auch mit vom Sakralen zum Banalen. Denn das zweite Kapitel in der Bewältigung der Angst heißt Vervielfältigung. Das Bild soll in den Bildern verloren gehen. Es geht nicht« (Kamper 1997, S. 592).

Unter einer kulturwissenschaftlichen Fragestellung lassen sich drei Arten von Bildern unterscheiden, in denen das Andere in unterschiedlicher Weise erfahren wird und die trotz Überschneidungen nicht aufeinander reduzierbar sind: • • •

das Bild als magische Präsenz; das Bild als mimetische Repräsentation; das Bild als Technik und Synthese, Virtualität und Simulation.

Zwischen diesen Arten von Bildern gibt es vielfältige Überlappungen. Dennoch erscheint eine solche Unterscheidung sinnvoll; sie ermöglicht es, unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche ikonische Merkmale zu identifizieren.

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56 | I Globalisierung und Interkulturalität Zu den Bildern, die in einer Zeit entstanden, in der Bilder noch nicht zu Kunstwerken geworden waren, gehören magische Bilder, Kultbilder, sakrale Bilder. Hans Belting (1991) hat ihnen in seiner Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst seine Aufmerksamkeit gewidmet. Allerdings hat er sich nur mit dem kultischen Bild seit dem Ausgang der Antike befasst, das immer schon auf Repräsentation angelegt ist. Bilder, die Göttern magische Präsenz verschaffen, werden als Götter- oder Götzenbilder bezeichnet. Sie finden sich z.B. in archaischen Kulturen. Frühe Darstellungen von Fruchtbarkeitsgöttinnen in Lehm oder Stein gehören dazu. Gilbert Durand (1969) hat in seinem berühmten Buch über Die anthropologischen Strukturen des Imaginären einen Bilderkosmos entworfen, dessen Bilder zu einem erheblichen Teil zur Welt der magischen Bilder gehören. Unterschieden werden Bilder der »Ordnung des Tages« und der »Ordnung der Nacht«, deren Behandlung er jeweils einen Teil seines Buches widmet. Der dritte Teil ist schließlich Bildern einer transzendentalen Phantastik gewidmet. Durands Untersuchung macht den Versuch, große Teile des bildhaften kollektiven Imaginären darzustellen und zu strukturieren. Dabei gilt, dass die Übergänge von Bildern der Präsenz zu Bildern der Repräsentation fließend sind. In die gleiche Richtung weist das von der Académie Française preisgekrönte Buch von Philippe Seringe (1985) über Symbole in Kunst, Religion und Alltagsleben. Hier wird die Grenze zum Bild als Repräsentation endgültig überschritten. Dargestellt und in ihrer Bedeutung kurz beschrieben werden imaginäre Bilder von Tieren. Zum Imaginären gehören Bilder von Landtieren (Stier, Rind, Kuh; Pferd, Esel; Steinbock, Lamm, Widder; Katze, Hund, Ziege, Schwein; Kaninchen, Hase, Elefant, Kamel). Es erstreckt sich auf Vögel und Fische und es umfasst das Vegetative (den Baum des Lebens, Palmen, Zedern, Eichen; Blumen, Rosen, Lilien, Lotus; Getreide; Früchte usw.). Es bezieht sich auf den Kosmos und die Elemente (Feuer und Licht; Rauch, Wolken, Dunst; Wasser; Erde; Steine, Höhlen und Grotten; Luft; Sonne; Mond usw.). Zum Imaginären gehören Bilder von Bauwerken (Palästen, Häusern, Gärten; Toren, Skulpturen) sowie Bilder eher abstrakter Dinge (Namen, Zahlen, Spiralen, Labyrinthe). Immer wieder wird der »Zwischencharakter« von Bildern sichtbar. Sie bebildern die Welt und beheimaten den Menschen dadurch. Denn nichts ist bedrohlicher als eine Welt ohne Bilder, als Dunkelheit oder gleißendes Licht, die beide Bilder zerstören. Im Werk Platons werden Bilder zu Repräsentationen von etwas, das sie nicht selbst sind. Sie stellen etwas dar, bringen etwas zum Ausdruck, verweisen auf etwas. Nach Platons Auffassung produzieren Maler und Dichter nicht wie Gott Ideen und wie Handwerker Gebrauchsgegenstände. Sie bringen Erscheinungen der Dinge hervor, wobei Malerei und Dichtung nicht auf die künstlerische Darstellung der Dinge beschränkt sind, sondern auf die künstlerische Darstellung der Erscheinungen, wie sie erscheinen. Ziel ist also nicht die Darstellung der Ideen oder der Wahrheit, sondern die künstlerische Darstellung von Phantasmen, von Erscheinungen in ihrem Erscheinen. Daher können Malerei und mimetische Dichtung prinzipiell

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das Sichtbare zur Erscheinung bringen (Platon, Politeia 598a). Hier geht es also um die Bilder und Illusionen schaffende Mimesis, bei der die Differenz zwischen Modell und Abbild unwichtig wird. Ziel ist nicht die Ähnlichkeit, sondern der Schein des Erscheinenden (Zimbrich 1984). Bei Platon werden Kunst und Ästhetik bereits als eigener Bereich konstituiert, in dem der Künstler bzw. der Dichter der Meister ist. Dieser hat zwar nach Platon nicht die Fähigkeit, Seiendes zu produzieren und ist frei vom Wahrheitsanspruch, dem sich die Philosophie zu stellen hat und der der Politeia zugrunde liegt. Somit gewinnt der ästhetische Bereich eine gewisse Unabhängigkeit von den Belangen der Philosophie, ihrer Wahrheits- und Erkenntnissuche, ihrem Bemühen um das Gute und Schöne. Die Folge ist aber der Ausschluss aus der Politeia, die den nicht kalkulierbaren Charakter von Kunst und Dichtung nicht akzeptieren will. Der künstlerische Gestaltungsprozess zielt also auf die Ausgestaltung eines inneren, dem Maler bzw. Dichter vor Augen stehenden Bildes. Der die Gestaltung leitende Entwurf löst sich mehr und mehr in das Bild auf, das in einem anderen Medium als der imaginierte Entwurf entsteht. Dabei kommt es zu Veränderungen, Auslassungen, Ergänzungen und dergleichen, so dass Ähnlichkeit nur in begrenztem Maße gegeben ist. In den meisten Fällen sind die Vorbilder, auf die sich die Bilder und Entwürfe der Künstler beziehen, unbekannt, da es sie entweder nie gab oder sie nicht mehr erhalten sind. Im Zentrum des künstlerischen Prozesses steht das Bild, das Bezüge zu Vorbildern enthält und aus einem Transformationsund Innovationsprozess entsteht. Wie ist das Verhältnis von Vorbild und Abbild? Wird letzteres durch ersteres geschaffen? Oder wie lässt sich das Verhältnis begreifen? Schon in der Antike wurde in Bezug auf die berühmte Zeusdarstellung des Phidias die Frage erhoben, ob, und wenn ja, wo, es ein Vorbild gegeben habe. Da es jedoch kein Vorbild für diese Darstellung gegeben haben kann, ist dieses Bild des Zeus neu. Im künstlerischen Prozess selbst, in der Arbeit am Material ist es entstanden. Wer die Statue sieht, erkennt das Bild, obwohl man das Vorbild »Zeus« nicht kennt, das vor dieser Darstellung auch nicht existiert hat. Zuckerkandl spitzt seine Überlegungen in der Behauptung zu, dass das »Kunstwerk ein Bild auf der Suche nach einem Vorbild« sei und geschaffen werde, »um in dem Geiste der Menschen ein Vor-Bild zu finden und so seine Bestimmung zu erfüllen, Bild zu werden« (Zuckerkandl 1958, S. 233). Dieses »Bild« ist nicht eindeutig; es ist keine »Antwort«, sondern eher eine Frage, die durch das Kunstwerk gestellt wird und die sein Betrachter unterschiedlich beantworten kann. Durch die Struktur des Kunstwerks werden Bilder, Sinnzusammenhänge und Deutungen erzeugt, die erst die Komplexität des Kunstwerkes ausmachen. Damit verschiebt sich das mimetische Verhältnis. Das Kunstwerk lässt sich nicht mehr als Nachahmung eines Vorbildes begreifen. Vielmehr findet Nachahmung, also die Herstellung eines Verhältnisses der Repräsentation, zwischen dem Kunstwerk und seinem Betrachter statt. Die dritte Art Bild ist durch Technik und Synthese, Virtualität und Simu-

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58 | I Globalisierung und Interkulturalität lation bestimmt und ist eine neue Art Bild. Alles hat heute eine Tendenz, zum Bild zu werden: Selbst opake Körper werden transformiert, sie verlieren ihre Undurchsichtigkeit und Räumlichkeit und werden transparent und flüchtig. Abstraktionsprozesse münden in Bilder und Bildzeichen. Überall begegnet man ihnen; nichts ist mehr fremd und überwältigend. Bilder bringen Dinge, »Wirklichkeiten« zum Verschwinden. Neben der Überlieferung von Texten werden zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit auch Bilder in unvorstellbarem Ausmaß gespeichert und tradiert. Fotos, Filme, Videos werden zu Gedächtnishilfen; Bildgedächtnisse entstehen. Bedurften Texte bisher der Ergänzung durch imaginierte Bilder, so wird die Imagination heute durch die Produktion von »Bildtexten« und ihre Überlieferung eingeschränkt. Immer weniger Menschen gehören zu den Produzenten, immer mehr Menschen zu den Konsumenten vorgefertigter, kaum noch die Phantasie herausfordernder Bilder. Bilder sind eine spezifische Form der Abstraktion; ihre Flächigkeit vernichtet den Raum. Der elektronische Charakter von Fernseh-Bildern ermöglicht Ubiquität und Beschleunigung. Solche Bilder können mit Lichtgeschwindigkeit annähernd simultan an allen Orten der Welt verbreitet werden. Sie miniaturisieren die Welt und ermöglichen die spezifische Erfahrung der Welt als Bild. Sie stellen eine neue Form der Ware dar und unterliegen den ökonomischen Prinzipien des Marktes. Sie werden selbst dann produziert und gehandelt, wenn die Gegenstände, auf die sie sich beziehen, nicht zu Waren geworden sind. Bilder werden gemischt; sie geraten in einen Austausch mit anderen, werden mimetisch auf andere bezogen; in ihnen werden Bildteile aufgegriffen und anders zusammengesetzt; fraktale Bilder werden erzeugt, die jedes Mal neue Ganzheiten bilden. Sie bewegen sich, verweisen aufeinander. Bereits ihre Beschleunigung gleicht sie einander an: Mimesis der Geschwindigkeit. Unterschiedliche Bilder werden aufgrund ihrer reinen Flächigkeit, ihres elektronischen und miniaturisierenden Charakters trotz inhaltlicher Unterschiede einander ähnlich. Sie nehmen teil an einer tiefgreifenden Umgestaltung heutiger Bilderwelten. Eine Promiskuität der Bilder entsteht. Bilder reißen den Betrachter mit und tauchen ihn in eine Flut, in der er zu ertrinken droht. Bilderstrudel werden zu einer Bedrohung; es wird unmöglich, ihnen zu entkommen; sie faszinieren und ängstigen. Sie lösen die Dinge auf, synthetisieren sie neu und überführen sie in eine Welt des Scheins. Es kommt zu einer unentscheidbaren Verbindung von Macht und Bedrängnis. Die Welt, das Politische und das Soziale werden ästhetisiert. In einem mimetischen Prozess suchen Bilder Vorbilder, um sich ihnen anzugleichen; sie werden zu neuen synthetischen Bildern ohne Referenzrahmen transformiert. Sie faszinieren. Ein rauschhaftes Spiel mit Simulacren und Simulationen entsteht: unendliche Differenzierung der Bilder und Implosion ihrer Differenz, grenzenlose Ähnlichkeit. Sie selbst sind die Botschaft (McLuhan), die Welt des Scheins mit Faszination und Entzückung. Bilder verbreiten sich mit der Geschwindigkeit des Lichts; virusartig

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stecken sie an. In mimetischen Prozessen führen sie zur Produktion von immer neuen Bildern. Eine Welt des Scheins und der Faszination entsteht, die sich von der »Wirklichkeit« loslöst. Als Welt der Kunst und Dichtung nimmt die Welt des Scheins neben der Welt der Politik nicht mehr ihren begrenzten Raum ein; vielmehr hat sie eine Tendenz, den anderen »Welten« ihren Realitätsgehalt zu rauben und auch sie zu Welten des Scheins zu machen. Die Ästhetisierung der Lebensbereiche ist das Ergebnis. Mehr und mehr Bilder werden produziert, die nur noch sich selbst zum Bezugspunkt haben und denen keine Wirklichkeit entspricht. In letzter Konsequenz wird alles zu einem Spiel von Bildern, in dem alles möglich ist, so dass auch ethische Fragen untergeordnete Bedeutung erhalten. Die Tendenz zur »Kulturgesellschaft« zeigt hier ihren ambivalenten Charakter. Wenn alles zum Spiel von Bildern wird, sind Beliebigkeit und Unverbindlichkeit unvermeidbar. Die so produzierten und miteinander in einem mimetischen Verhältnis stehenden Bilderwelten wirken auf das Leben zurück und führen zu seiner Ästhetisierung. Die Unterscheidung zwischen Leben und Kunst, Phantasie und Wirklichkeit wird unmöglich. Beide Bereiche gleichen sich an. Das Leben wird zum Vor-Bild der Welt des Scheins und diese zum Vor-Bild des Lebens. Das Visuelle entwickelt sich hypertrophisch. Alles wird transparent; der Raum verkommt zur bildhaften Fläche; die Zeit wird verdichtet, als gäbe es nur noch die Gegenwart der beschleunigten Bilder. Die Bilder ziehen das Begehren an, binden es, entgrenzen und verringern die Differenzen. Zugleich weichen diese Bilder dem Begehren aus; bei gleichzeitiger Anwesenheit weisen sie auf Abwesendes. Die Dinge und die Menschen verlangen nach einer Überschreitung in Bildern. Das Begehren schießt in die Leere der elektronischen Bildzeichen. Bilder werden zu Simulacren (Baudrillard 1987). Sie beziehen sich auf etwas, gleichen sich an und sind Produkte mimetischen Verhaltens. So werden beispielsweise politische Auseinandersetzungen häufig nicht um ihrer selbst willen geführt, sondern für die Verbildlichung im Fernsehen inszeniert. Was als politische Kontroverse stattfindet, ist bereits auf seine Verbildlichung ausgerichtet. Die Fernsehbilder werden zum Medium politischer Auseinandersetzung; die Ästhetisierung der Politik ist unvermeidbar. Der Zuschauer sieht die Simulation einer politischen Kontroverse, in deren Verlauf alles so inszeniert wird, dass er glauben soll, die politische Auseinandersetzung sei authentisch. Tatsächlich ist die Authentizität der Darstellung jedoch Simulation. Mit den Überzeugungen und Erwartungen des Zuschauers wird so gespielt, dass er die Simulation für authentisch hält. Alles ist von vornherein auf eine Aufnahme in die Welt des Scheins angelegt. Insoweit diese gelingt, ist die Kontroverse erfolgreich. Nur als Simulation der Politik entstehen über die Fernsehschirme auch die intendierten Wirkungen des Politischen. Die Simulation zeigt häufig höhere Wirkungen als die »wirklichen« politischen Auseinandersetzungen. Simulacren befinden sich auf der Suche nach Vor-Bildern, die erst durch sie selbst geschaffen werden. Simulationen werden Bild-Zeichen,

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60 | I Globalisierung und Interkulturalität die Rückwirkungen auf den Charakter der politischen Kontroverse haben. Grenzziehungen zwischen Wirklichkeiten und Simulacren werden unmöglich; Entgrenzungen haben zu neuen Durchdringungen und Überlappungen geführt. Mimetische Prozesse lassen die Vor-Bilder, Ab-Bilder und Nach-Bilder zirkulieren. Ziel der Bilder ist nicht mehr Vor-Bildern, sondern sich selbst zu gleichen. Ähnliches geschieht im Bezug auf die Menschen. Ziel ist die außerordentliche Ähnlichkeit der Individuen mit sich selbst, erreichbar nur als Ergebnis produktiver Mimesis vor dem Hintergrund umfassender Differenzierungen im gleichen Subjekt. Mimesis wird zur bestimmenden Kraft der Bilder, ihrer fraktalen Vervielfältigung in der Welt des Scheins.

Ausblick Die Vielgestaltigkeit dieser inneren Bilderwelt ist Ausdruck der menschlichen Plastizität. Sie ist eine Folge der alle Formen menschlicher Lebenspraxis umspielenden Phantasie, sei es, dass es sich um Wahrnehmen oder Empfinden, sei es, dass es sich um Denken oder Tun handelt. Auch die menschliche Exzentrizität ist der Phantasie geschuldet, ist sie doch die Fähigkeit, sich in eine Position außerhalb seiner selbst hineinzubegeben und sich von dieser aus zu sich selbst zu verhalten. Oft ist dieses Selbstverhältnis auch ein Verhältnis, das in der Beziehung zu Bildern des Anderen zum Ausdruck kommt. In Bildern des Anderen manifestiert sich die Einbildungskraft, in ihren Figurationen die kulturelle Vielgestaltigkeit des Anderen. In den verschiedenen Arten der Bilder wird sie sichtbar. Bildung heißt, reflexiv mit Bildern umgehen. Reflexiver Umgang mit den Bildern des Anderen bedeutet nicht: Reduktion der Bilder auf ihre Bedeutung, sondern meint: Bilder »rückwärts biegen«, sie »drehen«, sie »umwenden«. Bei den Bildern des Anderen verweilen und sie als solche wahrnehmen, sich ihre Figurationen und Gefühlsqualitäten vergegenwärtigen und diese wirken lassen. Die Bilder des Anderen vor schnellen Deutungen schützen, durch die sie in Sprache und Bedeutung transformiert, jedoch als Bilder »erledigt« werden. Unsicherheit, Vieldeutigkeit, Komplexität des Anderen aushalten, ohne Eindeutigkeit herzustellen. Meditation der Bilder des Anderen: imaginäre Reproduktion von Abwesendem, mimetische Erzeugung und Veränderung im inneren Bilderstrom. Kultur-Kompetenz erfordert die Arbeit an den inneren Bildern des Anderen; sie führt zum Versuch, diese Bilder nicht nur zum Sprechen zu bringen, sondern sie in ihrem Bildgehalt zu entfalten. Der Umgang mit Bildern des Anderen führt dazu, sich ihrer Ambivalenz auszusetzen. Dazu ist es erforderlich, sich auf die Bilder der Anderen auszurichten und ihnen Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Mit Hilfe der Imagination gilt es, die Bilder des Anderen in der inneren Anschauung zu erzeugen; mit Hilfe der Konzentration und Denkkraft gilt es, diese Bilder »festzuhalten«. Ihr »Auftauchen« ist der erste Schritt, sie in der inneren Anschauung festhalten, an ihnen

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arbeiten, sie in der Phantasie zur Entfaltung bringen sind weitere Schritte eines bewussten Umgangs mit Bildern. Die Reproduktion oder die Erzeugung von Bildern des Anderen in der Phantasie, das aufmerksame Verweilen bei ihnen ist eine nicht geringere Leistung als der interpretatorische Umgang mit ihnen. Die Verschränkung dieser beiden Aspekte der Auseinandersetzung mit Bildern des Anderen liefert einen Beitrag zu einem kompetenten Umgang mit ihm (Wulf 2001).

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5. Immaterielles kulturelles Erbe als Aufgabe von Erziehung und Bildung

Das immaterielle Erbe ist ein zentrales Element des kulturellen Erbes der Menschheit, das Werke und Praktiken aus vielen unterschiedlichen Kulturen umfasst, deren Bedeutung für die gesamte Menschheit unstrittig ist. Diese Werke und Praktiken spielen für die Erziehungs- und Bildungsprozesse der Menschen eine wichtige Rolle. Sie sind Ausdruck kultureller Vielfalt und fördern Verständigungsprozesse zwischen den Menschen. Sie initiieren Erziehungs- und Bildungsprozesse, in denen das kulturelle Erbe an die nachwachsenden Generationen weitervermittelt wird. In diesen Prozessen machen junge Menschen unter den Bedingungen der Globalisierung wichtige Erfahrungen der Heterogenität und Alterität (Wulf/Merkel 2002). Während die Bedeutung der Denkmäler auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes für das kulturelle Selbstverständnis der Menschheit unstrittig ist, wird die Rolle der Praktiken des immateriellen Kulturerbes kontrovers diskutiert. Da die allgemein geschätzten Denkmäler jedoch das Ergebnis immaterieller kultureller Praktiken sind, überrascht diese Diskussion besonders. Wer einen Blick auf die Masterpieces und die Second Proclamation of the Oral and Intangible Heritage wirft, wird von dem hohen kulturellen Wert dieser Praktiken erfasst und beeindruckt (UNESCO 2002, 2003, 2004). Die materiellen und die immateriellen Produkte des kulturellen Erbes der Menschheit haben viele Gemeinsamkeiten. Doch fehlt bislang eine Bestimmung der Besonderheiten des immateriellen Erbes und ihrer Bedeutung für Bildungsprozesse in einer trotz Globalisierung durch kulturelle Verschiedenheit bestimmten Welt. Im Weiteren werden daher fünf zentrale Aspekte der Praktiken des immateriellen kulturellen Erbe entwickelt, die deren spezifischen Charakter deutlich machen und ihre Bedeutung für kulturell vielfältige Bildungsprozesse darlegen:

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der menschliche Körper; der performative Charakter von Ritualen und sozialen Praktiken; Mimesis und mimetisches Lernen; Andersheit und Alterität; interkulturelle Bildung und die Notwendigkeit anthropologischer Forschung.

Der menschliche Körper Während die Monumente der Architektur sich leicht identifizieren und schützen lassen, sind die Formen kulturellen Erbes viel schwieriger auszumachen, zu vermitteln und zu erhalten. Während die architektonischen Werke des Weltkulturerbes aus haltbarem Material hergestellt sind, unterliegen die Formen immateriellen kulturellen Erbes stärker dem historischen und kulturellen Wandel und sind weniger dauerhaft. Während architektonische Werke materielle kulturelle Objekte darstellen, haben die Formen und Figurationen immateriellen und kulturellen Erbes den menschlichen Körper als Medium. Dies ist der Fall bei: 1. den oralen Traditionen und Ausdrucksformen einschließlich der Sprache; 2. den darstellenden Künsten; 3. den sozialen Praktiken, Ritualen und Festen; 4. den Praktiken im Umgang mit der Natur; 5. dem traditionellen Handwerkswissen. Wenn man den besonderen Charakter immateriellen kulturellen Erbes verstehen will, muss man sich vor allem vergegenwärtigen, welche zentrale Rolle der menschliche Körper als sein Träger spielt. Wenn der menschliche Körper das Medium immateriellen kulturellen Erbes ist, dann ergeben sich daraus einige Konsequenzen. Die körperbasierten Praktiken immateriellen Kulturerbes werden durch den Gang der Zeit und durch die Zeitlichkeit des menschlichen Körpers bestimmt. Sie hängen von der Dynamik von Raum und Zeit ab. Im Unterschied zu den kulturellen Monumenten und Objekten sind die Praktiken immateriellen kulturellen Erbes nicht fixiert, sondern unterliegen Transformationsprozessen. Diese sind an den gesellschaftlichen Wandel und Austausch gebunden. Verbunden mit den Dynamiken des Lebens haben sie einen Prozesscharakter und sind viel empfindlicher gegenüber homogenisierenden Einflussnahmen. Deshalb sind sie auch schwieriger gegen die vereinheitlichenden Prozesse der Globalisierung zu schützen.

Der performative Charakter von Ritualen und sozialen Praktiken Wenn der menschliche Körper das Medium der Praktiken immateriellen kulturellen Erbes ist, dann ergeben sich daraus auch Konsequenzen für die Wahrnehmung und das Verständnis dieser Praktiken. Nach meiner Auffassung ist es vor allem der performative Charakter des Körpers, der Ritua-

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le und andere Praktiken in sozialer und kultureller Hinsicht so wirkungsvoll macht. Da diese Praktiken mit dem Körper vollzogen werden, müssen wir die körperlichen Aspekte dieser Aufführungen berücksichtigen und überlegen, wie sie durch besondere Arrangements des Körpers vollzogen werden. Auf welchen Körperbildern die Praktiken immateriellen kulturellen Erbes beruhen, ist dabei eine entscheidende Frage. Auf jeden Fall müssen die historischen und kulturellen Dimensionen der Körpervorstellungen berücksichtigt werden, wie sie sich in den verschiedenen sozialen Praktiken kulturellen Erbes ausdrücken. Rituale haben unterschiedliche soziale Funktionen. Sie tragen dazu bei, den Übergang von einem sozialen Status zu einem anderen zu organisieren. Sie gestalten den Übergang bei sozial und existentiell zentralen Ereignissen wie Hochzeit, Geburt und Tod. Rituale umfassen Konventionen, Liturgien, Zeremonien und Feste. Sie vollziehen sich an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Laufe des Jahres. Wenn sie erfolgreich sind, dann schaffen sie ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie erzeugen das Soziale und sind für die Konstituierung von Gemeinschaft und Kultur von zentraler Bedeutung. Damit Rituale erfolgreich aufgeführt werden können, bedarf es eines individuellen rituellen Körperwissens und eines Wissens darüber, wie man sich zu den anderen Teilnehmern an einem Ritual verhält. Auch hier ist es die Dimension des Körpers, die die Performativität des Rituals garantiert. Der Charakter eines Rituals, die Seite, die eine Gemeinschaft schafft, ist eng verbunden mit seiner Körperlichkeit und Materialität. Während der physische Charakter einer Aufführung die Ritualteilnehmer dazu anregen kann, verschiedene Interpretationen der rituellen Situation zu entwickeln, spielen diese Unterschiede bei der Aufführung und Evaluation des Rituals lediglich eine sekundäre Rolle. Denn nicht die gemeinsame Interpretation, sondern die kollektive Aufführung ist entscheidend. Wenn in diesem Zusammenhang vom menschlichen Körper die Rede ist, dann handelt es sich um einen in historischen und kulturellen Prozessen geformten Körper, der seinerseits auf die Art und Weise Einfluss hat, in der historische und kulturelle Prozesse geformt werden. Bourdieu hat in diesem Zusammenhang von Habitusformen gesprochen. Sie sind einerseits das Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse, andererseits formen sie selbst diese Prozesse (Bourdieu 1976, 1982, 1987). Viele immaterielle Aspekte von Kultur und Geschichte werden in der Analyse des performativen Charakters von Ritualen sichtbar. Dieser ist für ihre Inszenierung, Aufführung und Wirkung von zentraler Bedeutung. Drei Aspekte des Performativen lassen sich unterscheiden. Der eine betont die Bedeutung des performativen Charakters der Sprache und ihrer Verwendung in rituellen Situationen. Indem John Austin gezeigt hat, »how to do things with words«, hat er diesen Aspekt der Sprache herausgearbeitet. Wenn jemand in einer Hochzeitszeremonie »Ja« sagt, dann hat er eine Handlung vollzogen, die ihn verheiratet und sein gesamtes Leben ändert. Der zweite Aspekt dieser körperbezogenen Performativität besteht darin,

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68 | II Interkulturelle Bildung dass Rituale und andere soziale Praktiken kulturelle Aufführungen sind, in denen sich Kulturen darstellen und ausdrücken. Mit Hilfe von Ritualen erzeugen Gemeinschaften eine Kontinuität zwischen Traditionen und den Anforderungen der Gegenwart. Der dritte Aspekt der Performativität charakterisiert die ästhetische Seite der körperbasierten Performance von Ritualen und Aufführungen der darstellenden Künste. Rituale können nicht angemessen begriffen werden, wenn ihre Analyse auf ihre bloße Funktion reduziert wird (Wulf/Göhlich/Zirfas 2001; Fischer-Lichte/Wulf 2001, 2004). Rituale bearbeiten Differenzen und Alterität und erzeugen kulturelle Gemeinschaften. Durch ihren performativen Charakter erschaffen sie Gemeinschaft und kulturelle Identität. Rituale gehören zu den wichtigsten Praktiken im Bereich immateriellen kulturellen Erbes. Sie bieten den Mitgliedern einer Gemeinschaft die Möglichkeit, eine kulturelle Kontinuität von einer Generation zur anderen zu schaffen. Sie können Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ein ausgewogenes Verhältnis bringen. Einerseits übermitteln sie traditionelle kulturelle Werte und soziale Praktiken, andererseits tragen sie dazu bei, diese an die aktuellen Anforderungen und Bedürfnisse der Gemeinschaft anzupassen. Rituale sind Fenster in eine Gesellschaft, die es möglich machen, deren kulturelle Identität und deren Dynamiken zu begreifen. Wenn Rituale lediglich traditionelle Werte verkörpern und sich nicht auf die Belange der gegenwärtigen Gesellschaft beziehen, verfehlen sie ihre Aufgabe. Wenn sie nur traditionelle Werte und Perspektiven zum Ausdruck bringen, werden sie rigide Praktiken und Stereotypen und verlieren ihre Gemeinschaft erzeugende Kraft. Wenn sie sich jedoch zu schnell den Herausforderungen der Globalisierung anpassen und ihren spezifischen kulturellen Charakter aufgeben, dann verfehlen sie ebenfalls ihre soziale Identität schaffende Funktion (Wulf u.a. 2001, 2004; Wulf/Merkel 2002). Als zentrale Praktiken immateriellen kulturellen Erbes machen Rituale fünf Aspekte besonders deutlich (Wulf/Zirfas 2003, 2004a): • •



Aufgrund ihres performativen Charakters sind Rituale zentrale Formen immateriellen kulturellen Erbes. Rituale erzeugen Gemeinschaften zwischen Überlieferungen, gegenwärtigen Bedürfnissen und zukünftigen Bedingungen. Dadurch, dass sie dynamisch sind und die Form und Bedeutung ihrer Aufführungen verändern, passen sie Überlieferungen an gegenwärtige Aufgaben und zukünftige Erfordernisse an. Rituale erfüllen ihre Aufgabe nicht dadurch, dass sie rituelle Modelle einfach kopieren. Ihre Aufführung ist keine bloße Wiederholung, sondern ein kreativer sozialer Akt, in dem sich verschiedene soziale Gruppen in einer »Performance« zusammenschließen und eine soziale Ordnung erzeugen, die eine kulturelle Kohärenz schafft und das Potential gesellschaftlicher Gewalt eindämmt.

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Die Aufführung von Ritualen erfordert ein praktisches rituelles Wissen, das in mimetischen Prozessen erworben wird. In Ritualen und anderen sozialen Praktiken immateriellen kulturellen Erbes werden Differenz und Alterität bearbeitet.

Mimesis und mimetisches Lernen Die Praktiken immateriellen kulturellen Erbes werden von der jungen Generation zu einem erheblichen Teil in mimetischen Prozessen gelernt. Rituelles Wissen wird als praktisches Wissen in mimetischen Prozessen erworben. Dies geschieht vor allem dann, wenn Menschen an rituellen Inszenierungen und Aufführungen teilnehmen. Mimetische Prozesse sind Prozesse kreativer Nachahmung, die sich auf Modelle und Vorbilder beziehen. In diesem Prozess möchte derjenige, der sich mimetisch verhält, wie sein Vorbild werden. Dieser Prozess der Anähnlichung ist von Mensch zu Mensch verschieden, hängt er doch davon ab, wie jemand sich zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst verhält. In mimetischen Prozessen nimmt ein Mensch gleichsam einen »Abdruck« von der sozialen Welt und macht dadurch diese zum Teil seiner selbst. In diesem Prozess wird das immaterielle kulturelle Erbe an die nachwachsende Generation weitergegeben (Gebauer/Wulf 1992, 1998, 2003). Die Bedeutung mimetischer Prozesse für die Weitergabe von Praktiken immateriellen kulturellen Erbes einschließlich der pädagogischen Praktiken kann kaum überschätzt werden. Diese Prozesse sind sinnlich; sie sind an den menschlichen Körper gebunden, beziehen sich auf das menschliche Verhalten und vollziehen sich häufig unbewusst. Durch mimetische Prozesse inkorporieren Menschen Bilder und Schemata von Ritualen und anderen sozialen Praktiken. Diese werden Teil ihrer inneren Bilder- und Vorstellungswelt. Mimetische Prozesse überführen die Welt immateriellen kulturellen Erbes in die innere Welt der Menschen. Sie tragen dazu bei, diese innere Welt kulturell anzureichern und zu erweitern, d.h. sie führen zur Entwicklung und Bildung der Menschen. In mimetischen Prozessen wird praktisches Wissen als zentraler Teil immateriellen kulturellen Erbes erworben. Dieses kulturell unterschiedliche Wissen entwickelt sich im Kontext der Aufführungen des Körpers und spielt eine besondere Rolle dabei, kulturelle Aufführungen in veränderter Form hervorzubringen. Als praktische Form des Wissens ist dieses Wissen das Ergebnis einer mimetischen Verarbeitung performativen Verhaltens, das selbst aus einem praktischen, körperbasierten know how entsteht. Da praktisches Wissen, Mimesis und Performativität wechselseitig miteinander verschränkt sind, spielt die Wiederholung bei der Weitergabe immateriellen kulturellen Wissens eine große Rolle. Kulturelle Kompetenz entsteht nur in Fällen, in denen ein sozial geformtes Verhalten wiederholt und in der Wiederholung verändert wird. Ohne Wiederholung, ohne den

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70 | II Interkulturelle Bildung mimetischen Bezug zu etwas Gegenwärtigem oder Vergangenem kann keine kulturelle Kompetenz entstehen. Deswegen ist Wiederholung ein zentraler Aspekt der Übermittlung des immateriellen kulturellen Erbes in Erziehung und Bildung.

Andersheit und Alterität Um kulturelle Vielfalt zu schützen, bedarf es einer Sensibilisierung für den Anderen. Um die Reduktion kultureller Verschiedenheit auf das Gleiche und die Homogenisierung kultureller Mannigfaltigkeit zu vermeiden, bedarf es einer Sensibilisierung für kulturelle Heterogenität, d.h. für Andersheit und Alterität. Nur dadurch, dass ein Sinn für die Alterität entwickelt wird, kann die Vereinheitlichung von Kultur vermieden werden, zu der die uniformierenden Globalisierungsprozesse tendieren. Hervorragende Zeugnisse und alltägliche soziale Praktiken immateriellen kulturellen Erbes spielen für die Erfahrung von Andersheit und Alterität eine zentrale Rolle. Die Globalisierung hat drei Strategien zur Reduktion von Alterität entwickelt: Egozentrismus, Logozentrismus und Ethnozentrismus (Waldenfels 1990; s.o., Kap. 4). Sie sind wechselseitig miteinander verbunden; als Strategien der Umformung des Anderen verstärken sie einander. Ihr gemeinsames Ziel besteht darin, die Andersartigkeit zu zerstören und an deren Stelle Vertrautes zu setzen. Die Vernichtung der Mannigfaltigkeit der Kulturen ist die Folge. Menschen konnten nur überleben, wenn sie die Kultur der Sieger übernahmen. Besonders tragisch ist diese Situation in den Fällen, in denen sie zur Auslöschung der lokalen und regionalen Kulturen führte. Aber wenn es auch einmal so ausgesehen haben mag, als ließen sich Andersheit und Alterität allmählich auflösen: Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen deutlich, dass dies nicht möglich ist. Wir erleben, wie Dinge, Situationen und Menschen inmitten unserer vertrauten Alltagswelt plötzlich fremd und unbekannt werden. Wir leben in einer Zeit, in der Normen des Lebens, die lange gegolten haben, in Frage gestellt werden und ihre Gültigkeit verlieren. Der Versuch, durch die Ausweitung des Verstehens des Anderen habhaft zu werden, hat nicht zum Erfolg geführt: Immer mehr Menschen machen die Erfahrung, dass das Vertraute des Lebensalltags von Unsicherheit begleitet ist, aus der immer wieder Erfahrungen des Fremden entstehen. Lange für gültig gehaltene Zusammenhänge erscheinen plötzlich verändert und unsicher. Je mehr wir wissen, desto größer wird die Komplexität der Welt, der sozialen Zusammenhänge und unseres eigenen Lebens. Je mehr wir wissen, desto mehr wächst das Nicht-Wissen. Auch wenn häufig versucht wird, den Anderen auf den Selben zu reduzieren, so gelingt dies nicht. Nach wie vor ist Fremdheit eine Bedingung kultureller Vielfalt. Um junge Menschen für den Wert kultureller Vielfalt und die Bedeu-

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tung des Schutzes und der Förderung des immateriellen kulturellen Erbes zu sensibilisieren, bedürfen sie der Erfahrung der Alterität. Nur mit Hilfe dieser Erfahrung sind sie in der Lage, mit Fremdheit und Differenz umzugehen und ein Interesse am Nicht-Identischen zu entwickeln. Individuen sind keine in sich geschlossenen Entitäten. Sie bestehen aus vielen widersprüchlichen und fragmentarischen Elementen. Neben Rimbauds Diktum »Ich ist ein Anderer« weist auch Freuds Wort, wonach das Ich nicht Herr in seinem Hause sei, in diese Richtung. Die Integration der aus dem Selbstbild ausgeschlossenen Teile der Subjekte ist eine Bedingung dafür, dass Andersartigkeit und Alterität auch im Außen wahrgenommen und respektiert werden können. Nur wenn Menschen ihre eigene Alterität wahrzunehmen vermögen, sind sie in der Lage, die Andersartigkeit anderer Menschen wahrzunehmen und mit ihr umzugehen. Gelingt es, das Andere in der eigenen Kultur wahrzunehmen, entsteht Interesse am Fremden in anderen Kulturen und die Möglichkeit, dieses wertzuschätzen. Dazu ist es notwendig, die Fähigkeit zu entwickeln, vom Anderen her, also heterologisch zu denken und zu versuchen, sich selbst mit den Augen anderer Menschen zu sehen.

Interkulturelle Bildung und die Notwendigkeit anthropologischer Forschung Um junge Menschen für den Wert kultureller Vielfalt und für die Bedeutung des Schutzes und der Förderung immateriellen kulturellen Erbes zu gewinnen, bedarf es heute in der Erziehung mehr als jemals zuvor der Berücksichtigung interkultureller und transkultureller Perspektiven. Sie erfordern ein Interesse an kultureller Vielfalt und Alterität. Viele Menschen gehören heute nicht nur einer Kultur, sondern mehreren unterschiedlichen kulturellen Traditionen an. Interkulturelle bzw. transkulturelle Bildung unterstützt sie dabei, mit den kulturellen Unterschieden in ihrer eigenen Person, in ihrem Umfeld und in der Begegnung mit Anderen zurechtzukommen. Da Identität nicht ohne Alterität gedacht werden kann, beinhaltet interkulturelle Erziehung eine relationale Verbindung zwischen einem fraktalen irreduziblen Subjekt und vielen Formen von Alterität. In diesen Prozessen gewinnen hybride Formen der Kultur zunehmend an Bedeutung (Featherstone 1995; Wulf 1995, 1998; Wulf/ Merkel 2002). Da die Frage nach dem Verständnis anderer Menschen auf das Selbstverständnis und umgekehrt die Frage nach dem Selbstverständnis auf das Verständnis anderer Menschen verweisen, ist der Prozess interkultureller Erziehung auch ein Prozess der Selbsterziehung. Wenn er erfolgreich ist, führt er zur Einsicht in die prinzipielle Unverstehbarkeit des Anderen. Angesichts der Entzauberung der Welt und der Verringerung der kulturellen Vielfalt entsteht die Gefahr, dass die Menschen in der Welt nur noch sich selbst und ihren Produkten begegnen und dieser Mangel an Fremdheit zur Reduktion der Welt- und Selbsterfahrung führt. Wenn die

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72 | II Interkulturelle Bildung Verringerung kultureller Vielfalt den Reichtum menschlichen Lebens gefährdet, so ist die Förderung kultureller Differenz auch eine zentrale Aufgabe von Erziehung und Bildung. Kulturelles bzw. interkulturelles Lernen darf nicht auf die Fähigkeit zum Umgang mit Minoritäten begrenzt werden. Vielmehr ist Bildung heute in Europa eine interkulturelle Aufgabe, in deren Rahmen der Umgang mit fremden Kulturen, mit der Alterität der eigenen Kultur und mit dem Anderen im eigenen Subjekt von zentraler Bedeutung ist. So gesehen erfordert interkulturelles Lernen auch heterologisches Denken. Um die Spannungen zwischen den Zielen der Erhaltung und Förderung immateriellen kulturellen Erbes und der Dynamik der Veränderung zu begreifen, bedarf es nachhaltiger anthropologischer Forschungen. Solche Forschungen umfassen wenigstens drei anthropologische Paradigmen: die philosophische Anthropologie, wie sie in Deutschland entwickelt wurde und hier auf Immanuel Kant zurückgeht, die den prinzipiell offenen Charakter menschlicher Geschichte und die Möglichkeiten menschlicher Perfektibilität betont; die historische Anthropologie der »Schule der Annales«, in der der historische Charakter menschlicher Kultur und Fragen der Erforschung von Mentalität im Zentrum stehen; die angelsächsische Kulturanthropologie oder Ethnologie mit ihrem Interesse an kultureller Vielfalt und Heterogenität (Wulf 2004; s.u., Kap. 10). Auf der Basis dieser drei Paradigmen der Anthropologie bedarf es der Entwicklung einer historisch-kulturellen Anthropologie, die nicht auf bestimmte Kulturen und Epochen begrenzt ist. In der Reflexion der eigenen Geschichtlichkeit und Kulturalität muss diese Anthropologie in der Lage sein, den Eurozentrismus der Humanwissenschaften und das bloße historische Interesse an der Geschichte zu überwinden und sich für die ungelösten Probleme der Gegenwart und der Zukunft zu öffnen (Wulf 1997). Eine solche Anthropologie bedarf der philosophischen Selbstkritik und erfordert transdisziplinäre und transkulturelle Forschung. Mit ihren Untersuchungen kann eine historisch-kulturwissenschaftliche Anthropologie zu einer Analyse der Spannungen zwischen dem kulturellen Erbe und den Dynamiken der Globalisierung beitragen (Wulf/Merkel 2002). In der gegenwärtigen Situation sind diese Forschungen von erheblicher Bedeutung. Sie leisten zum Verständnis der Rolle der Praktiken des immateriellen Erbes für kulturell vielfältige Bildungsprozesse einen wichtigen Beitrag.

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6. Von der internationalen Zusammenarbeit zur interkulturellen Kooperation – Neue Aufgaben universitärer Bildung

In allen nationalen und internationalen Empfehlungen zur Aufgabenbestimmung der Universitäten wird ihre Bedeutung für die Globalisierung von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur betont. Seit einigen Jahren ist diese Dimension universitärer Arbeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Politik und Öffentlichkeit sehen in den Universitäten Institutionen, denen die Aufgabe zukommt, die Internationalisierung der Wissenschaft, der akademischen Ausbildung und der Kooperation voranzutreiben. Zwar spielt die Berücksichtigung der internationalen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu einem Thema der Forschung schon seit längerem eine wichtige Rolle, doch sind die Internationalisierung der akademischen Ausbildung, der Umfang und die Intensität der internationalen Kooperation in Forschung und Lehre in den letzten Jahren stark gewachsen. In besonderem Maße gilt dies für den europäischen Raum, in dem von den Universitäten ein wesentlicher Beitrag zur Entwicklung der Europäischen Union erwartet wird. In den Ländern der Dritten Welt erhofft man sich von der Internationalisierung der Forschung und Lehre einen Beitrag zu einer anders nicht finanzierbaren Qualitätsverbesserung der Universität. Statt eigene spezialisierte Ausbildungsgänge aufzubauen, vermittelt man hoch qualifizierten Studenten ein Dissertationsstudium im Ausland, um sie dort weiterzuqualifizieren und dadurch ihren Heimatländern Kosten zu sparen. Dass diese Studenten nach Abschluss ihres Studiums häufig nicht mehr in ihre Heimatländer zurückkehren, führt dann zu dem in den Ländern der Dritten Welt gefürchteten brain drain. Den Gewinn haben in diesen Fällen oft die reicheren Länder, die mit Hilfe des Promotionsstudiums hochqualifizierte Spezialisten gewinnen. Von 437 Millionen Studenten im Jahre 1960 (14 Prozent der Weltbevölkerung) sind die Studentenzahlen auf 990 Millionen im Jahre 1991

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74 | II Interkulturelle Bildung (18 Prozent der Weltbevölkerung) gestiegen. Dementsprechend hat der Hochschulbereich im Gesamt des Bildungswesens an Bedeutung gewonnen. Ein Ende des Wachstums der Nachfrage nach Studienplätzen ist nicht abzusehen. Hochschulbildung wird für immer mehr Menschen erstrebenswert. Entsprechend wächst die Zahl der Menschen, von denen man einen Beitrag zur Gestaltung der Internationalisierung bzw. Globalisierung des Lebens im 21. Jahrhundert erwartet. Wie können die Hochschulen die in dieser Hinsicht an sie gerichteten Erwartungen erfüllen? Trotz moderner Technologien sind eine Steigerung der Mobilität von Professoren und Studenten und eine Intensivierung der internationalen Kooperation in Forschung und Lehre ohne zusätzliche finanzielle Aufwendungen nicht möglich. In der gegenwärtigen Weltwirtschaftslage ist es schwierig, zusätzliche finanzielle Mittel für diesen Zweck zu erhalten. In den meisten Ländern sind die Universitäten heute dem Zwang ausgesetzt, trotz wachsender Studentenzahlen ihre Haushalte zu reduzieren. In einigen Ländern führt das zu einer Situation, in der die Funktionsfähigkeit der Universitäten bedroht ist. In einer Situation, in der die Nachfrage nach Hochschulbildung steigt, wissenschaftliche Disziplinen expandieren und in der Öffentlichkeit die Frage nach Wert und Leistung der Universität für den Einzelnen und die Gesellschaft auf die ökonomische Frage reduziert wird, welchen Umfang und welche Qualität universitärer Forschung und Lehre man sich überhaupt leisten könne, ist es schwer, kostenintensive Innovationen zu fordern. Dies ist selbst dann der Fall, wenn Konsens darüber besteht, dass die Förderung interdisziplinärer und transdisziplinärer Forschung und die internationale Vernetzung und Kooperation für die akademische Bildung und Ausbildung im 21. Jahrhundert unerlässlich ist und ohne zusätzliche Finanzierung nicht realisiert werden kann. Die Reduzierung der individuellen und der gesellschaftlichen Funktion der Universitäten auf die ökonomische Dimension, wie sie in der internationalen Diskussion infolge der Weltbankempfehlung von 1994 beobachtbar ist, bringt bereits mittelfristig eine Fülle nicht gewollter und zum Teil gefährlicher Nebenwirkungen hervor. Die in dieser Empfehlung enthaltenen Gesichtspunkte zur Reform der Universität begreifen Universitäten lediglich als Wirtschaftsunternehmen, die Cost-benefit- bzw. Cost-effectiveness-Kriterien zu unterwerfen seien. Wer sich jedoch mit den Problemen der Evaluation von Bildungsinstitutionen und mit den Schwierigkeiten der Messung und Einschätzung ihrer Leistungen unter Berücksichtigung unterschiedlicher Zeithorizonte befasst hat, weiß, wie komplex Evaluationsforschung ist und wie begrenzt häufig der Wert selbst umfangreicher Evaluationen ist (Wulf 1972; Diederich/Wulf 1979). Evaluationen erfassen nur, was evaluierbar ist; was aber evaluierbar ist, ist nur ein Ausschnitt aus dem, was in der universitären Forschung und Lehre wichtig ist. Dies ist kein grundsätzlicher Einwand gegen Evaluation, sondern lediglich ein Plädoyer für ein kritisches Bewusstsein gegenüber den Möglichkeiten und Grenzen der Evaluation im Hochschulbereich. Die Reduzierung der

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Evaluation auf ökonomische Gesichtspunkte birgt die Gefahr, dass lediglich die Aspekte universitärer Forschung und Lehre gefördert werden, die unmittelbar ökonomisch relevant sind, während die vielen anderen Aufgaben der Universität für die Bildung und Ausbildung der nachwachsenden Generation und die Entwicklung der Gesellschaft nur unzureichend in den Blick geraten. Selbst wenn man Evaluation nicht auf die Verwendung quantifizierender Daten reduziert, sondern sie als Beschreibung und Bewertung von Bildungssystemen begreift, ist es schwierig, so komplexe Prozesse wie die Funktion des Universitätswesens für die Entstehung und Aufrechterhaltung partizipatorischer Demokratie einzuschätzen. Dass jedoch den Universitäten für die Ausbildung demokratischer Eliten hier große Bedeutung zukommt, ist offensichtlich. Gleiches gilt für die Entstehung globalen Bewusstseins mit den in diesem Begriff enthaltenen politischen und ethischen Implikationen. Daher ist Skepsis gegen Empfehlungen geboten, die die universitären Finanzprobleme mit Hilfe privatwirtschaftlicher Finanzquellen lösen möchten. Denn die Interessen der Privatwirtschaft sind vorwiegend ökonomisch und daher mit den Aufgaben der Universität nur partiell in Übereinstimmung zu bringen. Dies gilt für alle wissenschaftlichen Disziplinen, besonders jedoch für die Geistes- und Kulturwissenschaften. Zwar lässt sich in einigen wirtschaftsnahen Bereichen die Qualität universitärer Forschung und Lehre mit Hilfe privater Investitionen verbessern, doch wird man von diesen Finanzierungsquellen keinen größeren Beitrag zur Förderung nicht wirtschaftsnaher Forschungs- und Ausbildungsbereiche oder gar der Chancengerechtigkeit unter den Studenten erwarten können. Die gegenwärtig von Politik und Öffentlichkeit hoch bewertete Einwerbung von Drittmitteln zur Finanzierung von Forschung und Lehre muss sich mit der Frage konfrontieren lassen, welchen Charakter die mit Drittmitteln finanzierte Forschung hat. Wer Forschungsanträge zu begutachten hat und in Kommissionen zur Vergabe von Drittmitteln arbeitet, weiß, dass in den Verfahren, mithilfe derer die Vergabe von Mitteln auf der Basis von Anträgen erfolgt, bestimmte Arten von Forschung begünstigt und gefördert, andere hingegen benachteiligt oder gar verhindert werden. Je stärker projektierte Forschung der Logik von Anträgen und Antragsstellungen entspricht, desto größer ist ihre Chance, gefördert zu werden. Im Rahmen der gängigen Verfahren lässt sich auch das Problem kaum handhaben, das dadurch entsteht, dass es »Profis« der Antragstellung gibt, deren Fähigkeit, der Logik der Antragstellung und Antragsentscheidung zu entsprechen, häufig Projektanträge besser aussehen lässt als sie es tatsächlich sind. Das allen diesen Verfahren zugrunde liegende Cost-effectiveness-Modell führt zur Beurteilung von Anträgen und erwarteten Ergebnissen auf der Basis dieser Logik. Nicht immer wird dadurch die bessere Forschung gefördert. Trotz dieser Einwände gibt es zur Zeit kein besseres Modell der Forschungsförderung. Doch man muss sich seiner Grenzen bewusst bleiben. Die Grenzen dieses Modells für die Hervorbringung neuen und originellen Wissens zeigen sich auch darin, dass in den Geistes- und Sozialwissen-

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76 | II Interkulturelle Bildung schaften viele der in der Öffentlichkeit wichtig gewordenen Gedanken und Perspektiven nicht im Rahmen dieser Forschungsförderung mithilfe von Drittmitteln entstehen. Der Rückzug des Staates aus der Finanzierung der Universitäten im Rahmen eines »Cost-Sharing«, bei dem ein Drittel der benötigten Finanzen durch die Studenten und den Privatsektor aufgebracht werden sollen, ist problematisch. Wird er realisiert, muss man mit einschneidenden Veränderungen im Universitätswesen rechnen. Infolge der Veränderung der Finanzierung wird es zu einer Veränderung der Schwerpunkte universitärer Ausrichtung in Forschung und Lehre kommen. Erkenntnis, die um ihrer selbst willen gesucht wird und von der kein unmittelbarer Nutzen zu erwarten ist, die aber gerade in ihrem nicht-funktionalen Charakter ihren Wert hat, wird es schwerer haben, sich zu bilden und sich zu artikulieren. Nicht-instrumentelles Denken, das für viele Lebensbereiche von zentraler Bedeutung ist und das in einigen Bereichen der Universität noch immer seinen Ort hat, wird bei einer noch stärkeren Ausrichtung der Institution am zweckrationalen Denken immer mehr aus dem sozialen und dem kulturellen Diskurs verdrängt werden. Der Schaden für die Qualität gesellschaftlichen und kulturellen Lebens ist unübersehbar. Es besteht die Gefahr, dass nur noch diejenigen Prozesse des Lernens Aufmerksamkeit und Unterstützung finden, die sich der instrumentellen Logik der Ökonomie, dem zweckrationalen Handeln, der Nützlichkeit unterordnen. Auf der Strecke bleiben Bildungsprozesse, die in Widerspruch zu Disziplinierungs- und Verdinglichungszwängen der Gesellschaft geraten. Bezogen auf die Möglichkeiten und Grenzen der internationalen Kooperation in Forschung und Lehre führen die beschriebenen Entwicklungen in den Universitäten dazu, dass nur eine eingeschränkte Sicht internationaler Zusammenarbeit in Forschung und Lehre zugelassen wird. Gefördert wird auch hier, was im Sinne der obigen Ausführungen maximale Kostenausnutzung und Effizienzsteigerung verspricht. Übersehen wird dabei, dass viele Lernprozesse, die mittel- und langfristig eine neue Qualität internationaler Zusammenarbeit sichern, nicht den Kriterien kurzfristiger Effizienzsteigerung und maximaler Kostenausnutzung genügen können. Viele der von den Erasmusstudenten berichteten Erfahrungen im europäischen Ausland machen dies deutlich. Die komplexen Bildungsprozesse von Individuen lassen sich unter Cost-effectiveness-Gesichtspunkten nur unzureichend beschreiben und verstehen. Sie sind es aber, die langfristig zu tiefer greifenden Veränderungen in den internationalen und interkulturellen Beziehungen führen. Sie zeigen die Grenzen des zweckrationalen Umgangs mit Menschen auf und machen deutlich, dass Bildungsprozesse Raum zur Selbstgestaltung und Eigeninitiative erfordern, in deren Rahmen Irrtum und Zeitverschwendung auch ihren Platz haben müssen, auf dass wirklich kreative Innovationen entstehen können. Versucht man die vielfältigen Aufgaben universitärer Forschung und Lehre zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu bestimmen, kann man in Überein-

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stimmung mit der UNESCO-Empfehlung zur Reform der Universitäten von 1995 folgende Aufgaben festhalten: • • • • • •

Demokratisierung der Gesellschaft, Globalisierung von Politik, Kultur und Wirtschaft, Regionalisierung von Kultur, Bildung, Umweltfrage, Arbeitsmarkt und Infrastruktur, Abbau von Ungleichheit zwischen den Weltregionen, Vermeidung der Marginalisierung von Gesellschaften, Vermeidung der Fragmentarisierung von Ethnien und kleineren Staaten.

Universitäten sollen ihren Beitrag zur Ermöglichung nachhaltiger Entwicklung (vgl. Nationaler Aktionsplan 2005) leisten und die Gesellschaften dabei unterstützen, sich den Veränderungen der Lebensbedingungen anzupassen und sie kreativ zu gestalten. Universitäre Bildung hat die Aufgabe, gesellschaftliche, soziale und kulturelle Veränderungen und Reformen zu fördern und möglichst viele Menschen zur Produktion von Wissen und kulturellen Gütern zu befähigen. In der Sicht der UNESCO kommen ihr vor allem drei Aufgaben zu: •





Vermittlung wissenschaftlichen Wissens an die nachfolgende Generation mit dem Ziel, zu einem verantwortlichen Umgang mit der Umwelt, zu internationaler Verständigung und zur Verwirklichung der Menschenrechte beizutragen. Erhaltung und Weiterentwicklung des kulturellen Erbes vieler Gesellschaften und Bearbeitung der Erfordernisse von Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur in den verschiedenen Regionen und Ländern. Verbesserung und Internationalisierung von Erziehung und Bildung auf allen Ebenen, Verwirklichung demokratischer, auf den Menschenrechten basierender Gesellschaften, Verringerung von Armut, Verbesserung von Gesundheit und Ernährung, Förderung nachhaltiger Entwicklung.

Universitätsbildung soll sich in das Konzept lebenslangen Lernens einpassen. Sie soll Verständnis für die Prozesse der Globalisierung mit ihren wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Auswirkungen vermitteln. Um diese Aufgaben zu erfüllen, bedarf es universitärer Autonomie und akademischer Freiheit. Aus ihnen erwachsen kritische Reflexion und gesellschaftliche Verantwortung. Erforderlich sind heute interdisziplinäre, multidisziplinäre oder transdisziplinäre Forschung und Lehre sowie die Suche nach neuen, den veränderten Bedingungen der gegenwärtigen Welt gerecht werdenden Formen universitärer Arbeit. Universitäre Qualität ist ein multidimensionales Konstrukt, in Bezug auf das jede Reduktion zu vermeiden ist. Garantiert wird sie vor allem durch die fachliche Kompetenz und Kreativität der Hochschul-

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78 | II Interkulturelle Bildung lehrer. Doch auch die internationale Kooperation in Forschung und Lehre leistet einen wichtigen Beitrag zur Sicherung universitärer Qualität. Betrachtet man die Anforderungen an internationale Kooperation, so fällt auf, dass sie in der Regel allgemein gehalten sind und über die Angabe formaler Zielsetzungen kaum hinausgehen. Da die internationale Kooperation trotz aller Fortschritte in den letzten Jahren noch immer in ihren Anfängen steckt, überrascht dies auch nicht. Betrachtet man universitäre Forschung und Lehre unter dem Anspruch einer auf ökonomischen Prinzipien beruhenden Effizienzsteigerung, dann ergeben sich aus dieser Sicht auch Konsequenzen für die Internationalisierung universitärer Forschung und Lehre. Internationale Kooperation erscheint nur insoweit sinnvoll, als sie sich den Prinzipien der Effizienzsteigerung und der instrumentellen Vernunft unterordnet und zu deren Optimierung beiträgt. In dieser Sicht von internationaler Kooperation kommt lediglich eine sehr eingeschränkte Perspektive auf die Möglichkeiten internationaler Kooperation zur Wirkung. Hier legt die planerische und operative Vernunft bereits am Anfang der Kooperation fest, wer welche Teile des Projekts mit wem zu welchem Zeitpunkt bearbeitet. Der Referenzrahmen des Projekts ist von vornherein bekannt und festgelegt. Veränderungen werden nicht oder nur in geringem Ausmaß zugelassen. Der Referenzrahmen begründet die Angemessenheit der gemeinsamen Planung und der verabredeten Arbeitsteilung. Seine Stringenz und Festigkeit werden zum Garanten der Projektqualität. Er sichert die Begutachtbarkeit des Projekts. Die internationale Kooperation unterscheidet sich kaum von der nationalen. Internationale Kooperation bedeutet lediglich Zusammenarbeit auf der Basis von Arbeits-, Kompetenz- und Ressourcenteilung. In vielen Fällen führt sie daher auch nicht zur Entstehung einer neuen, der internationalen Zusammenarbeit geschuldeten Qualität der Forschung. In großen Bereichen naturwissenschaftlicher, medizinischer und technologischer internationaler Forschungskooperation ist eine derartige aus internationaler Kooperation hervorgehende neue Qualität der Forschung auch gar nicht das Ziel der Zusammenarbeit. Hier liegt das Interesse auf allgemeinen, zum Teil orts-, zeit- und kulturunabhängigen Fragestellungen, Forschungsprozessen und wissenschaftlichen Ergebnissen. Internationale Kooperation ist zielerreichende, arbeitsteilig verfahrende, ressourcensparende und Marktvorteile sichernde Zusammenarbeit. Anders vollzieht sich internationale Kooperation im Bereich der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Hier entstehen aus der internationalen Kooperation neue Fragestellungen, Themenkomplexe, Sichtweisen. Gesucht wird eine neue Qualität der Forschungen mit einer neuen Konstitution des Gegenstandes, einer Verbesserung der Untersuchungsmethoden und einer Steigerung der Komplexität der Forschungsergebnisse. Bereits die Ausarbeitung gemeinsamer Fragestellungen durch Forscher und Forscherinnen aus verschiedenen kulturellen Kontexten erfordert erhebliche Mühen. Denn die Sichtweisen von Angehörigen verschiedener Kulturen unterscheiden sich in vielen Punkten. Unterschiede in den kulturellen und

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wissenschaftlichen Traditionen kommen ins Spiel; Differenzen in den Werten und Einstellungen werden sichtbar; Unterschiede im Habitus des Forschens und Lehrens artikulieren sich deutlich. Häufig entsprechen Unterschiede in Habitusformen auch Differenzen zwischen den Sprachen und den Diskurstraditionen. In einem Kontext gelten pragmatische Zugänge zur Bestimmung von Problemen und ihrer Handhabung als angemessen, in einem anderen werden eher grundsätzliche philosophische Annäherungen gesucht und gefördert. Man begegnet Unterschieden in der Einschätzung empirischer bzw. historischer Verfahren, die zwar auch im nationalen Kontext bekannt sind, im internationalen jedoch noch einmal ein anderes Gewicht gewinnen. Ist schon Forschungskooperation in einem kulturellen Kontext komplex, so wächst die Komplexität der zu bewältigenden Aufgaben in der multikulturellen Kooperation. Gelöst werden muss das Problem der Sprache. Kann jeder Teilnehmer an der Kooperation seine Sprache sprechen und wird diese von den anderen verstanden? Besteht also in einem gemeinsamen Forschungsprojekt soviel Sprachkompetenz, dass jeder seine Sprache spricht und die des anderen versteht? Je nach Gegenstandsbereich wird dies manchmal der Fall sein, oft jedoch auch nicht. Wie verständigt man sich dann? Spricht der eine dann die Sprache des anderen und verständigt sich mit ihm in dessen Muttersprache? Geschieht dies, so ist derjenige, der seine Muttersprache im Projekt sprechen kann, im Vorteil. Denn in der Regel sind die Ausdrucksmöglichkeiten in einer Fremdsprache, selbst wenn man sie fließend spricht, reduziert. Das gilt vor allem, wenn neue Gedanken, Sichtweisen oder Erkenntnisse gesucht werden, deren Entstehen eng mit Sprachkompetenz verbunden ist. Oder wählen die Kooperationspartner, vor allem, wenn sie aus mehreren Ländern kommen, eine dritte Sprache als gemeinsame Fremdsprache, in der sie sich verständigen? In vielen Fällen wäre dies heute Englisch. Doch welche Konsequenzen beinhaltet eine derartige, auf den ersten Blick lediglich pragmatische Entscheidung? Nicht nur sind in diesem Fall die Kooperationspartner, die Englisch als Muttersprache sprechen, im Vorteil. Gravierender für eine gemeinsame Verständigung ist die Tatsache, dass durch die Wahl einer gemeinsamen Fremdsprache auch bestimmte Sichtweisen und Ausdrucksformen präformiert werden. Außerdem bestimmt die in dieser Sprache zum gemeinsamen Forschungskomplex vorliegende wissenschaftliche Literatur notwendigerweise den Referenzrahmen des gemeinsamen Projekts wesentlich und bevorteilt damit in der Ausrichtung eines Projekts Perspektiven, die sonst nicht von vornherein dieses starke Gewicht hätten. Vergegenwärtigt man sich, dass bestimmte Begriffe wie »Bildung« aus dem Deutschen nicht oder nur mit erheblicher Mühe in andere indogermanische Sprachen übersetzbar sind, wird die Situation noch schwieriger. In der Kooperation mit Kollegen aus dem arabischen, japanischen oder chinesischen Kulturkreis gewinnt das Übersetzungsproblem noch mehr Bedeutung für das Gelingen der Kommunikation. Bereits in einer deutsch-französisch-italienisch-englischen Arbeits-

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80 | II Interkulturelle Bildung gruppe zu Fragen der Umwelt wird deutlich: »Natur«, »nature«, »natura«, »nature« haben zwar den gleichen Ursprung im lateinischen Wort »natura«, so dass die Bedeutung des Wortes unstrittig zu sein scheint. Doch dies ist nur auf den ersten Blick der Fall. Beginnt man in gemeinsamen Diskussionen allmählich das Bedeutungsumfeld des Begriffs zu untersuchen, entdeckt man, dass sich die Konnotationen des Wortes in jeder Kultur erheblich unterscheiden, so dass sich die anfängliche Übereinkunft über die Bedeutungsgleichheit des Wortes in den verschiedenen Kulturen auflöst und der Anerkennung der beträchtlichen Differenzen weicht. An diesem Beispiel wird deutlich: Internationale Kooperation wird in vielen Bereichen zu interkultureller Kooperation. Und dieser gelingt es manchmal, neue Erkenntnisse zu erzeugen. In unserem Beispiel könnte aus der Einsicht in die Gemeinsamkeiten und Differenzen der Naturvorstellungen in verschiedenen europäischen Kulturen ein neues Verständnis von »Natur« entstehen, das man vielleicht als interkulturell bezeichnen könnte. Entsprechendes könnte bei den Begriffen »Religion« und »Erziehung/Bildung« geschehen. Damit entstünde mehr als eine internationale Bearbeitung der Begriffe. Bei den Teilnehmern einer solchen Arbeitsgruppe könnte es zur Erweiterung ihres bisherigen Naturverständnisses kommen, so dass dieses in der Zukunft auch Elemente aus dem Bedeutungsverständnis anderer Kulturen enthielte. Dadurch entstünde eine neue Komplexität des Begriffs und seiner Bedeutungen. Im Verlauf der Arbeit einer solchen interkulturellen Arbeitsgruppe käme es vielleicht zu weiteren Untersuchungen, in denen kulturelle Unterschiede zu Umweltfragen heute mit unterschiedlichen Konnotationen von »Natur« in Zusammenhang gebracht werden würden. Damit könnten historisch und kulturell bedingte Unterschiede im politischen Verhalten in Umweltfragen in neuem Zusammenhang sichtbar werden. Im Mittelpunkt derartiger Forschungen stehen die Erfahrung von Differenz und die dadurch bedingte Zunahme an Komplexität. Die interkulturelle Zusammenarbeit wird zu einer Organisationsform von Forschung, in deren Rahmen der produktive Umgang mit Unterschieden gelernt werden muss. Interkulturell wird diese Forschung, wenn sie nicht bei der Addition nationaler oder kultureller Differenzen stehen bleibt, sondern es ihr gelingt, Fragestellungen und methodische Vorgehensweisen zu entwickeln, die die kulturellen Differenzen so aufeinander beziehen, dass neue Perspektiven und Wissenszusammenhänge entstehen. In diesem Fall wird die interkulturelle Orientierung der Forschung zu einer ihre Produktivität bedingenden Voraussetzung. Vorsicht ist in diesen Prozessen im Hinblick auf die Ausklammerung »nicht passender« Gesichtspunkte geboten. Denn häufig gehen in diesen Prozess der Ausklammerung kulturspezifische Wertungen ein. Daher bedarf es einer wechselseitigen Kontrolle der kulturspezifischen Vorlieben durch die Projektteilnehmer. Diese ist um so wichtiger, als in derartige Ausklammerungsprozesse auch subtile Dominanzansprüche einfließen. Eine weitere Schwierigkeit interkulturell organisierter Forschung

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besteht darin, die Komplexität der Problemlage so zu verdichten, dass alle relevanten Aspekte berücksichtigt werden, ohne dass das Forschungsanliegen an Präzision verliert und in Beliebigkeit mündet. In einem derartigen Fall bestünde die Gefahr, dass Interkulturalität zur Bezeichnung unscharfer Fragestellungen, Zielsetzungen und Ergebnisse degeneriert. Um diese Gefahren interkultureller Forschungen zu vermeiden, bedarf es oft eines großzügiger kalkulierten Zeitrahmens. Auch spielt das Entstehen von Sympathien und kollegialer Freundschaft zwischen Forschern aus verschiedenen Kulturen eine noch größere Rolle als in kulturell eher homogenen Forschergruppen. Forscher aus verschiedenen nationalen Kontexten haben im Hintergrund ihrer Arbeit die Jahrhunderte alten Vorurteile der verschiedenen Kulturen übereinander zu gewärtigen, die sie nicht einfach negieren oder vergessen können. In Konfliktfällen werden diese Stereotypen wiedergeboren und entwickeln eine längst überwunden geglaubte Aktualität und Destruktivität. Offener Gedankenaustausch zwischen Forschern verschiedener Kulturen gelingt erst auf der Basis kollegialer Freundschaft, die erst im Verlauf längerer Zeiträume und intensiver Arbeitszusammenhänge entsteht. Daher bedarf es in interkulturellen Projekten einer konstruktiven Gestaltung der persönlichen Beziehungen zwischen den Forschern. Wenn sie gelingt, entsteht eine der wichtigsten Voraussetzungen interkultureller Kooperation. Denn kollegiale Freundschaft ermöglicht Nachsicht und Verständnis für den Anderen und Fremden. Im Mittelpunkt interkultureller Kooperation steht die Begegnung mit dem Fremden. Viele Formen der Erfahrung des Fremden sind möglich. Man kann lernen, mit dem Anderen zusammen zu leben, ihn oder sie in ihrer jeweiligen Ausprägung wahrzunehmen und zu akzeptieren. Man kann sein Wissen über den Anderen erweitern; man kann mit dem Anderen gemeinsam handeln und durch die Gemeinsamkeit des Handelns ihn oder sie kennen lernen. In interkulturellen Forschungsprojekten ergeben sich viele Begegnungen mit dem Anderen. Dazu gehören die Orte des Treffens, die gemeinsamen Mahlzeiten, die Gespräche miteinander über Leben, Arbeit und Kultur. Dazu gehört das Interesse an Kooperation, am Persönlichen und Beruflichen. Vieles fließt zusammen und ergibt das Fremde, mit dem sich zu beschäftigen Gewinn verspricht. Karriereinteressen, Freude am Reisen, Lust am Sprechen fremder Sprachen kommen hinzu und bilden Motive, die Kraft aufzubringen, sich in interkultureller Arbeit zu engagieren. Mancher sucht in der Erfahrung des Anderen auch das Fremde in sich, die Überraschung, mit dem Anderen anders als gewöhnlich zu sein. Faszination am Fremden außen und innen. Das Fremde hat keinen festen Kern. Es entsteht durch Relation und ist heute ein anderes als morgen. Es bildet sich und vergeht in Folge von Aufmerksamkeit, von plötzlichen Ereignissen und Irritationen. Es schafft Faszination und Intensität und motiviert zu gemeinsamer Erfahrung. Die Erfahrung des Fremden lässt sich nur in Grenzen planen. Sie ist kontingent. Sie ereignet sich oder auch nicht. Sie

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82 | II Interkulturelle Bildung verweigert sich der Assimilation, in der das Fremde auf das Eigene reduziert wird. Dem Fremden haftet Rätselhaftigkeit an. Es lässt sich nicht kolonialisieren oder eingemeinden. Wird dies erfolgreich versucht, geht es zugrunde. Das Fremde ist prinzipiell nicht verstehbar. Wird sein Verstehen konsequent betrieben, wird das Fremde dem Eigenen einverleibt. Dann wird Verstehen zu einer Machtstrategie. Was verstehbar ist, ist beherrschbar. Was verstanden ist, wird beherrscht und kontrolliert. Daher ist Zurückhaltung gegenüber dem Gestus des Verstehens des Fremden erforderlich; es bedarf des Verzichts auf die Ausweitung des Eigenen und die Zerstörung des Anderen. Von der prinzipiellen Nicht-Verstehbarkeit des Fremden auszugehen eröffnet einen Freiraum, sich mit ihm zu beschäftigen, ohne es zwingen zu müssen. Statt des Zugriffs des Verstehens ist besser ein Denken vom Anderen her, ein heterologisches Denken, das den Anderen unverletzt lässt und doch alle Möglichkeiten der Annäherung eröffnet. So wichtig internationale Kooperation im Universitätsbereich ist, interkulturelle Kooperation fügt ihr weitergehende Ansprüche hinzu. Interkulturelle Kooperation lässt aus der Begegnung mit Gemeinsamkeiten und Differenzen etwas Neues entstehen, das mehr ist als die Addition bekannter Wissensbestände. Interkulturelle Kooperation in Forschung und Lehre begnügt sich nicht mit dem in den Wissenschaftsdisziplinen gesicherten Wissen. Sie sucht eine neue Qualität des Wissens, die sie in einer transdisziplinären Anstrengung zu erreichen hofft, die über die Ziele interdisziplinärer bzw. multidisziplinärer Forschung hinausführt. Als transdisziplinäre Forschung ist interkulturelle Kooperation in hohem Maße experimentell. Die in ihr zu bewältigende Komplexität wird manche Irrtümer und Umwege unvermeidbar machen. Dennoch verspricht interkulturelle transdisziplinäre Forschung besonders in den Geistes- und Sozialwissenschaften neue Horizonte und Bezugspunkte, die für Erziehung und Bildung im 21. Jahrhundert unerlässlich sind.

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7. Interkulturelle Bildung – Erfahrungen aus deutsch-französischen Begegnungen

Interkulturelle Bildung und das Problem des Verstehens Mit dem Interkulturellen verhält es sich wie mit der Zeit. Solange man nicht direkt gefragt wird, was es denn sei, glaubt man es zu wissen. Sobald man jedoch eine präzise Antwort geben soll, entdeckt man die Unzulänglichkeit jeder Definition. Insofern »interkulturell« etwas bezeichnet, das für die zukünftige Entwicklung Europas von zentraler Bedeutung ist, können wir uns mit dieser Situation der Unschärfe und des mangelnden Wissens nicht abfinden. Am Beispiel deutsch-französischer Begegnungen soll der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen interkultureller Bildung nachgegangen werden. Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich werden zum Thema. Probleme der Abgrenzung beider Kulturen voneinander und des Austauschs zwischen ihnen werden bearbeitet. In diesem Prozess wird die Erfahrung unvermeidbar, dass alle Versuche, fremde Kulturen zu verstehen, nur einen begrenzten Erfolg haben. Obwohl die französische und die deutsche Kultur durch gemeinsame Ursprünge und Bezugspunkte sowie durch eine lange Geschichte wechselseitigen Austauschs verbunden sind, sind Erfahrungen der Fremdheit und des Nichtverstehens unvermeidbar. Das Bewusstsein der Unzulänglichkeit des Verstehens des Anderen stellt eine wesentliche Voraussetzung für den Austausch und die Entwicklung von Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ländern und beiden Kulturen dar. Für die Zukunft der Europäischen Union kommt der Frage, wie die Angehörigen nationaler Kulturen miteinander umgehen, eine entscheidende Bedeutung zu. Wie kann das Verhältnis zwischen Partikularem und Universellem, zwischen Ethnie und Nationalstaat, Region und Europa gestaltet werden? Wie kann das Besondere der verschiedenen europäischen Kulturen, das sich über viele Jahrhunderte nationalstaatlich entwickelt hat,

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84 | II Interkulturelle Bildung bei der Bildung einer Europäischen Union bewahrt werden, ohne dass dadurch die Entwicklung transnationaler europäischer Loyalitäten ausgeschlossen wird? Wie kann die kulturelle Vielfalt Europas im Rahmen einer europäischen Integration erhalten bleiben und eine neue Qualität gewinnen? Interkulturalität ist eine Chiffre für eine neue kulturelle Qualität Europas, die wesentlich durch einen anderen Umgang mit dem Fremden, dem Anderen der eigenen Kultur bestimmt wird. Gegenüber vielen Entwürfen und Modellen interkulturellen Lernens, die so tun, als sei ihre Entwicklung schon identisch mit ihrer Realisierung, ist entschiedene Skepsis geboten. Nach wie vor oszillieren die Bemühungen um interkulturelle Bildung zwischen Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit. Längst nicht alle Entwürfe für die Entwicklung interkulturellen Bewusstseins fördern die Entwicklung einer entsprechenden Praxis. Auch in diesem Bereich bleibt eine unaufhebbare Differenz zwischen der Logik der Wissenschaft und der Logik praktischen Wissens und praktischer Arbeit. Aufgabe des deutsch-französischen Jugendaustauschs ist die Förderung interkultureller Bildung. Durch wiederholte Begegnungen zwischen Jugendlichen aus Deutschland und Frankreich soll ein Verständnis für die Ähnlichkeit und die Andersartigkeit des anderen Landes geschaffen werden; es soll ein Interesse an seinen Menschen, seiner Sprache und seiner fremden Kultur entstehen. In diesen Prozessen ist das Problem weniger die Ähnlichkeit als die Differenz zwischen beiden Ländern und Kulturen. Nicht der Anspruch, den Anderen zu verstehen, sondern die Erkenntnis, dass der Andere different und nicht verstehbar ist, muss zum Ausgangspunkt interkultureller Bildung werden. Diese Erfahrung ist schwierig auszuhalten und führt zu einem Umdenken innerhalb vieler Bereiche interkultureller Bildung. Spätestens seit dem Beginn der Neuzeit ist die europäische Kultur darauf ausgerichtet, andere Völker und Menschen zu verstehen. Dazu hat sie vielfältige Verstehens-, Kommunikations- und Interaktionsstrategien entwickelt. Diese haben eine »Wut des Verstehens« realisiert, die sich bereits in der Auseinandersetzung Europas mit den Eingeborenenvölkern Lateinamerikas nachweisen lässt. Die Spanier gewannen ihre Überlegenheit gegenüber den Eingeborenen dadurch, dass sie diese in ihren Beweggründen und Motiven besser verstehen und daher Strategien zu ihrer Unterwerfung entwickeln konnten. Demgegenüber hatten die Eingeborenenvölker weit intensivere Formen der Kommunikation mit der Natur entwickelt. Verstehen ist also nicht nur ein Weg, den Anderen in seiner Andersheit zu akzeptieren. Häufig wird Verstehen zu einem Mittel für die Ausübung von Herrschaft und den Versuch, den Anderen zu unterwerfen. Aus pädagogischen, gruppendynamischen und therapeutischen Kontexten ist diese Verwendung von Strategien des Verstehens hinlänglich bekannt. Verstehen zielt auf Assimilation des Fremden. Mit den verfügbaren Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken wird der Versuch gemacht, das im Anderen erfahrene Fremde in Bekanntes zu übersetzen. Dieser

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7. Interkulturelle Bildung | 85

Prozess führt oft zur Zerstörung des Fremden. Denn als völlig Unbekanntes ist das Fremde weder sprachlich noch gedanklich fassbar; greifbar wird es erst, wenn es in etwas transformiert wird, das so strukturiert ist, dass es auch Momente des Vertrauten enthält. Wenn in der interkulturellen Begegnung zwischen deutschen und französischen Jugendlichen zu schnell von gegenseitiger Verständigung ausgegangen wird, wird die nicht verstehbare Differenz zwischen den Kulturen übergangen. Die Gefahr entsteht, dass die jungen Deutschen in den Franzosen nur das sehen, was sie selbst sind und was sie selbst sehen wollen. Daher ist es wichtig, die Jugendlichen beider Länder bei der Erfahrung der Differenz verweilen zu lassen. Sie gewährleistet die Erfahrung der Nicht-Assimilierbarkeit des Anderen. Diese Erfahrung bietet die Möglichkeit, die fremde Kultur nicht an den engen Maßstäben der eigenen Kultur, der eigenen Gewohnheiten und Einstellungen zu messen. Erst der Verzicht auf eine unmittelbare In-Bezug-Setzung zum Vertrauten und der Verzicht auf den Vergleich mit dem »Eigenen« ermöglichen Erfahrungen, die den bisherigen Horizont der Jugendlichen erweitern. Da die Erfahrung des Fremden die Gültigkeit der eigenen Maßstäbe relativiert, kann sie die bisherige Identität der Jugendlichen erschüttern. Auf eine solche Verunsicherung wird unterschiedlich reagiert. Häufig erfolgt ein Rückgriff auf gängige Stereotypen, um die Irritation abzuweisen und die Verunsicherung zu überwinden. Der Gebrauch von Stereotypen geschieht von einer nicht zur Disposition gestellten Position her und bietet durch deren scheinbar universellen Charakter Sicherheit. Diese erstreckt sich auf Gefühle, Vorstellungen und Urteile, die die Stereotype als angemessen erscheinen lassen. Häufig dienen in solchen Situationen der Verunsicherung Stereotype zur Kristallisation und Sicherung der negativen Empfindungen. Durch den Bezug der Affekte auf diese Stereotype erscheinen die eigenen Gefühle berechtigt und legitimiert. Stereotype reduzieren die Angst auslösende Komplexität der Situation der Begegnung mit dem Unbekannten auf den die Verunsicherung verringernden »festen Boden« einer mit anderen geteilten »Gewissheit« und schaffen so Eindeutigkeit und Übersichtlichkeit. So unvermeidlich Vorurteile und Stereotype bei ersten Annäherungen an das Fremde sind, interkulturelle Bildung zielt darauf, die psychosomatischen Blockaden aufzulösen, die dazu führen, auf ihnen zu beharren. Dass dies nicht leicht ist, zeigt die Beharrlichkeit von Stereotypen über andere Länder und Kulturen. Stereotype bieten den hohen Gewinn einer Komplexitätsreduktion und Angst vermindernder Sicherheit. Sie verhindern allerdings zugleich neue Erfahrungen und Horizonterweiterungen. Wenn im Zentrum interkultureller Bildung die Begegnung mit dem Fremden und die Auseinandersetzungen mit dem Anderen stehen, das man selbst nicht ist, so gilt es, die Kräfte zu stützen, die dazu beitragen, die Differenz zwischen Fremdem und Eigenem auszuhalten. Die Assimilierung des Fremden durch Verstehen und seine Auflösung durch seine Überführung in Bekanntes kann nicht das Ziel interkultureller Bildung sein.

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86 | II Interkulturelle Bildung Vielmehr muss es um Formen der Begegnung mit dem Fremden gehen, die dieses bestehen lassen und die dazu führen, gerade in seiner sich dem Verstehen entziehenden Andersheit die Herausforderung und den Gewinn der Begegnung mit dem Fremden zu sehen. So gesehen ist ein Verzicht auf »Verstehen«, »Anpassung«, »Empathie«, »Assimilierung«, »Identifikation« im Interesse der Differenz zum Anderen unvermeidbar.

Das Deutsch-Französische Jugendwerk Das 1963 infolge des Deutsch-Französischen Vertrags gegründete Jugendwerk entstand zu einer Zeit, als Vorstellungen von Interkultureller Bildung und Kommunikation noch kaum entwickelt waren. Doch bereits bei seiner Gründung gab es die praktischen Probleme, die später zur Entwicklung von Konzepten interkultureller Bildung und zu umfangreichen Erfahrungen in diesem Bereich führten. Aufgrund seiner Zielsetzungen und seiner Einbindung in die politische Administration und das in Deutschland und Frankreich unterschiedliche Verbandswesen ist das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) eine komplexe Institution, in der verschiedene Stile der Jugendarbeit und der politischen Verwaltung aufeinander bezogen und zur Kooperation gebracht werden müssen. Seit der Gründung des DFJW sind mehr als fünf Millionen Jugendliche in unterschiedlichen Programmen und Veranstaltungen gefördert worden (Bock 2003). Waren es in den 60er Jahren vor allem Begegnungsprogramme, in denen junge Deutsche Frankreich und junge Franzosen Deutschland kennen lernten, wurden die am Anfang der 70er Jahre in den Richtlinien des Jugendwerks formulierten Ziele politischer. In ihnen ist die Rede von »gegenseitigem Kennenlernen, Verständigung, Solidarität und Zusammenarbeit« (Protokoll der Kuratoriumssitzung vom 19.10.1973). Erstmals wurden auch klare Programmarten unterschieden: 1. Informations- und Kontaktprogramme (1979 ca. 46,5 Prozent); 2. Programme mit eingegrenzter Thematik zur intensiven Auseinandersetzung (1979: 17,07 Prozent); 3. langfristige Arbeits- und Studienaufenthalte (1979: 12,93 Prozent; Marmetschke 2003, S. 108). Hinzu kamen die Aufgaben der institutionellen Kooperation, der Ausbildung der Mitarbeiter und der Forschung. Insbesondere die beiden letzteren Aktivitäten führten zur Verbesserung der Qualität des Jugendaustauschs. In den 80er Jahren kam es im Rahmen der sich intensivierenden »deutsch-französischen Partnerschaft« zu einer weiteren Stabilisierung des DFJW. Begriffe wie »kontinuierliche Zusammenarbeit«, »Dialog mit den Partnern«, »Eigenverantwortung der Partner« gaben die Richtung der Arbeit an, die das DFJW zu einem festen Bestandteil der deutsch-französischen Partnerschaft machten. Zugleich gewann die europäische Orientierung im Jugendwerk an Bedeutung. Schließlich begann sich deutsch-französischer Jugendaustausch als Teil der europäischen Einigungsbewegung zu sehen.

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Neue Aufgaben ergaben sich auch nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Nun werden Jugendlichen Prozesse interkulturellen Lernens ermöglicht, die bis dahin von solchen oder ähnlichen Erfahrungen ausgeschlossen waren und denen von nun an besondere Aufmerksamkeit zugewandt wurde. Im Rahmen des Deutsch-Französischen Jugendwerks durchliefen die Vorstellungen vom interkulturellen Lernen im Verlauf von drei Jahrzehnten erhebliche Veränderungen. Anfangs war viel von Versöhnung, Freundschaft und Verständigung die Rede. Mittlerweile hat sich die Rhetorik der Beschreibung des deutsch-französischen Jugendaustauschs geändert. Man konzentriert sich weniger auf die Formulierung großer Ziele, betrachtet und analysiert dafür jedoch genauer, welche Prozesse sich bei den Begegnungen der Jugendlichen vollziehen. Die Austauschprozesse zwischen jungen Deutschen und jungen Franzosen sind zur Realität geworden. Sie müssen nicht mehr in jeder Hinsicht gelingen; sie dürfen auch realistische, und das heißt manchmal auch ambivalente Erfahrungen vermitteln. Der idealistische »Überschuss« der ersten Jahre ist nicht mehr »conditio sine qua non« eines sich bewährenden Jugendaustauschs. Als es möglich wurde, die deutsch-französischen Jugendbegegnungen auch für Jugendliche anderer Länder der Europäischen Union zu öffnen, vollzog sich eine einschneidende Veränderung. Trotz des nach wie vor gegebenen Schwerpunkts im deutsch-französischen Austausch entstand nun eine zunehmende Förderung des Verständnisses kultureller Vielfalt. In den Jugendbegegnungen gewann das über die bloße Förderung der deutsch-französischen Beziehungen hinausreichende interkulturelle Lernen an Bedeutung. Wie wichtig derartige Lernbedingungen für die junge Generation sind, wurde auch in der Europäischen Union gesehen, die eigene umfangreiche Programme des Jugendaustauschs zu entwickeln begann. Auch hier bemühte man sich verstärkt darum, die junge Generation für transnationale europäische Loyalitäten zu gewinnen. Seit langem schuf das Deutsch-Französische Jugendwerk Lernbedingungen, in denen junge Deutsche und junge Franzosen die Erfahrung des Fremden machen und den Umgang mit kultureller Differenz lernen konnten. Dadurch leistet das DFJW einen von seinen Gründern noch nicht antizipierten Beitrag dazu, dass junge Deutsche und junge Franzosen miteinander Erfahrungen machen, die nicht nur für die deutsch-französische Kooperation wichtig sind. Sie zielen auf kulturelle Diversität, deren Erfahrung auf den Umgang mit Alterität im europäischen Kontext und darüber hinaus übertragen werden kann. Junge Menschen lernen, mit dem Fremden in konstruktiver Weise umzugehen und erwerben Fähigkeiten, die ihnen helfen, sich in der kulturell vielfältigen Welt von heute zurecht zu finden; vereinzelt werden sie dabei auch die Nichtverstehbarkeit einer fremden Kultur erleben. Von dieser Voraussetzung ausgehend ist es möglich, Assimilierungsprozesse des Fremden zu vermeiden, die das Fremde in Vertrautes umwandeln und dadurch seine Alterität auflösen. Gelingt es, dieser Versuchung nach Reduktion des Fremden auf Bekanntes

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88 | II Interkulturelle Bildung zu widerstehen, können Erfahrungen der Alterität zur Ausweitung der eigenen Bezugspunkte und zur Bereicherung der Sicht der Welt und des Anderen führen. Mit diesen Zielsetzungen stellt sich nachhaltig die Frage, wie denn Erziehung und Bildung in der Zukunft aussehen sollen. Bei den meisten Menschen in Europa gibt es eine Verankerung ihrer Erziehung und Bildung in gewachsenen regionalen bzw. nationalen Kulturen, die es ihnen erlaubt, sich zu beheimaten. Die Prozesse der europäischen Einigung und der Globalisierung von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur machen es erforderlich, dass junge Menschen lernen, mit kultureller Vielfalt umzugehen und mit Menschen aus anderen Kulturen zu kooperieren. Nur wenn der Umgang mit Alterität gelernt wird, wird eine Kooperationsfähigkeit entwickelt, bei der Vielfalt als kultureller Wert berücksichtigt wird.

Rituale als Formen interkultureller Bildung im deutsch-französischen Jugendaustausch Interkulturelle Bildung findet im Deutsch-Französischen Jugendwerk durch Jugendaustausch statt. Seit mehr als dreißig Jahren erhalten deutsche und französische Jugendliche jährlich in mehreren tausend Veranstaltungen die Möglichkeit, Jugendliche des anderen Landes zu treffen. Bei diesen Begegnungen geht es zunächst darum, Zeit miteinander im eigenen oder fremden Land zu verbringen, Fragen gemeinsamen Interesses zu diskutieren und einander kennen zu lernen. In den Anfängen des Jugendwerks galt es, aus den Kriegserfahrungen stammende Vorurteile über das andere Land abzubauen und dadurch einen Beitrag zur deutsch-französischen Verständigung zu leisten. Hierin sahen die Initiatoren des Jugendwerks, Adenauer und de Gaulle, eine entscheidende Voraussetzung für den Aufbau eines gemeinsamen Europas. Längst hat sich das Jugendwerk für die Beteiligung von Jugendlichen anderer europäischer Länder geöffnet. An vielen Programmen und Veranstaltungen nehmen junge Menschen aus einem dritten europäischen Land teil, wodurch häufig fruchtbare Konstellationen entstehen. Mittlerweile gehört der Jugendaustausch zum Alltag der deutsch-französischen Beziehungen und der Jugendarbeit in beiden Ländern. Mit seiner Selbstverständlichkeit wachsen die Möglichkeiten, die Andersartigkeit von Franzosen und Deutschen wahrzunehmen und offen anzusprechen, anstatt die Wahrnehmung und die Artikulation der Differenz einem falsch verstandenen Zwang zu oberflächlicher Verständigung und Gemeinsamkeit unterzuordnen. Zur Verdeutlichung des Gemeinten sei der seit langem im deutsch-französischen Jugendaustausch engagierte Pariser Ethnologe Pascal Dibie mit zwei Differenzbeobachtungen zitiert: »Doch was sehen wir nun als Franzosen, wenn wir bei Deutschen zum Essen zu Gast sind? Obwohl die Rahmenbedingungen, Tisch, Stühle, Gedecke unseren ver-

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7. Interkulturelle Bildung | 89 gleichbar sind, stellen wir fest, daß sich die Anordnung der Gedecke, das Ritual der Mahlzeit, die Art der Nahrungsmittel und ihr Geschmack erheblich von unseren unterscheiden. Da es sich bei ihnen um gastfreundliche Wesen handelt, laden uns diese ›Fremden‹ ein, einige Tage bei ihnen zu verbringen. Wir stellen nunmehr mit Erstaunen fest, daß sie kein ›richtiges‹ Abendessen kennen, sondern nur eine Art abendliches zweites Frühstück auf der Basis von Brotschnitten von seltsamer Farbe und Aussehen sowie von Wurst und Käse – das berühmte Abendbrot. Beschleunigt von den Anstrengungen der Reise, kommt der Moment, schlafen zu gehen. Ein deutsches Schlafzimmer sieht einem unsrigen zum Verwechseln ähnlich – gehen wir von der Betonkonstruktion aus, in der es sich befindet. Doch nun beginnt der Ärger: Wie soll man in diesem seltsamen Bett mit harter, zwei- oder dreigeteilter Matratze schlafen, wie sich mit diesem fremdartig gefaltet auf dem Bett liegenden Oberbett zudecken, ganz ohne Oberbettuch, ganz ohne Decke? Schlafen die Deutschen etwa nicht wirklich, ruhen sie sich vielleicht nur ein wenig aus? Konkretes Entdecken, schwieriges Lernen der Unterschiede: Schlafzimmer und Schlafgewohnheiten sind nicht die gleichen wie bei uns: Deutschland liegt im Süden der nordischen Gesellschaft, die durch die Kultur des Oberbetts gekennzeichnet ist. Wir Franzosen leben in einer umsäumten Gesellschaft. Frankreich: Geschlossene Betten, große Laken, Kamine, die ausbrennen: Deutschland: Heizbetten, enorme glasierte Ofenbänke und Oberbetten.«

Derartige Differenzen bemerken auch deutsche und französische Jugendliche bei ihren Begegnungen. Manche werden bewusst wahrgenommen, andere werden lediglich diffus gespürt oder übersehen. Für das Gelingen interkulturellen Lernens ist die Thematisierung solcher Unterschiede wichtig. Ihre Erörterung erlaubt die Erfahrung des Fremden und damit auch des spezifischen Charakters des Eigenen. Werden solche Differenzerfahrungen übergangen und nicht erörtert, werden wertvolle Möglichkeiten für interkulturelles Lernen vertan. Bei der in den Programmen des DFJW stattfindenden interkulturellen Bildung geht es weniger darum, bestimmte Inhalte zu lernen oder bestimmte Methoden zu erarbeiten, mit deren Hilfe sich die Welt erschließen lässt. Ziel ist vielmehr die Verschränkung der beiden Anliegen in der Konzeptualisierung und Verwirklichung von Bildungsprozessen. Da es sich im DFJW um bi- oder trinationale Bildungsprozesse junger Menschen handelt, ist die interkulturelle Dimension in den in diesem Kontext erfolgenden Bildungsprozessen konstitutiv. Angesichts dieser Situation und der Erfordernisse eines zusammenwachsenden Europas reicht es nicht, Bildung lediglich als einen kognitiven und affektiven, auf die Förderung von Individuen bezogenen Prozess zu begreifen. Vielmehr gilt es, die performative Seite interkultureller Bildung zu fördern, wofür sich im Rahmen des DFJW viele Möglichkeiten bieten.

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Das Ritual der Begrüßung im Jugendaustausch Wie alle Institutionen erfüllt auch das Deutsch-Französische Jugendwerk viele seiner Aufgaben mit Hilfe ritueller Handlungen und Arrangements, ohne davon jedoch ein Bewusstsein zu haben, das es erlaubte, diese Formen der Bildung systematisch zu nutzen. Rituale dienen dazu, die in den Strukturen der Institution angelegten Aufgaben, Ziele und Werte zu inszenieren, aufzuführen und zu inkorporieren. Im deutsch-französischen Jugendaustausch teilen die Jugendlichen einen rituell inszenierten sozialen Raum und eine rituell organisierte Zeitspanne miteinander. Wie unterschiedlich auch immer die Aktivitäten der Jugendlichen bei solchen Begegnungen sind, die jungen Menschen erfahren in diesen Gruppen Gemeinsamkeit und Differenz. In der Erfahrung von Gemeinsamkeit und Differenz, Vertrautheit und Alterität im Rahmen eines rituellen Arrangements liegt für die jungen Menschen eine Bildungschance (Wulf 2001). Wenn die rituelle Inszenierung gelingt, verhindert sie, dass Spannungen und Differenzen die zeitlich begrenzte interkulturelle Gemeinschaft gefährden. Da Rituale eine bereits erprobte Struktur sozialen Handelns darstellen, bieten sie den Jugendlichen die Möglichkeit, ihr Verhalten durch diese Struktur gestalten zu lassen, ohne dadurch den Spielraum für ihr individuelles Handeln wesentlich einzuschränken. Diese »Vorstrukturierung« sozialen Handelns durch Rituale ist besonders wichtig, wenn Menschen aus unterschiedlichen Kulturen aufeinander treffen. Ohne eine rigide Befolgung zu verlangen, bieten Modelle rituellen Handelns den Jugendlichen aus zwei oder drei Kulturen die Möglichkeit, in der Inszenierung und Aufführung des Rituals ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen. Aufgrund der in der Institution des DFJW bestehenden Modelle rituellen Handelns ist es den jungen Menschen möglich, sich auf eine gemeinsame Grundlage zu beziehen, in der szenische und figurative Voraussetzungen ihres Handelns angelegt sind. Unabhängig davon, welches die Ziele und Inhalte der Jugendbegegnungen bzw. des Jugendaustauschs sind, spielen Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale, Rituale des Essens und des gemeinsamen Handelns in allen Formen des deutsch-französischen Austauschs eine wichtige Rolle. Vergegenwärtigen wir uns dies im Weiteren am Beispiel eines Begrüßungsrituals anlässlich des Besuchs einer französischen Schülergruppe in Deutschland. Hierbei wird deutlich: Begrüßung ist ein Kontaktritual, dem die Bedeutung eines Übergangsrituals zukommt. Bei der Begrüßung betreten die Jugendlichen eine Schwellensituation; sie sind nicht mehr in der ihnen vertrauten Umgebung ihres Heimatlandes; sie sind jedoch auch noch nicht in der neuen, durch ihren Gastaufenthalt entstandenen Situation in der fremden Umgebung und Kultur angekommen. Sie befinden sich in einer Zwischensituation, in der vieles offen und ungeklärt ist. Viele Kinder oder Jugendliche, die sich zum ersten Mal in einer solchen Situation befinden, sind verunsichert. Deshalb kommt der Begrüßung und der dabei zum

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Ausdruck kommenden Gastfreundschaft sowie der dadurch möglichen Annäherung zwischen Gastgebern und Gästen besondere Bedeutung zu. Christiane Montandon hat darauf hingewiesen, dass sich Begrüßungen in Analogie zu dem von Marcel Mauss zum fait social total erklärten Gabentausch begreifen lassen, der Gemeinschaften und Gesellschaften konstituiert: »Wir können in den Schüleraustauschen ritualisierte Geschenkaustausche beobachten; hierbei kommt es darauf an, ob diese Verhältnisse auf einem (symmetrischen) Reziprozitätsprinzip begründet sind oder ob sie mit asymmetrischen Beziehungen zwischen aufnehmender Gruppe und aufgenommenen Kindern einhergehen. Die Frage ist, welche Umstände Reziprozität und welche Ungleichheit in diesen Verhältnissen herstellen; denn beide Verhältnisse kann man auf den verschiedenen Ebenen feststellen: Abwechslungsprinzipien, z.B. auf der Ebene der Begrüßungsreden der Schulvertreter (deutsche und französische Schulleiter, Elternvertreter usw.) sind ebenso zu beobachten wie zeitliche Wechselspiele in den sozialen Rollen und Praktiken der beiden Gruppen. Doch auch Ungleichheiten lassen sich beobachten, in denen sich die Einschreibungsprozesse sozialer Normen der aufnehmenden Gruppe den aufgenommenen Gästen aufdrängen. Diese Kombination von symmetrisch-asymmetrischen Verhältnissen bezieht sich auf die jeweilige Vorstellung von Begrüßungen und Empfängen auf einer interkulturellen Ebene« (Montandon 2003, S. 457).

Je nachdem, wie man die Beziehungen zum Anderen versteht, werden die Begrüßungsrituale gestaltet. Dabei geht es um die Bearbeitung der Differenz zwischen deutschen und französischen, zwischen aufnehmenden und aufgenommenen Schülern. Erfahrungen des Fremden und der Assimilation an die Situation des Fremden sind von zentraler Bedeutung. Begreift man Begrüßungen als einen Tausch, in dem sich der Begrüßende in der Begrüßungsszene so inszeniert, wie er von den Begrüßten gesehen werden will, inszeniert der Gastgeber seine in der sozialen Situation liegende Überlegenheit über den Gast, der dieses Geschenk der Gastfreundschaft annimmt und trotz seines aus dem Heimatland mitgebrachten Gastgeschenks geringere Möglichkeiten hat, sein soziales Potential und seine Großzügigkeit darzustellen. Soziale und symbolische Gleichheit sind erst wieder hergestellt, wenn bei einem weiteren Treffen die Rollen getauscht werden. Dann erst wird die strukturelle »Unterlegenheit« dessen, der die Gastfreundschaft als erster empfängt, dadurch ausgeglichen, dass er nun seine Gastfreundschaft und damit seine soziale Überlegenheit zeigen kann (Gebauer/Wulf 1998, S. 160ff.). In ritueller Hinsicht umfasst das Tauschritual der Begrüßung drei Phasen: 1) das Gewähren der Gastfreundschaft, 2) die Annahme der Gastfreundschaft und 3) die Erwiderung der Gastfreundschaft. Nach Abschluss dieses Zyklus kann der rituelle Tausch wieder von vorn beginnen. Je nach Gastschule und Gastfamilie können sich zwischen diesen Phasen inhalt-

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92 | II Interkulturelle Bildung lich unterschiedliche Prozesse vollziehen. Sogar die Begrüßungsrituale werden verschieden gestaltet. Begrüßungsrituale bestehen aus mehreren, in bestimmter Abfolge angeordneten Teilritualen; erst nach Abschluss des letzten Teilrituals sind die Gäste in die Gemeinschaft der Gastgeber aufgenommen, die sich durch Inszenierung und Aufführung des Begrüßungsrituals ihrer Identität als gastgebende Gemeinschaft versichern. In unserem Beispiel beginnt die Begrüßung der französischen Schüler auf dem Bahnhof. Die deutschen Kinder gehen mit ihren Eltern und Lehrern dorthin; Plakate mit Willkommens-Sprüchen werden den französischen Kindern entgegen gehalten; ein Begrüßungslied wird gesungen. Angesichts der für die Gäste fremden Situation will man die französischen Kinder, die vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben die Erfahrung einer fremden kulturellen Gemeinschaft machen, nicht sogleich ihren jeweiligen Gastfamilien zuordnen. Stattdessen soll die erste Nacht gemeinsam mit den deutschen Kindern und den Lehrern in einer Jugendherberge verbracht werden. Hier wird zunächst eine Mahlzeit gemeinsam eingenommen; dann erfolgt eine erste Kontaktaufnahme zwischen den französischen Schülern und ihren deutschen Gastfamilien; schließlich verlassen die deutschen Eltern die französischen und die deutschen Schüler, die nun in dem liminalen Raum der Jugendherberge die erste Nacht verbringen. Am nächsten Tag trifft man sich auf dem Schulhof, frühstückt gemeinsam und begibt sich in die Aula zur offiziellen Begrüßung. Diese vollzieht sich mit den Reden des Schulleiters, des Elternvertreters, des Klassenlehrers in der Gegenwart von Gasteltern und von deutschen Schülern mehrerer Altersstufen, von denen einige bereits einen Gastaufenthalt in Frankreich verbracht hatten. Einige der Schüler haben etwas zu Ehren der Gäste vorbereitet: ein französisches Lied, ein Gedicht oder eine kleine Theateraufführung. Anfangs gehen die Aktivitäten fast ausschließlich von den deutschen Kindern aus. Erst allmählich ändert sich dies; gegen Ende der Begrüßung mischen sich deutsche und französische Schüler in einem gemeinsamen Tanz, der die zunächst homogenen Gruppen auflöst und die deutschen und die französischen Jugendlichen »durchmischt«, ein »Fließen« entstehen lässt und neue Konfigurationen bildet.

Strukturelemente von Ritualen Rituale sind Fenster in andere Kulturen, durch die man Einblicke in deren Strukturen gewinnt. Außerdem laden sie den Fremden dazu ein, sich auf sie einzulassen, sich an ihnen zu beteiligen und Teil der Gemeinschaft zu werden. Schließlich lassen sich Rituale so inszenieren und aufführen, dass es in ihnen zu interkulturellen Erfahrungen und transkulturellen Bildungsprozessen kommt. Im Weiteren sollen einige Merkmale entwickelt werden, aus denen die Bedeutung von Ritualen für interkulturelle Bildungsprozesse hervorgeht (Wulf/Zirfas 2003, 2004a, 2004b): 1.) Mit Hilfe von Ritualen werden Gemeinschaften erzeugt (Wulf u.a. 2001). Vor der Begrüßung stehen sich zwei einander unbekannte Gruppen

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deutscher und französischer Schüler gegenüber. Im Verlauf der Begrüßung wird diese Gegenüberstellung langsam aufgelöst. Gemeinsame Aktivitäten öffnen die Gruppengrenzen und bringen die Gruppenmitglieder einander näher. Dies geschieht durch den performativen Charakter des Rituals, durch seine Inszenierung und Aufführung, in deren Verlauf sich die Schüler spätestens beim gemeinsamen Tanz in der Aula unmittelbar zueinander verhalten. Eine interkulturelle Gemeinschaft wird performativ gebildet. 2.) Im Ritual entsteht eine Ordnung, in der den ehemaligen Gruppen und später allen Ritualteilnehmern ein Platz zugewiesen wird. Dies geschieht nicht explizit, sondern implizit durch die vorausgesetzte Kenntnis des angemessenen rituellen Verhaltens. Als nach der Begrüßung der französischen Schüler in der Jugendherberge die Eltern der Gastfamilien die Veranstaltung verlassen, wird die bis dahin bestehende Ordnung modifiziert; sie wird informell und gibt den Schülern bessere Möglichkeiten, sich in die neue Situation einzubringen. Diese Ordnung des Rituals bietet in einer unbekannten Situation Stabilität und Sicherheit. Die Ritualteilnehmer wissen, was von ihnen erwartet wird und verhalten sich entsprechend. 3.) Wie in vielen Ritualen wird auch im Ritual der Begrüßung ein Übergang gestaltet. Es ist der Übergang von zwei monokulturellen zu einer interkulturellen Gruppe. Jeder Schüler ist in die neue interkulturelle Situation »eingesetzt«, identifiziert sich mit ihr und entwickelt entsprechende Erwartungen und Haltungen. In diesem Prozess finden Kompetenz- und Machtzuschreibungen statt. Durch sein Verhältnis zu den Angehörigen der anderen Kultur erfährt jeder Schüler sich als Angehöriger seiner Kultur unter dem Anspruch interkultureller Kommunikation. 4.) Rituale interkultureller Bildung sind prozessual; sie haben einen Anfang und ein Ende und vollziehen sich an bestimmten, für ihre Inszenierung und Aufführung geeigneten Orten. In einer Organisation wie dem Jugendwerk institutionalisiert, sind sie repetitiv. Ihre Wiederholung sichert die Kontinuität der Institution und deren Kompetenz im Hinblick auf die Inszenierung und Aufführung interkultureller Rituale. Die Wiederholung solcher Rituale entwickelt bei den Teilnehmern allmählich eine interkulturelle Kompetenz, die auch in neuen Zusammenhängen angewendet werden kann. 5.) Wenn es zwischen Gruppen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund zu Spannungen oder in ihrem Verhältnis sogar zu einer Krise kommt, stellen Rituale wichtige Formen der Krisenbewältigung dar. Rituelle Arrangements der Begrüßung, der Aussprache, des Essens, des Feierns usw. können dazu beitragen, Verständigungsmöglichkeiten wieder herzustellen. Häufig eignen sich dazu rituelle Aktivitäten, in deren Rahmen jeder Ritualteilnehmer die Erfahrung macht, auf andere angewiesen zu sein. 6.) Rituale sind magische Handlungen (Bourdieu 1972, 1982; Wulf u.a. 2004). Sie erfüllen ihre soziale und interkulturelle Funktion dadurch, dass alle Ritualteilnehmer und die sie umgebende Umwelt an den Wert und die

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94 | II Interkulturelle Bildung Funktion des Rituals glauben. So spielen z.B. die Erwartungen von Eltern und Freunden, dass der Gastaufenthalt in Deutschland bzw. in Frankreich zu fruchtbaren Ergebnissen führen solle, eine wichtige Rolle dafür, dass diese sich auch einstellen. Einen produktiven Einfluss können auch die negativen Erfahrungen haben, die die Großeltern der Jugendlichen mit den Deutschen in Frankreich bzw. mit den Franzosen in Deutschland gemacht haben. Vor dem Hintergrund gemeinsamen Leides wünschen sich diese Großeltern nachdrücklich, dass sich Ähnliches nicht wiederholen möge und glauben daher ebenso nachdrücklich an die Bedeutung des Jugendaustauschs. Schließlich ermöglichen rituelle Besuche an Orten gemeinsamer Geschichte wie Gedenkstätten es den Jugendlichen beider Länder, eine sie verbindende Erfahrung des Sakralen zu machen. 7.) Viele Rituale interkulturellen Lernens haben eine ostentative Seite. Sie inszenieren etwas und stellen es mit einem demonstrativen Zug dar. Die Zuschauer sollen wahrnehmen, was aufgeführt wird. Manchmal erzeugt dieser ostentative Zug den feierlichen Charakter der Situation, in der deutlich werden soll, dass das rituelle Arrangement etwas Besonderes ist, das zum Gelingen interkultureller Begegnungen beiträgt. 8.) In interkulturellen Situationen bearbeiten Rituale Differenzen und führen zu Erfahrungen von Alterität. Sie erzeugen einen Erfahrungsraum, in dem Differenzen sichtbar gemacht und in gemeinsamer Inszenierung und Aufführung überwunden werden können. Durch den performativen Charakter ritueller Handlungen entsteht eine interkulturelle Gemeinschaft, in der der Andere als Bereicherung erlebt wird. Damit Aufführungen interkultureller Rituale gelingen, bedarf es eines praktischen, die entsprechenden Handlungen hervorbringenden rituellen Wissens (Wulf 2004). 9.) Rituale tragen dazu bei, Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herzustellen. Wegen ihres repetitiven Charakters beziehen sie sich häufig auf Vergangenes, doch bedeutet dies nicht, dass sie »konservativ« sind. Rituale können eine innovative Seite haben. Durch die Schaffung neuer Rituale kann eine Institution reformiert werden. Dies liegt an dem ludischen Charakter rituellen Handelns, der sicherstellt, dass es in der Gestaltung von Ritualen Freiräume gibt, die produktiv genutzt werden können. Rituale dienen dazu, neue Situationen gemeinschaftlich zu gestalten. Viele Jugendrituale und die Rituale der Friedensbewegung sind dafür Beispiele. 10.) Praktisches rituelles Wissen wird in mimetischen Prozessen erworben, in denen durch die Teilnahme an rituellen Handlungen allmählich eine rituelle Kompetenz erlangt wird. Im mimetischen Prozess wird ein mentaler Abdruck des Rituals genommen, der in die Vorstellungswelt aufgenommen und inkorporiert wird. Im Fall interkultureller settings wird im mimetischen Prozess auch ein Teil der anderen Kultur verarbeitet. In neuen Zusammenhängen werden die so erworbenen mentalen Bilder und Schemata wieder aktiviert und zur Gestaltung ritueller Arrangements herangezogen (Gebauer/Wulf 1992, 1998, 2003).

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Interkulturalität und Alterität Geht man von einem erweiterten Kulturbegriff aus, so bietet sich ein Rückgriff auf die »Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt« der UNESCO von 2001 an, in der es heißt, »dass Kultur als Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften angesehen werden sollte, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen, und dass sie über Kunst und Literatur hinaus auch Lebensformen, Formen des Zusammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen umfasst.« Kulturelle Vielfalt wird als ein gemeinsames Erbe der Menschheit bestimmt, angesichts dessen es darum geht, von einer kulturellen Diversität zu einer allseits akzeptierten kulturellen Pluralität zu gelangen, die zu umfangreichen neuen Entwicklungsmöglichkeiten führen kann. Kulturelle Vielfalt wird als Menschenrecht bestimmt; die davon abgeleiteten Rechte werden als Garanten der kulturellen Vielfalt angesehen. Kulturelles Erbe wird als Ursprung und Ausgangspunkt kultureller Kreativität angesehen. Im DFJW machen Jugendliche die konkrete Erfahrung, dass »Kultur« nicht mehr nach dem Modell der Insel oder des über die Nationalkultur gestülpten »Containers« begriffen, interkulturelle Bildung nicht mehr als Lernen zwischen voneinander abgeschotteten Kulturen verstanden werden kann. Die verschiedenen Herkünfte, Ansätze und Fokussierungen von Kultur überlagern sich so, dass sich Globales, Regionales und Lokales durchdringen. Durch die Überschneidung und Interdependenz verschiedener kultureller Elemente bildet sich keine in sich abgegrenzte kulturelle Einheit, sondern eine tiefe kulturelle Vielfalt der Lebensbedingungen (Krüger-Potratz 1999; Herzog 1999; Gogolin 1998). Die trotz Globalisierung und Europäisierung, Regionalisierung und Lokalisierung von Kultur bleibenden kulturellen Unterschiede zwischen den Ländern auch innerhalb Europas sind an die unterschiedlichen Sprachen und die mit ihnen verbundenen Vorstellungswelten gebunden. Es sind die Wahrnehmung und die Akzeptierung solcher Differenzen, über die sich Gemeinsamkeiten eher herausbilden, als wenn versucht wird, von diesen Unterschieden abzusehen. Führen junge Menschen Dialoge mit Angehörigen anderer Kulturen, machen sie die Erfahrung von Alterität, die für ihre Bildung heute konstitutiv ist. Damit der Dialog zwischen den Jugendlichen gelingt, bemüht man sich im DFJW darum, ihnen Lernbedingungen zu bieten, das Fremde in sich selbst erfahren zu können, also die Erfahrung der Selbstfremdheit zu machen. Auf dieser Basis ist Offenheit für den Anderen, ist heterologisches Denken als ein Denken vom Anderen her möglich. Aus dieser Situation ergibt sich für das DFJW die Aufgabe, an den Repräsentationen des Anderen, an neuen transnationalen Loyalitäten und an neuen Solidaritäten zu arbeiten, für die die in der projektierten europäischen Verfassung verankerten Werte und Zielsetzungen einen wichtigen Bezugspunkt darstellen. Im Rahmen der Arbeit des DFJW werden junge Menschen dabei unterstützt, die durch die Ausweitung des Wissens ent-

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96 | II Interkulturelle Bildung stehenden Ansprüche eigenverantwortlich zu handhaben und durch Wissen, Experiment und Erfahrung ihre Fähigkeiten zu entfalten, mit der im Rahmen der Globalisierung steigenden Komplexität des Lebens umzugehen. Diese Situation ist bestimmt durch die Dynamisierung gesellschaftlicher Entwicklungen, die wachsende Mobilität und die Entkoppelung von nationaler und kultureller Identität. In diesen Prozessen gelingt es manchmal, das Fremde in der eigenen und das Eigene in der fremden Kultur wahrzunehmen und aus dieser Wahrnehmung eine kritische Perspektive auf die eigene und die fremde Kultur zu entwickeln. Diese Sichtweise ermöglicht es, Anschlüsse und Übergänge zwischen den verschiedenen Kulturen Deutschlands und Frankreichs herzustellen. Aber auch die Grenzen für die Offenheit gegenüber dem Anderen, den Angehörigen fremder Kulturen, wie sie sich etwa im Diskriminierungsverbot der Menschenrechte artikulieren, werden im Rahmen des DFJW, z.B. in Programmen zur politischen Bildung, thematisiert. Auch in den Bildungsprozessen im Rahmen des deutsch-französischen Jugendaustauschs spielen mimetische Prozesse eine wichtige Rolle, die Alterität der anderen Kultur zu verstehen und die Grenzen des Verstehens zu begreifen. In den Programmen des Jugendaustauschs werden viele Erfahrungen der Alterität nicht durch rationale Analyse, sondern eher durch mimetische Angleichung gemacht. Man erfährt die unterschiedlichen Reaktionen des Anderen zur Welt in solchen mimetischen Prozessen, in denen häufig kulturübergreifende performative Gemeinsamkeiten zwischen den Jugendlichen entstehen (Fischer-Lichte/Wulf 2001, 2004; Wulf/Göhlich/Zirfas 2001). Angesichts von Globalisierung und Europäisierung leistet das Deutsch-Französische Jugendwerk nicht mehr nur einen Beitrag dazu, dass junge Franzosen und junge Deutsche sich kennen lernen und mehr über das Land und die Kultur des Anderen erfahren. In den sich bei den Begegnungen der Jugendlichen vollziehenden inter- und transkulturellen Bildungsprozessen erwerben die Jugendlichen auch Kompetenzen, die sie dazu befähigen, sich in der durch Globalisierung und Europäisierung bestimmten Welt besser zurechtzufinden. Vor allem können Jugendliche in exemplarischen Lernprozessen die Erfahrung kultureller Differenz und des Umgangs mit kultureller Vielfalt machen. Die dabei erworbenen Kompetenzen stellen über den deutsch-französischen Zusammenhang hinaus Elemente einer zeitgemäßen Bildung dar (Wulf 1995). Die zum Universalismus tendierende europäische Zivilisation ist immer in der Gefahr gewesen, die Differenz zum Fremden zu zerstören und es unter dem Anspruch der Gleichheit zu assimilieren (s.o., Kap. 4). Auch der konkurrierende Anspruch Frankreichs und Deutschlands, den europäischen Geist und die europäische Zivilisation zu dominieren, hat dazu geführt, die Ausprägungen anderer europäischer Kulturen zu bekämpfen und nach Möglichkeit zu reduzieren. Die Jahrhunderte währenden Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland haben einen Grund in

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diesem mit dem Universalismusanspruch der eigenen Kultur verbundenen Hegemoniestreben. Was also der europäischen Zivilisation über Jahrhunderte so wichtig war – ihr Universalismusanspruch –, ist zu einer Falle für die Relationen der europäischen Völker zueinander geworden, die in Gefahr gerieten, das Partikulare dem Universellen zu opfern. Für den Zusammenhang interkulturellen Lernens bedeutet dies, dass es in seinem Rahmen das Besondere jeder Kultur, jeder kulturellen Ausprägung zu stärken gilt, damit es nicht den nationalen Universalismusansprüchen geopfert wird. Im Rahmen interkultureller Bildung muss man den Partikularismus unterschiedlicher Kulturen akzeptieren, ihn zur Entfaltung kommen lassen und darf ihn nicht durch Subsumtion unter ein Allgemeines vernichten. Erst vor dem Hintergrund der Akzeptanz der Differenz der anderen Kultur und der anderen Menschen ist es möglich, transnationale Gemeinsamkeiten zu entdecken und ihre Entwicklung zu fördern. Hinzu kommt, dass die Verdrängung der eigenen kulturellen Partikularität eher zu negativen Empfindungen und zu Aggressivität führt und die Bereitschaft, sich für das Fremde der anderen Kultur zu öffnen, einschränkt, anstatt sie zu erweitern. In der wechselseitigen Akzeptanz der Differenz liegen die Voraussetzungen für interkulturelle Bildung. Erst eine Kenntnis und Akzeptanz der Unterschiedlichkeit des Anderen macht den Weg für Verständigung, Kooperation und Sympathie frei. Der Andere muss entdeckt werden; ohne ihn ist heute keine interkulturelle Bildung möglich. Auch die Entwicklung der Sozietät benötigt ihn als ein Außen, in Bezug auf das sich das Innere junger Menschen entfalten kann. Der Andere repräsentiert also das Außen, die gesellschaftliche Umwelt, auf die hin sich der Jugendliche bewegt und von der er sich abschließen muss, um sich als Person zu finden. Ähnliches gilt für den Anderen aus einer Nachbarkultur. Er repräsentiert etwas, das der Jugendliche so bisher nicht kannte, das ihn irritiert und herausfordert, das ihm die Chance bietet, seinen kulturellen Horizont zu erweitern. In einem auf die Kommunikation der Länder miteinander angewiesenen Europa sind solche Erfahrungen des Fremden als Erfahrungen eines Anderen von zentraler Bedeutung. Dabei muss der Grenzcharakter solcher Erfahrungen deutlich sein. Die Kenntnis des Anderen ist nicht abschließbar; sie kann nur durch Stereotype verstellt werden; es bedarf der Öffnung für derartige lebenslange Lern- und Erfahrungsprozesse.

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Anthropologische Forschung und Reflexion

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) T01_077 RESPEKT III.p 123723341754

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) vak 100.p 123723341786

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8. Die Jenseitsstruktur des Menschen

Die Erkenntnis des Anderen verweist auf die Möglichkeit der Menschen, aus sich herauszutreten und sich anderen Menschen und Welten anzunähern. Diese der Einbildungskraft geschuldete Fähigkeit, »Außenwelt« in »Innenwelt« zu verwandeln, hat zur Voraussetzung die Jenseitsstruktur des Menschen, die wiederum aus seiner die Menschen seit langem beunruhigenden Mängelsituation entsteht. In einem Mythos in Platons Protagoras wird dazu berichtet, dass Prometheus und Epimetheus von den Göttern die Aufgabe erhalten, die sterblichen Wesen zu schaffen. Epimetheus macht sich an die Arbeit. Als er beim Menschen angekommen ist, muss er erkennen, dass seine Vorräte und Kräfte nicht mehr ausreichen. »Mit Blindheit geschlagen« lässt Epimetheus den Menschen als einziges Lebewesen nackt, »ohne Schutz für die Füße, ohne Decke und Wehr«. Ratsuchend wendet er sich an seinen Bruder Prometheus, der den Göttern die Künste und das Feuer raubt und sie den Menschen gibt, um ihre morphologische Benachteiligung aufzuheben. Nun erst sind die Menschen in der Lage, angemessen für sich zu sorgen. Herder war von dieser menschlichen Unzulänglichkeit überzeugt, als er in der Preisschrift über den Ursprung der Sprache von 1772 schrieb: »Daß der Mensch den Tieren an Stärke und Sicherheit des Instinkts weit nachstehe, ja daß er das, was wir bei so vielen Tiergattungen angeborene Kunstfähigkeiten und Kunsttriebe nennen, gar nicht habe, ist gesichert« (Herder 1987, S. 266). Der hier artikulierte Mangel spielt später in der philosophischen Anthropologie eine entscheidende Rolle; in ihm wird der Motor der Entwicklung gesehen, der den Menschen antreibt, über sich hinaus zu gehen, sich jenseits seiner selbst zu entwerfen. So greift Gehlen diesen Gedanken auf und stellt ihn in den Mittelpunkt seiner Anthropologie: Danach ist der Mensch ein Mängelwesen. Der Mangel weist ihn darauf hin, dass ihm etwas fehlt, dass es etwas jenseits seiner bloßen Existenz gibt, das er herstellen muss, um sein Leben zu führen. Dazu bedarf er der Handlung, mit der er die Welt und sich selbst gestaltet. Die Sprachförmigkeit der Handlung und des menschlichen Antriebsaufbaus führt zur Entlastung und zur Entwicklung von Kultur. Die Plastizität des Körpers ermöglicht es der Phantasie, das menschliche Leben

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102 | III Anthropologische Forschung und Reflexion zu projektieren und zu formen. Auch im Mittelpunkt von Plessners Anthropologie steht der handelnde Mensch, der die Welt jenseits seiner selbst in einem Distanzverhältnis wahrnimmt. Diese Abgrenzung bewirkt die Entlastung vom Trieb- und Handlungsdruck und ermöglicht es ihm, eine Position jenseits seines Körpers einzunehmen, sich »exzentrisch« und d.h. reflexiv zu verhalten. Von innen ist der Mensch Leib, von außen gesehen hat er einen Körper. Plessner nennt diese zweifache Positionierung »Futteralsituation«. Nach seiner Auffassung ist diese Möglichkeit des Menschen, sich außerhalb seiner selbst stellen und sich zu sich selbst verhalten zu können, eines der zentralen anthropologischen Merkmale. Plessner verstärkt noch einmal seine Argumentation, wenn er den Menschen als homo absconditus bezeichnet und darauf aufmerksam macht, dass es die menschliche Jenseitsstruktur mit sich bringt, dass der Mensch »die Grenzen seiner Schrankenlosigkeit kennt und sich damit unergründlich weiß« (Plessner 1983a, S. 357). Jeder Erkenntnis eröffnet sich ein Jenseits, das weitere Erkenntnisbemühungen herausfordert. Sinne und Körperbewegungen erweitern den menschlichen Körper über den Raum hinaus, den er unmittelbar ausfüllt. Mit den neuen Medien gewinnt diese Ausweitung eine neue Intensität. Dies gilt auch dort, wo diese Medien zu neuen Erfahrungen des Anderen führen. Medial unterstützt, reichen die Fernsinne Auge und Ohr bis in andere Kontinente. Die Verkleinerung des Raums und die Beschleunigung der Zeit, Ubiquität und Simultaneität kennzeichnen die Netzwerkgesellschaft (Castells 1996). Medialisierung und Globalisierung transformieren Fernes in Nahes, Fremdes in Vertrautes und stellen neue Kontingenzen her. Sie schaffen Vernetzungen, in deren Rahmen es zur Überwindung trennender Distanz kommt; sie schreiben Bewegungen fort, die auf die Reduzierung des Jenseitigen zielen; sie setzen die Säkularisierung und die Überführung von Transzendenz in Immanenz fort. Diese Bewegungen führen zur Eingemeindung des Fremden und des Bemühens um die Auflösung dessen, was unbekannt, unheimlich und risikoreich ist. Die Verringerung dieser Bereiche mindert die Angst, erhöht die Kontrolle und fördert die Vorstellung, »alles sei möglich«. Demgegenüber signalisiert das »Jenseitige« die Grenzen der Macht, der Machbarkeit und der Kontrolle.

Körper, Raum und Bewegung Bereits die menschliche Bewegung zielt darauf, einen Bezug zu dem jenseits des Körpers befindlichen Raum herzustellen; daher wird der Raum in Abhängigkeit von den Bewegungen des menschlichen Körpers erlebt. Gehlen hat dies in seinen anthropologischen Schriften deutlich gesehen. Nach seiner Auffassung rufen Bewegungen in Räumen ein »Antwortverhalten« hervor, das als deren »Umgangsqualitäten« in die Erfahrung eingeht (Gehlen 1978, S. 170). Bewegungen haben eine »Sprachmäßigkeit« und unterhalten sich mit den Dingen und Räumen. Sie sind Formen des

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Umgangs mit diesen und zugleich Ausdrucksverhalten. Sie bilden auf der motorischen Ebene ein nicht artikuliertes praktisches Wissen. Bewegungen des menschlichen Körpers sind auf andere Bewegungen im Raum, sei es von Menschen oder Dingen, bezogen. Mit diesen zusammen bilden sie einen Bewegungsraum. »Der Bewegungsraum enthält viel mehr als nur die gegebene Situation. Diese wird überlagert von antizipierten, zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht verwirklichten, also noch möglichen Bewegungen, die aber schon in jenen, die wahrgenommen werden, präsent sind. Dieses Präsent-Sein ist eine Vorwegnahme, die nicht kognitiv, also nicht durch geistige Erkenntnisakte geschieht, sondern unmittelbar durch Hinsehen: ›Man sieht es den Bewegungen an‹, was sich aus ihnen entwickeln wird. Die Dinge sind für den Handelnden ›geladen mit Umgangsvorschriften und Gebrauchsanweisungen‹ (Gehlen 1978, 223). Der Bewegungsraum ist symbolisch konstituiert. Das Gegebene ist eine Vorahnung dessen, was geschehen wird« (Gebauer 1997, S. 503). Dieser symbolische Charakter des Bewegungsraums ist eine über die Bewegung des Körpers hinausdrängende Leistung der menschlichen Phantasie. Indem die Menschen sich die in Räumen enthaltenen Gegenstände mit Körperbewegungen erschließen, sedimentieren sich diese Räume und Gegenstände in ihren Körpern. Ihr symbolischer Charakter wird enkorporiert und bewirkt die Enkulturation der Menschen. In diesem Prozess sind Menschen aktiv. Mit Hilfe von Bewegungen erweitern sie ihr Kontakt- und Handlungsfeld. Mit ihrem Begehren, die Außenwelt in Innenwelt zu verwandeln, gestalten sie sowohl ihre Außen- als auch ihre Innenwelt. In der Mimesis der Räume und der sich in ihnen ereignenden Handlungen entsteht der symbolische, kulturell geprägte Charakter von Wahrnehmungen, Bewegungen und Handlungen (vgl. Gebauer/Wulf 1992, 1998). Wie sich diese Prozesse vollziehen, hat Benjamin in seiner Autobiographie Berliner Kindheit um Neunzehnhundert beispielhaft beschrieben: Hier spielen die Räume eine zentrale Rolle. Sie werden zu den Organisationseinheiten des kindlichen Lebens. Insbesondere Räume wie Winkel, Verstecke, Höhlen, Erker, Schränke, Kommoden, Schwellen werden zu Orten der Erfahrung und der Erinnerung. Im Öffnen eines Schranks kündigt sich an das Hin und Her von außen und innen, von Verhüllen und Enthüllen, das Prinzip der Verschachtelung. Das Innere von Schachteln und Schränken wird zum Intimsten und Intensivsten bürgerlicher Kindheit, zum Allerheiligsten der Familie. Auch das Sammeln von Schmetterlingen, Briefmarken und dergleichen sowie das Aufbewahren der Gegenstände in Schachteln verweisen auf einen Zusammenhang mit dem Heiligen, der sich nur einer mimetischen Lektüre der Räume, Sammlungen, Zeichen und Sinnzusammenhänge erschließt. Kindheit bedeutet: sich den Räumen der Umwelt ähnlich machen, Korrespondenzen lesen und entschlüsseln. In diesen Erinnerungen wird deutlich: Kulturell geprägte soziale Räume werden mit Hilfe der Sinne erschlossen und gelangen über die Sinne ins Körpergedächtnis. In seiner nachgelassenen Schrift Das Sichtbare und das Unsichtbare hat Merleau-Ponty (1964) diese Prozesse weiter verfolgt und ist

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104 | III Anthropologische Forschung und Reflexion zu der überzeugenden Einsicht gelangt, dass Ich und vorgängig geordnete Welt unauflösbar miteinander verschlungen sind: »Das Fleisch (jenes der Welt oder mein eigenes) ist nicht Kontingenz, Chaos, sondern Gewebe« (S. 192). »Der Begriff ›Fleisch‹ [chair] richtet sich gegen die Vorstellung des Individuums hinter seiner Grenze: [...] mein Sichtbares ist keineswegs ›Repräsentation‹ meines Ichs, sondern Fleisch«. »Der Körper vereinigt uns auf Grund seiner Ontogenese direkt mit den Dingen« (S. 179). Diese sind nichts anderes als »die Verlängerung meines Körpers und mein Körper ist die Verlängerung der Welt; durch ihn umgibt mich die Welt« (S. 308). »Vereinigt mit der Welt ist der Mensch, insofern er Fleisch ist. Er ist sichtbar, und er ist umgeben von Sichtbarem [...] Das heißt: Er sieht sich, und ist ein Sichtbares – aber nicht sehend [...] So steht der Körper aufrecht vor der Welt und die Welt aufrecht vor ihm, und zwischen ihnen besteht ein Verhältnis des Sich-Umschlingens. Und zwischen diesen beiden vertikalen Wesen gibt es keine Grenze, sondern eine Fläche des Kontakts« (S. 324). Nicht länger kann man wie noch Plessner und Gehlen von einem »Hiatus« zwischen Denken und Ich und Körper ausgehen. Man kann sich zwar im Denken vom Körper lösen und sich über ihn erheben; aber der Körper lässt sich nicht von einem in ihm befindlichen Ich unmittelbar beobachten. Er kann nicht vom Menschen beherrscht werden; man kann nicht von ihm absehen und ihn zu einem Mittel machen. Die soziale Welt bezieht sich nicht auf mich als Ich-Zentrum, sondern sie durchdringt den ganzen Körper, so dass in dieser wechselseitigen Durchdringung von Subjekt und Welt das Ich als eine mit dem Körperlichen unmittelbar verbundene Instanz gebildet wird, als eine sozial und kulturell erzeugte Konstruktion, die nur analytisch vom Körper getrennt werden kann (vgl. Gebauer/Wulf 1998, S. 23ff.).

Der Andere Mit der großen Plastizität des menschlichen Körpers geht seine Angewiesenheit auf den Anderen einher. Lange benötigt das neu geborene Kind seiner Fürsorge, um lebensfähig zu werden. Wir müssen gesehen, gehört, berührt werden, sonst verkümmern wir. Wir leben von der Zuwendung des Anderen, der jenseits unserer Körpergrenzen und unserer selbst ist und der sich erst allmählich über mimetische Prozesse in Bildern, Gefühlen und Worten in uns festsetzt. Seine Anerkennung gibt uns das Gefühl eigener Existenz. Wir benötigen seine Akzeptanz, um uns zu spüren, um zu sozialen Wesen zu werden. Das Bedürfnis nach Anerkennung ist unaufhebbar. Bleibt seine Befriedigung aus, ist eine Verkümmerung unvermeidlich. Insofern unser Selbst ein soziales Selbst ist, besteht eine strukturelle Unvollständigkeit des Selbst, ist es angewiesen auf den Anderen. Ohne ihn sind intensive menschliche Erfahrungen kaum möglich. Die Erfahrung der Liebe ist die Erfahrung des Anderen, die Erfahrung der

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Gemeinschaft ebenso. Diese Erfahrungen sind nicht ersetzbar. Sie erst ermöglichen den Eintritt in das menschliche Leben. Rimbauds Wort »Ich ist ein Anderer« erweitert diesen Aspekt. Die Abhängigkeit des Ich vom Anderen ist Folge der Konstitution des Ichs durch den Anderen. Ich und Anderer stehen sich nicht als zwei in sich und voneinander abgeschlossene Entitäten gegenüber. Die Komplexität ihres Verhältnisses entsteht dadurch, dass in die Genese des Ichs der Andere in vielfältiger Form eingeht. Dieses Ich sollte nicht als fester, in sich geschlossener Kern betrachtet werden. Eher ist von vielen durch Gräben und Spalten getrennten Fragmenten auszugehen, die sich unter dem Einfluss verschiedener Formen und Gestalten des Anderen gebildet haben. Damit ist der Andere nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Individuums und erschwert als internalisierter Anderer den Umgang mit dem Anderen außen. Die Auseinandersetzung mit dem Fremden erhält eine neue Qualität, wenn sie vom Anderen her entworfen wird. Ein solches Vorgehen führt zur Entwicklung heterologischen Denkens. In ihm ist angesichts zunehmender Individualisierung und Differenzierung der Lebenszusammenhänge das Verhältnis von Vertrautem und Fremdem, von Wissen und Nichtwissen, von Gewissheit und Ungewissheit zentral. Die heute zunehmend als widersetzlich, weitgehend unverfügbar und bedrohlich erlebte Wirklichkeit ist nicht länger homogen, sie erscheint konstruiert und interpretiert und wird fraktal und heterogen erfahren. Entschiedene Pluralität ist eine notwendige Folge dieser Form der Wirklichkeitserfahrung. Jede Deutung sozialer Zusammenhänge findet ihre Grenze in der Sicht des Anderen. Eine neue Komplexität in der Erfahrung der Welt entsteht, in der die Sicht des Anderen mitgedacht werden muss. Mit der Pluralität der Wirklichkeitsund Wissenschaftsauffassungen wird die Erfahrung der Differenz zu einem bestimmenden Moment in der Produktion und im Umgang mit individuellem und gesellschaftlichem Wissen. Sie erst erlaubt die Erfahrung des Anderen, ohne den kein konstruktiver Umgang mit fremden Kulturen möglich ist (vgl. Kap. 4).

Phantasie Die Brücke zum Anderen ist die Phantasie. Sie ist die Fähigkeit, aus sich heraus zu treten, sich auf Jenseitiges zu beziehen, es wahrzunehmen, auch wenn es nicht anwesend ist. Phantasie bezeichnet das Vermögen inneren Sehens, Hörens und Fühlens. Ihre Objekte sind Bilder, Töne, Wörter. Ihre früheste begriffliche Erwähnung findet sie im 10. Buch von Platons Politeia. Hier wird die Mimesis des Malers bestimmt als Nachahmung von etwas Erscheinendem, so wie es erscheint (pros to phainomenon os phainetai). Bei Aristoteles heißt es dann: Die Phantasie ist »ein vor Augenstellen, wie der Gedächtniskünstler verfährt, der sich bestimmte Bilder aussucht«,

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106 | III Anthropologische Forschung und Reflexion und sie ist »das, wonach, wie man sagt, in uns eine Erscheinung (phantasma) entsteht« (De anima III, 3). Die Phantasie hat eine chiastische Struktur, in der sich innen und außen kreuzen. Sie überführt die jenseits des Körpers gelegene Außenwelt in die innere Erinnerungs- und Vorstellungswelt und bringt Teile dieser inneren Welt als Bilder und Projektionen in die Außenwelt. Diese werden die Grundlage für die Gestaltung der Außenwelt. Die Phantasie bringt etwas zur Darstellung, das zunächst nicht da ist. Manchmal bezieht sich das Erscheinende auf ein Vorbild, das die Phantasie in Erinnerung bringt. Manchmal schafft die Phantasie ein Bild, für das es kein Vorbild gibt. Berühmt dafür ist in der Antike die Zeus-Statue des Phidias, angesichts derer jeder Betrachter wusste, dass es sich um Zeus handelte, obwohl ihn noch nie jemand gesehen hatte. Hier erzeugt die Phantasie ein nie geschautes Bild. Mit ihrer Hilfe können nie gesehene Welten geschaffen und Zuschauer, Zuhörer oder Leser an ihnen beteiligt werden. Phantasie ist darauf gerichtet, etwas jenseits des Bewusstseins Gelegenes ins Bewusstsein zu bringen, sei es als Bild, Ton, Wort oder Gefühl. Mit ihrer Hilfe erfolgt eine Ausweitung des menschlichen Bewusstseins in die Vergangenheit und in die Zukunft. Sie erweitert die Grenzen des Körpers und öffnet ihn für die Welt. Menschliche Weltoffenheit ist der Phantasie geschuldet. Die Ursprünge dieser Kraft der Verwandlung von Jenseitigem in Diesseitiges und von Diesseitigem in Jenseitiges sind nicht leicht zu verorten. Gehlen deutet Phantasie als Projektion von Antriebsüberschüssen (vgl. Kap. 4), in seiner Sicht ist sie an den Status des Menschen als »Mängelwesen«, an seine residuale Instinktausstattung und an den Hiatus zwischen Reiz und Reaktion gebunden. Steht sie damit in Beziehung zu Bedürfnissen, Triebregungen und Befriedigungswünschen, erschöpft sie sich jedoch nicht in diesen. Menschliche Plastizität und Weltoffenheit verweisen auf die Notwendigkeit ihrer kulturellen Gestaltung. In der inneren Bilderwelt eines sozialen Subjekts mischen sich Jenseitiges und Diesseitiges. In ihr überlagern und durchdringen sich wechselseitig das kollektive Imaginäre seiner Kultur und die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit der aus seiner individuellen Geschichte stammenden Bilderwelten. In dieser chiastischen Bilderwelt lassen sich mehrere Arten von Bildern unterscheiden, Bilder als Verhaltensregler, Orientierungsbilder, Wunschbilder, Willensbilder, Erinnerungsbilder, Nachahmungsbilder, archetypische Bilder (vgl. Flügge 1963, S. 155ff.). Bilder als Verhaltensregler: Hier ist die Frage, ob, und wenn ja, bis zu welchem Ausmaß, der Mensch mit vererbten Verhaltensstrukturen ausgestattet ist. Zwar ist unstrittig, dass der Hiatus zwischen Reiz und Reaktion für den Menschen charakteristisch ist; doch bedeutet diese Tatsache nicht, dass menschliches Verhalten nicht durch ererbte innere Bilder und Verhaltensmuster beeinflusst wird. Die Ethologie hat in den letzten Jahren wichtige Erkenntnisse über die Wirksamkeit von »Auslöse-Bildern« im Zusammenhang mit den elementaren menschlichen Verhaltensweisen des

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Essens und Trinkens, der Fortpflanzung und der Aufzucht der nachwachsenden Generation gewonnen. Orientierungsbilder: Sozialisation und Erziehung vermitteln Tausende von Orientierungsbildern, die es möglich machen, sich in unterschiedlichen Lebenswelten zurecht zu finden. Viele dieser Bilder sind eingängig, leicht reproduzierbar und daher in sozialer Hinsicht sehr wirksam. Diese Bilder sind öffentlich; sie werden von vielen Menschen geteilt; sie »vernetzen« die Menschen; über die Beteiligung an solchen Bildnetzen wird Gemeinsamkeit, Zugehörigkeit – Kollektivität geschaffen. Unter dem Einfluss der Globalisierung weiten sich diese Bildnetze über die Grenzen der nationalen Kulturen aus und schaffen neue transnationale Bewusstseinsformen. Wunschbilder: In struktureller Hinsicht ähneln sich triebbesetzte Bilder und Wunschbilder; in ihren konkreten Ausprägungen sind sie oft verschieden. Für die Ausrichtung menschlichen Handelns und Träumens sind sie bedeutsam. Oft zielen sie darauf, das Begehren zu befriedigen und beinhalten zugleich das Wissen von der Unmöglichkeit, Wünsche zu erfüllen. Willensbilder: Während Wunschbilder auf Haben und Genießen gerichtet sind, sind Willensbilder Projektionen von Handlungsenergie. Im vom Willen gesteuerten Wünschen manifestiert sich der menschliche Antriebsüberschuss. In der Fähigkeit zu einem vom Willen gelenkten Wünschen liegt der Ursprung menschlicher Arbeit und Kultur. Erinnerungsbilder: Erinnerungsbilder sind für den spezifischen Charakter einer Person bestimmend. Partiell sind sie verfügbar und gestaltbar; zum Teil entziehen sie sich der Verfügung durch das Bewusstsein. Viele entstammen der Wahrnehmung, andere gehen auf imaginäre Situationen zurück. Erinnerungsbilder überlagern neue Wahrnehmungen und gestalten diese mit. Sie sind das Ergebnis einer Selektion, in der Verdrängung und bewusst motiviertes Vergessen im Sinne von Verzeihen eine Rolle spielen. Erinnerungsbilder konstituieren die Geschichte eines Menschen. Sie sind an Räume und Zeiten aus seinem Leben gebunden. Erinnerungsbilder beziehen sich auf Leid und auf Freude; sie sind verbunden mit Versagen und Erfolg. Sie bringen sich in Erinnerung und ermöglichen die Gleichzeitigkeit von Vergangenem und sind Hilfe gegen die Unerbittlichkeit der Zeit. Nachahmungsbilder: Schon Platon hat darauf verwiesen, dass Bilder als Vorbilder unser mimetisches Vermögen herausfordern. Bei diesen Vorbildern kann es sich um lebende Personen, aber auch um imaginäre Bilder handeln. Nach Platons Auffassung ist der Zwang zur Nachahmung so stark, dass man sich ihm – vor allem im kindlichen und jugendlichen Alter – nicht widersetzen kann. Platons Position lautet daher: Bewusste Nutzung aller nachahmenswerten Bilder für die Erziehung und Ausschluss aller die Erziehung gefährdenden Bilder. Anders Aristoteles: Für ihn kommt es darauf an, die Menschen durch die kontrollierte Konfrontation mit dem

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108 | III Anthropologische Forschung und Reflexion Unerwünschten zu befähigen, sich diesem widersetzen zu können. In den Fragen nach der Wirksamkeit von Gewalt in den Neuen Medien tauchen beide Positionen wieder auf (Gebauer/Wulf 1992; Wulf 1994). Archetypische Bilder: C. G. Jung bestimmt ihre Bedeutung für das individuelle Leben wie folgt: »Alle großen Erlebnisse des Lebens, alle höchsten Spannungen rühren deshalb an den Schatz dieser Bilder und bringen sie zur inneren Erscheinung, die als solche bewußt wird, wenn soviel Selbstbesinnung und Fassungskraft vorhanden ist, daß das Individuum auch denkt, was es erlebt, und nicht bloß tut, d.h. ohne es zu wissen, den Mythos und das Symbol konkret lebt« (Jung 1960, S. 311). Man muss Jungs Erklärungen zur Entstehung des »kollektiven Unbewussten« und der Archetypen nicht übernehmen, um anzuerkennen, dass jede Kultur große Leit- und Schicksalsbilder entwickelt hat, die in den Träumen und in den kulturellen Produktionen der Menschen eine das menschliche Handeln beeinflussende Rolle spielen. So verschieden bereits diese Formen innerer Bilder sind, das Spektrum möglicher Arten von Bildern ist noch umfangreicher. Denn Bilder lassen sich in unterschiedlichen Referenzrahmen verwenden und verändern dadurch ihren Charakter und ihre Bedeutung. So lassen sich Bilder z.B. als Bezugspunkte der bildenden Künste, als elektronische Simulationen oder als Metaphern unterscheiden. Als Metaphern weisen sie über sich hinaus, übertragen Bedeutungen auf andere Zusammenhänge und setzen so neue Bedeutungspotentiale frei. »Metaphern stellen Verbindungen her zwischen hüben und drüben, zwischen unterschiedlichen und in ihrer Unterschiedlichkeit belassenen Kontexten. Das Nebeneinander und Zugleich von Trennung und Verbindung, von Kontextbestätigung und Kontextstörung sichert die Funktionalität der Metapher (Konersmann 1996, S. 327). In diesem Sinne sind die von der Phantasie erzeugten Bilder Metaphern für die Jenseitsstruktur des Menschen. Bild und Phantasie verdeutlichen diese Eigenart der menschlichen Konstitution, die bereits in der Plastizität des Körpers, der Körperbewegung, dem aktiv-passiven Charakter der Sinne und in der Angewiesenheit auf den Anderen sichtbar wurde. Darüber hinaus ermöglicht diese im Körperlichen und Sinnlichen verankerte Jenseitsstruktur Sprache und wird durch Sprache entwickelt; sie steht in engem Bezug zur Zeitlichkeit des Körpers und des Bewusstseins, ihrer Endlichkeit und der Frage nach einem Jenseits des Todes.

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9. Kassandra oder die Grenzen des menschlichen Umgangs mit Zukunft

Antike. Die Zukunft des Menschen ist unsicher; sie ist offen und dem Menschen unbekannt. Seit langem beunruhigt diese Situation die Menschen. In der griechischen Antike machen die Unkenntnis der Zukunft und die Sterblichkeit den Unterschied zwischen den Menschen und den Göttern aus. Die Versuche der Menschen, Kenntnis der Zukunft zu erlangen, werden von den Göttern als Hybris gewertet und bestraft. Dies geschieht entweder dadurch, dass die Menschen, die durch rationales Handeln versuchen, die Zukunft in ihrem Sinne zu beeinflussen, sich gerade dadurch verstricken und ihrem Schicksal nicht entgehen. Die griechischen Tragödien enthalten dafür viele Beispiele; der Mythos des Ödipus ist eines der bekanntesten. Gerade dadurch, dass der Mensch durch vorausschauendes Handeln versucht, seine Zukunft zu gestalten, entgeht er dem Schicksal nicht. – Die andere Form, in der die Götter die Menschen in ihre Grenzen verweisen, besteht darin, einzelnen Menschen ein Wissen der Zukunft zu geben und gleichzeitig zu verhindern, dass dieses Wissen von den anderen Menschen geglaubt wird. Die vergeblichen, kein Gehör findenden Warnungen der Kassandra sind ein nachhaltiges Beispiel dafür, dass selbst, wenn uns die Zukunft vorausgesagt wird, wir Menschen nicht in der Lage sind, dieses Wissen für unser Handeln fruchtbar zu machen. Beide Beispiele belegen, dass in der Antike die Kenntnis der Zukunft den Göttern vorbehalten ist und dass gerade diese Unkenntnis und die mangelnde Fähigkeit, Zukunft zu gestalten, Merkmal der Menschen, eine conditio humana ist. Christentum. Im Christentum ändert sich das Verhältnis der Menschen zur Zukunft. Sie liegt in den Händen Gottes. Er entscheidet über Leben und Zukunft der Menschen. Damit verändert sich das Verhältnis der Menschen zur Zeit und zur Zukunft. Die Geschichte scheint zielgerichtet zu sein; sie ist eschatologisch; sie hat ihren Anfang und ihr Ende in Gott. Damit verringert sich allmählich die Bedeutung des Kairos und der zyklischen Zeit im Leben der Menschen. Dominierend wird die lineare, zielgerichtete Zeit. In der Neuzeit wird die Zeit des Chronos zur Chronokratie, die

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110 | III Anthropologische Forschung und Reflexion alle Bereiche menschlichen Lebens durchdringt und zielgerichtet strukturiert. Mit der Dominanz dieser Zeitauffassung in der Moderne entsteht die Vorstellung des Menschen, die Zeit steuern und ihren Verlauf in seinem Leben bestimmen zu können. Mit der Durchsetzung dieses Verhältnisses zur Zeit wächst die Selbstermächtigung der Menschen, die sich zunehmend als Herren der Geschichte begreifen und hoffen, mit Hilfe neuzeitlicher Rationalität ihre Geschichte bestimmen zu können. Mit dem Versuch der Menschen der Neuzeit, sich an die Stelle Gottes zu setzen, werden die Frage, wer Herr der Zeit sei und der Versuch, sich zum Herrn der Zeit und damit der menschlichen Geschicke zu machen, zu einem zentralen Anliegen der Menschen. Einfluss und Macht über die Zukunft zu gewinnen, wird daher zur zentralen Herausforderung des Menschen, die er annimmt und der er mit der Entwicklung der planerischen Vernunft gerecht zu werden versucht. Die Zukunft voraussagen, sie planen zu können, wird nach dem »Tode Gottes« (Nietzsche) und dem Ende der mit Gott verbundenen normativen Anthropologie zur Obsession der Menschen. Mit der Ersetzung Gottes durch den Menschen, der Ersetzung der Theodizee durch die Anthropodizee, wird die Möglichkeit, Zukunft voraussagen und gestalten zu können, zum entscheidenden Anliegen der Menschen und zum Prüfstein des Projekts der Moderne und damit für die Frage, ob die menschliche Selbstermächtigung gelingt oder nicht. Verdrängt werden die Erfahrungen der Antike und des Christentums, dass dem Menschen die Kenntnis der Zukunft nicht gegeben ist. Folgendes kleines Beispiel soll die Grenzen der planenden Vernunft auch in der Neuzeit verdeutlichen: Hätte man 1890 den Berliner Bedarf an Pferdekutschen für das Jahr 1930 berechnet, wäre die Berechnung durch die Erfindung des Autos und das damit ausgelöste Verschwinden der Pferdekutschen ad absurdum geführt worden. Die Perfektibilität des Menschen wird zu einem Projekt, dessen Verwirklichung einen offenen Horizont und Zukunft benötigt. Ohne zukünftige Zeit ist die Vervollkommnung des Menschen nicht möglich. Die Klagen über das Ende der Geschichte, das Posthistoire, machen dies deutlich. Das Projekt der Moderne, die Vervollkommnung des Menschen, vollzieht sich sowohl in der Zeit als auch in realen und imaginären Räumen. Bewirkt die im Vergleich zur Geschichte möglicherweise immer geringer werdende Zukunft der Menschen nicht auch den Zwang, die Zukunft zu erforschen? Ohne diesen und die damit einhergehende zentrale Stellung der planenden Vernunft und der von ihr angeleiteten Forschung kann heute gesellschaftliche Gegenwart kaum gedacht werden. Vielfältige Formen der Zukunftsforschung sind die Folge. Zukunftsforschung. Während die statischen Gesellschaften und Kulturen der Vergangenheit alles andere als zukunftsorientiert sind, hat sich diese Situation geändert. Während in diesen Gesellschaften Geschichte und Zukunft weitgehend identisch waren, die Geschichte der Schlüssel für die Zukunft war und Zukunft nur in Form von eschatologischen, chiliastischen und utopischen Zukunftsbildern eine Rolle spielte, haben die Dy-

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namisierung der Gesellschaften und die Beschleunigung des sozialen Wandels im 20. Jahrhundert dazu geführt, dass die Zukunft für das Selbstverständnis der Menschen einen erhöhten Stellenwert erhält. Das führt dazu, dass die Erforschung der Zukunft ein zentrales Anliegen heutiger Gesellschaften geworden ist; die Etablierung von Zukunftsforschung ergibt sich daraus als Folge. Drei Aspekte der Zukunftsforschung lassen sich unterscheiden: 1. Zukunftsforschung im engeren Sinne (Prognosen, Projektionen etc.); 2. Zukunftsgestaltung (Programmierungen, Planungen usw.) 3. Zukunftsphilosophie (Methodologie, Ethik z.B.). Zur Zukunftsforschung gehören z.B. Voraussagen über Bevölkerungsentwicklungen, Konjunkturentwicklungen, die Planungen von Wirtschaft, Bildung, Gesundheit, Stadtentwicklung, aber auch über die großen Probleme der Welt und die Kritik der Zukunftsentwürfe. Zukunftsforschung ist eine angewandte Wissenschaft, in der es um die Reformierung und Gestaltung gesellschaftlicher Praxis geht. Dabei sind zentrale Aufgaben die Reduzierung der Kriege und die Institutionalisierung des Friedens, die Verringerung von Hunger und Not sowie die Stabilisierung der Bevölkerungszahl, die Reduzierung des Raubbaus an der Natur und ihr Schutz. Als angewandte Wissenschaft ist Zukunftsforschung als Teil der Kulturwissenschaften in besonderer Weise mit dem Problem der Kontingenz konfrontiert, womit die Tatsache bezeichnet wird, dass sich die Bedingungen einer Situation so, aber auch ganz anders entwickeln können und daher eine kausale bzw. finale Betrachtungsweise der Zukunft menschlichen Handelns nicht gerecht werden kann. Vielmehr gilt es, die Unsicherheit der Ergebnisse und die Potentialität des menschlichen Handelns in das menschliche Selbstverständnis einzubeziehen. Kontingenz menschlichen Handelns führt zur Einsicht in seine historische und kulturelle Bedingtheit, ohne dass es dadurch jedoch als determiniert oder determinierbar begriffen wird. Wenn die menschliche Zukunft als kontingent mit der Gegenwart gesehen wird, bedeutet dies, dass sie nicht voraussagbar ist, dass sie jedoch auch nicht völlig offen ist, sondern in einer komplexen, dem Menschen nur unzulänglich durchschaubaren Beziehung zur Gegenwart und zur Vergangenheit steht. Zufall, Spontaneität und der Ereignischarakter menschlichen Handelns spielen dabei eine zentrale Rolle. Damit wird Zukunft zu einer Bedingung menschlichen Handelns, die für seinen Sinn zwar Bedeutung hat, die jedoch durch den Handelnden nicht erfasst werden kann. Besonders deutlich wird dies im Bereich von Erziehung und Bildung, in dem menschliches Handeln ohne Zukunftsbezug nicht sinnvoll ist, doch in dem auch nicht angegeben werden kann, was unter Zukunftsbezug im Einzelnen verstanden wird. Rousseau hat in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit negativer Erziehung gesprochen, einer Erziehung, die den jungen Menschen für eine Zukunft vorbereitet, deren An-

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112 | III Anthropologische Forschung und Reflexion forderungen nicht spezifizierbar sind, da sie Erziehern wie Kindern nicht bekannt sind und daher lediglich als kontingent begriffen werden können. Der kontingente Charakter von Erziehung und Bildung ist damit eine Bedingung der Menschen der Gegenwart und zukünftiger Generationen. Ihn nicht wahrhaben zu wollen und zu suggerieren, man könne die zukünftigen Anforderungen an die jungen Menschen der nachwachsenden Generation angeben, beinhaltet Selbsttäuschung. Die Zukunftsfähigkeit von Erziehung und Bildung zeigt sich gerade im Bewusstsein ihres kontingenten Charakters. Die Frage nach der Zukunft des Menschen verweist daher mehr denn je auf eine Erforschung des Menschen der Gegenwart. Sie verweist auf Anthropologie. Historische Anthropologie. Anthropologie wird hier als historische, kulturwissenschaftliche Anthropologie verstanden, die die Ergebnisse der Humanwissenschaften und der geschichts- und kulturphilosophisch fundierten Anthropologiekritik umfasst und sie für neuartige Fragestellungen fruchtbar macht (vgl. dazu auch im folgenden Kapitel). Die Forschungen historischer Anthropologie sind weder auf bestimmte kulturelle Räume noch auf einzelne Epochen beschränkt und versuchen in der Reflexion ihrer eigenen Geschichtlichkeit und Kulturalität, jeglichen Eurozentrismus der Humanwissenschaften hinter sich zu lassen. Diese Zielsetzungen implizieren Skepsis gegenüber in sich geschlossenen, anthropologischen Gesamtdeutungen, wie sie z.B. in den Biowissenschaften manchmal vorgetragen werden. Historische Anthropologie bezeichnet keine einzelne Fachwissenschaft. Sie bildet sich durch den Bezug auf viele Wissenschaften und auf die Philosophie. Sie stellt kein geschlossenes Forschungsfeld dar. Vielmehr konstituiert sie sich durch den Bezug auf verschiedene, im Vorhinein nicht festgelegte Wissenschaften. Je nach Forschungsfragen und Themen können die Bezugnahmen sehr unterschiedlich sein. Prinzipiell kann das ganze Feld der menschlichen Kultur zum Gegenstand historischer Anthropologie werden, und dies in unterschiedlichen historischen Zeiträumen und Kulturen. Die Forschungen historischer Anthropologie gehen von einer Pluralität der Kulturen aus und nehmen an, dass Kulturen keine in sich geschlossenen Systeme bilden, sondern dynamisch, füreinander durchlässig und für die Zukunft offen sind (Wulf 2004). Historische Anthropologie ist das Ergebnis einer wissenschaftlichen Haltung, mit der Fragen und Themen verschiedener Zeiten und Kulturen untersucht werden. Deshalb können sich Forschungen zu historischer Anthropologie auch in mehreren Fachwissenschaften, wie in der Erziehungs-, Geschichts-, Literatur- und Sprachwissenschaft, der Soziologie und Psychologie entwickeln. Doch selbst in diesen Fächern haben ihre Untersuchungen eine Tendenz, die Fachgrenzen aufzulösen und transdisziplinär zu werden. Dadurch initiieren sie in den Fachwissenschaften neue Fragestellungen und Themen sowie neue wissenschaftliche Interaktionen und Kooperationen. In diesen Prozessen finden mehrere Forschungsmethoden Anwendung. Zu diesen gehören die historisch-hermeneutischen

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Verfahren der Textinterpretation, die Methoden qualitativer Sozialforschung und die nur schwer methodisierbare philosophische Reflexion. In manchen Forschungen werden die traditionellen Grenzen zwischen Wissenschaft, Literatur und Kunst überschritten. Im Bewusstsein der starken Bedeutung kultureller Traditionen für die Entstehung unterschiedlicher Forschungsfragen, Themen und Perspektiven gehört auch die zunehmende Überschreitung nationaler Kulturgrenzen zu den zentralen Anliegen der anthropologischen Forschung. Angesichts von Europäisierung und Globalisierung gewinnt die transnationale Ausrichtung anthropologischer Forschung ebenfalls steigende Bedeutung. In diesen für die Historische Anthropologie konstitutiven Grenzüberschreitungen werden neue paradigmatische Fragestellungen entwickelt und erprobt. Im Rahmen einer solchen anthropologischen Forschung stößt man heute auf zwei zentrale Problemkomplexe, bei denen man davon ausgehen kann, dass sie in einem kontingenten Verhältnis zur Zukunft des Menschen stehen, ohne dass sich dabei genau angeben ließe, welches die Folgen der Kontingenz für die Zukunft der Menschen sein werden. Erstens: Kulturelle Vielfalt – der Antagonismus zwischen einer auf Standardisierung und Uniformierung zielenden Globalisierung und dem Menschenrecht auf kulturelle Vielfalt, wie es im Rahmen der UNESCO in der entsprechenden Erklärung von 2001 formuliert wurde und in einer Konvention verankert werden soll. Dabei geht es um kulturelle Vielfalt als gemeinsames Erbe der Menschheit und um die Vorbereitung einer Konvention »On the Protection of the Diversity of Cultural Contents and Artistic Expressions«. Nach dieser Konvention soll kulturelle Vielfalt ein fundamentales Recht aller Individuen und Gesellschaften werden. Kulturelle Vielfalt schafft kulturellen Pluralismus. Sie ermuntert zu Toleranz und Freiheit des Ausdrucks und betont die Bedeutung der Kreativität in allen menschlichen Bereichen. Kulturelle Vielfalt muss gegen die standardisierende Dynamik der Globalisierung geschützt und als ein wichtiges Element in der nachhaltigen Entwicklung verstanden werden. Kulturelle Vielfalt impliziert die Achtung vor der Vielfalt kulturellen Ausdrucks und fordert internationale Kooperation und Partizipation sowie einen internationalen Dialog und Solidarität. Kulturelle Vielfalt bezieht sich nach der UNESCO-Konvention auf »manifold ways, in which the cultures of social groups and societies find expression. From the diverse forms taken by culture over time and space stand the uniqueness and plurality of the identities and cultural expressions of the people and societies that make up humankind. Cultural diversity is made manifest not only through the varied ways in which the cultural heritage of humankind is protected, augmented and transmitted to future generations, but also through the variety of cultural expressions, which are born by cultural goods and services, in all parts of the world at any given time, through diverse modes of production, dissemination, distribution and consumption.« Es besteht kein Zweifel, dass das Menschenrecht auf kulturelle Vielfalt

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114 | III Anthropologische Forschung und Reflexion in Konflikt mit anderen Menschenrechten geraten kann. Doch für alle Menschenrechte gilt, dass sie in Konflikt miteinander geraten können. Daher spricht dieser Sachverhalt nicht gegen die Etablierung des Rechts auf kulturelle Vielfalt als Menschenrecht. Kommt es zu solchen Konflikten, etwa zwischen dem Recht auf Unversehrtheit des menschlichen Körpers und dem Recht auf kulturelle Vielfalt bei Beschneidungen von Frauen, muss der Konflikt im Einzelfall erörtert und – so möglich – gelöst werden. Generell bedeutet kulturelle Vielfalt als Menschenrecht jedoch eine Sensibilisierung für Alterität und kulturelle Vielfalt. In der europäischen Geschichte haben Logozentrismus, Egozentrismus und Ethnozentrismus immer wieder dazu geführt, Alterität auf Gleichheit zu reduzieren. Die spezifischen Formen von europäischer Rationalität, europäischer Individualität und europäischem Nationalismus bieten dafür viele historische Beispiele. Gerade angesichts dieser historischen Erfahrungen ist es notwendig, die Standardisierung der Globalisierung nicht zu einer weiteren Strategie der Reduktion von Alterität auf Gleichheit werden zu lassen. Das der Globalisierung über weite Strecken zugrunde liegende Modell des homo oeconomicus impliziert eine solche Reduktion kultureller Vielfalt auf ökonomische Rationalität und marktgerechtes Verhalten. Angesichts dieser Situation hat anthropologische Forschung die Aufgabe, dieser Reduktion entgegenzuwirken, indem sie deutlich macht, mit welchen kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Kosten eine solche Reduktion verbunden ist und welche Gefahren darin für die Zukunft der Menschheit liegen. Stattdessen erscheint es sinnvoll, von einem kulturellen Pluralismus auszugehen, in dessen Rahmen es keine normative Anthropologie, sondern eine Vielfalt anthropologischer Vorstellungen und Modelle gibt. In diesem Zusammenhang ist ein heterologisches Denken, ein Denken vom Anderen her erforderlich. Dazu bedarf es eines mimetischen, weitgehend gewaltfreien Zugangs zum Anderen, der diesen nicht auf die eigene Welt projiziert, sondern es möglich macht, die eigene Welt in die Welt des Anderen auszuweiten. Zweitens: Nachhaltigkeit. Der zweite große Bereich, dessen anthropologische Erforschung in zunehmendem Maße notwendig wird, sind die nachhaltige Entwicklung und die Erziehung zur nachhaltigen Entwicklung, zu deren Förderung im Rahmen der UNESCO von 2005 an eine Dekade initiiert wurde. Alle damit zusammenhängenden Fragen sind von zentraler Bedeutung für das Überleben der Menschen und der Menschheit. Worum geht es dabei? Wenn es nicht gelingt, im Rahmen der Globalisierung zu einem anderen Umgang mit den Ressourcen der Erde zu kommen, wird es voraussichtlich noch zu unseren Lebzeiten zu Kriegen um den Zugang zu diesen sich immer mehr verringernden Ressourcen kommen. Der Golf- und der Irakkrieg werden von vielen bereits als eine solche Form des Krieges angesehen, bei der es um den Erhalt des Zugangs zum Öl geht. Wie dem auch sei, die Zerstörung und Verknappung der Ressourcen der Erde reicht vom Öl über das Wasser bis zum Holz und zum Erz. Kaum gibt es einen Bereich, in dem die wachsende Bevölkerung

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der Erde nicht die nicht mehr erneuerbaren Ressourcen der Erde verbraucht. Die Agenda 21, der Kyoto-Gipfel haben Ziele angegeben, die zu erreichen nach wie vor äußerst schwierig ist und deren Realisierung doch keineswegs das Ende der Ressourcenvernichtung bedeutet. Die Industrialisierung und Modernisierung immer größerer Bereiche der Erde hat Lebensbedingungen erzeugt, deren destruktive Energien kaum zu steuern sind. Es scheint, als stoße die Aufklärung über diese Bedingungen auf die Grenzen ihrer Wirksamkeit. Der seit Jahren kontinuierlich wachsende destruktive Umgang mit den nicht erneuerbaren Ressourcen der Erde ist mit Aufklärung und Rationalität nicht zu überwinden. Es scheint, als seien die Menschen mit Blindheit geschlagen und nicht in der Lage, den Ernst ihrer Situation zu erkennen und die Unzulässigkeit des Verhaltens zukünftigen Generationen gegenüber zu begreifen. Aufklärung, auf die die Menschen seit dem nach ihr benannten Jahrhundert soviel Hoffnung gesetzt haben, scheint weitgehend vergeblich zu sein. Die Menschen taumeln ihrem Schicksal entgegen, unausweichlich und kontinuierlich. Die in Wahrheit im menschlichen Leben wirksamen Kräfte lassen sich durch Aufklärung nur in begrenztem Maße steuern. Die Sucht nach Konsum, Wohlstand und einem Lebensüberfluss scheint sich nicht brechen zu lassen – zumindest nicht in den Industrienationen der Gegenwart. Individuelle Bereicherung und kollektive Verarmung sind die Folgen. Verkünden nicht immer mehr Forscher das drohende Ende der Erde und scheinen nicht immer weniger Menschen sich davon beeindrucken zu lassen? Egoismus und die Förderung sozialer Ungerechtigkeit gegenüber den zukünftigen Generationen scheinen die unvermeidbare Folge zu sein. Wir wissen, dass wir die Erde zerstören, und scheinen es kaum ändern zu können. Wie das Kaninchen starren wir auf die Schlange, die das Ende bedeutet, unfähig, etwas zu bewegen und die Dinge so zu verändern, dass die Erde dem ihr drohenden Schicksal entgehen könnte. In anthropologischer Hinsicht stellt sich die Frage nach den Grenzen der Einsicht für die Veränderung menschlichen Verhaltens. Warum handeln wir nicht anders, als wir es tun – auch wenn wir es besser wissen? Vielleicht entsteht hier abermals eine Erfahrung, die unser Selbstverständnis grundlegend ändert. Wir sind weniger zu radikalen Maßnahmen in der Lage, als wir dies immer wieder suggerieren. Doch was bedeutet das für die Zukunft der Menschen? Offensichtlich wissen wir es besser und können dennoch unser Handeln nicht ändern, als vollzöge sich mit Präzision unser Schicksal – eine apokalyptische Sicht menschlicher Zukunft? Doch gibt es dazu eine Alternative? Wird weitere anthropologische Forschung einen Ausweg eröffnen? Die Hoffnung ist groß, doch die Skepsis bleibt. Auch Kassandra fand kein Gehör.

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10. Reflexive Anthropologie: Geschichte, Kultur, Philosophie

Angesichts der umfassenden globalen Transformationsprozesse der Gegenwart und der Gefahr des Verlustes des Anderen bzw. Fremden sowie angesichts der vielen mit der Globalisierung entstandenen Fragen nach dem Selbstverständnis der Menschen heute kommen der Anthropologie zunehmende Bedeutung und Aktualität zu. Man erwartet von ihr Antworten auf alte Fragen und auf die Komplexität und Undurchschaubarkeit menschlichen Lebens (Wulf 2004). Wer sind diese Menschen, die die Welt und bald auch ihre eigene Natur nach ihren Vorstellungen und Phantasmen so tiefgreifend umgestalten? Welche Rückschlüsse auf die menschliche Selbstauslegung erlauben diese Entwicklungen? Lassen sich handelnde Subjekte identifizieren? Oder sind es eher anonyme Transformationssysteme, die die Welt und die Menschen umgestalten? Fragen über Fragen, auf die es nur vorläufige Antworten gibt. Diese Fragen machen deutlich, wie wichtig in dieser Situation reflexives anthropologisches Wissen ist. Dieses kann nicht mehr an eine normative Anthropologie gebunden sein. Nach dem Tode Gottes (Nietzsche) und des Menschen im Sinne des europäischen, weißen, männlichen Menschen (Foucault) ist ein solcher normativer Anspruch endgültig überholt. Angesichts der Globalisierungsprozesse ist diese Einsicht besonders wichtig. Sie widerspricht einem Verständnis von Globalisierung als uniformierendem Prozess, dem der »flexible Mensch« (Sennett 1998) als normatives Menschenbild zugrunde zu liegen hat. Flexibilität, Mobilität, Teamgeist sowie Beschleunigung und Anschlussfähigkeit sind Aspekte dieses Menschenbildes; es akzentuiert das Individuum und stellt darin die Fokussierung eines eurozentrischen Menschenbildes dar. Auch die Betonung der Ökonomie und die Unterordnung sozialer und kultureller Aspekte unter Gesichtspunkte der Rationalisierung, Effektivitätssteigerung und Gewinnmaximierung haben den gleichen euro-amerikanischen Hintergrund. Eine auf einem solchen Menschenbild basierende Globalisierung trifft auf nachhaltige Widerstände in anderen Kulturen, in denen die Übernahme dieser spezifischen Normen und Werte

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als »Verrat« an der eigenen Kultur angesehen wird. Doch auch im Rahmen der europäischen Kulturen ist eine solche uniformierende anthropologische Norm nicht akzeptabel. Dies zeigen auch die Forschungen zur Historischen Anthropologie, mit der vielfältige transdisziplinäre Bemühungen bezeichnet werden, auch nach dem Ende einer verbindlichen anthropologischen Norm Phänomene und Strukturen des Menschlichen zu erforschen (Wulf 1997, 2001).1 Im Rahmen dieser Untersuchungen gilt es, die doppelte Geschichtlichkeit und Pluralität, die Kulturalität und Transkulturalität sowie die Interdisziplinarität und Globalität anthropologischen Wissens zu berücksichtigen. Im Unterschied zu den biowissenschaftlichen Anthropologien, die universelle Merkmale des Menschen identifizieren und erforschen wollen, wird in einer historischen, kulturwissenschaftlich ausgerichteten Anthropologie die Geschichtlichkeit der Forschungsobjekte, der Forschungssubjekte sowie ihrer Forschungsfragen und Forschungsmethoden betont. Obwohl prinzipiell die Geschichtlichkeit auch für biowissenschaftliche Anthropologien gilt, wird sie in ihnen nicht reflektiert. Genetik, Ethologie, Soziobiologie versuchen eher, zeit- und kulturübergreifende Erkenntnisse über den Menschen zu gewinnen. Dabei übersehen sie die Historizität und Kulturbedingtheit ihrer Fragestellungen und Methoden. Doch erst mit ihrer Berücksichtigung entsteht die Vielfalt und Pluralität anthropologischer Forschung. Was bedeuten Geschichte und die Berücksichtigung des geschichtlichen Charakters anthropologischer Phänomene? »Geschichte gestaltet sich immer im Wechselspiel von jeweils vorgefundenen strukturellen Gegebenheiten (Lebens-, Produktions- und Herrschaftsverhältnissen usw.) und der jeweils strukturierenden Praxis (Deutungen und Handlungen) der Akteure« (Dressel 1996, S. 163). Dies führt zu einer Orientierung der anthropologischen Forschung an Grundsituationen und elementaren Erfahrungen des Menschen, an einem »anthropologisch konstanten Grundbestand« (Peter Dinzelbacher), an »menschlichen Grundphänomenen« (Jochen Martin), an »elementaren menschlichen Verhaltensweisen, Erfahrungen und Grundsituationen« (Hans Medick) und damit zu einer starken Ausweitung der Fragestellungen, Themen und Forschungsverfahren. Thema ist hier z.B. nicht mehr die Erfindung der Kindheit zu Beginn der Neuzeit, sondern Kindheit an bestimmten Orten, in bestimmten Zeiträumen und in partikularen Kulturen. In epistemologischer Hinsicht konstituiert sich Anthropologie als »Historische Anthropologie« in der Auseinandersetzung mit der Philosophischen Anthropologie deutscher Herkunft, der in Frankreich entstandenen Schule der Annales und der Kulturanthropologie angelsächsischen Ursprungs. Trotz ihrer disziplinären, epistemologischen und methodischen Verschiedenheiten sind in diesen Strömungen wichtige, z.T. einander ergänzende Beiträge zum anthropologischen Wissen erarbeitet worden. Während sich die Kultur- bzw. Mentalitätsgeschichte der Historiker in epistemologischer und methodischer Hinsicht noch eher mit der Kulturan-

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118 | III Anthropologische Forschung und Reflexion thropologie der Ethnologen vermitteln lässt, unterscheiden sich beide Disziplinen vom Anliegen und methodischen Vorgehen der Philosophischen Anthropologie nachhaltig. Ging es ihren Vertretern darum, Erkenntnisse über das Gattungswesen »Mensch« zu gewinnen, so untersuchten die Historiker die Menschen in ihren historischen und die Ethnologen eher in ihren aktuellen kulturell unterschiedlichen Lebensbedingungen.

Philosophische Anthropologie In epistemologischer Hinsicht stand in der Philosophischen Anthropologie der Vergleich zwischen Mensch und Tier, genauer: zwischen dem menschlichen und dem tierischen Körper, im Mittelpunkt. Mit seiner Hilfe galt es universelle Merkmale des Menschen zu identifizieren. Dazu stützte man sich auf ein biologisches, vor allem morphologisches Wissen. Auf seiner Basis gelangte man zur Identifizierung von Merkmalen des Körpers, die für alle Menschen als charakteristisch angesehen wurden. Zu diesen gehörten u.a. die konstitutionelle Frühgeburt, der Status als Mängelwesen, der Hiatus zwischen Reiz und Reaktion, der aufrechte Gang, die Größe des Gehirns, die exzentrische Positionalität. Diese Charakteristika der conditio humana, die sich um weitere ergänzen lassen, werden als Konstitutionsbedingungen des Menschen angesehen, die unabhängig von Unterschieden der historischen und kulturellen Entwicklung Geltung beanspruchen. Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen, die zu den wichtigsten Vertretern der Philosophischen Anthropologie gehören, bleiben lange der Orientierung am Gattungswesen Mensch verhaftet.2 So geht es Max Scheler in seiner 1928 erschienenen Schrift um die Stellung des Menschen im Kosmos, die er im Vergleich zu anderen Formen des Lebendigen durch den Geist gegeben sieht. Der Geist ermöglicht dem Menschen Gegenstandsbewusstsein und Weltoffenheit. Für Helmuth Plessner steht zu dieser Zeit die Frage nach dem Verhältnis von Pflanze, Tier und Mensch im Mittelpunkt. Nach seiner Auffassung liegt die Besonderheit des Menschen in der Exzentrizität (vgl. dazu Fischer 2000; Krüger 1999). Diese macht es möglich, dass Menschen ihren Körper sowohl im Modus des Seins als auch im Modus des Habens erfahren. Einerseits spüren sie z.B. ihre Hand als Teil ihres Leibes, indem sie sie fühlen und empfinden. Andererseits erleben sie die Hand als ein Organ, das sie einsetzen, über das sie verfügen und dessen Gebrauch sie kontrollieren können. Auch in Arnold Gehlens Anthropologie steht die Besonderheit des Menschen im Vergleich zum Tier im Mittelpunkt. Hier wird der Mensch als Mängelwesen begriffen. Unter Rückgriff auf Herder, der bereits hundert Jahre zuvor im Mangel das konstitutive Moment menschlicher Existenz gesehen hatte, versucht Gehlen eine Theorie des Menschen zu entwickeln. Um als Einzelner und als Gattung überleben zu können, müssen individuelle und kollektive Handlungen darauf zielen, die für den Menschen konstitutiven

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Mängel zu überwinden. Im Rahmen dieses Prozesses entstehen Kultur und die ihr Kontinuität verleihenden Institutionen. So interessant derartige Versuche sind, einen Begriff vom Menschen aus einem Merkmal zu entwickeln, so sehr sind sie an normative Vorstellungen vom Menschen gebunden, deren Kulturalität und Historizität nicht reflektiert werden. So lässt sich einwenden, dass es den universellen Menschen, von dem die Philosophische Anthropologie handelt, nicht gibt, sondern dass Menschen immer nur in historischen und kulturellen Ausprägungen anzutreffen sind. Der dem philosophischen Denken zugrunde liegende universelle Mensch ist eine Abstraktion, die in der geschichtlichen und kulturellen Welt keine Entsprechung hat und die suggeriert, es gäbe den Menschen außerhalb historischer und kultureller Spezifizierungen. Gegenüber dieser Abstraktion wird von Seiten der Historischen Anthropologie und der Kulturanthropologie auf der Notwendigkeit bestanden, die Menschen in ihren historischen und kulturellen Ausprägungen zu untersuchen. In diesen zeigen sich jeweils unterschiedliche Merkmale, die erst die Menschen zu Menschen machen.

Anthropologie in der Geschichtswissenschaft Mit der historischen Wendung wird diese Perspektive in der Anthropologie weiter verfolgt. In der Geschichtswissenschaft wird sie sichtbar, seit in der französischen Schule der Annales und der von ihr ausgehenden Mentalitätsgeschichte anthropologische Themen bearbeitet werden. Diese Ausrichtung auf anthropologische Themen führt zu einer Neuorientierung der Geschichtsschreibung. Sie ergänzt die Darstellungen und die Analysen der Ereignisgeschichte und die Untersuchungen der Struktur- und Sozialgeschichte. Mit der Konzentration auf anthropologische Themen werden in stärkerem Maße sowohl die gesellschaftlichen Strukturen sozialer Wirklichkeit als auch die subjektiven Momente des Handelns sozialer Subjekte thematisiert. So werden elementare menschliche Verhaltensweisen und Grundsituationen erforscht. Im Unterschied zu den Ansätzen, die den allgemeinmenschlichen Charakter dieser Grundphänomene betonen, wird in der anthropologisch orientierten Geschichtswissenschaft der spezifisch historische Charakter der jeweiligen Phänomene untersucht. Die Studien Fernand Braudels (1990) zum Mittelmeer, Emmanuel LeRoy Laduries (1980) über das Dorf Montaillou vor dem Inquisitor oder Carlo Ginzburgs (1990) über die Welt eines Müllers um 1600 sind dafür gelungene Beispiele. Weniger genau im Detail ist zwangsläufig die Erforschung historischen Wandels im Bereich der »menschlichen Elementarerfahrungen« bzw. der Mentalitätsgeschichte (Raulff 1989; Dinzelbacher 1993). Hier begrenzt die Unzulänglichkeit der Quellenlage die Möglichkeiten historischer Forschung. Historisches Wissen entsteht in der Spannung zwischen Ereignis und Erzählung, zwischen Realität und Fiktion, zwischen Strukturgeschichte und narrativer Ge-

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120 | III Anthropologische Forschung und Reflexion schichtsschreibung; »eine Grenze zwischen Erzählung und Beschreibung [lässt sich] nicht einhalten« (Koselleck 1990, S. 113). Historisches Wissen bzw. Geschichtsschreibung ist daher stets Ergebnis kontrollierter Fiktion und Konstruktion. Ziel ist die Erforschung historischer Mentalität. Sie »ist das Ensemble der Weisen und Inhalte des Denkens und Empfindens, das für ein bestimmtes Kollektiv in einer bestimmten Zeit prägend ist. Mentalität manifestiert sich in Handlungen« (Dinzelbacher 1993, S. XXI). Dass sich historischer Wandel im Bereich der Mentalitäten erst über lange Zeiträume zeigt, ist immer wieder betont worden. Mentalitäten bilden keine in sich geschlossenen Blöcke, sie sind vielmehr füreinander durchlässig und miteinander vernetzt. Sie präformieren Handlungen in konkreten Situationen. Mentalitäten enthalten Orientierungs- und Entscheidungshilfen für soziales Handeln. Sie sind kultur-, schicht- und oft gruppenspezifisch. Wie Habitusformen entstehen sie unter spezifischen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen. Mentalitäten strukturieren das gesellschaftliche Handeln sozialer Subjekte vor, ohne es festzulegen; sie erlauben es dem Einzelnen, anders zu sein und anders zu handeln. Sie sind offen für Veränderungen und historischen Wandel. Das Verständnis ihrer Geschichtlichkeit macht den Blick frei für die Offenheit der Geschichte.

Kulturanthropologie Auch die Kulturanthropologie bzw. Ethnologie bietet der Historischen Anthropologie wichtige, erst in Ansätzen verarbeitete Anregungen (vgl. Ortner 1984). In ihrer Sicht ist es »außerordentlich schwer, zwischen dem Natürlichen, Universellen und Dauerhaften im Menschen und dem Konventionellen, Lokalen und Veränderlichen eine Grenze zu ziehen. Ja mehr noch, es liegt nahe, dass eine solche Grenzziehung die menschlichen Verhältnisse verfälscht oder zumindest fehlinterpretiert« (Geertz 1992, S. 59). Man findet den Menschen nicht »hinter« der Vielfalt seiner historischen und kulturellen Ausprägungen, sondern in ihnen. Deshalb reicht es nicht aus, z.B. »Generation«, »Familie«, »Erziehung« als kulturelle Universalien zu identifizieren; das impliziert ein hohes Maß an Abstraktion und ist daher wenig ergiebig. Erst die Untersuchung derartiger sozialer Phänomene und Institutionen in verschiedenen Kulturen zeigt ihre außerordentliche Vielfalt und liefert Aufschluss über die außerordentliche Vielgestaltigkeit von Kultur. Es ist gerade diese historische und kulturelle Vielfalt, die weitergehend auch Kenntnisse über die Gattung Mensch liefert. In ihrer Erforschung käme es allerdings weniger darauf an, lediglich »... die empirischen Gemeinsamkeiten seines [des Menschen] von Ort zu Ort und Zeit zu Zeit so unterschiedlichen Verhaltens hervorzuheben, als vielmehr die Mechanismen, mittels derer die ganze Bandbreite und Unbestimmtheit seiner angeborenen Vermögen auf das eng begrenzte und hochspezifische Repertoire seiner

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10. Reflexive Anthropologie: Geschichte, Kultur, Philosophie | 121 tatsächlichen Leistungen reduziert wird [...] Ohne die Orientierung durch Kulturmuster – organisierte Systeme signifikanter Symbole – wäre das Verhalten des Menschen so gut wie unbezähmbar, ein vollkommenes Chaos zielloser Handlungen und eruptierender Gefühle, seine Erfahrung nahezu formlos. Kultur, die akkumulierte Gesamtheit solcher Muster, ist demnach nicht bloß schmückendes Beiwerk, sondern – insofern sie die Grundlage seiner Besonderheit ist – eine notwendige Bedingung menschlichen Daseins« (Geertz 1992, S. 70f.).

Sahlins denkt in die gleiche Richtung, wenn er nach den Mechanismen fragt, mit deren Hilfe kulturelle Schemata entwickelt werden; er betont, dass das kulturelle Schema »durch einen dominanten Bereich der symbolischen Produktion [...] vielfältig gebrochen« wird. In der Folge geht er davon aus, dass es »einen bevorzugten Ort des symbolischen Prozesses« gibt, »von dem ein klassifikatorisches Raster ausgeht, das über die gesamte Kultur gelegt wird.« Für die westliche Kultur wird dieses in der »Institutionalisierung des Prozesses der Güterproduktion« gesehen. Dadurch unterscheidet sie sich von einer »primitiven« Welt, »wo die gesellschaftlichen Beziehungen, besonders die Verwandtschaftsbeziehungen der Ort der symbolischen Unterscheidung bleiben und andere Tätigkeitsbereiche durch die operativen Verwandtschaftsunterscheidungen bestimmt werden« (Sahlins 1985, S. 296). So ist wie die historische auch die kulturanthropologische Perspektive für eine reflexive Anthropologie insgesamt von zentraler Bedeutung. Richtet sich erstere diachron aus, orientiert sich letztere synchron auf die Vielfalt der Unterschiede zwischen den menschlichen Kulturen. Als Wissenschaft vom Fremden hat die Kulturanthropologie die Erforschung anderer Kulturen zur Aufgabe. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse haben nachhaltige Wirkungen auf das Verständnis des Fremden in der eigenen Kultur und auf den Kulturbegriff. Sie machen u.a. deutlich, wie unzulänglich alle Definitionen von Kultur sind. Jede Bestimmung macht einen Aspekt sichtbar und verdeckt damit zugleich eine Reihe anderer. Angesichts der Globalisierung von Politik, Wirtschaft und Kultur wird es noch schwieriger, einen Begriff von Kultur zu entwickeln, der diesen immer komplexer werdenden Bedingungen angemessen ist. Überlappung, Durchmischung und kulturelle Assimilation von Globalem, Nationalem, Regionalem und Lokalem führen zu neuen kulturellen Formen, deren Vielschichtigkeit nicht voraussehbar ist (Augé 1994; Appadurai 1996; Beck 1997; Dibie/Wulf 1999; Wulf/Merkel 2002). In der Folge der damit verbundenen neueren epistemologischen Entwicklungen wird in der ethnologischen Forschung von einem differenzierten Kulturbegriff ausgegangen, in dessen Rahmen die Bearbeitung von Differenz eine zentrale Rolle spielt. Es zeigt sich, dass neue Formen des Umgangs mit dem Fremden, d.h. mit den Angehörigen anderer Kulturen erforderlich werden. Dabei entsteht die Frage nach dem Verstehen des Nichtverstehens fremder Kulturen. So macht der Vergleich menschlicher Äußerungen in unterschiedlichen Kulturen deutlich, wie sehr die Untersuchung kultureller Phänomene

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122 | III Anthropologische Forschung und Reflexion neue Unsicherheiten und Fragen aufwerfen kann. Mit der Erforschung heterogener Kulturen liefern kulturanthropologische Arbeiten einen wichtigen Beitrag zur Ausweitung und Vertiefung der Anthropologie. Die Erforschung multikultureller Lebensbedingungen kann dazu beitragen, die Offenheit kultureller Entwicklungen zu erhalten. Denn: »Kultur [...] ist die Bewahrung des Möglichen. Die Weite ihres Horizonts ist der Lohn der Kontingenz« (Konersmann 1996, S. 354). Ethnographische Methoden führen zu anderen Formen des Wissens als philosophisches Denken und historische Quellenarbeit. Sie sensibilisieren nicht nur für das Fremde anderer Kulturen, sondern auch für das Fremde der eigenen Kultur. Daher trägt der Rückbezug der kulturanthropologischen Perspektive auf die Kulturen Europas zu einer erheblichen Ausweitung der anthropologischen Forschung bei.

Historische Anthropologie Viele kulturwissenschaftlich orientierte Forschungen im Bereich der Anthropologie gehen auf aktuelle Probleme und Fragen zurück. Zur Bearbeitung ihrer Themen bedienen sie sich historischer Rückgriffe und des Vergleichs mit ähnlichen Konstellationen in anderen Kulturen. Einige Arbeiten erforschen Zusammenhänge, die im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung vergessen worden sind oder entwickeln neue Fragestellungen im Hinblick auf bekannte Phänomene. Andere Studien versuchen, durch einen ethnographischen Blick und die mit ihm einhergehende Verfremdung Handlungen in ihrer kulturellen Bedingtheit neu zu sehen. Derartige Forschungen gehen umso weniger von der Homogenität von Kultur aus und betonen umso mehr die Vielfalt des Kulturellen und orientieren sich an einem differenzierten Kulturbegriff, wenn sich ihre Untersuchungen auf konkrete kulturelle Praktiken wie Spiele, Rituale und Gesten richten. In solchen Forschungen reicht es nicht aus, die verschiedenen kulturellen und erzieherischen Praktiken als Text zu lesen (Jay 1984; Berg/Fuchs 1993), wie dies längere Zeit in der Kulturanthropologie gefordert wurde (Clifford/Marcus 1986). Weiter führen Ansätze, die sich darum bemühen, die performativen Dimensionen kultureller Produktion, ihren modus operandi zu erforschen, der beispielsweise in den Aufführungen und szenischen Arrangements von Ritualen und im praktischen rituellen Handeln zum Ausdruck und zur Darstellung kommt (Gebauer/Wulf 1998; Wulf/Göhlich/Zirfas 2001). In Folge einer derartigen Orientierung entsteht ein neues Interesse an sozialen Aufführungen und Inszenierungen, die als kulturelle Äußerungen und Handlungen begriffen und als solche zu einem Thema kulturwissenschaftlicher anthropologischer Forschung werden (Wulf u.a. 2001; Paragrana 2001). Mit dem wachsenden Interesse an einer historisch und kulturwissenschaftlich orientierten anthropologischen Forschung und der damit ein-

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hergehenden Ausweitung der Themen, Methoden und Forschungsansätze ist auch ein Bemühen um multi-, inter- und transdisziplinäre Forschung verbunden (Wulf 1997; Wulf/Kamper 2002). Für viele ihrer Themen gibt es keine disziplinäre Verantwortlichkeit. Welche einzelne Disziplin wäre für Körper und Sinne, Raum und Zeit, Generation und Gewalt zuständig? Grenzüberschreitungen sind in den humanwissenschaftlichen Forschungen häufig, in anthropologischen unerlässlich. Sie erstrecken sich auf die Auswahl und Behandlung von Themen sowie auf die Methoden und Forschungsverfahren. Der Versuch, statt einer Geschichte die Vielfalt von Geschichten, statt einer Kultur die Mannigfaltigkeit von Kulturen, statt der Kindheit viele Kindheiten, statt einer Wissenschaft die Pluralität der Wissenschaften zu betonen, erzeugt bzw. referiert eine anthropologische Komplexität, deren Ansprüche die Möglichkeiten einer einzelnen Wissenschaft übersteigen. Zwar hat sich die Organisation des Wissens in Fachdisziplinen durchaus bewährt, doch entstehen in den Kulturwissenschaften bedeutende Erkenntnisse gerade dann, wenn die Spezialisierung des Wissens überschritten wird. Oft bilden sich neue Fragestellungen und Einsichten eher an den Rändern der Disziplinen, beim Übergang zu Nachbarwissenschaften oder zwischen Einzelwissenschaften. Erforderlich sind daher Such- und Forschungsbewegungen, deren interdisziplinärer Charakter die disziplinäre Forschung zu neuen Fragestellungen, Themen und Methoden anregt. Geschieht dies, können viele Fragen und Probleme auch in den Einzelwissenschaften disziplinübergreifend bearbeitet werden. Angesichts dieser Entwicklungen und der sich daraus ergebenden Forschungsdesiderate steht im Mittelpunkt Historischer Anthropologie nicht die Natur des Menschen, sondern die historisch-kulturelle Vielfalt menschlichen Lebens. Historische Anthropologie ist keine wissenschaftliche Disziplin, sondern eher eine Betrachtungsweise menschlicher Phänomene; weniger die Gegenstände und Themen als die Perspektiven, unter denen sie bearbeitet werden, definieren ihren Bereich. Historische Anthropologie bezeichnet den Versuch, methodisch und thematisch unterschiedliche anthropologische Perspektiven aufeinander zu beziehen und ihre Forschungen in einer Epoche durchzuführen, in der der normative Charakter traditioneller Anthropologie seinen allgemeinen Anspruch und seine Bindungskraft verloren hat und der Glaube, menschliche Geschichte würde im Sinne der Vernunft gestaltet, erschüttert worden ist. In der Historischen Anthropologie werden »Selbstverständlichkeiten« gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in Frage gestellt, verfremdet und zu Gegenständen und Themen der Forschung gemacht. Zentriert wird die Aufmerksamkeit auf menschliche Kulturen in bestimmten Räumen und Zeiten und auf die sich dort vollziehenden Veränderungen. Mit dieser Ausrichtung unterscheiden sich die Forschungen Historischer Anthropologie von den Arbeiten einer auf die Konstanten des Menschen zielenden Anthropologie. Sie reflektieren die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Erkenntnisse und betonen deren kulturellen, historischen und damit relati-

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124 | III Anthropologische Forschung und Reflexion ven Charakter. Ihre Forschungen sind pluralistisch und transdisziplinär organisiert; sie bilden heute das Zentrum der Kulturwissenschaften (vgl. Böhme/Matussek/Müller 2000). Historische Anthropologie umfasst damit vielfältige transdisziplinäre Bemühungen, nach dem Ende der Verbindlichkeit einer abstrakten anthropologischen Norm weiterhin Phänomene des Menschlichen zu erforschen. Historische Anthropologie steht in der Spannung zwischen Geschichte und Humanwissenschaften. Sie erschöpft sich jedoch weder in einer Geschichte der Anthropologie als Disziplin noch im Beitrag der Geschichte als Disziplin zur Anthropologie. Sie versucht vielmehr die Geschichtlichkeit ihrer Perspektiven und Methoden und die Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes aufeinander zu beziehen. Historische Anthropologie kann daher die Ergebnisse der Humanwissenschaften, aber auch die einer geschichtsphilosophisch fundierten Anthropologiekritik zusammenfassen und für neuartige, paradigmatische Fragestellungen fruchtbar machen. Sie ist weder auf bestimmte kulturelle Räume noch auf einzelne Epochen beschränkt. In der Reflexion ihrer eigenen Geschichtlichkeit und kulturellen Bedingtheit will sie den Eurozentrismus der Humanwissenschaften ebenso wie ein lediglich antiquarisches Interesse an Geschichte hinter sich lassen und gibt offenen Problemen der Gegenwart wie der Zukunft den Vorzug.3 Nicht länger sind es also die Stellung des Menschen im Kosmos und der Vergleich mit dem Tier oder mit der Maschine, die im Mittelpunkt der Anthropologie stehen. Stattdessen untersuchen historisch-anthropologische Forschungen die kulturelle Vielfalt gesellschaftlichen Lebens (vgl. Soeffner 2000; Hahn 2000). Ein starkes Interesse gilt dabei auch der Erforschung der Phänomene der Gegenwart. Die auf dieses Ziel ausgerichteten Untersuchungen Historischer Anthropologie liefern einen wichtigen Beitrag zum Selbstverständnis und zur Selbstauslegung von Kultur und Gesellschaft heute. In diesem Prozess kultureller Selbstverständigung müssen diese Forschungen darauf achten, nicht hinter den Stand ihrer eigenen Erkenntnisse zurückzufallen. Daher bedarf es der Reflexion ihrer Eingebundenheit in die Zusammenhänge von Macht und Wissen und der Aufdeckung der ungewollten normativen Implikationen ihrer Untersuchungen. Anthropologiekritik ist daher ein wichtiges Element Historischer Anthropologie, das zu einer gewollten Verunsicherung führt und den Zweifel nährt an der Übereinstimmung zwischen dem Namen des Menschen und dem Namen des Seins, der Logik des identifizierenden Begriffs, der Reichweite der Hermeneutik, der »Geschichte als kontinuierlicher Fortschritts- und Aneignungsgeschichte der Vernunft« und am Bild vom »Subjekt als selbst- und weltkonstitutivem, monozentral verfasstem Bewusstseinsfeld« (Wimmer 1998).

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Der Körper als Zentrum der Anthropologie Nach dem Ende einer allgemeinen normativen christlichen Anthropologie steht seit dem ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts der Körper im Mittelpunkt der Anthropologie. Max Scheler charakterisierte die Situation, die dazu führte, wie folgt: »Wir sind in der ungefähr zehntausendjährigen Geschichte das erste Zeitalter, in dem sich der Mensch völlig und restlos ›problematisch‹ geworden ist; in dem er nicht weiß, was er ist, zugleich aber auch weiß, daß er es nicht weiß« (Scheler 1955, S. 62). Der Körper ist die Bedingung menschlicher Existenz, die auch dann gegeben ist, wenn diese Existenz in jeder Hinsicht zweifelhaft geworden ist. In der Auseinandersetzung mit dem Körper soll ein Wissen gewonnen werden, das in dieser Situation des Nicht-Wissens, wer der Mensch sei, dazu beiträgt, etwas über den Menschen zu erfahren, das trotz allen Zweifels als Grundlagenwissen angesehen werden kann (Schmitz 1965/1988; Waldenfels 1985). Auch in der Historischen Anthropologie wurde der Körper zum Ausgangspunkt der Forschung. Mit der »Wiederkehr des Körpers« wurde in den Geistes- und Sozialwissenschaften ein Untersuchungsfeld aufgetan, das bis heute zentral ist. Nun war es jedoch der historisch und kulturell unterschiedlich geformte Körper, der in den Kulturwissenschaften zum Thema wurde. Wichtig wurde die Untersuchung der Vielfalt menschlicher Körper mit ihren in kultureller und historischer Hinsicht unterschiedlichen Darstellungs- und Ausdrucksformen.4 Die Diskussionen der letzten Jahrzehnte oszillieren zwischen Auffassungen, die die Materialität der Körper betonen, und solchen Positionen, die vor allem infolge der neuen Medien und der Technologien des Lebendigen eher von nachhaltigen Veränderungen dieser Materialität ausgehen.5 Unabhängig von der Einschätzung zukünftiger Entwicklungen besteht Übereinstimmung über die zentrale Bedeutung des Körpers für die Prozesse kultureller Selbstthematisierung und Selbstauslegung. In historischen Analysen wurde die Entstehung der modernen Körper mit den sie hervorbringenden Prozessen der Distanzierung und Disziplinierung, der Sichtbarmachung des Inneren und der Selbstbeobachtung, des Willens zum Wissen und der Ausbreitung der Macht nachgezeichnet (Elias 1978; Foucault 1975, 1976, 1977). Im Mittelpunkt des Interesses stehen gegenwärtig Fragen der Entmaterialisierung, Technologisierung, Fragmentarisierung, Geschlechtlichkeit und Performativität des Körpers. Nachhaltig wirken die neuen Medien an der Entmaterialisierung körperlicher Wahrnehmungen und Erfahrungen mit. Die Anfänge dieses Prozesses lassen sich bei der Literalisierung der Gesellschaft und bei der Verbreitung der Schrift infolge der Einführung des Buchdrucks und der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht nachweisen (Sting 1998). Mit der Verbreitung der Bildmedien nehmen Prozesse der Entmaterialisierung insofern zu, als nicht mehr die körperliche Präsenz, sondern die Transformation des Körpers ins Bild angestrebt wird. Diese Verwandlung schreibt sich in einen Prozess ein, in dem die Welt zum Bild wird und den

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126 | III Anthropologische Forschung und Reflexion bereits Heidegger antizipiert hat, als er schrieb: »Das Weltbild wird nicht von einem vormals mittelalterlichen zu einem neuzeitlichen, sondern dies, dass überhaupt die Welt zum Bild wird, zeichnet das Wesen der Neuzeit aus« (Heidegger 1980, S. 88). In den neuen Medien führt diese Transformation ins Bild zur Möglichkeit weltweiter Ubiquität und Simultaneität der menschlichen Körper.6 Die Bildsucht der Gegenwart und die neuen Formen der Idolatrie sind die Folgen dieser Entwicklung.7 In diesem Prozess der Abstraktion spielt die Technologisierung des Lebens eine wichtige Rolle. Hier sind es vor allem die Prozesse der körperlichen Angleichung an Maschinen, die für die zukünftige Entwicklung bestimmend sind.8 Ziel der Technologien des Lebendigen ist eine immer weiter reichende Verlagerung der Schnittstellen zwischen Körper und Maschine ins Körperinnere (Stafford 1991; Barkhaus/Fleig 2002). In diesem Prozess spielen Prothesen eine wichtige Rolle, mit denen krankheitsbedingte körperliche Unzulänglichkeiten kompensiert werden (Berr 1990). Doch die Entwicklung geht weiter: Langfristig werden die Technologien des Lebens (Haraway 1995; Gray 1995), und hier besonders Gentechnologie und Reproduktionstechnologien, den menschlichen Körper nachhaltig verändern (Lösch 2000). Mit diesen Prozessen einher geht die Fragmentarisierung der menschlichen Körper. Vorangetrieben wird sie in der Werbung und in den neuen Medien. Nicht mehr ganze Körper, sondern Körper in Teilen kommen hier zum Einsatz. Nach Deutung verlangen die Prozesse der Zerteilung, die rituellen Praktiken mit Körperteilen, die Fetischisierung und die Erotisierung der einzelnen Körperteile. Insgesamt geht es um das Verhältnis von Darstellungsmedium und Körper, von Ausdruck und Inkorporierung (Benthien/Wulf 2001; vgl. auch Benthien/Fleig/Kasten 2000). Die Differenzierung zwischen »sex« und »gender« und die Problematisierung dieser Unterscheidung in der feministischen Theorie und in der Queer-Theorie (Jagose 2001) zeigen, dass auch die menschliche Geschlechtlichkeit nicht natürlich ist, sondern wie Sprache und Einbildungskraft in einem historisch-kulturellen Prozess entsteht. Von Anfang an steht der menschliche Körper in Beziehung zum sexuellen Diskurs, doch wird er nicht durch ihn konstituiert. Er ist keine passive Matrix für kulturelle Prozesse; seine Geschlechtlichkeit entsteht in einem aktiven Prozess, in dessen Verlauf es zur Materialisierung des geschlechtlichen Körpers kommt. Der Körper erscheint als Ergebnis von Ausschlüssen auf der Basis sexueller Differenz und sozialer Regulierungen sowie früher Erfahrungen.9 Zentral ist heute die Frage nach der Performativität menschlicher Körper und nach den performativen Dimensionen kultureller Produktion.10 Untersucht wird Performativität als soziale Praxis und Materialisierung des In-Szene-Setzens von Möglichkeiten.11 Menschen stellen in Szenen und Arrangements körperlich dar, wie sie ihr Verhältnis zu anderen Menschen und zur Welt begreifen und welches implizite Wissen sie dabei leitet. Der Aufführungs- und der ludische Charakter sozialen Handelns werden wich-

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tig. Dabei spielen Kontingenzen und Kontinuitäten eine wichtige Rolle (Wulf/Göhlich/Zirfas 2001). Entmaterialisierung, Technologisierung, Fragmentarisierung, Geschlechtlichkeit und Performativität sind miteinander verschränkte Prozesse, die für das Verständnis des Körpers in den westlichen Gesellschaften heute zentral sind. In diesem Kontext hat der Körper nicht mehr die normierende Funktion, die er noch am Anfang des Jahrhunderts in der Philosophischen Anthropologie hatte. Mehr denn je ist er zum Problem geworden; einst feste Vorstellungen haben sich verflüssigt. Von welchem Körper ist die Rede, wenn vom Körper gesprochen wird, so lautet die entscheidende Frage. Angesichts seiner Komplexität entzieht sich der menschliche Körper insgesamt immer wieder der Erkenntnis, so dass seine Erforschung zu den nicht zu Ende kommenden Aufgaben historisch-anthropologischer Untersuchungen gehört.

Perspektiven Historisch-anthropologische Forschung kann sowohl disziplinär als auch interdisziplinär organisiert sein. Als Beispiele für systematische historischanthropologische disziplinäre Forschung seien die Geschichtswissenschaft12 und die Erziehungswissenschaft13 genannt. Doch auch in den Literaturwissenschaften14 finden sich immer mehr Forschungen, die anthropologischen Fragestellungen folgen. Viele dieser Untersuchungen wählen von ihren Disziplinen ausgehend transdisziplinäre Perspektiven. Mit dem in den Geistes- und Sozialwissenschaften sowie in der Philosophie wachsenden Interesse an historisch-anthropologischer Forschung und der damit einhergehenden Ausweitung und Umstrukturierung von Themen, Methoden und Forschungsansätzen wächst auch das Bemühen um multi-, inter- und transdisziplinäre Forschung. Denn für viele der in der Historischen Anthropologie behandelten Themen gibt es keine disziplinäre Zuständigkeit.15 Deshalb sind disziplinäre Grenzüberschreitungen in diesen Forschungen unerlässlich, deren inter- bzw. transdisziplinärer Charakter auch die fachwissenschaftliche Forschung zu neuen Fragestellungen, Themen und Methoden anregt. Dazu gehören z.B. auch die Bände Logik und Leidenschaft und Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie (Wulf 1997) sowie zahlreiche Publikationen des Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen«16. Historische Anthropologie umfasst, wie auch die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Anthropologie, keinen eindeutig begrenzten Gegenstandsbereich. Sie ist eher durch gemeinsame Fragen und Betrachtungsweisen gekennzeichnet. In der gegenwärtigen Situation der Wissenschaftsentwicklung ist dies eher ein Vorteil, der dazu beiträgt, neue Fragestellungen und Themen zu entdecken und in neuer Perspektive zu bearbeiten. Mit dieser Situation geht einher, dass die Anthropologie über kein

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128 | III Anthropologische Forschung und Reflexion allgemein bestimmbares Ensemble von Forschungsmethoden und -verfahren verfügt. Je nach Fragestellung und Kontext werden die Gegenstände und Methoden anthropologischer Forschung konstruiert. In diesen Prozess gehen die Materiallage, die Themenauswahl und die Forschungsintention sowie Entscheidungen über Forschungsmethoden und -verfahren ein und spielen eine bestimmende Rolle. Da viele Fragen menschlicher Existenz in unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten zum Ausgangspunkt und Material der Forschung werden können, ist das Spektrum möglicher Themen, Materialien und Methoden breit. Wenn solche Forschungen den Kontext disziplinären Wissens mit seinen bewährten inhaltlichen und methodischen Qualitätsmaßstäben verlassen, machen sie sich angreifbar und ihre Ergebnisse werden bisweilen kontrovers diskutiert. Doch werden neue Wege des Denkens, Untersuchens und Forschens oft eben gerade erst dadurch gefunden, dass inhaltlich und methodisch vertrautes Terrain verlassen wird. Solche Grenzüberschreitungen können sich vermutlich nicht ohne Kontroversen vollziehen. So fürchteten noch vor einigen Jahren eine Reihe Literatur- und Kunstwissenschaftler die Funktionalisierung von Texten und Bildern und die sich daraus ergebende mangelnde Berücksichtigung ihrer ästhetischen Qualität und wehrten sich gegen Versuche, literarische Texte oder Kunstwerke zur Untersuchung anthropologischer Phänomene heranzuziehen. Desgleichen bezweifelten einige Sozialwissenschaftler den Aussagewert literarischer Texte und Bilder für wissenschaftliche Untersuchungen. Mittlerweile jedoch hat sich die Literaturwissenschaft für anthropologische Fragen geöffnet und stellen Sozialwissenschaftler den Wert der Verwendung literarischer und bildlicher Quellen für die Erforschung anthropologischer Fragen und Phänomene kaum noch in Frage. Der konzeptuelle und methodische Austausch zwischen den in der historisch-anthropologischen Forschung kooperierenden Wissenschaften ist produktiv; er bringt neue Forschungsansätze hervor, ohne dass dadurch aber die Anwendung klassischer hermeneutischer oder dekonstruktiver Verfahren an Bedeutung verlöre. Zu diesen neuen Verfahren gehören u.a. die Entdeckung des ethnologischen Blicks, die kulturanthropologische Feldforschung mit der Anwendung der Methoden ethnographischer bzw. qualitativer Sozialforschung sowie der diachrone und synchrone Vergleich. Der ethnologische Blick verfremdet Vertrautes, lässt neue Fragen entstehen und macht neue Perspektiven möglich. Die Rezeption ethnologischer Fragestellungen und Forschungsverfahren (vgl. u.a. Jessor/Colby/ Shweder 1996; Denzin/Lincoln 1994) führt zur Anwendung und zur Weiterentwicklung der qualitativen Sozialforschung.17 Aufgrund des Verzichts, Aussagen über den Menschen zu machen und stattdessen die Vielfalt menschlicher Kulturen in Raum und Zeit zu erforschen, wird schließlich der Vergleich als methodisches Verfahren Historischer Anthropologie immer wichtiger. Er trägt dazu bei, das Spezifische einer Situation bzw. eines Phänomens zu erfassen, es in seiner Eigenart zu begreifen und darzustel-

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len, so dass ihm als methodischem Verfahren stetig wachsende Bedeutung zukommt.18 Auch die internationale bzw. transnationale Ausrichtung der historisch-anthropologischen Forschung gewinnt zunehmend an Bedeutung; die Globalisierungs- und die Europäisierungsdynamik schaffen dafür wichtige Voraussetzungen. Jedoch liegen die inneren Gründe für das wachsende Interesse an transnationaler Kooperation in der Relativierung normativer Anthropologien und der dadurch entstehenden Offenheit für neue anthropologische Fragen, Methoden und Erkenntniszusammenhänge. Der in der transnationalen Zusammenarbeit entstehende Komplexitäts- und Erkenntniszuwachs ist in der historisch-anthropologischen Forschung auf die prinzipielle Unergründbarkeit des Menschen und die sich daraus ergebenden Grenzen humanwissenschaftlicher Forschung bezogen. Im Bereich einer kulturwissenschaftlich orientierten historischen Anthropologie hatte sich das Projekt »Logik und Leidenschaft« (vgl. Anm. 19) ausdrücklich um Inter- und Transdisziplinarität bemüht. In seinem Rahmen wurden die Fragestellungen und Themen so ausgewählt, dass keine Wissenschaftsdisziplin allein für sie Zuständigkeit beanspruchen konnte. Deshalb arbeiteten Wissenschaftler aus vielen Disziplinen an der Erforschung der thematisierten anthropologischen Phänomene. Manche ihrer Arbeiten blieben disziplinbezogen, so dass sie eher zu den multidisziplinären Bemühungen gehörten; andere waren interdisziplinär konzipiert und berücksichtigten Fragestellungen und Erkenntnisse mehrerer Disziplinen. Wieder andere Untersuchungen bewegten sich an den Rändern oder sogar zwischen den Disziplinen oder waren transdisziplinär.20 In der Anthropologie ist eine transdisziplinäre Kooperation erst in den Anfängen; jedoch gehört sie seit längerem zu den Desideraten anthropologischer Forschung. So vermag anthropologische Forschung heute, auf Fragen, Probleme und Anforderungen zu antworten, die sich aus der Globalisierungsdynamik ergeben. Sie zielt auf ein disziplinübergreifendes transnationales Wissen. Sie reagiert auf die neuen Lebens-, Kommunikations- und Wissensformen, auf die die einzelnen Fachwissenschaften nur in begrenztem Maße eingehen (können). Anthropologisches Wissen umfasst eine Vielfalt von Gesichtspunkten, historische und kulturelle Mannigfaltigkeit, den konstruktiven Umgang mit dem Anderen und die sich daraus ergebende Komplexität. Anthropologische Reflexion bezieht die weltweit neu entstehenden Bedingungen auf Fragen der Selbstdeutung und Selbstauslegung menschlicher Geschichte und Zukunft und schafft damit zentrale Voraussetzungen für Erziehung und Bildung.

Anmerkungen 1

Ihren Ausgangspunkt nahmen diese Untersuchungen, die ihren Niederschlag u.a. in den Buchreihen Historische Anthropologie im Reimer-

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130 | III Anthropologische Forschung und Reflexion Verlag Berlin, Pädagogische Anthropologie im Deutschen Studienverlag Weinheim und in der Zeitschrift Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie gefunden haben, in folgenden von Dietmar Kamper und Christoph Wulf herausgegebenen internationalen, transdisziplinären Studien zur Historischen Anthropologie: Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt am Main 1982; Der Andere Körper, Berlin 1984; Das Schwinden der Sinne, Frankfurt am Main 1984; Lachen – Gelächter – Lächeln. Reflexionen in drei Spiegeln, Frankfurt am Main 1986; Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt am Main 1987, 2. Aufl. 1997; Die sterbende Zeit, Darmstadt/Neuwied 1987; Das Schicksal der Liebe. Die Wandlungen des Erotischen in der Geschichte, Weinheim 1988; Die erloschene Seele, Berlin 1988; Der Schein des Schönen, Göttingen 1989; Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte, Berlin 1989; Rückblick auf das Ende der Welt, München 1990; Schweigen. Unterbrechung und Grenze der menschlichen Wirklichkeit, Berlin 1992; vgl. dazu Wulf/Kamper 2002. 2 Scheler 1928; Plessner 1981; Gehlen 1978. Vgl. auch Groethuysen 1969; Landmann u.a. 1962; Portmann 1956; vgl. disziplinspezifisch ansetzend auch Gadamer/Vogler 1972ff. 3 Vgl. u.a. Kamper 1973; Gebauer/Kamper/Lenzen/Mattenklott/Wulf/ Wünsche 1989; Wulf 1997; Gebauer 1998. 4 Le Breton 1990; Huisman/Ribes 1992; Featherstone/Hepworth/Turner 1991. 5 Bernard 1980; Böhme 2001; Rötzer 1996. 6 Keck/Pethes 2001; Mirzoeff 1998; Krämer 1997. 7 Belting 2001; Belting/Kamper 2000; Schäfer/Wulf 1999; Mollenhauer/Wulf 1996; Boehm 1994; Mitchell 1994; Welsch 1993; Debray 1992. 8 Köpping/Papenburg/Wulf 2005; Meyer-Drawe 1996; List/Fiala 1997. 9 Vgl. u.a. List 1993; Lindemann 1993; Butler 1997, 1998. 10 Vgl. Wulf 2005; Goldberg 1988; Tulloch 1999. 11 Paragrana 7 (1998) 1: Kulturen des Performativen, 10 (2001) 1: Theorien des Performativen und 13 (2004) 1: Praktiken des Performativen; Gebauer/Wulf 1993; Willems/Jurga 1998; Bourdieu 1993, 1997. 12 Zum Überblick: Dressel 1996; van Dülmen 2000. Exemplarische Untersuchungen: Rüsen 1989; Habermas/Minkmar 1992; Middell 1994; Conrad/Kessel 1994; Lüdtke/Kuchenbuch 1995; Lüdtke 1989; Martin 1994; Medick 1989; Brown 1991. International: Burke 1991, 1992; de Certeau 1991; Nora 1989; LeGoff 1978, 1987, 1988. 13 Vgl. die Veröffentlichungen der Kommission Pädagogische Anthropologie der Sektion Allgemeine Erziehungswissenschaft der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft im Deutschen Studienverlag Weinheim: Göhlich 2001; Liebau/Schumacher-Chilla/Wulf 2001; Schäfer/Wulf 1999; Bilstein/Miller-Kipp/Wulf 1999; Liebau/ Miller-Kipp/Wulf 1999; Zirfas 1999; Dieckmann/Sting/Zirfas 1998; Sting 1998; Lüth/Wulf 1997; Liebau/Wulf 1996; Wulf 1996; Mollen-

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hauer/Wulf 1996; Liebau/Peskoller/Wulf 2003. – In Arbeit sind drei weitere Untersuchungen zu den Themen »Religion«, »Spiel« und »Liebe«. Vgl. u.a. Benthien 2002; Röcke 1996; Bachmann-Medick 2004; Schings 1994; Riedel 1994; Behrens/Galle 1995. So für die Frage der Gewalt; vgl. dazu Wimmer/Wulf/Dieckmann 1995; Dieckmann/Wulf/Wimmer 1996. Genannt seien hier in exemplarischer Absicht u.a. Paragrana 7 (1998) 1: Kulturen des Performativen; 9 (2000) 2: Inszenierungen des Erinnerns; 10 (2001) 1: Theorien des Performativen; 11 (2002) 1: (ver)Spiel(en). Felder – Figuren – Regeln; 12 (2003) 1 u. 2: Wirklichkeiten des Rituals. Vgl u.a. Flick 2002; Bohnsack 1999; Flick/v. Kardorff/Steinke 2000; Krüger/Marotzki 1999; Friebertshäuser/Prengel 1997. Seine Bedeutung für die qualitative Sozialforschung betont vor allem Bohnsack 1999. Ähnlich orientiert waren die von Gumbrecht und Pfeiffer (1986, 1988, 1991) organisierten kulturwissenschaftlichen Untersuchungen oder die multi-, inter-, und transdisziplinären Studien, die unter dem Rahmenthema »Poetik und Hermeneutik« seit 1969 veröffentlicht wurden. Einige der späteren Arbeiten, etwa zum »Gespräch«, zur »Memoria« oder zum »Ende«, haben auch anthropologische Dimensionen.

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11. Die anthropologische Herausforderung des Offenen

Wie viel Offenheit halten Menschen aus und woher wissen wir, ob und wieweit menschliche Geschichte offen ist? Auf diese Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten. Wie sie lauten, hängt von der geschichtlichen Zeit, der jeweiligen Kultur und von den Voraussetzungen ab. Deshalb sollen diese Fragen in historischer und kultureller Perspektive thematisiert werden. Zugleich verweisen die Fragen nach der Gestaltung und nach der Gestaltbarkeit des »Offenen« darauf, wie sich Menschen sehen und verstehen; sie verweisen auf Anthropologie, auf Historische Anthropologie, die die Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes und ihre eigene Geschichtlichkeit berücksichtigt. In der Frage nach der Offenheit menschlicher Geschichte und nach der Möglichkeit von Zukunft gibt es keine ein für allemal gültige Antwort; jede Antwort ist kontextbezogen und kann damit nur relative Gültigkeit beanspruchen. Mein Verständnis von Offenheit als »anthropologischer Kategorie« geht davon aus, dass »Offenheit« in einem Abgrenzungsverhältnis zu »Geschlossenheit« steht. Offenheit kann als historische Entwicklungsmöglichkeit nur in Bezug auf mangelnde Offenheit, also in Bezug auf eingeschränkte Entwicklungsmöglichkeiten bestimmt werden. Insofern Menschen ihr Leben auf der Grundlage eigener Entscheidungen führen, scheint ihr Leben prinzipiell offen zu sein. Doch vielleicht trügt der Schein? Wie weit sind denn die so genannten eigenen Entscheidungen »eigene«? Werden nicht Entscheidungen häufig durch gesellschaftliche und nicht steuerbare psychische Bedingungen vorherbestimmt? Wie mischen sich in einer »eigenen« Entscheidung Momente des Begehrens, des Wissens und der Analyse, und wie kulturelle und soziale Bedingungen? Anthropologie, Soziologie, Psychologie und Psychoanalyse haben unser Wissen über diese Zusammenhänge beträchtlich erweitert. Mit dem Zweifel an der Geschichtsmächtigkeit des Menschen, der Erkenntnis des Umschlags der Aufklärung in ihr Gegenteil, der Einsicht in die Unhintergehbarkeit der Ge-

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walt und der Wahrnehmung der Ambivalenz des Imaginären ist Skepsis hinsichtlich eines »Umzugs« ins Offene geboten. Im Weiteren möchte ich die anthropologische Bedeutung des Offenen an fünf Beispielen aus unterschiedlichen Bereichen behandeln, die von verschiedenen Disziplinen thematisiert werden und die Teilantworten auf unsere Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Offenen beinhalten: •







Der Umzug ins Offene am Anfang der Menschwerdung. Unter Rückgriff auf paläontologische Forschungen soll verdeutlicht werden, dass der Umzug aus den schützenden Wäldern in die offene Savanne für die Hominisation von einschneidender Bedeutung war. Weltoffenheit. Unter Bezug auf Forschungen der biologischen Anthropologie werden die Unterscheidungen zwischen Umwelt und Welt, Umweltgebundenheit der Tiere und Weltoffenheit der Menschen von der Philosophischen Anthropologie aufgegriffen und ausgearbeitet. Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit. Mit der Entstehung der modernen Pädagogik, deren Aufgabe die Vervollkommnung des Einzelnen ist, und der Anthropologie, die auf die Vervollkommnung der Gattung zielt, wird Perfektibilität zu einem zentralen Ziel der Entwicklung; verdrängt werden die der Herstellbarkeit der Menschen entgegenstehenden Grenzen menschlicher Plastizität und Offenheit. Homo absconditus – Komplexität und Unsicherheit. Der Mensch ist sich selbst verborgen; er kann sich nur in Fragmenten begreifen; es bleibt eine nicht auflösbare Differenz zwischen Erkennen und Handeln. Offene Situationen werden zu geschlossenen, geschlossene zu offenen. Der Wechsel zwischen ihnen macht die Dynamik individuellen und gesellschaftlichen Lebens aus.

Der Umzug ins Offene am Anfang der Menschwerdung Nach neueren paläontologischen Forschungen spielt der Übergang von einer geschlossenen zu einer offenen Lebenswelt im Prozess der Hominisation eine zentrale Rolle. Der Vormensch hätte nicht zum Menschen werden können, wenn er nicht im Verlauf eines langen zeitlichen Prozesses das schützende Biotop »Dschungel« verlassen und in das offene Biotop »Savanne« gezogen wäre. Dieser (erste) »Umzug ins Offene« am Anfang der Menschwerdung ist ein zentrales Element in dem komplexen, sich über lange Zeiträume erstreckenden Prozess der Hominisation, dessen Länge und Unbekanntheit in dem Diktum »Menschen haben Geburtsdaten, der Mensch hat keines« (Geertz) zum Ausdruck kommt. In diesem multidimensionalen Prozess, der schließlich zum homo sapiens sapiens führt, greifen zahlreiche Elemente ineinander. Der »Umzug ins Offene« der Savanne ist ein wichtiges unter ihnen.

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134 | III Anthropologische Forschung und Reflexion Nach heutigem Wissen ist der Prozess der Hominisation nicht allein das Ergebnis biologischer Evolution und schon gar nicht ausschließlich das Ergebnis spiritueller oder sozialer Entwicklungen, sondern eine komplexe vieldimensionale Morphogenese aus den Wechselwirkungen genetischer, ökologischer, zerebraler, sozialer, kultureller Faktoren. Dadurch entsteht eine neue Komplexität im Verständnis der Hominisation, die viele bisherige Deutungen als reduktionistisch erscheinen lässt. Weder reicht eine biologische noch eine soziale oder kulturelle Erklärung, die Komplexität der Hominisation zu begreifen. Hominisation bedeutet allerdings nicht nur die Entstehung des homo sapiens sapiens, sondern auch das Verschwinden von Arten, die sich für einige Zeit durchgesetzt hatten, wie der australopithecus, der homo habilis, der Man 1470, der homo erectus, der homo neandertalensis. Am Anfang der Menschwerdung stehen nach heutiger Erkenntnis eine ökologische Veränderung, die zur Ausbreitung der Savanne und damit zu einem »offenen« Biotop führte, eine genetische Veränderung bei einem hochentwickelten Primaten, eine Veränderung der sozialen Selbstreproduktion durch die Abspaltung jugendlicher Gruppen und die Gründung neuer Territorien menschlichen Lebens. In der Verschränkung dieser Faktoren liegt das Rätsel der Menschwerdung. Im Unterschied zu früheren Interpretationen, die nur einzelne Aspekte hervorheben, entsteht durch die Berücksichtigung aller dieser Aspekte eine neue Komplexität unseres Verständnisses der Hominisation. Für unsere Überlegungen gilt festzuhalten: Eine nachhaltige ökologische Veränderung mit der Zurückdrängung des schützenden und nährenden Waldes und der Ausbreitung der offenen Savanne führt zu neuen Lebensbedingungen der Vormenschen. »Mit all den Nöten und Gefahren, die sie bereit hält, schafft die Savanne die Bedingungen der Vollbeschäftigung für die zweifüßigen, zweihändigen und zerebralen Fertigkeiten. Das neue Ökosystem bringt nämlich seine Zwänge, seine Orientierungen und seine Gefahren mit, und sie wirken als Stimuli für die Entwicklung der vielfältigen Fähigkeiten, die beim Vorfahren der Wälder existierten, der – ein Verwandter des Schimpansen – mit einem flinken Hirn, einem scharfen Blick, einem Allesfresser-Appetit ausgestattet, bereits imstande war, einen Zweig in einen Knüppel und einen Kieselstein in ein Wurfgeschoß zu verwandeln und gemeinsam auf kleine Säugetiere Jagd zu machen. Mit dem Verschwinden der Bäume wird den Gefahren der Savanne ein Wesen ausgesetzt, bei dem sich Geschlecht und Bauch dem Prankenhieb und dem Fangbiß des Räubers darbieten; die Suche nach Nahrung wird gefährlich und darüber hinaus schwierig, wenn es sich um ein seltenes oder flüchtiges Beutetier handelt. Wachsamkeit, Aufmerksamkeit, List werden zu lebenswichtigen Eigenschaften, man muß die schwächsten Bewegungen und die feinsten Spuren als Hinweise deuten können, man muß – individuell und kollektiv – zur Verteidigung und – wenn es um die Jagd geht – zum Angriff bereit sein [...] Es ist also die Savanne, das neue Ökosystem, das die (zugleich phänomenale und genetische) Dialektik von Fuß, Hand und Gehirn ausgelöst hat und zum Ursprung

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11. Die anthropologische Herausforderung des Offenen | 135 der Technik und aller übrigen Entwicklungen wurde. In der Folge hat das neue Ökosystem jede Steigerung der Vorzüge und Fähigkeiten des Jägers und Gejagten begünstigt und die Bedingungen geschaffen, unter denen die zunächst koexistierenden Arten in eine Konkurrenz traten, aus der schließlich allein der Hominide mit dem am stärksten entwickelten Gehirn als Sieger hervorging« (Morin 1974, S. 70ff.).

Es ist das Leben in der offenen Savanne, das zur Herausbildung der Fähigkeiten zur Jagd führt, die, nach einer Formulierung von Moscovici, wiederum dazu führen, »daß der Jäger zum Menschen und nicht der Mensch zum Jäger wird« (Moscovici 1972, S. 102). Die mit der offenen Situation in der Savanne gegebenen Bedingungen aktualisieren und stärken neue strategische Fähigkeiten: Aufmerksamkeit, Ausdauer, Kampfeslust, Kühnheit, List, Ködern, Auflauern. Die in dem offenen Biotop der Savanne sich entwickelnde Jagd intensiviert das Verhältnis zwischen Fuß und Hand, Hirn und Werkzeug; es beginnt die Nutzung des Feuers für das Kochen der erlegten Tiere. Die kollektive Organisation der Jagd führt zur Herausbildung einer Hominidengesellschaft mit der ökologischen, ökonomischen und kulturellen Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau und mit ersten Formen sozialer Hierarchien. Jugend bildet sich als eigene Gruppe heraus; von der Ökologie geht die Entwicklung zur Ökonomie; 700.000-800.000 Jahre vor unserer Zeit entsteht in der Wechselwirkung von genetischer Mutation und wachsender Komplexität sozialer Organisation eine reichere und offenere Sprache, die wesentlich dazu beigetragen hat, den homo sapiens sapiens zu schaffen und immer differenziertere und komplexere Kulturen zu entwickeln. Die Offenheit des Biotops, der »Umzug ins Offene« in einer frühen Phase der Hominisation setzt also Entwicklungsmöglichkeiten frei, im Verlauf von deren Realisierung der homo sapiens sapiens entsteht.

Weltoffenheit In der Philosophischen Anthropologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Unterscheidung des Biologen Jakob von Üxküll zwischen der Umweltgebundenheit der Tiere und der Weltoffenheit des Menschen aufgegriffen und für das Verständnis der Besonderheit des Menschen fruchtbar gemacht. Zu diesem Zweck greifen sowohl Scheler als auch Gehlen und Plessner diese Differenzierung auf. Umwelt wird in enger Entsprechung zwischen dem Bauplan eines Tieres und der diesem entsprechenden Umgebung gesehen. So hat jedes Tier die ihm entsprechende Umwelt, in die es eingebunden ist und der es nicht entkommen kann. Demgegenüber ist der Mensch nicht in gleicher Weise in eine Umwelt eingebunden; daher wird ihm Welt zugeschrieben. Umwelt und Welt sind also Gegenbegriffe, bleiben jedoch in ihrem Gegenverhältnis aufeinander bezogen.

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136 | III Anthropologische Forschung und Reflexion »In dem Prinzip der Entsprechung zwischen Bauplan und Umwelt ist zugleich ihre Interessebedingtheit und Subjektivität enthalten, Interesse und Subjekt in einer dem tierischen Organismus gemäßen Bedeutung verstanden. Die Funktionskreise zwischen ihm und seiner Nahrung, Beute, Feind, Kumpan, Geschlechtspartner, Terrain binden Art, Umfang und Situation des Merkbarwerdens und Merkbarbleibens an seine durch Organisation und biologische Notwendigkeit vorgezeichneten Aktionsmöglichkeiten. Merkwelt und Wirkwelt sind aufeinander abgestimmt. Ihnen fehlt die Eigenständigkeit und Losgelöstheit vom biologischen Funktionszusammenhang, d.h. der Sachcharakter, auf Grund dessen der Mensch seine Wahrnehmungen und Aktionen in objektivem Sinne zu machen und zu korrigieren versucht« (Plessner 1983a, S. 82).

Diese Zuordnung der geschlossenen Umweltbindung zum Tier und der Weltoffenheit zum Menschen durchzieht die gesamte Philosophische Anthropologie. In Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos von 1928 ist unter Bezug auf diese Unterscheidung von Üxküll die Rede vom »Abschütteln des Umweltbannes«, von der »existentiellen Entbundenheit vom Organischen«; dabei transformieren sich die »Widerstandszentren«, als welche die Außenwelt vom menschlichen Organismus wahrgenommen wird, in »Gegenstände«. Weil der Mensch »geistiges Wesen« ist, vermag er »das Sosein dieser Gegenstände selbst zu erfassen, ohne Beschränkung, die diese Gegenstandswelt oder ihre Gegebenheit durch das vitale Triebsystem und die ihm vorgelagerten Sinnesfunktionen und Sinnesorgane erfährt«. So charakterisiert Scheler die Umweltfreiheit, Gegenständlichkeit und Weltoffenheit des Menschen. Dabei werden bei ihm die Einstellung auf Gegenständlichkeit und die Einstellung auf das Sosein eines Gegenstandes nicht unterschieden. Schelers Charakterisierung der Fähigkeit zur Vergegenständlichung und zur Versachlichung als die den Menschen auszeichnende Weltoffenheit greift jedoch zu kurz. Denn sowohl der Fähigkeit zur Vergegenständlichung als auch der Fähigkeit zur Sachlichkeit liegen ganz bestimmte historisch gewordene und kulturell geprägte Einstellungen zugrunde, die das Ergebnis eines langen Zivilisationsprozesses sind und die uns in unserer Kultur heute befähigen, die Welt gegenständlich und sachlich wahrzunehmen. »Die Befähigung zu reiner Sachlichkeit, zu distanzierter Gegenstandsauffassung kann nicht als Vollendung der Weltoffenheit angesehen werden. Vielmehr wird es eben der Weltoffenheit verdankt, wenn die Grenzen der distanzierenden Vergegenständlichung erkannt und durchbrochen werden, obwohl zunächst die Weltoffenheit der Ermöglichungsgrund auch für die distanzierende Vergegenständlichung der Welt war. Weltoffenheit realisiert sich in der Reihe der Antworten, die der Mensch, seine eigene Existenz verändernd, den Herausforderungen der Welt zu geben weiß. Einer formellen Betrachtungsweise wird es sich dabei nur um die Verteilung der Gewichte zu handeln scheinen, so daß der Mensch das eine Mal sich selbst das Übergewicht gibt, indem er sich zur Herrschaft ermächtigt weiß, das andere Mal das

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11. Die anthropologische Herausforderung des Offenen | 137 Übergewicht der Welt anerkennt, indem er sich anpaßt. In Wahrheit liegt hier ein dialogisches Verhältnis vor [...]« (Flügge 1963, S. 68f.).

In meiner Sicht ist dieses Verhältnis weniger dialogisch als vielmehr mimetisch, d.h. es ist ein Verhältnis, in dem sich der Einzelne der Welt »anschmiegt«, in dem er sich ihr »anähnelt« und in dem er sie in sich zur Entfaltung bringt (Gebauer/Wulf 1992, 1998). Gehlen sieht »Weltoffenheit« im Zusammenhang mit dem für den Menschen charakteristischen extrauterinen Frühjahr, knüpft den Begriff an den Hiatus zwischen Reiz und Reaktion und verwendet ihn zur Charakterisierung des unspezifischen Charakters der menschlichen Antriebe. Wenn man im Rahmen historischer Anthropologie am Begriff »Weltoffenheit« festhalten will, muss man ihm seinen in der Philosophischen Anthropologie gleichsam »überhistorischen« Charakter nehmen und ihn kontextualisieren. Daher erscheint es nicht sinnvoll, lediglich eine Form von Weltoffenheit zuzulassen; vielmehr gilt es, je nach Kultur, historischer Zeit und Kontext verschiedene Formen von Weltoffenheit zu unterscheiden. »Weltoffenheit« umfasst unterschiedliche, jeweils zu spezifizierende Formen des Offen-Seins und der Offenheit für vielfältige, z.T. durchaus widersprüchliche Welten. Nur mit Hilfe einer historischen und kulturellen Relativierung verliert der Begriff seinen abstrakten, die Unterschiede zwischen historischen Phänomenen nicht fassenden Charakter.

Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit Weltoffenheit basiert auf der mit der Frühgeburt zusammenhängenden Plastizität des Menschen, auf die die Philosophische Anthropologie Plessners und Gehlens immer wieder verwiesen hat. In der Pädagogik wird sie unter dem Begriff der »Bildsamkeit« thematisiert. (Wie bildsam ist ein Mensch? Welche Faktoren fördern Bildung, welche stehen ihr entgegen?) Wegen ihrer Unfertigkeit im Augenblick der Geburt und in den ihr folgenden Monaten benötigen Menschen Erziehung, um sich am Leben zu erhalten. So unterschiedlich Erziehung in verschiedenen Kulturen und historischen Perioden ist, Kinder bedürfen der Erziehung, um sich in ihrer Kultur zu verankern und um sich zu entfalten. Dabei ist es von nachgeordneter Bedeutung, ob Erziehung nur informell durch die Teilnahme der Kinder am Leben der Erwachsenen erfolgt oder ob sie darüber hinaus in speziellen Bildungsinstitutionen erweitert und intensiviert wird. Erziehung ist eine anthropologische Notwendigkeit. In der pädagogischen Anthropologie hat man daher vom »zu erziehenden Menschen«, vom homo educandus gesprochen. Der Mensch bedarf der Erziehung, um zum Menschen zu werden. Bleibt sie aus – das wissen wir aus vielen Berichten über »wilde Kinder« –, verkümmert der Mensch. Ja mehr noch: Wenn Prozesse des Lernens von Gefühlen, von sozialem Verhalten, von Sprache nicht zu

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138 | III Anthropologische Forschung und Reflexion einem bestimmten Zeitpunkt der menschlichen Entwicklung stattgefunden haben, können sie später nicht mehr nachgeholt werden. Menschliche Plastizität und Bildsamkeit machen Erziehung zugleich möglich und erforderlich. Doch inwieweit ermöglicht Erziehung die Gestaltung offener Situationen und inwieweit verhindert sie diese? Erziehungs- und Bildungsprozesse ermöglichen und verhindern die Gestaltung offener Situationen. Sie sind prinzipiell ambivalent. Allerdings hat man lange nur ihren Beitrag zur Vervollkommnung des Lebens sehen wollen. Weniger bereit war man, ihren Beitrag zur Verhinderung des Gelingens anderer Formen menschlichen Lebens wahrzunehmen. Die sich mit dem Bürgertum entwickelnde moderne Pädagogik ging von der Offenheit individuellen und gesellschaftlichen Lebens, von den Möglichkeiten selbständiger, selbstbezüglicher Bestimmung, also von der Möglichkeit der Selbsthervorbringung des Menschen aus. Betont wurde seine Perfektibilität. Allerdings warnt schon Kant in seiner skeptischen Anthropologie vor der Überschätzung der Perfektibilität, wenn er schreibt: »[...] aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von Natur aus auferlegt. Die Rolle des Menschen ist also sehr künstlich« (Kant, Idee, S. 41/A397). Auch Pestalozzi betont die Notwendigkeit der Selbsthervorbringung des Menschen und die in ihr begründet liegende anthropologische Notwendigkeit von Erziehung und Bildung. Der Mensch ist Schöpfer und Geschöpf in einem. Das in diesem Selbstverhältnis vorhandene anthropologische Bedingungsgefüge begrenzt die Möglichkeiten menschlicher Perfektibilität. Es verweist darauf, dass mit der menschlichen Vervollkommnung auch die menschliche Unverbesserlichkeit gegeben ist (Kamper/Wulf 1994; Lüth/Wulf 1997). Mangel ist Ausgangspunkt aller Prozesse der Vervollkommnung. Ungleich dem Tier, dessen Ausmaß an Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit wenig Varianz zeigt, sind die Unterschiede zwischen den Menschen beträchtlich. Der Einzelne kann ein erhebliches Maß an Vollkommenheit erreichen, er kann aber auch hinter seinen Möglichkeiten zurückbleiben und sich verfehlen. Erst mit dem Mangel an Vollkommenheit sind Möglichkeit und Freiheit der Vervollkommnung gegeben. Mit ihnen einher geht eine gesteigerte Subjektivierung von Bildung und Leben. Besonders bei Rousseau und Humboldt rücken die Individualisierung und die Subjektivierung der Bildung ins Zentrum. Während Rousseau bereits ahnt, dass die Vervollkommnung des Einzelnen zum Verfall der Menschengattung führt, wird die Einsicht, dass sich mit der Radikalisierung der Subjektivität auch eine selbstdestruktive Dynamik entfaltet, heute erst wieder allmählich akzeptabel. Was der Mensch ist, ist abhängig davon, was er sein soll und was er sein kann. Kant hat bereits darauf verwiesen, dass der Mensch künstlich ist. Er ist nichts von sich aus und muss alles, was er ist und werden soll, aus sich machen. Die »Künstlichkeit des menschlichen Lebens und der

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Lebensführung besteht – wie wir heute sagen würden – in der prekären Balance von Wechselwirkungen der Nötigung zum Selbstsein, zur Emanzipation, und des Zwanges zur Selbstentfremdung« (Herrmann 1994, S. 138). Bereits in Pestalozzis Nachforschungen findet sich diese ursprüngliche Situation menschlichen Lebens plastisch dargestellt: »Die Umstände machen den Menschen. Aber ich sah ebensobald: Der Mensch macht die Umstände; er hat eine Kraft in sich selbst, selbige vielfältig nach seinem Willen zu lenken. Sowie er dieses tut, nimmt er selbst Anteil an der Bildung seiner selbst und an dem Einfluß der Umstände, die auf ihn wirken. Ich suche jetzt, dieses Gemisch von Zufall und Freiheit, welches das Geschick meines Daseins auf Erden zu sein scheint, mir selbst näher zu entwickeln, und frage mich zuerst: Wie bin ich das, was ich wirklich bin? Wie kommt der Mensch dahin, daß er wirklich ist, was er ist?« (Pestalozzi, Nachforschungen). Die Möglichkeiten von Erziehung und Bildung, von Perfektibilität und Selbstvervollkommnung liegen darin begründet, dass sich der Mensch selbst entwerfen, sich Ziele geben und auf ihre Verwirklichung hinwirken kann. Aus der Differenz zwischen Unvollkommenheit und Vervollkommnung resultiert die Notwendigkeit von Erziehung und Bildung. Wie diese Differenz im Prozess der Zivilisierung, Kultivierung und Disziplinierung gestaltet wird, hängt von den räumlichen und zeitlichen Voraussetzungen, den individuellen Anlagen und Umweltbedingungen, den kulturellen Ansprüchen und ethischen Orientierungen ab. Wie Pestalozzi in der Passage aus den Nachforschungen ausführt, bilden Zufall und Freiheit in diesen Prozessen ein Gemisch, das heute als Kontingenz bezeichnet wird. Danach ist eine Situation so, wie sie sich herausgebildet hat; sie kann aber auch prinzipiell anders sein. Es gibt keine gesetzmäßige Entwicklung. Immer sind auch andere Entwicklungsmöglichkeiten denkbar. Eindeutigkeit ist nie gegeben. Der Zufall zerstört Planungen und wird zum Mitspieler in einem Spiel mit unvorhersagbarem Ausgang. Besonders in der moralischen Erziehung, die nach Kant nur in begrenztem Maße planbar ist, spielen Kontingenzen eine zentrale Rolle. Sie machen moralische Erziehung unverfügbar und unerzwingbar. Moralische Erziehung ist Spiel mit der menschlichen Freiheit unter immer wieder sie gefährdenden Bedingungen.

Medialisierung und Globalisierung Bieten die Neuen Medien und die Entwicklungen, die heute mit dem Begriff »Globalisierung« bezeichnet werden, eine Chance für einen Umzug ins Offene? Ist die Zeit heute der Situation vergleichbar am Anfang der Hominisation oder der Situation um 1500, als ein Aufbruch ins Offene zugleich mit Angst und Lust erfolgte? Wir wissen es nicht. Gewissheit darüber kann erst in einer historischen Perspektive gewonnen werden.

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140 | III Anthropologische Forschung und Reflexion Einerseits haben die Neuen Medien und die mit dem Begriff der Globalisierung bezeichneten Prozesse lange bestehende Grenzen verrückt und neue Horizonte eröffnet. Andererseits sind bei dieser Ausweitung der Perspektiven neue Grenzen sichtbar geworden. Was anfangs als eine große Erweiterung menschlicher Lebensmöglichkeiten erschien, ist nun auch in seinen Grenzen sichtbar geworden und hat seine Ambivalenz enthüllt. Zwar sind die Neuen Medien in der Lage, Informationen annähernd zeitgleich in alle Teile der Welt zu verbreiten, doch bewirkt ihre Geschwindigkeit ein Schrumpfen des Raumes. So spielt es im Rahmen des Internets keine Rolle, ob sich mein Gesprächspartner im Haus nebenan oder in Japan befindet. Die räumliche Distanz ist bedeutungslos geworden. Die zeitliche Dauer ebenfalls. Ein neues Verhältnis zum Raum und zur Zeit scheint sich zu entwickeln. In den Neuen Medien wird Raum zur Fläche und Fläche zu einem Ensemble wechselnder elektrischer Impulse, die unvorstellbar viele Bilder einer neuen Qualität erzeugen. Diese sind speicherbar und können Dauerhaftigkeit erreichen. Ein Friedhof im Internet ist für diese neue Form der »Zeitlosigkeit« und Ubiquität ein charakteristisches Beispiel. Was anfangs als Ausweitung in offene Erfahrungsfelder erschien, wird jetzt auch als Einschränkung erfahrbar. Die Bildfülle erzeugt Bildgefängnisse. Die erhoffte Offenheit für die Welt verkehrt sich in ihr Gegenteil; nicht die Dinge und Ereignisse der Welt werden erfahren, sondern nur ihre Bilder; die Welt wird zum Bild und dies führt zur Einschränkung lebendiger Erfahrung. Heidegger hatte diese Entwicklung bereits geahnt, als er in seinem Aufsatz Zeit des Weltbildes von 1938 schrieb: »Bei dem Wort Bild denkt man zunächst an das Abbild von etwas. Demnach wäre das Weltbild gleichsam ein Gemälde vom Seienden im Ganzen. Doch Weltbild besagt mehr. Wir meinen damit die Welt selbst, sie, das Seiende im Ganzen, so wie es für uns maßgebend und verbindlich ist. Bild meint hier nicht den Abklatsch, sondern jenes, was in der Redewendung heraus klingt: wir sind über etwas im Bilde. Das will sagen: die Sache selbst steht so, wie es mit ihr für uns steht, vor uns. Sich über etwas ins Bild setzen heißt, das Seiende selbst in dem, wie es mit ihm steht, vor sich stellen und es als so gestelltes ständig vor sich haben. Aber noch fehlt eine entscheidende Bestimmung im Wesen des Bildes. ›Wir sind über etwas im Bilde‹ meint nicht nur, daß das Seiende uns überhaupt vorgestellt ist, sondern daß es in all dem, was zu ihm gehört und in ihm zusammensteht, als System vor uns steht. ›Im Bilde sein‹, darin schwingt mit: das Bescheid-Wissen, das Gerüstetsein und sich darauf Einrichten. Wo die Welt zum Bilde wird, ist das Seiende im Ganzen angesetzt als jenes, worauf der Mensch sich einrichtet, was er deshalb entsprechend vor sich bringen und vor sich haben und somit in einem entschiedenen Sinne vor sich stellen will. Weltbild, wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen« (Heidegger 1980, S. 87).

Diese Entwicklung führt zu einer neuen Qualität des Imaginären. Viele seiner Bilder verlieren ihren magischen und ihren repräsentativen Charak-

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ter, das Imaginäre seinen Verweischarakter. Es kommt zu einer Reduktion des Potentials von Bildern und unserer Erfahrungsmöglichkeiten mit ihnen. Einschränkungen werden sichtbar, die zu Zweifeln an den Möglichkeiten eines Umzugs ins Offene führen. Die Neuen Medien gehören zu den wichtigsten Motoren eines weltweiten Zusammenwachsens von Regionen und Nationen, das heute als Globalisierung bezeichnet wird. Zuerst waren es Töne, dann Bilder, die in neuer Intensität um die Welt gingen; heute sind es Informationen, Waren, Kulturgüter und Menschenströme. Globalisierung bezeichnet den umfassende ökonomische, politische, soziale und kulturelle Auswirkungen mit sich bringenden gesellschaftlichen Prozess der Gegenwart, der das Verhältnis von Lokalem, Nationalem, Regionalem und Globalem nachhaltig ändert. Viele glauben, dass dieser Prozess für das Zusammenleben der Menschen auf der Erde neue Horizonte eröffnet; wenige Lebensbereiche werden so bleiben, wie sie heute sind. Die Intensivierung des weltweiten Austauschs wird zu neuen Formen weltweiter Kommunikation und Interaktion führen. Dabei steht die Menschheit als ganze vor gewaltigen Herausforderungen, von deren Bewältigung das Schicksal der Gattung abhängt. Zu diesen Herausforderungen gehören: Umweltverschmutzung, Bevölkerungsexplosion, Ressourcenknappheit, mögliche (auch atomare) Kriege. Manche sehen in der Globalisierung genannten Entwicklung auch Chancen, mit diesen zentralen Problemen der Menschheit in neuer und kreativer Weise umzugehen. Andere sind voller Zweifel, stellen den grundsätzlichen Charakter der Veränderungen in Frage und befürchten die mit der Globalisierung verbundene Potenzierung der Komplexität von bisher schon nicht lösbaren Problemen. Wie offen der Globalisierungsprozess für neue Formen menschlichen Handelns ist und welche Entwicklungsmöglichkeiten er beinhaltet, bleibt abzuwarten (Beck 1997). Der Andere. Zu den wesentlichen, sich gegenwärtig innerhalb des Globalisierungsprozesses abzeichnenden Veränderungen zählen (vgl. in Kap. 4) die Verknappung der Arbeit, die Auflösung der traditionellen Ordnung von Raum und Zeit, Fremdem und Bekanntem, die Bedeutungsverringerung der Nationalstaaten, der Bedeutungsverlust der Nationalkulturen und die »Glokalisierung« der Kulturen. Für die Frage nach einem offenen Horizont für kulturelle Entwicklungen sind diese Auswirkungen der Globalisierung von besonderem Interesse. Dabei geht es nicht einfach nur um neue Inhalte und Themen; nicht weniger wichtig ist die Entwicklung einer Offenheit für den im Rahmen der Globalisierung immer wichtiger werdenden Umgang mit dem Fremden und den hierin liegenden Herausforderungen. Im Gelingen oder Fehlschlagen des Umgangs mit dem Fremden liegt ein das zukünftige Zusammenleben der Menschen entscheidend bestimmender Faktor. Doch was ist fremd, was ist vertraut? Wie sind die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen dem Fremden und dem Eigenen? Was als »fremd« erfahren wird, hängt von dem historischen und kulturellen Kontext ab, in dem die Erfahrung gemacht wird. Die Beziehung

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142 | III Anthropologische Forschung und Reflexion zwischen dem Eigenen und dem Anderen bestimmt, was als fremd erfahren wird. Weder das Eigene noch das Fremde haben einen festen Kern; vielmehr verändern sich beide in Beziehung zueinander. Was zunächst fremd war, kann zu Eigenem werden; was vertraut war, kann wieder fremd werden. Das Erleben der Fremdheit des Eigenen ist eine wichtige Erfahrung, die dazu beiträgt, das Fremde in seiner Differenz zu erfahren, ohne den Versuch machen zu müssen, es durch Angleichung zu zerstören. Dass das Fremde nicht vollends verstanden werden kann und dass dies für einen bereichernden Umgang mit ihm auch nicht erforderlich ist, gehört zu den wichtigsten Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit dem Fremden. Besteht man auf dem vollständigen Verstehen des Fremden, wird Verstehen zu einer Machtstrategie, die das Verstandene der Kontrolle unterwirft, es so in Besitz nimmt, und es als Fremdes zerstört. Deshalb empfiehlt es sich, von der grundsätzlichen Nicht-Verstehbarkeit des Fremden auszugehen und die Fähigkeit zu heterologischem Denken, also einem Denken vom Anderen her, zu entwickeln. Diese Bereiche zukünftiger Entwicklung werden von zahlreichen Konfliktkonstellationen durchzogen, die keine einfachen Lösungen zulassen, sondern dazu führen, die Komplexität des Kommunizierens und Handelns unter den Bedingungen der Globalisierung zu steigern.1

Homo absconditus: Komplexität und Unsicherheit Menschliche Entwicklungen vollziehen sich in einer Verbindung von Offenheit, Einschränkung der Offenheit und Aufbrechen dieser Einschränkung zu neuer Offenheit. Dies gilt für den Einzelnen, für Gesellschaften und möglicherweise auch für die Gattung. Weltoffenheit ist ein Merkmal der menschlichen Gattung, ihre Einschränkung ebenfalls. Von der Leiblichkeit des Menschen wird sie ermöglicht: von seinem aufrechten Gang, seiner Sinnenstruktur, seiner Einbettung in Sprache und Phantasie. Weltoffenheit ist eine in der physiologischen Ausstattung des Menschen liegende Möglichkeit; ihre Gestaltung ist eine Aufgabe der Kultur. Sie ist Voraussetzung dafür, dass der Mensch sich selbst hervorbringen kann und muss. Vervollkommnung ist daher eine Notwendigkeit menschlicher Entwicklung; mit ihr verbunden ist die unvermeidbare Erfahrung menschlicher Widerständigkeit und Unverbesserlichkeit. Das Offene steht dafür, dass das menschliche Leben ein Ergebnis von Notwendigkeit und Freiheit ist. »Umzug ins Offene« bedeutet nicht, dass die Menschen Herr ihrer Geschichte werden können, auch nicht im neuen Millennium. Doch der Titel weist darauf hin, dass menschliche Geschichte nicht vorherbestimmt ist, dass sie Elemente des Offenen umfasst und dass Menschen sie gestalten können. Der Preis dafür ist jedoch die Zunahme von Komplexität. In epistemologischer Hinsicht darf Anthropologie nicht auf die Reduktion, sondern sie muss auf die Steigerung von Komplexität zielen. Die Konfrontation mit dem Nichtwissen ist dafür die Vorausset-

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zung. Wenn neues Wissen entsteht, wächst damit auch das Nichtwissen. Letztlich endet Wissen immer im Unbekannten und Rätselhaften. Komplexität kann nicht in das System bipolarer Logik eingespannt werden. Sie ist das Ergebnis von Verdichtungen, von Spiegelungen des Vielen in Einem. Nicht selten steht Komplexität im Spannungsverhältnis zu den Prinzipien der Präzision, der Klarheit und der Eindeutigkeit und ist nicht ohne Bezug zum Zufall, zur Unsicherheit und zum Nichtwissen. Die Erzeugung neuer Formen des Wissens führt zur Zerstörung bisherigen Wissens. Oft widersetzt sich komplexes Wissen utilitaristischen, funktionalistischen und wissenschaftspolitischen Reduktionen und versucht, seine »ungewollten Nebenwirkungen« wahrzunehmen und Selbstreflexion und Selbstkritik in seine Konstitution einzubeziehen. In diesen neuen Formen des Wissens spielt die Irreduzierbarkeit des Zufalls sowie des antagonistischen Verhältnisses von Ordnung, Unordnung und Organisation eine wichtige Rolle. Das Gleiche gilt für Kohärenz und Kontingenz, für Konstruktion und Reflexion. Festzuhalten bleibt der prinzipiell offene Charakter anthropologischen Wissens. Komplexität bezeichnet daher weniger eine Lösungsperspektive als eine Problemaggregation, die auf den Widerspruch zwischen dem Einen und dem Vielen und auf die Spannung zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen Notwendigkeit und Zufall verweist. Komplexität entsteht durch Unterscheidung und Verbindung und stellt eine »unitas multiplex« dar, die Holismus und Reduktionismus vermeidet. Sie ist das Ergebnis der Einsicht, dass sich Subjekt und Objekt nicht als in sich abgeschlossene Einheiten gegenüberstehen, sondern sich wechselseitig in Interaktionen konstituieren. Komplexität ist mehr als die Summe von Einzelelementen; sie bildet eine neue Qualität mit Aufforderungscharakter. Komplexität entsteht durch die Verbindung heterogener Aspekte, durch ihre Umorganisation und Neustrukturierung und durch die Erkenntnis hologrammatischer Strukturen, in denen jedes Element Teil des Ganzen ist, das zugleich Teil jedes Elements ist. Die Vorstellung, durch Wissen und Wissenschaft die Geheimnisse der Welt und des Menschen auflösen zu können, ist einer unzulänglichen Einstellung gegenüber dem Wissen und dem Nichtwissen geschuldet. Max Webers Einsicht in das Programm der Moderne, die Welt zu entzaubern und ihr die Geheimnisse zu nehmen, bedarf der Modifikation: Weder der Mensch noch die Welt geben ihre Geheimnisse preis. Prozesse der Abstraktion und der Verbildlichung verschieben sie, lassen sie aber an anderen Orten und in anderer Form wieder entstehen. Nach dem Ende normativer Anthropologien kann anthropologisches Wissen nur pluralistisch sein. Präferenzen für bestimmte Formen des Wissens sind notwendig, doch müssen sie relativiert werden. Vielfalt und Mannigfaltigkeit, Differenz und Unterschiedlichkeit werden zu konstitutiven Begriffen anthropologischen Wissens (Wulf 1997). Weniger richtet sich das Interesse auf die »einheimischen« Begriffe und Methoden der Wissenschaften, über die diese ihre Identität herstellen. Stattdessen konzentriert

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144 | III Anthropologische Forschung und Reflexion sich die Aufmerksamkeit auf neue paradigmatische Fragestellungen und Wissensbereiche, die außerhalb und jenseits heutiger Wissensdisziplinen liegen, also transdisziplinär sind. Im Mittelpunkt eines auf Komplexität ausgelegten Referenzrahmens anthropologischen Wissens steht der homo absconditus (Plessner 1983a); dieser Begriff verweist auf die prinzipielle Unergründbarkeit des Menschen, die in der Beschaffenheit seines Körpers liegt, welche ihm die Möglichkeit gibt, in sich und außer sich zu sein und sich zu sich selbst zu verhalten. Dieses gleichzeitige Innen-und-außen-Sein des Menschen entspricht der Struktur des Geheimnisses, das sich diesseits und jenseits der Grenze konstituiert, auf die in der Sprache, im Bild und im Denken verwiesen wird. Als homo absconditus kann sich der Mensch in seinen Handlungen nicht ganz begreifen, ist er sich selbst und dem Anderen verborgen. Diese Vorstellung vom Menschen verweist auf die Notwendigkeit der Steigerung der Komplexität anthropologischen Wissens; sie verweist auf seine Historizität und Reflexivität sowie seine Durchlässigkeit gegenüber dem Rätsel und dem Nichtwissen.

Anmerkung 1

Vgl. dazu in Kap. 3 die von der Delors-Kommission konstatierten Spannungsfelder zwischen Globalem und Lokalem, Universalem und Singulärem, Tradition und Modernität, langfristigen und kurzfristigen Strategien, Geistigem und Materiellem, zwischen der Expansion des Wissens und ihrer Bewältigung sowie zwischen den Erfordernissen des Wettbewerbs und der Herstellung/Erhaltung von Chancengleichheit.

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Ausführungen zu einer reflexiven Anthropologie und zur anthropologischen Herausforderung des Offenen sind selbst historisch bedingt. Sie sind an die kulturellen Entwicklungen einer Gesellschaft gebunden und können nicht losgelöst von diesen begriffen werden. Im Unterschied zu den anthropologischen Aussagen in früheren Zeiten begleitet diese Ausführungen ein Bewusstsein ihrer eigenen Standortgebundenheit und Relativität. Dadurch können diese Positionen und die auf ihnen beruhenden Auffassungen von kultureller Vielfalt, Interkulturalität und interkultureller Bildung selbst zum Thema eines interkulturellen Dialogs werden. Dass dies möglich ist, haben z.B. Diskussionen zwischen islamischen und europäischen Wissenschaftlern und Philosophen über Gewalt und Religion gezeigt, die im Rahmen einer von der Deutschen UNESCO-Kommission und der Anna-Lindh-Stiftung in Alexandrien unterstützten internationalen Tagung stattfanden. In deren Verlauf ging es um unterschiedliche anthropologische Positionen und differente Auffassungen vom Menschen, bei deren Erörterung jedoch eine gegenseitige Anerkennung und Verständigung möglich war (Wulf/Poulain/Triki 2006). Auf der Grundlage solcher anthropologischen Untersuchungen und Reflexionen lässt sich das Spannungsverhältnis zwischen Globalität und kultureller Vielfalt besser begreifen. In seiner Bearbeitung eine Kompetenz für den Umgang mit kultureller Diversität zu entwickeln, gehört zu den Anliegen von Erziehung und Bildung, die heute mehr denn je eine interkulturelle Aufgabe darstellen. Interkulturelle Bildung umfasst nicht nur die Vermittlung theoretischer Einsichten, sondern erfordert auch praktisches Wissen, das Menschen befähigt, sich unter den Bedingungen kultureller Vielfalt richtig zu verhalten. Dazu gehört auch die Verankerung des Umgangs mit kultureller Vielfalt in den Menschenrechten. Erziehung zum Umgang mit kultureller Vielfalt trägt dazu bei, mit den immer zahlreicher werdenden Formen hybrider Kultur kompetent umzugehen, deren Ursprünge in den verschiedenen Kulturen sich häufig nur schwer bestimmen lassen. Immer mehr kulturelle Phänomene sind das Ergebnis von Prozessen der Transgression und Hybridisierung, in denen die

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146 | III Anthropologische Forschung und Reflexion Differenzen zwischen den Kulturen verschoben und verändert werden, so dass neue kulturelle Ordnungen entstehen (Bhabha 2002; Kein Ngi Ha 2004). Viele dieser neu entstehenden Phänomene und Ordnungen sind hybrid; sie bilden sich an den Grenzen zwischen den Kulturen in Schwellensituationen; sie sind das Ergebnis von Überschreitung und Spiel. Hybridisierungen entstehen aus der Mischung sprachlicher, kultureller und sozialer Codes als Ergebnis transgressiver performativer Akte. Sie bilden sich in Zwischenräumen und Schwellensituationen; sie unterlaufen gängige Grenzziehungen und führen zu neuen, häufig subversiven Verbindungen. In diesen Prozessen spielen Formen struktureller und symbolischer Gewalt eine Rolle, die zur Ausbildung neuer sozialer, kultureller und ästhetischer Praktiken führen. Im Zeitalter der Globalisierung gewinnen diese Phänomene für die Entwicklung von Kultur und Bildung weiter an Bedeutung. Unter den Bedingungen von Globalisierung und kultureller Vielfalt gehören nach wie vor die Erhaltung bzw. die Schaffung des Friedens (Senghaas 1997, 1997) und die Arbeit an der Verwirklichung nachhaltiger Entwicklung (Ekhardt 2005) zu den großen Aufgaben interkultureller Bildung. Erst im Zusammenwirken der Bemühungen um Frieden, Nachhaltigkeit und kulturelle Vielfalt entstehen Lebensformen, die zukunftsfähig sind und für deren Realisierung Erziehung und Bildung eine wichtige Rolle spielen. Nach wie vor zielt Erziehung zur Friedensfähigkeit auf die Erzeugung bzw. Erhaltung gesellschaftlicher Bedingungen mit einem Minimum manifester Gewalt und einem Maximum sozialer Gerechtigkeit (Wulf 1973, 1974; Wimmer/Wulf/Dieckmann 1995; Dieckmann/Wulf/Wimmer 1996). Sie ist darauf gerichtet, unterschiedliche Formen der Gewalt und Friedlosigkeit im internationalen und innergesellschaftlichen System zu thematisieren, ihre Ursachen zu analysieren und ihre Interdependenz zu erkennen sowie zu ihrer Verminderung beizutragen. Erziehung zum Frieden thematisiert die ökonomischen, technologischen und ideologischen sowie die anthropologischen und individuellen Voraussetzungen von Friedlosigkeit und Gewalt, behandelt deren Erscheinungen unter Einbeziehung der Erfahrungs- und Handlungswelt ihrer Adressaten und bemüht sich darum, zur Verringerung von Gewalt beizutragen. Dabei bedarf es auch der Einsicht, dass die Strukturen der globalisierten Welt Konflikte in den Lebenswelten von Gemeinschaften und Individuen erzeugen. An deren Verringerung kann Erziehung zum Frieden in der Hoffnung mitwirken, dadurch langfristig einen Beitrag zur Reduzierung der globalen Konfliktformationen zu liefern. Neben der Erziehung zur internationalen Verständigung und der Nord-Süd-Konfliktkonstellation gehören schon seit den siebziger Jahren die Behandlung der Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung zu den zentralen Themenfeldern der Friedenserziehung. Nach den Bemühungen um eine Förderung der Umwelterziehung in den achtziger und neunziger Jahren wird mit der UN-Dekade »Bildung für Nachhaltige Entwicklung« (2005-2014) eine neue Qualität dieser Bemühungen angestrebt.

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In den Industriegesellschaften gilt es heute, nachhaltige Wirtschaftsweisen und neue Konsummuster zu entwickeln (Wulf/Bryan 2006). Dabei sollen die Wechselwirkungen zwischen ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Prozessen berücksichtigt werden. Aufgabe ist es, einen Generationenvertrag zu verwirklichen, in dem die heute lebenden Menschen ihre Bereitschaft zum Ausdruck bringen, bei der Erfüllung ihrer Bedürfnisse die Erhaltung gleicher Optionen für spätere Generationen zu ermöglichen. Im Nationalen Aktionsplan von 2005 werden die Aktivitäten in diesem Bereich gebündelt. Dazu bedarf es der Verwirklichung von vier Zielen: 1. Weiterentwicklung der Aktivitäten und Entwicklung von Beispielen guter Praxis; 2. Vernetzung der Akteure im Bereich der Bildung für nachhaltige Entwicklung; 3. Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung von Bildung für nachhaltige Entwicklung; 4. Verstärkung internationaler Kooperation. Unter den Bedingungen der Globalisierung entfaltet Erziehung zum Umgang mit kultureller Vielfalt, Alterität und Interkulturalität ihr Potential besonders im Zusammenhang mit einer Erziehung zum Frieden und zur Nachhaltigkeit. Aufgrund ihrer eher allgemeinen Wert- und Zielvorstellungen sind Erziehung zum Frieden und Erziehung zur Nachhaltigkeit darauf angewiesen, die kulturelle Vielfalt in ihre Bemühungen einzubeziehen. Anderenfalls laufen sie Gefahr, die jeweils gegebenen historischen und kulturellen Bedingungen nicht angemessen zu berücksichtigen und ihre Ziele zu verfehlen.

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) vak 148.p 123723342026

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Neuerscheinungen zur Globalisierung Gabriele Dietze Weiße Frauen in Bewegung Genealogien und Konkurrenzen von Race- und Genderpolitiken Dezember 2006, 450 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN: 3-89942-517-0

TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hg.) Turbulente Ränder Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas

Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hg.) Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz Grundlagentheoretische Reflexionen Oktober 2006, ca. 260 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-477-8

Daniel Münster Postkoloniale Traditionen Eine Ethnografie über Dorf, Kaste und Ritual in Südindien

November 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-480-8

Oktober 2006, ca. 264 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-538-3

María do Mar Castro Varela Unzeitgemäße Utopien Migrantinnen zwischen Selbsterfindung und gelehrter Hoffnung

Lutz Leisering, Petra Buhr, Ute Traiser-Diop Soziale Grundsicherung in der Weltgesellschaft Monetäre Mindestsicherungssysteme in den Ländern des Südens und des Nordens. Weltweiter Survey und theoretische Verortung

November 2006, ca. 280 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 3-89942-496-4

Florian Feuser Der hybride Raum Chinesisch-deutsche Zusammenarbeit in der VR China Oktober 2006, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-581-2

September 2006, ca. 200 Seiten, kart., ca. 18,80 €, ISBN: 3-89942-460-3

Helen Schwenken Rechtlos, aber nicht ohne Stimme Politische Mobilisierungen um irreguläre Migration in die Europäische Union September 2006, 374 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-516-2

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Neuerscheinungen zur Globalisierung Christoph Wulf Anthropologie kultureller Vielfalt Interkulturelle Bildung in Zeiten der Globalisierung September 2006, 164 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN: 3-89942-574-X

Heiner Depner Transnationale Direktinvestitionen und kulturelle Unterschiede Lieferanten und Joint Ventures deutscher Automobilzulieferer in China

Ivo Mossig Netzwerke der Kulturökonomie Lokale Knoten und globale Verflechtungen der Film- und Fernsehindustrie in Deutschland und den USA Juli 2006, 228 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-523-5

Regina Göckede, Alexandra Karentzos (Hg.) Der Orient, die Fremde Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur

September 2006, 240 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-567-7

Juli 2006, 214 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN: 3-89942-487-5

Christian Berndt, Johannes Glückler (Hg.) Denkanstöße zu einer anderen Geographie der Ökonomie

Christian Kellermann Die Organisation des Washington Consensus Der Internationale Währungsfonds und seine Rolle in der internationalen Finanzarchitektur

August 2006, 172 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN: 3-89942-454-9

Michael C. Frank Kulturelle Einflussangst Inszenierungen der Grenze in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts August 2006, 232 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-535-9

Annette Hornbacher (Hg.) Ethik, Ethos, Ethnos Aspekte und Probleme interkultureller Ethik

Juli 2006, 326 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-553-7

Ulrich Heinze Hautkontakt der Schriftsysteme Japan im Zeichen der Globalisierung: Geldflüsse und Werbetexte Juli 2006, 208 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-513-8

August 2006, 432 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN: 3-89942-490-5

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