Europa und seine Fremden: Die Gestaltung kultureller Vielfalt als Herausforderung [1. Aufl.] 9783839403686

Europa befindet sich in Bewegung und inszeniert sich zunehmend auf der Grundlage seiner Vielfalt. Im alltäglichen Umgang

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German Pages 216 [220] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Europa und seine Fremden
Europa und seine Fremden- Migration, Integration und die Gestaltung kultureller Vielfalt
Differenz als Potential- Das kosmopolitische Europa
Zum Paradigma kultureller Differenz
Interkulturelles Lernen in der Weltgesellschaft
Migration und ihre Folgen
Das "verworfene" Europa-Differenz als Herausforderung
Kulturelle Vielfalt und soziale Ungleichheiten. Bildungs- und Berufsbiographien von Akademikerinnen mit Migrationshintergrund
Transnationale Migration und Jugend
Turbulente Ränder. Ethnographische Einsichten in die bewegten Grenzen Europas
Integration und ihre Gestaltung
Integration und Individualisierung: Heranwachsende aus Immigrantenfamilien auf steinigen Wegen zur eigenen Lebensführung
Bedingungen für den produktiven Umgang mit sprachlich-kultureller Vielfalt in (Grund-)Schulen: Forschungsergebnisse, Desiderate
Selbstorganisationen von Migrantinnen - Bildungsprozesse in der Einwanderungsgesellschaft
Fremd im Sport? Barrieren der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund in Sportorganisationen
Autorinnen und Autoren
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Europa und seine Fremden: Die Gestaltung kultureller Vielfalt als Herausforderung [1. Aufl.]
 9783839403686

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Reinhard Johler, Ansgar Thiel, Josef Schmid, Rainer Treptow (Hg.) Europa und seine Fremden

REINHARD J OHLER, ANSGAR THIEL , JosEF ScHMID , RAINER TREPTOW (HG.)

EuRoPA UND sEINE FREMDEN

Die Gestaltung kultureller Vielfalt als Herausforderung

Unter der Mitarbeit von

[ transcript]

KLAUS SEIBERTH.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / fdnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Klaus Seiberth Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-368-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: info@ transcript-verlag.de

Inhalt

Vorwort

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REINHARD JOHLER, A NSGAR TRIEL, JOSEF SCHMID, RAINER TREPTOW

Europa und seine Fremden Europa und seine Fremden- Migration, Integration und die Gestaltung kultureller Vielfalt

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ANSGAR THIEL, ANDREAS WALTHER, KLAUS SEIBERTH, REINHARD J OHLER

Differenz als Potential- Das kosmopolitische Europa

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EDGAR GRANDE

Zum Paradigma kultureller Differenz

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MARTIN SÖKEFELD

Interkulturelles Lernen in der Weltgesellschaft LUDWIG LIEGLE

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Migration und ihre Folgen Das "verworfene" Europa-Differenz als Herausforderung

73

S. KARIN AMOS

Kulturelle Vielfalt und soziale Ungleichheiten. Bildungs- und Berufsbiographien von Akademikerinnen mit Migrationshintergrund

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KARIN SCHITTENHELM

Transnationale Migration und Jugend

109

SARA F ÜRSTENAU, H EIKE N IEDRIG

Turbulente Ränder. Ethnographische Einsichten in die bewegten Grenzen Europas

129

REGINA RöMHILD

Integration und ihre Gestaltung Integration und Individualisierung: Heranwachsende aus Immigrantenfamilien auf steinigen Wegen zur eigenen Lebensführung

145

SABINE MANNITZ

Bedingungen für den produktiven Umgang mit sprachlich-kultureller Vielfalt in (Grund-)Schulen: Forschungsergebnisse, Desiderate

165

l NGRID GOGOLIN

Selbstorganisationen von Migrantinnen Bildungsprozesse in der Einwanderungsgesellschaft

181

Ü LGA Z ITZELSBERGER, P ATRICIA L ATORRE P ALLARES

Fremd im Sport? Barrieren der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund in Sportorganisationen

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KLAUS SEIBERTH, A NSGAR TH!EL

Autorinnen und Autoren

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Vorwort REINHARD JOHLER, ANSGAR TRIEL, JOSEF SCHMID, RAINER TREPTOW

Europa hat viele Gesichter. Sein "kultureller Reichtum" ist immens und außerordentlich facettenreich. Es bietet eine "transnationale Identität" für immer mehr Menschen, die sich nicht mehr primär als "Deutsche", "Franzosen", "Polen", "Schweden", "Italiener" oder "Spanier", sondern als "Europäer" sehen. Und auf der weltpolitischen Bühne präsentiert sich die Europäische Union zunehmend als ein zukunftsweisendes Modell für eine wirtschaftlich äußerst erfolgreiche Integration von Vielfalt. Kein Wunder, dass die Protagonisten der euro-politischen Bühne nicht müde werden, "ihr Europa" als mächtigen Wüischaftsraum, als potente weltpolitische Macht, als traditionsreichen, vielfältigen Kulturraum, aber auch als weltoffenen Kontinent zu preisen, für den Zuwanderung einen wichtigen Teil seiner Tradition ausmacht. Doch ein verschärftes Asylrecht, militarisierte Zonen, Berichte von Auffanglagern und Bilder von verzweifelten Menschen, deren Versuche, europäisches Territorium zu erreichen, durch Mauem und Stacheldraht behindert werden, entlarven ein anderes Gesicht Europas: das einer nach "außen" abgeschotteten Festung, in der Zuwanderer bei allem Anspruch auf Toleranz, Kosmopolitismus und Offenheit unerwünscht sind. Europa ist auch in seinem Inneren noch weit entfernt vom Ideal einer "Einheit in der Vielfalt", das Fremdheit zu einem Fremdwort werden lässt. Dies zeigen die mit Migrationsdynamikeil einhergehenden innenpolitischen Probleme in Form von Rassismus, Ghettobildungen oder sozialen Unruhen. Dies offenbart der nach wie vor dominante nationale Eigensinn der europäischen Mitgliedstaaten, der sämtliche politisch-ökonomischen Einigungsbemühungen zu konterkarieren scheint. Dies illustrieren die Widerstände nicht übersehbarer Teile der Bevölkerung in der Diskussion um eine Vereinheitlichung der Währung, der Verkehrssprache oder der Schulsysteme. Und dies verdeutlichen Äußerungen angesehener Intellektueller wie Ralph Giordano, der jüngst in einer Diskussionsrunde des Kölner Stadt-Anzeigers die angebliche "Inflation von Moscheen" kritisierte, vor einer "muslimischen Parallelgesellschaft" warnte, die sich zu einem "Dom im

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Fleisch der Demokratie" entwickle, und der verschleierte muslimische Frauen mit Pinguinen verglich. Mit dem Verhältnis von Europa zu "seinen Fremden" und mit der Herausforderung, die aus Migration resultierende "kulturelle Vielfalt" auf politischer, organisationaler und lebensweltlicher Ebene zu integrieren, beschäftigt sich der vorliegende Band. Die Perspektive ist eine primär sozialwissenschaftliche, auch wenn die Autoren unterschiedlichsten Disziplinen entstammen und unterschiedlichste Phänomene betrachten. Das Buch ist in drei Hauptkapitel gegliedert. In einem ersten Kapitel werden unter dem Leitthema Europa und seine Fremden Beiträge gebündelt, die sich mit basalen Konzepten und zentralen Begrifflichkeiten der Migrations- und Integrationsdiskussion auseinandersetzen: Ansgar Thiel, Andreas Walther, Klaus Seiberth und Reinhard Johler (Universität Tübingen) geben einen Überblick über die wissenschaftliche und öffentliche Auseinandersetzung mit den Begriffen Fremdheit, Migration, Integration und kulturelle Vielfalt. Sie zeigen, dass sich Europa mit "seinen Fremden" noch sehr schwer tut und dass die Figur des Fremden trotz des Zwangs der Menschen zur Mobilität und damit zur permanenten Neuverortung und trotz aller Einheitsbestrebungen gerade in den "Problemzonen" der europäischen Gesellschaft sehr präsent ist. Demgegenüber hebt Edgar Grande (Universität München) auf das Potential von Differenz ab, wenn Europa über seinen Binnenmarkt hinaus als "kosmopolitisches Europa" verstanden wird. Migration erscheint hier als eher politische und ökonomische Produktivkraft, als kreative Un- und Umordnung gesellschaftlicher Verhältnisse. Das Paradigma kultureller Differenz bildet den Gegenstand einer historisch systematischen Analyse von Martin Sökefeld (Universität Bern). Er zeigt aus dem Blickwinkel einer "doppelten Hermeneutik", die durch ein wechselseitiges Verhältnisses zwischen wissenschaftlicher Begriftlichkeit und dem Alltagsverständnis von Konzepten gekennzeichnet ist, u.a. die Problematik auf, die mit der Verwendung von Begrifflichkeiten wie "Kultur", "kultureller Differenz" oder "Migranten" verbunden ist. Ludwig Liegle (Universität Tübingen) blickt schließlich über Europa hinaus, indem er sich mit den Voraussetzungen und Perspektiven interkulturellen Lernens beschäftigt. Dabei führt er aus, inwiefern interkulturelles Lernen den Kernbereich des Lernens in einer durch Migration bewegten Weltgesellschaft schlechthin ausmacht.

VORWORT

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Migration und deren Folgen stehen im Zentrum des zweiten Kapitels des Bandes: Differenz wird dabei von Karin Amos (Universität Tübingen) als Herausforderung .fur Europa beleuchtet. In einer Auseinandersetzung mit dem Fall "Theo van Gogh" bezieht sie dabei reflektiert Stellung gegenüber einfachen Ursache-Wirkungs-Konstruktionen, wie sie in populären Diskussionen um Kultur, Differenz und Fundamentalismus immer wieder proklamiert werden. Karirr Schittenhelm (Universität Siegen) präsentiert Ergebnisse von Studien über Bildungs- und Berufsbiographien von Akademikerinnen mit Migrationshintergrund vor. Sie fragt nicht nur nach den kulturelle Formen und dem kulturellen Kapital von Zugewanderten, sondern v.a. auch danach, welche Sanktionen diese im Zuwanderungsland erfahren und insbesondere welche Folgen für ihre soziale Stellung damit verbunden sind. Sara Fürsterrau und Heike Niedrig (Universität Hamburg) fuhren diese Perspektive auf der Basis eigener Erhebungen exemplarisch am Verhältnisses von Jugend und transnationaler Migration fort und belegen dabei u.a., dass die Integration in die Aufnahmegesellschaft nicht im Widerspruch zu einer transnationalen Orientierung bei Jugendlichen steht. Mit den turbulenten Rändern von Migration - den prekären Existenzen, die ein Produkt des aktuellen Zusammenspiels von Grenze, Ökonomie, den Bewegungen und Netzwerken der Migration darstellen - beschäftigt sich Regina Römhild (Universität Frankfurt/M.). Angesichts dieser Herausforderungen wirken für sie die Ordnungsbemühungen der EU und ihrer Partner eher hilflos und buchstäblich aussichtslos. Integration und ihre Gestaltung ist das Leitthema der Beiträge des dritten Kapitels: Sabine Mannitz (HSFK Frankfurt/M.) fragt nach dem Verhältnis von Integration und Individualisierung von Jugendlichen aus Einwandererfamilien. Dabei diskutiert sie u.a., wie die Schule als nationalgesellschaftliche Sozialisationsagentur den steinigen Weg zur eigenen Lebensführung unterstützen kann und welche kreativen Leistungen irrfolge von Migrationslagerungen und Diversitätserfahrungen in einer postmodernen Gesellschaft möglich werden. Ingrid Gogolin präsentiert (Universität Hamburg) Forschungsergebnisse, die sich kritisch evaluierend mit dem Konzept des Programms zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auseinandersetzen (FörMig). Sie sucht nach Desideraten und Bedingungen für den produktiven Umgang mit sprachlich-kultureller Vielfalt in (Grund-)Schulen - auch durch Lehren aus dem internationalen Vergleich. Olga Zitzelsberger und Patricia Latorre Paliares (Universität Darmstadt) stellen Ergebnisse ihrer Forschungen zu Formen der Selbstorganisationen von Migrantinnen vor. Sie betonen dabei, dass sich in den Frauenorganisationen gerade durch die Setzung von "Geschlecht" als Auswahlkriterium Freiräume eröffnen,

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die es ihnen ermöglichen, eine Selbstverortung innerhalb gesellschaftlicher Organisationsstrukturen vorzunehmen. ohne Rücksicht auf die Einbindung in geschlechtskonforme Rollenerwartungen und Ordnungssysteme. Abschließend setzen sich Klaus Seiberth und Ansgar Thiel (Universität Tübingen) mit der Frage auseinander, was Fremdheit im Sport ausmacht. Sie diskutieren dabei Barrieren, welche die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund trotz aller hohen Integrationsansprüche des organisierten Sports verhindern. Tübingen, im Sommer 2007

Europa und seine Fremden

Europa und seine Fremden - Migration, Integration und die Gestaltung kultureller Vielfalt ANSGAR THIEL, A NDREAS W ALTHER, KLAUS SEIBERTH, REI NHARD JOHLER

"Fremde bedeuten das Fehlen von Klarheit. Man kann nicht sicher sein, was sie tun werden, wie sie auf die eigenen Handlungen reagieren würden; man kann nicht sagen, ob sie Freunde oder Feinde sind- und daher kann man nicht umhin, sie mit Argwohn zu betrachten" (Bauman 2000: 39).

Wer sind überhaupt die Fremden in Europa? Und umgekehrt: Kann man Europa überhaupt als etwas "Einheitliches" definieren, von dem sich etwas "nicht Zugehöriges" abgrenzen lässt? Oder definiert sich Europa nicht vielmehr über die Integration von Fremdheit? Die Schwierigkeit, das Verhältnis von Europa zu "seinen Fremden" zu beschreiben, zeigt sich bereits bei der Bestimmung dessen, was Europa ausmacht. Einerseits ist Migration ein konstitutives Element europäischer Gesellschaftsgeschichte (vgl. Schiffauer 2006) oder andersherum: die Geschichte Europas ist sowohl Resultat als auch Anlass von Wanderungsbewegungen (vgl. Bade 2000a; Kaelble 2001; Castleset al. 2003). Andererseits wird genau dieses Charakteristikum nun plötzlich zum gesellschaftlichen Problem, das durch spezifische Migrations- und Integrationspolitiken gelöst werden soll. Doch warum ist das, was traditionell Europa ausmacht, nämlich Zuwanderung, problematisch? Sind die Fremden andere als früher? Oder hatte Europa etwa noch nie ein unbeschwertes Verhältnis zu Migranten, weil es nie ein einheitliches Gebilde, sondern immer nur eine Gemeinschaft nationalstaatlich organisierter Regionen war? Im Diskurs um "Fremde in Europa" spielen die Begriffe "Migration", "kulturelle Vielfalt" und "Integration" eine zentrale Rolle. Migration wird dabei als ein Faktor angesehen, der in allen europäischen Staaten, wenn auch mit unterschiedlicher Dynamik, zu einer so genannten "kulturellen Vielfalt" fuhrt. Mit diesem Argument wird die Notwendigkeit einer Integration dieser Vielfalt gefordert, und zwar nicht nur auf der scheinbar unproblematischen, institutionell verfassten

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Ebene der Europäischen Union bzw. des Europarats, sondern v.a. auch auf der Ebene der alltäglichen Lebenswelt Ziel dieses Beitrags ist es, einen Überblick über die Leitbegriffe des vorliegenden Bandes zu geben und in die zugrunde liegenden theoretischen Diskussionen einzuführen. Dabei gehen wir erstens auf den Zusammenhang von Migration und Fremdheit ein, zweitens behandeln wir, wie Migrationsprozesse zu Integrationsforderungen führen, drittens thematisieren wir die Diskussion über die Notwendigkeit einer Integration kultureller Vielfalt und viertens diskutieren wir abschließend, in welchem Maße der europäische Traum einer "Einheit in der Vielfalt" Wirklichkeit werden kann.

Migranten als Fremde "Wenn das Wandern als die Gelöstheit von jedem gegebenen Raumpunkt der begriffliche Gegensatz zu der Fixiertheit an einem solchen ist, so stellt die soziologische Form des ,Fremden' doch gewissermaßen die Einheit beider Bestimmungen dar - freilich auch hier offenbarend, dass das Verhältnis zum Raum nur einerseits die Bedingung, andererseits das Symbol der Verhältnisse zu Menschen ist. Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt- sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weiter gezogen ist, die Gelöstheit des Kommensund Gehens nicht ganz überwunden hat" (Simmel 1908: 509).

Ganz offensichtlich wird Migration in den europäischen nationalstaatlich organisierten Gesellschaften nicht als "natürlicher" Prozess wahrgenommen, der in Europa Tradition hat. In einem "Europa der Einwanderungsstaaten" ist der Begriff der Zuwanderung fast untrennbar mit Zuschreibungen von "Fremdheit" konnotiert (vgl. Hamburger et al. 2005). Mehr noch: der Begriff des Fremden wird zunehmend sogar für die Kennzeichnung von Migranten und Migrantinnen reserviert, unabhängig davon, ob es sich nun um Aus- und Übersiedler, Umwelt-, Katastrophen- und Kriegsflüchtlinge, Arbeitsmigranten und Wirtschaftsflüchtlinge oder Asylbewerber handelt. Diese Fokussierung des Fremdenbegriffs geht - ganz im Simmelschen Sinne - so weit, dass auch die Söhne und Töchter Zugewanderter, die keine eigenen Migrationserfahrungen haben, primär über die Migration ihrer Eltern oder Großeltern definiert werden und diese Zuschreibungen sogar häufig auch selbst übernehmen, sei es im Sinne offensiven Stigmamanagements oder sei es, weil ihnen die Zugänge zu anderen ldentitäten und Statusgruppen verwehrt bleiben (vgl. Mecheril2003b; Sökefeld 2004). Migranten und Migrantinnen werden also nicht etwa als Träger eines fortdauernden Transformationsprozesses aufgefasst, der konstitutiv für die kulturel-

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len und sozialen Bestimmungen Europas ist. ' Sie werden angesehen als "ein Element der Gruppe selbst, nicht anders als die Armen und die mannigfachen ,inneren Feinde' - ein Element, dessen immanente und Gliedstellung zugleich ein Außerhalb und Gegenüber einschließt" (Simmel 1908: 510), als nicht Dazugehörende und doch hier Verortete, gewissermaßen als "nahe Ferne" (ebd.). Die Schwierigkeiten, die sich aus diesem spezifischen Verhältnis von Nähe und Entferntheit ergeben, spiegeln sich in der Vielfältigkeit der Bezeichnungen wie Migranten oder Immigranten, Menschen mit Migrationshintergrund, PostMigranten, Zuwanderer erster, zweiter oder dritter Generation wider, und sie verweisen auch auf die Defizite in der Migrations- und Integrationsforschung (vgl. Sökefeld 2004; in diesem Band). In Deutschland kennzeichnet das "Unbehagen mit den Fremden" sehr gut die Geschichte des Umgangs mit Zuwanderung seit Beginn der Arbeitsmigration in den 1950er Jahren. Aus Gastarbeitern wurden ebenso schnell "Fremde" wie aus den Übersiedlern und Kriegsflüchtlingen. Nachdem sich abzeichnete, dass die Zugewanderten dauerhaft bleiben würden, dass an einer Integration also kein Weg vorbei führte, begann sich in politischen, aber auch in alltagsweltlichen Diskursen die Konstruktion einer Grenze zwischen Einheimischen und Fremden, zwischen Vertrautem und Unbekanntem zu etablieren, während die grundsätzliche Frage, wie sich das Zusammenleben verschiedener Gruppen in einer (ethnisch) pluralistischen Gesellschaft denken lässt und wie mit Fremdheit als zentraler Kategorie menschlichen Daseins umgegangen wird, meist ausgeklammert blieb (vgl. Amos 2001, 2006; Bade et al. 2004). Fremden wird im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung häufig eine "geringere Wertigkeit" zugemessen, sie stehen vielfach als Symbol für Unordnung und werden dementsprechend als Gefahr und Bedrohung wahrgenommen (vgl. Reuter 2002). Die geringere Wertigkeit von Fremden wird dabei in den seltensten Fällen expliziert, sondern im öffentlichen Diskurs dadurch zum Ausdruck gebracht, dass Migration häufig mit Prozessen der "Unterschichtung" verbunden sei, und dass Zugewanderte eher "untere" Positionen der sozialen und Beschäftigungshierarchie einnehmen (vgl. Esser 2001). Bedrohungsszenarien werden wiederum mithilfe einer negativ konnotierten Personifizierung der "Andersartigkeit" konstruiert. Fremde avancieren auf diesem Weg zu Störenfrieden, Verursachern und Trägern sozialer Probleme2 , was letztendlich in den von Wilhelm Heitmeyer in seinen "Deutschen Zuständen" (2006, 2007) beschriebenen "alarmierenden Einstellungen" der deutschen Mehrheitsbevölkerung bei Fragen der Toleranz gegenüber Zugewanderten und der Bewertung von kultureller Vielfalt zutage tritt. Gerade der populäre Kulturbegriff erweist sich hier als anfällig für populistische Argumentationen und fördert letztendlich ethnisierende assimilatorische lntegra-

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Vgl. dazu Bade 2000a; Meier-Braun 2002; Bade et al. 2004; Bommes/Morawska 2004; Schierup et al. 2006; Bommes/Schiffauer 2006; Mannitz 2006. Vgl. dazu Waldenfels 1997; Reuter 2002; Cuperus et al. 2003; Penninx et al. 2004; Otto/Schrödter 2006.

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tionsmodelle, wie sie auch der Debatte um die "deutsche Leitkultur" zugrunde liegen (vgl. Bauböck 2001; Hentges 2002; Mecheril2003a). Fremdheit - so lässt sich festhalten - repräsentiert also keine soziale Tatsache. Sie ist ein in gesellschaftliche Bedeutungszuweisungen und Herrschaftsstrukturen eingebettetes "soziales Artefakt und Beziehungsprädikat" (Reuter 2002: 12) und verweist eben aufkommunikativ erzeugte Konstruktionen und soziale Ordnungen von Wirklichkeit.

Migration und Integration "Je intensiver die Motive eines Wanderers in bezug auf eine bestimmte Zielsituation, je stärker die subjektiven Erwartungen eines Wanderers sind, daß diese Zielsituation über assimilative Handlungen und/oder über assimilative Situationen erreichbar ist; je höher die Handlungsattribuierung für assimilative Handlungen ist, und je geringer der Widerstand für assimilative Handlungen ist, umso eher führt der Wanderer- ceteris paribusassimilative Handlungen (aller Art: einschließlich Bewertungen, Wahrnehmungen und Informationssuche) aus" (Esser 1980: 211 ). Die Definition von Migranten und Migrantinnen als Fremde, deren Anwesenheit als Störung der sozialen Ordnung wahrgenommen wird, fuhrt dazu, dass Migranten - als "Nicht-Zugehörige", die Ansprüche auf Teilhabe stellen - zu einem "Testfall für unsere Gesellschaft" (Süssmuth 2006) werden. Diese Wahrnehmung ist letztendlich Ausgangspunkt jeglicher Integrationsdiskussion. Welche Integrationsstrategie aber geeignet ist, der Störung sozialer Ordnung entgegenzuwirken, ist so umstritten wie der Integrationsbegriff selbst. In der öffentlichen und politischen Diskussion um die "Ausländerfrage" wird Integration in der Regel normativ definiert, wobei assimilatorische Vorstellungen dominieren.3 Im Zuge einer solchen Diskussion um die (in der Regel kulturalistisch verstandene) "Passung" von Zugewanderten zur Mehrheitsbevölkerung tritt auch ein wesentlicher Mechanismus der Ungleichbehandlung von Menschen mit Migrationshintergrund zutage. Dabei handelt es sich um soziale Praxen, in welchen Integration im Sinne von Assimilation als Bringschuld der Fremden gegenüber der etablierten Bevölkerung behandelt wird (vgl. Amos 2001 , 2006). In diesen Praxen werden bloße "Orientierungs- und Ordnungshilfen im Umgang mit der Wirklichkeit" (Reuter 2002: 9) über unterschiedliche kulturelle Verortungen von Menschen unterschiedlicher nationaler Herkunft generalisiert und zu einem Instrument von Herrschaft gewendet. Die Resultate solcher "Kulturalisierungen" zeigen sich nicht nur im Zugang zu Bildungs- und Beschäftigungssystemen, sondern auch zu alltäglichen Lebenswelten der Zuwanderungsgesellschaft So wird Herkunft sowohl im öffentlichen Diskurs als auch im Alltag zumeist an einer Fiktion von Nationa3

Vgl. dazu u.a. Bade 2000b; Esser 2000; Gernende 2002; Beck/Grande 2004; Bommes 2005; Süssmuth 2006.

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lität festgemacht, die zuweilen bis in die dritte Generation zurückgerechnet wird, was sich an Semantiken wie "Syrer mit deutschem Pass" oder "Türke der dritten Generation" festmachen lässt. Verstärkt werden solche Integrationsbarrieren durch eine Ankopplung an allgemeinere Mechanismen der Benachteiligung von Bevölkenmgsgruppen, u.a. an grundsätzliche soziale Ungleichheitsstrukturen, an Strukturen der Arbeitsmarkt- und Bildungssegmentation oder gar an unterschiedliche "Integrationsweisen" in unterschiedlichen Wohlfahrtsregimes (vgl. dazu Esping-Andersen 1990; Kaufinann 2003) und Bildungssystemen (OECD 2003), die z.B. in differenten Modi der Erteilung der Staatsbürgerschaft an Zugewanderte zum Ausdruck kommen (Heckmann 2004). Die wissenschaftliche Auseinandersetzung um Migration und Integration ist weitaus komplexer und differenzierter. Augenblicklich stehen etablierte Paradigmen und Theorien ebenso auf dem Prüfstand wie aktuelle politische und lebensweltliche Praktiken. Speziell den Sozialwissenschaften wird derzeit der Vorwurf gemacht, sie hätten Abgrenzungen und Kategorisierungen gefördert, um die Wirklichkeit zu ordnen und verstehbar zu machen, was letztendlich aber gleichzeitig zur "Versiegelung" von Fremdheits- und Vertrautheitsunterscheidungen mit weit reichenden gesellschaftlichen, politischen und sozialen Konsequenzen geführt habe (vgl. Soysal 2004; Torres 2004). Derart stabilisiert verselbständigteil sich- so die Argumentation- die konstruierten Grenzen als soziale Tatsachen und Objektivitäten, während der Sachverhalt, dass sie lediglich menschliche Ordnungskonstruktionen darstellten, zumeist außen vor bliebe. Dieser Vorwurf ist nicht gänzlich unberechtigt, hatte die Diskussion um Migration und Integration in den Sozialwissenschaften lange Zeit (und zum Teil bis heute) ihren Fokus auf Einwanderer v.a. als vom Regelfall abweichende Gruppen gerichtet, ebenso wie die Kommunikation von Einwanderung als einem gesellschaftlichen Problem in Deutschland eine lange Tradition hat. Erst in jüngerer Zeit deutet sich hier ein Perspektivenwechsel an, indem ein "konstruktivistischer" Blick auf die kulturelle Verortung von bestimmten Bevölkerungsgruppen gerichtet wird. Damit wird die Frage gestellt, wie gesellschaftliche "Wirklichkeit" als Sinn-, Ordnungs- und Bedeutungsmuster konstruiert wird und wie sich diese Konstruktionen langfristig als Routinen oder Allgemeinwissen etablieren (vgl. Reuter 2002). Dieser Zugang eröffnet wiederum die Chance, der im Themenfeld "Migration und Integration" relevantesten Frage nachzugehen: wie sich "unter der Prämisse institutionalisiet1er kultureller Diversität ein Selektionsprozess vollzieht, der inklusive Varianten begünstigt und exklusive Varianten marginalisiert" (Stichweh 2000: 44).

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Integration als Gestaltung kultureller Vielfalt "Was an diesem Argument, das auf Fremde und kosmopolitisch orientierte Gruppen und Personen verweist, überzeugt, ist, daß es Integration nicht als Gemeinsamkeit der Grundlagen, sondern als Interrelation des Differenten denkt. Die zugehörige Vorstellung ist die, daß strukturelle Differenz das Signum der Weltgesellschaft ist und daß das Problem, zu dessen Lösung u.a. kosmopolitische Orientierungen beitragen, darin besteht, die voneinander differenzierten Teile der Welt in intensivere Interrelationen miteinander zu setzen" (Stichweh 2000: 36) Es wäre naiv zu glauben, dass sich mit der allmählichen Umstellung der Perspektive in der sozialwissenschaftliehen Diskussion zum Thema Migration auch gleichermaßen die öffentlichen Leitorientierungen zum Umgang mit kultureller Vielfalt änderten. Integration wird im Sinne assimilatorischer Integrationsmodelle auch heute noch häufig als "Gemeinsamkeit der Grundlagen" angesehen. Dies resultiert v.a. daraus, dass die Fremdheit von Einwanderern in der Regel mit dem Verweis auf kulturelle Differenz erklärt wird. Kultur wird dabei als quasinatürliche Wesenheit bzw. substanzielle Größe und kulturelle Differenz wird als festgeschrieben und unüberwindbar verstanden (vgl. Sökefeld 2004). Dieser Kulturbegriff eignet sich ausgezeichnet als Argumentationsplattforrn, auf der Politik gemacht werden kann (vgl. Schiffauer 1997), denn Migration wird aus diesem Blickwinkel zu einem Prozess, der Kulturen aufeinanderprallen lässt (vgl. Huntington 1997). Zumindest im wissenschaftlichen Diskurs gewinnt in jüngerer Zeit auf europäischer Ebene allmählich ein Zugang an Bedeutung, welcher die Möglichkeiten und Vorteile des Umgangs mit kultureller Vielfalt zu ergründen sucht. 4 In dieser Perspektive wird die Begrenztheit eines statischen Verständnisses von Kultur und kultureller Differenz offensichtlich, weil dieses komplexe Mechanismen kultureller Zuordnung, Zuschreibung und Praxis nicht angemessen zu erfassen erlaubt. So kann Kultur als "translokales, kreatives und exploratives Phänomen" aus dieser Sicht nur als Netzwerk von Praktiken, die Grenzen zwischen Vertrautem und Unbekanntem konstruieren, und nicht als "territorial fixierte Entität" (Hörning/ Reuter 2004: 12) verstanden werden. Die Forderung an die Integrationsdiskussion lautet dementsprechend, die in der öffentlichen Debatte um Zuwanderung und Integration vorherrschenden Zuschreibungen von Differenz in Frage zu stellen, quasi eine "Subversion kultureller Beschreibungen" (Sökefeld 2004: 28) zu betreiben. Die Integrationspolitik auf europäischer Ebene öffnet sich zunehmend dieser Forderung. Dahinter steckt nicht zuletzt das Phänomen, dass Zuwanderung nicht mehr nur ein Phänomen ehemaliger Kolonialstaaten oder wirtschaftstarker Regionen ist. Migration ist in Europa mittlerweile fast flächendeckend zu beobach4

Vgl. dazu Castles 2000; Heckmann/Schnapper 2003; Vertovec/Wessendorf 2004; Kaschuba 2005; Mannitz 2006.

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ten, und auch ehemalige Auswanderungsländer sind zunehmend selbst von Zuwanderung betroffen und suchen nach neuen Formen der Eingliederung (vgl. Castles et al. 2003; EUMC 2006; Europarat 2006). Im Mittelpunkt dieser (europa-) politischen Diskussion steht die Frage, wie die Produktivität von Vielfalt sichtbar gemacht, Konstruktionen von Fremdheit und Zugehörigkeit in ihrer Wechselseitigkeit dargestellt und der Blick auf kulturelle Differenz als ,Standortvorteil' Europas gerichtet werden kann. Ein Beispiel für die Umsetzung dieser Absicht ist die so genannte "Offene Methode der Koordinierung", mithilfe derer die Europäische Union in den Bereichen Arbeitsmarkt-, Jugend-, Sozial- und Bildungspolitik versucht, interkulturelles Lernen im Sinne eines "mutual learning" als Austausch, Kooperation und Vergleich auf institutioneller Ebene zu verankern. Dabei geht es explizit um den Abbau von Integrationsbarrieren für Migranten und ethnische Minderheiten im Bildungssystem (vgl. Walther/Pohl 2005) und damit wird dem genannten Umstand Rechnung getragen, dass Bildungssysteme- wie auch die jüngsten PISA-Studien der OECD (2003 , 2006a, b) zeigen - die Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in nur unzureichendem Maße fördern.

Der "europäische Traum": Anspruch und Wirklichkeit "Der amerikanische Traum ist patriotisch. Europa ist dagegen sehr säkular geworden, und die Europäer mögen ihre Länder auch lieben, aber ihre Identitäten sind komplexer, von Region, Nation und Europa bestimmt. Deramerikanische Traum ist assimilatorisch, der europäische von Vielheit, von Diversivität bestimmt. Und zuletzt. Die Europäer sind, eine Erfahrung kriegerischer Jahrhunderte, fri edliebend geworden" (Rifkin 2006). Der "europäische Traum" ist letztendlich nichts anderes als die Vision eines integrierenden Europas, welches Vertrautes und Fremdes systematisch miteinander in Einklang bringt, in Form einer dynamischen, sich gegenseitig bereichemde Einheit von fremd und nah. Diese Vision als typische Repräsentation des Europäischen zu titulieren, ist zugegebenermaßen recht optimistisch. Jeremy Rifkin (2004) geht sogar noch weiter, indem er Europa als politisches Vorbild für eine produktive, also die Unterschiedlichkeit zur politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung nutzende Auseinandersetzung mit kultureller Vielfalt und internationalen Konflikten darstellt. In Abgrenzung zu einem aus seiner Sicht gescheiterten amerikanischen Traum, so Rifkin, könnte Europa mit seinen Werten, seiner Geschichte und seinen Lebensstilen zu dem zukunftsträchtigen Gesellschaftsmodell werden. Das "Neue" an dieser Sichtweise ist, dass Migration sowie die produktive Erhaltung der dadurch bedingten Vielfalt als nützlich und bereichernd für eine Gesellschaft angesehen werden. Das Streben nach Einheit trotz Diversifizierung sowie das Existieren einer fast beispiellosen kulturellen Vielfalt quasi "unter einem Dach" werden auch von anderen Wissenschaftlern als

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positiv hervorgehoben. Wirtschafts- bzw. Politikwissenschaftler, wie Richard Florida, sehen darin z.B. einen unterschätzten Standortvorteil Europas (vgl. Florida 2004) und Historiker, wie Tony Judt (2006), erblicken in Europa ein mögliches Gesellschaftsmodell, das individuelle Freiheit und soziale Sicherung in Balance gebracht hat mit dem freien Markt und damit einen wesentlichen Vorteil gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika aufweise. Die nähere Betrachtung der europäischen Integrationsbereitschaft zeichnet sich allerdings ein eher ernüchterndes Bild. Erstens steckt die europäische Politik in einem Widerspruch zwischen nationalstaatlicher Orientierung und der Absicht einer "Pflege" kultureller Vielfalt. Nicht zuletzt spiegelt die EU-Einwanderungspolitik auf der Ebene politischer Regulierung - trotz aller anders lautenden Initiativen - v.a. die Einwanderungspolitiken der Mitgliedsstaaten wider. Zweitens ist sowohl der wissenschaftliche als auch der öffentliche Diskurs noch immer häufig durch verkürzte, politisch-normative Problemdefinitionen gekennzeichnet (vgl. Gogolin/Nauck 2000; Bommes 2006), wie sich zuletzt u.a. in der international geführten Diskussion um das Tragen von Kopftüchern zeigte (vgl. Haug/Reimer 2005). Und dahinter steckt nicht alleine eine einseitige massenmediale Berichterstattung zum Thema Migration, welche die Bewegung Europas v.a. an sozialen Spannungen zwischen benachteiligten Menschen mit Migrationshintergrund und etablierten Institutionen der Mehrheitsbevölkerung festmacht, die durch Integrationsmaßnahmen zu regulieren seien. Ganz offensichtlich haben kulturalisierende Deutungen der Folgen von Zuwanderung auch eine enorme Attraktivität für Politiker in Zeiten des Konkurrierens um Wählerstimmen. Drittens scheint die europäische Bevölkerung im globalen Zeitalter noch lange nicht "reif' genug zu sein, um die europäische Idee einer "Einheit in der Vielfalt" im sozialen Alltag zur Realität werden zu lassen. Dies zeigen empirische Studien zum alltäglichen Umgang mit Fremdheit und kultureller Vielfalt in Europa sehr deutlich. Zwar erweist sich im internationalen Vergleich der europäische Grad an Toleranz als relativ hoch, bei den Einstellungswerten gegenüber Minderheiten und Migranten fallen einige Länder jedoch deutlich ab - allen voran Deutschland, Griechenland, Österreich, Portugal und Großbritannien (vgl. Lamnek et al. 2003; Florida/Tinagli 2004, 2006; Heitmeyer 2006, 2007). Insbesondere die Angst vor "Parallelgesellschaften" scheint dazu zu führen, dass die Mehrheit der Europäer die Grenzen der multikulturellen Gesellschaft als erreicht ansieht (vgl. EUMC 2005). Deshalb verwundert es auch nicht, dass immer wieder die Frage nach der maximalen Verträglichkeit kultureller Vielfalt und Differenz für eine Gesellschaft gestellt wird (vgl. Entzinger 2000; Sartori 2002). Das Verhältnis von Europa zu "seinen Fremden" ist also ein janusköpfiges: einerseits wird zunehmend betont, dass Europa nur als Einheit in Differenzen, als "Unity in Diversity" (McDonald 1996), denkbar sei, und zwar als ein Teil einer Weltgesellschaft (vgl. Stichweh 1997,2000, 2005; Heintz et al. 2005), in welcher interkulturelle Kommunikation die Grundvoraussetzung ftir Integration ist. Anderseits zeigt sich Europa als eine "Festung" mit einer doch eher protektio-

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nistischen Haltung gegenüber Fremden. Und so dominieren in der öffentlichen Diskussion derzeit einmal mehr Legitimationsdiskurse, in welchen Fremdheit als desintegrierend beschrieben, nationale Interessen hochgehalten und diese durch das Fremde (z.B. durch den Islam) als bedroht gekennzeichnet werden. Europa tut sich im Umgang mit Fremdheit also deutlich schwerer als es seine Geschichte der Blick von außen erwarten lässt (vgl. Rifkin 2004; Judt 2006). Und wie gesagt sind es derzeit weniger Offenheitsproklamationen, die Europa charakterisieren, als vielmehr "Festungssymboliken", die mithilfe einer Reaktualisierung der alten Unterscheidung zwischen christlichem Abendland und muslimischem Morgenland den Schutz europäischer Nationalstaaten vor den Begehrlichkeiten globaler Migrationsströme herbeiwünschen. Deutlich wird hier einmal mehr, "dass die Figur des Fremden, die aus der modernen Gesellschaft fast schon verschwunden schien, in der sozialen Semantik der Gefahr und als extreme Unsicherheit mit Bezug auf die Bewegung in Exklusionsbereichen wiederkehrt" (Stichweh 1997: 132).

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Differenz als Potential Das kosmopolitische Europa EDGAR GRANDE

Europa der Differenz - oder: Weshalb ist es sinnvoll, sich in Europa mit dem Kosmopolitismus zu beschäftigen? Weshalb ist es im Zusammenhang mit Europa sinnvoll, sich mit dem Konzept des "Kosmopolitismus" zu beschäftigen? Was kann ein solches Konzept zum Verständnis der Integrationsprobleme und Entwicklungspotentiale der Europäischen Union, seiner Mitgliedstaaten und Regionen beitragen? Meine Antwort auf diese Fragen basiert auf drei Prämissen. Die erste Prämisse lautet, dass die Wahrnehmung und Verarbeitung von Differenz konstitutiv ist für moderne Gesellschaften. ,,Die Kultur der Moderne, für die Europa heute steht, ist im Kern eine Kultur des Umgangs mit Differenzen unter den Bedingungen prinzipieller Erkenntnisungewissheit", so Thomas Meyer in seinem Buch "Die Identität Europas" (2004: 74). Es ist die "Allgegenwart von Differenzen" (Meyer 2004: 78f.) und die historische Erfahrung ihrer Unautbebbarkeit, die die europäischen Gesellschaften prägten und noch immer prägen. Meine zweite Prämisse lautet, dass die neuere Entwicklung moderner Gesellschaften nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet ist, dass Differenzen aller Art exponentiell zugenommen haben. Zugespitzt formuliert lässt sich der Prozess "reflexiver Modernisierung" (Beck et al. 1996) - also jener von Soziologen und zunehmend auch von Historikern beobachtete Strukturwandel der europäischen Gesellschaften, der in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzte und den Übergang von einer industriegesellschaftlich geprägten Ersten Moderne zu einer Zweiten Moderne einleitete- als ein umfassender Prozess der gesellschaftlichen Erzeugung, Vermischung und Restmkturierung von Differenzen begreifen - von alten und neuen, von feinen und weniger feinen Unterschieden. Meine dritte Prämisse schließlich lautet, dass sich in Europa am Beginn des 21. Jahrhunderts diese Steigerung von Differenz exempla-

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risch beobachten lässt und dass sie dort auch eine besondere Brisanz besitzt. Wemer Weidenfeld stellte bereits vor gut zwanzig Jahren fest: ,,Zu keiner Epoche ist Europa [... ] einfach unter das Prinzip der Einheit zu subsumieren; nie haben die Europäer eine gemeinsame Sprache gesprochen, nie zur gleichen Zeit unter einheitlichen sozialen Bedingungen gelebt. Nirgendwo sonst prallt Vielfalt auf so engem Raum aufeinander" (Weidenfeld 1985: 2 1). Diese Vielfalt hat gerade in Europa stark zugenommen. Hierfür gibt es drei Gründe, die unter den Begriffen "Individualisierung", "Europäisierung" und "Globalisierung" diskutiert werden: •





erstens erfolgte gerade in den westeuropäischen Gesellschaften (aber nicht nur in ihnen) ein gesellschaftsstruktureller Wandel, der von Dirich Beck, Anthony Giddens und anderen als Individualisierung bezeichnet wird, und in dessen Folge die Individuen aus den Klassen- und Gruppenbindungen der Industriegesellschaft herausgelöst werden. Die Konsequenz ist eine immer stärkere Pluralisierung und Individualisierung von Biographien, Arbeitsverhältnissen, Lebensfom1en, etc. (vgl. Beck 1986, 1999; Beck/Beck-Gemsheim 1994; Giddens 1994; Beck et al. 1996); zweitens haben die verschiedenen Erweiterungsschübe der EU, zuletzt die Osterweiterung, einen Prozess der "Einbürgerung nach Europa" mit sich gebracht, durch den die wirtschaftliche, kulturelle und soziale Heterogenität, die innerhalb der EU politisch verarbeitet werden muss, erheblich zugenommen hat; und drittens sind die westeuropäischen Länder seit Jahren eines der bevorzugten Ziele globaler Wanderungsbewegungen, die höchst unterschiedliche Ursachen (die Auflösung der alten Kolonialreiche, Bürgerkriege und der Zerfall von Staatlichkeit, extreme Wohlfahrtsgefälle und Ressourcenknappheiten, politische Verfolgung, etc.) haben, aber alle die gleiche Konsequenz, nämlich eine starke Zunahme von soziokultureller Heterogenität, von kultureller Differenz, innerhalb Europas (vgl. Bade 2000; Beck-Gernsheim 2004).

Kurz gesagt: Europa ist tatsächlich auf verschiedenste Weise in Bewegung geraten, und diese Bewegung erzeugt und vergrößert Differenz. Die entscheidende Frage- für Europa, aber nicht nur für Europa -lautet dann, wie mit diesen Differenzen umgegangen werden soll, wie diese Differenzen gesellschaftlich und politisch verarbeitet werden können - kurz: Wie die Integration moderner Gesellschaften unter den Bedingungen zunehmender kultureller, gesellschaftlicher und politischer Heterogenität geleistet werden kann? Die Antwort, die ich auf diese Frage geben möchte, lautet: Mit Hilfe des Konzepts des Kosmopolitismus. Diese Antwort möchte ich im Folgenden in drei Schritten kurz erläutern. Im ersten Schritt möchte ich das Konzept des Kosmopolitismus als eine spezifische Form

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des gesellschaftlichen Umgangs mit Andersheit vorstellen; im zweiten Schritt will ich dann kurz skizzieren, was sich ergibt, wenn man dieses Konzept auf Europa, konkret: die EU , ihre institutionelle Ordnung und ihre Politiken anwendet. Und im dritten Schritt werde ich dann einige Hinweise geben, weshalb eine solche kosmopolitische Strategie für Europa nicht nur normativ wünschenswert ist, sondern auch nützlich. Meine zentrale These lautet, dass gerade in der Differenz und in einem kosmopolitischen Umgang mit Andersheit ein unverzichtbares Potential für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Europas steckt.

Kosmopolitismus als Modus der gesellschaftlichen Bearbeitung von Differenz- oder: Was verstehe ich unter Kosmopolitismus? Der Begriff des Kosmopolitismus avancierte in den vergangeneu Jahren in den angelsächsischen Ländern zu einem der Schlüsselbegriffe in der sozialwissenschaftlichen Diskussion (vgl. Cheah/Robbins 1998; Vertovec/Cohen 2002; Archibugi 2003b; Beck 2000, 2004; Beck/Sznaider 2006, sowie den Überblick bei Köhler 2005). Neuerdings hat der Kosmopolitismusbegriff auch Einzug in die Europadiskussion gehalten, wenngleich in recht unterschiedlichen und nicht immer hinreichend präzisen Verwendungen (vgl. insbesondere Habermas 2003 sowie Beck/Grande 2004; Ritkin 2004; Dahrendorf 2005; Delanty/Rumford 2005). Und wie zu erwarten war, hat der Begriff inzwischen auch heftige Kritik auf sich gezogen. Diese Kritik basiert auf einem mehrfachen Missverständnis des Kosmopolitismus-Konzepts, zumindest in jener Fassung, in der es von Ulrich Beck und mir verwendet wird. Es wird erstens angenommen, Kosmopolitismus sei ein ausschließlich idealistisches Konzept, es wird zweitens behauptet, dabei würden nationale Probleme und Interessen ausgeblendet, und es wird drittens unterstellt, ein solcher Kosmopolitismus verlange in Europa die Verschmelzung nationaler Gesellschaften zu einer europäischen Gesellschaft und zu einem europäischen Demos. All das ist falsch, all das ist mit dem Konzept eines "kosmopolitischen Europas" nicht gemeint - zumindest kann man, wie ich im Weiteren zeigen möchte, das Konzept so formulieren, dass diese Einwände nicht mehr zutreffen. Was genau ist mit Kosmopolitismus dann gemeint? Der Nachteil des Kosmopolitismus-Begriffs als eines sozialwissenschaftliehen Begriffs besteht zweifellos darin, dass sich in ihm ganz verschiedene Bedeutungshorizonte überschneiden. Er lässt sich bekanntlich bis zu den Kynikern und Stoikern der Antike (Diogenes, Demokrit, Hippokrates) zurückverfolgen; später spielte er in den europäischen Gesellschaften immer dann eine Rolle, wenn diese mit grundlegenden Umwälzungen konfrontiert wurden. In Deutschland findet er sich v.a. in der Philosophie der Aufklärung (bei Kant, Fichte, Schelling, Wieland, Forster, Herder, Goethe, Schiller, Beine, et al. ; vgl. dazu Schlereth 1977; Kleingeld 1999; Thielking 2000); und vor einigen Jahren wurde er dann (insbesondere im angel-

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sächsischen Sprachraum) in der Globalisierungsdiskussion als positiver Gegenbegriff zur Ordnungsmacht des Marktes und des Nationalstaates wieder entdeckt (u.a. von Daniele Archibugi, David Held und Mary Kaldor; vgl. Archibugi/Held 1995; Held 1995, 2004; Kaldor 1999; Archibugi 2003a). Weshalb könnte ausgerechnet der Kosmopolitismus uns bei der Integration Europas weiterhelfen? Wird damit nicht versucht, zwei Dinge zusammenzufügen, die nicht zusammenpassen, die gar nicht zusammenpassen können, nämlich die Idee des "Weltbürgertums" auf der einen Seite, und die Idee einer zwar kontinentalen, aber eben immer noch territorial begrenzten politischen Ordnung auf der anderen Seite? Solche Vorbehalte gtünden nicht zuletzt auf einem auf Kant und dessen Idee der "Weltrepublik" zurückgehenden Verständnis von Kosmopolitismus (vgl. zum Karrtsehen Kosmopolitismus Bohmann/Lutz-Bachmann 1997; Cheneval 2002). Aber bereits in der politischen Philosophie der deutschen Aufklärung finden sich auch andere Fassungen des Begriffs. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang Christoph Martin Wieland, von dem Walter Jens vor Jahren behauptet hat, er sei der erste Schriftsteller in Deutschland gewesen, der beides war, Europäer und Kosmopolit (vgl. Brender 2003: 118). Von ihm finden wir in einer späten Schrift eine Lesart des Kosmopolitismus, die meinem Verständnis des Konzepts sehr nahe kommt. In Wielands Aufsatz "Das Geheimnis des Kosmopoliten-Ordens" heißt es über den "Kosmopoliten": "Er meint es wohl mit seiner Nazion; aber er meint es ebenso wohl mit allen anderen, und ist unfahig, den Wohlstand, den Ruhm und die Größe seines Vaterlandes auf absichtliche Übervortheilung und Unterdrückung anderer Staaten gründen zu wollen" (vgl. Erender 2003: 105). Wenn das Konzept des Kosmopolitismus für die Integration Europas genutzt werden soll, dann muss es in genau diesem Sinne verwendet werden, nämlich zur Bezeichnung einer ganz bestimmten Art des gesellschaftlichen Umgangs mit Anderen und mit Andersheit. Der Kosmopolitismus lässt sich dann vom Nationalismus oder vom Partikularismus, aber auch vom Universalismus dadurch unterscheiden, dass im Denken, Zusammenleben und Handeln die Anerkennung von Andersheit und der Verzicht auf die egoistische Durchsetzung eigener Interessen zur Maxime werden, und zwar sowohl im Inneren als auch nach Außen. Unterschiede werden weder hierarchisch geordnet, noch aufgelöst, sondern als solche akzeptiert, ja positiv bewertet. Bejaht wird, was in den beiden (Gegen-)Positionen der hierarchischen Verschiedenheit und der universellen Gleichheit ausgeschlossen wird, nämlich die Anderen als verschieden und als gleich wahrzunehmen. Das Fremde wird nicht als bedrohlich, desintegrierend, fragmentierend, sondern als bereichernd erfahren und bewertet. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, zwei Varianten der Anerkennung von Anderen und von Andersheit zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen. In der ersten Variante geht es datum, Andere trotz aller Unterschiedlichkeit als

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Gleiche anzuerkennen und ihnen die gleichen Rechte und den gleichen Status zuzuerkennen. Diese Variante basiert auf der Prämisse, dass kulturelle Differenz nicht den Ausgangspunkt und die Grundlage für politische, ökonomische und gesellschaftliche Ungleichheiten bilden soll. In einer zweiten Variante ist es gerade diese (formale) Gleichbehandlung, die Gegenstand von Kritik und Widerstand ist. In diesem Fall bestehen die betroffenen Individuen oder Gruppen darauf, als verschieden anerkannt zu werden, sie reklamieren für sich ein Recht auf Andersheit. Das Konzept des Kosmopolitismus, so wie ich es verstehe, spielt diese beiden Varianten der Anerkennung von Andersheit nicht gegeneinander aus, sondern versucht sie zu integrieren. Der Kosmopolitismus akzeptiert Andersartigkeit zwar, aber er verabsolutiert sie nicht (wie der postmoderne Partikularismus dies tut); er sucht zugleich nach Wegen, um sie universell verträglich zu machen. Der Kosmopolitismus benötigt folglich zugleich einen gewissen Bestand an universellen Normen, deren Funktion darin besteht, den Umgang mit Andersheit so zu regulieren, dass das Tolerieren von Differenz die Integration eines Gemeinwesens nicht gefährdet. Hieraus resultiert eines der Kardinalprobleme des Kosmopolitismus: Welches genau sind diese gemeinsamen Normen, ohne die auch der Kosmopolitismus nicht auskommt? Wie werden sie begründet und festgelegt? Wie werden Konflikte zwischen konkurrierenden Geltungsansprüchen reguliert? Wie auch immer diese Fragen beantwortet werden, durch sein Insistieren auf die Anerkennung gemeinsamer Regeln und Normen unterscheidet sich der Kosmopolitismus von extremen Varianten des Multikulturalismus, in denen die Anerkennung der Rechte und Identitäten von Gruppen bedingungs- und voraussetzungslos erfolgt. 1 Zugespitzt formuliert: Kosmopolitismus kombiniert die Toleranz von (gewollter) Andersheit mit unverzichtbaren universellen Normen, er kombiniert Vielfalt und Einheit. Kosmopolitismus in diesem Sinne beinhaltet zugleich eine ganz bestimmte Art der Verfolgung und Durchsetzung der eigenen (individuellen oder kollektiven) Interessen, einen kosmopolitischen Realismus (vgl. Beck 2002). Er verlangt keinen Verzicht auf Eigeninteressen, und keine ausschließliche Orientierung an übergeordneten Ideen und Idealen. Im Gegenteil, er ist durchaus "realistisch" und akzeptiert, dass politisches Handeln zumeist macht- und interessenbasiert ist. Aber er plädiert für eine gemeinschaftsverträgliche Art der Interessenverfolgung: die eigenen Interessen sollen ohne die "absichtliche Übervortheilung und Unterdrückung anderer Staaten" - wie Wieland das formulierte - verfolgt werden. Kosmopolitischer Realismus heißt dann nichts anderes als die Anerkennung der Allerdings muss betont werden, dass es daneben auch moderatere Varianten von Multikulturalismus gibt, die den institutionalisierten Dialog zwischen Kulturen betonen und in denen der gemeinsamen Anerkennung der Bedingungen eines solchen Dialogs eine ähnliche Funktion zukommt wie den universellen Normen im Kosmopolitismus. Beispielhaft für ein solches Multikulturalismus-Konzept vgl. Parekh (2006).

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legitimen Interessen Anderer und ihre Einbeziehung in das eigene InteressenkalküL Auf diese Weise lässt sich im Idealfall beides zugleich erreichen: individuelle und kollektive, nationale und europäische Ziele. Wichtig ist, dass der Begriff des Kosmopolitismus in dieser Lesart räumlich nicht festgelegt ist; er ist nicht an den "Kosmos" oder den "Globus" gebunden; er umfasst keineswegs "alles". Das Prinzip des Kosmopolitismus lässt sich überall, auf allen Ebenen und in allen Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Handelns, auffinden bzw. praktizieren - in internationalen Organisationen genauso wie in Familien und Nachbarschaftell (vgl. Beck 2004). In diesem allgemeinen Sinne fungiert das Konzept des Kosmopolitismus als ein sozialwissenschaftliches Analysekonzept, mit dessen Hilfe neue Fonnen des gesellschaftlichen Umgangs mit Andersheit empirisch erforscht und normativ begründet werden können. 2 Meine These lautet nun, dass ein so verstandener Begriff des Kosmopolitismus der Schlüssel zum Verständnis und zur Gestaltung neuer Formen der politischen Herrschaft jenseits des Nationalstaats ist, wie sie sich in Europa herausgebildet haben; und er ist zugleich der Schlüssel zum Umgang mit Differenz, mit Andersartigkeit, mit Fremden innerhalb Europas.

Kosmopolitismus und Europa- oder: Was bedeutet das kosmopolitische Europa konkret? Was heißt das nun konkret für Europa, genauer: die EU? Weiche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Ausgestaltung politischer Herrschaft, für ihre Prinzipien, Institutionen, Verfahren und Politiken? Ich werde mich bei der folgenden Konkretisierung des Konzepts auf jenen Aspekt konzentrieren, der für die Thematik eines durch Migrationsprozesse bewegten Europa von besonderer Bedeutung ist, nämlich die Entwicklung eines neuen, kosmopolitischen Integrationsansatzes, der nicht mehr auf die "Harmonisierung" von Regeln und damit die Aufhebung von (nationalen) Differenzen abstellt, sondern auf ihre Anerkennung.3 Kosmopolitische Integration basiert im Kern auf der Anerkennung von Andersheit, auf der Toleranz von Differenz. Dies steht in deutlichem Gegensatz zum bislang in der EU vorherrschenden Integrationsansatz. Der europäische Integrationsprozess erfolgte von Beginn an primär durch die Aufhebung von Differenz, d.h. von nationalen, regionalen und lokalen Unterschieden. Das Leitbild der europäischen Gemeinschaftsbildung war - und ist noch immer - die "einheitliche Integration": Nationale Regelungen werden "harmonisiert", durch eine einheitliche europäische Regelung ersetzt. In ihrer Reinform heißt einheitliche Integrati2 3

Zu den Möglichkeiten, dieses Konzept auf politikwissenschaftliche Fragestellungen anzuwenden, siehe Grande (2006). Eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Aspekte eines "kosmopolitischen Europas" findet sich in Beck/Grande (2004: Kap. VIII).

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on: "Eine Gemeinschaftsregelung wird von allen Mitgliedstaaten zum gleichen Zeitpunkt und mit gleichem sachlichem Inhalt angewandt" (Scharrer 1984: 12). Es gilt der Grundsatz "Alle oder keiner". Diese "Hatmonisierungspolitik" verwechselt Einigkeit mit Einheitlichkeit oder geht davon aus, dass Einheitlichkeit die notwendige Voraussetzung ist, um Einigkeit zu erzielen. In diesem Sinne wurde Einheit zum obersten regulativen Prinzip des modernen Europas - in Übertragung der Prinzipien der klassischen Staatsrechtslehre auf die europäischen Institutionen. Man bemaß die entstandene Institutionenwirklichkeit des neuen Europas an dem Maßstab, inwieweit es gelang, diese Einheitlichkeit durch Harmonisierung in allen Politikbereichen - der Agrarordnung, der Marktregulierung, der Wettbewerbspolitik, der Umweltpolitik, der Forschungspolitik und vielen anderen mehr - herzustellen. Je erfolgreicher die EU-Politik unter diesem Primat der Einheitlichkeit agierte, desto mehr wuchsen die Widerstände dagegen und desto deutlicher traten die kontraproduktiven Effekte hervor. In der Vergangenheit wurden v.a. drei Strategien entwickelt und praktiziert, um die "politischen Kosten" der Harmonisierungspolitik niedrig zu halten. Am gebräuchlichsten war es, durch Ausnahmeregelungen und Übergangsvorschriften eine gewisse Flexibilität bei der Implementation europäischer Normen zu schaffen. Eine zweite Strategie zielte darauf ab, mit Hilfe des Subsidiaritätsprinzips die Reichweite der Harmonisierungspolitik zu begrenzen; und schließlich wurde (vergeblich) versucht, durch neue Formen der "vertieften Zusammenarbeit", wie sie mit dem Amsterdamer Vertrag eingeführt wurden, die Kooperationszwänge der einheitlichen Integration zu lockem.4 In allen diesen Fällen wurde zwar am Grundsatz der einheitlichen Integration festgehalten, aber seine Ecken und Kanten wurden abgeschliffen, um auf diese Weise seine politische Akzeptanz zu vergrößern. Kosmopolitische Integration dagegen beruht auf einem Paradigmenwechsel, der besagt: Vielfalt ist kein Problem, sondern die Lösung. Zu diesem Zweck muss das Prinzip der differenzierten Integration, das in der Europapolitik bereits seit der Mitte der 1970er Jahre diskutiert wird, radikalisiert und erweitert werden (vgl. Grabitz 1984; Bertelsmann Stiftung 1997). Die weitere Integration Europas darf sich nicht an den überkommenen Einheitlichkeitsvorstellungen eines europäischen "Bundesstaates" orientieren, sondern muss die unabänderliche Vielfalt Europas zum Ausgangspunkt nehmen; sie darf Differenz nicht als Problem, als zu verringernde Störgröße begreifen, sondern als Potential, das es zu erhalten und zu nutzen gilt (vgl. auch Landfried 2002). Das Prinzip der differenzierten Integration ist eine unverzichtbare Bedingung, um die Anerkennung von Andersheit in einem kosmopolitischen Europa praktisch verwirklichen zu können. 4

Eine vierte Möglichkeit bestand natürlich von Beginn an darin, an Stelle der Vergemeinschaftung von Politiken andere, souveränitätsschonendere Wege der zwischenstaatlichen Kooperation außerhalb des Gemeinschaftsrahmens zu suchen. Das Ergebnis war eine Vielfalt von Kooperationsformen jenseits der EU.

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Nur auf diese Weise wird es möglich, dort zwei auf den ersten Blick sich ausschließende Anforderungen miteinander zu verbinden: die Anerkennung von Differenz einerseits und die Integration der Verschiedenen andererseits. Die Grundidee differenzierter Integration als Ansatz kosmopolitischer Integrationspolitik besteht darin, Integration auf eine Weise vorzunehmen, die ein möglichst hohes Maß an Andersheit akzeptiert und respektiert (im Sinne des kosmopolitischen Toleranzgebots). Im Kern geht es darum, den für moderne Staaten konstitutiven Anspruch der Einheitlichkeit, insbesondere der Rechtseinheit, in einem integrierten Buropa zu bewahren, ohne die Autonomie seiner Mitgliedstaaten zu beschädigen. Dazu gibt es bekanntlich zahlreiche Vorschläge und davon wiederwn viele Varianten, worum es im Einzelnen geht, möchte ich an drei Beispielen veranschaulichen: (1) dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung; (2) der Methode der offenen Koordinierung; und (3) dem Konzept der variablen Geometrie. (1) Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, das bislang v.a. in der regulativen Politik angewandt wird, beruht auf dem Grundsatz der bedingten Anerkennung von Andersheit (vgl. Scharpf 2003: 242f.). Die EU gibt in diesem Fall den Anspruch auf, nationale Regelungen vollständig auf europäischer Ebene zu harmonisieren und erlaubt es, diese beizubehalten, wenn sie ganz bestimmten, auf europäischer Ebene festgelegten Bedingungen genügen: Dazu zählt insbesondere, dass sie miteinander kompatibel sind und den funktionalen Erfordernissen einer europäischen Regulierung genügen. In diesem Fall verpflichteten sich die Mitgliedstaaten, ihre nationalen Regelungen gegenseitig anzuerkennen und auf diese Weise zu europäisieren. (2) In die gleiche Richtung wirkt die Methode der offenen Koordinierung ("method of open coordination"), die von den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten im März 2000 auf ihrem Gipfeltreffen in Lissabon zunächst für den Bereich der Beschäftigungs- und Sozialpolitik beschlossen und seither in einer immer größeren Zahl von Politikbereichen (u.a. Bildung, Gesundheit, Pflege, Renten) eingeführt wurde (vgl. Bom'ts/Greve 2004). Die Quintessenz der Methode der offenen Koordinierung besteht darin, dass sie die formalen Kompetenzen für die jeweiligen Politikbereiche bei den Mitgliedstaaten belässt, dass auf europäischer Ebene aber gemeinsame Zielvorgaben formuliert werden, die dann mit "weichen", d.h. nicht-rechtlichen Steuerungsinstrumenten ("benchmarking", "monitoring" und "Evaluierung") erreicht werden sollen. Dies geschieht überwiegend außerhalb des formellen Gemeinschaftsrahmens. Auf diese Weise sollen auch dort gemeinsame europäische Politiken ermöglicht werden, wo eine weitere Übertragung von Kompetenzen auf die EU unerwünscht bzw. unrealistisch ist.

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(3) Die wichtigste und zugleich umstrittenste Möglichkeit der Differenzierung ist die geographische Differenzierung. Geographische Differenzierung stellt auf die unterschiedliche territoriale Reichweite von Regeln und Politiken ab. Im Unterschied zur "Gemeinschaftsmethode" gelten in diesem Fall Regeln und Politiken nicht für alle, sondern nur für jene Staaten, die dies ausdrücklich vereinbart haben. Diese vertiefte Form der Kooperation kann in verschiedenen Formen stattfinden, es lassen sich zahlreiche Modelle der "abgestuften" bzw. "differenzierten" Integration konstruieren, unter anderem das Modell der "unterschiedlichen Geschwindigkeiten" und einer "variablen Geometrie". Im Kern weisen alle diese Varianten zwei entscheidende Vorzüge auf. Zum einen ermöglichen sie es, innerhalb des Gemeinschaftsrahmens neue Formen der souveränitätsschonenden Kooperation zu entwickeln, die toleranter sind gegenüber den Kompetenzen der Mitgliedstaaten - und das heißt nicht zuletzt: gegenüber nationalen, regionalen und lokalen Differenzen. Zum anderen erlauben sie es, flexiblere Formen der Kooperation zu praktizieren, die weniger anfällig sind gegen Blockaden einzelner Länder, die es also ermöglichen, auch unter den Bedingungen größerer Heterogenität zu kooperativen Politiken zu kommen. Aus der Umkehrung der bisherigen Integrationslogik folgt nicht, dass der Grundsatz einheitlicher Integration in Europa keine Rolle mehr spielen sollte. Vielmehr kommt es darauf an, gerrauer als bisher zwischen unterschiedlichen Problemkonstellationen und Kooperationslogiken zu unterscheiden. Einheitliche Integration wäre dann nicht mehr die Regel, sondern würde nur dann praktiziert, wenn für gemeinschaftliche Politiken auch tatsächlich die Kooperation aller erforderlich ist. Das ausschlaggebende Kriterium hierbei wäre, ob die Wirksamkeit gemeinschaftlicher Politiken davon abhängig ist, dass sich alle Mitgliedstaaten daran beteiligen, wie dies bei der Wettbewerbs- oder der Steuerpolitik der Fall ist. In solchen Politikfeldern ist selbst die Kooperation der kleinsten Mitgliedstaaten wie Luxemburg, Malta und Zypern für erfolgreiche Problemlösungen zwingend erforderlich. Dies ist aber bei weitem nicht immer der Fall. Es gibt zahlreiche Politikfelder, die einer ganz anderen Kooperationslogik folgen, nämlich der Logik der "kritischen Masse". In diesem Fall reicht es aus, wenn jene Länder kooperieren, deren Beteiligung ftir eine effektive Problemlösung unbedingt erforderlich ist. Die Umwelt- und die Forschungspolitik wären Beispiele hierfür. Solche Konstellationen können von Politikfeld zu Politikfeld, ja selbst innerhalb von Politikfeldern erheblich variieren. Dieses Konzept der differenzierten Integration unterscheidet sich also wesentlich vom Modell eines "Kemeuropas", in dem vorgesehen ist, dass sich ein fester Kreis von Mitgliedstaaten zu einer intensiveren Form der Kooperation in verschiedensten Politikbereichen zusammenfindet.

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Differenz, Toleranz und Innovation- oder: Weshalb ist der Kosmopolitismus nützlich für Europa? Das Konzept des Kosmopolitismus, wie ich es hier präsentiert habe, ist kein rein idealistisches Konzept. Das gilt auf der makropolitischen Ebene, wenn es um die Rolle der Mitgliedstaaten im Institutionensystem und in den Entscheidungsprozessen der EU geht, das gilt aber auch auf der gesellschaftlichen Mikroebene, wenn es um den alltagspraktischen Umgang mit Andersheit und Fremden geht. Zugespitzt formuliert: Toleranz ist nicht nur normativ wünschenswert, sie ist auch nützlich flir Europa. Differenz kann ein Potential sein, das gerade in Europa genutzt werden muss. Hierfür lassen sich auch gute empirische Gründe anführen. Besonders instruktiv in diesem Zusammenhang ist eine neuere Studie des amerikanischen Ökonomen Richard Florida. Florida hat in seinem Buch "The Rise of the Creative Class" (Florida 2004) eine neue Theorie wirtschaftlichen Wachstums entwickelt. Diese basiert auf der Prämisse, dass die Schlüsselelemente des globalen Wettbewerbs in den "kreativen Ökonomien" des 21. Jahrhunderts nicht mehr der Handel mit Gütern und Dienstleistungen oder Kapitelströme sind: "Im Mittelpunkt steht vielmehr der Wettbewerb um Menschen. [ ... ] [D]ie wirtschaftlich stärksten Länder der Zukunft [werden] nicht neu auftauchende Riesen wie Indien und China sein, die durch kostengünstige industrielle Fertigung oder die Produktion einfacher Dienstleistungen an die globale Spitze treten. Ganz vorne stehen werden vielmehr diejenigen Staaten, denen es am besten gelingt, die kreativen Fähigkeiten ihrer Menschen zu mobilisieren und kreative Talente von überall her auf der Welt anzuziehen" (Florida!Tinagli 2006).

Der wirtschaftliche Erfolg eines Landes oder einer Region basiert unter diesen Bedingungen auf drei Faktoren, den viel zitierten "3 T's": Technologie, Talenteund Toleranz. "Technologie" und "Talente" sind Faktoren, die in der Innovationsforschung und -politik gut bekannt sind. Damit sind in erster Linie die technologischen Kapazitäten eines Landes sowie seine Kompetenzen, diese Technologien auch zu nutzen, also sein Humankapital, gemeint. Die Originalität von Floridas Ansatz liegt in seiner Betonung eines dritten, "weichen" Faktors, der Toleranz: "Toleranz beeinflusst auf einschneidende Weise di e Fähigkeit von Nationen und Regionen, ihre eigenen kreativen Kapazitäten zu nutzen und im Wettbewerb um kreative Talente erfolgreich zu sein" (Florida/Tinagli 2006: 21 ).

Toleranz wird von Florida mit Hilfe von drei Indikatoren gemessen. Zwei davon sind aus Ronald lngleharts Studien zum Wertwandel in westlichen Industriege-

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sellschaften entnommen und beziehen sich auf die Bedeutung von säkularen (im Gegensatz zu traditionellen) Werten sowie auf den Stellenwert individueller Rechte und des Wunsches nach Selbstverwirklichung (vgl. Inglehart 1977, 1995). Ein dritter Indikator, Floridas "Einstellungsindex", misst Einstellungen gegenüber Minderheiten (z.B. Homosexuellen, Ausländern, etc.). Richard Floridas Daten zeigen, dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen Offenheit für Homosexuelle, Bohemians und Einwanderern und der Fähigkeit von Regionen, sich zu erneuern, Hochtechnologie-Industrien hervorzubringen und Wirtschaftswachstum auf der Basis hoher Wertschöpfung zu generieren (vgl. Florida/Tinagli 2006: 26ff.). Dabei gilt: "Je toleranter und offener eine Nation oder Region ist, desto mehr Talente kann sie mobilisieren oder anziehen. Dies ist heute eine entscheidende Dimension wirtschaftlicher Wettbewerbsfahigkeit- jedoch eine, die in den gängigen ökonomischen Modellen leider so gut wie überhaupt nicht auftaucht. [ .. . ]Toleranz, die Offenheit gegenüber Menschen und Ideen - also niedrige Eintrittsschwellen für neue Leute - ist hierbei ein ganz entscheidendes Element" (Florida/Tinagli 2006: 2lff.).

Richard Florida hat diese Thesen in einer neueren Studie gemeinsam mit Irene Tinagli (Florida/Tinagli 2004, 2006) an den 14 Mitgliedstaaten der alten EU überprüft und eine Reihe von interessanten empirischen Befunden zu Tage gefördert. Ich möchte hier abschließend nur zwei präsentieren: •



zum einen zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen den europäischen Ländern, insbesondere zwischen den skandinavischen und den mittel- und südeuropäischen Ländern, wobei die Befunde für Deutschland eher nachdenklich stimmen (insbesondere was die Positionierung auf dem Einstellungsindex, einem Teilindex des Toleranz-Index, anbetrifft). Deutschland zählt (neben Österreich und Portugal) zu den Ländern, in denen nicht nur die "kreative Klasse" vergleichsweise klein ist, sondern die Einstellungen gegenüber Minderheiten auch relativ intolerant sind (vgl. Florida/Tinagli 2006: 28); zum anderen zeigen sich deutliche Unterschiede in den Entwicklungen seit der Mitte der 1990er Jahre. Einer der Befunde lautet, dass die "traditionellen europäischen Mächte - Frankreich, Deutschland, Großbritannien - im Kreativitäts-Trend-Index schlecht ab[ schneiden]. Ihre historisch gewachsenen Vorteile scheinen im Kreativen Zeitalter zu schwinden" (Florida/Tinagli 2006: 34). Deutschland findet sich - auch in dieser Untersuchung - in der Kategorie der "Absteiger".

Insgesamt zeigen Richard Floridas Analysen meines Erachtens sehr überzeugend, dass gerade in der Differenz und in einem kosmopolitischen Umgang mit Andersheit ein unverzichtbares Potential für die wirtschaftliche und gesellschaftli-

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ehe Entwicklung Europas steckt. Es gibt also Gründe, dass das Bundesforschungsministerium nicht nur die Förderung von Technologien und Talenten (Bildung), sondern auch die Erforschung der Bedingungen von Toleranz und eines toleranten Umgangs mit Andersheit in Europa fördert. Gerade in Deutschland scheint hierzu großer Bedarf zu bestehen und das Konzept des Kosmopolitismus könnte einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis der Bedeutung von Toleranz, ihrer Voraussetzungen und ihrer Grenzen leisten.

Fazit Das Konzept des Kosmopolitismus liefert den Schlüssel zur Integration Europas in einer sich globalisierenden, sich "bewegenden" Welt. Der Kosmopolitismus kombiniert die Toleranz von Andersheit mit unverzichtbaren universellen Normen, er kombiniert Vielfalt und Einheit. In einem solchen Konzept wird das Fremde nicht als bedrohlich, desintegrierend, fragmentierend, sondern als bereichernd erfahren und bewertet; und gleichzeitig geht es schonend mit den Besonderheiten der Mitgliedstaaten und Regionen in der EU um. Zugespitzt formuliert: Ein kosmopolitisches Europa begreift Differenz nicht als - zu beseitigende Störgröße, sondern als - zu nutzendes - Potential. Im "kreativen Zeitalter" steckt gerade in der Differenz und in einem kosmopolitischen Umgang mit Andersheit ein unverzichtbares Potential für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Europas.

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Zum Paradigma kultureller Differenz MARTIN SöKEFELD

Einleitung In diesem Beitrag diskutiere ich einige Aspekte des Verhältnisses von Kultur und Migration in Deutschland. Ich will gleich die Bemerkung vorausschicken, dass ich die Rolle, die "Kultur" als Konzept in der deutschen Migrationsdebatte explizit oder implizit spielt, ftir höchst problematisch erachte. Vordergründig ist "Kultur" ein strittiges Konzept in der Debatte, wie unschwer an den beiden umstrittenen Begriffen der "Leitkultur" und der "Multikultur" zu erkennen ist. Diese beiden Begriffe bestimmen anscheinend einander entgegengesetzte Positionen. Tatsächlich liegt ihnen jedochtrotzdes scheinbaren Gegensatzes ein ähnliches Verständnis von Kultur zugrunde. Für beide Begriffe bezeichnet Kultur in erster Linie Differenz. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben der Kultur- und Sozialwissenschaften, über die Begriffe zu reflektieren, die wir benutzen, um die soziale Welt zu beschreiben und zu deuten. Die Beschreibung und Deutung ist nie nur passiv, sondern sie hat konkrete soziale Auswirkungen. Wenn die soziale Welt, wie Max Weber sagte, eine sinnhaftkonstituierte Welt ist, dann hat der Sinn, den wir dieser Welt geben- etwa dadurch, dass wir bestimmte Begriffe mit einem bestimmten Verständnis verwenden, um eine Situation zu erfassen- Folgen für die soziale Welt. Dies gilt auch für wissenschaftliche Begriffe, die keinesfalls außerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhangs stehen. Anthony Giddens prägte den Begriff der "doppelten Hermeneutik" für das wechselseitige Verhältnis von wissenschaftlicher Begrifflichkeit und dem Alltagsverständnis von Konzepten. Beide Diskursbereiche verhalten sich reziprok zueinander und wirken aufeinander ein. Giddens schreibt:

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"[... ] die Aneignung der von den Sozialwissenschaftlern erfundenen Fachbegriffe und Theorien [durch Laien][ .. .] kann diese zu konstituierenden Elementen des ,Gegenstandes' machen, fiir dessen Charakterisierung sie geprägt wurden, und aus diesem Grund ihren Verwendungskontext verändern" (1984: 95).

Besonders Michel Foucault hat die konstituierende Macht von Diskursen betont, die unter anderem darin besteht, festzulegen was denk- und sagbar ist und was nicht. Diese konstituierende Macht gilt natürlich auch für Begriffe als zentrale Elemente der Diskurse. Die Wirkung von Diskursen auf die Migrationspolitik in Deutschland ist ziemlich offensichtlich und wurde vielfach untersucht. Anband etwa der Abfolge der Begriffe, die der Migrationsdiskurs verwendet hat, um die Menschen, die da gekommen und geblieben sind zu bezeichnen, kann man etwa sehr gut die Umorientiemngen der Migrationspolitik nachvollziehen: Von den Gastarbeitern der sechzigerund siebziger Jahre, die als nur temporär Anwesende betrachtet wurden, mit der Folge, dass die Migrationspolitik damals einzig auf ihre Rückkehr ausgerichtet war, über die Ausländer der achtziger und ftühen neunziger Jahre, die zwar geblieben waren, aber keineswegs dazugehörten, und deren politische und gesellschaftliche Partizipation daher kaum gefördert wurde, bis zum aktuellen Begriff der Zuwanderer, der zwar einerseits eher widerwillig das Bleiben der "Wanderer" anerkennt und teils sogar die Notwendigkeit weiterer Zuwanderung akzeptiert, gleichzeitig aber stets die mangelnde "Integration" der Zugewanderten betont und somit die nachdrückliche Reserviertheit gegenüber Migranten, von der die bundesdeutsche Debatte geprägt ist, keineswegs aufgegeben hat. Ich denke, es ist kein Zufall, dass sich nach der Einsicht, dass allen gegenteiligen Bekundungen der Vergangenheit zum Trotz Deutschland eben doch eine Einwandemngsgesellschaft ist, keineswegs der naheliegende Begriff "Einwanderer" als Bezeichnung für Migranten in Deutschland durchgesetzt hat. Der Griff zum anderen Präfix lässt sich durchaus als Beharren auf einem gewissen Ressentiment interpretieren.

Migranten als Problem Die durchgängige Konstante der deutschen Migrationsdebatte ist, dass Migration, oder schlicht und einfach "die Migranten", als Problem betrachtet werden. Über die Konstante der Problematisiemng kann auch nicht hinwegtäuschen, dass die "Gastarbeiter" ursprünglich geholt wurden, um ein Problem zu lösen, nämlich den Arbeitskräftemangel im Wirtschaftswunderland, und dass "Zuwanderer" heute als Lösung eines anderen Problems diskutiert werden, des Problems der demographischen Schieflage der Gesellschaft. Die Problematisiemng der Einwanderung wird in der öffentlichen Thematisiemng derzeit häufig als neue Erkenntnis dargestellt, welche die bisherige

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Wahrnehmung einer Revision unterziehe. So könnte man, wenn man die Debatte der letzten zwei oder drei Jahre verfolgt, zu dem Schluss kommen, dass das "Problem" mit den Einwanderern erst jetzt erkannt worden ist, nachdem man in den Jahrzehnten eines unbeschwerten Multikulturalismus die Augen davor verschlossen habe. Erst heute seien die "Jntegrationsdefizite" und die "Parallelgesellschaft" der Einwanderer offenbar geworden. Diese Wahrnehmung ist jedoch eine Fiktion, denn weder hat es in Deutschland jemals eine generelle Politik des Multikulturalismus gegeben, noch ist die Thematisiernng von Immigranten als "Problem" etwas Neues. Schon 1973 widmete Der Spiegel den "Ausländern" eine erste alarmistische Titelgeschichte. Der Titel lautete damals: "Ghettos in Deutschland - eine Million Türken in Deutschland." Im Heft begann der Artikel mit der Überschrift: "Die Türken kommen - rette sich, wer kann". 1 Vom "Ghetto" zur "Parallelgesellschaft" -jenseits der Wortwahl hat sich die Wahrnehmung kaum geändert. Die Kategorisierung von Migranten als Problem für die Gesellschaft ist in Deutschland seit langem zu einer sozialen Tatsache im Sinne Durkheims geworden, die weitgehend unhinterfragt eine Prämisse der gesellschaftlichen Wahrnehmung darstellt (vgl. Griese 2002: 34). Ich will damit weder sagen, dass es keine Probleme in Zusammenhang mit Migration gibt, noch dass Politik und Diskurse keine Veränderung erfahren haben. Eine wichtige Veränderung war zweifelsohne die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die Anfang 2000 wirksam wurde, und die erstmals ein Element des ius soli in das deutsche Recht einbrachte. Aber die Geschichte dieser Reform zeigt wiederum die Konstante der Politik: In der Kampagne gegen die Reform, die die CDU zur Landtagswahl in Hessen 1999 startete, standen "die Ausländer" als Problem ftir Deutschland im Zentrum, es ging um Abgrenzung, und viele Bürger in Hessen nutzten die Chance, "gegen Ausländer zu unterschreiben." Was als eine Reform der Öffnung gedacht war, geriet nur halbherzig, mit noch teils unabsehbaren rechtlichen Folgen. Auch im Diskurs verschieben sich die Themen. Wurde in den siebziger und achtziger Jahren etwa die oft benachteiligte Situation von Immigrantinnen v.a. unter dem Stichwort patriarchalischer Familienstrukturen abgehandelt, so wird heute in erster Linie "der Islam" ftir problematische Geschlechterverhältnisse verantwortlich gemacht. Andere Probleme sind hinzugekommen, die früher weniger beachtet wurden, wie die schulische Situation und die geringen Bildungschancen junger "Migranten". Heute wird die Problemdebatte v.a. von der Angst vor Islamismus und Terrorismus dominiert. Als problematisch gelten somit heute in erster Linie muslimische Migranten. Die Problematisierung von Migration ist nicht nur eine Konstante allgemeinöffentlicher und politischer Diskurse, sie charakterisiert ebenso weite Teile des wissenschaftlichen Diskurses über Migration in Deutschland. Dies gilt für verschiedene Disziplinen, wie die Pädagogik, die Sozialpsychologie oder die SozioDer Spiegel, Nr. 31, 30. Juli 1973 .

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logie. Die Pädagogik stellte Einwanderer als defizitäre Wesen dar, denen mit spezifischen Maßnahmen geholfen werden musste. Hamburger et al. schrieben schon 1984, dass die Maßnahmen der Ausländerpädagogik dazu beitrugen, "dass Situation und Status der Ausländer zunehmend jener der Behinderten, Sonderschüler, Obdachlosen usw. ähneln, nämlich der der abgegrenzten und handhabbaren Randgruppe, die Gegenstand von Programmen wissenschaftlicher wie praktischer Art ist" (Hamburger et. al. 1984: 33). Diese Perspektive gilt nicht nur ftir die Erziehungswissenschaften. Auch die soziologische Ausländerforschung war stark "problemorientiert" und nahm Einwanderer stets als "soziales und politisches Problem wahr" (Treibe! 1988: 11 ). In ähnlicher Weise beschäftigte sich die Sozialpsychologie v.a. mit den Sozialisations- und Identitätsproblemen von Einwanderern, besonders von Jugendlichen (vgl. Gontovos 2000).

Kultur als Problem Warum sind Gastarbeiter, Ausländer oder Zuwanderer dem Diskurs zufolge so inhärent problematisch? Ein Erklärungsmodell begann sich Ende der 1970er Jahre durchzusetzen: Kultur. Einwanderer sind danach deshalb so problematisch, weil sie einer anderen Kultur angehören als "wir", weil "ihre" Kultur so anders ist als "unsere". In der Pädagogik setzte sich die "Differenzhypothese" als Erklärungsmodell gegen die "Defizithypothese" durch. Kultur wird dabei in ein Assimilations- oder Integrationsmodell eingeordnet: Danach verlangte die Integration in Deutschland einerseits von Einwanderern, dass sie ihre "Heimatkultur" wenigstens teilweise aufgeben und dafür Elemente der "deutschen Kultur" übernehmen. Andererseits werden dem Modell zufolge aber die Einwanderer durch ihre Herkunftskultur gerade daran gehindert, sich zu integrieren. Es kommt daher zum "Kulturkonflikt". Die These des Kulturkonfliktes dominierte weite Bereiche des wissenschaftlichen Diskurses über Einwanderung, besonders in den 1980er Jahren. Inzwischen, seit Samuel Huntingtons "Clash of Civilizations", ist sie sogar als These zur Erklärung globaler Konflikte hoffähig geworden und es scheint, dass sie, v.a. in der Politik, Anhänger gewinnt. Heute wird in der Migrationsdebatte nicht mehr so banal argumentiert wie in den siebziger Jahren, als etwa Sehrader et al. in einer Studie über die "Zweite Generation" schrieben: "Seine einmal übernommene kulturelle Rolle kann der einzelne nicht mehr abwerfen: Er ist Deutscher, Franzose, Türke oder Italiener" (Schrader et al. 1976: 58). Die Argumente sind heute subtiler. Dennoch wird auch die heutige Debatte von zwei Elementen eines höchst problematischen Kulturkonzeptes dominiert. Diese sind die Betonung von Grenzen und ein impliziter Determinismus. Die Betonung von Grenzen zeigt sich darin, dass auch der heutige Migrationsdiskurs fast durchgängig mit der Dichotomie von "wir" und "den anderen" arbeitet. "Wir", das sind "die Deutschen", und die Anderen, das

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sind "die Migranten". Die Ausgrenzung der Anderen dient dabei der Selbstvergewisserung, der Identität des Eigenen. Auch die Betonung von "Integration", dem dominanten Konzept des gegenwärtigen Diskurses, kann über die Zentralität der Dichotomie nicht hinwegtäuschen. Denn die Integrationsdebatte ist von der Betonung der Integrationsdefizite der Migranten beherrscht und zieht somit die Grenze, die sie ja eigentlich überwinden möchte, ständig neu. Man kann sogar zu dem Schluss kommen, dass gerade der Integrationsdiskurs mit seiner ständigen Thematisierung von Defiziten Integration, was immer gerrau darunter verstehen ist, dadurch verhindert, dass er die Kategorien, die vorgeblich aufgelöst werden sollen, permanent neu konstituiert. Die Dichotomie zwischen "Deutschen" und "Migranten" wird dadurch jedenfalls nicht verwischt, und es stellt sich die Frage, ob das überhaupt beabsichtigt ist. Darin zeigt sich der implizite Determinismus, der auf die kurze Formel gebracht werden kann: Einmal Migrant- immer Migrant. So ist heute bereits von der "vierten Generation" der Migranten die Rede, obwohl sich der Begriff, gerrau betrachtet, selbst ad absurdum führt. Sind doch diese "Migranten" der vierten Generation bereits drei Generationen von denen entfernt, die tatsächlich einmal gewandert sind. Warum gelten die Angehörigen der "vierte Generation" dann überhaupt noch als "Migranten"? Der Begriff hat nur dann Sinn, wenn man davon ausgeht, dass die Wanderung der ersten Generation quasi "vererbt" wird und ihre ursprüngliche Zugehörigkeit eine generationsübergreifende determinierende Kraft hat, dass sie Bedingungen setzt, denen auch die Kinder der Kindeskinder nicht entkommen können. Dahinter steckt die Vorstellung, dass die Grenze zwischen "uns" und "den Anderen" tatsächlich nie aufgelöst werden kann. "Migranten", egal welcher Generationszugehörigkeit, werden als fortwährend "Fremde" wahrgenommen und behandelt. Sie werden nie zu "Eigenen" . Dieses Verständnis ist nicht weit entfernt vom oben zitierten Satz von Sehrader et al. (1976): Die kulturelle Rolle kann der einzelne auch über die Generationen hinweg nicht ablegen, er bleibt Deutscher oder etwa Türke. Hinter dieser fortwährenden Kategorisierung der Einwanderer und ihrer Nachkommen als "Migranten" steckt ein problematisches Konzept von Kultur, welches das Selbstverständnis der ,,Deutschen" ebenso bestimmt wie ihr Verhältnis zu den "Anderen". Es ist das alte, auf Herder zurückgehende Konzept von Kultur als dem, was ein "Volk" oder eine "Nation" definiert und sie von anderen unterscheidet. Herder pluralisierte das Kulturkonzept Während vor Herder Kultur "oben" und "unten" in einer Gesellschaft voneinander unterschied- die oben, der Adel, der Klerus, hatten Kultur, die unten, etwa die Bauern, nicht - setzte Herder die Idee von verschiedenen Kulturen in die Welt. Danach unterscheiden sich etwa Deutsche und Franzosen nicht mehr v.a. politisch- dadurch, dass sie in unterschiedliche Machtbereiche gehörten - sondern kulturell voneinander. Kultur wurde zum "Erbe" eines Volkes, das sein Schicksal bestimmt und eine Art "natürlicher" Differenz zu anderen Völkern begründet.

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Die von Herder geprägte Idee einer "Kultumation" prägt bis heute das deutsche Selbstverständnis. Die Vorstellung von Kulturen im Plural als abgegrenzt und voneinander unterschieden ist den politisch anscheinend so verschiedenen Konzepten von Multikulturalismus und Leitkultur gemeinsam. Beide gehen von der Zentralität kultureller Unterschiede und von der Existenz differenter "Kulturen" als abgegrenzten Einheiten aus; sie unterscheiden sich in erster Linie in der Wertung dieser Differenz. Meine eigene Disziplin, die Ethnologie, hat nicht unwesentlich zur Popularisiemng dieser Vorstellung von Kultur beigetragen. In der Ethnologie war Franz Boas der Begründer eines pluralen Kulturkonzeptes. Seine Absicht war durchaus löblich, wollte er doch Kultur als Basis von Differenz an die Stelle der ethnozentrischen und hierarchisierenden Ideen von "Rassen" und evolutionären Unterschieden setzen. Derrida hat darauf hingewiesen, dass die Auslöschung eines Begriffs oder einer Bedeutung und ihre Ersetzung durch einen anderen nie vollständig gelingt, sondern dass stets Spuren von dem, dessen man sich entledigen wollte, zurückbleiben. Das vorgeblich ausgelöschte Alte belegt das Neue mit seinem Bann. Dies gilt auch für das Verhältnis von "Rasse" und Kultur? Das Kulturkonzept hat zwei problematische Aspekte des "Rasse"begriffs übernommen. Der erste Aspekt ist der Hang zum Determinismus. So wie die "Rassen"zugehörigkeit vermeintlich das Individuum auf eine bestimmte Weise determiniert, wird auch Kultur als etwas gedacht, dass das Individuum in gewissem Maße determiniert, etwa durch in der Sozialisation vermittelte Normen und Werte. Der zweite problematische Aspekt ist die Idee des Unterschieds selbst. Genauso wie es als möglich galt, " Rassen" klar voneinander zu unterscheiden, wurden auch scharfe Grenzen zwischen Kulturen gezogen und darüber hinaus als kongruent mit geographischen, politischen oder sprachlichen Unterschieden postuliert. Das Kulturkonzept homogenisiert nach innen und heterogenisiert nach außen und überzeichnet damit Unterschiede. Wie die evolutionäre Stufenleiter oder das "Rassen"paradigma beinhaltet auch das Paradigma kultureller Differenz Hierarchie, Bewertung (meistens die Abwertung der "Anderen") und Dominanz. Die durch Kultur begründete Differenz zwischen Menschen ist nicht neutral oder unpolitisch. Spätestens seit den 1980er Jahren wurde sich die Ethnologie jedoch mehr und mehr bewusst, dass diese Vorstellung weniger einem empirischen Befund entsprach als einer bestimmten Form der Repräsentation. 3 Ethnologen erkannten, dass "Kultur" und "Kulturen" nicht nur der Gegenstand, sondern auch ein Artefakt der Ethnologie, bzw. anderer Diskurse, die mit diesen Konzepten arbeiteten, waren. Für die Produktion des "Anderen" durch die ethnologische Perspektive 2

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Stolcke (1995) hat überzeugend dargestellt, wie das Kulturkonzept auch im Diskurs der neuen Rechten weitgehend das "Rasse"konzept ersetzt und dieselbe ausgrenzende Rolle spielt, wie zuvor die "Rasse". Für einen Überblick dieser Debatte und eine kritische Reflexion siehe Fuchs/Berg 1993.

ZUM PARADIGMA KULTURELLER D IFFERENZ

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wurde der Begriff des Othering geprägt. Dahinter steht die Erkenntnis, dass "die Anderen", die die Ethnologie untersucht, nicht einfach "an sich" anders sind, sondern durch den ethnologischen Blick und durch die wissenschaftliche Repräsentation zu anderen gemacht, gewissermaßen "verandet1", verfremdet werden. Die Konsequenz dieser Erkenntnis war eine radikale Reflexion und Kritik ethnologischer Konzepte und Herangehensweisen, sowie, wenigstens teilweise, eine Neubestimmung des Gegenstandes der Ethnologie. In der Forschung geht es seither nicht mehr um die Frage, was "Kultur x" auszeichnet und von "Kultur y" unterscheidet. Stattdessen wird gefragt, wie gesellschaftliche Auseinandersetzungen Kulturen als Repräsentation hervorbringen, etwa dadurch, dass bestimmte Selbstund Fremdbilder entworfen werden, welche Akteure daran beteiligt sind, und wie diese Repräsentationen von Kulturen auf soziales Handeln zurückwirken und sich in gesellschaftliche Strukturen niederschlagen. 4 Der zweite Schritt, die Untersuchung der gesellschaftlichen Wirkung und Folgen kultureller Repräsentationen, ist besonders wichtig, wird doch besonders konstruktivistischen und so genannten postmodernen Perspektiven häufig vorgeworfen, sie würden "Kulturen", und alle möglichen Formen von Gruppen als bloße Fiktionen, als diskursive Konstruktionen ohne Wirklichkeitsgehalt betrachten. Diskursive Konstruktionen können jedoch dadurch, dass sie geglaubt und für wirklich gehalten werden, für die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse entscheidende Konsequenzen haben und somit sehr real werden. Obwohl also die konstruktivistische Perspektive die Realität diskursiver Konstruktionen - im Sinne ihrer gesellschaftlichen und politischen Wirkmächtigkeit- nicht bestreitet, liefert sie die Möglichkeit zu ihrer Dekonstruktion, die genau darin besteht, aufzuzeigen, wie Kulturen, Differenzen, usw. gesellschaftlich produziert werden und sich in sozialen Strukturen niederschlagen. Sie stellt damit den Glauben an die Normalität oder Natürlichkeit kultureller Differenzen in Frage und entfaltet damit im besten Fall ihre eigene, aufklärende gesellschaftliche Wirkung.

Hybridität statt Differenz Ein Konzept, dass in diesem Zusammenhang in der akademischen Debatte eine wichtige Rolle spielt, ist das der Hybridität. In gewisser Hinsicht ist Hybridität zu einem Gegenkonzept gegen die konventionelle Vorstellung abgegrenzter Kulturen und gegen die Objektivierung kultureller Differenz geworden. Das Konzept lenkt die Aufinerksamkeit auf Übergänge und Passagen, auf Zwischenräume, in denen sich das scheinbar Getrennte "vermischt". Statt kultureller Differenzen und Grenzen steht "Kontinuität" im Zentrum des Begriffs. Hybridität ist ein sehr komplexes, viel diskutiertes und viel kritisiertes Konzept, das ich in diesem Rahmen nicht annähernd erschöpfend ausleuchten kann. Dem Begriffwurde u.a. 4

Zur Diskussion über den Kulturbegriff siehe Sökefeld 2001.

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vorgeworfen, dass er letztlich das Paradigma kultureller Differenz bestätige, da Hybridität, etwa im Sinne der Genetik, die Vermischung von zwei zuvor getrennten Entitäten bezeichne.5 Darum geht es jedoch gerade nicht, sondern eher um eine Umkehrung der Perspektive. Hybridität bezeichnet dann die Vorstellung, dass Übergänge, Passagen und Zwischenräume genauso "normal" sind wie Prozesse der Vermischung, dass es keine ursprüngliche "Reinheit" von und Trennung zwischen Kulturen gibt, und dass Kulturen - wenn man denn das Konzept im Plural überhaupt beibehalten möchte - nicht als scharf voneinander abgegrenzt gedacht werden können, sondern als Gebilde, die an den Rändern "ausfransen" und ohne scharfe Grenze in einander übergehen. Eine solche Vorstellung von Kultur erscheint für den common sense heute ungewöhnlich und schwer nachvollziehbar, hat doch die dominante politische Institution der Moderne, der Nationalstaat, seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert erfolgreich alles daran gesetzt, die gegenteilige Idee durchzusetzen und zur Normalität zu machen. Der Nationalstaat ist auf scharfe, eindeutige Grenzen gebaut, auf die Eindeutigkeit der Grenze seines Territoriums genauso wie auf die Eindeutigkeit der Unterscheidung, wer ihm angehört und wer nicht. Hybridität und Ambivalenz der Zugehörigkeit hat der Nationalstaat aktiv bekämpft und als unzuverlässig, d.h. nicht eindeutig zugehörig geltende Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt. Damit einher geht das nationalstaatliche Bemühen der Homogenisierung von Kultur, die keineswegs die Voraussetzung des Nationalstaats ist, sondern sein, in vielen Bereichen nur unvollkommen erreichtes, Produkt. Für Frankreich hat etwa Eugene Weber (1976) detailliert nachgezeichnet, wie der Nationalstaat aus "Bauern" "Franzosen" gemacht hat - ein Prozess, der trotz massiver institutioneller Anstrengungen und Disziplinierungsmaßnahmen hundert Jahre dauerte. Die Unvollständigkeit kultureller Homogenisierung im Nationalstaat ließ sich in Deutschland plastisch an der Debatte über die "deutsche Leitkultur" erkennen, die nicht zu einem Ergebnis kam, worin diese gemeinsame, "deutsche" Kultur denn eigentlich bestehe. Die Konzepte der modernen Nation und der Pluralität der Kulturen haben sich parallel und in wechselseitiger Abhängigkeit entwickelt. Ein Konzept von Kultur, das Hybridität ins Zentrum stellt, kann nicht durch das nationalstaatliche Modell visualisiert werden, das etwa Landkarten mit verschiedenfarbigen, voneinander klar abgegrenzten Flächen zeichnet. Stattdessen müsste man sich vielleicht ein Bild im Stil des Impressionismus vorstellen, in dem zwar bestimmte Farbflecken und Konturen erkennbar sind, die aber gleichzeitig an den Rändern verlaufen, teils ineinander übergehen, oder Zwischenräume frei lassen. Anstelle von Differenz würde das Konzept Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten betonen und zwar weniger im Sinne gemeinsamer Eigenschaften, als im Sinne von sozialen Prozessen und einer geteilten Fähigkeit zur Interaktion und Kommunikation, 5

Vgl. etwa die Kritik von