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German Pages 364 Year 2014
Joachim Schwohl, Tanja Sturm (Hg.) Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung
Theorie Bilden Band 20
Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe Theorie Bilden wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Der Zusammenhang von Theorie und Bildung ist in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, da Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben ist. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. Die Reihe Theorie Bilden ist ein Forum für theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Die Reihe wird herausgegeben von Hannelore Faulstich-Wieland, Hans-Christoph Koller, Karl-Josef Pazzini und Michael Wimmer, im Auftrag des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.
Joachim Schwohl, Tanja Sturm (Hg.)
Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung Widersprüche und Perspektiven eines erziehungswissenschaftlichen Diskurses
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Inhalt
Vorwort | 9 Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung. Eine Einführung Joachim Schwohl und Tanja Sturm | 13
1 I NKLUSION ALS ERZIEHUNGS - UND BILDUNGSWISSENSCHAFTLICHES T HEMA »Inclusive Education« – Desiderata in der deutschen Fachdiskussion Birgit Herz | 29
Eine Schule für alle – eine Gesellschaft für alle? Helmut Richter | 45
Inklusion – Hinweise zur Verortung des Begriffs im Rahmen der internationalen politischen und sozialwissenschaftlichen Debatte um Menschenrechte, Bildungschancen und soziale Ungleichheit Iris Beck und Sven Degenhardt | 55
2 I NKLUSION UND SOZIALRÄUMLICHE D IFFERENZEN Heterogenität und Homogenität an Hamburger Schulen – Besichtigung der Normalität Norbert Maritzen und Tanja Sturm | 85
Eine Schule für alle in der deutschen Großstadt mit der schärfsten Polarisierung von Reichtum und Armut – Fakten, Probleme und Herausforderungen Wulf Rauer | 103
Die Schule für alle – überall? Rückfragen zum Hamburger Schulversuch »Integrative Grundschule im sozialen Brennpunkt« Joachim Schroeder | 119
3 I NKLUSION UND H ETEROGENITÄT Differenzskonstruktionen im Kontext unterrichtlicher Praktiken Tanja Sturm | 141
Eine Schule für alle – aber getrennte Bereiche für Mädchen und Jungen? Hannelore Faulstich-Wieland und Barbara Scholand | 159
Kooperative Bildung im Schulalltag – Zur Notwendigkeit von heterogenen Unterrichtsformen mit Schülerinnen und Schülern mit einer schwersten Behinderung Wolfgang Praschak | 179
Religionsunterricht für alle in einer Schule für alle. Inklusion statt Separation Wolfram Weiße | 193
Auf dem Weg zu einer neuen Sprachbildung für alle – Das Modellprogramm F ÖR M IG Ingrid Gogolin | 211
Frühförderung im Kontext der sprachlichen Entwicklung des Kindes Alfons Welling | 229
4 I NKLUSION UND S CHULENT WICKLUNG Schuleffektivität, Pluralität und soziale Gerechtigkeit. Spannungen und Widersprüche gegenwärtiger Qualitätsstrategien im Bildungssystem Mechtild Gomolla | 243
Inklusive Schulen entwickeln. Wie helfen Daten aus Lernstandserhebungen? Eva Arnold | 277
Inklusive Schule braucht Unterstützung(ssysteme) Waldtraut Rath und Christine Pluhar | 293
5 I NKLUSION UND DER B LICK AUF E NT WICKLUNGEN Ansätze einer (behinderten-)pädagogischen Diagnostik in einer inklusiven Schule Gabriele Ricken | 315
Entwicklungsbewertung und Inklusion André F. Zimpel | 333
Die Autorinnen und Autoren | 355
Vorwort
» Die ›Inklusive‹ Schule könnte eine Bedingung der Möglichkeit sein, die bei uns vorherrschenden Bilder von Schule, Unterricht und Kindern international anschlussfähig so zu verändern, dass wir bereit und in der Lage sind, allen Kindern im gesamten Heterogenitätsspektrum differenzierende Bedingungen für nächste, erfolgreiche Lernschritte auf dem Weg in eine erfolgreiche Bildungskarriere zu schaffen: Es ist der wertschätzende und unterstützende Umgang mit den individuellen Aneignungsaktivitäten auf jedem Entwicklungsniveau und unter allen Bedingungen ohne Deklassierung, Selektionsbedrohung und Chancenbeschneidung.« (Schuck 2007: 9)
Karl Dieter Schuck hat sich seit Jahren für eine inklusive Schule starkgemacht. Schon zu Zeiten, in denen der Begriff »Inklusion« in Deutschland noch nicht in der bildungspolitischen Diskussion war, sondern von der Integration von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in die allgemeine Schule gesprochen wurde, war es ihm ein Anliegen, schulische Angebote so zu gestalten, dass sie alle Kinder und Jugendlichen in ihrer Entwicklung unterstützen (vgl. u.a. Schuck 1990; 2000). Er hat sich über lange Jahre hinweg dafür eingesetzt, jene Kinder nicht aus dem Blick zu verlieren, die aufgrund sozialer Benachteiligung den Risiken schulischen Scheiterns besonders stark ausgesetzt sind. Dieses Engagement spiegelt sich in seinem Einsatz für die Integrativen Regel-
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klassen in Hamburg wider, das heißt für solche Klassen, in denen Kinder mit zusätzlicher Expertise unterstützt werden, ohne dass sie als förderbedürftig etikettiert werden müssen (vgl. Hinz et al. 1998). Auch während seines Wirkens als Dekan der neugegründeten Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg hat Karl Dieter Schuck auf zahlreichen Veranstaltungen und auch in Publikationen immer wieder offensiv das Anliegen einer inklusiven Schule vertreten. Er engagierte sich für einen wertschätzenden und unterstützenden Umgang innerhalb von Schulen – eine Haltung, die auch seine Amtsführung als Dekan auszeichnete. Zum Ende seiner Amtszeit als Dekan verfolgen die Herausgebenden dieses Buchs zwei Ziele: Erstens möchten wir, die durch das Studium und die Zusammenarbeit mit Karl Dieter Schuck stark beeinflusst wurden, die Diskussion um eine inklusive Schule weiter vorantreiben. Zweitens wollen wir uns bei ihm dafür bedanken, dass er kontinuierlich und mit Nachdruck für dieses Anliegen eingetreten ist. Seiner wissenschaftlichen Arbeit ebenso wie seinem Wirken als Dekan ist zu verdanken, dass in der vorliegenden Publikation Wissenschaftler/-innen zu der Frage nach aktuellen Herausforderungen der Gestaltung einer inklusiven Schule gemeinsam veröffentlichen. Ohne diesen Anlass wären sie vermutlich nicht zusammen in einem Buch vertreten. Alle Autoren/Autorinnen haben uns jedoch für unser Anliegen sofort ihre Unterstützung zugesagt. Damit können wir eine Publikation vorlegen, in der die Herausforderungen, die mit schulischer Inklusion einhergehen, aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und benannt werden. Die Autorinnen und Autoren sind mehrheitlich im Fach Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg tätig und vertreten ein breites Spektrum unterschiedlicher Arbeitsfelder. Indem sie das gemeinsame Thema Inklusion und Schule jeweils aus der Perspektive ihres Arbeitsgebiets angehen, zeigt die vorliegende Veröffentlichung, welche vielfältigen Herausforderungen sich auf dem Weg zu einer inklusiven Schule stellen. Unser Dank gilt allen, die an der Mitwirkung und Mitgestaltung dieses Werks beteiligt gewesen sind. Ein besonderer Dank geht an die Kurt und Käthe Klinger-Stiftung, durch deren finanzielle Unterstützung das Erscheinen des Buches erst möglich wurde.
Joachim Schwohl und Tanja Sturm
Hamburg im April 2010
V ORWORT
L ITER ATUR Hinz, Andreas/Katzenbach, Dieter/Rauer, Wulf/Schuck, Karl Dieter/Wocken, Hans/Wudtke, Hubert (1998): Die Integrative Grundschule im sozialen Brennpunkt. Ergebnisse eines Hamburger Schulversuchs, Hamburg: Hamburger Buchwerkstatt. Schuck, Karl Dieter (1990): Beiträge zur Integrativen Pädagogik. Weiterentwicklungen des Konzepts gemeinsamen Lebens und Lernens Behinderter und Nichtbehinderter, Hamburg: Hamburger Buchwerkstatt. Schuck, Karl Dieter (2000): »Ergebnisse der Wissenschaftlichen Begleitung des Schulversuchs Integrative Grundschule«, in: Schwohl, Joachim (Hg.), Integration am Scheideweg: Anmerkungen zur Innovation integrativen Unterrichts. Hamburg: Hamburger Buchwerkstatt, S. 4169. Schuck, Karl Dieter (2007): »Zwei-Säulen-Modell: Schritt in die falsche Richtung?«, in: Hamburg macht Schule 4, S. 8-9.
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Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung Eine Einführung Joachim Schwohl und Tanja Sturm
Inklusion, so die leitende Grundannahme dieses Buches, fordert die Institution Schule heraus. Die Herausforderungen, so unsere Annahme weiter, sind grundsätzlicher Art, d.h., sie betreffen die gesamte Institution; gehen also über oberflächliche Veränderungen hinaus und laden dazu ein, die Schule in ihren Grundformen zu hinterfragen. Historisch gewachsene Strukturen und kulturell geprägte Vorstellung des deutschen Schulsystems werden durch die politisch formulierte und erziehungs- und bildungswissenschaftlich unterstützte Aufgabe, eine inklusive Schule zu gestalten, infrage gestellt. Davon sind alle Ebenen der Schule betroffen: die der schulischen Struktur, die der Einzelschule und die des Unterrichts. Für alle drei Ebenen sind unterschiedliche Zuständigkeiten und Kooperationen notwendig, um inklusive Veränderungen und Entwicklungen zu initiieren und zu etablieren, auf dem Weg der Annäherung an das Ziel, zu dem sich Deutschland und die Europäische Union durch die Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verpflichtet haben: eine Schule für alle zu schaffen und verantwortungsvoll zu gestalten (vgl. UN 2006; 2008). In der Konvention, die den rechtlichen Aufhänger des Ziels einer inklusiven Schule darstellt, heißt es im § 24, der die Fragen von Bildung und Schule bearbeitet: »Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und le-
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benslanges Lernen […].« (§ 24) Die Behindertenrechtskonvention gilt, auch wenn ihr Name anderes vermuten lässt, für alle Menschen, d.h., sie stellt nicht partikulare Interessen heraus. Vielmehr beschreibt sie, als Teil der Allgemeinen Menschenrechte, diese aus der Perspektive und dem Erfahrungshintergrund von Menschen mit Behinderungen. Als solche stellt sie eine Gelegenheit dar und bietet die Möglichkeit zur Differenzierung und Ergänzung der universellen Menschenrechte (vgl. Bielefeldt 2010: 66). Bremen hat als erstes Bundesland die Entwicklung einer inklusiven Schule in sein Schulgesetz aufgenommen. Dort heißt es in der Fassung des Schulgesetzes vom Juni 2009 im § 3: »Bremische Schulen haben den Auftrag, sich zu inklusiven Schulen zu entwickeln. Sie sollen im Rahmen ihres Erziehungs- und Bildungsauftrages die Inklusion aller Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Staatsbürgerschaft, Religion oder einer Beeinträchtigung in das gesellschaftliche Leben und die schulische Gemeinschaft befördern und Ausgrenzungen einzelner vermeiden.« (Bremen, 2009)
In den Vorstellungen zum Aufbau einer inklusiven Schule im Bremer Schulgesetz findet sich ein Diskurs wieder, der in den Erziehungs- und Bildungswissenschaften und in der Schulpädagogik – wenn bisher auch noch weniger aufeinander bezogen – geführt wird. Überlegungen zur Gestaltung einer inklusiven Pädagogik im Kontext einer inklusiven Schule sind bisher überwiegend in der Behinderten- und Integrationspädagogik geführt worden (vgl. Hinz 2009, Wocken 2009). Die seit den 1980er Jahren geführte Diskussion integrativer Beschulungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf scheint auf den ersten Blick der Vorläufer zur Entwicklung einer Schule für alle. Ein zentraler Unterschied zwischen dem integrativen und dem inklusiven Diskurs besteht jedoch darin, dass der um eine Schule für alle – so wird es auch im Bremer Schulgesetz formuliert – nicht ausschließlich eine im Schulsystem verankerte Trenn- und Exklusionslinie in den Blick nimmt. Mit einer derart einseitigen Betrachtung wäre das Risiko verbunden, »partikulare und gruppenkategorial ausgerichtete Anteile« (Hinz 2009: 173) in den Blick zu nehmen und andere, im Schulsystem sowie in der Gesellschaft (re-)produzierte Ungleichheiten, die entlang anderer sozialer Kategorien legitimiert werden, auszublenden.
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Gemeinsam ist in den unterschiedlichen erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Diskursen, die sich mit Ausgrenzungsprozessen im Kontext von Schule und Unterricht auseinandersetzen, die Annahme, dass eine dichotome Zuschreibung von Differenzkategorien als zu überwinden angesehen wird (vgl. z.B. Faulstich-Wieland/Weber/Willems 2004, Gomolla 2005, Sturm 2010). Ziel ist die Überwindung solcher binären Zuschreibungsformen, bezogen auf sozial konstruierte Kategorien, die üblicherweise mit einer hierarchischen Relation der Ausformungen einhergehen und so mehr oder weniger offensichtlich und legitimiert die Benachteiligung und/oder Diskriminierung einer der Gruppen zur Folge hat. Die Gemeinsamkeit der größtenteils entlang der jeweils betrachteten sozialen Kategorie geführten Diskurse liegt darin, die schulischen und unterrichtlichen Herstellungsformen der Kategorie in den Blick zu nehmen, sie zu erkennen und Perspektiven ihrer Überwindung aufzuwerfen. Mit anderen Worten, es werden behindernde und ermöglichende Formen und Prozesse der Teilhabe an unterrichtlichen und schulischen Bildungs- und Erziehungsprozessen betrachtet. Zudem werden darin die erziehungswissenschaftliche Disziplin und ihre Teildisziplinen herausgefordert, Gemeinsamkeiten ihrer Erkenntnisse herauszuarbeiten und Differenzen zu reflektieren, indem die unterschiedlichen Dimensionen überwunden werden, ohne ein Plädoyer für die Abschaffung spezifischen Wissens halten zu wollen. Ein weiterer durch die Aufgabe der Inklusion herausgeforderter erziehungswissenschaftlicher Diskursstrang ist die Schulentwicklung. Als erziehungs- und bildungswissenschaftliche Teildisziplin setzt sie sich mit Fragen der Unterstützung und Gestaltung schulischer und unterrichtlicher Veränderungsprozesse auseinander. Ein zentrales Thema stellt ein veränderter Umgang mit der Heterogenität der Schülerschaft dar, der die Schulentwicklung herausfordert (vgl. Altrichter/Hauser 2007, Baumert 2002). Die Überlegungen schulischer Entwicklung sind durch die Gestaltungsaufgabe einer inklusiven Schule herausgefordert, einen konkreten Inhalt im Kontext ihrer Veränderungsstrategien mitzudenken. Die politisch gestellte Aufgabe ist die Gestaltung einer inklusiven Schule, in der es im Kern um eine Konzeption geht, die niemanden ausschließt, ja, einen Ausschluss gar nicht in Betracht ziehen kann, da sie sich an der Maxime orientiert, eine Schule zu gestalten, die inklusiv ist, und nicht nach Möglichkeiten sucht, Kinder und Jugendliche, in diese Schule zu inkludieren. Mit Karl Dieter Schuck (2001) kann und soll in diesem Band ge-
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fragt werden, welche Vorstellungen von Bildung, Erziehung, Lernen und Entwicklung einer derartigen Schule für alle zugrunde liegen sollen. Die Schule in Deutschland, der im internationalen Vergleich eine hohe Selektivität bescheinigt wird, ist von der Illusion durchzogen, dass homogene Lerngruppen nach allen Regeln der fachlichen Kunst herzustellen sind. Dies zeigt sich auf der Ebene der Schulstruktur: eine mehrgliedrige Struktur – wenn auch durch strukturelle Veränderungen in einzelnen Bundesländern politisch infrage gestellt – stellt eines der Charakteristika der deutschen Schule dar. Veränderungen auf dieser Ebene sind wesentlich politischer Art und können, wie das Beispiel Hamburgs zeigt, zu einem Politikum genutzt werden. Es sind also Politik und Gesellschaft aufgefordert, die notwendigen Rahmenbedingungen für die Gestaltung einer inklusiven Schule herzustellen. Hierzu gehört es, all jene Aspekte zu reflektieren und zu prüfen, die einer solchen Idee im Wege stehen. Hierzu gehören auch Formen der Leistungsmessung und Standardisierung, die Rankings ausschließlich im kognitiven Leistungszuwachs bemessen (vgl. Wedell 2005: 5). Auch die Einzelschule, die im Zentrum aktueller Schulentwicklungsüberlegungen steht, so auch jener, die sich explizit mit der Gestaltung einer inklusiven Schule auseinandersetzen (vgl. z.B. Ainscow 2007, Boban/Hinz 2004), ist herausgefordert, historisch gewachsene Gewohnheiten und Ordnungen zu hinterfragen und neue Modelle zu entwerfen. Hierzu gehört die Idee homogener Jahrgangsklassen ebenso wie die leistungshomogener Klassen, wie sie beispielsweise in Kooperativen Gesamtschulen anzutreffen sind. Der schulkulturelle Umgang mit sozialer Heterogenität und Differenzen insgesamt ist zu hinterfragen und auf ermöglichende und behindernde Bedingungen zu prüfen. Der Unterricht, häufig als schulisches Kerngeschäft bezeichnet, also die Lehr-Lern-Interaktionen zwischen Lehrenden und Schülern/Schülerinnen, ist häufig auf die Idee der homogenen Lerngruppe zugeschnitten, indem er als »7-G-Unterricht« gestaltet wird: »Die gleichen Schüler lösen beim gleichen Lehrer im gleichen Raum zur gleichen Zeit im gleichen Tempo die gleichen Aufgaben mit dem gleichen Ergebnis« (Scholz 2008: 2). Auch sind die Konzepte und Vorstellungen, die Lehrkräfte von Heterogenität und Homogenität sowie dem unterrichtlichen Umgang mit diesen haben, zu hinterfragen. Petriswskyj weist darauf hin, dass Vorstellungen von Schulreife und/oder zusätzliche finanzielle und personelle Ressour-
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cen für bestimmte Behinderungen einer inklusiven Unterrichtsgestaltung im Wege stehen (vgl. Petriwskyj 2010). Darauf, dass Lerngruppen, anders als im deutschen Schulsystem angenommen, nur vermeintlich homogen sind bzw. maximal hinsichtlich eines Kriteriums, verwiesen Klafki und Stöcker bereits 1976. Doch auch sie waren nicht die ersten, die auf diesen Zusammenhang hinwiesen: »Die Verschiedenheit der Köpfe ist das große Hindernis aller Schulbildung.« (Johann Friedrich Herbart, in: Rutt 1957: 176) Sie zu würdigen und als Ausgangspunkt der Gestaltung einer Schule für alle zu erkennen und anzuerkennen, ist eine Herausforderung für die gesellschaftliche Institution Schule. Dieses Buch möchte einen Beitrag dazu leisten, die Herausforderungen, die mit der Gestaltung einer inklusiven Schule verbunden sind, aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Perspektiven zu betrachten. So wird die Schule in ihrer bisherigen Konzeption infrage gestellt. Gleichzeitig ist die erziehungs- und bildungswissenschaftliche Diskussion herausgefordert – auch hierzu möchte das Buch einen Anstoß geben – den Anspruch einer Pädagogik für alle zu formulieren. So soll jener fachwissenschaftliche Diskurs differenziert und gestärkt werden, der sich der Thematik gegenüber verantwortlich fühlt und gesellschaftlich verpflichtet ist. Die Buchbeiträge sind fünf unterschiedlichen Abschnitten zugeordnet, in denen jeweils ein Themenbereich im Zentrum steht. Gleichwohl wird deutlich, dass sich zahlreiche ineinandergreifende Aspekte und Anknüpfungspunkte in den jeweils anderen Kapiteln finden lassen. Im ersten Kapitel »Inklusion als erziehungs- bzw. bildungswissenschaftliches Thema« wird über die Schulpädagogik hinausgeblickt. Dabei werden zentrale Diskurslinien aufgezeigt. Birgit Herz analysiert aus bildungssoziologischer Perspektive den schulischen Inklusionsdiskurs. In diesem Kontext differenziert sie zwischen Inklusionsrhetorik und Inklusionsrealität und verweist auf entsprechende Konsequenzen der Exklusion für Schüler/-innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der kognitiven oder der emotionalen und sozialen Entwicklung. Helmut Richter vertritt in seinem Beitrag die These, dass eine Schule für alle nicht ohne eine Gesellschaft für alle zu denken ist. Er legt Widerstände dar, die sich aus der Konstitution einer Konkurrenzgesellschaft ergeben. Um eine Partizipation aller zu erreichen, bedarf es einer umfassenderen Bildungsoffensive, die über die Betrachtung der Schule hinausgeht. Er schlägt vor, Formen der Ganztagsbildung und der außerschulische Bildung mit einzuschließen. Iris Beck und Sven
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Degenhardt erörtern in ihrem Artikel den Inklusionsbegriff vor dem Hintergrund zweier Diskussionslinien. Zum einen wird die Verankerung des Begriffs in internationalen Vereinbarungen und Erklärungen beleuchtet. Zum anderen wird er als Leitbegriff der sozialen Ungleichheitsforschung herangezogen. Der Beitrag gibt Hinweise auf die Verbindung von Inklusion mit politisch-normativen Fragen der Menschenrechte und weltweiten Verteilungskonflikten sowie auf die diesbezüglichen sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Gleichzeitig fordert er zu einer Diskussion und Transformation interkultureller und globaler Hintergründe auf, die die deutsche Debatte um Inklusion in Bildung und Erziehung in ihrer Ausrichtung und in der Frage der Umsetzung fruchtbar erweitern. Im zweiten Abschnitt des Buches – »Inklusion und sozialräumliche Differenzen« – wird gefragt, wie sich diese Differenzen auf die Gestaltung einer inklusiven Schule auswirken. Im ersten Beitrag dieses Abschnitts analysieren Norbert Maritzen und Tanja Sturm Ergebnisse des Hamburger Bildungsmonitorings. Sie schlussfolgern, dass auf den Ebenen von Schulsystem, Einzelschule und Unterricht Formen sozialer Heterogenität bestehen und gleichzeitig Tendenzen von Homogenisierungen zu erkennen sind. Eine Gruppe kann zugleich als homogen und als heterogen betrachtet werden. Dies hängt von der jeweiligen sozialen Kategorie bzw. der Einheit ab, die betrachtet wird. Ist es die milieuspezifische Zusammensetzung, die in den Fokus gerückt wird, lässt sich für einige Hamburger Stadtteile nachweisen, dass soziale Disparitäten sich in entsprechenden Leistungen niederschlagen, wodurch unterschiedliche Voraussetzungen für die Gestaltung einer inklusiven Schule in den verschiedenen Stadtteilen entstehen. Auch im Artikel Wulf Rauers bilden die Daten des Hamburger Bildungsmonitorings einen zentralen Bezugspunkt. Am Beispiel dieser deutschen Großstadt wird der Frage nachgegangen, ob eine Schule für alle tatsächlich nachhaltig zur Überwindung der Bildungsbenachteiligung beitragen kann. Angesichts der dramatisch wachsenden Polarisierung von Reichtum und Armut in deutschen Großstädten und des damit verbundenen Auseinanderdriftens der Stadtteile ergeben sich für Kinder und Jugendliche je nach Stadtteil unterschiedliche Aneignungsbedingungen. Pädagogische Maßnahmen innerhalb einer inklusiven Schule können jedoch nur begrenzt prekäre Aneignungsbedingungen kompensieren. Sozialpolitische Maßnahmen, Stadtentwicklungs-, Wohnbau- und Familienpolitik müssen die pädagogischen Maßnahmen begleiten, wenn diese nicht an ihren eigenen Zielen scheitern sollen, so der Autor. Dennoch hat die Pädagogik ihren
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Beitrag zu leisten. Sie muss sich aber ihrer begrenzten Möglichkeiten bewusst sein, damit sie nicht als illusionär diffamiert wird, so Rauer. Joachim Schroeders Artikel beleuchtet ebenfalls die sozialräumliche Entwicklung. Er legt den Fokus auf zwei Exklusionslinien: Behinderung und soziale Benachteiligung. Für Schroeder bildet der Hamburger Schulversuch »Integrative Grundschule im sozialen Brennpunkt« den Ausgangspunkt für die Erörterung. Er fragt, inwiefern eine Neugestaltung des Unterrichts diesen Dimensionen der schulischen Exklusion entgegenwirken kann. Dabei stellt er »inklusive« und »milieusensible« Konzepte einander gegenüber, die in dem (sonder-)pädagogischen Diskursfeld der Entwicklung von Strategien zur Vermeidung von Bildungsbenachteiligungen konkurrieren. Schroeder plädiert für eine schulische Bildung, die einerseits auf Basis einer Sozialraumanalyse entwickelt wird und andererseits die individuellen Lebenslagen der Schüler/-innen angemessen berücksichtigt. Das dritte Kapitel trägt den Titel »Inklusion und Heterogenität«. Die Ausdifferenzierung in verschiedene Bereiche der Erziehungswissenschaft entlang sozialer Dimensionen hat einerseits wichtige Erkenntnisse hervorgebracht, andererseits trägt die Fixierung auf ein bestimmtes Merkmal auch zur Konstruktion von Unterschieden bei. Die in diesem Abschnitt subsumierten Beiträge beschäftigen sich mit dem Thema i.d.R. aus der Perspektive einer Heterogenitätsdimension, aber mit dem Ziel weniger das Unterschiedliche als vielmehr das Gemeinsame zu betonen. Der erste Beitrag thematisiert die Frage, wie Differenz konstruiert wird. Tanja Sturm stellt in ihrem Beitrag Ergebnisse einer von ihr durchgeführten Untersuchung vor. Gruppendiskussionen mit Lehrkräften hat sie mit dem Ziel geführt, Auskünfte darüber zu bekommen, mit welchen Kriterien Lehrkräfte Unterschiede ihrer Schüler/-innen konstruieren und in ihren praktischen Unterrichtshandlungen realisieren. Dabei kommt Sturm zu dem Schluss, dass Heterogenität häufig als binäre Zuschreibung verwendet wird. In dem vorgestellten Fall wird Heterogenität von Lehrkräften vor allem in Bezug auf unterschiedliche Leistungsniveaus wahrgenommen, insbesondere dann, wenn diese Auswirkungen auf die eigene Unterrichtsgestaltung hat. Hannelore Faulstich-Wieland und Barbara Scholand beschreiben im anschließenden Artikel explizit eine zentrale Dimension, wenn es darum geht, soziale Unterschiede zu konstruieren. Die Autorinnen betrachten die Debatte um Inklusion aus der Perspektive der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung. Während die Idee der Inklusion, ausgehend vom Menschenrecht auf Bildung, eine Schule für alle Kinder fordert, ist
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in der schulischen Geschlechterpolitik seit vielen Jahren ein gegenläufiger Trend zu beobachten: Unter dem Label der »Geschlechtergerechtigkeit« werden vor allem geschlechtsgetrennte Angebote durchgeführt. Der Aufsatz geht den theoretischen Begründungen für geschlechtsgetrennte Angebote nach und entwickelt eine Perspektive, in der Koedukation und Inklusion zusammen gedacht werden. Wolfgang Praschak setzt sich mit der Heterogenitätsdimension Behinderung auseinander. Er stellt Überlegungen an, welche Auswirkungen die Gestaltung eines inklusiven Schulsystems für die schulische Entwicklungsförderung von sogenannten schwer und mehrfach behinderten Schülern/Schülerinnen hat. Bisher wird – ausgehend von einer vermeintlichen primären Behinderung – versucht, die schulische Förderung der Betroffenen schädigungsspezifisch zu homogenisieren, so der Autor. Dieser Ordnungsversuch hat jedoch zumeist eine willkürliche und intransparente Aussonderung der Schüler/-innen zur Folge, die die Gefahr mit sich bringt, dass eine Art »Restschule« entsteht. Prakschak vertritt die These, dass eine solche Restschule im Lichte der neueren Inklusionsbestrebungen nicht mehr zu legitimieren ist. Um dieser Gefahr entgegenzutreten, skizziert er ein zweistufiges Modell, das zunächst die Aufhebung der Ausgrenzung innerhalb der Sonderschulen thematisiert. In einem zweiten Schritt sollen die Betroffenen dann in eine Schule für alle Kinder integriert werden. Für den Unterricht in dieser schlägt Praschak das Prinzip der Elementarisierung der Unterrichtsformen und ihre Flexibilisierung vor. Wolfram Weiße greift eine weitere Heterogenitätsdimension auf. Mit der Zugehörigkeit zu einer Kultur kann die Übernahme bestimmter Normen und Werte, die auch religiös beeinflusst sind, verbunden sein. Vor dem Hintergrund der zunehmenden religiösen Pluralisierung europäischer Gesellschaften vertritt Weiße in seinem Text die These, dass Religionsunterricht in der Schulbildung einen wichtigen Beitrag zur interreligiösen Verständigung innerhalb von Lerngruppen sowie auch zur friedlichen Koexistenz verschiedener Gruppierungen in der Gesellschaft leisten kann. Anhand empirischer Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt REDCo (Religion in Education. Contribution to Dialogue or Factor of Conflict in transforming societies of European Countries) zu den Einstellungen Jugendlicher aus acht europäischen Ländern zeigt Weiße eine große Aufgeschlossenheit der Teenager gegenüber religiöser Heterogenität auf. Dies bestätigt den hohen Stellenwert des Religionsunterrichts. Anhand des Hamburger Fallbeispiels »Religionsunterricht für alle« verdeutlicht er, dass insbesondere ein gemeinsam für alle Schüler/-innen
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erteilter Religionsunterricht ein im Kontext Europas zukunftsweisendes Einübungsfeld für interreligiösen Dialog und damit für eine inklusive Schule sein kann. Ingrid Gogolin attestiert den deutschen Schulen einen monolingualen Sprachhabitus. In nahezu allen deutschen Schulen wird vorausgesetzt, dass die Schüler/-innen in der Lage sind, dem Unterricht, der in den meisten Fächern in der deutschen Sprache abgehalten wird, zu folgen. Für Schüler/-innen mit Migrationshintergrund stellt sich hiermit eine besondere Herausforderung. Trotz verschiedener Bemühungen ist es noch nicht hinreichend gelungen, den Zusammenhang von kultureller Herkunft und Leistungsmöglichkeiten zu entkoppeln. Eine inklusive Schule muss sich auch daran messen lassen, wie es ihr gelingt, zu dieser Entkoppelung beizutragen. Einen Ansatz, wie dies im Rahmen pädagogischer Möglichkeiten gelingen kann, stellt Gogolin in ihrem Artikel anhand des FörMig-Projekts dar. Theoretische Grundlage ist die Erkenntnis, dass eine bildungsspezifische Sprache eng mit den Merkmalen der Schriftsprache verknüpft ist. Deswegen geht es weniger um die Entwicklung einer allgemeinen Kommunikationsfähigkeit, als um die Entwicklung einer Bildungssprache. Gogolin plädiert für ein bewusstes Verwenden und Vermitteln von Sprache als Medium von Lernen und Lehren. Sprachförderung muss, so die Autorin, deswegen Aufgabe jeden Unterrichts sein. Sie vertritt die These, dass es um die Entwicklung von Gesamtkonzepten sprachlicher Bildung geht. Zudem muss die sprachliche Bildung in Kooperation mit anderen vorangetrieben werden. Das FörMig-Projekt kann hierfür als ein gelungenes Beispiel angesehen werden. Ähnlich wie Gogolin, die betont, dass häufig die Schnittstellen von einem Bildungsgang in den nächsten für Kinder mit Migrationshintergrund eine Schwierigkeit darstellen, verweist Alfons Welling auf den schwierigen Eintritt in die Grundschule bei Kindern mit sprachlichen Auffälligkeiten. Diesen Eintritt entsprechend zu gestalten, muss Aufgabe einer inklusiven Schule sein. Zwar können auch in einer inklusiven Schule die Schüler/-innen in ihrer sprachlichen Entwicklung gefördert werden, doch sollte eine Sprachförderung schon früher stattfinden. Sprachentwicklung muss sich von Anfang an im Kontext mit der Umgebung gemeinsam entwickeln, so Welling. Die frühe Entwicklung des Kindes wird in diesem Beitrag also nicht im Sinne des Verständnisses einer funktionsorientierten, eindimensionalen Förderung des Kindes gesehen. Vielmehr wird betont, dass die Einbeziehung der Eltern des Kindes bzw. des Umfeldes bis hin zu seiner Förderung im Rahmen der Grundschule angestrebt werden muss.
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Im vierten Kapitel des Buches – »Inklusion und Schulentwicklung« – werden Aspekte der Schulentwicklung beschrieben und analysiert, wie sie den Prozess zur Entwicklung einer inklusiven Schule befördern oder behindern können. Im Zentrum von Mechtild Gomollas Beitrag steht eine Analyse von Schuleffektivität als spezifischem curricularem und pädagogischem Diskurs, der ausgehend von den angelsächsischen Ländern im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts weltweit zunehmend Bedeutung erlangt hat. Dabei fragt sie nach der Angemessenheit dieses rational-technischen Ansatzes im Hinblick auf die Heterogenität von Bildungsvoraussetzungen, Identitäten und Lebenshintergründen von Schülern/Schülerinnen in einer zunehmend fragmentierten sozialen Welt. Sie erörtert, inwiefern und mit welchen Folgen für wen Aspekte der Diversität, Pluralität und sozialen Gerechtigkeit im Schuleffektivitätsdenken inkorporiert, verzerrt oder ausgeschlossen werden. Vor diesem Hintergrund werden Perspektiven entwickelt, wie die Verbesserung der Qualität von Bildungs- und Erziehungsprozessen mit dem Bemühen um eine inklusive, partizipatorische und sozial gerechte Bildungspraxis verknüpft werden kann. Eva Arnold geht in ihrem Artikel der Frage nach, welchen Beitrag Lernstandserhebungen zur Schul- und Unterrichtsentwicklung leisten können, wenn es darum geht, dem Ziel der inklusiven Schule näherzukommen. Dabei stellt sie Chancen und Risiken dieses Vorgehens einander gegenüber. Grundlage für ihre Ausführungen sind ausgewählte Ergebnisse eines Bremer Schulentwicklungsprojekts, in dem Lernstandserhebungen als Impuls für Schul- und Unterrichtsentwicklung genutzt wurden. Aus den Resultaten der Studie schlussfolgert Arnold, dass die Arbeit mit Lernstandserhebungen im Sinne des Leitziels nützlich sein kann. Vor allem, wenn es gelingt, die Aufmerksamkeit von Lehrkräften und Schülern/Schülerinnen auf individuelle Lernvoraussetzungen und individuell angemessene Lernarrangements zu lenken. Einem anderen Schwerpunkt der Schulentwicklung widmen sich Waltraud Rath und Christine Pluhar. Um den Lernbedürfnissen aller Schüler/-innen in einer inklusiven Schule gerecht zu werden, bedarf es zusätzlicher Unterstützungssysteme, so die leitende These der Autorinnen. Anhand der Entstehungsgeschichte und der aktuellen Ausgestaltung des Landesförderzentrum Sehen in Schleswig ziehen sie Rückschlüsse für die Entwicklung anderer Unterstützungs- und Beratungssysteme. Sie vertreten die These, dass die in Schleswig-Holstein zugrunde gelegten Konzepte übertragen oder für Gruppen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen anderer Art sinnvoll modifiziert werden können. Zunächst ist
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dieses Modell als Verlegenheitslösung oder als Sparmodell betrachtet worden, doch nach mehr als 25 Jahren hat es sich zu einem leistungsfähigen großen Unterstützungs- und Beratungszentrum für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Blindheit oder Sehbehinderung entwickelt. Der fünfte Abschnitt des Bandes »Inklusion und der Blick auf Entwicklungen« beschäftigt sich mit Fragen der Wahrnehmung und Bewertung von Entwicklungsprozessen in einem inklusiven Schulsystem. In diesem Kontext stellt Gabriele Ricken Aspekte aus dem Bereich der pädagogischen Diagnostik in den Fokus ihrer Betrachtung. Sie vertritt die These, dass sich in einer inklusiven Schule eine Kultur der Angebots-EntwicklungsprozessDiagnostik entwickeln müsse, um die Lern- und Entwicklungsprozesse der Kinder und Jugendlichen beobachten und bewerten zu können. Ein Umdenken muss insofern stattfinden, als dass Diagnostik insbesondere bei Schülerinnen und Schülern, die mit größerem Aufwand lernen, eine prozessbegleitende Tagesaufgabe sei. Der pädagogische Förderbedarf ist nicht, wie bisher im sonderpädagogischen Kontext üblich, auf das Kind oder den Jugendlichen und nicht auf einmalige Erhebungen zu begrenzen. Vielmehr muss ein pädagogisch und diagnostisch flexibler Umgang mit entstandenen Problemlagen in dem jeweiligen Kontext entwickelt werden, so Rickens Plädoyer. André Zimpel stellt Überlegungen der Zuteilung von Schülern/Schülerinnen in entsprechende Schulformen an den Anfang seiner Ausführungen. Unserem jetzigen Schulsystem liegt die Annahme zugrunde, dass sich Kinder mithilfe entsprechender Strategien bestimmten Schulformen zuordnen lassen. Die Grundlage für Schullaufbahnentscheidungen bilden Entwicklungsbeurteilungen und -prognosen, die immer auf irgendeiner Annahme über eine menschliche Entwicklungslogik beruhen. Beurteilungen sind jedoch niemals unabhängig von den Urteilenden. Wird z.B. die Intelligenz einer Person beurteilt, stellt sich sofort die Frage: Wie intelligent ist das Urteil? Zimpel kritisiert damit die Strategien und die aktuelle Praxis der schulischen Selektion. Weil die Zuweisung in bestimmte Bildungsgänge aufgrund der unzureichenden diagnostischen Mittel fehlerhaft ist, fehlt auch die Legitimation für die Selektion. Ein Verzichten auf das Selektieren führt letztlich zu einer inklusiven Schule. Die kurze Vorstellung der Buchbeiträge verdeutlicht, welche Herausforderungen auf dem Weg zu einer inklusiven Schule zu bewältigen sind. Unser Anliegen war und ist es, die Diskurse, die in den unterschiedlichen Teildisziplinen der Erziehungs- und Bildungswissenschaft geführt werden, zusammenzuführen. Vor allem die Frage, wie Bildungsbenachteiligung
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abgebaut werden kann, hat uns in der Zusammenstellung der Beiträge motiviert. Die einzelnen Beiträge dokumentieren aus unterschiedlichen Perspektiven Ansatzpunkte, wie Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung angegangen werden kann. Die Stärke des Buches liegt u.E. nicht nur darin, dass verschiedene Diskurslinien zum Thema der Gestaltung einer inklusiven Schule zusammengeführt werden, sondern auch darin, Überschneidungen in den Diskursen offengelegt zu haben. Wir wünschen uns, dass es aufgrund der aufgezeigten Zusammenhänge zu verstärkten Kooperationen und einer damit verbundenen Weiterentwicklung der erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Disziplin kommt. Wenn die Diskurse der jeweiligen Bereiche überhaupt zur Kenntnis genommen werden, dann kommt es im Falle von Überschneidungen und Gemeinsamkeiten, nur selten zu einer kooperativen Zusammenarbeit. So wird beispielsweise in der Behindertenpädagogik zwar zur Kenntnis genommen, wie Lernprobleme mit Mehrsprachigkeit zusammenhängen. Kooperationen zwischen Behindertenpädagogik und interkultureller Pädagogik sind jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Eine breitere Kooperation zwischen den Teildisziplinen würde auch die Weiterentwicklung schulpädagogischer Konzepte befördern. Erste Ansätze, die zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen infolge der Ausgestaltung eines inklusiven Schulsystems nötig sind, können wir hier präsentieren. Zudem machen die Autorinnen und Autoren an vielen Stellen ihrer Beiträge deutlich, wie gesellschaftliche Bedingungen Ausgangslagen für schulisches Handeln beeinflussen und mit diesem verknüpft sind. Folglich wäre es eine Überforderung, das Gelingen schulischer Inklusion allein davon abhängig zu machen, wie es der Institution mittels pädagogischer Konzepte gelingt, zum Abbau von Bildungsbenachteiligung beizutragen. Wenn die Erziehungs- und Bildungswissenschaft für ein inklusives Schulsystem plädiert, kommt sie deswegen nicht umhin, gesellschaftliche Veränderungen einzufordern. Wir sind der Überzeugung, wichtige Ergebnisse und Überlegungen präsentieren zu können, die dazu beitragen, den Diskurs über die Gestaltung einer inklusiven Schule voranzubringen.
I NKLUSION ALS H ERAUSFORDERUNG SCHULISCHER E NT WICKLUNG
L ITER ATUR Ainscow, Mel (2007): »Taking an Inclusive Turn«, in: Journal of Research in Special Educational Needs 7, S. 3-7. Altrichter, Herbert/Hauser, Bernhard (2007): »Umgang mit Heterogenität lernen«, in: Journal für LehrerInnenbildung 7, S. 4-11. Baumert, Jürgen (2002): »Umgang mit Heterogenität. Ein Gespräch mit Professor Jürgen Baumert«, in: Forum Schule H.1, S. 72-75. Bielefeldt, Heiner (2010): »Menschenrecht auf inklusive Bildung. Der Anspruch der UN-Behindertenrechtskonvention«, in: Vierteljahreszeitschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 79, S. 66-69. Boban, Ines/Hinz, Andreas (2004): »Der Index für Inklusion – ein Katalysator für demokratische Entwicklung in der ›Schule für alle‹«, in: Heinzel, Friederike/Geiling, Ute (Hg.), Demokratische Perspektiven in der Pädagogik, Wiesbaden: VS Verlag, S. 37-48. Bremen, Freie Hansestadt (2009), Bremer Schulgesetze. URL: www. bildung.bremen.de/fastmedia/13/Fassung1.pdf( 27.03.2010). Faulstich-Wieland, Hannelore/Weber, Martina/Willems, Katharina (2004): Doing Gender im heutigen Schulalltag. Empirische Studien zur sozialen Konstruktion von Geschlecht in schulischen Interaktionen, Weinheim, München: Juventa Verlag. Gomolla, Mechtild (2005): Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft. Strategien gegen institutionelle Diskriminierung in England, Deutschland und in der Schweiz, Münster, New York, München, Berlin: Waxmann Verlag. Hinz, Andreas (2009): »Inklusive Pädagogik in der Schule – veränderter Orientierungsrahmen für die schulische Sonderpädagogik!? Oder doch deren Ende??«, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 5, S. 171-179. Klafki, Wolfgang/Stöcker, Hermann (1976): »Innere Differenzierung des Unterrichts«, in: Zeitschrift für Pädagogik 22, S. 497-523. Petriwskyj, Anne (2010): »Diversity and Inlusion in the Early Years«, in: International Journal of Inclusive Education 14, S. 195-212. Scholz, Ingvelde (2008): »Es ist normal, verschieden zu sein. Unterrichten in heterogenen Klassen«, in: Der altsprachliche Unterricht Latein, Griechisch 51, S. 2-13. Schuck, Karl Dieter (2000): »Diagnostik«, in: Borchert, Johann (Hg.), Handbuch der Sonderpädagogischen Psychologie, Bern: Huber Verlag, S. 233-249.
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Sturm, Tanja (2010): »Heterogenitätskonstruktionen durch Lehrende. Zur Bedeutung des Habituskonzepts für die Lehrerbildung«, in: Müller, Florian H./Eichenberger, Astrid/Lüders, Manfred/Mayr, Johannes (Hg.), Lehrerinnen und Lehrer lernen – Konzepte und Befunde zur Lehrerfortbildung, Münster: Waxmann Verlag, S. 89-105. UN, United Nations (2006; 2008): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (dreisprachige Fassung im Bundesgesetzblatt Teil II Nr. 35 vom 31.12.2008) (Manuskriptdruck). URL:http://www2.bgbl.de/Xaver/start.xav?startbk=Bundesan zeiger_BGBl&bk=Bundesanzeiger_BGBl&start=//*%5B@attr_ id=%27bgbl208s1419.pdf %27%5D( 27.03.2010). Wedell, Klaus (2005): »Dilemmas in the Quest for Inclusion«, in: British Journal of Special Education 32, S. 3-11. Wocken, Hans (2009): »Integration & Inklusion. Ein Versuch, die Integration vor der Abwertung und die Inklusion vor Träumereien zu bewahren«, in: Stein, Annedore/Krach, Stefanie/Niediek, Imke (Hg.), Integration und Inklusion auf dem Weg ins Gemeinwesen. Möglichkeitsräume und Perspektiven, Bad Heilbrunn: Klinkhardt Verlag, S. 204-235.
1 Inklusion als erziehungs- und bildungswissenschaftliches Thema
»Inclusive Education« Desiderata in der deutschen Fachdiskussion 1 Birgit Herz »Inklusionspädagogik wird wie alle ihre Vorgängervisionen pervertieren, wenn sie sich mit der Hoffnung verbindet, gesellschaftliche Widersprüche zu harmonisieren.« (Haeberlin 2008: 31)
1 E INLEITUNG Der Fachdiskurs über »Inclusive Education« – ins Deutsche meist mit »Integration2« übersetzt – hat sich national wie international derart rasch etablieren können, dass Roger Slee, der Herausgeber des International Journal of Inclusive Education davon spricht, »the idea has travelled so much that it has become ›jet lagged‹« (Slee, in: Ainscow 2007: 3). In aktuellen deutschen erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung wie auch in der bildungspolitischen Realität dominiert eine Inklusionsmentalität, die die Dialektik zwischen Inklusion und Exklusion ignoriert. Dies erstaunt, waren doch die Anfänge der deutschen Integrationsbewegung vor knapp vier Jahrzehnten keineswegs bloß pädagogisch, sondern explizit gesellschaftskritisch und politisch motiviert (vgl. z.B. Feuser 1982, Jantzen 1982, Schuck 1980). Im Bestreben, demokratische Grundrechte für alle Schülerinnen und Schüler zu verwirklichen und die 1 | Ich danke Kurt Jakobs und Martin Herz für kritisch-konstruktive Anregungen. 2 | Diese Begrifflichkeit ist nicht zuletzt auch den politischen Vorgaben geschuldet, was die Schattenübersetzung des NETZWERKES ARTIKEL 3 verdeutlicht (vgl. Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter .e.V.).
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Partizipation von Menschen mit Behinderung voranzutreiben, entstanden nicht nur die ersten integrativen Schulversuche, sondern auch Projekte zur Enthospitalisierung von erwachsenen Menschen mit einer geistigen Behinderung. Die derzeitige Inklusionsmentalität zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass auf internationale Studien verwiesen wird, die als argumentative Bündnispartner angeführt werden, um hierzulande die Inklusionskraft der Allgemeinen Schulen voranzutreiben. Bisweilen gleitet solche Undifferenziertheit in Apologetik oder in oberflächliche Handlungsanleitungen ab (vgl. Hinz 2008; 2009), wie noch zu zeigen ist. Es ist gut und wichtig, dass in der aktuellen wissenschaftlichen und politischen Diskussion äußerst heterogene Positionen vertreten sind; leider sind sich jedoch fast alle darin einig, das Verhältnis von »Integration« und »Inklusion« einerseits als unproblematisch und andererseits gleichsam als aktuelle Leitidee anzusehen3, allerdings ohne diese auf die realen bildungspolitischen Vorgaben zu beziehen. Viele deutschsprachige Vertreter/-innen der (schulischen) Inklusionspädagogik beziehen sich insbesondere auf den »Index of Inclusion« von Booth und Ainscow (2000) (vgl. Boban/Hinz 2008); allerdings lösen sie diesen Ansatz in illegitimer Weise aus seinen explizit formulierten gesellschaftspolitischen Umfeldbedingungen heraus (vgl. Hinz 2008; 2009), obwohl diese bei beiden englischen Kollegen durchaus im Blick waren. Ein solcher inklusionspädagogischer Ansatz, der die Spezifität behindertenpädagogischer Förderung in die Allgemeinen Schulen transferieren will, fällt drastisch hinter den derzeitigen Stand kritischer Bildungswissenschaften zurück (vgl. ex. Rilling/Lohmann 2002); zudem verengt er das weite Feld behindertenpädagogischer Professionalität auf schulorganisatorische Arbeitsbereiche. Am Beispiel des Förderschwerpunktes »Beeinträchtigung der emotionalen und sozialen Entwicklung« werde ich hier vor allem die Konsequenzen einer schulbezogenen Inklusionsrhetorik herausarbeiten, die – über symbolische Effekte hinaus – durchaus reale Wirkungen zeitigt, und zwar wesentlich dadurch, dass sie die derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklungen ignoriert.
3 | Zur Diskussion der Begriffe vgl. Biewer 2008.
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2 B ILDUNG UND SOZIALE P OL ARISIERUNG »Bildung vollzieht sich eben nicht in einem herrschafts- und interessenlosen Feld, sondern pädagogisches Handeln vollzieht sich unter sozioökonomischen Bedingungen, die den Hintergrund für Integrations- und Ausgrenzungsprozesse bilden und damit die Spielräume für die pädagogischen Handlungsfelder aufzeigen.« (Lanwer 2006: 384)
Diese Spielräume – richtiger: Ernst-Räume – erfahren ihre Horizonte und Begrenzungen durch die verschärften Wettbewerbsbedingungen der Globalisierung. Im Zuge der totalen Marktorientierung setzen sich betriebswirtschaftliche Steuerungsprinzipien im öffentlichen Sektor durch, die Bildungs- und Wissenschaftsinstitutionen umgestalten, »so dass sie nach dem Vorbild kapitalistischer Wirtschaftsunternehmen agieren, d.h. zueinander in Konkurrenz treten, möglichst billig produzieren, letzen Endes Profit erwirtschaften und Monopolstellungen anstreben müssen« (Lohmann 2006: 3). Dabei produziert das Bildungssystem sowohl die »Illusion der Chancengleichheit« (Bourdieu/Passeron 1971) wie die reale soziale Ungleichheit, folglich wiederum die soziale Selektion der Schülerinnen und Schüler. Nach langen Ketten scheinbar unabhängiger Einzelentscheidungen werden schließlich exakt und präzise stets diejenigen aussortiert, die von den Normalitätserwartungen abweichen (vgl. Radtke 2004: 157). Die Psychologie setzte – in der Tradition von Catell und Skinner – insbesondere im Bereich der Testpsychologie den diagnostisch legitimierten Status von Normalität und Abweichung fest. Persönlichkeitstheorien im Gefolge von Schuleingangstests, Entwicklungstests, Schullaufbahnberatungstests bieten scheinbar objektive und neutrale Kriterien für das »Besondern« von Kindern und Jugendlichen in Sonderschulen. »Die Schulen konkurrieren um ›gute‹, d.h. wenig verhaltensauffällige und leistungsfähige Schüler, für die die Aufwendung von Zeit in der Schule und der Lernerfolg in einem günstigen Kosten-Nutzen-Verhältnis stehen und die aufgrund ihrer guten Werte bei allen relevanten Qualitätsindikatoren (akademische Leistung, Verhalten, Schwänz- und Abbruchraten) dazu beitragen, den Ranglistenplatz league tables […] und damit das Image und die ökonomische Potenz der Schule zu verbessern.« (Klausewitz 1999: 104)
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Vergleichbare Befunde legen auch Macnab, Visser und Daniels für Großbritannien vor; sie sprechen von »grauer Exklusion« (grey exclusion): »These ›unofficial‹ exclusions involve persuading parents to move their child to another educational institution in line of a threatened exclusion, thus safegarding the school’s league table image.« (Macnab/Visser/Daniels 2008: 5) Das unhinterfragte Leistungsprinzip, das in allen Lebensbereichen dominiert, bewirkt und verstärkt die schulischen Selektionsprozesse, und der Ruf nach verbesserten Diagnoseinstrumenten im Kontext individueller Förderprogramme offenbart das Streben nach immer neuen Auslesekriterien. Es sind insbesondere die Schülerinnen und Schüler mit Verhaltensstörungen und/oder Lernbeeinträchtigungen, oft in Verbindung mit Migrationshintergrund, die die Wettbewerbsfähigkeit der Schulen gefährden. Amtlich als defizitär attestiert, verfestigt sich in ihren Biographien die durch die Schule reproduzierte soziale Ungleichheit, die in der Bundesrepublik Deutschland nicht erst seit den OECD-Studien bekannt ist. Aus der Stadt- und Bildungssoziologie ist hinreichend bekannt, welche Bedeutung der sozialen Exklusion bei schulischen Ausgrenzungsprozessen zukommt (vgl. Kronauer 2006). Es ist auch hinlänglich bekannt, dass sich Schulversagen oder Delinquenz viel weniger auf der ethnischen, und vielmehr auf der sozialen (Klassen-, Schicht-, Herkunfts-)Achse abbildet. Exklusion im kommunalen Raum zeigt sich in sozial degradierten und depravierten Quartieren, wo sich – nicht zuletzt durch einen missverstandenen Integrationsbegriff und der daraus folgenden fehlgesteuerten Praxis – die sozialen, politischen, kulturellen Probleme konzentrieren (vgl. Herz 2010b). Diese sozialräumliche Segregation in sogenannten »Hyperghettos« (Wacquant 2006) schafft, Zygmunt Baumann zufolge, einen Abladeplatz für diejenigen Menschen, für die die Gesellschaft draußen keine wirtschaftliche oder politische Verwendung hat (vgl. Baumann 2005: 115). Die ökonomische Marginalisierung durch soziale Exklusion bedeutet gezielte Ausgrenzung, funktionale Ausschließung, existentielle Überflüssigkeit, völlige Desillusionierung bei institutionellen Entsolidarisierungseffekten. Exklusionsorte und -prozesse sind zugleich Auslöser und Verstärker für Subgesellschaften, Parallelwelten, subkulturelle Milieus. Diese Entwicklung hat empirisch nachweisbare Auswirkungen auf die Bildungseinrichtungen: »Ressource – rich schools and school districts score higher on the performance index, while ressource-poor school districts
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score lower on the performance index« (Itkonen/Jahnukainen 2007: 7). Die soziale Exklusion wird durch schulische Exklusion festgeschrieben (vgl. Bude 2008), genauer: zertifiziert. Eine zunehmende Kinderpopulation wächst empirisch belegt in depravierten Umwelten heran (vgl. Herz u.a. 2008). In der Generationenfolge verstetigt sich somit eine gesellschaftliche Realität, die verantwortlich ist für die Bildungsghettos im unteren Schulsegment, namentlich die viel zitierten »Restschulen«: Hauptschulen, Förderschulen und Erziehungshilfeschulen (vgl. Solga 2006: 138). Zu dieser sozioökonomisch (und kulturell) bedingten Bildungsbenachteiligung gesellt sich ein erhöhter Erziehungsbedarf. Eine Verstetigung dieser Entwicklung lässt sich eben auch daran ablesen, dass einerseits der Bedarf und die Inanspruchnahme der ambulanten Hilfe zur Erziehung kontinuierlich steigen, während gleichzeitig die stationären Erziehungshilfen auf hohem Niveau fortbestehen (vgl. Rauschenbach 2007: 31). Komplementär zu dieser Entwicklung inszenieren die Medien einen »Erziehungsnotstand«, der insbesondere bei sozial- und bildungsbenachteiligten Eltern anzutreffen sei. Auch die Schulen für Erziehungshilfe expandieren in den letzten Jahren mit enormen Zuwachsraten: »Während seit dem Jahr 1995 für alle neun sonderpädagogischen Förderschwerpunkte zusammen eine Zunahme um rund 26 % zu verzeichnen war, hat sich die Anzahl der Schüler mit sozial-emotionalem Förderbedarf nahezu verdoppelt (+96 %).« (Willmann 2007: 22) Diese extreme Expansion der Schulen für Erziehungshilfe lässt sich dahingehend interpretieren, dass Schülerinnen und Schüler mit Verhaltensstörungen zu den Integrationsverlierern zählen. Zugleich existiert eine Gruppe von Heranwachsenden, die sich ihren desolaten Elternhäusern verweigert, deren seelische Verletzungen und deren Desillusionierung bezüglich anerkannter legaler Teilhabe über schulische Zertifikate derart massiv sind, dass wir in der Erziehungswissenschaft von »institutionellen und sozialen Desintegrationsprozessen bei schulpflichtigen Heranwachsenden« sprechen (vgl. Warzecha 2000, Herz 2010b). In englischen Studien werden sie als »NEETS« bezeichnet, das sind junge Menschen: »Not in Education, Employment or Training« (vgl. Rennison/Maguire/Middleton/Ashworth 2005). Die englischen Untersuchungen konnten zeigen, dass diese jungen Menschen (im Alter zwischen 16 und 18 Jahren) überproportional in depravierten Stadtteilen und in Familienkonstellationen aufwachsen, die durch
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Armut und/oder Arbeitslosigkeit gekennzeichnet sind; ihre Schulbiographie lässt sich charakterisieren durch hohe Schulunlust, Schulverweigerung oder Schulausschluss – oft in Verbindung mit Lernbeeinträchtigung und/oder Verhaltensproblemen. Nationale und internationale Studien belegen den Zusammenhang zwischen Armut und sonderpädagogischem Förderbedarf (vgl. z.B. Wocken 2002, Wilson/Ridell/Tisdall 2002, Ainscow u.a. 2008). »Alle empirischen Forschungen weisen darauf hin, dass diese Benachteiligung weiterhin besteht, sie darüber hinaus eine Zuspitzung im Hinblick auf eine ethnisch-kulturelle Ungleichheit im deutschen und deutschsprachigen Bildungssystem erfährt« (Sauter 2008: 297). Vergleichbares gilt auch für das Klientel der Kinder- und Jugendhilfe. So stellt von Wolffersdorf fest, dass der Kernbereich der Hilfen zur Erziehung in der überwiegenden Mehrheit der Fälle mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, die aus Armutsverhältnissen stammen (vgl. von Wolffersdorf 2010: 240). Alle Befunde sprechen dafür, dass die Klientel der Sonder- und Sozialpädagogik die Hauptverlierer des aggressiven Marktwettbewerbs sind.
3 D EKONSTRUK TION DER I NKLUSIONSRHE TORIK Im dialektischen Spannungsverhältnis von Inklusion und Exklusion hat der Diskurs über »Inclusive Education« eine systemstabilisierende Funktion. Es muss nämlich deutlich unterschieden werden zwischen dem Inklusions-Mainstream, bildungspolitischen Positionen und der konkreten Exklusionspraxis in den Schulen. In der sozialen, bildungskulturellen und schulischen Hierarchie stehen Schülerinnen und Schüler mit Verhaltensstörungen und Lernbeeinträchtigungen – oft mit sogenanntem Migrationshintergrund – auf der untersten Stufe; weder sie noch ihre Eltern verfügen über eine Lobby, eine Interessenvertretung. Die Bildungsrechte von Kindern und Jugendlichen mit massiven Verhaltensschwierigkeiten sind nur noch normativ einklagbar und werden angesichts von Ressourcenknappheit, schulischen Exzellenzneurosen und der Wettbewerbsverschärfung um Bildungstitel an den Rand gedrängt (vgl. Opp/Puhr/Sutherland 2006: 64). Der allseitigen Ressourcenverknappung im Feld der Kinder- und Jugendhilfe und bei den Bildungsinstitutionen sowie dank des ständigen Optimierungsdrucks kommen einfache, komplexitätsreduzierende Erklärungsansätze und Interventionsstrategien zur Praxisgestaltung den
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Entscheidern/Entscheiderinnen sehr entgegen, weil sie überschaubare, effiziente und teilweise auch wissenschaftlich legitimierte Handlungsrezepturen bieten. Ein Beispiel für eine solche reduktionistische Wissenschaftsposition ist das Plädoyer von Hinz, die schulische Erziehungshilfe abzuschaffen: Er fordert, dass ein zentrales Element der schulischen Erziehungshilfe, die Fallarbeit, inklusionsverträglich akzentuiert wird: »Ein nonkategoriales Verständnis von Fallarbeit ist dann möglich, wenn eine Situation den Fall bildet und dann mit Konzepten integrativer oder ambulanter Erziehungshilfe agiert wird« (Hinz 2009: 175). Neben der Fallarbeit sollen ferner indirekte Unterstützung, Beratung und Kooperation mit der Allgemeinen Schule und anderen Umfeldsystemen für inklusive Bildung genutzt werden (vgl. Hinz 2009). Und: »Da es an jeder Allgemeinen Schule Herausforderungen wie Mobbing, Gewalt, andere Hintergründe für Diskriminierung und psychische Problemstellungen gibt, wäre es logisch, jeder Allgemeinen Schule zu ermöglichen, mit pauschalisierten Finanzzuweisungen an diesen Aufgaben zu arbeiten.« (Hinz 2009: 177) Er fordert des Weiteren: »Inklusion braucht, wenn ihr Kernkonzept z.B. im schulischen Bereich der Abbau von Barrieren für das Lernen und die Teilhabe ist, für jede LehrerIn und für jede Klasse Unterstützungssysteme, die nonkategorial organisiert sind, entspezialisiert arbeiten und systemische Ansätze praktizieren. Hier ist auch die Erziehungshilfe gefragt, sich am Abbau von Barrieren für Lernen und Teilhabe in einem erweiterten Rahmen bei erweitertem Fokus zu beteiligen.« (Hinz 2008: 102)
Schon an diesem kleinen Ausschnitt wird deutlich: Wer so argumentiert und – gleichsam als Stütze – auf internationale Bündnispartner (hier: die European Agency 2003) verweist, leugnet paradoxale Grundkonflikte in Bildung und Erziehung und reduziert Inklusion auf Methodik. Diese inklusionspädagogische Position blendet den internationalen Forschungsstand aus. Führende internationale Vertreter einer »Inclusive Education« betonen immer wieder, dass eine inklusive Bildung und Erziehung auch den sozioökonomischen Lebenslagen gerecht werden muss.
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Drei Beispiele sollen hier genügen, um den Blick auf den internationalen Fachdiskurs zu lenken: So • kritisiert Norwich, dass es nicht ausreicht, mit freiem Schulessen sozialer Deprivation zu begegnen, und fordert »a radical re-think of how services are configured and delivered« (Norwich 2008), • entlarven Slee und Graham den Missbrauch des Inklusionsbegriffes als »being used as a means for explaining and protecting the status quo […]« und »cosmetic adjustements to traditional schooling« (Graham/ Slee 2006: 2f.), • wenden sich Slee und Allan gegen die Depolitisierung von Schulversagen (vgl. Slee/Allan 2001: 175). Ebenso fehlen die sozial- und bildungspolitisch kritischen Forschungsarbeiten des Centre for Equity in Education der Manchester School of Education (vgl. Ainscow u.a. 2008). Hinz verweist auf Finnland als eines vermeintlichen Beweises für die Eliminierung einer kategorialen Sonderpädagogik (vgl. Hinz 2009: 177). Das ist schlichtweg falsch: In der finnischen neunjährigen Gesamtschule erhalten etwa 21 Prozent aller Schüler/innen eine »part time special education«, und zwar erst nach Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Eine Pauschalzuweisung an Ressourcen kennt das finnische Schulsystem gar nicht. In der Argumentation von Hinz verdampfen die biographischen Notlagen, Schwierigkeiten und Lebensbelastungen der Klientel schulischer (und außerschulischer, B. H.) Erziehungshilfe zu Fallarbeit, Gewalt, Mobbing, Diskriminierung und psychologischen Problemstellungen. Ein solches Inklusionsverständnis ist affirmativ, gesellschaftsunkritisch, praxisfern und es bietet keine wirksame Unterstützung bei institutionellen und sozialen Desintegrationsprozessen.
4 I NKLUSION VERSUS S EGREGATION ? Schulen für Erziehungshilfen sind Brennpunkte gesellschaftlicher Konfliktlagen; ihre Existenz – und insbesondere die Expansion um 295 Schulneugründungen zwischen 1995 und 2005 (vgl. Willmann 2007) – ist ein Skandal! Solche sonderschulischen Einrichtungen sind »schulkonforme Lösungen äußerer Differenzierung von Jugendlichen nach schulischen
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Kriterien zur verwaltungsmäßigen Neutralisierung pädagogisch zu bewältigender Problemlagen« (Opp/Puhr/Sutherland 2007: 36). Die Notlagen der Schülerinnen und Schüler, mit denen die schulische Erziehungshilfe konfrontiert ist, sind allerdings eben nicht (!) alleine in der Schule zu lösen; sie erfordern vielmehr Kooperationsnetzwerke und hoch differenzierte Unterstützungssysteme – auch in den Allgemeinen Schulen. Integrierte schulische Erziehungshilfe, integrativer Unterricht, ambulante schulische Erziehungshilfe müssen für alle Schülerinnen und Schüler bereitgehalten werden (vgl. Reiser/Willmann/Urban 2007). Ein »One Size Fits All« wird der Heterogenität dieser Schülerinnen und Schüler nicht gerecht. Die Beschulung allein im »normalen« Regelschularrangement reicht nicht aus, die katastrophalen Auswirkungen emotionaler Verletzung und Verstörung durch Vernachlässigung, Gewalterfahrungen und dysfunktionale Familiensysteme aufzuarbeiten.
5 F A ZIT : I NTEGR ATIONSPOSITIONEN GESTERN UND HEUTE Der Landesverband Bremen im Verband deutscher Sonderschulen e.V. formulierte 1981 eine Stellungnahme, die die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher forderte. Diese bildungspolitischen Veränderungen sollten von einem Pädagogischen Zentrum verantwortet werden: »Aufgabe des Pädagogischen Zentrums ist es, alle Maßnahmen zur Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Schüler durchzuführen und zu koordinieren« (LV-HB im VDS 1981: 181). 27 Jahre später legen Klemm und Preuss-Lausitz ihr »Gutachten zum Stand und zu den Perspektiven der sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Stadtgemeinde Bremen« vor (vgl. Klemm/Preuss-Lausitz 2008). Ihnen zufolge soll die integrative Beschulung durch ein Unterstützungszentrum erfolgen. Bei Schülerinnen und Schülern mit sinnes-, körperlichen und geistigen Behinderungen soll die Feststellungsdiagnostik beibehalten werden; ihre bisherigen Förderzentren sollen zu Kompetenzzentren weiterentwickelt werden, die ihre Ressourcen der integrativen Unterrichtung ihrer Klientel an die Allgemeine Schule weitergeben. Die Förderbereiche Lernen, Verhalten und Sprache werden in Allgemeinen Schulen unterrichtet mit einem Förderdurchschnittsstundenanteil von 2,9 h (bis 2015/16: 3,5 h) pro Kind; auf eine Feststellungsdiagnostik wird
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verzichtet. Klemm und Preuss-Lausitz betonen, »dass das Konzept der vollen Integration der Förderung im Schwerpunkt ›Emotionale und Soziale Entwicklung‹ zu keinen gegenüber der aktuellen Situation veränderten Ausgaben führen würden« (ebd.: 78). In der Stellungnahme von 1981 wird auch bereits an die ökonomische Situation der Integration gedacht: »Alle vorgeschlagenen Maßnahmen sind weitgehend kostenneutral« (LV-HB im VDS 1981: 59) – allerdings im Verständnis einer Integration als Leitidee für alle Schülerinnen und Schüler. 27 Jahre später etabliert sich ein Mehrklassensystem innerhalb der behindertenpädagogischen Förderschwerpunkte; so wünschenswert der Verzicht auf Feststellungsdiagnostik auch ist, er bedeutet aber de jure, dass Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen keinen Rechtsanspruch auf integrative pädagogische Förderung haben. Der Verdacht liegt nahe, dass hier »Inclusive Education« zur »Low Cost Education« (Biewer 2005: 105) pervertiert – es fällt gar nicht mehr auf, dass und wie an dieser Zielgruppe gespart wird! Übrigens auch an der akademischen Qualifizierung für diese Zielgruppen: Professuren für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen sind die ersten, die hochschulpolitischen Sparmaßnahmen geopfert werden, ob in Potsdam, Bremen oder demnächst in Flensburg und Hamburg. Hier ist Speck mit Nachdruck zuzustimmen, wenn er kritisiert, dass das, was heute als soziale Inklusion angestrebt wird, sich bestenfalls auf diejenigen beschränkt, »die sich innerhalb ihrer begüterten Zirkel eine partielle Gemeinsamkeit Behinderter und Nichtbehinderter leisten können« (Speck 2004: 399). Die Existenz der Schulen für Erziehungshilfe ist institutionalisierte und personalisierte Gesellschaftskritik (vgl. Opp 2008: 83). Ihre Auflösung zu fordern, aber zugleich die schulische Integration auf Fallarbeit zu reduzieren (vgl. Hinz 2008; 2009) kann nur zynisch genannt werden und entpuppt sich als ideologische – wenn auch politisch korrekte – Munition, die Rechte dieser Kinder und Jugendlichen (und die ihrer Eltern) auszuhöhlen. Letztendlich geht es ihnen so, wie den marginalisierten Erwachsenen, die Bude als die Ausgeschlossenen bezeichnet: »Was sie können, braucht keiner, was sie denken, schätzt keiner, und was sie fühlen, kümmert keinen« (Bude 2008: 15). Sie haben keine Lobby, keine Interessenvertretung, keine Verbände (wie etwa bei sinnes-, körperlicher und geistiger Behinderung), so dass die Aktualität und Zunahme neuer Disziplinar- und Strafpraxen auch in
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der Pädagogik bei Verhaltensstörungen gerne geleugnet wird (vgl. Herz 2010a; Armstrong 2006; Jull 2008). Aber die »finanziellen Einsparungen an individuellen Förderangeboten führen langfristig zu hohen Kosten der beruflichen und sozialen Integration von jungen Erwachsenen, die den Kompetenzerwartungen moderner demokratischer Gesellschaften und den Leistungsanforderungen des freien Arbeitsmarktes nicht gewachsen sind« (Opp/Puhr/Sutherland 2006: 65). »Inclusive Education« in der schulischen und außerschulischen Erziehungshilfe ist nur dann überzeugend und glaubhaft zu verwirklichen, wenn auch zugleich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine förderliche Sozialisation geschaffen werden. Solange Kinder und Jugendliche über einfache und komplexe Ausgrenzungsprozesse die potenzierte Stigmatisierung ihrer depravierten Lebenslagen erfahren, solange werden Institutionen des Ein- und Ausschließens bestehen. Sonder- und Sozialpädagogik wird in diesen gesellschaftlichen Distanzierungsprozessen die Aufgabe zugewiesen, sich mit den sozial Unerwünschten und personal Ungewünschten zu befassen (vgl. Kobi 2008: 18). Und hier ist Integration und Inklusion mehr denn je nicht auf Methodik zu reduzieren, sondern hat ihr politisches Profil zu schärfen. Es ist zukunftsweisend, wenn eine »Initiative für integrative Pädagogik und Politik« in ihrem Manifest in der Zeitschrift Behindertenpädagogik feststellt: »Die Repolitisierung der Integrationsbewegung ist deshalb im deutschsprachigen Raum unumgänglich« (Manifest … 2007: 81).
L ITER ATUR Ainscow, Mel (2007): »Taking an Inclusive Turn«, in: Journal of Research in Special Educational Needs 7, H. 1, S. 3-7. Ainscow, Mel et al. (2008): Equity in Education: Responding to Context, Centre for Equity in Education: The University of Manchester. Armstrong, Derrick (2006): »Becoming Criminal: The Cultural Politics of Risk«, in: International Journal of Inclusive Education 10, H. 2-3, S. 265-278. Baumann, Zygmund (2005): Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg: Hamburger Edition. Biewer, Gottfried (2001): Vom Integrationsmodell für Behinderte zur Schule für alle, Neuwied, Berlin: Luchterhand.
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Eine Schule für alle – eine Gesellschaft für alle? Helmut Richter
1 P ÄDAGOGISCHE U TOPIE : E INE S CHULE FÜR ALLE Das in der Erziehungswissenschaft in den letzten Jahren zunehmend unterstützte Votum für eine inklusive Schule wird vor allem mit dem aktuellen Forschungsstand über den Unterricht bei heterogenen Voraussetzungen begründet, den Karl Dieter Schuck mit den Worten zusammenfasst: »Es darf als gesichert gelten, dass der Unterricht in heterogenen Gruppen die Bedingung der Möglichkeit für eine positive Entwicklung des fachlichen und sozialen Lernens sowohl der Starken wie auch der Schwachen schaffen kann. Eine Entkopplung leistungsmäßiger Randständigkeit und emotionaler Belastung ist möglich.« (Schuck i.E.: 12)
Heterogenität schließt dabei schwer behinderte Kinder sowie Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Einzugsgebiet einer Schule ein. Sie beinhaltet zudem statt der klassisch-deutschen Organisationsform der »äußeren Differenzierung« (Grundschule, Haupt- und Realschule, Gymnasium, Sonderschule) eine »innere Differenzierung« des Unterrichts, damit unterschiedlich leistungsfähige Schüler/-innen einer Klasse zunächst einmal verschieden lernen können, um schließlich die Lernziele einer Klassenstufe oder Schulform und so »das langfristige Ziel der sozialen Integration und der gesellschaftlichen Teilhabe der Schülerinnen und Schüler« (ebd.: 9) erreichen zu können.
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Eine Utopie? Für Deutschland zurzeit noch, nicht aber z.B. für Finnland, das diese Form einer Einheitsschule für alle 7- bis 16-jährigen Kinder und Jugendlichen seit 1985 realisiert und damit in den PISA-Studien der OECD auf allen Testgebieten einen der vier ersten Rangplätze erreicht hat (vgl. Toman 2009).
2 P ÄDAGOGISCHER A LLTAG : H OMOGENITÄT, B EGABUNG , S ELEK TION Es sind vor allem drei Begriffe, in denen sich der Widerstand gegen die Einführung einer solchen Schule für alle bisher verdichtet hat: Homogenität, Begabung und Selektion. Dass Homogenität leistungsfördernd und Heterogenität leistungsmindernd wirke, ja, dass es vor dem Hintergrund dieses Vorverständnisses sogar »eine ›Sehnsucht‹ vieler Lehrkräfte nach ›der Homogenität der Lerngruppe‹« (Tillmann/Wischer 2006: 46) gebe, wird in der aktuellen Debatte über die Frage einer vier- oder sechsjährigen Grundschulzeit insbesondere mit Lehmanns Ergebnis zu den Jahrgangsstufen 4 bis 6 in Berlin begründet. Denn danach ist festzustellen, »dass der mutmaßlich anspruchsvollere gymnasiale Unterricht in den Klassenstufen 5 und 6 in allen dort vertretenen Leistungsgruppen höhere Erfolge zeitigt« (Lehmann 2008: 83). Die hieraus etwa von der Hamburger Initiative »Wir wollen lernen«1 abgeleitete These, dass homogene Leistungsgruppen auf gymnasialem Niveau mehr Entwicklungspotenziale bieten als heterogene Grundschulklassen und deshalb der Übergang in die Sekundarstufe schon nach vier Jahren erfolgen solle, lässt sich vielleicht besonders deutlich durch die Erinnerung an ein Schlagwort hinterfragen, das vor nicht allzu langer Zeit die US-amerikanische Diskussion über die Integration ethnischer Minder1 | Die »Initiative ›Wir wollen lernen!‹ – Förderverein für bessere Bildung in Hamburg e.V.« wendet sich gegen die von der Hamburger CDU/GAL-Regierung geplante Einführung einer sechsjährigen Primarschule statt der bisherigen vierjährigen Grundschule. Im Rahmen einer Volksinitiative hat sie für diese Forderung fast 190.000 Unterschriften erhalten. Sie berechtigen den Verein dazu, einen für den politischen Senat verbindlichen Volksentscheid herbeizuführen, der – nachdem die Schlichtungsverhandlungen zwischen Senat und Verein gescheitert sind – am 18. Juli 2010 stattfinden wird.
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heiten mitbestimmte: »Homogenität verdummt« (Gans 1974: 188). Dieses Schlagwort hat dann übrigens in den 1980er Jahren auch in der Bundesrepublik kurzzeitig zu dem Versuch geführt, Migrantenkinder durch Bustransporte in deutsche Schulen vor den sogenannten homogenen Gettos zu bewahren (vgl. Richter 1983; 2001). Verbinden wir diese Erinnerung noch mit der wohl nur rhetorisch zu stellenden Frage, ob nicht der in den letzten Jahren erbrachte Nachweis besserer Abschlussnoten von Mädchen gegenüber Jungen durch homogene Mädchenklassen auf höherer Stufenleiter fortentwickelt werden müsste, verdeutlichen diese Querbezüge, dass es in dieser Debatte nicht eigentlich um Homogenität oder Heterogenität geht. Vielmehr ist politisch zu entscheiden, ob die Interessen einer durchaus heterogenen Mittel- und Oberschicht bewahrt werden sollen oder ob »entsprechendes Handwerkszeug zum erfolgreichen Unterrichten sehr heterogen zusammengesetzter Klassen« (Stähling 2008: 50) gewollt und ermöglicht wird. Nicht minder kontrovers wird auch um den Begriff der Begabung und ihrer Hintansetzung in einer Schule für alle gerungen. So schreibt die Bildungsredakteurin Heike Schmoll auf der Titelseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Aus purer Verzweiflung darüber, dass Begabungen nicht umverteilt werden können, haben sich Bildungspolitiker oft genug dazu entschlossen, die Schwachen zu begünstigen und die Talentierten zu benachteiligen. Das Niveau wird gesenkt, die Begabten sind unterfordert und die weniger Talentierten nicht ausreichend gefördert, weil die Chancen ungleich genutzt werden.« (Schmoll 2010: 1)
Dieses Verständnis von einer angeborenen und unveränderlichen Begabung, das sich auch in Befragungen von Lehrerinnen und Lehrern in Deutschland, Japan und den USA widerspiegelt, wenn sie die »Begabungsunterschiede« als die größte Berufserschwernis bezeichnen (Tillmann/Wischer 2006: 46), hat sich allerdings in sogenannten »kulturfreien« Tests nicht bestätigen lassen; denn die Frage nach dem anlagebedingten Woher der Begabung ist immer methodologisch untrennbar mit dem kulturell bedingten Wozu der Begabung verknüpft: »Begabt kann jemand immer nur zu etwas Bestimmtem und im Vergleich zu anderen sein. Dadurch wird jede Konkretisierung ›der Begabung‹ relativiert, und zwar
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auf das jeweils als relevant, (politisch oder pädagogisch) erwünscht Geltende und auf eine jeweilige Bezugsgruppe.« (Heid/Fink 2004: 149)
Mit dieser Relativierung je konkreter »Begabungen« unter Hinweis auf das Erwünschte und etwa durch einen binnendifferenzierten Unterricht zu Ermöglichende soll allerdings nicht ausgeklammert, sondern durchaus anerkannt werden, dass es »noch keiner pädagogischen Praxis gelungen ist, Lernerfolgsdifferenzen aus der Welt zu schaffen« (ebd.: 151). Geht aber mit der Anerkennung von Lernerfolgsdifferenzen nicht eine Selektion einher und steht eine solche Differenzierung nicht in einem grundsätzlichen Widerspruch zu der Annahme, dass eine Schule für alle ein »unabdingbares Signal für Integration und gegen institutionelle Selektionsprozesse« (Schuck 2003: 20) setzt? Schon das finnische Bildungssystem mit seiner vollständig integrierten neunjährigen Grundschule hat unmissverständlich vor Augen geführt, dass die systemtheoretische Erkenntnis über die Selektion nicht hintergehbar erscheint, wenn ein System seine Unabhängigkeit bewahren will: »Ein Verzicht auf Selektion ist (daher) nichts weiter als ein Verzicht auf Autonomie.« (Luhmann/Schorr 1979: 276) Wer dennoch verzichtet, verschiebt das Problem und produziert Eingangskontrollen beim Übergang in das nächste System, z.B. die Universität oder den Beruf. Entsprechend absolviert in Finnland etwa die Hälfte eines Jahrgangs das Abitur, erhalten nur etwa 10 Prozent der Bewerberinnen und Bewerber für ein Lehramtsstudium nach einem strengen Auswahlverfahren einen Studienplatz (vgl. Matthies/Skiera 2009: 18) und werden bis zu 90 Prozent der Studienplatzanträge an der Universität Helsinki abgelehnt (siehe http://de.wiki pedia.org/wiki/Bildungssysteme_in_Finnland, 31.01.2010). Auf der anderen Seite ist es das Ziel in Finnland, dass alle Mitglieder der Gesellschaft »eine gleich lange und mit hauptsächlich gleichen Lerninhalten besetzte Grundbildung« (Merimaa 2009: 138) erhalten und den Abschluss der neunjährigen Schule erreichen. Und dieses Ziel wird – wie die PISA-Ergebnisse bescheinigen – unter Wahrung einer weitgehenden Chancengleichheit der Kinder und Jugendlichen eingelöst: »Das finnische Schulsystem zeichnet sich laut PISA-Studien durch ein besonders hohes durchschnittliches Leistungsniveau und durch einen geringen Sozialgradienten aus. In wenigen Ländern ist die schulische Leistung des Individuums in
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so geringem Maße mit außerschulischen Einflussgrößen verknüpft wie in Finnland.« (Toman 2009: 275)
Es ist dieses Ziel, das auch eine Schule für alle nur anstreben kann, und es sind die immer noch schichtspezifischen »aktuellen Selektionstendenzen« (Schuck 2003: 21) des traditionellen viergliedrigen Schulsystems, gegen die sie sich wendet, nicht aber die Selektionsfolgen einer Verwirklichung von Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit.
3 P ÄDAGOGISCHE A UFGABE : G ANZ TAGSBILDUNG EINER G ESELLSCHAF T FÜR ALLE So überzeugend die Argumente gegen eine Schule für alle sein mögen, so sind sie doch nicht eigentlich neu und haben z.B. die beachtliche Resonanz für die Bürgerinitiative »Wir wollen lernen« nicht verhindert. Dies könnte die Sorge berechtigt erscheinen lassen, in der Debatte um eine inklusive Schule gehe es nicht wirklich um den Abbau von Wissensdefiziten, sondern um eine interessengeleitete Beratungsresistenz. Das aber würde bedeuten, dass sich im Widerstand gegen eine Schule für alle »nur ein breiter gesellschaftlicher Konsens, getragen von einem großen Teil der Lehrerschaft und der Eltern entlädt, der in Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs auf die Sicherung der Zukunftschancen des eigenen Klientels (sic!) und des eigenen Standes hinausläuft« und dadurch nicht »zum allgemeinen Wohl des Gesellschaftssystems« beiträgt (Schuck 2003: 21). Allerdings: Dieses so negativ konnotierte Eigen- und Standesinteresse kann nach Lehmanns Verständnis auch durchaus als rational aufgefasst werden. Denn unter Bezugnahme auf eine Formulierung im Berliner Schulgesetz folgert er: »Aus der Perspektive des Interesses von Eltern an der ›vollen Entfaltung alle(r) wertvollen Anlagen‹ ihrer Kinder, namentlich aber an der Entwicklung deren kognitiven Lernpotenzials, ist es unter den gegebenen Voraussetzungen offenbar in etlichen Fällen eine rationale Entscheidung im Rahmen individueller Kosten-Nutzen-Erwägungen, relativ frühzeitig Bedingungen für einen besonders erfolgreich verlaufenden Bildungsprozess anzustreben.« (Lehmann 2008: 83)
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Und Lehmann begrenzt diese Rationalität keineswegs nur auf die Elternperspektive, sondern fügt mit Blick auf die wirtschaftliche Zukunft der Gesellschaft hinzu: »Immerhin fragen muss man aber auch, ob nicht auch aus gesellschaftlicher Sicht ein hohes Interesse daran besteht, dieses Potenzial optimal zu fördern.« (Ebd.) Solche Hinweise verdeutlichen, dass bei den Kontroversen um Homogenität, Begabung und Selektion »die Gesellschaft« und ihr »allgemeines Wohl« systematisch ausgespart worden sind, obwohl Inklusion »immer Inklusion von Personen in die Gesellschaft« (Luhmann 2002: 138) meint und daher eine Schule für alle recht eigentlich nicht ohne eine Gesellschaft für alle zu denken ist. Dieser Zusammenhang lässt sich in besonderem Maße am Beispiel Finnlands zeigen. Denn die finnische Bildungspolitik wurde und wird getragen von dem breiten Konsens einer durchaus heterogenen Gesellschaft, der die »Bildung der Bevölkerung zu einer nationalen Gemeinschaft mit einem Gefühl der Zugehörigkeit« (Kangas 2009: 217) beinhaltet. Von diesem Konsens getragen, wurde die traditionelle Ständegesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch eine Reform der Kommunalverwaltung überwunden. Und seit den 1970er Jahren ist das Bildungswesen auf der Basis zentralstaatlicher Gesetze und Zuwendungen vom Bereich der Früh- und Vorschulerziehung über den Primar- und Sekundarbereich bis zur Kulturpolitik und den außerschulischen Bildungseinrichtungen auf die kommunale Verwaltung und die kommunalen Bürgerorganisationen übertragen worden (vgl. Kangas 2009). Gesellschaft hat also in Finnland eine doppelte Raumkomponente, die identitätsbildend wirkt und ohne die eine neunjährige inklusive Grundschule und ein sie umschließendes Bildungswesen nicht möglich geworden wäre: die Nation und die Kommune. Wie aber wird Schule in Deutschland und insbesondere in den Großstädten geplant? Während Schuck (2003) in seinem Plädoyer für eine inklusive Schule nur von der gemeinsamen Erziehung aller Kinder eines »Wohngebietes« bzw. »Einzugsgebietes« oder »Schulbezirks« spricht, konkretisiert der Hamburger »Schulentwicklungsplan 2010 bis 2017 für die staatlichen Primarschulen, Stadtteilschulen und Gymnasien« (Behörde für Schule und Berufsbildung 2009) diesen Raumbezug, indem er Hamburg in namenlose 22 Regionen und in ebenso namenlose 42 Anmeldeverbünde für die geplanten 164 Primarschulen aufteilt. Beide Gebietszuschnitte orientieren sich zwar auch an den sieben Bezirken und 105 Stadtteilen Hamburgs,
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aber sie überschreiten sie ebenso und verdeutlichen damit, dass eine begriffliche und damit erst identitäre Raumbindung über die Einschulung nicht mitgedacht oder angestrebt worden ist. Dieser Befund ist im Übrigen keineswegs auf Hamburg beschränkt, sondern findet sich auch in anderen großstädtischen Kontexten. In Verbindung mit der engen Zuordnung der Grundschulen zu relativ kleinräumigen Einzugsgebieten geht er zudem damit einher, »dass ein erheblicher Teil der Unterschiede zwischen den Schülern, insbesondere auch der Leistungsunterschiede, durch das außerschulische Umfeld bestimmt ist« (Lehmann 2008: 81). Das aber heißt: Die Ausblendung lebensweltlicher Grenzen der Inklusion bei der Einteilung und Benennung der »Schulbezirke« löst den Zusammenhang von »Wohnortnähe« und Gesellschaft auf und verhindert ein »Gefühl der Zugehörigkeit« der Einwohner/-innen zu diesem »Einzugsgebiet«, so dass sich die Frage nach dem »allgemeinen Wohl des Gesellschaftssystems« für sie gar nicht mehr stellt. Wird Gesellschaft als bloße Einwohnergesellschaft verwaltet und nicht als Bürgergesellschaft gestaltet (vgl. Köttgen 1968), kann es daher auch nicht verwundern, wenn schon im Falle der Einführung einer sechsjährigen Primarschule durch einen gemeinsamen Beschluss aller politischen Parteien in Hamburg die Privatschulen mit einem »enormen Zulauf« (Hamburger Abendblatt, 23.02.2010) rechnen dürfen. Ein solches Szenario lässt es allerdings zweifelhaft erscheinen, ob eine Schule für alle schon als nächstes Ziel einer Schulreform in Deutschland zu realisieren ist. In jedem Fall dürfte es schon jetzt an der Zeit sein, die räumlichen Rahmenbedingungen für die Inklusion von Personen in die Gesellschaft politisch zu konturieren und pädagogisch zu vermitteln. Nun sollten die mehrfachen Verweise auf Finnland nicht dazu dienen, diesen Staat problemlos als Modell für solche Rahmenbedingungen vorzustellen, zumal auch Finnland gegenwärtig das ökonomische Wachstum zu einem unhinterfragten Selbstzweck erhoben hat und bereit zu sein scheint, die Erfolge des finnischen Systems »durch unreflektierte Modernisierungssucht zu zerstören« (Matthies 2009: 286). Zudem dürfte es spätestens in unserer Epoche der Globalisierung und einer damit einhergehenden »postnationale(n) Konstellation« (Habermas 2005: 345) an der Zeit sein, den nationalen Raumbezug als historisch aufhebbar zu begreifen. Aber in welcher Synthese?
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Bezieht man zur Beantwortung dieser Frage die Überlegung des neuen Kieler Oberbürgermeisters Torsten Albig mit ein, dass die Bundesländer als »überflüssige Ebene in Deutschland« (www.shz.de, 08.02.2010) anzusehen seien, so erschließt sich aus dem Beispiel Finnlands, dass die Synthese aus ökonomischer wie lebensweltlicher Perspektive in der Kommune hervortritt.2 Für eine solche Perspektive liegt mit der Kommunalpädagogik ein gesellschaftstheoretisch und politökonomisch begründeter erziehungswissenschaftlicher Handlungsrahmen vor, der deliberative Demokratie und Gleichgewichtsökonomie mit einer kommunal-interkulturellen Identitätsbildung verbindet (vgl. Richter 2008). Die Notwendigkeit einer umfassenden Bildungsoffensive beschränkt er für das Schulalter nicht nur auf die Einrichtung von Ganztagsschulen, sondern verbindet sie in der Form einer Ganztagsbildung mit der außerschulischen Bildung: »Wenn sich moderne, d.h. gesellschaftliche Bildung überhaupt organisieren lässt, dann nicht durch eine Ausweitung von Schule als Unterricht und auch nicht durch eine angehängte Betreuung, sondern nur durch die Integration von formellem und nicht-formellem Lernen, also vor allem durch eine neue institutionalisierte Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe unter Einbeziehung von Eltern und Familien.« (Otto/Coelen 2004: 8)
In der Form multi-aktiver Bildungszentren ließe sich so die Perspektive für eine Gesellschaft für alle bilden, die das »Gefühl der Zugehörigkeit« in der Einheit von »Bourgeois« und »Citoyen« demokratisch versprachlicht.
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Inklusion Hinweise zur Verortung des Begriffs im Rahmen der internationalen politischen und sozialwissenschaftlichen Debatte um Menschenrechte, Bildungschancen und soziale Ungleichheit Iris Beck und Sven Degenhardt
1 E INLEITUNG Es scheint, dass die bundesdeutsche Debatte um eine »Inclusive Education« (also um eine Inklusion in Bildung und Erziehung) ein wenig an die Plattentektonik unseres Planeten erinnert: Da wandern zwei riesige Platten entweder aufeinander zu oder sie schrammen enorm aneinander und es passiert erst einmal eine ganze Weile nichts. Jedenfalls nichts Wahrnehmbares. Es bewegt sich und schrammt – mehr nicht. Bis es zu einer »lösenden Bewegung« kommt. Und an dieser Stelle stößt der Vergleich an seine Grenzen, denn diese lösende, energiereiche und wahrnehmbare Bewegung zieht auf dem Gebiet der Plattentektonik dramatische und existenzbedrohende Ereignisse nach sich. Erdbeben haben – aus Sicht der eine Zivilisation formenden Menschheit – ausschließlich negative Folgen. Sie sind schwer bis überhaupt nicht vorhersehbar und führen in Kombination mit menschlichen Lebensräumen fast folgerichtig zu Katastrophen. Dennoch soll der Gedanke wieder aufgegriffen werden. Seit Jahren gibt es eine »Plattenbewegung«, ob frontal oder schrammend, auf jeden Fall hierzulande lange Zeit, denkt man an das Erscheinungsjahr des Salamanca-Statement (1994), nur von einigen wenigen wahrgenommen und in der
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innewohnenden Energie beim Namen genannt: Inklusive Angebote der Bildung und Erziehung im schulischen Kontext und darüber hinaus – denn mit Inklusion sind immer alle Lebensbereiche angesprochen – heißen alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen willkommen, ob männlich oder weiblich, gleich welcher Religion oder Weltanschauung, unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Minorität oder dem verfügbaren Einkommen und ohne sortierenden, gruppenbildenden Blick auf Kriterien wie »Begabung« oder Behinderung. Eine wahrhaft bedrohliche Scholle, die da auf das bundesdeutsche System der Bildung und Erziehung zurollt, bedrohlich auch und vor allem für das Schulsystem. Aber die Erdbebenregionen sind weit, die (westliche) Welt- und Wertegemeinschaft schaut doch lieber auf die armen Länder und – um im Bild zu bleiben – die bundesdeutsche Schule ist sowieso erdbebensicher! Hat man das Salamanca-Statement und sogar den Besuch des Special Rapporteur on the right to education, Vernor Muñoz, im Jahr 2006, noch mehr schlecht als recht medial beherrschen können; die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) (UN 2006; 2008) einschließlich des Protokolls ließ die Gräben aufbrechen: Das aktuelle bundesdeutsche Schulsystem verweist auf Phänomene der fehlenden Chancengleichheit durch tradierte, intransparente und unscharfe Selektionsmechanismen, auf ungleiche Bildungschancen in den Bundesländern, und es verweist insbesondere auf Phänomene »der Ausgrenzung oder Marginalisierung von Schülern, insbesondere von solchen mit Migrationshintergrund und von Menschen mit Behinderungen« (UN 2007: 23). Die Diskussion um die UN-BRK stellt diesen Umstand zudem in einen Zusammenhang, der die Strategie des Nicht-Wahrnehmens oder die der Sonntags-Bildungs-Reden an ihre Grenzen führt. Die UN-BRK versteht sich nicht nur in der Tradition der Education-for-All-Initiative der UNESCO, sondern sie steht in der Tradition der Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen und weist damit sowohl mit Blick auf die dort angesprochenen Regelungsbereiche wie mit Blick auf ihren Begründungs- und Geltungscharakter über die UNESCO-Initiative weit hinaus. Dies kann eine Erklärung für die aktuelle Aufgeschrecktheit der (schul-)politisch Verantwortlichen sein: das plötzliche Registrieren des Handlungsbedarfs und vor allem die Tatsache, dass die Hinweise auf den Entwicklungsbedarf in einem Menschenrechtszusammenhang auch auf völkerrechtlicher Ebene diskutiert werden. Es scheint sich zu rächen, dass die Diskussion um das Recht auf Bildung bisher verengt auf die kostenfreie Grundschulbildung und die um das Recht auf eine inklusive Schule
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als eine um ein integratives System wahrgenommen wurde; globale Verankerung und interkultureller Dialog waren und sind keine Einbahnstraßen! Im Folgenden sollen Hinweise auf zentrale globale und nationale Vereinbarungen und Erklärungen gegeben werden, die für die aktuelle Situation der bundesdeutschen Diskussion um Inklusion in Bildung und Erziehung bedeutsam sind bzw. zu deren Neu-Ausrichtung Beachtung finden sollten. Anschließend werden Hinweise auf die Verortung des Inklusionsbegriffs insbesondere im Rahmen der Lebenslagen- und Ungleichheitsforschung gegeben, weil sich enge Verbindungen zwischen der politisch-normativen und der wissenschaftlichen Debatte aufzeigen lassen und beide Stränge Inklusion in einen breiteren Rahmen als einzig schulische Fragen stellen. Die Problematik der Inklusion steht international im Zusammenhang mit der generellen Problematik von gerechten Zugangschancen zu Lebensbereichen, von Gleichheit und Gerechtigkeit, Menschenwürde, Menschen- und Bürgerrechten. Damit sind aber gesellschaftspolitisch im weltweiten Maßstab drängende Verteilungsfragen und -konflikte angesprochen, und diesen verdankt die Ungleichheitsforschung auch ihre wissenschaftliche Aktualität. Diese Problematiken verdeutlichen, dass a) isoliert auf einen Lebensbereich oder eine Institution zielende Strategien bei der Umsetzung von Inklusion ebenso verfehlt sind wie b) die Ausblendung der Verbindung von Problemen der Teilhabe behinderter Menschen mit generellen Problemen sozialer Ungleichheit, und dass c) Problematiken, die für Entwicklungsländer konstatiert werden, Parallelen in Industriestaaten haben. Vor diesem Hintergrund stellt die interkulturelle Diskussion und Transformation von Inklusion eine für die bundesdeutsche Entwicklung und Umsetzung inklusiver Strategien notwendige Erweiterung dar.
2 B ILDUNGSRECHT ALS M ENSCHENRECHT 2.1 Die UNO-Konventionen zu Menschenrechten und Bildung Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 wurde in zwei großen Vereinbarungen, dem UN-Zivilpakt und dem UN-Sozialpakt, aufgegriffen und detaillierter ausformuliert. Diese Aufteilung der Allgemeinen Erklärung auf zwei »Pakte« war bedingt durch konträre Grundauffassungen der beiden großen Weltblöcke zum Thema Menschenrechte
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und kann als Versuch gesehen werden, die Menschenrechtsdebatte trotz dieser Unterschiede auf globaler Ebene weiterführen zu können. Doch muss konstatiert werden, dass erst mit dem Ende des Kalten Krieges, formal auf der Wiener UN-Menschenrechtskonferenz 1993, eine übergreifende Anerkennung der »Unteilbarkeit und Universalität der bürgerlichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte« (online siehe DIMR1) stattgefunden hat. Zuvor folgten die westlichen Staaten der Auffassung, dass die bürgerlichen und politischen Menschenrechte als Fundamentum anzusehen sind; dem folgend wurden soziale und kulturelle Menschenrechte als nachrangige Absichtserklärung eingeordnet. »Viele sozialistische Staaten und Entwicklungsländer hingegen betonten die Erfüllung wirtschaftlicher und sozialer Bedürfnisse als Voraussetzung für eine ›Gewährung‹ bürgerlich-politischer Menschenrechte. So geriet die Unteilbarkeit der Menschenrechte durch die Blockbildung im Kalten Krieg aus dem Blick.« (Ebd.)
Wie schwierig diese Zweiteilung der Menschenrechte im konkreten politischen Alltag war, wird auch deutlich, wenn man sich verdeutlicht, dass die Bundesrepublik Deutschland erst 1973 beide Pakte ratifizierte. Ausgehend von Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte »Jeder hat das Recht auf Bildung« (UN 1948) wird im UN-Sozialpakt Artikel 13 dieses grundlegende Menschenrecht gestärkt: (1) »Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf Bildung an. Sie stimmen überein, dass die Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und des Bewusstseins ihrer Würde gerichtet sein und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten stärken muss. Sie stimmen ferner überein, dass die Bildung es jedermann ermöglichen muss, eine nützliche Rolle in einer freien Gesellschaft zu spielen, dass sie Verständnis, Toleranz und Freundschaft unter allen Völkern und allen rassischen, ethnischen und religiösen Gruppen fördern sowie die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Erhaltung des Friedens unterstützen muss.« (UN 1966a: o.S.)
Ein zweiter Strang knüpft an Artikel 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UN 1948) an und benennt ihn im UN-Zivilpakt Artikel 26 ausdrücklich mit der Begrifflichkeit der Diskriminierung:
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»Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. In dieser Hinsicht hat das Gesetz jede Diskriminierung zu verbieten und allen Menschen gegen jede Diskriminierung, wie insbesondere wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status, gleichen und wirksamen Schutz zu gewährleisten.« (UN 1966b: o.S.)
Eine wesentliche Zusammenführung dieser beiden Stränge leistet die UNKinderrechtskonvention (1989), indem sie in Artikel 2 das Diskriminierungsverbot und in Artikel 28 das Recht auf Bildung exponiert formuliert. Dabei wird in der »Kriterienauflistung« explizit die Kategorie Behinderung genannt (die bisher lediglich unter »sonstiger Status« geführt wurde). Das Recht eines behinderten Kindes auf Bildung wird in Artikel 23 thematisiert; sehr zurückhaltend wird jedoch (noch) von dem »Recht des behinderten Kindes auf besondere Betreuung« (Abschnitt 2) und von der sicherzustellenden Unterstützung gesprochen: »Erziehung, Ausbildung, […] [sind] dem behinderten Kind tatsächlich in einer Weise zugänglich [zu machen], die der möglichst vollständigen sozialen Integration und individuellen Entfaltung des Kindes einschließlich seiner kulturellen und geistigen Entwicklung förderlich ist.« (UN 1989: 19)
Diese Entwicklungslinien, verbunden mit dem Ende des Kalten Krieges, ermöglichten der UNESCO 1990 auf der Konferenz in Jomtien, die »World Declaration on Education For All« mit dieser grundlegenden Menschenrechtsbezug einzuleiten: »More than 40 years ago, the nations of the world, speaking through the Universal Declaration of Human Rights, asserted that everyone has a right to education« (UNESCO 1990: 5). Die Education-for-All-Bewegung führt seitdem Initiativen der UNESCO, UNDP, UNFPA, UNICEF und der Weltbank sowie unzähliger NGO’s zusammen, koordiniert diese auf transnationaler und supranationaler Ebene und legt der Weltgemeinschaft über Jahres- und Länderreports Rechenschaft über das Geleistete ab. Unschätzbar ist dabei insbesondere die Koordination zwischen den Weltorganisationen. Der ebenfalls 1990 eingeführte Human Development Index (HDI) beschreibt den Entwicklungsstand bzw. -grad der Länder der Welt und teilt diese in die drei Gruppen: High – Medium – Low Human Development
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ein (vgl. online UNDP). Ausgehend von einem neuen Entwicklungsbegriff und in Abkehr von der ausschließlichen Fixierung auf die Wirtschaftskraft und das Nationaleinkommen eines Landes gibt es im HDI einen relativ hoch gewichteten Faktor »Bildung«. Darin ist z.B. die Alphabetisierungs- und Einschulungsrate erfasst. Mit diesem Instrument will die Weltgemeinschaft vor allem die Länder des Südens und die Schwellenstaaten dazu zwingen, mehr in Bildung zu investieren. Das ist ehrenhaft und richtig, vielleicht auch alternativlos, aber in der politischen Wirklichkeit besteht die Gefahr, dass insbesondere durch die Anbindung des HDI an Leistungen der Weltbank die Nehmerländer der Versuchung nach einem »kreativen Umgang« mit den Zahlen erliegen könnten. Zehn Jahre nach Jomtien, im Jahr 2000, wurde die Education-forAll-Bewegung noch einmal in Dakar (UNESCO 2000) neu aufgegriffen und in Verbindung mit den Millennium Development Goals (MDG) (UN 2000), insbesondere dem Ziel 2, wonach Jungen und Mädchen einen gleichberechtigten, vollständigen und kostenfreien Zugang zur Primarschulbildung erhalten sollen, aktualisiert. Bezüglich der Ursachen für die Marginalisierung von Kindern im Bildungskontext stellen sich auf globaler Ebene zahlreiche drängende und große Problemlagen wie Armut, Kinderarbeit, Zugehörigkeit zu ethnischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten oder die Kastenzugehörigkeit, neben Krankheit (wie z.B. HIV) und Behinderung. Einer Schlussfolgerung, wonach diese Problemlagen vorrangig Länder des Südens oder Schwellenländer betreffen, stellt sich der Education-for-All-Global-Monitoring-Report 2010 mit aller Klarheit entgegen: »Trotz der unterschiedlichen Ausprägung von Marginalisierung in Industrie- und Entwicklungsländern gibt es zwei wichtige Gemeinsamkeiten. Erstens sind dies sehr unterschiedliche Voraussetzungen der einzuschulenden Kinder. Sie führen dazu, dass bestimmte Gruppen von Anfang an stärker Gefahr laufen, in der Schule zu scheitern. Zweitens perpetuieren und verstärken die Bildungssysteme häufig soziale Benachteiligung.« (DUK 2010: 12)
Ein Ergebnis, das leider auch vom Sonderinspekteur Muñoz in Bezug auf das bundesdeutsche Schulsystem herausgearbeitet wurde (vgl. UN 2007).
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Abbildung 1: Drei Zugangswege zur »Education for All« im bundesdeutschen Schulsystem Dass es sich bei derartigen Marginalisierungs- und Diskriminierungsprozessen in Bezug auf Teilhabe an Bildung zutiefst und zentral um Menschenrechte handelt, arbeitet die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) heraus. Nicht erst durch die Anbindung der Monitoring-Stelle zur UN-BRK verfolgt das Institut für Menschenrechte in Berlin seine Aufgabe und fördert »durch Information und Dokumentation, Beratung von Politik und Gesellschaft, anwendungsbezogene Forschung, Menschenrechtsbildung, Dialog und Zusammenarbeit im nationalen und internationalen Rahmen« (online DIMR2). In Beiträgen von Aichele (2008), Bielefeldt (2009) und Kämpf/Würth (2010) werden Denkanstöße auch für die bundesdeutsche Schulpolitik vor dem Argumentationshintergrund der Menschenrechte vorgelegt.
2.2 Die Konventionen und Initiativen der UNO im Bereich Behinderung Die UN-BRK verankert – zumindest in der nach Artikel 50 der Konvention und Artikel 18 des Protokolls völkerrechtlich und damit auch in der Bun-
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desrepublik Deutschland verbindlichen (englischen) Sprachfassung – den Begriff des »Inclusive Education System« (UN 2006/2008: 1436). Der gescheiterte Versuch, sich der Debatte um Änderungen des Schulsystems durch eine gefälligere (und in der deutschen Gesetzesfassung immer noch verwendete) Übersetzung als »integratives Bildungssystem« (ebd.) zu entziehen, ist wohlbekannt. Nicht durchgesetzt hat sich jedoch die notwendige Schlussfolgerung aus diesem Desaster: Die Diskussion um Begriffe wie »Education for All«, »Bildung für alle«, »Schulen für alle«, »Inklusion« usw. erfordert einen konsequent globalen und interkulturellen Zugang. Dass sich die bundesdeutsche (Fach-)Öffentlichkeit jedoch mit Verweisen auf globale Wichtungen der Problemlagen und einer damit zusammenhängenden interkulturellen Diskussion der UN-BRK sehr schwertut, belegen aufgeregte Reaktionen auf Einordnungen wie z.B. die folgende: »Um nicht falsch verstanden zu werden: Wenn die Analyse der o.g. Papiere nahelegt, dass ›Education for All‹ – global gesehen – im Kern das Problem von nicht beschulten Mädchen in Indien, die Frage des Rechts auf Schule bei Minoritäten in China, die Frage von HIV-infizierten Kindern in Afrika, also letztendlich die Frage von Armut und Bildung in vielen Facetten abbildet, dann ist dieser Verweis keine Abwertung (im Sinne: Das ist nicht unser Problem, das interessiert uns nicht.). Im Gegenteil! Vor dem Hintergrund einer über 10-jährigen Tätigkeit in der Entwicklungszusammenarbeit und aus der Erfahrung interkultureller Differenzen heraus muss immer wieder darauf verwiesen werden, dass bei der Rezeption derartiger Papiere wahrzunehmen ist, vor welchem Hintergrund sie geschrieben wurden. Unter globaler Perspektive sind natürlich die [5]00.000 schulpflichtigen Kinder mit Behinderung in Deutschland jedes für sich wesentlich – aber bei der weltweiten Education-for-All-Bewegung geht es zuerst einmal quantitativ um ganz andere Größenordnungen und Problemfelder. Der Verweis darauf ist keine Abwertung, sondern eine Einordnung.« (Degenhardt 2009: 169f.)
Trotz mehrfacher Rückversicherungen und ausdrücklicher Warnungen vor kurzschlüssigen Interpretationen dieser Zeilen als »Schutzschildbehauptung« zur Rechtfertigung bundesdeutscher Selbstzufriedenheit wurde diese Aussage auf dem XXXIV. Kongress der Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen 2008 in Hannover heiß diskutiert und stellenweise mit starker Betroffenheit zurückgewiesen. Diese (zumeist emotionale) Abwehr erschwert aber sowohl das Beachten des durch
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den Education-for-All-Global-Monitoring-Report 2010 herausgearbeiteten globalen Wirkmechanismus von Armut und Bildungschancen in den Ländern des Südens und (!) des Nordens (s.o. und DUK 2010: 12), als auch die (später ausführlich dargestellte) Herausforderung, das Problemfeld zentraler in den Kanon der Entwicklungszusammenarbeit aufzunehmen. Aber auch auf politischer Ebene scheinen Hinweise auf globale Gewichtungen eher Ansatzstellen für grundsätzliche Kritik zu sein. So kritisiert unlängst der frisch bestellte Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Hubert Hüppe, die Denkschrift der Bundesregierung (Deutscher Bundestag 2008), an der – nebenbei angemerkt – seine Partei federführend beteiligt war, wie folgt: »Wenn Sie die Denkschrift der Bundesregierung zur Ratifizierung der UN-Konvention lesen, haben Sie den Eindruck, es sei schon alles geschehen und diese Konvention sei eigentlich nur etwas für Dritte-Welt-Länder.« (Hüppe 2010: 4)
Dabei bezieht er sich wahrscheinlich auf die Aussage der Denkschrift: »Dem Großteil der weltweit rund 650 Millionen behinderten Menschen wird das Übereinkommen erstmalig einen Zugang zu universell verbrieften Rechten verschaffen […]. Zwei Drittel der etwa 650 Millionen Menschen mit Behinderungen leben in Entwicklungsländern.« (Deutscher Bundestag 2008: 46)
Die sich direkt anschließenden Ausführungen jedoch scheinen Hüppe für seine Gesamtwertung nicht dringlich genug formuliert zu sein: »Mit dem Übereinkommen wird der in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch eingeleitete Paradigmenwechsel weiter vollzogen werden. Das Übereinkommen stärkt die Rechte von Menschen mit Behinderungen und wird damit wichtige Impulse für die weiteren Veränderungsprozesse setzen mit dem Ziel der vollen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft.« (Ebd.)
Nun hat die Druckvorlage 16/10808 einschließlich der Denkschrift reichlich Kritik verdient (z.B. im Bezug auf die einleitende Grundaussage des Gesetzesentwurfs, wonach keinerlei finanzielle Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte zu erwarten wären [ebd.: 2]), der Verweis auf globale Problemzusammenhänge (Armut, soziale Ungleichheiten, Minoritäten
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etc.) muss jedoch nicht nur »erlaubt« sein, der Verweis muss einen interkulturellen Dialog zur »Erschließung« der UN-BRK in politischen und fachlichen Kontexten nach sich ziehen. Weitere interkulturelle Probleme haben (nicht angloamerikanisch sozialisierte) Rezipienten/-innen auch bei der Rezeption des Salamanca-Statements (UNESCO 1994) und der angloamerikanischen Schriften zur »Inclusive Education«. Nur das Übersetzen aus dem Englischen führt noch nicht zu einem tiefen Verstehen. Interkulturell steckt in diesen Texten viel mehr: Eine der Wurzeln der Inclusive Education ist die amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Eine Tradition, die Europa beobachtet und goutiert, jedoch in dieser Form nicht durchlebt hat. In der Diskussion um »Inclusive Education« wird auch die US-amerikanische Gerichtspraxis verarbeitet, in der jeder Einzelfall über ein Geschworenengericht seine Rechte durchklagt und eine Schule dazu zwingt, ihre Finanzierung (über die sie frei verfügen kann) umzustellen. Was im angloamerikanischen Bereich unter inklusiver Pädagogik verstanden wird, bedarf einer interkulturellen Diskussion und Transformation! Ein weiterer, sehr bedeutsamer Aspekt mit Blick auf die Transformation von Inklusion, der u.E. in der deutschen Debatte auffällig stark vernachlässigt wird, kommt hinzu: Schon das Salamanca-Statement (UNESCO 1994), in weitaus stärkerem Maße aber die UN-BRK, behandeln die Frage von Bildung und Erziehung sowohl institutions- und lebensphasenübergreifend (nehmen also nicht nur die Schule als Bildungseinrichtung in den Blick) als auch im Rahmen einer Betrachtung von Lebenslagen und Zugangschancen zu Lebensbereichen insgesamt. Dabei nimmt im Salamanca-Statement die Rolle des Gemeinwesens einen prominenten Stellenwert ein, oder, mit Thimm (2005: 327) gesagt: »Die individuenbezogene Perspektive bedarf dringend […] der Ergänzung durch eine sozial-räumliche Perspektive. Die Feststellung von individuellen Hilfen zur Integration und Partizipation […] und deren Legitimation laufen ins Leere, wenn nicht gleichzeitig die Gestaltung der Infrastruktur der sozialen Räume, in denen Partizipation und Integration verwirklicht werden müssen, in Angriff genommen wird.« (Thimm 2005: 327)
Im Salamanca-Statement werden sehr deutliche Aussagen zur Notwendigkeit einer nie isoliert nur auf eine Institution gerichteten Inklusionsstra-
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tegie und Hinweise zur Etablierung unterstützender Strukturen weiterer, für ein Leben in der Familie und einen Schulbesuch notwendiger, Hilfen getroffen. Folgt man dem Salamanca-Statement in Gänze, kann es keine schulische Inklusion ohne ein inklusives Gemeinwesen geben. Diesbezüglich sind in das Salamanca-Statement mit hoher Wahrscheinlichkeit die jahrzehntelangen breiten Erkenntnisse aus Forschungsprojekten und Praxisimplementationen gemeinwesenbezogener Ansätze, die vor allem in Skandinavien und den angloamerikanischen Ländern einen hohen Stellenwert haben, eingegangen. Denn im horizontalen Gefüge der einzelnen Lebensbereiche eines behinderten Menschen kann es durch unzureichende Kooperation oder fehlende Hilfeangebote zu erheblichen Problemstellen kommen. Diese Fragen haben aber große Bedeutung für die Organisation der schulischen Bildung, ihre Ziele, Aufgaben und Wirksamkeit. Besonders in den Blick rücken müssen daneben die vertikalen Übergänge im Lebenslauf wie die vom Kindergarten in die Schule, von der Schule in Ausbildung, Beruf und in die eigenständige Lebensführung. Insofern geht es einmal um die Veränderung aller (allgemeinen und besonderen) Bildungs- und Erziehungsangebote vom Früh- bis zum Erwachsenenbereich und zum Zweiten um die Frage, welche Zugänge und Ressourcen insgesamt in einem Gemeinwesen vorhanden sein müssen, damit eine gelingende Lebensführung – und auch der Schulbesuch – ermöglicht wird. Auch in die UNO-BRK dürften diesbezüglich die Erfahrungen jahrzehntelanger Bemühungen um Gemeinweseneinbindung eingegangen sein, u.a. im Rahmen der Community-Based-Rehabilitation-Programme der WHO in Entwicklungsländern und der Umsetzung der UN-Resolution 48/96 »Rahmenbestimmungen zur Herstellung der Chancengleichheit Behinderter« von 1993 (vgl. online UN).
3 E NT WICKLUNGSARBEIT ALS TR ANSFORMATIONSFELD – B EISPIEL VR C HINA Ein Feld, auf dem die oben intensiv eingeforderte interkulturelle Diskussion und Transformation zur Inclusive Education für alle Beteiligten vorteilhaft sein könnte, ist das Feld der Entwicklungszusammenarbeit. Steht die entsprechende Forderung nach internationaler Zusammenarbeit in der UN-Kinderrechtskonvention noch als Abschnitt in einem Artikel (Abschnitt 3, Artikel 28), so formuliert die UN-BRK die Grundsätze der inter-
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nationalen Zusammenarbeit als eigenständigen Artikel 32. Damit betritt die UN-BRK auf diesem Gebiet Neuland und fordert – zumindest moralisch – die Länder des Nordens auf, sich ihrer Selbstverpflichtung zur (Mit-)Finanzierung der Education-for-All-Bewegung zu stellen. »Im Jahr 2000 haben die Industrieländer versprochen, dass kein Land, welches sich den EFA-Zielen verpflichtet hat, daran aufgrund fehlender Finanzmittel scheitern würde. Die globale Rezession hat die Bedeutung dieses Versprechens noch einmal verstärkt. Geringere Wachstumsraten und steigender Druck auf öffentliche Haushalte gefährden die über das letzte Jahrzehnt hart erarbeiteten Erfolge. Sich dieser Gefahr entgegenzustellen, bedeutet nicht nur die Entwicklungshilfe zu erhöhen, sondern auch ihre Qualität zu verbessern.« (DUK 2010: 16)
Die aktuelle politische Neuausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland lässt genau in diesem Feld Fragen offen; wird doch z.B. die Einstellung der Entwicklungszusammenarbeit mit der VR China beispielhaft dem/der wählenden Steuerzahler bzw. Steuerzahlerin als lange überfällig und notwendig präsentiert. Doch in welcher Situation befinden sich behinderte Kinder in der VR China, insbesondere in der Frage nach der Einlösbarkeit des in der UNBRK geforderten und mit der Ratifizierung am 01.08.2008 (also noch »rechtzeitig« vor den Olympischen und Paralympischen Spielen in Beijing 2008) anerkannten Rechts auf eine unentgeltliche, hochwertige und inklusive Bildung? Die VR China ist ein Land mit Widersprüchen, das in seiner Art und in seinem Ausmaß schnell die europäischen Erklärungsmuster überfordern: ein Land mit Wirtschaftskraft, mit erstarktem politischen Willen, als führende Weltmacht anerkannt und beachtet zu werden, und gleichzeitig ein Land, das in vielen Bereichen aus den Rahmensetzungen eines Entwicklungslandes nicht herausgewachsen ist. Mit einem HDI von 0.772 wird China 2009 auf dem 92. Rang der Weltgemeinschaft in der Gruppe der Länder mit dem Status »Medium Human Development« eingeordnet; in der Selbstdarstellung erlebt China »einen Wandel von Rückständigkeit zu einer Blütezeit« (Verlag für fremdsprachige Literatur 2009: 173). Dass diese Blütezeit ein (fast ungehindertes) Aufblühen der Schattenseiten kapitalistischen Strebens nach Profit ermöglicht, das zu einer Mischung aus Habgier, Korruption und Ausgrenzung derer, die es »nicht schaffen« führt, ist hinlänglich beschrieben (vgl. u.a. Kropp 2009). In der konkreten tiefen
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Ausformung und in der Langzeitwirkung scheinen die Prozesse jedoch kaum erfassbar. Chinesische Bildungstraditionen (homogene Gruppen), ein tradiertes Gerechtigkeitsverständnis (gerecht ist, was allen in gleichen Teilen zugute kommt) und eine alle Ebenen erfassende »Überforderung«, die durch die Größe und die rasante Geschwindigkeit der Veränderungen und das noch nie dagewesene Modell eines sozialistischen Überbaus bei einer kapitalistischen Basis entsteht, prallen aufeinander. Einerseits wird in der Verfassung das Recht auf Bildung für alle Bürgerinnen und Bürger der VR China festgeschrieben (in der gültigen Verfassung regelt z.B. Artikel 19 die allgemeine Grundschulpflicht; vgl. online PRC); Schulgeld bzw. vergleichbare Gebühren verhindern aber bis heute den Zugang zur Primarschule für Kinder aus armen Familien vor allem auf dem Land. Wurde 2000 die Beschulungsquote blinder und sehbehinderter Kinder (an Sonderschulen) in der Fachöffentlichkeit noch mit 3 Prozent (4700 von 150.000) angegeben (vgl. Wang Zhu 2001: 109) und derzeit optimistisch auf ca. 30 Prozent geschätzt, gingen und gehen die offiziellen staatlichen Zahlen von einer Beschulungsquote von 60-70 Prozent aus. Neben einer Politik des schönen Scheins (vgl. Tretter/Buchacher 2009: 65) kann auch das Festhalten an starren und tradierten Kriterien der Schul- bzw. Bildungsfähigkeit ursächlich für diese Unterschiede sein. »Der Staat hat eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen erlassen, um das Recht der Behinderten auf Bildung zu unterstützen: Neben den Sonderschulen dürfen alle behinderten Kinder und Jugendlichen, die dem normalen Lernen gewachsen sind, die allgemeinen Grund- und Mittelschulen besuchen« (Verlag für fremdsprachige Literatur 2009: 173). Die Kinder, die den Anforderungen einer Sonderschule nicht entsprechen, »brauchen« – so scheint es aus ferner Draufsicht – keine Bildung und fallen daher nicht in die Gruppe derer, die einen Anspruch auf die verfassungsmäßige Grundschulpflicht einfordern können. Dies wird auch in weiten Teilen einer »aufgeklärten« Fachöffentlichkeit nicht oder kaum hinterfragt. In der aktuellen öffentlichen Diskussion um den Zehnjahresplan 2010-2020 gibt es (dank der UN-BRK?) ein eigenständiges Kapitel zur Sonder(schul)bildung. Neben der ausdrücklichen Forderung nach dem Ausbau der Sonderschulen (mindestens eine Sonderschule in einer Stadt mit 300.000 Einwohnern) wird ebenso klar gefordert, Schulen jeder Art und auf jeder Ebene zu motivieren und zu unterstützen, Menschen mit Behinderungen aufzunehmen, damit der Umfang der integrativen/inklusiven Beschulung (auch in der chinesischen Fachsprache gibt es die Integration-Inklusion-Übersetzungs-
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Unschärfe) und der Sonderklassen an den Regelschulen erweitert werden kann. Weiterhin sollen die vorschulische Erziehung/Frühförderung entsprechend der örtlichen Gegebenheiten ausgebaut, das Niveau der allgemeinen Pflichtbeschulung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung gehoben, die berufliche Ausbildung und insbesondere die Entwicklung der Hochschulbildung für Menschen mit Behinderungen energisch vorangetrieben und die staatliche Finanzierung auf Grundlage eines kindbezogenen Kosten-Standards realisiert werden (erste freie Übersetzung: YueXin Zhang und Huang Dong). In dieser Situation stellt sich ein Projekt unter Förderung des Hilfswerkes MISEREOR das Ziel, einen deutsch-chinesischen Dialog über die Beschulung blinder und sehbehinderter Kinder und Jugendlicher an chinesischen Regelschulen zu führen. Eine interessante Erfahrung aus den vorangegangenen blindenpädagogisch ausgerichteten MISEREOR-Projekten im Zeitraum 2002-2008 soll dabei mit hoffentlich vergleichbarem Erfolg umgesetzt werden: Die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) konnte erfolgreich zur interkulturellen Diskussion um den Paradigmenwechsel der WHO in Bezug auf den Umgang mit und die Definition von Behinderung eingesetzt werden. Die ICF, in chinesischer Sprache als offizielle WHO-Version vorliegend, dient explizit zur internationalen (und interdisziplinären) Verständigung über Behinderungsfolgen, die auch den Diskurs über die Geltung jeweiliger kultureller Normen und Einstellungen einschließt. Wenn es nunmehr gelingen könnte, die Intention der UN-BRK gleichermaßen förderlich als Leitfaden für die Bildungskooperation einzusetzen, kann eine Zielstellung für den Gebrauch der UN-BRK in der Entwicklungszusammenarbeit zum Tragen kommen: »Der Vorteil für die Entwicklungszusammenarbeit liegt auf der Hand: Sie selbst ist nicht die Überbringerin schlechter Nachrichten, sondern bezieht sich auf ein System von Normen, Verfahren und Gremien, dem sich das Partnerland angeschlossen hat, und bekräftigt dessen Eigenverantwortung.« (Kämpf/Würth 2010: 19)
Zurzeit scheinen jedoch die (schul-)politischen Vorbehalte gegenüber den deutschen Partnern, die sich insbesondere auf dem Feld der Menschenrechte »gerne und oft« in die »inneren Angelegenheiten« Chinas einmischen, vor allem auf der mittleren, regionalen Entscheidungsebene relativ fest. Hier gilt es vor allem für die chinesischen Partner, mit positiven Bei-
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spielen und der Verbindung von UN-BRK und 10-Jahresplanzielen diese Reserviertheit aufzuweichen. Neben der Verantwortung, die die Bundesrepublik Deutschland auf dem Feld der Stärkung der Menschenrechte allgemein und des Rechtes auf Bildung im Besonderen international wahrnimmt und stützend den Education-for-All-Prozess in anderen Staaten begleiten muss, entstehen aus der Bildungskooperation auch Nachfragen an das eigene Vorgehen im Education-for-All-Prozess. Schaut man auf die bundesdeutsche Entwicklung in Bezug auf das ungeteilte Recht auf Bildung, werden Brüche und ungleich gewichtete Aktionsphasen deutlich. So verhallte 1973 der eindringliche Appell des Bildungsrats für eine Stärkung gemeinsamen Lernens von behinderten und nichtbehinderten Kindern ebenso ungenutzt wie 1989/90 die Chance, die international nicht derart ausschließlich mit sozialistischen Erziehungsmodellen verbundene Idee einer gemeinsamen achtjährigen Allgemeinen Schule auch nur auszugsweise nach potentiellen Vorteilen abzuklopfen. Die Kultusministerkonferenz hat mit den Empfehlungen zur Sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1994 bis 2000 Ziellinien vorgelegt. Deren Pflege und insbesondere das Kompatibel-Machen mit Initiativen der UNESCO (Salamanca) hat sie dann jedoch zurückhaltend betrieben. Ein Schwerpunkt auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem stellte fortan die konzentrierte Beschäftigung mit dem Feld der Heterogenität im Zusammenhang mit Migration dar (vgl. KMK 2002; 2006; 2007). Die einberufene Arbeitsgruppe der KMK zur Überarbeitung der 1994er Empfehlung scheint das Thema Inklusion auftragsgemäß nur von der »sonderpädagogischen Seite« anzugehen; es fehlen Zeichen der KMK, das Thema Inklusion als Thema der allgemeinen Schulentwicklung anzuerkennen. In europäischen und außereuropäischen Projekten der Bildungskooperation in Forschung und Lehre fallen derartige Stolpersteine der eigenen Geschichte auf; ebenso erscheint der Abstand zwischen der Verabschiedung des UN-Zivilpaktes, dessen Ratifizierung und der 1994er Ergänzung des Grundgesetzes zurückblickend als sehr groß. Andererseits liegen mit dem Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch (IX) 2001 (insbesondere mit dem § 4 SGB IX über die Leistungen für behinderte Kinder und Jugendliche), mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) 2006 und mit den Gleichstellungsgesetzen der Länder weitreichende Bestimmungen zur Förderung einer umfassenden Teilhabe vor, die wiederum sehr unzureichend mit dem Schulbereich verknüpft sind bzw. hiervon
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wahrgenommen zu werden scheinen, auch wenn in den KMK-Empfehlungen selbst zumindest die Übergänge vom Elementar- in den Primar- und vom Sekundar- in den Berufsbildungsbereich thematisiert sind.
4 I NKLUSION ALS L EITBEGRIFF DER D ISKUSSION UM SOZIALE U NGLEICHHEIT UND L EBENSCHANCEN Integration und Inklusion sind keine einheimischen Begriffe der Pädagogik, sondern stellen einerseits als politische Leitbegriffe auf Probleme der Vergesellschaftung, der Art und Weise des Zusammenlebens ab. Andererseits sind es wissenschaftliche Kategorien, die in unterschiedlichen Disziplinen verwandt werden und dort, z.B. in der Soziologie, wiederum in unterschiedliche Theorietraditionen eingebunden sind. Beide Begriffe sind international sowohl in der politischen als auch der wissenschaftlichen Diskussion unterschiedlich stark verankert. So spielt der Integrationsbegriff in vielen Ländern traditionell eine gegenüber dem Inklusions- oder Partizipationsbegriff untergeordnete Rolle im politischen Zusammenhang, teilweise auch in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, bzw. variiert der Verwendungszusammenhang sehr stark. Weisser konstatiert für den Partizipationsbegriff – und dies gilt genauso für Integration und Inklusion –, dass ihnen ein »Reflexions- und ein Reformwert« (Weisser 2010 i.E.) zukomme. Die Begriffe verweisen auf ein soziales Problem (den Zugang zu und die Art und Form der Beteiligung an Lebensbereichen) und zugleich kommt ihnen »ein Reformwert zu, der auf konkrete Änderungen von Praxen zielt« (ebd.). In der Soziologie bedeutet Integration die Vereinigung einer Vielfalt zu einem größeren, gemeinschaftlichen oder gesellschaftlichen Ganzen und fußt auf der Tatsache der gegenseitigen menschlichen Angewiesenheit und Abhängigkeit sowie der potentiellen Unsicherheit menschlichen Handelns. Reduktion von Komplexität über das Ausbilden stabiler Erwartungen an das Handeln verringert Unsicherheit (in der Frage: wer gehört dazu?) und vergrößert die Wahrscheinlichkeit der Sicherung von Bedürfnissen. Dabei sagt der Begriff zunächst nur, dass es zu gemeinsamem Handeln kommt, nicht, wie diese Prozesse verlaufen. Integration ermöglicht zwar aneinander orientiertes Handeln, wirkt entlastend und ermöglicht damit wiederum Optionen, sie schränkt aber zugleich auch Freiheiten ein; ihr kommt also, wie jeder Institutionalisierung, immer
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auch eine Ordnungs- bzw. Kontrollfunktion zu. Damit sind Konflikte und das Problem von Stabilität und Wandel vorprogrammiert. Gesellschaftlicher Wandel lässt sich deshalb auch als Wandel der Formen sozialer Integration beschreiben. Wandel bedeutet zunehmende Differenzierung, und während in kleinen, archaischen Gesellschaften Integration auf Verwandtschaft, Stammeszugehörigkeit oder Ähnlichkeit und der Form nach auf Solidarität beruht, werden diese Kategorien in größeren, funktional differenzierten Gesellschaften durch vielfältige Prinzipien ersetzt. Nun macht es auch einen Unterschied, ob man von der Integration einzelner Menschen und Gruppen in die Gesellschaft spricht oder von der Integration einzelner gesellschaftlicher Systeme. Diese, in der Soziologie früh getroffene Unterscheidung zwischen sozialer und Systemintegration wird von Parsons (1969) aufgegriffen und in die Differenzierung von Integration und Inklusion überführt: »Startpunkt der expliziten Entwicklung einer Theorie der Inklusion und Exklusion war Talcott Parsons […] Aufsatz ›Full Citizenship for the Negro American?‹, der eine analytische Perspektive vorbereitete, die die Inklusion größerer Bevölkerungskreise als einen Schlüsselprozess in der Ausdifferenzierung der die Moderne prägenden Funktionssysteme auffasste.« (Stichweh 2007: 113)
Niklas Luhmann (1995), dessen systemtheoretische Bestimmung des Inklusionsbegriffes die deutsche soziologische Debatte prägt, schloss an Parsons an. Demnach beschreibt die Systemintegration die Frage, wie es in funktional differenzierten Gesellschaften gelingt, Zusammenhalt auf der Gesamtebene zu ermöglichen. Wenn man nun, egal »ob wir nun soziale Differenzierung als Klasseneinteilung oder als funktionale Differenzierung auffassen« (Luhmann 1995: 238), diese Frage als Problem moralischer Solidarität sieht, dann, so Luhmann, kann es sein, »dass wir das Differenzierungskonzept mit Erklärungsansprüchen überlasten und es zu stark strapazieren« (ebd.), sprich, den Integrationsbegriff mit der Verkörperung eines »Einheitssinnes«, einer einzigen Werthaltung, die die ganze Gesellschaft moralisch »integriert«, überfrachten. Was die Systemintegration betrifft, so kann »das Ganze« nicht von einem einzigen »Einheitsgaranten« hergestellt werden. Der Integrationsbegriff wird von Luhmann auf dieser Ebene inhaltlich und funktional entlastet und beschreibt jetzt die wechselseitige Einschränkung von Freiheitsgraden der einzelnen, strukturell gekoppelten Systeme. Das Rechts- und das politische System stellen
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z.B. sicher, dass sich andere Teilsysteme der Bildung oder Wirtschaft nicht voneinander entkoppeln, wer als Bürger/-in gilt und welche Rechte ihm/ ihr zustehen. Alle Teilsysteme bilden zugleich eigene Selbstbeschreibungen aus. Die tatsächliche Teilhabe des Individuums jedoch wird mit dieser Ebene der Systemintegration nicht erfasst. Die individuelle oder gruppenbezogene Integration entsteht nicht von selbst, sie unterliegt zahlreichen Bedingungen und kann mit unterschiedlichsten Motiven und Werthaltungen verbunden sein. Der bis hierher theoretische Diskurs erfährt am o.g. Beispiel der VR China eine handfeste Konkretisierung, wenn das Bildungsrecht zwar formal gesichert ist, aber der tatsächliche Zugang durch eine Vielzahl von (niederschwelligen) Bedingungen verstellt wird; doch die Luhmann’sche Beschreibung findet eine generelle empirische Entsprechung, ohne dass die Problematik des deutschen Schulsystems hier wiederholt werden muss. Talcott Parsons Aufsatztitel steht dabei exemplarisch für die frühen Anfänge einer normativen und wissenschaftlichen Debatte um soziale Ungleichheit und Bürgerrechte, die in Deutschland heute nur unzureichend mit dem Bezug auf ein selektives Schulsystem abgebildet wird. Niklas Luhmann hat den Begriff Inklusion gewählt, um auszudrücken, dass man Zutritt zu den Teilsystemen erhalten oder präziser: kommunikativ von diesen adressiert werden muss – wenn die Lebensführung die Inanspruchnahme ihrer Funktionen nötig macht. Dieses tatsächliche Einbezogensein unterscheidet sich klar von einem formalen rechtlichen Anspruch auf Schulbesuch. Nach Stichweh (2007) dominieren in den Funktionssystemen ohnehin »vollinklusive« Selbstbeschreibungen nach dem Motto: wer schulpflichtig ist, wird natürlich vom Bildungssystem »eingeschlossen«. Genau deshalb macht es Sinn, sich die Frage zu stellen, wie sich die tatsächliche Inklusionswahrscheinlichkeit – und diese vollzieht sich auf der konkreten meso- und mikrostrukturellen Ebene zwischen Personen und Organisationen und Institutionen – gestaltet und welche Formen und Stufen sie annimmt. Stichweh, der Inklusion als die Art und Weise bestimmt, wie sich Sozialsysteme auf ihre personale Umwelt beziehen, sieht soziale Rollen als Verdichtungen von Inklusionen an, als Zusammenfassungen von Erwartungen, die Prozesse der Adressierung steuern. Werden überhaupt keine Erwartungen mehr an die Person gerichtet, herrscht Exklusion – eine Leer-Rolle, wie man sie aus den handlungstheoretischen Analysen von Goffman (Asyle) (erstmals 1961) kennt. Empirisch gewendet wäre also am Beispiel China, aber auch am Beispiel Deutschland, z.B.
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mithilfe der ICF, zu untersuchen, welche konkreten Teilhabeerwartungen und -möglichkeiten vor dem jeweiligen kulturellen, rechtlichen und politischen Hintergrund mit der Rolle unterschiedlich benachteiligter und behinderter Menschen tatsächlich einhergehen. Mit Inklusion wird somit kein romantisches Bild gezeichnet, sondern ein sehr komplexer Prozess in komplexen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaften. Jede Inklusion beschreibt dabei zugleich eine Exklusion, die aber nicht per se negativ sein muss. Denn niemand nimmt ständig überall teil und auch innerhalb eines Funktionssystems kann es zu vielfältigen Exklusionen oder Gefährdungen der Inklusion kommen bzw. müssen Formen und Stufen differenziert werden. Insofern gibt es keine »vollständige« Inklusion. Für Organisationen ist ohnehin per se erst einmal Exklusion kennzeichnend, denn man muss ja explizit von einer Organisation als Mitglied, Kunde, Kundin, Schüler, Schülerin usw. aufgenommen werden (vgl. Nassehi 2002: 468). Es gab frühe Ansätze, den Integrationsbegriff in der Sonderpädagogik weiter zu differenzieren (neben den genuin pädagogischen Grundlegungen des gemeinsamen Lernens), z.B. anhand der Unterscheidung nach gesellschaftlicher versus lebensweltlich-individueller Integration; nach Aspekten wie sozialer, funktionaler, psychischer, politischer und rechtlicher Integration in unterschiedlichen Lebensbereichen und -phasen, nach unterschiedlichen Werthaltungen, die Integration unterliegen können, nach Stufen (einige Stränge dieser frühen Debatte sind in Beck 1994 nachgezeichnet). In diesen Diskursen werden die Konzepte einer lebensweltlich-handlungstheoretischen und die einer systemtheoretischen Integration gleichsam nebeneinander und ergänzend verwandt, die »tatsächliche« individuelle Integration also durchaus von der rechtlichen unterschieden; aber die Organisationen bzw. der Bezug von Organisationen auf Personen gerät bei rein handlungstheoretisch-lebensweltlichen Begründungen potentiell leicht aus dem Blick. Genau diese Ebene aber wird mit dem Inklusionsbegriff umfasst, und dies wird in der Sonderpädagogik als Vorteil des Begriffes wahrgenommen. Zudem sind in der Praxis die bisherigen traditionellen Integrationsmaßnahmen neben weithin unveränderten Systemen etabliert worden, statt wechselseitiger fanden und finden häufig einseitige Anpassungsprozesse statt. Im systemtheoretischen Sinn wäre mit dem Inklusionsbegriff allerdings noch nicht gesagt, mit welcher Werthaltung Inklusion von Seiten der sozialen Systeme geschieht und dass die Machtfrage damit von vornherein ausbalanciert ist. Das gelingt nur, wenn man den Begriff mit bestimmten Werthaltungen verknüpft. Dies verdeutlicht wieder-
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um, wie wichtig es ist, implizite oder explizite normative Bestimmungen oder Anbindungen aufzudecken. Mit Blick auf die bildungs- und sozialpolitisch zentrale Frage der Steuerung von Problemlagen, also die Frage nach Art und Qualität der dafür geeigneten Maßnahmen, ist, wiederum international betrachtet, die Implementation von Inklusionsstrategien in Ländern wie China von enormer Bedeutung, denn es macht einen erheblichen Unterschied, ob neue Steuerungsmechanismen (Veränderung der Regelsysteme) vor dem Hintergrund eines etablierten, voll ausgebauten Sondersystems oder einer allenfalls rudimentären Professionalisierung und Organisation sonderpädagogischer Angebote eingeführt werden. Die aktuelle Prominenz des Inklusionsbegriffes – und zwar in der Doppelfunktion als politischer Reform- wie als wissenschaftlicher Reflexionsbegriff – verdankt sich im internationalen Zusammenhang der Tatsache, dass mit der »Zugangsfrage« ein weltweites Kernproblem verknüpft ist, nämlich das von sozialer Ungleichheit und von Gerechtigkeit. Denn mittlerweile ist klar geworden, dass die Vergabe sozialer Rechte allein noch keine individuelle Zugehörigkeit gewährleistet; China dient hier zur exemplarischen Verdeutlichung, die aber unschwer transformiert werden kann. Klar ist weiterhin, dass die soziale Ungleichheit durch bisherige Steuerungsmaßnahmen nicht geringer geworden ist, national und international, und dass ein Merkmal wie z.B. der rechtliche Behindertenstatus nicht ausreicht, um die tatsächlichen Risiken und Chancen der Teilhabe, des tatsächlichen Zugangs des Einzelnen zu Lebensbereichen und zu Ressourcen, zu erfassen und entsprechende Leistungen zu planen. Behinderung ist aber neben Migration, Arbeitslosigkeit, Armut usw. »nur« eines der Probleme sozialer Ungleichheit und mit Zugangsfragen sind generelle Verteilungskonflikte gemeint: auf struktureller Ebene im Sinne von Ressourcen und auf sozialer Ebene im Sinne der kommunikativen Adressierung. Fragen nach der Sicherung einer menschenwürdigen Lebensführung stellen sich derzeit sehr drängend und angesichts des demographischen Wandels, von Migration und Arbeitslosigkeit weit über das Feld von Behinderung hinaus als Verteilungskonflikte, in denen es viel stärker als bisher darauf ankommt, die konkreten Wechselspiele zwischen den je gegebenen sozial- und infrastrukturellen, politischen, finanziellen, rechtlichen und sozialräumlichen Rahmenbedingungen auf der einen Seite und den Bedarfslagen, den Interessen, Ressourcen und Belastungen der Adressaten/-innen auf der anderen Seite in den Blick zu nehmen, um die
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Handlungsspielräume und die -strategien für Teilhabe und die Verbesserung der prekären Lebenssituation bestimmen zu können. Der Inklusionsbegriff wird dabei in der Lebenslagen- und Ungleichheitsforschung neben, stellenweise mit oder sogar nahezu inhaltsgleich wie der Partizipationsbegriff verwandt, weil beide Begriffe auf die Zugangs- und Teilhabefrage als Bedingung der Lebenslage (im Sinne von Nahnsen 1975), der Handlungsspielräume des Individuums zur Entfaltung und Verfolgung seiner Interessen, abheben. Partizipation und Inklusion entstammen aber unterschiedlichen Traditionen. So ist der Partizipationsbegriff in Deutschland einerseits stark in der Wohlfahrtspolitik und in der Sozialgesetzgebung verankert und steht hier in engem Zusammenhang mit einer Auffassung von Sozialpolitik als Verteilung von Lebenslagen, zum anderen in der politischen Tradition als Zentralbegriff der Demokratie und hebt somit neben der sozialen immer auch die Frage der politischen Teilhabe und Teilnahme hervor. In Frankreich ist die »Semantik der Inklusion und Exklusion in der Sozialpolitik genauso präsent wie in der Sozialtheorie« (Stichweh 2007: 1). Bourdieu steht hier prominent für eine Sozialtheorie, die objektive und subjektive Faktoren, Struktur- und Handlungstheorie aufeinander bezieht und die Bedingungen der Machtverteilung und Positionierung des Einzelnen im sozialen Feld analysiert. Ein weiterer »Herkunftskontext einer Soziologie der Inklusion und Exklusion ist die britische Wohlfahrtstheorie seit T.H. Marshall« (ebd.). Diese Traditionslinien der Wohlfahrtspolitik und Wohlfahrts- und Sozialtheorie sind alle, unabhängig von der Verwendung des einen oder anderen Begriffs, untrennbar mit der Frage nach der Gestaltung von Lebenschancen und sozialer Gerechtigkeit verbunden. Sie finden sich in vielen zentralen internationalen Dokumenten (nicht nur in denen der UNO oder WHO) und sie lassen sich bis hin zu der Sozialberichterstattung der Bundesregierung z.B. im Armuts- und Reichtumsbericht nachzeichnen (der auf der Basis des Lebenslagenansatzes erarbeitet wurde). Dokumente wie das Salamanca-Statement oder die UNO-BRK müssen auch vor diesen Hintergrund gerückt werden. Diese Konflikte lassen sich weder durch politische Steuerung allein, noch durch eine einseitige ›Befähigung‹ der Einzelnen oder aber eine einseitige Veränderung eines Systems wie der Schule lösen, und schon gar nicht durch eine isolierte Betrachtung einer Inklusionsform (die sich ja wiederum, wenn sie z.B. eine Organisation beträfe, vielfältig weiter differenzieren ließe). Inklusion ist wie Partizipation mehrdimensional (vgl. Barthelheimer 2007: 10): Es geht um Arbeit und Beschäftigung, um
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soziale Beziehungen und Familie, um Information, Bildung und Kultur, Freizeit, Mobilität, Gesundheit, öffentliches und politisches Leben. Jede Form stellt einen Kontextfaktor für eine andere dar, und dies gilt insbesondere an den Übergängen im Lebenslauf, aber auch horizontal im Gefüge der jeweiligen Lebenssituation und beteiligter Dienste. Behinderung ist als Statusmerkmal bereits ein Auslöser der Gefährdung im Sinne ungleicher Lebenslagen; die wissenschaftliche Aufklärung über die Verbesserung der Lebenslagen ist gebunden an ein Verständnis von Bildungs- als Lebenschancen und stellt sich der normativen Auseinandersetzung über die Frage einer anerkannten Lebensführung. Die Daten des Mikrozensus, des Behinderten- und des Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung weisen die Schlechterstellung behinderter Menschen mit Blick auf den Sozialstatus (Einkommens-, Beschäftigungs-, Bildungsstatus) und damit auf ihre Chancen auf eine selbstständige und anerkannte Lebensführung nach. Ungleiche Zugänge zu Ressourcen wie Einkommen, Bildung und Beschäftigung verknüpfen sich wiederum häufig mit höheren finanziellen Belastungen durch erforderliche Hilfen. Gleichzeitig sind insbesondere bei Menschen mit schweren geistigen oder körperlichen Behinderungen die Zugänge zu den sozialen Ressourcen (tragfähige soziale Beziehungen, soziale Netzwerke, Einkommen usw.) und zur gleichberechtigten Teilhabe am öffentlichen, politischen und kulturellen Leben erheblich erschwert. Die mit der UN-BRK und der Behindertenpolitik der Bundesregierung verknüpften Ziele der Inklusion treffen insbesondere bei diesem Personenkreis noch auf eine Angebotsstruktur, die auf Seiten der Leistungsträger von Sondereinrichtungen dominiert wird und auf erhebliche Barrieren mit Blick auf die Eröffnung von Teilhabechancen auf Seiten der allgemeinen Infrastruktur stößt. Hohe Partizipationschancen sowohl im Sinne aktiver Mitwirkung an Entscheidungen wie im Sinne des Zugangs zu und des Einbezogenseins in Lebensbereiche bestehen generell dort, wo Menschen bereits über gute Ressourcen wie soziale Beziehungen, hoher Bildungsstand usw. verfügen; zugleich artikulieren diese Gruppen auch ihre Interessen im öffentlichen Raum. Wenn für behinderte, insbesondere geistig und schwer körperbehinderte Menschen nun Partizipation und Inklusion gefordert und umgesetzt werden, dann müssen Strategien dringend vor den Hintergrund gerückt werden, dass gerade dieser Personenkreis auch höchst eingeschränkte individuelle und soziale Ressourcen für Partizipation mitbringt.
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Der soziale Raum kann positiv als Lebenswelt, Nachbarschaft, Ort anerkannter Lebensführung begriffen werden, als Gemeinschaft, die gegen negative Tendenzen der Individualisierung die Bürgergesellschaft setzt. Aber soziale Räume, und dazu gehören Organisationen wie die Schule, sind ebenso Ort der Entstehung von Ausgrenzung, sozialer Ungleichheit und Felder sozialer Kämpfe. Auch eine Wohnung repräsentiert eine Machtposition. Wer kann sich wie an Aushandlungsprozessen beteiligen, wer setzt seine Interessen durch, wer erhält wo Zutritt? Angesichts dieser Problematik sind Strategien, die einzig auf das Individuum und dessen Befähigung setzen, aufgrund der marginalen Position behinderter Menschen verfehlt. Wenn Inklusion Realität werden soll, braucht man dafür auch Strategien, die auf Gruppen und ihre Bedarfslagen sowie auf die Gestaltung der sozialen Räume (einschließlich Institutionen und Organisationen) und Infrastrukturen bezogen sind. Dabei müssen aber diese Strategien von vornherein auf Verteilungsgerechtigkeit zielen: Die Sicherung der Lebensführung behinderter Menschen kann nicht losgelöst von der Lebensführung im Allgemeinen erfolgen; damit ist sie in ein Spannungsfeld konfligierender Interessenlagen eingebunden. Auf Seiten der professionellen Fachkräfte sind deshalb ein Bewusstsein, aber darüber hinaus auch klare Kompetenzen dafür erforderlich, die Interessen behinderter Menschen im öffentlichen Raum zu rechtfertigen und mit Konflikten und Spannungen umzugehen. So vielfältig wie soziale Räume sind auch die Bedarfslagen der behinderten Menschen, und sie sind nicht starr, sondern dynamisch; insbesondere die Veränderungen im Lebenslauf werden derzeit bei der Frage des Lebens im Gemeinwesen, der Inklusion, noch unzureichend bedacht. Deshalb muss die Sicht auf die Einzelnen und ihren Lebensraum zwingend um die Sicht auf größere Räume, auch auf Verwaltungs- und Planungsräume, und auf Bedarfslagen über die Lebensspanne hinweg ergänzt und beide aufeinander bezogen werden. Damit ist nicht eine enge Zielgruppenspezifik (!) gemeint, sondern die Kenntnis dessen, was strukturell insgesamt vorgehalten wird bzw. was vorgehalten werden muss, damit es nicht doch zu Bruchstellen an den Übergängen im Lebenslauf oder bei bestimmten Bedarfslagen kommt.
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5 S CHLUSS Zum Schluss soll noch einmal das Bild der Plattentektonik aufgegriffen werden. Führt das Beben »Inclusive Education« nun zur vollständigen Zerstörung der alten Strukturen? Werden die Sonderschulen – um im Bild zu bleiben – in sich zusammenfallen? Werden bis zu 200 Jahre Tradition einer Sonderpädagogik oder die eines Berufsbilds schlagartig unnötig? An dieser Stelle muss nochmals auf die Fehler dieses Vergleiches hingewiesen werden; nicht Zerstörung, sondern die Neuausrichtung ist das Ziel einer »Inclusive Education«. Eine Neuausrichtung auf eine chancengerechte Schule für alle Kinder! Und dies bei Anerkennung ihrer Besonderheiten und Bedürfnisse und bei Wertschätzung der Heterogenität auch in den benötigten Modellen. Inklusion ist im Kern eine zentrale Frage der Schulentwicklung hin zu einer Schule für alle, die weder nach Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, Herkunft, Behinderung oder »Begabung« den Zugang zu Bildung(-schancen) steuern oder reglementieren darf. Ein Blick in die theoretischen Wurzeln des Begriffs und auf die internationalen Prozesse bei der Umsetzung sollte helfen, die befürchteten deutsche Alleingänge und den (schul-)politischen Aktionismus zumindest laut mahnend begleiten oder besser beeinflussen zu können.
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richterstatters für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz; Addendum Deutschlandbesuch 2 (13.-21. Februar 2006) (deutsche Arbeitsübersetzung im Auftrag der GEW) (Manuskriptdruck), New York. URL: www. gew.de/Binaries/Binary29288/Arbeits%FCbersetzung_M%E4rz07. pdf (12.04.2008). UN, United Nations (2006/2008): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (dreisprachige Fassung im Bundesgesetzblatt Teil II Nr. 35 vom 31.12.2008) (Manuskriptdruck). URL: http://www2.bgbl.de/Xaver/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_ BGBl&bk=Bundesanzeiger_BGBl&start=//*%5B@attr_ id=%27bgbl208s1419.pdf %27%5D (07.03.2010). UN: URL: www.un.org/documents/ga/res/48/a48r096.htm (10.03.2010). UNDP: URL: http://hdr.undp.org/en/ (10.03.2010). UNESCO, United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (1990) (Hg.): World Declaration On Education For All and Framework for Action to meet Basic Learning Needs. New York, Paris: UNESCO. URL: http://unesdoc.unesco.org/images/0012/001275/ 127583e.pdf (25.05.2008). UNESCO, United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (1994) (Hg.): The Salamanca Statement and Framework for Action on Special Needs Education. URL: www.unesco.org/education/pdf/ SALAMA_E.PDF (19.02.2008). UNESCO, United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (2000) (Hg.): Dakar Framework for Action, Education for All: Meeting our Collective Commitments, Paris: UNESCO. URL: http:// unesdoc.unesco.org/images/0012/001211/121147e.pdf (25.05.2008). Verlag für fremdsprachige Literatur(2009) (Hg.): China. Beijing: Verlag für fremdsprachige Literatur. Wang Zhu (2001): »The Present Situation of the Education for the Visually Impaired in China«, in: Degenhardt, Sven (Hg.), Blindenpädagogik in China: Qualitätsentwicklung durch Interkulturelle Kommunikation – Ergebnisse einer Studienreise, Münster u.a.: Waxmann Verlag, S. 109114. Weisser, Jan (2010) i.E. : »Politische und soziale Partizipation«, in: Beck, Iris/Greving, Heinrich (Hg.), Lebenswelt, Lebenslage, Band 5 des Enzyklopädischen Handbuchs der Behindertenpädagogik, Stuttgart: Kohlhammer-Verlag.
2 Inklusion und sozialräumliche Differenzen
Heterogenität und Homogenität an Hamburger Schulen Besichtigung der Normalität Norbert Maritzen und Tanja Sturm
Institutionelle Vorkehrungen zur Homogenisierung der Schülerschaft im Schulwesen sind zahlreich. Die »Grammar of Schooling« (Tyack/Tobin 1994) ist erfindungsreich gewesen, so sehr, dass Bewältigungsformen der Heterogenität gleichsam zur allgegenwärtigen und lange unhinterfragten zweiten Natur der Schule geworden sind: Jahrgangsklassen zur Altershomogenisierung, zunächst ständisch, dann begabungstheoretisch begründete Mehrgliedrigkeit der Schulstruktur, leistungs- oder entwicklungsbezogene »Bereinigung« von individueller Vielfalt durch Klassenwiederholungen, Schulformwechsel oder Rückstellungen vom Schulbesuch, Ausgliederung von Kindern mit »sonderpädagogischem Förderbedarf« oder von »Hochbegabten«, Einrichtung von Niveaukursen u.v.a. Vielfältig sind Maßnahmen, um institutionelle Gelegenheitsstrukturen zu schaffen, die Schülerinnen und Schüler mit möglichst ähnlichen Merkmalen zusammenbringen sollen. Historisch betrachtet kann man diesen Grundzug der Schule als Signatur einer im 19. Jahrhundert errungenen Modernisierung der öffentlichen Erziehung begreifen, die sich seither als überaus stabil erwiesen hat. Gleichwohl muss im aktuellen gesellschaftlichen Kontext kritisch gefragt werden, inwieweit durchgreifende, in großstädtischen Metropolen besonders virulente Entwicklungen den Grundansatz zur Homogenisierung illusionär und obsolet werden lassen. Der Beitrag geht am Beispiel Hamburgs dieser Frage nach, indem er in einem kurzen historischen Abriss die Geschichte des Spannungsver-
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hältnisses von Homogenisierung und Heterogenisierung skizziert, im zweiten Schritt auf der Grundlage von Daten des Hamburger Bildungsmonitorings deskriptiv empirische Problemlagen auf unterschiedlichen Systemebenen (Gesamtsystem, Region, Schule, Unterricht) darstellt, um abschließend einige Schlussfolgerungen mit Blick auf Herausforderungen an die Systemsteuerung zu ziehen.
1 H E TEROGENITÄT UND H OMOGENITÄT IM S CHULWESEN – HISTORISCHE G E WORDENHEIT Die Frage nach dem Umgang mit der Verschiedenheit und Gleichheit von Schülern/Schülerinnen im Schulsystem ist so alt, wie die institutionalisierte Bildung und Erziehung selbst. Die Entwicklung und Gestaltung des öffentlichen Schulwesens, wie wir es heute kennen, geht wesentlich auf die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse des 18. und 19. Jahrhunderts in Preußen zurück. Im Zuge der Modernisierung fanden auf unterschiedlichen Ebenen Homogenisierungsprozesse statt, die in der sich entwickelnden Bürgergesellschaft und in kapitalistischen Produktionsweisen begründet sind. Die bürgerliche Gleichstellung aller Staatsbürger/-innen setzte sich ebenso durch wie eine einheitliche Sprache. Zudem löste das Leistungsprinzip jenes der Standeszugehörigkeit beim Zugang zu höherer Bildung ab (vgl. Ackeren/Klemm 2009: 13) und brachte gleichzeitig Homogenisierungen mit sich (vgl. Wenning 1999: 197). Die Homogenisierung beruht auf der Idee, die Gleichheitsannahme durch die Gleichbehandlung aller zu erreichen (vgl. Wenning 1999: 197). Diese Idee durchzieht die Schule bis heute wie eine Grammatik und wird daher von Tyack und Tobin (1994) treffend als »Grammar of Schooling« bezeichnet. Dass die Gleichbehandlung Verschiedenheit (re-)produziert, statt zu realer Gleichheit zu führen, legitimiert sich dadurch, dass eine Begründung für die tatsächlich bestehende Verschiedenheit notwendig ist, um z.B. Unterschiede im Zugang zu Bildungsprozessen und/oder Herrschaftspositionen sowie soziale Ungleichheit zu erklären. Die Homogenisierungen in der Schule bzw. im Bildungssystem insgesamt stehen in einem engen Zusammenhang zur gesellschaftlichen Funktion der Legitimation der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Legitimationsfunktion umfasst die Integration der nachwachsenden Generation in die Werte, Normen und Ziele der Gesellschaft. Hierzu gehören in der modernen Gesellschaft die gesellschaftlichen Ziel-
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vorstellungen, die geltenden Herrschaftsprinzipien sowie die sozialstrukturellen Gleichheits- und Ungleichheitsmuster (vgl. Wenning 1999: 195f.). Der Gleichheitsanspruch soll durch Gleichbehandlung realisiert werden. Diese Form der Homogenisierung wird durch eine »Reduktion auf die Schülerrolle« realisiert. Damit wird die Schülerschaft in Bezug auf dieses Kriterium homogen, während die – gleichzeitige – bestehende Heterogenität in anderen sozialen Kategorien, wie beispielsweise soziale Milieuzugehörigkeit oder Geschlecht, ignoriert wird bzw. ignoriert werden muss. Dass die formale Gleichbehandlung aller und die damit verbundenen Formen der Homogenisierung nicht zu realer Gleichheit führen, sondern Verschiedenheit (re-)produzieren, wird zunehmend weniger akzeptiert, d.h. gesellschaftlich diskutiert und in Frage gestellt (vgl. Wenning 1999). Die Sichtbarkeit des Problems wird derzeit durch die internationalen Schulleistungsvergleichsstudien sowie durch weitere Maßnahmen des Bildungsmonitorings verdeutlicht (vgl. z.B. Freie und Hansestadt Hamburg 2009a; 2009b). Die schulstrukturell realisierten und diskutierten Entwicklungen zeugen hiervon (vgl. Ackeren/Block 2009). Die Diskussion um die Homogenisierungen und Heterogenisierungen durch das Schulsystem ist in ihrem Kern gleich geblieben. Sie bewegt sich in dem Spannungsverhältnis gesellschaftlicher Gleichheit auf der einen und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ungleichheit auf der anderen Seite (vgl. Wenning 1999: 193). Die historisch-kulturellen Rahmungen haben sich jedoch verändert. Die aus der »Grammatik der Schule« folgende »Jagd nach der homogenen Lerngruppe« (vgl. Tillmann 2007) durchzieht die Institution Schule auf allen ihren Ebenen; sie nimmt im deutschen Schulsystem diverse Formen an. Infolge der täglichen Selektionspraxis durch Benotung ist sie allgegenwärtig (vgl. Holzkamp 1993). Welche spezifischen Formen sie dabei annimmt und worin diese historisch-kulturell begründet sind, soll nachfolgend für das Schulsystem, die Einzelschule sowie die Unterrichtsgestaltung skizziert werden. Das Schulsystem oder die schulische Struktur sind in Deutschland durch diverse Formen der Homogenisierung gekennzeichnet. Aktuell werden sie durch unterschiedliche Begabungen der Schüler/-innen erklärt und legitimiert. Dieses Argument gewann vor dem Hintergrund des Erklärungsverlusts durch ständische Unterschiede als Zugangskriterium an Bedeutung (vgl. Wenning 1999: 264). Die Ablösung des Stände- durch das Leistungsprinzip der Schule setzte sich gänzlich zur Zeit der Weimarer Republik durch (vgl. Ackeren/Klemm 2009: 13). Ab 1919 gab es in Deutsch-
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land eine vierjährige Volksschule, die von allen Schülern/Schülerinnen – mit Ausnahme derjenigen, die in Sonderschulen, so vorhanden, unterrichtet wurden – besucht wurde. Anschließend besuchten die Schüler/-innen die Oberstufe der Volksschule, die Mittelschule oder das Gymnasium. Allen drei Schulformen lagen unterschiedliche Konzepte und Vorstellungen von Bildung zugrunde ebenso wie der zeitliche Umfang des vorgesehenen Schulbesuchs und daran gekoppelt die Erlangung des – an die jeweilige Schulform gekoppelten – Bildungszertifikats (vgl. Schuck 2007:8). Die Schulformen sind die Vorläufer der heutigen Haupt- und Realschule sowie des Gymnasiums bzw. der Bildungs- und Rahmenpläne/Lehrpläne, die mit diesen Bildungsgängen verbunden sind. Die Unterschiede zwischen den Schulformen drückten und drücken sich in einer Leistungshierarchie aus, an deren Spitze neunjährige, heute teilweise auch achtjährige, Gymnasien stehen (vgl. Ackeren/Klemm 2009: 35). Die Einteilung der Schüler/-innen zu Schulformen erfolgt nach dem Kriterium der Leistung. Im Gegensatz zu allen anderen sozialen Kategorien, wie beispielsweise Geschlecht oder soziales Milieu, ist Leistung jene, die von der Schule offiziell zur Selektion herangezogen wird. Während die Aufhebung geschlechtshomogener Lerngruppen und Schulen sich im 20. Jahrhundert flächendeckend durchsetzte (vgl. Faulstich-Wieland 1991), blieb die Form äußerer Differenzierung nach Leistung trotz zunehmender Angleichung der Lehrpläne und Curricula erhalten (vgl. Ackeren/ Klemm 2009: 28). Die Zuweisung zu Schulformen nach Leistung und deren Korrelation mit Sozial- und Bildungsmilieus wurde vor allem zur Zeit der großen Bildungsreform in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts breit diskutiert. Die Einrichtung von Gesamtschulen in einigen Bundesländern zeugt von dem Diskurs, der mit dem Ziel der Überwindung sozialer Ungleichheit durch schulische Bildung verbunden war. Trotz der Etablierung dieser Schulform ist das gegliederte Schulwesen in seiner Struktur bis heute erhalten geblieben. Die Veränderungen, die in den meisten Bundesländern aktuell an der Struktur des Schulsystems vorgenommen werden, führen zwar zu einer »strukturellen Zerfaserung des Schulsystems« (Ackeren/Klemm 2009: 59, Herv. im Original), leistungsbezogene Entgrenzung im Schulsystem und damit verbundene soziale Milieus bleiben jedoch erhalten. Die soziale Auslese, die am Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule getroffen wird, verstärkt sich weiter. Die mehrgliedrige Struktur, die weiterhin hierarchisch gestaltet bleibt, bietet ihrer Schülerschaft – sys-
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tembedingt – unterschiedliche Entwicklungsperspektiven. Diese wirken sich ihrerseits auf die Bildungsaspirationen der Schüler/-innen aus (vgl. Ackeren/Klemm 2009: 60). Van Ackeren und Klemm konstatieren, »dass in der zerfaserten und entgrenzten Schulformenlandschaft die historisch verwurzelten und über die Jahrzehnte und Jahrhunderte weiter gegebenen charakteristischen Unterschiede zwischen ›niederer‹ und ›höherer‹ Bildung fortleben: ›Niedere‹ Schulbildung begrenzt Entwicklungsmöglichkeiten und orientiert auf kognitiv weniger anspruchsvolle Bildungs- und Berufsabschlüsse.« (Ackeren/ Klemm 2009: 61)
Neben den schulstrukturellen Formen der Homogenisierung der Schülerschaft findet man diese auch innerhalb der Einzelschule. Die Einrichtung der Jahrgangsklasse stellt das prominenteste Prinzip der Homogenisierung auf der Ebene der Einzelschule dar. In der Konstituierung der Jahrgangsklasse wird zudem, verbunden mit ökonomischen Überlegungen, dem Rationalisierungsprinzip Rechnung getragen. Es soll dazu beitragen, eine möglichst große Anzahl von Schülern/Schülerinnen gleichzeitig zu unterrichten. Die altershomogene Klasse, die an der Idee anknüpft, dass alle Kinder eines Altersjahrgangs weitestgehend homogen entwickelt sind, ist ein Ergebnis dieser Überlegungen. Die Jahrgangsklasse erfüllt das Kriterium der Gleichbehandlung dadurch, dass bei gleichem Alter von gleicher Entwicklung ausgegangen wird. Der Frontalunterricht ist das Pendant der Homogenisierung auf der didaktisch-methodischen Ebene des Unterrichts. Das Prinzip der Gleichbehandlung wird hier durch die Gleichsetzung von Lehren und Lernen (vgl. Braun/Wetzel 2001: 377) realisiert. Es wird davon ausgegangen, dass das, was gelehrt wird, auch gelernt wird. Ist dies nicht der Fall – so die Annahme weiter – liegt die Ursache beim Schüler bzw. bei der Schülerin. Sie wird dann beispielsweise als »nicht begabt« kategorisiert. Die Gleichsetzung von Lehren und Lernen stellt zudem ein Moment der Rationalisierung gesellschaftlicher Lehr-Lern-Prozesse dar, die durch öffentliche Mittel finanziert werden (vgl. Tyack/Tobin 1994: 459f.). Auch wenn zurzeit die damit verbundene Annahme der »Fiktion einer homogenen Lerngruppe« (Klafki/Stöcker 1976: 479) problematisiert wird, hält sie sich bis heute weitestgehend aufrecht. Sie hat derartige Stabilität erlangt, dass sie den Status eines Elements der »Grammar of Schooling« (Tyack/Tobin 1994) bekommen hat. Das didaktisch-methodische Handeln von Lehrenden findet zu-
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dem in der Illusion einer gegebenen Homogenität statt (vgl. Sturm 2010: 101). Die zunehmend vehementer werdende Forderung nach didaktischmethodischen Umgangsformen mit Heterogenität, die auch von politischer Seite formuliert wird, birgt zwar das Risiko der ausschließlichen Delegation des Problems an die unterrichtenden Lehrer/-innen, eröffnet aber gleichzeitig Potenziale zur Reflexion der »Grammar of Schooling« (Tyack/Tobin 1994). Bezogen auf die aktuellen Entwicklungen soll dies nachfolgend an ausgewählten Beispielen aus dem Stadtstaat Hamburg gezeigt werden. Damit verknüpft ist die Frage, welchen Beitrag Bildungsmonitoring leisten kann, Formen der Heterogenität und Homogenität auf den unterschiedlichen Ebenen der Schule zu beschreiben sowie Anhaltspunkte für Reflexion und Entwicklung der Situation zu leisten.
2 H E TEROGENITÄT UND H OMOGENITÄT – EMPIRISCH »Die Verschiedenheit der Köpfe ist das große Hindernis aller Schulbildung. Darauf nicht zu achten ist der Grundfehler aller Schulgesetze, die den Despotismus der Schulmänner begünstigen und alles nach einer Schnur zu hobeln veranlassen. […] Bürgerschulen beklagen sich, wenn man ihnen die Kinder […] zuweist, die für Gymnasien nicht taugen. Sie begreifen nicht, daß man ihnen die Vielseitigkeit zuweist.« (Friedrich Herbart in Rutt 1957: 176)
Alle Anstrengungen, das von Herbart bereits Anfang des 19. Jahrhunderts benannte Problem der »Verschiedenheit der Köpfe« durch Maßnahmen struktureller Homogenisierung zu lösen, sind immer schon von der Wirklichkeit in den Schulen unterlaufen worden. Wenn nun im Folgenden am Beispiel Hamburgs Heterogenität als Normalfall beschrieben wird, dann kann es also nicht darum gehen, eine Entdeckung mit Neuigkeitswert vorzustellen. Vielmehr sollen empirisch erfassbare Ergebnisse der Ausdifferenzierung sozialer, herkunftsspezifischer und leistungsbezogener Antezedenzien der Schule auf unterschiedlichen Systemebenen deskriptiv mit der Annahme umrissen werden, dass sie praktische Relevanz für pädagogisches Handeln ebenso wie für die Systemsteuerung haben. Ausgangsüberlegung für diesen Ansatz ist die Vermutung, dass Prozesse multipler Heterogenisierung im Stadtstaatenkontext eine Dimension erreicht haben, die umso riskanter ist, je krampfhafter Homogenitätsfiktionen pädagogisches
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und administratives Handeln bestimmen. Grundlage der Darstellung sind Daten, die im Rahmen des Bildungsmonitorings seit Kurzem systematisch zusammengeführt und aufbereitet werden (vgl. z.B. Freie und Hansestadt Hamburg 2009a; 2009b). Die Heterogenität von Schülern/Schülerinnen ist ein durchgängiges Merkmal auf allen Ebenen des Schulsystems. Sie kennzeichnet Aspekte sozialer, kultureller oder ethnischer Herkunft von Schülern/Schülerinnen ebenso wie ihr jeweiliges Vorwissen, ihre Leistungen und Interessen, ihre individuellen kognitiven und/oder körperlichen Lernentwicklungen, ihr soziales Verhalten und ihre Persönlichkeit usw. Im Rahmen des Bildungsmonitorings können diese Aspekte nur selektiv erfasst werden. Gleichwohl wird sehr schnell deutlich, wie vielfältig, reichhaltig und disparat die schulische Wirklichkeit ist. An drei Beispielen auf unterschiedlichen Ebenen des Systems (System, Schule, Unterricht) sei dies aufgezeigt. Das erste Beispiel ist dem Hamburger Bildungsbericht 2009 entnommen (Freie und Hansestadt Hamburg 2009a: 47ff.). Hinlänglich bekannt ist aus einer Vielzahl von Schulleistungsstudien, wie eng in Deutschland auf Systemebene der Zusammenhang von Schulleistungen und Merkmalen der sozialen Herkunft ist. Weniger prominent, allerdings für die Politikgestaltung in einem Stadtstaat höchst aufschlussreich, ist, wie sich dieser Zusammenhang kleinräumig darstellt. Die folgenden Karten zeigen zum einen die mittleren Lesekompetenzen Hamburger Siebtklässler/-innen verteilt auf regionale Gebietseinheiten des Stadtgebiets, zum anderen die Verteilung des begleitend zu den Lesetests ermittelten sozialen Kapitals der Schülerfamilien.
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Abbildung 1 a+b: Mittlere Lesekompetenzen in Punkten und berichtetes soziales Kapital der Hamburger Siebtklässler nach Postleitzahl des Wohnortes (KESS-7-Sudie)
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Betrachtet man die regionalen Verteilungsmuster, so fallen sofort verschiedene Befunde ins Auge: • Hamburger Wohnquartiere unterscheiden sich erheblich hinsichtlich der Leistungsfähigkeit im Lesen der Schüler/-innen. Der Befund gilt im Übrigen nachweislich auch für mathematische Kompetenzen (vgl. Freie und Hansestadt Hamburg 2009a: 50). • Vergleicht man die regionalen Verteilungsmuster für Leistungen mit denen des berichteten sozialen Kapitals, ergeben sich deutliche Überschneidungen. So leben Schüler/-innen, die über ein hohes soziales Kapital in ihrer Familie berichten, überwiegend auch in den Regionen, in denen Schüler/-innen leben, die eher hohe Testleistungen erbringen, und umgekehrt. Das bedeutet, die enge Koppelung von Schulleistung und Merkmalen der sozialen Herkunft bildet sich auch kleinräumig ab. • Heterogenität im Schulbereich hat eine mittlerweile gut zu dokumentierende räumlich-geografische Dimension. Es scheint städtische Problemzonen zu geben, in denen sich sehr günstige bzw. sehr ungünstige Bedingungen und Ergebnisse schulischen Lernens konzentrieren. • Mit der regionalen Ausdifferenzierung sozialer und leistungsmäßiger Merkmale einher geht andererseits ein Homogenisierungseffekt innerhalb von Regionen, insofern kleinräumig geschlossene Milieus mit vergleichbaren Merkmalen entstehen. Mit dem Befund regionaler Disparitäten vs. kleinräumiger Homogenisierung verknüpfen sich für Lehrkräfte und Schulleitungen ebenso wie für administrativ Verantwortliche sehr konkrete Fragen der Ausgestaltung ihrer Aufgaben: Welche Leistungsheterogenität oder soziale Heterogenität zwischen Regionen ist in einer Stadt politisch und ethisch tolerierbar? Wie sind Regionen mit hohen Benachteiligungswerten zu identifizieren und zu unterstützen? Lassen sich kumulative Effekte einer räumlich zu erfassenden Mehrfachbelastung bzw. Mehrfachbevorzugung identifizieren, die differenzielle Lern- und Entwicklungsmilieus von Schulstandorten konstituieren (vgl. Baumert/Stanat 2006)? Wie können kommunal oder ministeriell Verantwortliche mit kompensatorischen regionalisierten Strategien der Ressourcenallokation auf diese Disparitäten reagieren? Was bedeuten diese Unterschiede für die konkrete Ausgestaltung formal gleicher Bildungsgänge und Schulformen? Was bedeutet die kleinräumige
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Konzentration homogener problematischer Kontextbedingungen für die strategische Angebotsgestaltung im Schulbereich und für die Kooperation mit weiteren Akteuren der Stadtentwicklung? Hinsichtlich welcher Merkmale sind Stadtteile in sich homogen und welche »Mechanismen« führen dazu? Usw. Das zweite Beispiel betrifft ebenfalls durch große Heterogenität gekennzeichnete Verteilungsmuster, nun auf Ebene der Einzelschule. Ausgangspunkt ist die Frage: Was kann eine einzelne Schule über sich selbst auf der Grundlage der amtlichen Schulstatistik wissen? Im Rahmen des Bildungsmonitorings sind dazu inzwischen Auswertungen durch systematische Nutzung des Schülerindividualdatensatzes der sogenannten amtlichen »Herbststatistik«1 möglich. Die Beispielschule ist eine große Hamburger Gesamtschule, die sich im Rahmen der umfassenden Schulreform mit pädagogischen Entwicklungskonferenzen darauf vorbereitet, unter der programmatischen Zielsetzung »Schule der Vielfalt« Stadtteilschule zu werden, also die Rahmenbedingungen einer heterogenen Schülerschaft als Entwicklungschance zu begreifen. Ein regionalisiertes Bildungsmonitoring kann diese pädagogische Entwicklungsarbeit mit Aufbereitungen von Daten und Informationen unterstützen, die – wie auch in diesem Fall – Lehrkräften in Schulen in solcher Zusammenschau kaum bekannt sind. Hier einige Auszüge aus dem Datenfeedback der Beispielschule: • Das Einzugsgebiet der Schule umfasst 35 Hamburger Schulen. Von den 151 Schülern/Schülerinnen in Klasse 5 kommen 10 Schüler/-innen aus Grundschulen anderer Regionen, 35 aus Grundschulen der Region, 6 aus dem Ausland. • Nur bei rund vier Prozent der gesamten Schülerschaft (51 von 1233 Schülern/Schülerinnen) liegen der Schülerwohnort und die Schule im selben Stadtteil. Ein Großteil der Schülerschaft kommt aus den direkt angrenzenden Stadtteilen. • In der Sekundarstufe I sprechen 30 Prozent der Schüler/-innen (272 von 899) zu Hause nicht Deutsch. In der Sekundarstufe II liegt der Anteil 1 | Die jährlich in allen Bundesländern durchgeführte »Herbststatistik« stellt die zentrale amtliche Schulstatistik dar. Zu jedem Schüler/jeder Schülerin der staatlichen und privaten Schulen wird dazu für Verwaltungs- sowie für statistische Analysezwecke eine Vielzahl von Merkmalen (Schülerindividualdatensatz) erfasst.
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bei 15 Prozent (50 von 334). Der Anteil von Schülern/Schülerinnen ohne Deutsch als Alltagssprache zwischen den Klassenstufen liegt zwischen 19 und 40 Prozent. • An der Schule werden neben Deutsch 41 verschiedene Familiensprachen (an Hamburger Schulen insgesamt ca. 100) gesprochen. Der Anteil von Schülern/Schülerinnen aus deutschsprachigen Familien liegt in der Sekundarstufe I bei 69,7 Prozent und in der Sekundarstufe II bei 85 Prozent. Dies bedeutet, dass die Schülerschaft in sprachlicher Hinsicht zunehmend homogen wird. • Von den nichtdeutschen Alltagssprachen ist Türkisch die am häufigsten gesprochene Sprache (Anteil von 14,2 % in der Sek I und 4,5 % in der Sek II). Die weiteren Familiensprachen werden nur von Kleingruppen oder einzelnen Schülern/Schülerinnen gesprochen.
Häufige Sprache
Sek I 5
6
7
8
9
10
Vst
1Hj 3Hj
Deutsch
122
81
103
93
111
117
113
87
84
911
1. Türkisch
15
26
19
20
25
23
5
6
4
143
2. Dari
2
4
1
4
3
1
1
1
1
18
3. Spanisch
3
4
2
2
2
1
1
1
2
18
2
1
4
3
2
1
2
15
2
2
1
5
1
12
1
1
10
4. Farsi
Sek II
5. Russisch 6. Griech.
1
3
7. Portugies. 1
1
Ges.
144 121
1
127
1
1
2
1
4
3
127
150
150
Summe
10 121
102 95
1.137
Abbildung 2: Verteilung der am häufigsten auftretenden Alltagssprachen nach Klassenstufen Auch auf Einzelschulebene ergeben sich aus der hier nur angedeuteten Anschauung der innerschulischen Heterogenität zahlreiche Fragen von
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unmittelbarer Relevanz für das pädagogische Entwicklungsprogramm: Was bedeuten die Strukturen des Einzugsgebietes für den Aufbau einer Stadtteilschule? Wie ist der Rückgang des Anteils von Kindern mit nichtdeutscher Familiensprache beim Übergang zur Sekundarstufe II zu erklären? Welche Konsequenzen hat die Sprachenvielfalt für Förderstrategien, pädagogische Profile oder das Schulleben? Welche praktischen Herausforderungen für Strategien der Lernförderung ergeben sich aus den Charakteristika der Verteilung von Sprachgruppen auf Klassen und Schulstufen, wenn mit Ausnahme von türkisch sprechenden Schülern/Schülerinnen es keine anderen Schüler/-innen mit Migrationshintergrund gibt, die in Gruppenstärke in einer Klassenstufe vertreten sind? Usw. Auf der Ebene des Unterrichts begegnen Schüler/-innen heterogene Bedingungen auf Schritt und Tritt, und zwar nicht nur aufgrund unterschiedlicher eigener Herkunftsmerkmale (z.B. soziale oder migrationsspezifische Merkmale) oder unterschiedlicher Leistungsmerkmale, sondern auch in Form erheblicher Unterschiede in der Angebotsqualität des Unterrichts. Hier greifen tradierte Homogenitätsfiktionen besonders stark, insofern als solche konkreten Unterschiede in argumentativem Rekurs auf standardisierte Lehrer/-innenausbildung (»Wir sind alle gleich qualifiziert«), auf gleichförmige curriculare Vorgaben (»Wir orientieren unseren Unterricht an den gleichen Vorgaben«) oder auf den »Durchschnittsschüler« bzw. die »Durchschnittsschülerin« traditionell eher tabuisiert, mindestens aber kaum folgenreich in Augenschein genommen werden. Im Rahmen des Bildungsmonitorings versuchen die systematischen, standardisierten Unterrichtsbeobachtungen der Schulinspektion hier Licht in das Dunkel zu werfen (siehe zu den methodischen Grundlagen im Einzelnen Freie und Hansestadt Hamburg 2009b; Pietsch 2010), indem sie – hier für Hamburg – empirisch abgesicherte Qualitätsstufen des Unterrichts auf der Grundlage von mehreren Tausend beobachteten Unterrichtssequenzen beschreiben und schul- sowie systembezogen analysieren. Stellt man die Verteilung von Qualitätsstufen des Unterrichts (1 = niedrigste Stufe; 4 = höchste Stufe) auf Einzelschulebene (Anteil der beobachteten Unterrichtssequenzen in Prozent) anhand eines repräsentativen Samples von 35 Hamburger Schulen dar, die nach ihrem Anteil an Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in vier Gruppen eingeteilt sind, ergibt sich folgendes Bild:
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Abbildung 3 Zwei Befunde interessieren in unserem Zusammenhang: • Innerhalb von Einzelschulen variiert die Qualität des vorgefundenen Unterrichts erheblich, und zwar mit günstigen, aber auch sehr ungünstigen Verteilungsmustern. Auf Systemebene lässt sich in Hamburg feststellen, dass fast 90 Prozent der gesamten Qualitätsvarianz zwischen einzelnen Unterrichtssequenzen innerhalb von Schulen liegen. • Der Anteil an Schülern/Schülerinnen mit Migrationshintergrund spielt für die Verteilung keine Rolle. Guter Unterricht, der hohe Ansprüche an individualisierte Förderung erfüllt, kann überall gelingen, auch unter schwierigen Rahmenbedingungen, ebenso wie Unterricht unter vergleichsweise besseren Rahmenbedingungen scheitern kann, weil trotz potenziell günstiger Kontexte die Realisierung eines optimalen lernförderlichen Unterrichts verfehlt wird. Auch diese exemplarischen Ergebnisse des Bildungsmonitorings lassen sich mit Blick auf das Spannungsverhältnis von Homogenisierung und Heterogenisierung in vielfacher Hinsicht befragen: Was bedeutet das Erleben dieser Unterschiede potenziell für die Nutzung von Lern- und Entwicklungsgelegenheiten durch Schüler/-innen? Lassen sich heterogenitätsverstärkende, -nutzende oder -abmildernde Effekte des Unterrichts identifizieren? Welche Implikationen haben solche Befunde für die unter-
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richtsbezogene Qualitätssicherung oder die internen Steuerungsstrategien von Schulleitungen? Lassen sich Mindeststandards der Unterrichtsqualität definieren, deren Unterschreitung unter Umständen Interventionen erfordern? Usw. Verfahren des Bildungsmonitorings sind – das sollte hier gezeigt werden – in der Lage, empirisch gestützt und in regelmäßigen Intervallen ein Bild von der vielfältigen Heterogenität des Schullebens zu zeichnen und sehr konkret auf Folgendes hinzuweisen: • Heterogenität in Hamburger Schulen ist der Normalfall. Es wäre fahrlässig, etwas anderes zu erwarten. • Heterogenität ist ein Merkmal mit verschiedenen Dimensionen. Es kennzeichnet individuelle, soziale wie auch institutionelle Aspekte der Schule. • Heterogenität ist per se weder ein Problem noch eine Chance. Was in der Schule daraus gemacht wird, kann zum Problem oder zur Chance werden. • Heterogenität ist in hohem Maße ein Konstrukt, d.h. eine komplexe Zuschreibung von Unterschieden aufgrund von Kriterien, deren Bedeutung von sozialen Normen, Erfahrungen und persönlichen Haltungen verschiedenster Akteure/Akteurinnen abhängt. • Auch der pädagogische Umgang mit Heterogenität ist vielfältig, mal schlecht und auch mal gut. Er erfordert professionelle Handlungsstrategien für den Unterricht, z.B. diagnostische Fähigkeiten oder Strategien für die Konstruktion individualisierter Lernarrangements.
3 O FFENE F R AGEN UND P ERSPEK TIVEN SCHULISCHER E NT WICKLUNG UND DES B ILDUNGSMONITORINGS Die Ergebnisse des Bildungsmonitorings verdeutlichen, dass auf den Ebenen Schulsystem, Einzelschule und Unterricht Formen sozialer Heterogenität bestehen und gleichzeitig Tendenzen von Homogenisierungen zu erkennen sind. Es wird deutlich, dass Heterogenität und Homogenität insofern in einem Spannungsverhältnis stehen, dass die Schülerschaft je nach der betrachteten sozialen Kategorie oder Betrachtungseinheit gleichermaßen als homogen und als heterogen betrachtet werden kann. Betrachtet man nur die sozialräumliche Ebene, so ließe sich vermuten, dass
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die Schülerschaft einer Schule in sozialer Hinsicht tendenziell eher homogen ist. Selbst wenn dies zuträfe, so zeigt sich unter Berücksichtigung der Daten zu den Familiensprachen der Schüler/-innen der beispielhaft genannten Gesamtschule, dass die Schülerschaft sprachlich extrem heterogen ist. Hieran lässt sich verdeutlichen, dass Heterogenität eine unabweisbare Tatsache schulischer und unterrichtlicher Realität ist. Zudem verdeutlichen die Ergebnisse, dass das familiäre soziale Kapital entscheidend ist, wenn es um schulische Leistungen geht. Es konnte gezeigt werden, dass es in Hamburg sozialräumliche Milieuhomogenität gibt, die sich in den Leseleistungen von Siebtklässlern/Siebtklässlerinnen wiederfindet: Ist der mittlere Sozialstatus einer Region hoch, so sind die Leseleistungen der Schüler/-innen hoch, ist er niedrig, gilt dies auch für die Leistungen. Zudem verdeutlichen die aufgezeigten Ergebnisse, dass die »Homogenisierungsgrammatik« auch auf der Ebene des Unterrichts wirkt. Dies – so unsere Annahme – resultiert unter anderem daraus, dass die auf schulstruktureller und Einzelschulebene wirksamen Homogenisierungstendenzen in vermittelter Form auf den Unterricht »durchschlagen«, stellt der Unterricht doch den Ort dar, an dem Homogenisierung in interaktiven Aushandlungsprozessen realisiert und damit die Legitimation von Schule und gesellschaftlicher (Un-)Gleichheit stabilisiert wird. Lehrkräfte perpetuieren gewissermaßen die »Illusion einer homogenen Lerngruppe«, wie sie ihnen durch die Konstituierung des schulischen Feldes nahegelegt wird, durch didaktisch-methodische Arrangements. Die Reflexion der Heterogenität der Schülerschaft sowie Formen und Möglichkeiten ihrer produktiven Nutzung z.B. unter Rückgriff auf die Daten des Bildungsmonitorings sollten ebenso verstärkt in der Lehrerbildung thematisiert werden wie die Kompetenz, die empirisch generierten Daten lesen zu können. Die Daten verdeutlichen, dass die aktuelle schulische Situation heterogener Lerngruppen dem Homogenisierungsanspruch mit dem Ziel der Gleichbehandlung aller insbesondere auf sozialräumlicher Ebene unterläuft und dadurch zur Reproduktion sozialer Ungleichheit beiträgt. Diese Form produzierter Ungleichheit unterläuft auch die unterschiedlichen Schultypen und damit die schultypenbezogene Leistungshierarchie. Mit diesem Aspekt ist ein wesentlicher Ansatzpunkt bzw. eine Entwicklungsaufgabe des Schulsystems benannt. Der Stadtteil und seine milieuspezifische Zusammensetzung, so zeigen die Daten, stellt ein entscheidendes Moment dar, in dem soziale Disparitäten in Leistung umschlagen. Insbesondere dieses Ergebnis wirft Fra-
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gen auf, der sich die Schulentwicklungsbemühungen der Bildungspolitik sowie der zuständigen Behörden in Zukunft stärker als bisher zu stellen haben. Über die im zweiten Kapitel formulierten Fragen hinaus werden übergreifende Fragen erkennbar, die über die Schule als Institution hinausweisen: Wie legitimiert sich eine homogenisierende Schule in einer demokratisch und plural angelegten Gesellschaft? Welche Folgen und Konsequenzen haben solche sozialen Segregationsprozesse für die demokratische Entwicklung der Stadt Hamburg? Wie kann und soll eine sozial gerechtere Schulentwicklung aussehen? Welche Akteurinnen und Akteure sind neben der Bildungspolitik gefordert, sich für schulische Entwicklung verantwortlich zu zeigen? Ist die »Grammar of Schooling« eine »Grammar of Society«, d.h. Ausweis einer im Kern auf Ungleichheit gerichteten Gesellschaft? Die Bildungspolitik muss sich vor dem Hintergrund der gesammelten Daten die Frage stellen, welche Entwicklungen sie tatsächlich intendiert und wie sie verantwortungsvoll mit den gewonnenen Daten umgehen kann. Entlang der formulierten Fragen werden neue Herausforderungen schulischer Entwicklung deutlich. So bestätigen die Hamburger Daten die von van Ackeren und Klemm (2009: 60) beschriebene Entmonopolisierung der Bildungsgänge und zeigen zugleich die alarmierende Verlagerung der Monopolstellung im Erreichen hoher Bildungszertifikate auf die Ebene des Stadtteils. So bleibt die »Grammar of Schooling« bzw. die »Jagd nach der homogenen Lerngruppe« als schulisches Prinzip erhalten, findet jedoch nicht ausschließlich in der Schule, sondern auf die Ebene des sie umgebenden sozialen Raums statt. Homogenisierung zum Zweck der Realisierung von Chancengerechtigkeit, die leitend in der Konstitution der allgemeinen Schule in Deutschland war, hat ihren emanzipativen Anspruch verloren und verschleiert nur mehr – verstärkt durch die Koexistenz unterschiedlicher Schulformen – bestehende soziale Unterschiede sozialräumlicher Ausprägung. Ein Umbau des Schulwesens von einer Vier- zu einer Zweigliedrigkeit, wie er von der Hamburger Bürgerschaft angestrebt wird, überwindet kaum – so ist anzunehmen – die sozialräumlichen Differenzen. Abzuwarten ist, inwieweit er die sozialen Folgen des beschriebenen Zusammenhangs sozialräumlicher Homogenisierungen abmildern kann. Neben der Mehrgliedrigkeit ist zukünftig der Blick stärker als zuvor auf die gesamte schulische und sozialräumliche Situation einer Region, im hier beschriebenen Fall der Stadt Hamburg, zu richten. Hierin sehen wir eine der zentralen Heraus-
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forderungen zukünftiger Schulentwicklung in Hamburg. Diese Formen der sozialen Benachteiligung sowie ihre Ursachen sind auch in der Lehrerbildung verstärkt zu bearbeiten. Die Einrichtung des Bildungsmonitorings, das kontinuierlich Daten an den Hamburger Schulen erhebt und auswertet, kann Aufschluss über die genannten Zusammenhänge geben sowie die Entwicklungen – mit zunehmender Sammlung von Daten – dokumentieren und nachweisen, und so einen Beitrag zur schulischen Entwicklung leisten.
L ITER ATUR Ackeren, Isabell van/Block, Rainer (2009): »Schulsysteme in der Umstrukturierung«, in: Blömeke, Sigrid/Bohl, Thomas/Haag, Ludwig/ Lang-Wojtasik, Gregor/Sacher, Werner (Hg.), Handbuch Schule, Bad Heilbrunn: Klinkhardt Verlag, S. 207-216. Ackeren, Isabell van/Klemm, Klaus (2009): Entstehung, Struktur und Steuerung des deutschen Schulsystems. Eine Einführung (1. Aufl.), Wiesbaden: VS Verlag. Baumert, Jürgen/Stanat, Petra (2006): »Schulstruktur und die Entstehung differenzieller Lern- und Entwicklungsmilieus«, in: Baumert, Jürgen/ Stanat, Petra/Watermann, Reiner (Hg.), Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2009, Wiesbaden: VS Verlag (1. Aufl.), S. 95-188. Braun, Karl-Heinz/Wetzel, Konstanze (2001): »Schule«, in: Bernhard, Armin/Rothermel, Lutz (Hg.), Handbuch kritische Pädagogik: Eine Einführung in die Erziehungs- und Bildungswissenschaft (1. Aufl.), Weinheim: UTB Wissenschaft, S. 371-383. Faulstich-Wieland, Hannelore (1991): Koedukation – Enttäuschte Hoffnungen? (1.Aufl.), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt. Freie und Hansestadt Hamburg (2009a): Bildungsbericht 2009, Hamburg: Institut für Bildungsmonitoring. URL: www.bildungsmonito ring.hamburg.de/bildungsbericht2009 Freie und Hansestadt Hamburg (2009b): Jahresbericht der Schulinspektion Hamburg 2008, Hamburg: Institut für Bildungsmonitoring. URL: www.schulinspektion.hamburg.de/index.php/article/detail/1538
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Eine Schule für alle in der deutschen Großstadt mit der schärfsten Polarisierung von Reichtum und Armut Fakten, Probleme und Herausforderungen Wulf Rauer
1 E INFÜHRUNG Mit der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen (der als »Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen […] vom 21. Dezember 2008«, der Deutsche Bundestag zugestimmt hat) hat das Projekt einer gemeinsamen Schule für alle (Inklusive Schule) eine neue Dynamik erhalten. Hamburg hat diese internationale Vereinbarung bereits in seinem Schulgesetz umgesetzt. In § 12 heißt es: »(1) Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben das Recht, allgemeine Schulen zu besuchen. Sie werden dort gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf unterrichtet und besonders gefördert. Die Förderung kann zeitweilig in gesonderten Lerngruppen erfolgen, wenn dieses im Einzelfall pädagogisch geboten ist.« (Behörde für Schule und Berufsbildung 2009a: 19)
Angesichts der in § 3 des Hamburgischen Schulgesetztes niedergelegten »Grundsätze für die Verwirklichung« werden Ansprüche auch an eine gemeinsame Schule klar benannt, denn dort heißt es:
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»(3) Unterricht und Erziehung sind auf den Ausgleich von Benachteiligungen und auf die Verwirklichung der Chancengerechtigkeit auszurichten. Sie sind so zu gestalten, dass Schülerinnen und Schüler in ihren individuellen Fähigkeiten und Begabungen, Interessen und Neigungen gestärkt und bis zur vollen Entfaltung ihrer Leistungsfähigkeit gefördert und gefordert werden. Die Ausrichtung an schulform- und bildungsgangübergreifenden Bildungsstandards gewährleistet die Durchlässigkeit des Bildungswesens. Kinder und Jugendliche, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, sind so zu fördern, dass ihnen eine aktive Teilnahme am Unterrichtsgeschehen und am Schulleben ermöglicht wird.« (Ebd: 12)
In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, ob die hohen Ansprüche dieser gesetzlichen Vorgaben durch eine Schule für alle realistisch zu verwirklichen sind. Hamburg ist deshalb ein gutes Beispiel, weil hier die Probleme fast aller deutschen Großstädte wie in einem Vergrößerungsglas besonders scharf zu besichtigen sind. Der Fokus wird dabei nicht allein auf die Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf gelegt, sondern in erster Linie auf das knappe Drittel der Hamburger Kinder und Jugendlichen, das als sogenannte Risikokinder in nahezu allen Vergleichsuntersuchungen gefunden wird. Angesichts der in Hamburg besonders ausgeprägten sozialen Selektivität im Bildungswesen gerät die immer größer werdende Polarisierung von Reichtum und Armut, die sich in den verschiedenen Regionen der Stadt niederschlägt, in den Blickpunkt des Interesses. Die regionalen Verteilungen des ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals werden beispielhaft aufgezeigt, weil diese die differenten Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen in dieser Stadt entscheidend mitbestimmen. In einem nächsten Schritt werden wesentliche Befunde zur Bildungsbenachteiligung des unteren Drittels der Hamburger Schülerschaft im und durch das bisherige Schulsystem zusammengetragen. Durch die Benennung zentraler Aspekte der sozialen Selektivität werden Risiken erkennbar, mit denen sich auch eine Schule für alle auseinanderzusetzen hat. Zum Abschluss werden thesenartig Herausforderungen für eine solche Schulreform in Hamburg vorgestellt.
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2 R EICHTUM UND A RMUT IN H AMBURG Seit genau 20 Jahren gibt es eine Armutsberichterstattung in Deutschland (vgl. Blätter der Wohlfahrtspflege 2010). Nachdem einige Jahre ausschließlich Armut thematisiert worden ist, hat endlich auch die Bundesregierung (vgl. BMAS 2008) den Reichtum als Kehrseite der Armut in das politische und öffentliche Bewusstsein gebracht. Insbesondere die Polarisierung zwischen arm und reich in einer insgesamt reichen Gesellschaft wird als eine Gefährdung des sozialen Friedens betrachtet. Auch wenn es sich nur um relative ökonomische Armut handelt, also in der Definition von Armut das Verhältnis zum Normaleinkommen hergestellt ist, wird die Differenz zu den in der Bezugsgruppe üblichen Einkommen als eine erhebliche Beschränkung der Teilhabe in den verschiedenen Lebensbereichen beurteilt. Zwei Definitionen ökonomischer Armut dominieren in den Sozialund Armutsberichten der Länder und Kommunen. Zum einen handelt es sich um Personen mit einem Äquivalenzeinkommen von weniger als 60 % des Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung in Privathaushalten (Definition der EU). Die zweite Definition bezieht sich auf den Erhalt von Sozialleistungen zur laufenden Lebensführung, wobei z.B. das Statistische Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein (2010) die Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV), laufende Hilfe zum Lebensunterhalt sowie Regelleistungen nach dem Asylbewerbergesetz zusammenfasst. Beide Indikatoren betreffen lediglich die monetären Einkommensressourcen der Betroffenen (vgl. Butterwegge 2009/Hauser 2008/Nationale Armutskonferenz 2010). Deutlich komplexer und die Teilhabemöglichkeiten einbeziehend ist der Lebenslagenansatz der Armutsdefinition. Dieser berücksichtigt die verschiedenen Lebensbereiche, in denen sich armutstypische Konstellationen so zusammenballen, dass multiple Benachteiligungen entstehen. Zu den Bestandteilen dieser Konstellationen zählen ein dauerhafter Mangel an Gütern und Dienstleistungen, Benachteiligungen im kulturellen und gesellschaftlichen Leben, geringere Bildungsmöglichkeiten, Mängel in der Versorgung mit Wohnraum und der Wohnumgebung, Beeinträchtigungen der Gesundheit und der Lebenserwartung, schwierigere Netzwerkbildung und Mangel an gesellschaftlicher Wertschätzung. Ähnlich komplex stellt sich die Festlegung des Begriffes Reichtum dar. In der Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung sind jene Personen reich, die ein Äquivalenzeinkommen haben, das mehr
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als 200 % des Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung in Privathaushalten entspricht. Auch hierbei handelt es sich letztlich um eine politische Setzung der Wohlstandsschwelle, über deren Relevanz für die Bestimmung von Reichtum bei derzeit etwa 3500 Euro pro Monat trefflich zu streiten wäre, die aber geeignet ist, Vergleiche zwischen verschiedenen Regionen und/oder Bevölkerungsgruppen vorzunehmen. Die neuesten Daten zu Armuts- und Reichtumsquoten beziehen sich auf das Jahr 2008 (vgl. Nationale Armutskonferenz 2010). In Hamburg gibt es mit 11,8 % einkommensreicher Bewohner/-innen (gemessen am Bundesmedian) den größten Anteil aller Bundesländer, gefolgt von Hessen (10,1 %). In keinem anderen Bundesland wird die Quote von 10 % erreicht (Deutschland 7,7 %). Gleichzeitig beträgt die Armutsquote in Hamburg 13,1 % (Deutschland 14,4 %). Wie auch die beiden anderen Stadtstaaten verfügt Hamburg über höhere Quoten dieser beiden ökonomischen Kategorien als die Flächenstaaten. Macht man die Landesmediane der Äquivalenzeinkommen zum Maßstab, dann hat Hamburg bei steigender Tendenz mit 16,8 % die bei weitem höchste Armutsquote aller Bundesländer, woran sich die besonders große Spreizung von Armut und Reichtum in Hamburg zeigt. Diese Polarität wird noch viel schärfer sichtbar, wenn man die Verteilungen der Armutsquoten in den sieben Bezirken der Stadt und vor allem in den Stadtteilen analysiert. Wesentlich höher sind die Armutsquoten bundesweit bei den unter 18-Jährigen, auf die in diesem Beitrag fokussiert wird, weswegen sich schon seit längerem der Begriff der Infantilisierung von Armut für die Beschreibung dieses Phänomens durchgesetzt hat. In Hamburg beträgt diese Armutsquote 2008 mit zunehmender Tendenz 22,0 %. Die Relevanz dieses gesellschaftlichen Prozesses zeigt sich erneut daran, dass bei den Kindern unter sieben Jahren die Armutsquote (Sozialleistungen zur laufenden Lebensführung; vgl. Statistisches Amt 2010) in Hamburg im Jahr 2008 26,0 % beträgt, eine Quote, die keine andere Altersgruppe erreicht (bei den 7- bis 17-Jährigen sind es 21,7 %). Auf der Ebene der sieben Bezirke variieren die Armutsquoten der unter 7-Jährigen zwischen 15,6 % und 43,4 %, in letzterem Bezirk wächst fast jedes zweite Kind unter Armutsbedingungen auf. Bei den 7- bis 17-Jährigen liegen die entsprechenden Quoten zwischen 15,1 % und 37,1 %. Auf der Ebene der Stadtteile werden die Differenzen noch viel deutlicher, dort variieren die Armutsquoten der unter 7-Jährigen zwischen 0,5 % und 54,4 %, in vier Stadtteilen sind es mehr als die Hälfte aller Kinder. Die Diskrepanzen, die mit diesen unter-
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schiedlichen Armutsquoten für die Lebenslagen von Kindern verbunden sind, werden an drei Regionen des Hamburger Schulentwicklungsplans (vgl. Behörde für Schule und Berufsbildung 2009b) beispielhaft aufgezeigt. Für die Schulentwicklungsplanung in Hamburg sind 22 Regionen gebildet worden, in denen regionale Schulentwicklungskonferenzen das Schulangebot der Region gemeinsam beraten und als Empfehlungen an die zuständige Behörde abgegeben haben. Die Behörde hat im Anschluss im Dezember 2009 den oben genannten Schulentwicklungsplan für die Jahre 2010-2017 vorgelegt. Für die Regionen 2, 3 und 18 werden beispielhaft einige der mit Reichtum und Armut verknüpften strukturellen Differenzen vorgestellt. Im nächsten Kapitel werden diese Daten mit Aspekten der Bildungsgerechtigkeit und Lernerfolge der Kinder und Jugendlichen zusammengeführt, um zu prüfen, wie weit die derzeitige Situation von den durch die Schulreform angestrebten Zielen entfernt ist. Zu diesen Zielen zählen: »die PISA-Risikogruppen senken, das Bildungsniveau heben […], das Hamburger Schulsystem leistungsstärker und gerechter […] machen, eine höhere Bildungsbeteiligung […] ermöglichen, die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss deutlich […] verringern« (ebd. 2009b: 9). Für die Auswahl von drei Regionen statt einzelner Stadtteile für die Analysen spricht, dass in diesen Strukturen die geplante Schulreform ihre volle Kraft entfalten soll. Der damit verbundene Nachteil, dass es Strukturdaten nur für Stadtteile oder ganze Bezirke gibt, wiegt dagegen weniger schwer. Die Daten der amtlichen Statistik von 2008, die keine stadtteilbezogenen Angaben zum Reichtum enthalten, werden ergänzt um die Sozialindizes der bisherigen Grundschulen. Es handelt sich dabei um einen Index der sozialen Belastung einer Schule, in den insgesamt 30 Einzelindikatoren des sozialen Kapitals, des kulturellen Kapitals, des ökonomischen Kapitals, des Migrationshintergrunds sowie weiterer stadtteilbezogener Daten eingeflossen sind (vgl. Bos et al. 2006). Dieser Sozialindex, der erstmalig 2003 bestimmt wurde, wird durch das Hamburger Institut für Bildungsmonitoring (ifbm) regelmäßig fortgeschrieben. Stufe eins beinhaltet die stärkste Belastung für die Überwindung von Barrieren der Bildungsgerechtigkeit, Stufe sechs bezeichnet die günstigste Situation. Die Region zwei besteht aus drei Stadtteilen, von denen einer sehr bevölkerungsarm ist. In den beiden größeren Stadtteilen haben 17 % bzw. 24 % der Haushalte Kinder (in Hamburg sind es insgesamt 18 %). Die Anteile der Leistungsempfänger nach SGB II sind mit 20,9 % bzw. 24,8 %
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doppelt so hoch wie in Hamburg insgesamt. Die Anteile der ausländischen Schüler/-innen (nicht der Schüler/-innen mit Migrationshintergrund) betragen 22,3 % bzw. 27,1 %. Laufende Hilfen zum Lebensunterhalt erhalten 43,8 % bzw. 51,1 % der unter 7-Jährigen. Die Wohnfläche pro Einwohner ist rund 5 m² geringer als im Hamburger Durchschnitt. Von derzeit 14 Schulen mit Grundschülern und Grundschülerinnen haben 13 den Sozialindex eins, eine erreicht den Wert zwei. Für die geplanten zwölf Primarschulen wird sich hinsichtlich der sozialen Belastung nichts ändern. Die Region gehört zu den besonders sozioökonomisch belasteten der Stadt. Drei Stadtteilschulen und ein einziges Gymnasium sind für diese Region geplant. Die Region drei besteht aus zwei Stadtteilen, von denen einer nur ein Zehntel der Bewohnerzahl des anderen umfasst. In rund einem Viertel der Haushalte leben Kinder. Von diesen sind 41,0 % bzw. 65,4 % ausländische Kinder. Leistungsempfänger nach SGB II sind 26,3 % bzw. 29,6 %. Laufende Hilfen zum Lebensunterhalt bekommen von den unter 7-Jährigen 49,7 % bzw. 52,6 %. Die durchschnittliche Wohnfläche liegt 8 bzw. 12 m² unter dem Durchschnittswert von Hamburg. Der Anteil der Sozialwohnungen an allen Wohnungen ist fast zweimal bzw. fast dreimal so hoch wie in Hamburg insgesamt. In sieben der acht vorhandenen Grundschulen beträgt der Sozialindex eins, eine erzielt den Wert zwei. Die Zusammensetzungen der geplanten acht Primarschulen werden nicht weniger sozial belastet sein. Auch diese Region gilt insgesamt als sozioökonomisch besonders benachteiligt. Drei Stadtteilschulen und ein einziges Gymnasium sind für diese Region vorgesehen. Die Region 18 setzt sich aus fünf Stadtteilen zusammen. In 27 % bis 38 % der Haushalte leben Kinder. Diese Quoten sind teilweise doppelt so hoch wie in Hamburg insgesamt. Der Anteil ausländischer Kinder liegt in den Stadtteilen mit einer Ausnahme (11,8 %) unter 4,5 %. Leistungsempfänger/-innen nach SGB II sind zwischen 1,0 % und 3,1 %. Laufende Hilfen zum Lebensunterhalt erhalten von den unter 7-Jährigen zwischen 2,2 % und als Ausreißerwert 11,6 %. Diese Quoten liegen extrem weit unter der Hamburger Gesamtquote. Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person ist mindestens 3, im Extremwert 20 m² größer als in Hamburg insgesamt. Der Anteil der Sozialwohnungen variiert zwischen 0,3 % und 9,2 %. In allen acht Grundschulen wird der höchste Wert 6 im Sozialindex erreicht, der auch in den geplanten acht Primarschulen außer Frage stehen wird. Es handelt sich um eine der besonders sozioökonomisch privilegierten Regio-
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nen der Stadt. Für die Sekundarstufe sind zwei Stadtteilschulen und drei Gymnasien vorgesehen. Es gibt weitere Regionen, die sich ähnlich drastisch in ihren Strukturdaten voneinander unterscheiden. Der direkte Vergleich zweier sozioökonomisch verschiedener Regionen macht deutlich, dass die Lebensbedingungen der in diesen Regionen lebenden Kinder erheblich bis dramatisch differieren. Es sind nicht nur die individuell vorhandenen Ressourcen, sondern auch die Umfeldbedingungen, die die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder einschränken bzw. fördern. Es gibt einige empirische Studien, in denen die besondere Bedeutung von Armut für Kinder differenziert, wenn auch nur selten im Längsschnitt, belegt worden ist (vgl. Chassé/Zander/Rasch 2007, Holz et al. 2005, Zander 2008). In besonderer Weise zählt dazu die Bildungsarmut, deren Problematik im nächsten Kapitel mit Hamburger Erkenntnissen entfaltet wird. Unstrittig ist, dass Armut bei Kindern mit vielfältigen Einschränkungen verknüpft ist, die deren gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten in ihrem Lebensumfeld beschneiden. Ernährung und Gesundheit sind stärker gefährdet als bei anderen Kindern. Die Wohnungen, in denen arme Kinder mehrheitlich leben müssen, sind überwiegend kinderunfreundlich, die Wohnumgebungen meist besonders anregungsarm und oft verkehrsreich, wodurch die Bewegungsräume der Kinder eingeschränkt sind. Die Infrastruktur bietet kaum Gelegenheit zur Aneignung kulturellen Kapitals. Arme Kinder sind oft durch ihr äußeres Erscheinungsbild für andere Kinder erkennbar und damit potenziell von Ausgrenzung bedroht.
3 B ILDUNGSBENACHTEILIGUNGEN IM H AMBURGER S CHULSYSTEM Mit dem Bildungsbericht Hamburg (Institut für Bildungsmonitoring [ifbm] 2009) liegt eine Dokumentation vor, die in vorbildlicher, sehr differenzierter Weise und in kritischer Würdigung der einschlägigen empirischen Arbeiten die Stärken und Schwächen des Hamburger Bildungswesens beschreibt und analysiert. Dieser Sachverhalt ermöglicht es, in diesem Beitrag die Literaturverweise im Wesentlichen auf diese Quelle zu reduzieren. Die wichtigsten Ergebnisse über die Risikogruppen des Hamburger Schulsystems werden vorgestellt unter Berücksichtigung der Ziele, die mit der geplanten Schulreform erreicht werden sollen (s.o.). Im
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Vordergrund stehen die Leistungsstände der Kinder und Jugendlichen aus armen Elternhäusern sowie deren Beteiligungen an Schulformen und Schulabschlüssen. Bereits bei der Vorstellung der Viereinhalbjährigen eineinhalb Jahre vor Beginn ihrer Schulpflicht zeigen sich erhebliche Differenzen in der Sprachentwicklung der Kinder. Bei fast 30 % der Kinder liegt ein Sprachförderbedarf vor, bei über 11 % ist er ausgeprägt. Bei letztgenannten Kindern sind solche aus nicht einsprachig deutschsprechenden Familien sechsmal häufiger vertreten als jene aus deutschsprechenden Familien. Eltern dieser Kinder geben eher geringe Qualifikationen und fehlende Berufstätigkeit an. Haben diese Kinder Migrationshintergrund, sprechen sie auch in ihrem außerfamiliären Umfeld seltener deutsch. Sie haben zudem später und weniger ausgeprägt mit der Tagesbetreuung begonnen. Die regionale Verteilung deckt sich weitgehend mit der der sozioökonomischen Lage. Ein Stadtteil der Region 3 weist 50,8 % Kinder mit Sprachförderbedarf auf. Noch schärfer variieren die Anteile zwischen den Schulen: 0 %-88 %. In immerhin 21 Schulen hat über die Hälfte der Kinder Sprachförderbedarf (vgl. ifbm 2009: 161-162). Die Evaluation der stattgefundenen Sprachförderung zeigt deren Erfolge, aber auch einen typischen Befund schon so früh: Unter den Schulen mit niedriger Erfolgsquote in der Sprachförderung dominieren die Schulen mit dem niedrigsten Sozialindex (1 und 2) mit über 75 % eindeutig. Im Rahmen der ungünstigeren Umfeldbedingungen ist es offensichtlich schwieriger, das Sprachförderkonzept erfolgreich durchzuführen (vgl. ebd.: 169). Bei der Einschulung gibt es zwei Formen der Selektion, nämlich die Einschulung in eine Sonderschule und die Zurückstellung. Zwischen 3,3 % und 3,5 % der Kinder sind in den Schuljahren 2005/6 bis 2008/9 in die ersten Klassen der Sonderschulen eingetreten. Diese Quote hat sich trotz ausgebauter Integrationsangebote in den Hamburger Grundschulen kaum verändert. Der Anteil der Kinder mit Migrationshinweis ist unter den Sonderschülern und Sonderschülerinnen etwas höher als unter den Grundschülern und Grundschülerinnen (30,2 %-33,1 % bzw. 26,5 %-28,8 %). Rückstellungen sind seit 1997 in Hamburg durch das Schulgesetz erheblich erschwert worden. Entsprechend sind die Rückstellungsquoten von vorher durchschnittlich 10 % über 6,4 % (2004/5) auf 2,5 % im Schuljahr 2008/9 gesunken. Immerhin rund 6 % der Kinder befinden sich heute nicht in altersgemäßen Grundschulklassen. Diese Kinder würden in einer selektionsfreien Schule für alle zusätzlich aufzunehmen sein. Gleichzeitig
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liegt der Anteil der vorzeitig eingeschulten Kinder stabil bei über 13 % (vgl. ebd. 116-118). Die Selektionen verteilen sich über die Regionen, besonders aber über die einzelnen Schulen sehr unterschiedlich. Selbst in den Integrativen Grundschulen variierten diese beiden summierten Selektionsanteile in den Jahren 1991/2 bis 1997/8 (über 8000 Einschulungsfälle) in den Schulen zwischen 0 % und 31,1 % (über alle Schulen und alle Einschulungsjahrgänge sind es 11,9 %), obwohl diese Schulen alle über besondere personelle Ausstattungen für diese Schüler/-innen verfügten (vgl. Rauer/Schuck 1999). Von diesen Integrativen Grundschulen haben 22 (zwei Drittel) heute die Belastungsindizes 1 und 2 und nur fünf die günstigen Werte 5 und 6. Konzeptionsgemäß befindet sich die Mehrheit dieser Schulen in sozialen Brennpunkten. Mit dem Ende der Grundschulzeit beginnen die internationalen Leistungsstudien IGLU und PISA, die Befunde über die Lage des Hamburger Schulwesens im internationalen und nationalen Vergleich ermöglichen. Zusätzlich hat Hamburg mit der Lernausgangslagenuntersuchung (LAU) und mit KESS (Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern) Vollerhebungen in zwei Jahrgängen durchgeführt, die Lernentwicklungen von Schülern über die Zeit des Sekundarstufenbesuchs beschreiben können. In der folgenden Darstellung wird auf die wichtigsten Befunde zur sozialen Benachteiligung fokussiert, wobei in erster Linie die Lesekompetenz berücksichtigt wird, weil sich die Ergebnisse zur mathematischen Kompetenz nur graduell unterscheiden (vgl. ifbm 2009: 184194). Am Ende der Grundschulzeit beträgt der Unterschied in der Lesekompetenz zwischen den Mittelwerten der besten und den schwächsten Hamburger Grundschulen mehr als zwei Lernjahre. Letztere befinden sich regelhaft in den Stadtteilen, die hinsichtlich des Belastungsindexes besonders benachteiligt sind. Der Anteil der Risikoschüler/-innen (es fehlt eine grundlegende Lesekompetenz) in Klasse 4 beträgt 22 %, womit Hamburg einen Spitzenplatz einnimmt. Zusätzlich ist die Differenz zwischen den 5 % schwächsten und den 5 % lesestärksten Kindern in Hamburg besonders groß (mehrere Lernjahre) und sie ist bei den 15-Jährigen noch deutlich größer. Im Unterschied zu anderen Bundesländern hat es in den IGLUund den PISA-Untersuchungen in Hamburg auch keine Verbesserung des durchschnittlichen Lesekompetenzniveaus gegeben. Der Anteil der Risikoschüler/-innen ist 2006 bei den 15-Jährigen mit 27,8 % deutlich höher
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als am Ende der Grundschulzeit und der höchste aller Bundesländer. Ein erheblicher Anteil der Unterschiede ist schon am Ende der Grundschulzeit erklärbar durch die soziale Herkunft der Kinder, die beiden Merkmale korrelieren in Hamburg noch stärker (r = .36) als in Deutschland, dem internationalen Spitzenreiter. Es gibt auch in der Grundschule als der weitgehend gemeinsamen Schule für alle offensichtlich große Schwierigkeiten, alle Kinder ausreichend zu fördern. Die Unterschiede zwischen Kindern verschiedener sozialer Herkunft verringern sich nicht im Verlauf der Sekundarstufe, in der mathematischen Kompetenz werden sie sogar größer. Kinder mit Migrationshintergrund liegen in der Lesekompetenz im Mittel etwa zwei Lernjahre hinter den deutschen Kindern zurück, diese Differenz verringert sich allerdings bis Klasse 8 um etwa ein halbes Lernjahr. In den genannten Leistungsstudien sind in aller Regel die Kinder aus Sonderschulen des Förderschwerpunkts Lernen nicht enthalten. Von den insgesamt 5,5 % Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Jahr 2008 haben 42 % ein sonderpädagogisches Gutachten mit dem Förderschwerpunkt Lernen. Von diesen wird der größte Teil nicht integrativ beschult (vgl. ebd. 152ff.). Der überwiegende Teil dieser Kinder stammt aus sozioökonomisch benachteiligten Familien und erreicht im siebten Schuljahr Lernstände, die kaum an die der Hamburger Viertklässler heranreichen (vgl. Wocken 2007). Diese 2,4 % aller Hamburger Schüler/-innen würden die Leistungsschere bei allen Schülern und Schülerinnen noch weiter öffnen. Beim Übergang der Kinder aus der Grundschule in die Sekundarstufe zeigt sich eine weitere soziale Benachteiligung im Hamburger Schulsystem (vgl. ifbm 118ff.). Kinder aus Familien der oberen Dienstklasse haben eine 2,6fach höhere Chance, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, als Kinder von Facharbeitern und Facharbeiterinnen, die die gleiche Leseleistung und gleiche kognitive Voraussetzungen erbringen. Insbesondere im großen mittleren Bereich der Schulleistungen wirkt sich die soziale Herkunft stark aus. Kinder aus bildungsferneren Elternhäusern müssen deutlich bessere Schulleistungen zeigen, um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten. Diese soziale Benachteiligung verschärft sich noch durch das Elternwahlrecht bei der Schulentscheidung. Eltern mit niedrigerer Belastung halten sich weniger an die Empfehlungen der Lehrer und Lehrerinnen, wenn diese keine Gymnasialempfehlung aussprechen. Das führt dazu, dass in Hamburg bei zwei gleich leistungsstarken Kindern die Wahrscheinlichkeit, auf ein Gymnasium zu kommen, bei einem Kind der
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oberen Dienstklasse 4,5mal so hoch ist wie bei einem Facharbeiterkind. Diese soziale Schieflage setzt sich fort bei den 2,2 % Wiederholerinnen und Wiederholern im Schuljahr 2008/9 (vgl. ebd. 128ff.) und den Schulformwechslern in der Sekundarstufe, bei denen die Abwärtswechsler etwa 70 % stellen (vgl. ebd. 125ff.). Bei den Schulabschlüssen kumulieren die sozialen Benachteiligungen. Die Quote der Schüler/-innen ohne Hauptschulabschluss ist 2008/9 erstmalig in Hamburg unter 10 % gesunken (8,2 %). Fast 80 % der Sonderschüler/-innen gehen ohne Hauptschulzeugnis ab. 21,4 % aller Schüler/innen erreichen den Hauptschulabschluss (vgl. ebd. 196-199). Auch diese Schüler/-innen stellen einen großen Anteil der Risikoschüler/-innen. Sie stammen wie die Sonderschüler/-innen überwiegend aus bildungsfernen Elternhäusern. In einer Auswertung der KESS-4-Untersuchung haben Rauer und Schuck (2007) die Lernstände der Kinder aus den Hamburger Integrativen Grundschulen analysiert, die dem Ideal, eine Schule für alle zu sein, näher kommen als alle anderen Grundschulen. Es zeigt sich, dass die tatsächlichen Lernstände in der Regel die aufgrund der sozialen Zusammensetzung der Schulen bzw. der Klassen erwarteten Lernstände nur dann erreichen, wenn die sozialen Belastungen nicht zu hoch sind. Umgekehrt sind jene Integrativen Grundschulen und ihre Klassen besonders bevorteilt, deren soziale Zusammensetzung eher privilegiert ist, sie übertreffen ihre Erwartungswerte besonders häufig. Dieser Befund ist von zentraler Bedeutung für eine Schule für alle. Er reiht sich ein in drei korrespondierende Befunde internationaler und nationaler Studien. Bereits im Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung der Integrativen Grundschule in Hamburg (vgl. Hinz et al. 1998) ist dieses Phänomen als »Risiko-Hypothese« bezeichnet worden (siehe Schroeder in diesem Band). Die wünschenswerte Nichtselektierung von leistungsschwächeren Kindern ist in einem eher insgesamt leistungsarmen Milieu eine offensichtlich komplexere und schwierigere Aufgabe als in durchschnittlichen Leistungsmilieus. Damit ist das Risiko des Scheiterns deutlich erhöht. Im ersten Bericht der OECD (2001) zu PISA 2000 ist für die Lesekompetenz festgestellt worden, dass der sozioökonomische Hintergrund der Gesamtheit aller Kinder einer Schule Einfluss nimmt auf die Schulleistung. Dieser Effekt geht über jenen hinaus, der durch den individuellen Hintergrund der einzelnen Schüler/-innen bedingt ist. Dieser Einfluss wird »Umfeldeffekt« genannt. Er ist in Deutschland nachgewiesenerma-
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ßen größer als in allen anderen Staaten, die an PISA 2000 teilgenommen haben. Schümer (2004) bestätigt die Risiko-Hypothese für die deutschen 15-Jährigen mithilfe der PISA-Daten. Ihre Untersuchung bezieht sich wie die der OECD nur auf die Schulebene. Sie zeigt, dass es eine »doppelte Benachteiligung von Schülern« im Sekundarschulwesen gibt. »Im Fall einiger Merkmale zur sozialen und kulturellen Herkunft scheint es kritische Werte für die Zusammensetzung zu geben, jenseits derer die individuellen Leistungen unerwartet stark durch die Schülerkomposition beeinträchtigt werden […]. Schüler, die unter ungünstigen sozialen und kulturellen Bedingungen aufwachsen und dementsprechend häufiger als andere Schulschwierigkeiten haben, werden noch einmal benachteiligt, wenn sie extrem ungünstig zusammengesetzten Schülerpopulationen angehören. Das heißt, durch die soziale Herkunft bedingte Nachteile werden institutionell verstärkt.« (Schümer 2004: 102)
Diese Befunde, die bestätigt werden durch neuere Arbeiten von Kronig (2007) und Stubbe (2009), stellen bei großen regionalen Differenzen, wie sie in Abschnitt zwei dieses Beitrags für Hamburg dargestellt sind, besondere Herausforderungen dar für eine Schule für alle Kinder, wenn gleichzeitig soziale Benachteiligungen aufgehoben werden sollen.
4 H ER AUSFORDERUNGEN AN EINE S CHULE FÜR ALLE IN H AMBURG Die Benennung der explizierten Risiken und Problemlagen stellt keinesfalls grundsätzlich die gemeinsame Beschulung aller Kinder in Frage. Sie zeigt aber auf, mit welchen besonderen Herausforderungen eine solche Schule in Hamburg konfrontiert ist, wenn sie gleichzeitig die soziale Gerechtigkeit für und die Lernerfolge aller Schüler/-innen erhöhen will. Diese Herausforderungen können hier nur thesenartig genannt werden. Die Bemühungen der letzten 20 Jahre, Armut in unserer Gesellschaft einzudämmen, sind gescheitert. Die Polarisierung im Sinne einer Spaltung der Gesellschaft in arm und reich hat sich vergrößert. Es gibt offensichtlich keine politische Mehrheit für eine höhere gesellschaftliche Inklusion. Selbst die Regelleistungen für arme Kinder (Hartz-IV-Sätze) mussten 2010 erst durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt werden. Damit setzt sich eine Tradition in diesem Land fort: Es bedarf
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immer wieder höchstrichterlicher Entscheidungen, bis Politik und Verwaltung Rahmenbedingungen für Kinder und Arme in dieser Gesellschaft angemessen ausgestalten. Es dominiert im Gegenteil der Trend zur gesellschaftlichen Exklusion. Diese Tendenzen lassen sich auch ablesen an den sozialräumlichen Segregationen, die in den verschiedenen Stadtteilen stattfinden. Wohnbau- und Sozialpolitik tragen neben Armut und Reichtum dazu bei, dass sich die Lebenswelten von Kindern in der Stadt immer weiter voneinander entfernen. Wegen dieser sozialräumlichen Segregation kann die Schule für alle nur in solchen Regionen zieladäquat etwas bewirken, in denen noch Durchmischungen von armen und reichen Bevölkerungsgruppen vorhanden sind, sofern nicht ein Teil der Letztgenannten Fluchtwege nutzt. In etlichen Regionen der Stadt gibt es diese Durchmischung nicht mehr. Die Benachteiligten bleiben auch bei längerer gemeinsamer Beschulung unter sich, es droht weiterhin die doppelte Benachteiligung, sofern keine ausgewogene Leistungsverteilung vorhanden ist. Es ist unbestritten, dass eine höhere Bildungsbeteiligung ein Mittel gegen Bildungsarmut ist, zur Armutsbekämpfung aber nicht ausreicht, nicht einmal eine gesicherte materielle Existenz garantiert. Eine Verbesserung der Schulabschlüsse der sozial Benachteiligten erhöht zwar deren individuelle Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt, vergrößert aber nicht die Zahl der Erwerbstätigen. Bildungsarmut ist nicht allein durch pädagogische Maßnahmen zu verringern, weil diese eindimensionale Herangehensweise den multikausalen Bedingungen ihrer Verursachung nicht gerecht werden kann. Schon der dringend erforderliche Abbau der vorhandenen institutionellen Benachteiligung im Hamburger Schulwesen stellt erhebliche Anforderungen an das neue System. Ohne begleitende sozialpolitische Maßnahmen stellt das wichtige Ziel der Entkoppelung von sozialer Herkunft und individueller Zukunft eine pädagogische Illusion dar. Es ist nicht abzusehen, ob und in welchem Ausmaß sozioökonomisch privilegierte Eltern ihren Kindern eine Schule für alle zumuten wollen. Um eine Zumutung handelt es sich offensichtlich, wie man am Volksbegehren in Hamburg sehen kann, bei dem es nur um die Verhinderung der Verlängerung gemeinsamen Lernens um zwei Jahre geht (Primarschule). Sollte mit der Schule für alle auch die Abschaffung des Gymnasiums inkludiert sein, ist mit erheblichem Widerstand aus der Bevölkerung zu rechnen.
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Der Umgang mit größerer Heterogenität der Schüler/-innen stellt die Lehrerschaft vor gesteigerte Anforderungen, denen sich die Gesamtheit nicht die gewachsen fühlt. Bei der freiwilligen Einführung der Integrativen Grundschulen hat es viele Auseinandersetzungen in Kollegien gegeben. Manche Schulen haben erst nach dem Austausch von Lehrkräften durchgehend konzeptionsgemäß arbeiten können. Angesichts des Sachverhaltes, dass nur 25 % der beobachteten Unterrichtseinheiten in Hamburger Schulen das höchste Niveau der Unterrichtsqualität erreichen (vgl. ifbm 2009: 174ff.), wird eine Schule für alle einer besonderen Qualifizierung ihrer Lehrerschaft bedürfen. Dies ist eine der notwendigen und pädagogisch leistbaren Gelingensbedingungen für eine Schule für alle. Welche weiteren hinzukommen müssen, ist z.B. dem Index für Inklusion (Boban/Hinz 2003) zu entnehmen, der Kriterien enthält und Wege zum Ziel aufweist.
L ITER ATUR Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg (2009a): Hamburgisches Schulgesetz (HmbSG), Hamburg: BSB Hamburg. Dies. (2009b): Schulentwicklungsplan für die staatlichen Primarschulen, Stadtteilschulen und Gymnasien in Hamburg 2010-2017, Hamburg: BSB Hamburg. Blätter der Wohlfahrtspflege, Themenheft 157, Armutsberichterstattung (2010), S. 41-72. Boban Ines/Hinz, Andreas (2003): Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln, Halle: Universität HalleWittenberg. Bos, Wilfried/Pietsch, Marcus/Gröhlich, Carola/Janke, Nike (2006): »Ein Belastungsindex für Schulen als Grundlage der Ressourcenzuweisung am Beispiel von KESS 4. Versuch einer Klassifizierung von Schultypen«, in: Bos, Wilfried/Holtappels, Hans Günter/Pfeiffer, Hermann/ Schulz-Zander, Renate (Hg.), Jahrbuch der Schulentwicklung, Band 14. Daten, Beispiele, Perspektiven, Weinheim: Juventa, S. 149-160. Bundesgesetzblatt (2008): Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember
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2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Bonn: Bundesanzeiger Verlag. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2008): Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin: Bundesanzeiger Verlag. Butterwegge, Christoph (2009): Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, Frankfurt: Campus. Chassé, Karl/Zander, Margherita/Rasch, Konstanze (2007): Meine Familie ist arm. Wie Kinder im Grundschulalter Armut erleben und bewältigen, 3. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag. Hauser, Richard (2008): »Das Maß der Armut: Armutsgrenzen im sozialstaatlichen Kontext. Der sozialstatistische Diskurs«, in: Huster, ErnstUlrich/Boeckh, Jürgen/Mogge-Grotjahn, Hildegard (Hg.), Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung, Wiesbaden: VS Verlag, S. 94-117. Hinz, Andreas et al. (1998): Die Integrative Grundschule im sozialen Brennpunkt. Ergebnisse eines Hamburger Schulversuchs, Hamburg: Feldhaus. Holz, Gerda/Richter, Antje/Wüstenörfer, Werner/Giering, Dietrich (2005): Zukunftschancen von Kindern – Wirkung von Armut bis zum Ende der Grundschulzeit, Zusammenfassung des Endberichts der 3. Phase der AWO-ISS-Studie, Bonn: ISS Verlag. Institut für Bildungsmonitoring Hamburg (2009): Bildungsbericht Hamburg, Hamburg: Institut für Bildungsmonitoring. Kronig, Winfried (2007): Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs. Theoretische Erklärungen und empirische Untersuchungen zur Lernentwicklung und zur Leistungsbewertung in unterschiedlichen Schulklassen, Bern: Haupt Verlag. Nationale Armutskonferenz (Hg.) (2010): Armut und Ausgrenzung überwinden – in Gerechtigkeit investieren. Erfahrungen, Hintergründe, Perspektiven, Berlin: Eigenverlag. OECD (2001): Lernen für das Leben. Erste Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie PISA 2000. Ausbildung und Kompetenzen, Paris: OECD. Rauer, Wulf/Schuck, Karl Dieter (1999): Bildungswege von Kindern in der Integrativen Grundschule, Hamburg: Feldhaus Verlag. Dies. (2007): »Hamburger Grundschulen und Grundschulklassen mit einer formellen Integrationsorganisation«, in: Bos, Wilfried/Gröhlich,
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Die Schule für alle – überall? Rückfragen zum Hamburger Schulversuch »Integrative Grundschule im sozialen Brennpunkt« Joachim Schroeder
1 K ONTROVERSE S ICHT WEISEN AUF DASSELBE P ROJEK T Inklusive Pädagogik ist das ambitionierte Vorhaben, die sich im gegliederten Bildungssystem abbildende soziale Hierarchisierung von Bildungschancen mit einer Schule für alle auszuhebeln. Inklusive Pädagogik reagiert somit auf den Befund, dass sich gesellschaftliche Ungleichheit unter anderem über das Bildungswesen reproduziert. Denn in das gegliederte Schulsystem ist eine Struktur der Homologie eingeschrieben: Das in oberen und mittleren sozialen Milieus verfügbare kulturelle Kapital korrespondiert mit dem in den höheren Schulformen vermittelten Bildungskapital, und ebenso entspricht das in unteren sozialen Milieus benötigte dem in den Haupt- und Sonderschulen bereitgestellten Kulturkapital. Diese homologen Strukturen zeichnen milieustabile Bildungswege vor und ermöglichen vor allem den Angehörigen der unteren sozialen Milieus nur in Ausnahmefällen einen gesellschaftlichen Aufstieg. Durch eine »inklusive« Neuordnung des Schulwesens und mittels eines konsequent »integrativen« Unterrichts, so das optimistische Versprechen, lasse sich der soziale Raum der Schule so strukturieren, dass die von der Milieuzugehörigkeit vorgezeichneten Bildungswege zukunftsoffener würden und Chancengleichheit nicht länger eine »Illusion« (Bourdieu) bleiben müsse. Angefragt, zum vorliegenden Band einen skeptischen Beitrag über den Zusammenhang von Inklusion und Sozialraum beizusteuern, schien mir
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eine Auseinandersetzung mit dem 1991 in Hamburg begonnenen Schulversuch »Integrative Grundschule im sozialen Brennpunkt« aus zweierlei Gründen interessant: Zum einen hat Karl Dieter Schuck in verschiedenen Vorarbeiten hierzu bildungstheoretische Überlegungen entfaltet (vgl. Schuck 1990) und die pädagogische Machbarkeit des Projektes ausgelotet (vgl. Borchert/Schuck 1992). Teile dieser Texte flossen in jene Drucksache 13/6477 der Hamburger Bürgerschaft bis in detailgetreue Formulierungen ein, durch die der Schulversuch beschlossen wurde. Zusammen mit Hans Wocken hatte er die Leitung der wissenschaftlichen Begleitung des Vorhabens inne, die Ergebnisse wurden in vier Bänden dokumentiert (vgl. Hinz et al. 1998; 1999, Rauer/Schuck 1999, Katzenbach/Hinz 1999). Nach Beendigung der wissenschaftlichen Begleitung engagierte sich Schuck weiterhin für die integrativen Bemühungen in Hamburg. Der Schulversuch ist zum anderen von überregionaler Bedeutung, löste doch die Bewertung der empirischen Ergebnisse eine zeitweise scharf geführte und bis heute anhaltende pädagogische Kontroverse zu den Chancen und vor allem über die Grenzen schulischer Integration aus. Denn erstmals im deutschen Kontext versuchte man in der Hansestadt, der Wirkmacht zweier zentraler Dimensionen schulischer Exklusion – »Behinderung« und »soziale Ungleichheit« – durch eine Neugestaltung des Unterrichts pädagogisch zu begegnen. Mit diesem Vorhaben sollte überprüft werden, ob sozial benachteiligte Kinder auch in Regelklassen an Schulen in »sozialen Brennpunkten« integriert werden können (vgl. Hinz et al. 1998: 12). Da mit diesem Ansatz somit eine sozialräumliche Problemstellung verknüpft und zudem eine rund zwanzigjährige Praxis gegeben ist, war meine Neugierde geweckt. Im Folgenden wird weder eine »Festschrift« zur inklusiven Pädagogik geliefert, noch geht es mir um die Enttarnung eines »Schulmythos«. Vielmehr kann der Hamburger Schulversuch einem (sonder-) pädagogischen Diskursfeld zugeordnet werden, in dem um angemessene Strategien zur Vermeidung von Bildungsbenachteiligungen gestritten wird und »inklusive« mit »milieusensiblen« Konzepten konkurrieren (vgl. Katzenbach/ Schroeder 2007). Nachfolgend werde ich deshalb zunächst meine Beobachterperspektive klären und begründen, weshalb ich mich der zweiten Diskursgruppe zuordne. Nach einer kurzen Darstellung des Schulversuchs und wichtiger Ergebnisse möchte ich mich dann aus einer milieutheoretischen Sicht mit einigen Problemkreisen des Vorhabens befassen
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und diese in Überlegungen zum Zusammenhang von Bildung und der Ungleichheit sozialer Milieus weiterführen.
2 B ILDUNG IN GESPALTENEN R ÄUMEN : A NNÄHERUNGEN AN DIE THEMATIK Seit vielen Jahren interessiere ich mich für Schul- und Bildungskonzepte, die sich an benachteiligte Kinder und Jugendliche richten und in denen sozialräumliche Aspekte der Schulentwicklung problematisiert werden (vgl. Schroeder 2002; 2009). Meine Überlegungen zum Hamburger Schulversuch knüpfen, erstens, an Befunde der internationalen Schulforschung an, die besagen, dass sich in allen Bildungssystemen in Europa erhebliche Probleme ergeben, an mindestens vier Differenzlinien Chancengerechtigkeit herzustellen: Geschlecht, soziale Lage, Behinderung und Migrationshintergrund sind neuralgische Dimensionen, an denen individuelle Unterschiede von Schülerinnen und Schülern häufig in institutionell verursachte Bildungsbenachteiligungen umschlagen. Auch das deutsche Schulsystem weist bekanntlich hinsichtlich dieser Differenzlinien dramatische Gerechtigkeitsprobleme auf (vgl. Motakef 2006). Der Hamburger Ansatz ist mit der offensiven Bearbeitung zweier Exklusionsrisiken – Behinderungen manifestiert als soziale Benachteiligungen – somit ein interessantes schulisches Reformvorhaben. Der Schulversuch ist, zweitens, in unterschiedlichen historischen Exklusionsmustern verortet: Denn auf Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung wird in Deutschland traditionell mit einer institutionellen Separierung reagiert, also mit der Einweisung der Betroffenen in eigens für sie geschaffene Einrichtungen: Sonderschulen, Heime, Werkstätten für behinderte Menschen. Dagegen werden Armut und Zuwanderung gesellschaftlich im Muster der sozialräumlichen Segregation bearbeitet. Deshalb haben wir keine Sonderschulform, in die Kinder und Jugendliche mit einem festgestellten Hartz-IV-Bedarf überwiesen werden, wie auch die Einrichtung von Sonderschulen für Kinder ohne deutsche Staatsangehörigkeit nicht zulässig ist. Aber wir finden Schulen, die in städtischen Vierteln oder in ländlichen Regionen liegen, in denen fast ausschließlich Menschen ohne jegliche Aussicht auf einen Arbeitsplatz wohnen, in denen Migranten vorwiegend unter sich leben oder – und dann wird es besonders brisant – in denen sozial ausgegrenzte und kulturell verunsicherte Bevöl-
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kerungsgruppen in Verteilungskämpfen um nicht vorhandene materielle Ressourcen konkurrieren müssen. Deswegen möchte ich, drittens, an soziologische Theorien anknüpfen, in denen überzeugend dargestellt wird, dass wir von einer vielschichtigen »Verräumlichung« des gesellschaftlichen Lebens auszugehen haben (vgl. Schroer 2006). In diesem sozialräumlichen Kräftefeld bilden sich die ungleichen gesellschaftlichen Positionen ab und finden gleichsam ihren je spezifischen »Ort«. Folglich vollzieht sich auch Schulentwicklung in sozialen Räumen, die solchen gesellschaftlichen Spaltungsprozessen unterliegen. Der Hamburger Schulversuch nahm sich entschlossen vor, zu erproben, ob sich denn auch Integrationsklassen in »belasteten Stadtgebieten« und ohne die Unterstützung »engagierter Eltern aus privilegierten Wohngebieten« einrichten lassen (vgl. Hinz et al. 1998: 13). Inklusionspädagogik stellte sich somit dem Härtetest, denn das Konzept kann nur überzeugen, wenn es sich auch in sozialen Brennpunkten bewährt. Das Vorhaben lässt sich, viertens, im Kontext der erziehungswissenschaftlichen Kontroverse diskutieren, in der insbesondere über die Frage gestritten wird, welche unterrichtlichen Gefüge und welche Bildungsprogramme für die Schulen in »schwierigen« Stadtteilen zu empfehlen sind. Zumeist herrscht immerhin Konsens, dass solchen Schulen besondere finanzielle und personelle Unterstützung und pädagogische Freiräume zu gewähren sind, um die Kollegien in die Lage zu versetzen, ihre Schule so zu gestalten, wie es die Verhältnisse erfordern. Da kommt der Hamburger Schulversuch gerade recht, setzt er sich doch zum Ziel, worin viele andere Schulkonzepte oftmals scheitern: Benachteiligte Kinder und Jugendliche schulisch so zu fördern, dass sich die Folgen ihres Aufwachsens in sozialer Randständigkeit nicht gleichsam schicksalhaft in ihren weiteren biographischen Verläufen reproduzieren. Meine Lesart des Hamburger Schulversuchs nimmt schließlich, fünftens, Einsichten der Sozialisationsforschung auf, dass die Bildungsmöglichkeiten und Lernchancen von Kindern und Jugendlichen zwar nicht kausal von denjenigen sozialen Milieus bestimmt werden, in denen sie leben, aber doch davon auszugehen ist, dass die lebensweltlichen Strukturen als soziale, ökonomische und kulturelle Rahmenbedingungen auf die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen einen nicht zu unterschätzenden Einfluss haben und sich die pädagogische Arbeit deshalb auf diese Lebenswelten beziehen sollte. Der Hamburger Ansatz ist ein solcher Versuch, organisatorisch und pädagogisch
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Bezug zur konkreten Lebensumwelt zu nehmen, um Lernchancen zu stiften und einer Realisierung von Bildungsgerechtigkeit näherzukommen. Die hierfür zunächst eingesetzten Instrumente hießen: »Systembezogene Ressourcenzuweisung«, »Nichtetikettierung von Kindern mit schulischen Entwicklungsproblemen« und »Zieldifferentes Lernen« (vgl. Hinz et al. 1998: 12). Haben sich diese Instrumente bewährt? Zur Annäherung an den Schulversuch habe ich mir einschlägige, im Literaturverzeichnis verzeichnete, Dokumente beschafft (Bürgerschaftsdrucksachen, Verordnungen, Grundsatzpapiere) und mich mit den empirischen Untersuchungen der wissenschaftlichen Begleitung vertraut gemacht. Zwischen Dezember 2009 und Februar 2010 führte ich zudem Gespräche mit einigen für die Geschichte, die Umsetzung und die Bewertung des Schulversuchs wichtigen Persönlichkeiten: Rosemarie Raab (SPD), die als Schulsenatorin das Reformprojekt auf den Weg gebracht hat und die sich bis heute als schulpolitische Sprecherin ihrer Partei in Hamburg in bildungspolitische Debatten einbringt; Peter Pape, der in der hamburgischen Schulbehörde die Umsetzung des Schulversuchs zu verantworten hatte und dort noch immer zuständig ist für die schulische Integration; Angelika Fiedler, Vorsitzende des »Verbands Integration an Hamburger Schulen e.V.« und langjährige Leiterin der Clara-GrunwaldSchule in Hamburg-Allermöhe; Reinhilde Böhm vom Beratungszentrum Integration am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung; Dieter Katzenbach, ehemals Mitarbeiter im Team der wissenschaftlichen Begleitung, heute Professor für Geistigbehindertenpädagogik in Frankfurt a.M. In diesen Gesprächen konnte ich Fragen klären, die sich mir bei Durchsicht der Dokumente gestellt hatten. Diese Informationen wurden teilweise in den Beitrag eingearbeitet und sind namentlich gekennzeichnet. Zudem wollte ich erfahren, wie in der zeitlichen Distanz der Schulversuch bewertet wird. Nicht zuletzt konnte ich in diesen Gesprächen meine eigenen thematischen Schwerpunkte präzisieren, die schließlich zur inhaltlichen Gliederung des Textes führten.
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3 D ER H AMBURGER S CHULVERSUCH : K ONZEP T, E RGEBNISSE UND B E WERTUNGEN In Hamburg gibt es seit 1983 an vielen Schulen »Integrationsklassen«, in denen nicht behinderte Kinder mit solchen, die eine geistige, körperliche oder Sinnesbehinderung haben, gemeinsam unterrichtet werden (vgl. Bürgerschaft 1990: 4). Diese Integrationsklassen sind in der Primarstufe in der Regel einzügig und mit Plätzen für maximal vier behinderte Kinder, in der Sekundarstufe können sie auch zweizügig geführt werden. Ab 1991 wurden zudem – als Schulversuch – für lern- und sprachbehinderte oder verhaltensauffällige Kinder die »Integrativen Regelklassen« (IR-Klassen) eingerichtet, für Schüler und Schülerinnen also, »deren Lern- und Entwicklungsprobleme mit sozialen Benachteiligungen verknüpft sind« (Hinz et al. 1998: 14). Primarschulen mit IR-Klassen nehmen alle Kinder mit einer Lern-, Sprach- oder Verhaltensproblematik auf, die in ihrem Einzugsgebiet wohnen. In 2010 hatten 35 der rund 200 hamburgischen Grundschulen eine IR-Klasse, diese Zahl ist in den zwanzig Jahren seit Einführung des Schulversuchs relativ unverändert geblieben (Pape). Zwar hatte die damalige SPD-Regierung vorgesehen, die IR-Klassen in Hamburg bis zum Jahr 2000 flächendeckend einzuführen, doch nach dem Regierungswechsel hatte die CDU diese Ausweitung nicht weitergeführt (Böhm, Raab). Der Schulversuch wurde nie förmlich beendet, deshalb gab es seitens der Bildungsbehörde bislang auch noch keine abschließende Bewertung (Pape). Mit dem Schulversuch sind drei Neuerungen eingeführt worden: (1) IR-Klassen werden auch in sozialen Brennpunkten eingerichtet, um dem Eindruck entgegenzuwirken, »Integrationspädagogik sei eine bürgerliche Bildungsreform, die an den lernbehinderten Kindern […] mehr oder minder vorbei gehe« (Hinz et al. 1998: 13). (2) Die kindbezogene sonderpädagogische Ressourcenzuweisung wurde abgeschafft, um zu vermeiden, dass durch die diagnostische Feststellung des Förderbedarfs die Kinder als »behindert« etikettiert werden. Demgegenüber erhalten Schulen mit IRKlassen eine »präventive Grundausstattung« von zwei Pädagogen/Pädagoginnen pro Zug (Sonderschullehrer/-innen oder Erzieher/-innen), ohne dass der Bedarf durch Feststellungsverfahren im Einzelnen nachgewiesen werden muss. (3) In den IR-Klassen wird »zieldifferent« unterrichtet, das heißt, die Bildungsziele sind prinzipiell an den Grundschullehrplänen, für leistungsschwächere Kinder dagegen an den Sonderschulcurricula ausge-
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richtet, um zu gewährleisten, dass nicht alle in derselben Zeit die gleichen Ziele erreichen müssen. Zudem gibt es unterschiedliche Bestimmungen zur Leistungsbewertung und Versetzungsordnung (vgl. BSJB 1995). Mit einem komplexen Untersuchungsdesign (vierjährige Längsschnittuntersuchungen zur Leistungsentwicklung aller Kinder insbesondere in Deutsch und Mathematik in zwölf IR-Schulen und in mehreren Kontrollklassen, Interviews mit den beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen, Unterrichtsbeobachtungen und Schulfallstudien) wurde der Schulversuch evaluiert. Auf einer breiten Datenbasis kam die wissenschaftliche Begleitung in ihrem Abschlussbericht zu dem ernüchternden Gesamtergebnis, dass zwar die schulische Integration der benachteiligten Kinder gelungen sei, eine Prävention – die Vermeidung der Sonderschulüberweisung beim Übergang in die Sekundarstufe – trotz zusätzlicher Ressourcen jedoch zumeist nicht erreicht werden konnte: »Die vorgelegten Daten belegen, dass die Unterrichtung von Schülern/Schülerinnen mit Lern-, Sprach- und Verhaltensproblemen in Integrativen Regelklassen weder auf Kosten ihrer emotionalen Befindlichkeit geht, noch zur sozialen Isolation in ihren Klassen führt. […] Für die Leistungsentwicklung ist festzuhalten, das es im IR-System im ganzen trotz der Ausstattung mit zusätzlichen sonderpädagogischen Ressourcen nicht gelungen ist, das Auseinandergehen der Leistungsschere zwischen förderbedürftigen Schülern/Schülerinnen und ihren Mitschülern/Mitschülerinnen zu verhindern. […] Aus diesen Ergebnissen [ist] zu schließen, dass beim Schulversuch Integrative Grundschule keine präventive Wirkung im Hinblick auf Sonderschulbedürftigkeit nach Klasse Vier festzustellen ist.« (Hinz et al. 1998: 99)
Diese Ergebnisse wurden von der wissenschaftlichen Begleitung – allesamt entschiedene Vertreter der Integrationspädagogik – sehr kontrovers interpretiert: 1. In einer Risikothese wurden die Integrativen Regelklassen in sozialen Brennpunkten als risiko- und zugleich chancenreiches pädagogisches Vorhaben bewertet. Die Chancen lägen in einer Intensivierung kindorientierter Pädagogik, das Risiko entstehe durch die Komplexitätserhöhung der Grundschularbeit aufgrund der stärkeren Heterogenität der Schülerschaft und neuer Anforderungen an Teamarbeit und Unterrichtskonzepte (vgl. Hinz et al. 1998: 114). Weshalb es bei relativ ähn-
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lichen Milieus der Wohnbevölkerung der untersuchten Schulen in der einen Klasse zur Nutzung der Chancen und in der anderen zum Durchschlagen des Risikos komme, erkläre sich, so Schuck, am plausibelsten mit einem »[…] Verständnis der Klasse als System, das seine Wirkungen in einer ganz eigenen und kaum vorhersehbaren Weise vom ersten Schultag an entfaltet« (Schuck 2000: 67). 2. In der Milieuthese wurden dagegen die vor Beginn der Einschulung bei den Kindern bereits erfassten Leistungsdifferenzen auf die sozialen Verhältnisse und das geringe schulrelevante Anregungspotential der Herkunftsfamilien zurückgeführt, die durch die Unterrichtsarbeit nicht reduziert werden konnten. Die Schule könne nur ansatzweise jene Begrenzungen überwinden, die von den sozialen Bedingungen gesetzt werden: »Die Macht der Verhältnisse ist stärker als die Leistung der Schule. Bei gleich gutem Unterricht in Schulen mit differentem Einzugsgebiet setzt sich das soziale Milieu durch und der Abstand zwischen den Schulen wird zunehmend größer.« (Hinz et al. 1998: 119) Resümierend kommen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass sich der Schulversuch weitgehend bewährt habe, allerdings sei eine »Weiterentwicklung des Konzepts integrativer Pädagogik unter der Bedingung sozialer Benachteiligung« (Hinz et al. 1998: 132) dringend geboten. – Welche Bildungsprogramme sind es also, mit denen in Schulen auch Kinder und Jugendliche aus benachteiligten sozialen Milieus angemessen gefördert werden können?
4 S CHULE , B ILDUNG UND DIE V IELFALT DER SOZIALEN M ILIEUS Der konzeptionelle Anspruch, sozial benachteiligte Kinder so zu fördern, dass sich deren Bildungswege weniger abhängig vom Herkunftsmilieu entwickeln, konnte im Hamburger Reformversuch am ehesten in solchen Schulen eingelöst werden, die in eher mittelständischen Quartieren liegen. In der Schulbehörde sagte man mir, dass dies auch für die aktuelle Situation gelte: Schulen mit Integrativen Regelklassen schnitten in den Leistungsvergleichen dann sehr gut ab, wenn diese in bürgerlichen Vierteln lägen, wo engagierte und bildungsorientierte Eltern unbedingt verhindern wollten, dass ihr Kind auf eine Sonderschule komme (Pape). Um entlang
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der drei konzeptionellen Neuerungen des Schulversuchs weiterführende Überlegungen zu entwickeln, halte ich die ab den 1980er Jahren vorgelegten soziologischen Milieutheorien für geeignet.
4.1 Soziale Milieus aus schulpädagogischer Sicht »Unter sozialen Milieus […] wird eine Gesamtheit von Gegebenheiten verstanden, die auf das Verhalten und auf die Lebensweise einer bestimmten Gruppe von Menschen prägend einwirkt.« (Hradil 1987: 9)
Empirische Studien zeigen, dass die Gesellschaft sich nicht mehr ausschließlich in die drei traditionellen Klassen oder Schichten gliedert, sondern in zahlreiche soziale Gruppen ausdifferenziert ist. Soziale Milieus sind die alltagspraktischen Lebenszusammenhänge solcher sozialer Gruppen, sie konstituieren sich aus einer Ähnlichkeit materieller Bedingungen, Formen der Vergemeinschaftung, Werte- und Deutungsschemata sowie daraus ableitbarer Handlungslogiken: »Milieus bezeichnen Gruppen mit ähnlichem Habitus, die durch Verwandtschaft oder Nachbarschaft, Arbeit oder Lernen zusammenkommen und eine ähnliche Alltagskultur entwickeln. Sie sind einander […] durch ähnliche Gerichtetheit des Habitus verbunden« (Vester et al. 2006: 24).
In der Bundesrepublik lassen sich gegenwärtig etwa ein Dutzend sozialer Milieus unterscheiden, deren quantitative Verteilung in West- etwas anders als in Ostdeutschland ist und die in Klein- und Mittelstädten andere Ausprägungen haben können als in »Global Cities« oder ländlichen Räumen. Untersuchungen zur Milieuzugehörigkeit von Schülerinnen und Schülern, die eine Förderschule für Lernbehinderte besuchen (vgl. Koch 2004), oder Studien zur Milieuverteilung in berufsvorbereitenden Maßnahmen für Benachteiligte (vgl. Bremer 2007) belegen, dass diese Kinder, Jugendlichen und Jungerwachsenen überwiegend den sogenannten »unterprivilegierten Volksmilieus« (Vester et al. 2006: 27) angehören, deren alltagspraktische Lebenszusammenhänge sich vor allem im Arbeitsmarktsegment geringer Qualifizierungen vollziehen (ebd.). Bildungstheoretisch ebenso bedeutsam ist die These, dass der soziale Raum durch »Kulturschranken« gegliedert sei: Obere Milieus grenzten sich von mittleren durch Praktiken der Distinktion ab, also durch die Be-
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tonung des »eigenen« Lebensstils, des ästhetischen Geschmacks und spezifischer kultureller Interessen. Demgegenüber trenne nach unten eine »Grenze der Respektabilität« die mittleren von den unterprivilegierten Milieus, wobei sich »Respektabilität« durch Statussicherheit definiere: »Es kommt darauf an, eine beständige, gesicherte und anerkannte soziale Stellung einzunehmen, die durch Leistung oder durch Loyalität ›verdient‹ ist. Geordnete und stetige Arbeits- und Lebensverhältnisse sind sehr wichtig und werden in einer besonderen Leistungs- und Pflichtethik verinnerlicht. Entsprechend wird es den unteren Milieus als Charaktermangel vorgehalten, dass sie eher unstetigen und unsicheren Beschäftigungen nachgehen, weniger Zuverlässigkeit und Bildungsstreben zeigen und eher auf günstige Gelegenheiten als auf eigenes, planmäßiges Schaffen setzen. […] Andererseits werden ihre Eigenarten von der übrigen Gesellschaft wenig respektiert: ihre Fähigkeit zu Spontaneität und Improvisation, ihre Flexibilität bei der Suche nach Gelegenheiten, ihr Gefühl für herzliche menschliche Beziehungen, ihr körperliches oder sportliches Können und ihre Fähigkeit, mit chaotischen Bedingungen und Schicksalsschlägen umzugehen.« (Vester et al. 2006: 28)
Benötigen somit die einen zur kompetenten Gestaltung ihrer alltagspraktischen Lebenszusammenhänge jene Formen von Bildungskapital, die der Absicherung ihres Milieustatus dienen, was insbesondere einen hohen Bedarf an formalen Bildungsabschlüssen (Abitur) erzeugt, brauchen die anderen eine Bildung, die zur Bewältigung »des Teufelkreises moralischer und materieller Ausgrenzung« (Vester et al. 2006: 522) nachweislich beiträgt und auf jene Muster der Lebensführung abgestimmt ist, die für geringe Qualifikationen und prekäre soziale Lagen funktional sind. Eine Bildung also, die nicht zuvörderst wie in den mittleren und oberen Milieus der Statussicherung, sondern auch dem effektiven Erkennen und Ergreifen von Gelegenheiten dient; die nicht vorrangig auf Selbstverwirklichung zielt, sondern vielmehr eine gekonnte »Anlehnung an stabile Lebenspartner, Arbeitskollektive und staatliche Hilfen« (ebd.: 523) elaboriert; Bildung, die ihren Zweck nicht zuallererst in sich selbst hat, sondern eine, die ihre Überzeugungskraft daraus gewinnt, dass sie den Betroffenen nachweislich hilft, Ausgrenzung und Stigmatisierung zu bewältigen. Die zentrale pädagogische Frage ist demnach, wie solch unterschiedliche Bildungsbedürfnisse in Schulkonzepten angemessen berücksichtigt werden können.
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4.2 Überlegungen zu milieusensiblen Schulkonzepten Der Hamburger Schulversuch überzeugt in seiner Vorgehensweise: Zur Erarbeitung des pädagogischen Konzepts wurde zuerst ein Problemfeld bestimmt (»soziale Brennpunkte«) und darauf bezogen ein Bildungsgang entworfen (»IR-Klassen«), der dann mit den erforderlichen Ressourcen ausgestattet (»präventive Grundausstattung«) und schließlich didaktisch entfaltet wurde (»zieldifferenter Unterricht«). Weshalb aber erbrachte diese plausible Strategie solch ernüchternde Ergebnisse? Und welche Schlüsse sind für künftige Vorhaben zu ziehen?
4.2.1 Schulen in sozialen Brennpunkten Mit beachtlichem Mut wandte man sich mit dem Projekt denjenigen Kindern und Jugendlichen zu, die im doppelten Sinn an den Rändern der Gesellschaft leben: Sie wachsen unter »benachteiligenden Bedingungen« auf und wohnen zudem zusammen in »sozialen Brennpunkten«. Es fällt jedoch auf, dass man weder in den Dokumenten der Schulbehörde noch in den Texten der wissenschaftlichen Begleitung diese auf Benachteiligungen und Sozialraum bezogenen schulpädagogischen Perspektiven weiterführte. Diese Beobachtung wurde mir seitens der Schulbehörde (Pape, Böhm) und vom befragten Wissenschaftler (Katzenbach) bestätigt: Trotz eines zunächst geweiteten Blicks auf die Vielfalt und Komplexität sozialer Benachteiligungen wurde das Schulkonzept auf die Bearbeitung von Behinderungen verengt, man brachte Sonderschullehrkräfte in die Regelklassen und schuf einen dezidiert behinderungspädagogischen Bildungsgang. Vermutlich aufgrund dieser sonderpädagogischen Engführung erbrachte der Schulversuch als Ergebnis, was ursprünglich der konzeptionelle Ausgangspunkt war, die Einsicht nämlich, »dass zwar auch in Schulen in Armutsgebieten sonderpädagogische Kompetenz notwendig ist, aber eine Ergänzung durch sozialpädagogische Kompetenz erfolgen müsste« (Katzenbach/Hinz 1999: 196). Ebenso wurden »mangelnde konzeptionelle Passungen« in Bezug auf das Fehlen muttersprachlichen Unterrichts, zweisprachiger Alphabetisierung, interkultureller Erziehung u.a. konstatiert (ebd.: 197). Der »soziale Brennpunkt« war für das pädagogische Konzept irrelevant geblieben, auch die das schulische Umfeld kennzeichnenden Milieus wurden nicht näher bestimmt, sondern lediglich in ihrer (unterstellten) Wirkmacht problematisiert: »Die Qualität von Schule ist auch der präformierte Effekt des sozialen Milieus« (Hinz et al. 1998: 119),
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heißt es im Bericht der wissenschaftlichen Begleitung. Liegt aber nicht im Umkehrschluss dieser apodiktischen Feststellung die eigentliche Brisanz für Schulentwicklungsvorhaben, in der Frage nämlich, ob nicht eine konsequente Bezugnahme auf die sozialen Milieus der Schülerschaft die Qualität einer Schule merklich erhöht? Im Hamburger Schulversuch wurde der in der Integrationspädagogik häufig gewählte Ansatz verfolgt, durch ein System unterrichtsbegleitender Hilfen an der Regelschule die subsidiäre Funktion der Sonderpädagogik auszubauen: Sonderpädagoginnen und -pädagogen bleiben Experten und Expertinnen für Lernen und Unterricht, werden aber in einer komplementären Rolle zu den Regelschullehrkräften gesehen. Ziel ist es, eine interdisziplinäre Kooperation zwischen allgemeiner Schule und Sonderpädagogik zu installieren, um die Passung zwischen den Lernvoraussetzungen der Schüler/-innen und den schulischen Standards zu optimieren. Der Blick wird somit auf die Kinder gerichtet und Förderung wird verstanden als (sonder-)pädagogische Bearbeitung individueller Lern- und Entwicklungskrisen (Katzenbach). Die sozialen Milieus, denen die Kinder angehören oder die sozialen Räume, in denen sie leben und in denen sie weiterhin zurechtkommen müssen, sind für die Entwicklung des Schulkonzepts nachrangig gewesen. Demgegenüber folgt aus einer sozialräumlichen Milieuperspektive, Schulkonzepte daraufhin zu überprüfen, inwieweit diese sich in ihren Inhalten und Methoden angemessen auf die Vielfalt von Lebensumständen, in denen Kinder und Jugendliche heutzutage aufwachsen, justieren (vgl. Hiller 2007). Denn um die im deutschen Schulsystem gegebenen Bildungsbenachteiligungen auszugleichen, reicht eine Intensivierung sonderpädagogischer Unterstützung nicht aus. Vielmehr sind im Spiegel der konkreten Lebenslagen der Schülerinnen und Schüler sowie der vorfindbaren sozialen Milieus des schulischen Umfelds Bildungsprogramme auf ihre Realitätsnähe hin zu reflektieren und gegebenenfalls weiterzuentwickeln. Förderung von Kindern und Jugendlichen, die den unterprivilegierten sozialen Gruppen zugehören, meint dann, pädagogische Angebote und Anforderungen vorzuhalten, die sich auf den Habitus dieser Milieus beziehen und die es zulassen, diesen Habitus zu kultivieren und zu irritieren. Solche Bildungskonzepte ergeben sich jedoch keinesfalls zwangsläufig durch die Bereitstellung zusätzlicher pädagogischer Ressourcen, sondern vielmehr dadurch, dass man Lernangebote entwickelt, die in ihren Inhalten und Themen anschlussfähig sind an diese unteren Milieus. Die den Brennpunktschulen zugewiesenen personellen, sachlichen oder finanziel-
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len Ressourcen werden so lange verpuffen, als man in den Bildungseinrichtungen damit immer nur jene Formen kulturellen Kapitals vermittelt, die auf eine Heranführung von Angehörigen unterprivilegierter Milieus an den Habitus der mittleren und oberen Milieus zielen. Dieser klassische Ansatz kompensatorischer Erziehung ist untauglich, so bilanzierte man auch im Hamburger Schulversuch, weil »es trotz der besseren Förderung eben nicht gelingt, den Rückstand zu den anderen Kindern aufzuholen« (Hinz et al. 1998: 128). Es bedarf somit anderer Ideen, um solche Kinder und Jugendliche in den Schulen angemessen zu fördern.
4.2.2 Instrumente der Ressourcensteuerung Mit der Zuweisung von Ressourcen wird geregelt, wer zu welchen Bedingungen kulturelles Kapital erwerben darf und wer zu welcher Form von Bildungskapital Zugang hat. Mit dem Hamburger Schulversuch wurde neben der kindbezogenen Ressourcenzuweisung ein systembezogenes Steuerungsinstrument eingeführt und erprobt. Inzwischen gibt es noch ein Verfahren, aufgrund dessen die Schulen auf der Basis eines Sozialindex weitere Ressourcen erhalten. Die kindbezogene Ressourcenzuweisung erfolgt dadurch, dass nach einer diagnostischen Begutachtung ein spezieller Förderbedarf festgestellt und folglich eine besondere Unterstützung für ein Kind erforderlich wird: Dies können spezielle technische Hilfsmittel, therapeutische Zusatzangebote, ein Integrationshelfer bzw. eine Integrationshelferin oder eine Arbeitsassistenz sein. Mit diesem Ansatz – »die Ressource folgt dem Schüler/der Schülerin« – erhalten die Integrationsklassen die erforderlichen Mittel. Auch die Ressourcen der Sozialbehörde, die nach § 35 SGB VIII im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe in die Schulen fließen, werden fallbezogen zugewiesen (Pape). Vorteilhaft an diesem personenbezogenen Verfahren ist, dass es eine gezielte, individuelle Unterstützung und vor allem einen entsprechenden Rechtsanspruch sichert. Ein großer Nachteil folgt aus der Etikettierung, die das Kind als eine/n hilfsbedürftige/n und behinderte/n Problemschüler/in (»Gutachtenkind«) labelt, mit den bekannten stigmatisierenden Effekten. Wie erwähnt wurde für die Integrativen Regelklassen die »institutionenbezogene Ressourcenzuweisung« gewählt: Wenn Schulen solche Klassen einrichten, wird ihnen eine »präventive Grundausstattung« bewilligt. Bei vier beeinträchtigten Kindern pro Lerngruppe erhalten die Schulen zusätzliche Ressourcen im Umfang, wie sie einer Sonderschule zuge-
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wiesen würden (vgl. BSJB 1995). Der Vorteil dieses Instruments liegt im Verzicht auf eine diagnostische Begutachtung sowie in der Vermeidung destruktiv wirkender Etikettierungen. Gleichwohl wurden im Schulversuch »informelle Typisierungen« (Katzenbach) beobachtet, weil z.B. durch die Entscheidung, ein Kind nicht nach dem Grundschul-, sondern nach dem Förderschullehrplan zu unterrichten, gleichsam »unter der Hand« die Etikettierungen wieder eingeführt wurden. Ungerecht an der Ressourcensteuerung ist zudem, dass alle Schulen dieselbe präventive Grundausstattung erhalten, unabhängig von der sozialen Belastung des Stadtteils, in dem sie liegen. Dieser dem »Gießkannenprinzip« inhärenten Ungerechtigkeit versucht man seit 2005 mit einer Ressourcenzuweisung auf der Grundlage eines »schulbezogenen Sozialindex« entgegenzuwirken. Mittels Schülerund Elternfragebögen werden rund 30 Variablen erhoben – Haushaltsbruttoeinkommen, Bildungsabschlüsse und Erwerbsstatus der Eltern, Anzahl der Bücher zu Hause, Geburtsland von Vater bzw. Mutter und Familiensprache sowie das »schulbezogene soziale Kapital des Elternhauses« (vgl. Bürgerschaft 2009) –, um ausgehend von den sozialen Lagen der Familien fünf verschiedene für die Ressourcenzuweisung maßgebende »soziale Belastungsniveaus« zu klassifizieren: So wird in Grundschulen in sozialen Brennpunkten die Klassenfrequenz von 25 auf 20 Schüler/-innen abgesenkt und sie erhalten zusätzliche Mittel für die Sprachförderung, oder Ganztagsgrundschulen in belasteten Gebieten bekommen eine zusätzliche Erzieher/-innenstelle. Das Verfahren kann somit zur Ressourcengerechtigkeit beitragen, weil es die Heterogenität der Schullandschaft abbildet und Transparenz schafft. Ein Nachteil ist die aufwändige und kostspielige Datenerhebung, die zudem ständig aktualisiert werden muss (vgl. Poerschke 2008). Mit diesem flexiblen Mischsystem der Ressourcensteuerung hat Hamburg für eine qualitative Bildungsplanung gute Bedingungen geschaffen (Katzenbach, Pape). Bildungstheoretisch unbefriedigend ist jedoch, dass alle drei Verfahren formal bleiben: Aus der kindbezogenen Ressourcenzuweisung folgt eine sonderpädagogische Klassifizierung ohne präzise Förderidee. Im systembezogenen Verfahren wird die Organisationsform (integrative Lerngruppen) festgelegt, unabhängig von der Individuallage des Schülers/der Schülerin oder dessen/ihrem familiärem und sozialem Umfeld. Die indexbasierte Verteilung beschreibt mehr oder weniger den familiären Hintergrund der Schülerschaft, nicht aber die Lebenslage des
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Schülers/der Schülerin selbst. Folgerungen für das Schulprogramm, das pädagogische Konzept und die didaktischen Auslegungen lassen sich aus keinem der drei Verfahren ableiten. Weil eine präzise Justierung sowohl der curricularen Angebote und Anforderungen als auch deren Vermittlung auf den milieuspezifischen Habitus dieser Schülerschaft unterbleibt, können die zusätzlichen Ressourcen ihre Wirkung nicht ausreichend entfalten.
4.2.3 Milieusensible Bildungskonzepte »Wenn nicht mehr so gebaut wird, dass die Menschen gemischt wohnen, und dies ist ja anscheinend der Trend, dann muss man in der Bildungspolitik darauf reagieren« – so brachte Angelika Fiedler die Problemstellung in unserem Gespräch in ihrer Schule auf den Punkt. Dieser »Trend« ist zumindest für Hamburg belegbar: Der Sozialatlas 1997 (einen aktuelleren gibt es nicht) zeigte, dass gerade mal 8 von 179 Ortsteilen sozial »durchmischt« waren, ansonsten gab es entweder bürgerliche Viertel mit einer Konzentration vermögender Bevölkerungsgruppen oder aber Armutsquartiere, in denen vorwiegend die »unterprivilegierten sozialen Milieus« anzutreffen waren. Es gab 26 Ortsteile, in denen jeweils unter fünf Prozent der Anwohner/-innen Sozialhilfe bezogen, und dort betrug zudem der Ausländeranteil zumeist weniger als drei Prozent. Dagegen gab es 15 Stadtteile, in denen 40 bis 80 Prozent Sozialhilfe erhielten und die einen Migranten/-innenanteil in etwa in derselben Höhe (vgl. Podszuweit/Schütte 1997) aufwiesen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich die Verhältnisse in der Stadt seither grundlegend geändert hätten. Meines Erachtens sind deshalb schulpädagogisch zwei Schlüsse zu ziehen: (1) Die Erarbeitung von Schulprofilen ist auf der Grundlage einer sorgfältigen Beschreibung lokaler sozialer Milieus durchzuführen, und (2) die Förderung benachteiligter Kinder muss lebenslagenorientiert erfolgen. (1) Angesichts relativ homogener sozialräumlicher Strukturen und aufgrund der durch die Einführung von Instrumenten des Bildungsmonitorings inzwischen verfügbaren, teilweise sehr kleinräumig aufgefächerten Sozial- und Bildungsdaten zu den einzelnen Ortsteilen und Quartieren, sind gute Bedingungen für die Schulen gegeben, um die für ihren Einzugsbereich charakteristischen sozialen Milieus zu bestimmen und darauf bezogen ihr Schulcurriculum bzw. Bildungsprogramm zu entwickeln.
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In meinen Untersuchungen zur Schulgeschichte in Wilhelmsburg, einem bevölkerungsstarken Hamburger Stadtteil, der seit nunmehr hundert Jahren ein sozialer Brennpunkt ist, konnte ich nachzeichnen, dass immer wieder an einzelnen Schulen versucht wird, sich mit entsprechenden Konzepten auf die je spezifischen Milieus der Schüler/-innen zu beziehen (vgl. Schroeder 2002): Es wurden und werden Schulkonzepte erprobt, um den zahlreichen in Wilhelmsburg lebenden Sinti- und Romakindern ein für diese akzeptables Bildungsprogramm anzubieten; andere Schulen bemühen sich erfolgreich um junge Flüchtlinge, die teilweise trotz sehr schlechter Startbedingungen zum Abitur geführt werden. Einzelne Schulen machen sich daran, Konzepte zu entwickeln, um suchtkranke oder sich prostituierende Kinder bzw. Jugendliche oder junge Delinquente zu versorgen, einige profilieren sich zu »multikulturellen« Schulen mit ausgefeilten Konzepten zur Förderung von Mehrsprachigkeit. Wieder andere bieten sehr frühzeitig berufsvorbereitende Aktivitäten an, weil man weiß, dass Angehörige »unterprivilegierter Milieus« eine sehr intensive Begleitung beim Übergang in Ausbildung und/oder Beschäftigung benötigen, wenn dieser gelingen soll. Es ist beileibe nicht so, dass diese vielfältige Gestalt der Wilhelmsburger Schullandschaft inhaltlich durchweg kohärent aufeinander bezogen wäre, so dass die erforderlichen institutionellen Kooperationen immer gelängen, oder dass gar alle Konzepte, die da entwickelt wurden, überdauerten. Doch weil gerade auch »soziale Brennpunkte« in verschiedene soziale Milieus ausdifferenziert sind und sich deshalb die individuellen Lebenslagen benachteiligter Kinder und Jugendlicher erheblich unterscheiden können, ist es unabdingbar, dass sich Schulen in ihren Profilen für eine je spezifische Klientel attraktiv machen. Dabei ist allerdings darauf zu achten, dass alle anderen Kinder und Jugendlichen ebenso gut mit Angeboten versorgt sind, die ihnen die für sie angemessenen Bildungsprofile bieten. Gerade in städtischen Verdichtungsräumen sind aufgrund des breiten Angebots von Einrichtungen gute Bedingungen gegeben, um eine aufeinander abgestimmte und im System abgesicherte qualitative Schulentwicklung voranzubringen, in der nicht nur jede einzelne Schule sich ihr Profil gibt, sondern eine reflektierte Gesamtgestalt der lokalen Schullandschaft angestrebt wird, um durch eine gezielt ausdifferenzierte Profilpalette ein weit gefächertes Angebot vorzuhalten. (2) Das konkrete Kind, der einzelne Jugendliche kommt mit Sozialraumanalysen alleine jedoch noch zu unscharf in den Blick, denn Schü-
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lerinnen und Schüler sind nicht das schlichte Abbild ihres Milieus. Mit ergänzenden Lebenslagenanalysen können sowohl die individuell verfügbaren Ressourcen und Potentiale, aber auch die Unterversorgungen in zentralen Lebensbereichen festgestellt werden. Für eine lebenslagenorientierte Förderung von Kindern und Jugendlichen ist eine an Inhalten interessierte Didaktik erforderlich, um die es jedoch zurzeit schlecht bestellt ist. Denn die Unterrichtstheorie hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr einseitig am Postulat der individuellen Förderung orientiert. So wandelte sich die Didaktik zu einer von Inhalten losgelösten Formenlehre »offener« und »individualisierter« Unterrichtsorganisation. Und durch eine radikale Umstellung von themenorientierten Bildungsplänen auf kompetenzbasierte Bildungsstandards sind die Inhalte des Unterrichts vollends aus dem Blick geraten. Diskutiert wird nur noch über das Wie, nicht aber über das Was und schon gar nicht mehr über das Wozu des Unterrichts. Die Relevanz von Lerngegenständen für Lebenslagen, soziale und kulturelle Lagerungen und benachteiligende lebensweltliche Zusammenhänge wird kaum noch überprüft. Welche schulischen Curricula dabei herauskommen, wenn man sich zunächst die Habitusmuster vergegenwärtigt, die für verschiedene lebenspraktische Felder unterprivilegierter sozialer Milieus bestimmend sind, und sodann Unterrichtsthemen daraus ableitet, hat beispielsweise Hiller (2007) sehr detailliert gezeigt. Wie sehr die Schule für alle benachteiligte Kinder ausgrenzt durch die Ausrichtung auf bürgerliche Habitusmuster, weil eben auch der integrative Unterricht »sich ausschließlich an den Kindern orientiert, die […] sich auf dem geforderten Leistungsniveau befinden« (Graumann 2002: 166ff.), hat Graumann, eine Verfechterin inklusiver Pädagogik, in ihren Untersuchungen bemerkenswert redlich an vielen Beispielen belegt. Um Kinder und Jugendliche in erschwerten Lebenslagen angemessen zu fördern, ist in den Schulen somit zweierlei zu tun: Die Erarbeitung milieuorientierter Sozialraumanalysen machen die institutionellen Positionierungen im sozialen Kräftefeld erkennbar, d.h. es werden jene Milieustrukturen deutlich, die auf die jeweilige Schule wirken und auf die sie sich deshalb beziehen muss. Demgegenüber weisen Lebenslagenanalysen auf die individuellen Positionierungen hin, d.h., sie geben Aufschluss über die soziale Lagerung des einzelnen Schülers/der einzelnen Schülerin. Beides ist wichtig und muss zusammengehen: Bloße Sozialraumanalyse kann individuelle Lebensprobleme nicht erkennen, ein ausschließlicher Bezug
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auf Lebenslagen dagegen blendet das soziale Umfeld und dessen Wirkmacht aus. In diesem doppelten Zugriff auf die sozialen Lagerungen der Schüler/-innen lässt sich umsetzen, was im Hamburger Schulversuch angedacht war: Die »Milieus« werden nicht mehr als »Risiko« für die schulische Arbeit betrachtet, gegen das man nicht ankommt, sondern sie werden als »Fakten« akzeptiert, auf die sich die pädagogische Arbeit folglich zu beziehen hat. Die kompensatorische Schule für alle wird dann allerdings nicht mehr im Modell idealer, sondern günstigstenfalls im regionalen Verbund von Schulen, also in einer »Bildungslandschaft« repräsentiert, die für alle Milieus überzeugende Bildungsprofile bietet.
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3 Inklusion und Heterogenität
Differenzkonstruktionen im Kontext unterrichtlicher Praktiken Tanja Sturm
1 P ROBLEMAUFRISS Schulische Inklusion muss, soll sie über die Ebene formaler Vorgaben und Ansprüche hinausgehen und für einen anerkennenden Umgang unterschiedlicher Lernbiographien stehen, alle Bereiche der Institution erfassen; auch und gerade den Unterricht bzw. das unterrichtliche Handeln von Lehrkräften. Wohl wissend, dass unterrichtliche Lehr-Lern-Prozesse im Kontext der institutionellen Rahmenbedingungen der Einzelschule und des gesellschaftlich begründeten Schulsystems angesiedelt sind, soll nachfolgend der Blick auf diesen schulischen Kernbereich gelenkt werden. Er stellt einen Ort oder Möglichkeitsraum dar, an bzw. in dem die Perspektiven von Lehrkräften auf Differenzen deutlich und im unterrichtlichen Handeln auch relevant werden. Ein Heterogenität anerkennender Umgang kann hier jedoch nur insoweit realisiert werden, als dass jene Aspekte in didaktischen Überlegungen berücksichtigt werden, die als solche wahrgenommen, erkannt und bewertet werden. Erkennen und Bewerten stellen die Grundlagen für eine Berücksichtigung von Differenz in unterrichtlichen Handlungen dar (vgl. Seitz 2008: 228). Handeln Lehrkräfte beispielsweise unter der Annahme, dass es zwischen Kindern und Jugendlichen unterschiedlichen Geschlechts unter den gegebenen gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen keinerlei Unterschiede gibt, so werden sie auch bei ihren didaktischen Handlungen höchstwahrscheinlich keine Unterscheidung vornehmen.
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Während mit Heterogenität die Verschiedenheit mindestens zwei – als vergleichbar angenommenen – Eigenschaften, Gruppen und/oder Normalitätsvorstellungen bezeichnet wird, erklärt Homogenität deren Gleichheit. Gemeinsam ist Heterogenität und Homogenität, dass beide Beschreibungen erst durch einen Vergleich entstehen bzw. konstruiert werden. Dieser Vergleich ist jeweils auf Kriterien ausgerichtet. Infolge ihrer Kontrastierung wird demnach nicht eine Person insgesamt beschrieben, sondern es werden einzelne Kriterien erfasst (vgl. Wenning 2008: 6). So heben Klafki und Stöcker hervor, dass Lerngruppen maximal in Bezug auf ein Kriterium (z.B. Geschlecht) homogen sein können (vgl. Klafki/Stöcker 1976: 497). Heterogenität kann dabei nicht ohne Homogenität gefasst werden. Beide Konstrukte stellen die zwei Seiten einer Medaille dar. Als Kehrseite von Heterogenität gerät Homogenität im schulischen Kontext häufig aus dem Blick. Dies gilt, obwohl Homogenität die Basis darstellt, auf der ein Vergleich erst möglich ist. Sie besteht in der Schule darin, dass alle Kinder und Jugendlichen primär in der Rolle als Lernende betrachtet werden, sie sind also alle Schülerinnen bzw. Schüler (vgl. Wenning 2008: 6). Zudem sind Heterogenität und Homogenität Konstruktionen, die perspektivisch gebunden wahrgenommen werden, da sie immer von einem Standpunkt aus, d.h. vor dem Hintergrund individueller Erfahrungen aus vorgenommen werden (vgl. Seitz 2008: 228). Im aktuellen Schulsystem finden sich unterschiedliche, sich widersprechende Formen des Umgangs mit heterogenen Lernvoraussetzungen. Zum einen zeichnet sich das Schulsystem Österreichs als auch das Deutschlands gegenüber jenem ihrer europäischen Nachbarn durch eine frühe und kontinuierliche Selektion aus, die der Leitidee folgt, möglichst (leistungs-)homogene Lerngruppen zu formieren (vgl. Saldern 2007, Seel/ Scheipl 2004, Tillmann 2007). Diese selektive Idee wird durch Formen der äußeren und institutionellen Differenzierung bewerkstelligt. Dadurch werden sogenannte homogene Lerngruppen gebildet. So entsteht eine feldspezifische Struktur, die ihren Ausdruck über die Strukturen hinaus in zahlreichen und differenzierten Handlungspraxen findet, wie dem »Sitzenbleiben« und dem sonderpädagogischen Förderbedarf. Nicht erst mit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN 2006; 2008), sondern bereits zuvor wurde in der erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Auseinandersetzung der Anspruch auf individuelle Förderung formuliert und die Leitidee der homogenen Lerngruppe dadurch in Frage gestellt (vgl. z.B. Prengel, 2006). So steht der institu-
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tionelle Umgang mit Leistungsheterogenität, der sich strukturell in der hierarchisch gegliederten Schulstruktur ausdrückt, in einem widersprüchlichen Verhältnis zu der Aufforderung eines akzeptierenden Umgangs mit heterogenen Lernvoraussetzungen auf unterrichtlicher Ebene (vgl. für Österreich: BMUKK 2007). In diesem Spannungsfeld unterschiedlicher Umgangsweisen mit Differenzen zwischen den Lernenden sind die Konstruktionen von Differenzen der Lehrkräfte angesiedelt. Die widersprüchlichen Anforderungen verschärfen sich unter den gegebenen Schulentwicklungsprozessen insofern, als seitens der Bildungsbehörden eine Standardisierung und Messbarkeit auf Effizienz und Effektivität ausgerichteten Handelns anhand ökonomischer Kriterien eingefordert wird (vgl. Sturm 2010, Wedell 2005). In diesem Spannungsverhältnis unterschiedlicher Erwartungen von Standardisierung und Individualisierung sind die Differenzkonstruktionen von Lehrenden angesiedelt. Unklar ist derzeit, welche Aspekte oder Kriterien von Heterogenität Lehrkräfte in ihrer Bedeutung für die Gestaltung von Unterricht wahrnehmen und wie sie damit bei ihrem unterrichtlichen Handeln umgehen. In diesem Beitrag soll dieses Desiderat aufgegriffen werden, indem folgender Frage nachgegangen wird: Wie konstruieren Lehrkräfte Differenz und wie gestalten sie hieran anknüpfend unterrichtliches Handeln? Was in der Frage wie ein linearer Zusammenhang in die eine Richtung verstanden werden kann, wird vorliegend dialektisch begriffen: zum einen als die Vorstellungen der Unterrichtsgestaltung von Lehrkräften – d.h. ihr individuelles Verständnis von Lernen, Entwicklung, Bildung und Erziehung (vgl. Schuck 2001) – und zum anderen ihre Differenzkonstruktionen. Diesem Interesse soll im Folgenden anhand einer von der Autorin des vorliegenden Artikels durchgeführten Studie zu Heterogenitäts- und Homogenitätskonstruktionen von Lehrkräften nachgegangen werden. Hierfür wird in einem ersten Schritt der Umgang mit Heterogenität als unterrichtliche Herausforderung beschrieben. Anschließend werden Teilergebnisse eines Forschungsprojekts dargestellt, in dessen Zentrum die Differenzkonstruktionen von Lehrkräften einer österreichischen berufsbildenden Schule rekonstruiert wurden. Der Beitrag endet mit Perspektiven für die Gestaltung eines an der Leitidee der Inklusion ausgerichteten Unterrichts.
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2 H E TEROGENITÄT ALS UNTERRICHTLICHE H ER AUSFORDERUNG Seit der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch Österreich im Jahr 2008 (vgl. UN 2006; 2008) ist das Land verantwortlich für die Gestaltung einer Schule und eines Unterrichts, welche an den individuellen Bedürfnissen der Lernenden ausgerichtet sind. Das heißt, ihre heterogenen Lern- und Lebensbiographie sollen von der Schule anerkannt werden und bei der unterrichtlichen Gestaltung Berücksichtigung finden. Durch die Aufhebung äußerer Differenzierungsformen und veränderter schulstruktureller Rahmenbedingungen wäre eine inklusive Schule somit noch nicht geschaffen bzw. das Ziel einer inklusiven Schule noch nicht erreicht. Dies verdeutlichen auch Erfahrungen und Studien aus Ländern wie Australien und Großbritannien, in denen – anders als in Österreich und Deutschland – später selektiert wird und die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in das allgemeine Schulwesen weiter fortgeschritten ist (vgl. z.B. Petriwskyj 2010, Wedell 2005). Eine Fokussierung auf den Unterricht eröffnet eine Perspektive auf den Möglichkeitsraum pädagogischen Handelns. Gemäß der in Australien durchgeführten Studie Petriwskyjs (2010) kann Unterricht als der Ort pädagogischer Handlungen und Vorstellungen verstanden werden, der eine zentrale Schlüsselposition für einen veränderten Umgang mit Heterogenität in der Schule einnimmt. Dabei hebt die Autorin hervor, dass der jeweilige unterrichtliche Umgang mit Unterschieden eng mit dem soziokulturellen und historisch gewachsenen Unterstützungssystem zusammenhängt (vgl. Petriwskyj 2010: 210). Ohne die Verantwortung der Gestaltung einer inklusiven Schule allein in die Hände von Lehrkräften legen zu wollen, sollen hier die unterrichtlichen Möglichkeitsstrukturen in den Blick genommen werden. In Österreich bestehen ebenso wie in Deutschland differenzierte Formen institutionalisierter Hilfe im Bereich der Behindertenpädagogik. Diese implizieren, dass Lehrende an Regelschulen die Verantwortung für Kinder und Jugendliche, die eine klassenbezogene oder erwartete Norm nicht erreichen, was z.B. individuell als Lernschwierigkeiten verortet wird, an andere Institutionen delegieren können. Die Frage nach dem Umgang mit Differenzen ist eine, die jeden Unterricht gleichermaßen betrifft, da zwischen den Lernenden immer Differenzen bestehen, zumindest aber dann, wenn die Schülerschaft in mehr als einem Kriterium (z.B. sozio-
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kultureller Hintergrund und Behinderung) miteinander verglichen bzw. betrachtet wird (vgl. Klafki/Stöcker 1976: 476). Das jeweilige Feld, in dem schulische und unterrichtliche Inklusion realisiert werden soll, stellt dabei einen möglichen Orientierungspunkt für die Differenzkonstruktionen von Lehrkräften dar. Diese sind verbunden mit den gesellschaftlichen Vorstellungen von Heterogenität (vgl. Gomolla/Radtke 2002); ihre Perspektiven werden durch das Feld mitgeprägt. Laut Seitz (2008) besteht die Herausforderung der Inklusion auf unterrichtlicher Ebene darin, zu differenzieren. Die jeweilige Überlegung bezüglich der inneren Differenzierung sollte ihren Bezugspunkt oder ihren Maßstab in der Zone der nächsten Entwicklung der Lernenden haben. Somit wird der Anspruch eingelöst, einen Unterricht zu gestalten, in dem alle die Möglichkeit haben, zu lernen. Um differenzieren zu können, müssen Unterschiede zwischen Lernenden jedoch zunächst wahrgenommen und erkannt werden (vgl. Seitz 2008: 228). Zudem müssen eine professionelle Verantwortung als auch Lösungsformen für die Bearbeitung bzw. den Umgang mit Differenzen bestehen. Fühlen sich Lehrkräfte für Lernende mit von der »Norm« abweichenden Lernergebnissen nicht verantwortlich, so werden sie, dies zeigt die bereits erwähnte australische Studie (vgl. Petriwskyj 2010), nach einem Umgang suchen, der außerhalb der unterrichtlichen, z.B. auf der schulstrukturellen, Ebene zu bearbeiten ist. Entsprechend dieser Vorstellung wäre es für Lehrende vielmehr naheliegend, nach Fördermöglichkeiten außerhalb des eigenen Unterrichts zu suchen. Einer derart selektiven Form der Unterrichtsgestaltung ist hier eine adaptive gegenüberzustellen. Letztere zielt darauf ab, den Unterricht an die Bedürfnisse und Entwicklungsstufen aller Lernenden anzupassen (vgl. Wember 2001: 164). Ein solcher Unterricht ist jedoch nur dort möglich, wo Bedürfnisse und Individualität erkannt und anerkannt werden. Der erziehungs- und bildungswissenschaftlich geführte Diskurs um Heterogenität, der hinsichtlich dieses Konstrukts aktuell sehr positiv und akzeptierend geführt wird, entfaltet sich derzeit in zwei Richtungen. Manche Autorinnen und Autoren orientieren sich an sozialen Kategorien, wie der Konstruktion von Geschlecht (vgl. z.B. Budde/Scholand/Faulstich-Wieland 2008) oder soziokulturellen Differenzen (vgl. z.B. Gomolla 2005). Ein zweiter Diskurs entfaltet sich im Hinblick auf den Umgang mit der Leistungsheterogenität der Lernenden. Er wird überwiegend in Form fachdidaktischer und unterrichtsmethodischer Diskurse geführt (vgl. Paradies 2003). Zudem wird er in der Behinderten- und Integrationspädagogik auf-
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gegriffen (vgl. z.B. Schöler 1998). Ein Zusammenspiel jener Aspekte, die in den Diskursen aufgegriffen werden – z.B. von Behinderung und sozialem Milieu –, hat bisher kaum stattgefunden (vgl. Katzenbach/Schroeder 2008). Eine verknüpfende Betrachtung eröffnet jedoch die Möglichkeit, Erklärungen für das Zustandekommen gruppenspezifischer Benachteiligungen oder die Ablehnung bestimmter konstruierter Merkmale innerhalb des Schul- und Bildungssystems zu geben, wie z.B. jener Gruppe, die über vergleichsweise wenig kulturelles Kapital verfügt. Zu der Idee der Verknüpfung beider Aspekte – der unterrichtspraktischen und der sozialen Kategorien – möchte dieser Aufsatz einen Beitrag leisten.
3 D IFFERENZ VORSTELLUNGEN UND UNTERRICHTLICHES H ANDELN – PASSAGE EINES F ALLBEISPIELS Das nachfolgend aufgeführte Beispiel, anhand dessen unterrichtliches Handeln im Zusammenhang mit Differenzkonstruktionen von Lehrkräften beschrieben wird, entstammt einem Forschungsprojekt, in dessen Zentrum das vorgenannte Interesse steht. An dem Projekt waren 20 Lehrkräfte einer berufsbildenden Schule Österreichs beteiligt. Das Forschungsinteresse, das bei der Gestaltung des Forschungsdesigns maßgeblich war, wird von folgender Frage geleitet: Welche handlungsleitenden Orientierungen sind im Umgang mit Unterschieden in Schule und Unterricht relevant? Diesem wurde in einem qualitativen Forschungsdesign nachgegangen. Den methodologischen Rahmen bildet die dokumentarische Methode (vgl. Bohnsack 2008); das metatheoretische Rahmenkonzept basiert auf den theoretischen Überlegungen Bourdieus (Bourdieu 1982, 1998), speziell jenen zu Habitus und Feld. Auf dieser Grundlage wird der Orientierungsrahmen, d.h. die Bezüge, innerhalb derer die Diskutierenden das Thema – hier: der unterrichtliche Umgang mit differenten Schülervoraussetzungen – bearbeiten, rekonstruiert. Der Orientierungsrahmen markiert die Bezugspunkte, innerhalb derer ein Thema bearbeitet wird. Sie sind durch drei Aspekte begrenzt: die bejahenden Ideale, die sogenannten »positiven Horizonte«, worauf eine Orientierung zustrebt, die »negativen Gegenhorizonte«, gegenüber denen eine Abgrenzung stattfindet, sowie die »Einschätzung und Bewertung der Realisierungsmöglichkeiten« angesichts der unterschiedlichen Horizonte, in denen ein Thema bearbeitet wird (vgl. Przyborski 2004: 56).
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Die Datengrundlage stellen Gruppendiskussionen dar, an denen jeweils drei bis fünf Lehrkräfte beteiligt sind. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses stehen die handlungspraktischen Herstellungsformen und kollektiven Sinnmuster der diskutierenden Lehrkräfte (vgl. Bohnsack 2010: 208f.). Der Erhebungsgegenstand ist somit kollektiv und nicht individuell konzipiert. Zudem wird er nicht als Produkt der Gruppendiskussion im engeren Sinn verstanden; vielmehr werden die handlungsleitenden Sinnstrukturen im Kontext des Gesprächs aktualisiert, sind aber als solche bereits vorhanden (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009: 103f.). Die Kollektivität bildet sich auf der Basis gemeinsamen Erlebens und entsprechender Erfahrungen heraus und ist handlungsleitend. Als solches ist dieses atheoretische oder konjunktive Wissen den Diskutierenden nicht unmittelbar zugänglich. Die kollektiven Orientierungen der Lehrkräfte, die sich aus selbstläufigen und metaphorisch dichten Passagen herausarbeiten lassen, sollen nachfolgend rekonstruiert werden. Die hier ausgewählte Passage, in der der unterrichtliche Umgang mit unterschiedlichen Leistungen von Lernenden von Lehrenden thematisiert wird, entstammt einer Gruppendiskussion, die in Österreich – in einer ländlich geprägten Gegend – mit drei Lehrkräften einer berufsbildenden Schule geführt wurde.
3.1 »Wir beginnen bei null« Der nachfolgend dargestellten Sequenz ist eine immanente Nachfrage der Diskussionsleitung (abgekürzt Y) vorangegangen, wie mit den von den Lehrkräften thematisierten Differenzen zwischen den Lernenden umgegangen wird. Die Diskussion der Lehrerinnen hat zu diesem Punkt eine Selbstläufigkeit entwickelt, die vorliegend aufgegriffen wird. »Af1: Ja in Italienisch ist es so, dass wir auch ganz große Unterschiede haben, aber/ Y: Italienisch lernt man schon in der Unterstufe? Af: Naja zum Teil ja, ja auf verschiedenstem Niveau und es ist einfach so, wir beginnen bei null und das muss der Standard sein. Das heißt, auch die, die schon gut Italienisch können, lernen zwei Jahre nicht 1 | Die Großbuchstaben stehen für die Personen, die kleinen markieren ihr Geschlecht (m = männlich, f = weiblich).
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Bf: Af:
Bf:
Af: Bf:
viel dazu. Sie festigen vielleicht ihre jetzigen Kenntnisse oder die sie bis dorthin erworben haben, aber sie lernen nicht viel dazu. In Französisch ist normalerweise so, dass sie bei null anfangen. Ja, ja, ja. Wobei wir natürlich auch schon angedacht haben, dass wir die zusammenfassen, die äh gewisse Italienischkenntnisse haben. Das kann man ja leicht abtesten, aber es ist halt dann das Problem in den verschiedenen Ausbildungszweigen, in den verschiedenen Klassen auch ؤIst ein organisatorisches Problem, gell? ؤdas müsste man einmal durchdiskutieren ob’s möglich ist, wäre natürlich ideal wenn man dann aufbauen kann. Ja, da in Italienisch ist es halt dann, das ist meine Erfahrung, diejenigen, die Vorkenntnisse haben, also ich hab auch Schüler in den ersten Klassen sitzen, vereinzelt zwar, aber die hatten in der Unterstufe, ich weiß nicht, zwei bis drei, nein, mindestens zwei Jahre je vier pro Woche vier Stunden und die langweilen sich ja dann schrecklich am Beginn, nicht. Auf der anderen Seite äh, von den ganz Schwachen kommt dann sehr gerne, ja da kümmert man sich dann nur um ؤJa ؤdie Besseren und das Tempo ist zu schnell und so weiter und so fort, hat aber wiederum damit zu tun, dass ah es schon ein großer Sprung ist von einer Hauptschule zu uns und dass der Sprung von an von einem Gymnasium zu uns kein großer Sprung ist, nicht, also weil sie einfach unterschiedlich lern äh lernen gelernt haben zu lernen. Ist vielleicht besser ausgedrückt.« (Gruppe-Wind)
Die unmittelbare Antwort auf die von der Interviewerin aufgeworfene Frage zeigt, dass Differenzen zwischen Lernenden ein relevantes Thema für die Unterrichtsgestaltung der Lehrerinnen darstellen. In der ersten Äußerung wird diese Perspektive unterstrichen und hervorgehoben, indem auf große Leistungsunterschiede im Italienischunterricht verwiesen wird. Die von der Interviewerin gestellte Verständnisfrage, ob Italienisch bereits in der Unterstufe – den Klassen fünf bis acht – unterrichtet wird, wird mit »sowohl als auch« beantwortet und dahin gehend spezifiziert, dass dies auf den verschiedensten Leistungsniveaus stattfindet. Sie formuliert im Anschluss daran die unterrichtlichen Konsequenzen für den Umgang
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mit den Unterschieden. Sie erläutert und erklärt die damit verbundenen Konsequenzen für das Lernen der Lernenden im Unterricht. Die Proposition zum unterrichtlichen Umgang mit der Differenz auf dem untersten Niveau für alle Lernenden wird durch einen Vergleich mit dem Französischunterricht weiter ausgeführt und so als Handlungspraxis im Umgang mit Differenz bestätigt. Es wird der Horizont eines anderen Umgangs mit den Differenzen zwischen den Schüler/-innen aufgeworfen, da der aktuelle nicht zufriedenstellend sei: Formen der äußeren Differenzierung. Die Proposition wird somit entlang der organisatorischen Rahmenbedingungen der Schule getilgt. Die Proposition, wie im Unterricht mit den Unterschieden umgegangen wird, wird wie folgt weiter differenziert: Differenzen werden zwischen den unterrichtlichen und fachbezogenen Vorkenntnissen innerhalb der Lerngruppe festgemacht. Eine weitere Differenzkategorie, die eingeführt wird, ist, wie die Schüler/-innen gelernt haben, zu lernen. Diese Differenz wird mit der in der Unterstufe jeweils besuchten Schulform gleichgesetzt. Die Differenzkategorie der Vorkenntnisse wird in der weiteren Beschreibung mit guten/besseren und schwachen/ganz schwachen Lernenden gleichgesetzt. Die beschriebenen Lernenden hatten zwischen zwei und vier Jahren Italienischunterricht; sie langweilen sich nach Aussage der Lehrerinnen zu Beginn des gemeinsamen Unterrichts sehr. Ihnen stehen die »ganz Schwachen« gegenüber, die den Lehrkräften nach deren Aussage vorwerfen, sich nur um die Besseren zu bemühen, und dies am Unterrichtstempo festmachen. Die Ursachen für die Unterschiede werden an den von den Schüler/-innen besuchten Schulformen festgemacht, d.h., je nachdem, ob in diesen das Lernen gelernt wurde, wie am Gymnasium, oder nicht, wie an der Hauptschule.
3.2 »Ein Verbrechen, wenn man die dann wieder zusammenwerfen würd’« Die Interviewsequenz, die mit der aus der formulierenden Interpretation generierten Überschrift »Ein Verbrechen, wenn man die dann wieder zusammenwerfen würd’« überschrieben ist, schließt unmittelbar an den zuvor dargelegten Ausschnitt des Transkripts an.
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Cf: Ich meine, ich denke mir, da könnte man vielleicht mit mit Aufträgen, mit Arbeitsaufträgen ahm einen Unterschied rein machen, dass man sagt, okay, man gibt den ganz den Schwachen ahm Arbeitsaufträge vielleicht längere zum Üben. Bf: ؤJa, aber, das ist Af: ؤDas ist sehr schwierig, also differenziert zu unterrichten ist wirklich schwierig. Cf: ؤJa Af: ؤwenn du dann wirklich ein gleiches Niveau wieder einmal hast Bf: ؤDas ist ja das Problem nicht? Af: Ja. Und ihr wisst ja, wir hoben zum Beispiel im Mode-Zweig, ah haben sie das gemacht, ah da haben sie glaub ich ein extra Budget gekriegt, da hoben sie die zusammengefasst, die, die Italienisch schon gehabt haben und die ganz neu angefangen haben. Cf: ؤMhm, und hat sich das bewährt? Af: Und dann haben sie auch gesagt, diese Gruppen bleiben immer, die können nicht zusammenfallen, weil weißt eh, wenn was Cf: ؤMhm Af: ؤUnd das hat sich eigentlich meiner Meinung noch schon bewährt. Cf: ؤAha, mhm Bf: Ja, aber die Gruppen müssen dann äh bleiben, weil es wäre ja ein Verbrechen, wenn man die dann wieder ja zusammenwerfen würd’. Cf: ؤZusammentut, ja, ja, ja. Af: ؤJa, ja, ja also es ist es war ein eigenes Budget da und die Gruppen sind dann geblieben. Ich meine auf der anderen Seite muss man auch sagen, die Schwachen lernen oft auch mehr, wenn, wenn auch Bessere in der Klasse sind, also keine Ahnung was besser ist. Jedenfalls zufriedenstellend ist das momentan nicht. Aber das im Modezweig war auch nicht schlecht, also diese Trennung, aber das ist ein Sonderfall. Cf: ؤIch meine, da wäre eine Lösung, dass man sagt, okay man führt in, in den, in den Unterstufen Italienisch ein. In allen Hauptschulen und im Gymnasium. Af: Liegt nicht in unserem Bereich, gell.
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Cf: Bf:
Cf: Bf: Af: Cf: Af: Bf:
ؤNein, eh nicht aber. ؤÄh ich glaube äh, ja ich glaube, das gehört überhaupt nicht in unseren Bereich und ich glaube, wir wissen alle überhaupt nicht Bescheid, wie es in den Hauptschulen wirklich ausschaut und womit die äh letztlich zu kämpfen haben. ؤJa, wenn sie aus den Hauptschulen kommen, haben sie vier Jahre Italienisch. ؤJa, aber das heißt nichts. ؤJa, aber oft als Pflichtgegenstand, oft als Freigegenstand ؤAha, aha ؤalso das ist total Das heißt gar nichts, vier Jahre Italienisch kann unter Umständen bedeuten, dass sie naja einen Vorsprung von nicht einmal einem halben Jahr haben.« (Gruppe-Wind)
Die Proposition der Differenzierung, durch zeitlich differenzierte Arbeitsaufträge den Unterschieden zwischen den Lernenden zu begegnen, wird von den Lehrerinnen übereinstimmend getilgt. Sie begründen dies damit, dass es zu schwierig ist. Die Differenzierung nach Zeit wird hier mit dem Verständnis beschrieben, dadurch ein tragbares Niveau für alle Schüler/innen zu erreichen. Dadurch wird die unterrichtliche Orientierung an einem Niveau, d.h. einem Angebot für alle, deutlich. Die Lösungsalternative stellt, als positiver Horizont, die äußere Differenzierung dar, die von den Diskutierenden in den Blick genommen wird. Diese Idee erfordert zwar eine zusätzliche Finanzierung, aber es wurden damit innerhalb der Schule positive Erfahrungen im Schulzweig Mode gemacht. Die Vorstellung, dass die einmal getrennten Gruppen aufrechtzuerhalten sind, wird von den Beteiligten mit großer Übereinstimmung geteilt. Hier spitzt sich der Diskurs zu; eine Fokussierungsmetapher wird deutlich: Die Lehrerinnen verstehen es als ein »Verbrechen«, die Lernenden mit den zuvor beschriebenen Differenzen gemeinsam zu unterrichten, nachdem sie zunächst getrennt unterrichtet wurden. Die Heterogenität der Schüler/-innen wird von den Lehrerinnen gesehen, jedoch werden andere Formen als die im erziehungswissenschaftli-
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chen Diskurs üblich in den Blick genommen: Die Lehrerinnen betrachten Heterogenitätskategorien, die für die Gestaltung von Unterricht relevant sind. Es wird ein Niveau für alle angestrebt; Differenzen innerhalb der Lerngruppe sollen weitestgehend abgebaut werden.
3.3 Geteilter Orientierungsrahmen: Leistungshomogenität als Ziel Der Orientierungsrahmen, den die Lehrerinnen teilen und in dem sie ihren unterrichtlichen Umgang mit Differenz konstruieren, ist von der Idee der Herstellung homogener Lerngruppen geleitet: Homogene Lerngruppen werden von ihnen als Ideal zum Unterrichten angesehen. Die Lehrerinnen präferieren die Herstellung der avisierten Homogenität durch Formen der äußeren Differenzierung. Die Bedeutung des Umgangs mit Differenz zwischen den Lernenden wird von ihnen als Anlass zum Abbau dieser genommen. Dabei akzeptieren sie, dass einige Schüler/-innen – die besseren – eine Zeit lang nichts lernen. Spezifische didaktische und methodische Entscheidungen werden bei der Unterrichtsgestaltung vorgenommen, um den schwächeren Lernenden zu helfen, das avisierte Klassenniveau zu erreichen. Die Hilfe und der Unterricht sind folglich auf das Ziel ausgerichtet, die Defizite Einzelner gegenüber einer gedachten durchschnittlichen Klassennorm abzubauen. Die unterrichtlichen Vorstellungen, gemäß denen die Lernenden durch die bestehenden didaktischmethodischen Überlegungen quasi »angepasst« werden sollen, gehen von einem gleichzeitigen Angebot für alle Lernenden aus. Der Terminus »schwache Schüler/-innen« wird von den Lehrerinnen für diejenigen verwendet, die bisher noch keinen Italienischunterricht hatten. Der Begriff »schwächere Schüler/-innen« wird durch den Vergleich mit den »stärkeren Schülern/-innen«, denjenigen mit Vorkenntnissen, herausgearbeitet. Somit ist die Differenzkategorie benannt, die von den Lehrerinnen als im unterrichtlichen Handlungskontext relevant erlebt wird. Diese Differenzkategorie wird binär oder dichotom konstruiert. Neben einer ablehnenden Haltung und der damit einhergehenden Bewertung der »schwachen Schüler/-innen« in dieser Passage wird deutlich, dass Letztere das Unterrichtsprotokoll sowie das Selbstverständnis der Lehrenden zu stören scheinen. Die Erklärung für die Unterschiede innerhalb der Lerngruppe wird von den Diskutierenden (allein) in dem schulischen Milieu gesehen bzw. der
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Schule, die zuvor besucht wurde. Die Lehrkräfte machen Unterschiede in Bezug auf die Kompetenz der Schüler/-innen, lernen zu können, daran fest, ob diese von der vierten bis zur achten Schulstufe eine Hauptschule oder ein Gymnasium besucht haben. Die Differenzform, die beschrieben wird, ist binär; es gibt demnach (nur) gute und schwache Schüler/-innen. Dies wird an ihren unterrichtlichen Vorerfahrungen festgemacht. Für die unterrichtliche Gestaltung spielt dabei das niedrigste vorhandene Niveau eine zentrale Rolle; dieses wird bei »null« situiert. Die stärkeren Lernenden stellen insofern eine Bezugsgröße dar, als der Abstand zu ihnen möglichst schnell aufgeholt werden soll. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Lehrerinnen ihre Unterrichtsgestaltung an dem Ziel, eine homogene Lerngruppe zu formen, ausrichten. Oder, andersherum, dass sie Differenzen dort in den Blick nehmen, wo sie ihr Konzept, ihr Skript von Unterrichtsgestaltung, unterläuft bzw. herausfordert. In ihren Vorstellungen kommt der Wunsch nach einer homogenen Lerngruppe, wie Reh (2005) ihn formuliert, deutlich zum Ausdruck. Heterogenität wird für die Unterrichtsgestaltung somit als Belastung erlebt. Sie soll daher abgebaut werden. Die gewünschte Voraussetzung einer homogenen Lerngruppe ist nicht vorhanden, es wird versucht, diese zum einen durch die didaktische »Idee« des Aufholens und zum anderen die des Wartens zu realisieren. Im gewählten Fall werden die Orientierungspunkte sehr deutlich: durch unterrichtliches Vorgehen die Defizite der einen zu kompensieren und gleichzeitig das (vorübergehende) Nicht(s)lernen der anderen zu akzeptieren. Mit anderen Worten, Differenz besteht zwischen einer Norm oder einem (gedachten) Durchschnitt, die bzw. der als Vergleich für etwas davon Abweichendes – was als negativ bewertet wird, weil es dies (aufwendig) zu kompensieren gilt – herangezogen wird. Ein vergleichbarer Orientierungsrahmen ist auch bei der Verwendung anderer unterrichtlicher Methoden als den hier aufgeführten denkbar.
4 F A ZIT : R EFLE XION DER UNTERRICHTLICHEN P R AK TIKEN IM U MGANG MIT D IFFERENZEN Auf die Ausgangsfrage, wie Lehrkräfte Differenz im Kontext unterrichtlicher Praktiken konstruieren, kann auf Basis der gewählten Passage die
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Antwort gegeben werden, dass die Konstruktionen unterrichtsbezogen sind. Unterschiede zwischen Schülern/-innen werden dort konstruiert und gesehen, wo sie das Konzept des Unterrichts betreffen bzw. irritieren. Also an jenem Punkt, an dem die Differenzen – hier die unterschiedlichen Leistungen im Fach Italienisch – innerhalb der Lerngruppe die unterrichtlichen und lerntheoretischen Vorstellungen und ihre eigenen Gestaltungsmöglichkeiten im Kontext Schule sie als Lehrkräfte behindern. Aus dieser Sicht werden Differenzen zu einem Problem, wofür – so lässt sich aus dem angeführten Beispiel ablesen – keine anderen Handlungsmöglichkeiten gefunden werden als die von ihnen praktizierte bzw. beschriebene: dem Unterrichten auf dem niedrigsten Niveau. Ein derartiger Umgang mit Differenz und deren Konstruktion, die – auch wenn hier keine quantitative Aussage getroffen werden kann – vermutlich keinen Einzelfall darstellt, wirft folgende Fragen auf: Wie können Lehrkräfte zur Gestaltung eines inklusiven Unterrichts vorbereitet werden? Welche Bedeutung oder welches Gewicht nehmen dabei ihre Vorstellungen bzw. unterrichtlichen Praktiken ein? Wie können Lehrende und Schulen dabei unterstützt werden, ihre eigenen Konstruktionen zu hinterfragen? Wie können Lehrkräfte und Schulen dabei begleitet werden, ihre unterrichtlichen Vorstellungen im Sinne eines anerkennenden Umgangs mit Differenzen zu verändern – ohne bestehende widersprüchliche Anforderungen im Schulsystem auszublenden? Wie können die schulstrukturellen Rahmenbedingungen verändert werden, um einen Unterricht zu ermöglichen, in dem heterogene Lernausgangslagen anerkannt und genutzt werden? Mit Petriwskyj (2010) lässt sich erklären, dass derart normative Einstellungen, wie sie aus der Passage rekonstruiert wurden, konträr zur Entwicklung eines tiefer liegenden und anerkennenden Verständnisses im Umgang mit Differenzen liegen. Als solche stehen sie einer inklusiven Idee diametral gegenüber. Gleichzeitig ist darauf hinzuweisen, dass die Vorstellungen von Lehrkräften vor dem Hintergrund des schulischen Feldes sowie seines spezifischen und strukturellen Umgangs mit Leistungsdifferenz zu betrachten sind. Bei einem solchen Vergleich wird die Nähe bzw. Parallelität der unterrichtlichen zur strukturellen Umgangsform deutlich: die Idee des Lernens im Gleichschritt. Die Teilergebnisse der hier dargelegten Untersuchung helfen, die Herausforderungen, die mit dem Anspruch eines inklusiven Unterrichts verbunden werden, konkreter in den Blick zu nehmen und Ideen für die
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Aus- und Fortbildung ebenso wie für die Schulentwicklung zu benennen. Hierzu zählen das Bewusstmachen und Hinterfragen der je eigenen Konzepte von Bildung, Erziehung, Lernen und Entwicklung von Lehrkräften. Dies sollte verbunden sein mit einer Reflexion der Begrenzungen und Behinderungen, die den unterrichtlichen Vorstellungen im gegebenen schulischen und gesellschaftlichen Kontext zuwiderlaufen. Gleiches gilt für jenes Handeln, das teilhabende und partizipative Elemente durch und in didaktisch-methodischen Interaktionszusammenhängen zu erkennen erlaubt. Somit kann im Anschluss an die Ergebnisse die Frage nach dem Zusammenhang zwischen schulstrukturellen Aspekten und der unterrichtlichen Gestaltung neu aufgeworfen werden. Um diese Diskussion differenziert führen zu können, wird hier vorgeschlagen, sich an den von Schuck (2001) formulierten Aspekten zu orientieren, d.h. dem jeweiligen Verständnis von Bildung, Erziehung, Lernen und Entwicklung, das im Handeln von Lehrenden leitend ist. So ist anzunehmen, dass sich dieses sowohl in den schulischen Strukturen als auch in den unterrichtlichen Vorstellungen findet. Perspektivisch sollte die Untersuchung, von der ein Ausschnitt dargestellt wurde, ausgedehnt werden. Denkbar ist eine Übertragung auch auf Schulsysteme, die weniger, als dies in Österreich und Deutschland der Fall ist, von der Idee der homogenen Lerngruppe durchzogen sind. Die Schulsysteme der skandinavischen Länder oder auch das Italiens bieten hierzu eine Möglichkeit. Darüber hinaus scheint es lohnend, den Zusammenhang zwischen sozialen Kategorien, Leistungsdifferenzen und Vorstellungen der Lehrenden von schulischem bzw. unterrichtlichem Lernen und Lehren stärker in den Blick zu nehmen. Dies kann durch einen Vergleich mit Passagen erfolgen, in denen von den Diskutierenden soziale Dimensionen von Differenzen (z.B. soziales Milieu) herangezogen werden.
L ITER ATUR BMUKK-Initiative »25plus«: Individualisierung des Lernens und Lehrens (2007), Wien. URL: www.bmukk.gv.at Bohnsack, Ralf (2008): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden (7. Aufl.), Opladen u.a.: Budrich Verlag.
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Bohnsack, Ralf (2010): »Gruppendiskussionsverfahren und dokumentarische Methode«, in Friebertshäuser, Barbara/Langer, Antje/Prengel, Annedore (Hg.), Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (3. vollständig überarbeitete Aufl.), S. 205-218, Weinheim,München: Juventa Verlag. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Bourdieu, Pierre (1998). Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Budde, Jürgen/Scholand, Barbara/Faulstich-Wieland, Hannelore (2008): Geschlechtergerechtigkeit in der Schule. Eine Studie zu Chancen, Blockaden und Perspektiven einer gender-sensiblen Schulkultur, Weinheim u.a.: Juventa Verlag. Gomolla, Mechtild (2005): Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft. Strategien gegen institutionelle Diskriminierung in England, Deutschland und in der Schweiz, Münster, New York, München, Berlin: Waxmann Verlag. Gomolla, Mechtild/Radtke, Frank-Olaf (2002): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, Opladen: Leske und Budrich. Katzenbach, Dieter/Schroeder, Joachim (2008): »›Ohne Angst verschieden sein können‹. Über Inklusion und ihre Machbarkeit«, in: Zeitschrift für Inklusion-online.net, S. 1-30. URL: www.inklusion-online.net/in dex.php/inklusion/article/view/2/2 Klafki, Wolfgang/Stöcker, Hermann (1976): »Innere Differenzierung des Unterrichts«, in: Zeitschrift für Pädagogik, 22(4), S. 497-523. Paradies, Liane (2003): »Leistungsheterogenität in der Sekundarstufe I. Anregungen zur Differenzierung im Unterricht«, in: Zeitschrift für Pädagogik, 22(4), S. 20-23. Petriwskyj, Anne (2010): »Diversity and Inlusion in the Early Years«, in: International Journal of Inclusive Education, 14(2), S. 195-212. Prengel, Annedore (2006): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik (3. Aufl.), Wiesbaden: VS Verlag. Przyborski, Aglaja (2004): Gesprächsanalyse und dokumentarische Methode: Qualitative Auswertung von Gesprächen, Gruppendiskussionen und anderen Diskursen (1. Aufl.), Wiesbaden: VS Verlag.
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BGBl&bk=Bundesanzeiger_BGBl&start=//*%5B@attr_ id=%27bgbl208s1419.pdf %27%5D (27.02.2010). Wedell, Klaus (2005): »Dilemmas in the Quest for Inclusion«, in: British Journal of Special Education, 32(1), S. 3-11. Wember, Franz B. (2001): »Adaptiver Unterricht«, in: Sonderpädagogik, 31(3), S. 161-181. Wenning, Norbert (2008): »Gleichheit und Ungleichheit. Möglichkeiten eines anderen Umgangs in Schule und Unterricht«, in: Schulmagazin 5-10 (1/2008), S. 5-8.
Eine Schule für alle – aber getrennte Bereiche für Mädchen und Jungen? Hannelore Faulstich-Wieland und Barbara Scholand
Der Aufsatz verbindet die Argumentation für Inklusion mit der Debatte um schulische Koedukation, also der gemeinsamen Erziehung der Geschlechter. Die Forderung nach einer Schule für alle bündelt verschiedene Debatten, die alle auf eine Aufhebung der Trennung von Kindern nach unterschiedlichen Kriterien drängen. Die Diskussion ist damit im Zentrum der Auseinandersetzungen sowohl um erfolgreiche Lern-/Lehrkonzepte als auch um plurale Lebensentwürfe und die Zukunft der Gesellschaft angesiedelt: Die zunehmende Individualisierung, damit aber auch die Verlagerung von Lebensrisiken auf die Einzelnen werfen die Frage danach auf, wie sozialer Zusammenhalt, gesellschaftliche Kohäsion sowie demokratische Gestaltungsformen zu vermitteln sind. Schule ist hier ein zentrales Scharnier: Jede Einzelschule, jeder Klassenverband sowie das Schulsystem als Ganzes steht vor der Herausforderung, das Spannungsverhältnis zwischen Individualisierungs- und Vergemeinschaftungsanforderungen zu bearbeiten – und dabei Fragen von Benachteiligung produktiv zu lösen. Der Versuch, Differenzen – sei es aufgrund von geschlechtlichen, fähigkeits- oder herkunftsbezogenen Zuordnungen – und die daraus resultierenden Widersprüche und Probleme über Besonderungen, Trennungen und (zeitweilige oder andauernde) Ausschlüsse zu lösen, ist so alt wie die Institution der Schule selbst. Kategorisierungen z.B. nach Geschlecht oder Behinderung und damit einhergehende hierarchisierende Positionszuweisungen sind nicht ohne weiteres aus der Welt zu schaffen, oder, wie Bourdieu vorschlägt, durch eine »symbolische Revolution« (1997b: 98) abzulösen. Der »Inklusionsgedanke« widersetzt sich der Annahme, der
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hochkomplexe und spannungsreiche Verweisungszusammenhang von Gleichheit und Differenz (vgl. Prengel 1993) sei zur einen oder anderen Seite hin aufzulösen. Vielmehr geht es theoretisch um die Transformation von Gleichheit und Differenz in ein Anerkennungsverhältnis (vgl. Honneth 1992), was praktisch bedeutet, Wandel über immer wieder neue Aushandlungsprozesse zuzulassen – Aushandlungsprozesse, die das »Wie« und »Was« bezüglich einer Kompensation differenter Ausgangslagen zum Thema haben. Bei schulischen Geschlechterfragen hingegen wird häufig entlang der Linie Koedukation vs. Monoedukation diskutiert: Aktuell werden Forderungen nach Jungenklassen und Jungenschulen aufgestellt; historisch wurde, kaum dass die Koedukation realisiert worden war, von der neuen Frauenbewegung eine geschlechtliche Separierung favorisiert. Gleich welchen Ausgangspunkt die Argumentation für Geschlechtertrennung hat: Es wird gerade nicht die »Inklusion« aller Schülerinnen und Schüler im Sinne ihrer vollen Partizipation gefordert, sondern ein (vermeintlicher oder tatsächlicher) Nachteilsausgleich soll über die »Besonderung« erreicht werden. Untermauert wird die Geschlechtertrennung jeweils vor allem mit empirischen Studien, welche entweder Geschlechterunterschiede konstatieren (vgl. vbw 2009), ohne jedoch deren Ursprung klären zu können, oder die positiven Auswirkungen der Geschlechtertrennung zu belegen versuchen (vgl. Herwartz-Emden 2007). Aber lassen sich, jenseits empirischer Daten, theoretisch überzeugende Konstrukte finden, die einen »Sonderweg« in Bezug auf Geschlecht sinnvoll erscheinen lassen? Nach einem kurzen historischen Abriss über die Entwicklung der Koedukation (1) werden die Argumentationen für die geschlechtliche Separierung analysiert und ihre theoretischen Hintergründe ausgeleuchtet (2). Hier gibt es Versuche, Geschlechtertrennung aus einer feministisch-dekonstruktivistischen Theorie abzuleiten (2.1); weitere Ansätze (2.2 und 2.3) greifen auf psychologische und sozialisationsbezogene Erklärungsmodelle und deren Verbindung zurück. Im Fazit (3) wird für einen »transklusiven Bildungsbegriff« argumentiert, der für unterschiedliche Ausgangslagen und den Umgang mit heterogenen Lerngruppen sensibilisiert.
E INE S CHULE FÜR ALLE – ABER GETRENNTE B EREICHE FÜR M ÄDCHEN UND J UNGEN ?
1 E NT WICKLUNG DER K OEDUK ATION Koedukative Schulen sind heute überwiegend Normalität (vgl. z.B. Faulstich-Wieland 1991, Kleinau u.a. 1996). Historisch betrachtet ist die gemeinsame Unterrichtung beider Geschlechter in der alten Bundesrepublik erst seit den 1970er Jahren eine nahezu durchgängige Organisationsform, in der ehemaligen DDR seit deren Gründung. Vor allem die höhere Bildung verlief bis dahin getrennt, während die schulische Grundbildung durchaus koedukativ – allerdings eher im Sinne von koinstruktiv – gestaltet wurde. Da sich der Staat bis zur preußischen Mädchenbildungsreform 1908 (vgl. Albisetti 2007) für die höhere Bildung von Mädchen als nicht zuständig betrachtete, bestand für »höhere Töchter« im 19. Jahrhundert nur die Möglichkeit, private Mädchenschulen zu besuchen. Mit dem Entstehen der ersten Frauenbewegung gab es heftige Kämpfe um eine Verbesserung der Mädchen- und Frauenbildung. Forderungen nach Koedukation standen dabei keineswegs im Vordergrund, wurden zunächst nur vom radikalen Flügel um Hedwig Dohm postuliert. Politisch durchgesetzt wurden sie in der Weimarer Republik nicht. Im Faschismus verlangten die geschlechterdifferenten Bildungskonzepte ebenfalls separierte Kontexte. In den beiden deutschen Staaten nach 1945 wurde unterschiedlich an die Weimarer Republik angeknüpft: In der DDR wurden die sozialistischen Konzepte – und damit Einheitsschulen1 und Koedukation – umgesetzt. In der alten BRD wurden die Viergliedrigkeit und die Geschlechtertrennung übernommen. Mit der Diskussion um die »Bildungskatastrophe« in den 1960er Jahren wurden die weiterführenden Bildungsmöglichkeiten ausgebaut. Viele Jungenschulen öffneten ihre Tore für Mädchen (vgl. Hurrelmann 1986), koedukative Schulen wurden so nach und nach zur Normalität. Die in den 1970er Jahren entstandene neue Frauenbewegung (vgl. Lenz 2008) problematisierte diese Entwicklung. In der Regel waren es Lehrerinnen, die sich für eine Förderung von Mädchen engagierten und sich dafür geschützte Räume wünschten. Sie bewirkten, dass Mädchenförderprogramme und heutige »genderbewusste« Schulentwicklungen über1 | Neben der zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule gab es Sonderschuleinrichtungen für »Kinder mit physischen oder psychischen Schädigungen« (vgl. Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem von 1965, § 2 [1], siehe unter www.verfassungen.de/de/ddr/schulgesetz65.htm [27. März 2010]).
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wiegend mit (zeitweiliger) Geschlechtertrennung in Verbindung gebracht, wenn nicht sogar gleichgesetzt werden (vgl. u.a. Koch-Priewe 2002, Herwartz-Emden u.a. 2007).
2 THEORE TISCHE B EGRÜNDUNGEN DER G ESCHLECHTERTRENNUNG In den späten 1980er Jahren erreichten die Debatten in der neuen Frauenbewegung ihren Höhepunkt. Die Argumente für eine Trennung der Geschlechter wurden im Wesentlichen aus Erfahrungsberichten gewonnen, zum Teil aus empirischen Untersuchungen. In den meisten Fällen fehlte eine explizite theoretische Fundierung – auch bei den empirischen Arbeiten. Unterlegt ist jedoch in allen Fällen die Annahme einer Benachteiligung von Mädchen und Frauen, gemeinsame Zielsetzung ist bei allen eine Aufhebung von Ungleichheiten. Welche Argumente dafür angeführt werden, dass Mädchenförderung in koedukativen Kontexten nicht erreicht, durch getrennte schulische Angebote jedoch ermöglicht werde, soll im Folgenden an einigen zentralen Arbeiten nachgezeichnet werden. Herausgegriffen werden dafür jene, die eine theoretische Einordnung versuchen: Ablehnungen von Koedukation finden sich in den feministischen Begründungen von Sigrid Metz-Göckel und in den psychologischen Ansätzen von Bettina Hannover. Komplementär zur Mädchenförderung gewann Jungenarbeit seit etwa den 1990er Jahren an Bedeutung: Die theoretischen Überlegungen, die Reinhard Winter hierzu anstellt, kreisen im Wesentlichen um den Begriff der Identität.
2.1 Sigrid Metz-Göckel: Von der Sexismus-Kritik zur Dekonstruktion von Geschlecht? In den Anfängen der Koedukationskritik spielte der »Traum« von einer »feministischen Mädchenschule« eine wichtige Rolle. Zugleich war klar, dass er nur eine Vision sein konnte, die kaum als Alternative geeignet war. Insofern gab es auch nur wenige Vertreterinnen, die dezidiert gegen koedukative Schulen waren.2 2 | Zu diesen gehörten Krista Schnorrenberg und Karin Völkel, die Koedukation als »die Anpassung an das allgemein Männliche« – so der Titel ihres Beitrags –
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Als besonders einflussreiche Arbeit in der Auseinandersetzung um die Koedukationskritik erwies sich eine Studie über Chemie- und Informatikstudentinnen, die von einer Forschungsgruppe um Sigrid Metz-Göckel durchgeführt wurde (vgl. Metz-Göckel 1987, Kauermann-Walter u.a. 1988). Sie hatten herausgefunden, dass (vermeintlich) überproportional viele dieser Studentinnen ihr Abitur an einer Mädchenschule erworben hatten. Vor allem von den Medien, aber auch in vielen Publikationen wurde dieses Ergebnis – zum Teil mit erheblich überhöhten Prozentangaben – als »Beweis« für die förderliche Situation getrennter Schulen angesehen. Sigrid Metz-Göckel – die sich in der Debatte als die zentrale Theoretikerin erweisen sollte – stellte unter dem Titel »Licht und Schatten der Koedukation« die Ergebnisse vor (Metz-Göckel 1987). Den Begriff »Sexismus« sieht sie als geeignet an, um Koedukation zu kritisieren: »Der Vorteil einer solchen Begriffsbildung liegt in der damit gewonnenen größeren Beobachtungsschärfe für eine Vielfalt von Verhaltensweisen und Wirkungen sowie für ihre strukturelle Verursachung. Sexismus bezeichnet Diskriminierung eines Geschlechts durch das andere und zugleich die ungleichen Chancen der Lebensentfaltung für die beiden Geschlechter. Die Unterdrückung aufgrund des Geschlechts wird im Begriff Sexismus als gegeben oder möglich vorausgesetzt, aber als ›unberechtigt‹ und ›unzulässig‹ bzw. als etwas, was es abzuschaffen gilt, zurückgewiesen. Die Betonung dieser Bedeutung von Sexismus ist deshalb entscheidend, weil es sich bei diesem Begriff nicht um eine biologistische Interpretation handelt, sondern um eine bildungspolitische Perspektive. Es geht in diesem Kontext auch um ein weitergehendes Verständnis von ›Geschlecht‹ als sozialer Kategorie: Geschlecht ist nicht bloß eine Variable, die ›unberührt‹ bzw. isoliert von Alter, Einkommen und Familienstand wirksam ist, sondern die als konstitutiv auch für die Ausprägung anderer Variablen angesehen wird. Sie verbezeichnen. Ihr theoretischer Hintergrund basiert auf der Annahme des Patriarchats, weshalb sie fragen: »Wenn Männer herrschen, ist es dann wünschenswert, dass Mädchen zusammen mit Jungen unterrichtet werden?« (1988: 61). Koedukation kann in dieser Sicht nur negativ sein: »Einverstanden sein mit der Koedukation heißt somit auch, einverstanden zu sein mit der Marginalisierung von Mädchen und Frauen« (ebd.: 70). Unklar bleibt in einer solchen Begründung, wie eine Überwindung des Patriarchats möglich wird. Wenn eine unveränderbare Unterdrückung konstatiert wird, kann es bestenfalls eine Gegenwelt geben – wie Schnorrenberg und Völkel sie sich in Form der Mädchenschule ja auch wünschen.
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weist zudem auf eine soziale Geschichte, die über die gegenwärtige Praxis und Reflexion hinausreicht. Dass die ›männliche‹ Besetzung von Naturwissenschaft und Technik eine sexistische Komponente hat, scheint die starke Sachorientierung und ›Sachgesetzlichkeit‹ männlich bestimmter Interaktionen, Interessen und Politiken mitzuprägen.‹ (Ebd.: 467)«
Metz-Göckel hat sich dennoch nicht eindeutig für eine Aufhebung der Koedukation ausgesprochen, aber ihr theoretischer Ansatz diente immer wieder zur Begründung der notwendigen Kritik an der Art und Weise, wie Koedukation realisiert wurde. In dem gemeinsam mit anderen (Kauermann-Walter u.a. 1988) verfassten Beitrag »Formale Gleichheit und diskrete Diskriminierung: Forschungsergebnisse zur Koedukation«, der im einflussreichen »Jahrbuch der Schulentwicklung« erschien, wurde Geschlechtertrennung als eine Lösungsmöglichkeit für Diskriminierungsprobleme präsentiert. Dieser Beitrag heizte die Debatte wesentlich an.3 Sigrid Metz-Göckel hat die theoretische Fundierung ihrer Position in einem Schwerpunktheft der Zeitschrift beiträge zur feministischen theorie und praxis mit dem Titel »Um Bildung« weiterentwickelt (Metz-Göckel 1996). Sie identifiziert zwei theoretische Positionen in der Koedukationsdebatte, wobei sie die erste für sich reklamiert, die zweite Steffani Engler, Hannelore Faulstich-Wieland und Marianne Horstkemper zuschreibt.4 3 | Gerade die Tatsache, dass die Autorinnen keine Erklärung dafür fanden, wieso aus Mädchenschulen größere Anteile von Chemie- und Informatikstudentinnen rekrutiert werden können (was spätere repräsentative Studien nicht belegen konnten, vgl. Giesen u.a. 1992), trug zu dem medialen Erfolg der Forderung nach Mädchenschulen bei. Die Autorinnen schlussfolgerten nämlich: »Offensichtlich geschieht in Mädchenschulen weniger explizite Förderung und doch ist ein großer Anteil ihrer Absolventinnen eher bereit, ein naturwissenschaftliches Studium aufzunehmen und in männerdominierte Sparten einzubrechen« (Kauermann-Walter u.a. 1988: 184f.). Dies suggeriert, es sei keine explizite didaktisch-konzeptionelle Anstrengung erforderlich, sondern allein die monoedukative Organisationsform gewährleiste oder ermögliche zumindest die Herausbildung geschlechtsuntypischer Interessen. 4 | Metz-Göckel verkürzt die Position von Engler, Faulstich-Wieland und Horstkemper erheblich, wenn sie schreibt, dass diese das »Theorem einer radikalen Gleichheit der Geschlechter (als Vorgriff) zugrunde« legen, demnach in der Erziehung keine Unterschiede mehr machen und deshalb fordern würden, »Erzie-
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Für ihre eigene Position seien »die totale soziale Konstruiertheit von Geschlecht und die Beobachtung, dass Frauen immer wieder in eine mindere Position gedrängt werden« (ebd.: 15) die Ausgangspunkte. Die damit einhergehende Polarisierung und Hierarchisierung der Geschlechter verunmögliche eine Geschlechtervielfalt, weshalb es notwendig sei, den Geschlechterdualismus zu dekonstruieren: »D.h. die Prozesse der Rekonstruktion von Geschlechterdifferenzen sind im Hinblick auf eine Transzendierung zu erforschen. Die Bezugnahme auf Frauen ist in diesem Denkmodell widersinnig, eine paradoxe Intervention. Sie erfolgt mit dem Interesse, das Geschlecht als strukturierendes Merkmal außer Kraft zu setzen.« (Ebd.)
Die Dekonstruktion von Geschlecht gehe mit einem »Vielfältigkeitsparadigma« einher, das Frauen ermöglichen soll, viele individuelle Differenzen zu leben. Die pädagogische Konsequenz, die Metz-Göckel daraus zieht, ist ein »spielerischer« oder »subversiver« Umgang mit Koedukation und Geschlechtertrennung. Dafür muss jedoch wieder auf »Jungen« und »Mädchen«, »Frauen« und »Männer« Bezug genommen werden – d.h., die dekonstruktive Absicht mündet in eine rekonstruktive Praxis ein, die Geschlechterdifferenz wird dadurch zwangsläufig dramatisiert. Um die Sinnhaftigkeit von Geschlechtertrennung zu untermauern, führt sie die Frage nach den Kontexten ein, die sie als entscheidend für die Realisierung von Vielfalt ansieht: In welchen Kontexten können Mädchen und Jungen die Grenzen der jeweiligen Geschlechterrolle überschreiten und »sich als ›Geschlechtsmigrantinnen‹ entwickeln […], ohne sofort und grimmig wieder geschlechterstereotyp festgelegt zu werden, sei es auch zunächst nur als intellektuelles Spiel, und das ist bereits viel« (ebd.: 17). Als Beispiel für einen förderlichen Kontext verweist sie auf autonome Zusammenschlüsse in der Frauenbewegung: Diese hätten gezeigt, wie viel Veränderung möglich sei. Entscheidend dafür sei gewesen, dass die Separierung bewusst und als Kritik, nicht als Hilfesuche erfolgte (ebd.: 18). Schule bietet jedoch genau nicht bzw. in nur begrenztem Ausmaß die Möglichkeit von Selbsthungsprozesse unter strikt gleichen Bedingungen zu organisieren« (Metz-Göckel 1996:15). Richtig ist vielmehr, dass die Genannten die Position einer reflexiven Koedukation vertreten, die von einer Individualisierung und der notwendigen Balance von Dramatisierung – Entdramatisierung von Geschlecht ausgeht.
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bestimmung und Autonomie, daher lassen sich die Erfahrungen aus der Frauenbewegung kaum auf Unterrichtskontexte übertragen. Als eine weitere Begründung zieht Metz-Göckel das »Gleichheitstabu« heran, das grundlegend für schulische (koedukative) Kontexte sei: Es besagt, dass Jungen immer überlegen und Mädchen sozial unauffällig zu sein haben. In der Konsequenz seien Männer daher eher an der Aufrechterhaltung von Geschlechterdifferenzen, Frauen an ihrer Minimierung interessiert. Folglich – so Metz-Göckel – ist »in einer solcherart angeleiteten pädagogischen Praxis für die (potentielle) Überlegenheit und überraschende Andersartigkeit von Mädchen kaum Platz« (ebd.). Aus diesem Grund sei es notwendig, soziale Situationen zu schaffen, in denen das Geschlecht kontrolliert werden könne. Die »zufällige methodische Trennung«, wie sie Maria Anna Kreienbaum im gleichen Band entfaltet (Kreienbaum 1996), sei eine solche Lösung. Gemeint ist, dass pro Halbjahr ein Fach geschlechtshomogen unterrichtet wird. Kreienbaums Überlegungen basieren auf der Schwierigkeit, Geschlechtertrennungen zu begründen (!) – z.B. durch Geschlechterdifferenzen wie etwa einen vermeintlich unterschiedlichen Technikzugang. Sie versucht daher, diese Schwierigkeit zu umgehen, indem bei der zufälligen Wahl eines Faches zusätzlich »zufällig« nach Geschlecht getrennt werde. Da die Einteilung in verschiedene Lerngruppen im Schulsystem sowieso selbstverständlich sei – sie zählt dafür die Mehrgliedrigkeit, das Jahrgangsprinzip, Religionszugehörigkeit und Leistungsunterschiede auf –, würde eine Geschlechtertrennung nur eine weitere Einteilungsform bedeuten. Mit dieser fraglosen und unkritischen Übernahme gegebener Einteilungen fügt sich dieser Ansatz allerdings nahtlos in traditionell-konservative Schulpolitik ein. Den Vorteil des geschlechtshomogenen Unterrichts sieht Kreienbaum in Folgendem: »Kein Junge ermahnt ein Mädchen, sich wie ein Mädchen zu verhalten (und also nicht vorlaut, dominant, klug in Mathe, nett zu anderen Jungs etc. zu sein). Kein Mädchen ermahnt einen Jungen, ein Junge zu sein, bzw. kein Junge muss Gesichtsverlust befürchten, wenn ein (viele) Mädchen intellektuell, körperlich besser ist, spritzigere Ideen hat etc. Mädchen können nicht auf die Jungen zählen, sie müssen selber Hausaufgaben machen, Vokabeln lernen, eine Systematik verstehen, für Atmosphäre sorgen, Ruhe herstellen […].« (Ebd.: 54)
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Kreienbaum geht davon aus, dass die Erfahrungen in dem getrennten Unterricht ständig gegenseitig berichtet und so reflektiert werden.5 Koedukativer Unterrichtung hingegen wird unterstellt, es werde damit vorrangig »die Herstellung einer Phantom-Gleichheit« betrieben und daher gewähre »der koedukative Kontext viele Anregungen für eine stille Politisierung der individuellen Differenz zugunsten der Jungen« (Metz-Göckel 1996: 26). Monoedukativer Unterricht für Mädchen – so die logische Konsequenz dieser Argumentation – biete per se die Chance einer Vielfalt. Maria Anna Kreienbaum wie Sigrid Metz-Göckel fokussieren bezüglich der Änderung der schulischen Organisationsform ausschließlich auf die koedukative oder monoedukative Zusammensetzung der Lerngruppen, also auf Geschlecht als (alleinigem) Differenzmerkmal – was dem Anliegen der Dekonstruktion zuwiderläuft. Queere Personen, die praktisch eine Dekonstruktion »leben«, finden in diesen Arrangements keinen Platz. Aus dem Blick geraten dabei zudem die Gefahren einer Geschlechterseparierung: Denn entgegen den eigentlichen Absichten können monoedukative Settings zu einer Verfestigung statt zum Abbau von Stereotypen führen und die symbolische Entwertung von Weiblichkeit verstärken (vgl. Budde/Scholand/Faulstich-Wieland 2008). Eine theoretische Begründung der Geschlechtertrennung wäre nur auf dem Hintergrund der Annahme stabiler, ontologischer Geschlechterdifferenzen konsistent – genau dies widerspricht jedoch den Absichten der Autorinnen.
2.2 Bettina Hannover: Spontanes Selbstkonzept und Geschlechtsidentität Bettina Hannover beansprucht, »den psychologischen Mechanismus zu erhellen, durch den in Abhängigkeit von der Geschlechterkonstellation im Klassenverband Unterschiede in Interessen und Einstellungen von Mädchen auftreten können« (Hannover 1992: 33). Da die Interessen von Mädchen an naturwissenschaftlichen Fächern vor allem in der Pubertät nachlassen, bezieht sich Hannovers Erklärungskonzept auf die Annahme eines »interaktiven Effekts zwischen dem Einsetzen der pubertären körperlichen Veränderungen der Mädchen einerseits und der Anwesen5 | Wieso dies möglich sein soll, wenn dem koedukativen Unterricht ansonsten abgesprochen wird, Geschlechterverhältnisse reflexiv zu bearbeiten, bleibt offen.
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heit männlicher Klassenkameraden andererseits« (ebd.: 34). Sie unterlegt ihrem Modell zwei psychologische Erkenntnisse: Zum einen seien maskuline Eigenschaften stärker sozial erwünscht als feminine. Zum anderen sei das spontane Selbstkonzept einer Person vom Kontext abhängig. So hätten Jugendliche häufiger das spontane Selbstkonzept, eine erwachsene Person zu sein, als Erwachsene dies haben (für die es selbstverständlich ist und insofern nicht kontextuell hervorgehoben werden muss). Zugleich haben jugendliche Mädchen eher das spontane Selbstkonzept, eine Frau zu sein, jugendliche Jungen das, ein Mann zu sein. Hier sieht Hannover nun eine Kollision gegeben: Während das spontane Selbstkonzept für Jungen – erwachsen und Mann zu sein – kompatibel und selbstwertdienlich sei, sieht sie dies für Mädchen als nicht gegeben an: Erwachsen zu sein bedeute nämlich, »eine kompetente, entscheidungsfähige und unabhängige Person zu sein« (ebd.: 36). Dies sei jedoch »unvereinbar« damit, eine Frau zu sein: »Weibliche Eigenschaften stimmen nicht in jedem Fall mit den Merkmalen des Erwachsenseins überein« (ebd.). Insofern erfahren Mädchen keine Selbstwertsteigerung, wenn sie sich mit der eigenen Geschlechtsrolle identifizieren. Als weitere Annahme geht Hannover davon aus, dass die Aktualisierung des spontanen geschlechtsbezogenen Selbstkonzepts davon abhängt, wie stark das eigene Geschlecht relativ zum anderen vertreten ist: D.h. in einer koedukativen Klasse würden Mädchen sich eher als Mädchen wahrnehmen als in einer reinen Mädchenklasse. In dieser hätten sie dadurch die Möglichkeit, eher maskuline oder androgyne Eigenschaften zu zeigen. Hannover prüft diese Annahmen an vier koedukativen und vier Mädchenschulklassen der 7. Jahrgangsstufe (N=186) (ebd.: 37) und findet ihre Hypothesen bestätigt. Für die Koedukationsdebatte liefert sie deshalb eine Begründung für geschlechtsgetrennten Unterricht in naturwissenschaftlichen Fächern: »Unsere Ergebnisse sprechen dafür, dass die Aktivierung des Selbstkonzeptes der eigenen Geschlechtszugehörigkeit für die Interessenentwicklung von Schülerinnen in typischen ›Jungenfächern‹ ungünstig ist. Dieses Selbstkonzept wird bei Anwesenheit männlicher Klassenkameraden häufiger aktiviert, allerdings nur in einer Entwicklungsphase, in der die eigene Geschlechtszugehörigkeit für die Mädchen aufgrund der einsetzenden körperlichen Veränderungen subjektiv besonders hervorgehoben ist.« (Ebd.: 43)
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Wenngleich Hannover selbst ihr Ergebnis relativiert (ebd.), so dienten ihre Forschungen doch vielfach als Begründung für monoedukative Angebote (vgl. z.B. Kessels 2002). Vergleicht man die theoretische Begründung von Metz-Göckel mit dem Ansatz von Hannover, so fällt auf, dass die Einforderung einer selbstbewussten Vielfalt des Frauseins – wie Sigrid Metz-Göckel sie reklamiert – hier keine Rolle spielt. Im Gegenteil, die monoedukative Unterrichtung wird hier mit der Ermöglichung »maskuliner« oder androgyner Eigenschaften begründet, also eher mit der Begrenzung von Vielfalt. Die Entwertung »weiblicher« Merkmale bleibt unhinterfragt.
2.3 Reinhard Winter: Jungenarbeit als Identitätskrücke Die Forderung nach Jungenarbeit ist nicht neu – sie wurde von Vertreterinnen der Frauenbewegung von Beginn an gestellt (vgl. Kaiser 1997). Die Realisierung scheiterte vor allem daran, dass keine Männer zur Verfügung standen, die Jungenarbeit machen wollten, und Frauen sich nicht als zuständig dafür ansahen. Mit dem Aufkommen von Männerbewegungen entstanden auch Konzepte für Jungenarbeit. Ihr Schwerpunkt lag zunächst vor allem auf einer praktischen Umsetzung in der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit, weniger in der Schule. Ihr Ansatz war entsprechend auch nicht die Geschlechtertrennung in bestimmten Schulfächern, sondern die gezielte Arbeit mit Jungen zum Thema »Junge-Sein/ Mann-Sein«. Rolf Tiemann (1999) unterscheidet vier zentrale Konzeptionen der Jungenarbeit: Die antisexistische Jungenarbeit, die insbesondere in der Heimvolkshochschule Frille entwickelt wurde (vgl. Jantz/Grote 2003); die emanzipatorische Jungenarbeit aus der offenen Jugendarbeit von Michael Schenk (1991); die identitätsorientierte Jungenarbeit von Reinhard Winter (1991) sowie die reflektierte Jungenarbeit von Uwe Sielert (1989). Die Gemeinsamkeiten der Ansätze sieht Tiemann in der sozialisationstheoretischen Fundierung, für die der Vater – bzw. sein Fehlen – den zentralen Ansatzpunkt bildet. Reinhard Winter führt diesen Ansatz explizit aus: Als Aufgabe von Jungenarbeit sieht er die Notwendigkeit, »Jugendliche in ihren individuellen Such- und Orientierungsprozessen zu unterstützen« (Winter 1991: 179), insbesondere weil die moderne Gesellschaft durch ihre Individualisierungsnotwendigkeit neben vielfältigen Optionen eben auch den Zwang zu Entscheidungen mit sich bringe. Weil Jungen aber in über-
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wiegend »frauendominierten Räumen« (ebd.: 181) aufwachsen, fehle ihnen ein Einblick in die realistischen Alltagsbewältigungsmuster von Männern. »Wegen dieser fehlenden Möglichkeit der Geschlechtsidentifikation ist der Junge auf eine Art ›Umweg-Identifikation‹ angewiesen. Das Junge-Sein (und später Mann-Sein) wird über den ›Umweg Frau‹ definiert: Mann = Nicht-Frau« (ebd.: 182). Da Jungen durch den ständigen Umgang mit Frauen sich zugleich »teils aktiv (handelnd) teils passiv (beobachtend) auch weibliche (d.h. eher den Frauen zugeschriebene und von ihnen sichtbar ausgeführte) Eigenschaften und Kompetenzbereiche« aneignen (ebd.: 183), müssen sie diese im Zuge der Identitätsentwicklung »beschränken, bekämpfen, unterdrücken – denn Mann-Sein bedeutet ja, Nicht-Frau zu sein« (ebd.). Eigentlich sei die Konsequenz aus dieser Sicht: »In der Jungenerziehung braucht es mehr Mann und weniger Frau« (ebd.: 185). Winters Begründung für Jungenarbeit basiert nun allerdings auf der »Grundannahme […], dass das, was in der Kindheit ›verbockt‹ wurde, auf einem anderen Persönlichkeitsniveau zumindest teilweise abgepuffert oder neu verhandelt werden kann – wenn Jungen in dieser Lebensphase auf entsprechende pädagogische Frei- und Anregungsräume treffen. Und dieses Argument verweist darauf, dass die Geschlechterdimension in allen pädagogischen Räumen verortet werden muss, auch wenn dort nicht explizit Jungenarbeit (oder Mädchenarbeit) angeboten wird.« (Ebd.: 181)
Jungenarbeit soll folglich als »Identitätskrücke« unterstützend wirken in der Verarbeitung der biographischen Konstellationen und zugleich perspektivisch andere Vaterrollen ermöglichen. Hieraus ergibt sich für Winter die Begründung der geschlechtsgetrennten Angebote: »Die männlichen Identitätskrücken sind zunächst notwendig. Man kann den Jungen/Männern ihre Krücken nicht einfach wegnehmen oder wegschlagen (wenn es auch notwendig ist, Jungen/Männer zu begrenzen und in ihre Schranken zu verweisen, vor allem dort, wo sie ihre Männlichkeit auf dem Rücken von Frauen produzieren). Und das bedeutet für Jungenarbeit zum einen, dass Jungen von Zeit zu Zeit oder auch über längere Phasen eigene Räume mit alternativen Handlungsmöglichkeiten brauchen, um sich nicht immer von Mädchen abgrenzen zu müssen. Und zum anderen muss Jungenarbeit andere Stabilisatoren anbieten oder auf diese hinarbeiten. Sie zu finden und für Jungen aneigenbar zu machen, ist
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einer der wesentlichen Punkte, an dem Jungenarbeit – als Praxis und als Theorie – ansetzen sollte.« (Ebd.: 186)
Explizite Konzepte für die Arbeit mit Jungen in der Schule gibt es nach wie vor nur wenige. Uli Boldt (2005) ist einer der wenigen, der Materialien für diese Arbeit erstellt hat. Er beruft sich explizit auf Reinhard Winter als theoretische Begründung. Dessen Ausführungen bleiben jedoch im Kern ebenfalls der Hypothese einer stabilen Geschlechterdifferenz verpflichtet und an der Dualität der Genus-Gruppen orientiert; Jungenarbeit durch Männer ist nur auf diesem Hintergrund schlüssig – und damit wird letztlich das eigentliche Ziel der Aufweichung starrer Männlichkeitsbilder unterlaufen.6
3 R EFLE XIVE K OEDUK ATION – E NTDR AMATISIERUNG VON D IFFERENZ – TR ANSKLUSION Die bisher vorgestellten Ansätze setzen das Merkmal Geschlecht zentral und bleiben zugleich an das Prinzip geschlechtlicher Dualität gebunden, dadurch kommt es zur »Reifizierung der Geschlechterdifferenz« (Gildemeister/Wetterer 1992). In den verschiedenen Begründungen für eine gezielte Arbeit »nur« mit Mädchen bzw. mit Jungen spielt das Geschlechterverhältnis unter der Perspektive einer dichotomen und zugleich hierarchischen Bestimmung von Weiblichkeit und Männlichkeit eine zentrale Rolle. An dem Paradox, dass das geschlechtliche Ungleichheitsverhältnis (welches ja überwunden oder aufgelöst werden soll) mit seiner Benennung jedoch erneut bestätigt wird, kommen praktische Maßnahmen in koedukativen wie monoedukativen Gestaltungen von Schule nicht vorbei – egal ob sie sich »Mädchen- und Jungenarbeit«, »geschlechtssensible Unterrichtsgestaltung« oder »Gender Mainstreaming im Schulalltag« nennen. Der Begriff der »reflexiven Koedukation« (Faulstich-Wieland 1991) fordert 6 | Die bei Autoren wie Winter und Boldt unterlegte Annahme, dass vor allem Männer als Vorbilder für Jungen fehlen, spielt auch in den neueren Debatten um die Jungenbenachteiligung eine zentrale Rolle. Dabei geht es jedoch weniger um getrennte schulische Angebote für Jungen, sondern mehr um die Erhöhung des Männeranteils bei den Lehrkräften, insbesondere in den Grundschulen. Zur kritischen Auseinandersetzung mit diesen Forderungen vgl. Faulstich-Wieland 2011.
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ein, dieses Paradox bewusst zu halten und in der Planung und Analyse pädagogischer Handlungen zu bearbeiten. Es handelt sich also gerade nicht um ein Organisationsmodell, als das es vielfach missverstanden wurde, mit dem sowohl koedukative als auch geschlechtsgetrennte Angebote legitimiert werden könnten. Es geht vielmehr um die Metaebene: um die Rückbezüglichkeit aller pädagogischen Maßnahmen auf das Geschlechterverhältnis – also um die Frage, welche Auswirkungen diese oder jene pädagogische Maßnahme auf das Geschlechterverhältnis hat. Insofern muss eine theoretische Begründung für die gemeinsame Unterrichtung von Mädchen und Jungen zeigen können, dass Koedukation weder zu einer »Phantom-Gleichheit« noch zur Verhinderung von Vielfalt führt. Entscheidend ist hierbei die Frage, ob die Annahme einer durchgängigen und unhintergehbaren Hierarchie zwischen den Geschlechtern, wie sie von Autorinnen wie Metz-Göckel unterstellt wird, widerlegbar ist. Pierre Bourdieus Analyse der männlichen Herrschaft (2005) macht deutlich, dass diese sich nur so lange realisieren kann, wie sie keiner Rechtfertigung bedarf, es vielmehr »genügt, wenn sie sich in Praktiken und Diskursen niederschlägt, die das Sein im Modus der Evidenz aussprechen und so daran mitwirken, dass es dem Sagen entspricht« (Bourdieu 1997a: 158). Diese Form »symbolischer Gewalt« ist zwar nach wie vor Bestandteil der gesellschaftlichen Bedingungen, die dazu führen, dass Frauen in ihre eigene Unterdrückung verstrickt sind, und auch Männer von ihrer Herrschaft beherrscht werden; dennoch ist männliche Herrschaft nicht mehr unhinterfragt legitim, sie ist vielmehr erheblichem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. So kann auch die mediale Aufregung um die vermeintliche Benachteiligung von »den Jungen« im heutigen Bildungssystem als Ausdruck einer Besorgnis gelesen werden, welche in den Ergebnissen empirischer Bildungsforschung eine zunehmende Gefährdung der von vielen immer noch für »natürlich« gehaltenen Vormachtstellung von Männern und Jungen erkennt. Bourdieu selbst bietet als Perspektive der Veränderung an, auf eine »symbolische Revolution« zu dringen, d.h. nicht nur eine Veränderung der Ordnung der Dinge, der materiellen Strukturen zu erwirken, sondern auch einen mentalen Umbruch, »eine Transformation der Kategorien der Wahrnehmung, die uns dazu bringen, dass wir bei der Perpetuierung der bestehenden Gesellschaftsordnung mitspielen« (Bourdieu 1997b: 98). Das bedeutet z.B., die üblichen Genderungen von (Schul-)Fächern – »Naturwissenschaft = hart, männlich« vs. »Deutsch = weich, weiblich« –, die
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durchaus mit verursachend für das geringe Vorhandensein von Frauen in naturwissenschaftlich-technischen Berufen sind, durch reflexive Prozesse bezüglich Geschlecht und Fachkultur allmählich außer Kraft zu setzen (vgl. Willems 2007). Mit dem Konzept einer Balance von »Dramatisierung und Entdramatisierung von Geschlecht« (Faulstich-Wieland/Weber/Willems 2004) scheint uns eine Perspektive für eine Gestaltung von Schule gegeben zu sein, die ein sukzessives Degendering vergeschlechtlichter Bereiche und die Wahrnehmung und Beförderung von »undoing gender« ermöglicht: Dramatisierend vorzugehen, d.h. Geschlecht (oder auch andere Merkmale) ins Zentrum der Betrachtung zu rücken, ist notwendig, um sensibel für den eigenen Beitrag und den der Interaktionspartnerinnen und -partner – also auch der Schülerinnen und Schüler – an der sozialen Konstruktion von Geschlecht (Behinderung, Ethnizität, Klasse …) zu werden. Dies lässt sich als ein Baustein von Genderkompetenz begreifen, die Margitta Kunert-Zier in die Bereiche »Wollen, Wissen und Können« (Kunert-Zier 2005: 284) aufschlüsselt: Die Bereitschaft, Reflexion und Entstereotypisierung zu fördern (genderbezogene Selbstkompetenz), das Wissen um die Konstruktionsmechanismen und die Fähigkeit, sie zu beobachten und zu erkennen (genderbezogene Praxiskompetenz). Entdramatisierend sollten dann jedoch die konkreten pädagogischen Handlungen sein, d.h. es geht gerade nicht darum, Trennungen nach Geschlecht (oder anderen Merkmalen) vorzunehmen oder die Mädchen und Jungen als Repräsentant/-innen von Geschlecht zur Beteiligung aufzufordern. Vielmehr geht es darum, pädagogische Formen der Individualisierung und Teilhabe zu nutzen, die es den einzelnen Kindern und Jugendlichen ermöglichen, ihre jeweiligen Interessen und Fähigkeiten als Ressourcen einzubringen und sich zugleich auf den Erwerb von neuem Wissen einzulassen. Dies ermöglicht Zugehörigkeit und Anerkennung (wozu auch die Entgegennahme von Kritik gehört) auf der Basis von Kooperationen, Inhalten und Lernformen – und nicht von Geschlecht. Nach unseren Forschungen (Budde/ Scholand/Faulstich-Wieland 2008) verhalten sich die Schülerinnen und Schüler durchaus häufiger entstereotypisierend als die Lehrkräfte: Sie leben den Pädagog/-innen einen gelassen(er)en Umgang vor, wie ihn auch Ulrike Popp in Hinblick auf verschiedene Formen der Entwicklung von Geschlechtsidentität vorschlägt (vgl. Popp 2011). Entdramatisierung heißt nicht Neutralisierung von Geschlecht (oder anderer Kategorisierungen) – als Annahme, diese Zuschreibungen wür-
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den »keine Rolle spielen«. Durch die »Dramatisierung des Blicks« als »Ordnungsprinzip« – wie Annedore Prengel (1999) dies für den Umgang mit Heterogenität fordert – gilt es, sich zu schützen vor den Mechanismen symbolischer Gewalt. Durch die Entdramatisierung kann versucht werden, in einer Schule für alle den Einzelnen – unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Kategorie – gerecht zu werden. Dazu bedarf es zweifellos weit mehr pädagogischer Veränderungen als bisher realisiert wurden (in Form von Jahrgangsmischung, Leistungsmischung usw.), aber nicht der Organisation von Geschlechtertrennung. In einer inklusiven Schule heißt Koedukation seinem Wortsinn gemäß einfach nur noch: »alle Kinder zusammen erziehen«. Die pädagogische Idee der Inklusion knüpft an das aus der Aufklärung stammende Konzept der allgemeingültigen Menschenrechte an und transportiert das Anliegen moralisch-rechtlicher Anerkennung. Inklusion lässt die bisher Ausgeschlossenen jedoch in gewisser Weise passiv erscheinen, wenn einseitig die Institution der Allgemeinbildenden Schule zur »Öffnung« und Anpassung an individuelle Bedürfnislagen verpflichtet wird. Wir möchten daher, aufbauend auf der Annahme der sozialen Konstruktion von Differenz und den sozialphilosophischen Überlegungen von Axel Honneth (1992), abschließend für einen »transklusiven Bildungsbegriff« plädieren: Transklusion würde demnach »beiderseitige Kontextneutralität« erfordern, das heißt: Unterricht hätte implizite Bezugnahmen transparent zu machen, sprich: all seine unausgesprochenen kulturellen, materiellen Voraussetzungen und Selbstverständlichkeiten, Abläufe, Routinen und Erwartungen an die Unterrichtsteilnehmenden zu explizieren und zu reflektieren: Der Rahmen der unterrichtlichen Interaktion wäre zunächst voraussetzungslos und dann klar bestimmt. Die Unterrichtsteilnehmenden als einander rechtlich Gleichgestellte sind ihrerseits dazu aufgefordert, ihre Bezugnahmen so zu präsentieren, dass sie unterrichtssinnig werden. Sie erhalten hierzu Hilfestellung nicht nur von der Lehrkraft, sondern auch von der Klassengemeinschaft. So kann in den täglichen Interaktionen der Schulbeteiligten soziale und solidarische Anerkennung auf Gegenseitigkeit eingebracht werden. Die ethnographische Beobachtung von inklusiven Schulklassen könnte ähnlich wie in der schulischen Genderforschung überraschende Aufschlüsse darüber erbringen, dass Kinder und Jugendliche durchaus in der Lage sind, ungezwungen miteinander umzugehen, sich gegenseitig Feedback zu geben, durch Konflikte hindurchzugehen und auszuhandeln, was ihren Bedürfnissen sowohl nach Individualität als auch Vergemeinschaftung entspricht.
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Kooperative Bildung im Schulalltag Zur Notwendigkeit von heterogenen Unterrichtsformen mit Schülerinnen und Schülern mit einer schwersten Behinderung Wolfgang Praschak
1 E INLEITUNG Kinder und Jugendliche mit umfänglichen Beeinträchtigungen der körperlichen und geistigen Entwicklung und möglicherweise auch Beeinträchtigungen der Sinnestätigkeit werden in den Sonderschulen in der Regel in Sonderklassen oder speziellen Schulabteilungen gefördert, in der Annahme, damit dem umfänglichen sonderpädagogischen Förderbedarf dieser Schülergruppe am besten entsprechen zu können. Damit gehen jedoch erhebliche Probleme einher, denn der Versuch, diese Kinder und Jugendlichen leistungsbezogen homogenisieren zu wollen, hat zu einer Unterrichtskonzeption geführt, die eine gemeinsame Erziehung und Bildung mit den anderen Schülern/Schülerinnen weitgehend verhindert und dem schulischen Zusammenleben deutliche Grenzen setzt. Die Sonderklassen und Sonderabteilungen werden zudem mit geringer qualifiziertem Personal versorgt, was zur Folge hat, dass aufgrund der eingeschränkten Lehrerversorgung die üblichen schulpädagogischen und didaktischen Standards nicht eingehalten werden können. Die negativen Folgen dieser Schulkonzeption werden mittlerweile auch von der Kultusministerkonferenz (KMK) gesehen, insofern in einer Pressemitteilung zu lesen ist, dass
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»die Sicherung des Leistungsniveaus in Lerngruppen […] mit unzureichend gelösten Problemen in der Verteilungsgerechtigkeit einher(geht). Zugespitzt ließe sich formulieren, dass das Bemühen um eine leistungsorientierte Homogenisierung von Schule umso bessere Fördereffekte hat, je weniger sie gelingt.« (Vgl. E&W 3/2003: 2)
Diese mittlerweile auch empirisch gut belegte Tatsache (vgl. Warzecha 2003, Bos 2004, Becker 2004, Bräu/Schwerdt 2005) zeigt mithin, dass die positiven Effekte auf das durchschnittliche Leistungsniveau in einer Lerngruppe dann am größten sind, wenn sie nicht nach homogenen Gesichtspunkten zusammengesetzt wird. Alle Schulkonzeptionen, in denen die Schülerschaft primär nach Leistung und nach Alter klassifiziert wird, sind auf diesem Hintergrund zu problematisieren. Folglich ist auch die Zusammensetzung der Lerngruppen innerhalb der Sonderschulen neu zu überdenken, denn den Kindern und Jugendlichen mit einem umfänglichen sonderpädagogischen Förderbedarf wird dort derzeit kaum die Chance eingeräumt, ihre Leistungsfähigkeit in einem gemeinsamen Unterricht mit den anderen Schülern/ Schülerinnen unter Beweis stellen zu können. Dieser Umstand deutet darauf hin, dass die bestehenden Sonderklassen und Sonderabteilungen über kurz oder lang aufgelöst werden müssen, da sie dem Prinzip der Gleichbehandlung und Chancengerechtigkeit widersprechen. Diese Auflösung ist zugleich eine unabdingbare Voraussetzung dafür, Unterrichtsformen entwickeln zu können, in denen die schulpädagogischen Maßstäbe und die didaktischen Gütekriterien für alle Kinder und Jugendlichen in gleichem Maße gültig sind. Dabei gilt es grundsätzlich zu bedenken, dass auch die Schüler/-innen mit einem umfänglichen sonderpädagogischen Förderbedarf im Unterricht und allen anderen schulischen Handlungsfeldern die Erfahrung machen müssen: • dass Erfolg und Zuversicht sich positiv auf die Lernmotivation auswirken; • dass es bedeutsam ist, sich mit anderen Menschen verständigen und in diesen Prozessen die eigenen Möglichkeiten der Mitwirkung konstruktiv abstimmen zu können; • dass die Übernahme von Mitverantwortung und die Selbstgestaltung der Bildungsprozesse die Persönlichkeitsentwicklung stützt und auch für die soziale Eingliederung wertvoll ist;
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• dass die Erziehungs- und Bildungsprozesse einer kulturellen Wertorientierung unterliegen, in deren Rahmen es möglich sein muss, sich gegen Übergriffe, Manipulationen und Unterdrückung wehren zu können; • dass die Entwicklung eines Bewusstseins für die Geschichtlichkeit und Vergänglichkeit der menschlichen Existenz für alle Menschen von lebensgeschichtlicher Bedeutung ist. (Vgl. v. Hentig 1996) Das bedeutet, dass auch die therapeutischen und pflegerischen Maßnahmen als kooperative Bildungsprozesse ausgelegt werden müssen, damit sie authentische Lernerfahrungen abbilden, in denen sich die kulturelle Wertorientierung mit der individuellen Teilhabe in einer konstruktiven Weise verbinden kann. Das wiederum setzt eine didaktische Ausrichtung voraus, die die jeweiligen Aneignungsprozesse so aufbereitet, dass auch die Kinder und Jugendlichen mit umfänglichen Beeinträchtigungen ihrer Handlungsfähigkeit so einbezogen werden, dass sich ihre differenten Lebensgeschichten und Lernerfahrungen darin positiv spiegeln können (vgl. AKoP 2002). Ein kurzer Blick auf ihre Handlungsmöglichkeiten mag das belegen: • Einige können sich mit einfachen Begriffen verständigen, andere verfügen über keine verbalen Ausdrucksmöglichkeiten. • Einige lesen Piktogramme, andere können keine Bilder erkennen. • Einige sind relativ mobil, andere können sich nicht fortbewegen. • Einige manipulieren relativ geschickt, andere können ihre Hände nicht einsetzen. • Einige erinnern sich und haben Pläne für die nahe Zukunft, andere können nur auf unmittelbar Erlebtes reagieren. • Einige können ihren Alltag relativ selbstständig besorgen, andere sind bei allen Besorgungen auf umfängliche Hilfe angewiesen. • Einige sind in ihrem Verhalten völlig unproblematisch, andere sind in massiver Weise verstört. Zugespitzt: Das Bemühen um eine leistungsbezogene Homogenisierung dieser Schülergruppe scheitert schon an der Streubreite ihrer Handlungsmöglichkeiten, was zugleich bedeutet, dass der Versuch, sie leistungsbezogen klassifizieren zu wollen, ihre Bildungschancen unnötig beschränkt.
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2 S CHWERE UND MEHRFACHE B EHINDERUNG – EIN PROBLEMATISCHER B EGRIFF Die Klassifizierung von Menschen als schwer und mehrfach behindert ist in vielfacher Hinsicht problematisch, denn zum einen liegen dieser Klassifizierung sehr unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche zugrunde, insofern medizinische, psychologische, sozialrechtliche und ethische Bezugssysteme konotiert werden, die aber nur unzureichend aufeinander bezogen sind (vgl. Pfeffer 1988: 101ff.). Zum anderen suggeriert dieser Begriff, dass eine Behinderung eine individuelle Eigenschaft sei, die aus der Kumulation von organischen Schädigungen erwächst. Dabei wird jedoch unterschlagen, dass sie immer auch gesellschaftliche und kulturelle Implikationen hat, die letztlich darüber entscheiden, in welcher Weise die Betroffenen ihre Entwicklungsmöglichkeiten wirklich ausschöpfen können. Der Behinderungsbegriff muss sich folglich auf die Gesamtheit der menschlichen Existenz beziehen und nicht nur auf die Lebenserschwernisse und Beeinträchtigungen, die mit ihr verbunden sind. Auch wenn diese vielfältig und umfänglich sind, ist die Behinderung immer ein gesellschaftliches Phänomen, das weniger von den biologischen Schädigungen, denn von den Möglichkeiten abhängig ist, diese in den Lebensvollzug so einbetten zu können, dass die immer vorhandenen Handlungsmöglichkeiten in Kommunikation und Kooperation mit anderen Menschen zu entfalten sind (vgl. Praschak 1993). Aus diesem Grund ist es wichtig, zwischen der Ebene der Organschädigung, der Ebene der persönlichen Aktivitäten und der Ebene der gesellschaftlichen Teilhabe zu unterscheiden. Diese Unterscheidung, die den Vorgaben der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)1 folgt, deutet den Schweregrad einer Behinderung nicht mehr als eine Auswirkung geschädigter Körperstrukturen, sondern vielmehr als das Ergebnis eines mehr oder weniger gelingenden Zusammenspiels von eingeschränkten Aktivitäten und gesellschaftlichen Teilhabeprozessen. Damit soll vermieden werden, dass sich ein statischer 1 | Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) dient als länder- und fachübergreifende einheitliche Sprachregelung zur Beschreibung des Zusammenspiels von funktionaler Gesundheit und einer Behinderung, die auf relevanten Umgebungsfaktoren beruht.
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Behinderungsbegriff normativ verkleidet und sich mit unnötigen gesellschaftlichen und kulturellen Ausgrenzungsprozessen verbünden kann. Das jedenfalls ist nicht im Sinne einer erziehungswissenschaftlichen Aufarbeitung des Problems, denn auch diese muss sich auf einen Behinderungsbegriff beziehen, der nicht mehr nur Defizite und Abweichungen zusammenfasst, sondern die bereits entwickelten Fähigkeiten und Ressourcen nennt, an die die Erziehungs- und Bildungsprozesse dann andocken können. Ein Beispiel dafür ist die Definition von Franz Schönberger (1987), der davon ausgeht dass: »Schwerstbehinderte […] sensumotorische Handlungspläne (haben) wie wir auch, aber – anders als wir – alle Probleme ihres Lebens mit diesen sensumotorischen (d.h. wahrnehmungs- und bewegungsgebundenen) Handlungsplänen lösen müssen: mit effektgerichteten und (bestenfalls) experimentierenden Kreishandlungen, ohne Bilder, ohne Begriffssprache und ohne Denken im engeren Sinne.« (Ebd.: 221)
Diese Definition bedarf jedoch noch einer wichtigen Ergänzung, denn die genannten Kompetenzen können nur in Lebensformen entfaltet werden, in denen soziale Heterogenität und kulturelle Differenz die Handlungsfähigkeit und damit die Persönlichkeitsentwicklung bestimmen. Die »Kooperative Pädagogik« (vgl. Jetter/Praschak/Schönberger 1987) legt deshalb großen Wert darauf, dass alle Erziehungs- und Bildungsprozesse so gestaltet sind, dass sich die individuellen Handlungsmöglichkeiten schon in den alltäglichen Besorgungen so entfalten können, dass auch die vorsprachlichen Möglichkeiten den Prozess der Verständigung und der Zusammenarbeit bestimmen. Diese Aktivitäten bekommen über die Mitverantwortung und die Mithilfe eine soziale Bedeutung, die sich dann als Lebensqualität im Rahmen eines würdevollen Zusammenlebens bestätigen kann (vgl. Praschak 2009).
3 D AS DIDAK TISCHE P RINZIP DER E LEMENTARISIERUNG Die Vermittlung dieser grundlegenden Kompetenz zur Zusammenarbeit und zur gegenseitigen Verständigung beruht auf der Notwendigkeit, schon die elementaren Bildungsprozesse und die damit verknüpften gegenständlich-sozialen Bezüge so aufzubereiten, dass sie an die bereits entwickelten
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Fähigkeiten und Fertigkeiten anschließen und auf diese Weise die persönlichen Bildungsressourcen freisetzen können. Wolfgang Klafki (1957; 1996) unterscheidet in diesem Feld drei Bezugssysteme, die für die Allgemeinbildung des Menschen als gleichermaßen bedeutsam zu erachten: • Die Ebene des Elementaren, die er auf die einfachen und grundlegenden Sachverhalte des Zusammenlebens bezieht, die der Allgemeinbildung zugrunde liegen. • Die Ebene des Fundamentalen, die er in den Grunderfahrungen und den Grundeinsichten in die gesellschaftlichen Zusammenhänge verankert, über die eine differenzierte Wahrnehmung der Welt erst entstehen kann. • Die Ebene des Exemplarischen, die er in den gesellschaftlich relevanten Sachstrukturen sieht, die so zu erfassen sind, dass sie als Schlüsselprobleme zu erkennen und über entsprechende Schlüsselqualifikationen in ihrer allgemeinen Struktur zu erfassen sind. Vor dem Hintergrund dieser Bezugssysteme werden die Grundlagen der Allgemeinbildung auf alle Formen des Erkennens und Handelns bezogen, in denen die Problemlagen und die epochalen Themen einer Gesellschaft niveauspezifisch zum Ausdruck kommen. Kriterium ihrer Aufbereitung sind die sinnstiftenden Erfahrungsinhalte und Zeichensysteme, in denen die gegenständlichen Bedeutungen und die Sinnstrukturen mit den gegenwärtigen Handlungsmöglichkeiten entwicklungslogisch zu verknüpfen sind (vgl. Lamers/Heinen 2006). Das Prinzip der Elementarisierung verlangt folglich ein grundlegendes Verständnis der gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhänge und ihrer möglichen Aneignungsformen. Zudem bedarf es eines detaillierten Planungs- und Gestaltungsrahmens, über den sinnvolle pädagogische Einflussnahmen erst entstehen, in denen die individuellen Handlungsmöglichkeiten in einen Bezug zum Leben in der Gemeinschaft zu setzen sind. Grundlage dafür ist eine sorgfältige Kind-Umfeld-Analyse, eine umfassende Gegenstandsanalyse und eine individualisierte Förderplanung, in der die Ausschnitte der Lebenswelt in ihrer Genese und in ihrem symbolischen Gehalt individuell zu erfassen sind (vgl. Wolfmayr 2005, Zimpel 2009). Das soll aber nicht bedeuten, dass die Förderplanung auf alle homogenisierten Angebote verzichten muss. Das zentrale Problem besteht
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vielmehr darin, dass wir keine Gruppengefüge mehr schaffen sollten, in denen die Schüler/-innen voneinander abgekapselt sind, weil die Sozialkontakte auf erwachsene Bezugspersonen beschränkt werden, mit der Folge, dass die soziale Vereinzelung einen Strudel aus Routine und Gleichlauf hinterlässt, der sich mit der Grenze der sozialen Erträglichkeit verbündet. Wenn wir die Heterogenität der Gruppenstruktur jedoch von Vornherein erhöhen, besteht zugleich die Möglichkeit, dass sich flexiblere Formen der Auseinandersetzungen entwickeln, in denen auch der Anreiz für eine Binnendifferenzierung vergrößert wird.
4 S CHWACHSTELLE 1: D IE P R A XIS DER S ELEK TION Eines der größten Probleme unseres Bildungssystems besteht in einer frühzeitigen und nachhaltigen Selektionspraxis, die in einem bemerkenswerten Widerspruch zu der sozialen Benachteiligung steht, die mit ihr verbunden ist. Deshalb sind wir gut beraten, diese zu hinterfragen und überall dort zu beenden, wo das möglich ist (siehe Richter, in diesem Band). Für die noch bestehenden Sonderklassen und Sonderabteilungen muss das bedeuten, dass Unterrichtsformen zu etablieren sind, in denen niemand mehr von Vornherein ausgegrenzt wird und alle Schüler/-innen zusammen lernen und arbeiten können (vgl. Graumann 2002, Heyer/Sack/ Preuss-Lausitz 2003). Vor dem Hintergrund der UN-Konvention (UN 2006; 2008) ist diese Entwicklung wünschenswert und auch auf der Höhe der Zeit, denn die Tage, als selbst die Kollegen/Kolleginnen an den Sonderschulen noch froh waren, sich um diese Schülergruppe nicht kümmern zu müssen, gehören der Vergangenheit an. Der Graben zwischen den Schulabteilungen könnte demnach überbrückt werden, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die sächlichen, personellen und finanziellen Mittel zur Verfügung stehen.
5 S CHWACHSTELLE 2: D IE Q UALITÄT DES U NTERRICHTS Die Qualität des Unterrichts mit sogenannten schwer und mehrfach behinderten Schülern/Schülerinnen ist in der Bundesrepublik bislang noch nicht zureichend evaluiert. Nur in Baden-Württemberg gibt es eine flä-
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chendeckende Untersuchung2, in der nachgewiesen wird, dass die Standards der Entwicklungsförderung in den Sonderschulen in Bezug auf diese Schülerschaft deutlich differieren. Folgende Kernprobleme wurden dabei herausgestellt: • Das sonderpädagogische Theorieverständnis ist in den speziellen Schulabteilungen defizitorientiert, normativ und affirmativ. • Die Diagnostik ist primär symptomorientiert und noch nicht zureichend mit einer individualisierten Förderplanung verknüpft. • Die Entwicklungsförderung ist weitgehend unverbindlich und in ihren sonderpädagogischen Qualitätsstandards noch nicht zureichend definiert. • Die Ausrichtung der Vermittlungsprozesse ist didaktisch uneinheitlich und nur selten am gemeinschaftlichen Unterrichtsformen orientiert. • Die Praxis der Entwicklungsförderung ist in Bezug auf die Erziehungsund Bildungsziele indifferent, wodurch eine erhebliche Streubreite an Fördermaßnahmen realisiert wird, die im Einzelfall sogar würdelose Übergriffe und Manipulationen legitimiert. • Die unterschiedlichen Arbeitsbereiche (Therapie, Pflege und Unterricht) sind nicht genügend vernetzt. Die Mitarbeiter/-innen handeln deshalb primär auf der Grundlage ihrer professionsbezogenen Leit- und Menschenbilder (vgl. Janz/Klauß/Lamers 2009). Eine derartige Inkonsistenz in den untersuchten Feldern der Entwicklungsförderung lässt vermuten, dass ähnliche Zustände auch in den anderen Bundesländern aufzufinden sind. Deshalb sollte eine umfassende Qualitätsdebatte geführt werden, in der die Schwachstellen der bestehenden Schulkonzeptionen thematisiert und auf ihre Veränderungsmöglichkeiten hin überprüft werden, so dass die Entwicklungsförderung der Kinder und Jugendlichen mit einem umfänglichen sonderpädagogischen Förderbedarf 2 | Die BiSB-Studie (Bildungsrealität von Kindern und Jugendlichen mit schwerer und mehrfacher Behinderung) ist ein Forschungsprojekt der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, das die Strukturen der schulischen Entwicklungsförderung von Schülern/Schülerinnen mit sogenannten schweren und mehrfachen Behinderungen in Baden-Württemberg untersuchte. Die Vollversion dieser empirischen Studie ist im Internet unter http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltext server/volltexte/2006/6790/ abzurufen.
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gleichwertigen Standards unterzogen werden kann. Diese Notwendigkeit müsste auch den Schulbehörden bewusst gemacht werden, da diese für die Gleichbehandlung dieser Schüler/-innen zuständig sind. Wenn wir die Entwicklung einer Schule für »wirklich alle Kinder« wollen, müssen wir auch die Schüler/-innen mit einem umfänglichen sonderpädagogischen Förderbedarf in die Planungen einbeziehen. Die nach wie vor bestehenden Ungleichgewichte bezüglich der räumlichen Ausstattung, der personellen Versorgung und der Lehrerversorgung müssen dem Prinzip der Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit unterzogen werden, andernfalls werden die bereits bestehenden Abschottungen zusätzlich verstärkt, was insbesondere für die Planung der sonderpädagogischen Bildungszentren eine fatale Wirkung hätte, da auch diese verbindliche Qualitätsmaßstäbe brauchen.
6 E CKPUNK TE DER V ER ÄNDERUNG Aus diesem Grund muss sich die Konzeptualisierung einer »Schule für wirklich alle Kinder« vorbehaltlos auf alle bestehenden Problemlagen und Lernvoraussetzungen einlassen, um nicht schon von Vornherein bestimmte Kinder und Jugendliche aus ihrem Zuständigkeitsbereich auszugrenzen. Das heißt, der Möglichkeit, dass eine Restschule entsteht, in die dann jene Schüler/-innen aufgenommen werden, die aufgrund ihres umfänglichen sonderpädagogischen Förderbedarfs als nicht integrierbar gelten, muss grundsätzlich begegnet werden. Dazu müssen aber zunächst die Sonderklassen und Sonderabteilungen an den Sonderschulen aufgelöst werden, so dass die Ausgliederung dieser Schülergruppe schon im bestehenden Bildungssystem ein Ende findet.
6.1 Veränderte schulische Binnenstruktur Zielperspektive dieser Neuregelung wäre die Etablierung einer Förderdiagnostik, die nicht mehr primär auf Selektion und syndromspezifische Klassifikation ausgerichtet ist, sondern dazu verhilft, ein personenbezogenes Fähigkeitsprofil zu entwerfen, auf das dann ein allgemein anerkanntes und gesellschaftlich verbindliches Erziehungs- und Bildungsprogramm aufbauen könnte. Das Grundgerüst dieses Programms wären nicht mehr homogenisierte Leistungsgruppen, sondern bewusst heterogen zusam-
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mengesetzte Gruppengefüge, die für die Schüler/-innen eine innerschulische Heimat darstellen, in der Vielfalt und Differenz das Zusammenleben und das gemeinsame Lernen bestimmen. Diese heterogene Grundstruktur müsste flexible Unterrichtsangebote vorsehen, die so abgesteckt sind, dass sie im Rahmen eines Kurssystems eine Balance zwischen Gleichheit und Verschiedenheit schaffen und sowohl homogenisierte als auch heterogene Formen der Entwicklungsförderung ermöglichen, in denen individuelle Portfolios die Aktivitätsmöglichkeiten nicht mehr nur auf Schulfächer, sondern auch auf lebensbedeutsame und gruppenübergreifende Projekte ausrichten können.
6.2 Unterrichtsimmanente Therapie und Pflege Eine bedeutsame Folge dieser Neustrukturierung wäre auch eine Neuordnung der Therapie und der Pflege, die unterrichtsimmanent zu gestalten und dem Primat einer pädagogischen Ausrichtung aller Versorgungsleistungen zu unterstellen wären, so dass auch in diesen Arbeitsfeldern ein Höchstmaß an individueller Aktivität und kultureller Teilhabe möglich werden könnte. Eine besondere Sensibilität für die Aufbereitung der Zusammenarbeit an lebensweltlich bedeutsamen Handlungen wäre dabei der Rahmen für ein sinnerfülltes Gemeinschaftsleben, in dem die individuelle Bedürfnislage und die vorhandenen Lernvoraussetzungen als Erschließung von gemeinsamen Werthaltungen und Wertkonzepten zu erkennen wären. Im Rahmen einer festen Tagesstruktur, die einen systematischen Wechsel zwischen heterogenen und homogenisierten Bildungsangeboten vorsieht, könnten die bestehenden Alters-, Begabungs- und Entwicklungsunterschiede abgefedert und niveauspezifisch aufgefangen werden, wobei der Anreiz eines derartigen pädagogischen Selbstverständnisses aus der sozialen Vielfalt der sozialen Bezüge und der Differenz der unterschiedlichen Lernausgangslagen erwachsen würde.
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7 D AS K OMPE TENZ ZENTRUM FÜR S CHÜLER /- INNEN MIT EINER SCHWERSTEN B EHINDERUNG Zunächst ist anzumerken, dass die übliche Kategorisierung der Schüler/innen mit einem umfänglichen sonderpädagogischen Förderbedarf auf der Grundlage einer sogenannten primären Behinderung (Sinnesbehinderung, Körperbehinderung, geistige Behinderung) wissenschaftlich nicht mehr zu halten ist, insofern sie einer medizinischen Modellvorstellung von Behinderung folgt, in der die Entwicklungsbedürfnisse und die Entwicklungsmöglichkeiten der Betroffenen schädigungsspezifisch reduziert werden. Die syndromspezifische Kategorienbildung sollte aus diesem Grund durch eine lebensweltlich und zugleich fachdidaktisch ausgerichtete Förderplanung ersetzt werden, die sich auch für die Schüler/-innen zuständig fühlt, deren Persönlichkeitsentwicklung unter extrem erschwerten Bedingungen steht. Diese Expertise müsste von den sonderpädagogischen Bildungszentren erbracht werden, die als Kompetenzzentren agieren, in denen sich das sonderpädagogische Know-how mit einer integrativen Pädagogik verbinden könnte, ohne eine Schülergruppe auszunehmen. Ihr Gestaltungsrahmen wäre eine interdisziplinär ausgerichtete sonderpädagogische Komplexleistung, die übergangsweise auch den Sonderschulen zuteil werden könnte, die den Unterrichtsalltag gemeinschaftlich gestalten wollen und in denen die räumlichen und architektonischen Bedingungen, die Ressourcenzuwendung und die Weiterbildungsmöglichkeiten des Kollegiums auf einen gemeinsamen Unterricht aller Schüler/-innen auszurichten sind.
8 K OMPLE XLEISTUNG »S ONDERPÄDAGOGISCHE F ÖRDERUNG « Auf dem Hintergrund der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) hat sich ein entscheidender Wandel in der Zielrichtung und in der Organisationsstruktur der medizinischen und der sonderpädagogischen Hilfen ergeben. Leitbild dieser Neuorientierung ist eine ressourcenorientierte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und nicht mehr eine defektorientierte Selektion nach vorgefertigten Kriterien. Dieses neue Leitbild hat über das Sozialgesetzbuch IX Einzug in die Gesetzgebung gefunden, in der nun die Ressourcenorientierung in
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der medizinisch-therapeutischen Behandlung und in der sonderpädagogischen Förderung gesetzlich abgesichert ist. Im Bereich der Frühförderung zeigt sich diese Absicherung in der »Komplexleistung Frühförderung«, die auf die Stärkung der Autonomie des Kindes und seiner Familie ausgerichtet ist und festlegt, dass die der medizinischen Rehabilitation zugeordneten Leistungen in einem engen Funktionszusammenhang mit den heilpädagogischen Maßnahmen stehen sollen. Die Komplexleistung besteht dabei aus einem interdisziplinär abgestimmten System ärztlicher, medizinisch-therapeutischer, psychologischer, heilpädagogischer und sozialpädagogischer Leistungen. Sie schließt ambulante und mobile Beratungen ein, wobei alle Leistungen auf der Grundlage eines individuellen Förderkonzepts interdisziplinär entwickelt und entsprechend den individuellen Erfordernissen fortgeschrieben werden. Die Frühförderung endet in der Regel mit dem Schuleintritt. Es spricht aber nichts dagegen, diese Form interdisziplinär abgestimmter Hilfen auf die Institution Schule auszudehnen, so dass auch dort die notwendigen Unterstützungsmaßnahmen und Leistungen in der Einheit von interdisziplinärer Diagnostik und der Erstellung eines individuellen Förder- und Behandlungsplanes gründen könnten, der für einen verabredeten Zeitraum die Ziele und Wege der Entwicklungsförderung festlegt und die Möglichkeit eröffnet, sie auf dem Hintergrund formulierter Qualitätsmaßstäbe auch evaluieren zu können. Zielsetzung dieser nun als Komplexleistung »Sonderpädagogische Förderung« fungierender Hilfen wäre eine Förderplanung, die grundsätzlich das Ziel einer Optimierung der gesellschaftlichen und kulturellen Partizipationsmöglichkeiten verfolgen könnte. Das kann auch zeitgebunden und derzeit auch innerhalb einer Sonderschule geschehen, wobei jedoch die langfristige Perspektive eine Absicherung innerhalb des Regelsystems wäre. Dieser Zuschnitt würde flexiblere Unterstützungsmaßnahmen ermöglichen, die die Chance zu einer systematisch abgesicherten Entwicklungsförderung auch für die Schüler/-innen mit einem umfänglichen sonderpädagogischen Förderbedarf bieten würde. Den sonderpädagogischen Bildungszentren käme damit die Aufgabe zu, ein individuell spezifiziertes Unterstützungsprofil zu entwickeln, dieses möglichst im Regelsystem zu verorten und die notwendigen Hilfen mit den Kostenträgern abzustimmen, um sie dann möglichst gemeindenah zu vernetzen. Dabei muss den Kostenträgern deutlich gemacht werden, dass eine Komplexleistung nur dann zu erbringen ist, wenn die finanziellen,
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sachlichen und personellen Mittel auf den Förderplan des einzelnen Kindes zugeschnitten sind, sich flexibel im Bildungssystem verorten lassen und sich nicht mehr nur als räumliche und zeitliche Koordinierung einer sonderschulischen Platzierung verstehen.
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Religionsunterricht für alle in einer Schule für alle Inklusion statt Separation Wolfram Weisse
1 E INLEITUNG Seit dem 11. September 2001 sind die Gefahren weltweit ins Bewusstsein getreten, die mit religiöser Instrumentalisierung verbunden sein können. Die Herausforderungen, die sich stellen, sind umfassend: Es gilt, Religionen und Religiosität sowohl in ihrer zunehmenden Bedeutung als auch in ihren ambivalenten Expressionen und Funktionen wahrzunehmen. Hierbei spielt das Feld der Bildung eine wichtige Rolle. Der Grad, in dem Religion als Faktor für Vorurteile und Konflikte dient, ist dabei genauso zu untersuchen wie das Potenzial von Religionen für Dialog und ein friedliches Zusammenleben von Menschen. Der Tübinger Politikwissenschaftler Andreas Hasenclever hat dabei auf den großen Stellenwert interreligiöser und interkultureller Bildung verwiesen. Er vertritt die These, dass es eine Korrelation zwischen religiöser Bildung und politischem Verhalten gibt: Je geringer der Grad religiöser Bildung sei, desto größer sei die Gefahr, dass sich religiöse Unterschiede für politische Mobilisierung ausbeuten lassen (vgl. Hasenclever 2003). Ohne an dieser Stelle darauf einzugehen, inwieweit diese These von Hasenclever zu belegen und zu begründen ist, wird deutlich, dass religiöse Bildung in Europa wichtiger denn je ist. Über Analysen in einzelnen europäischen Ländern hinaus ist es wichtig, den Gesamtrahmen Europas für weitergehende Überlegungen einzubeziehen.
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Auf den hohen Stellenwert von Religion für das Zusammenleben von Menschen weisen auch andere, international renommierte Wissenschaftler hin. So sieht Jürgen Habermas ein besonderes Potenzial in religiöser Toleranz, die er als »Schrittmacher für einen richtig verstandenen Multikulturalismus und die gleichberechtigte Koexistenz verschiedener kultureller Lebensformen innerhalb eines demokratisch verfassten Gemeinwesens« (Habermas 2005: 263f.) bezeichnet. Mit diesem Zitat von Habermas ist die Brücke geschlagen zu dem Bereich religiöser Verständigungspotenziale. Die Frage, inwieweit Religionen eine Ressource für wechselseitige Verständigung bilden können – wo aber auch religiös bedingte Konfliktpotenziale liegen –, erlangt gegenwärtig eine immer stärkere Bedeutung. Transformationsprozesse in allen europäischen Gesellschaften verlangen neue Antworten, damit die religiöskulturelle Vielfalt eine Ressource für menschliches Zusammenleben und nicht einen Faktor für Missverständnisse, Spaltung und Feindschaft bildet. Hierfür reicht es nicht aus, ein Nebeneinander von Menschen unterschiedlicher sprachlicher, kultureller und religiöser Zugehörigkeiten zu dulden; vielmehr ist es mehr denn je notwendig, auf die Anerkennung des anderen zuzugehen, wie es jüngst Paul Ricoeur herausgestellt hat. Ihm ist beides wichtig: den anderen in seiner Andersheit anzuerkennen und sich selbst als verantwortliches und handelndes Subjekt zu erkennen, um in wechselseitiger Anerkennung zu einer Gewissheit der eigenen Identität zu gelangen (vgl. Ricoeur 2006). Er plädiert damit für eine Identitätsfindung, die nicht auf die Wahrung der eigenen Identität durch Abschluss von anderen, sondern nur im Bezug zu ihnen zu finden ist. Dieser Ansatz birgt weit reichende Konsequenzen für den persönlichen und gesellschaftlichen Bereich. In diesem Rahmen gewinnt auch die Beachtung religiöser Vielfalt an Bedeutung. Wenn die Anerkennung und das Erkennen des anderen ein notwendiger Pol für die Erkenntnis des Subjekts und das Anerkannt-Sein im sozialen Leben ist, dann bildet die Pluralität religiöser Positionen eine Chance, um wechselseitige Anerkennung einzuüben. Diese theoretischen Anstöße bilden den Hintergrund für die folgenden Überlegungen zum Religionsunterricht, wobei eine direkte Übertragung von der einen zur anderen Ebene nicht postuliert wird. Eine Kernfrage, die sich aus den genannten Ansätzen ergibt, könnte lauten: Wie kann Religion im Bildungswesen so berücksichtigt werden, dass die Potentiale von Dialog und Verständigung zum Zuge kommen können
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und nicht die Faktoren von Trennung, Exklusion und Absolutheitsansprüchen, die sich gegen andere richten? Dies ist eine Kernfrage für alle Formen des Religionsunterrichts in unserer Gesellschaft. Religionsunterricht ist seit rund zehn Jahren wieder zu einem öffentlich beachteten Thema geworden. Offensichtlich wirkt sich hier ein neues Bewusstsein im öffentlichen Bereich aus, so dass Religion über den privaten Bereich auch für gesellschaftliche Verständigungsprozesse oder Konfliktkonstellationen eine zunehmende Bedeutung einnimmt. Auch von Expertinnen und Experten werden Dialog und Verständigung fast durchgehend als Kernziele von Religionsunterricht angesehen. Aber wie sind derartig anspruchsvolle Ziele zu erreichen? Diese generelle Frage betrifft zum einen die Möglichkeiten und Grenzen schulischen Unterrichts insgesamt, sie öffnet aber auch den Blick auf die unterschiedlichen Konstruktionen von Religionsunterricht. Zugespitzt handelt es sich darum, ob und wie Dialog und Verständigung in einem nach Konfessionen und Religionen getrennten Religionsunterricht, wie er in den meisten deutschen Bundesländern favorisiert wird, durchführbar ist. Könnte es sein, dass die guten Intentionen, andere Religionen zu verstehen, in eine Spannung geraten zur Konstruktion dieses Unterrichts? Könnte es für Schüler/-innen nicht als merkwürdig angesehen werden, wenn sie erst nach Konfession und Religion getrennt werden und dann zusätzlich zur eigenen Religion über die jeweils anderen Religionen unterrichtet werden? Fraglich ist, ob ein nach Konfessionen und Religionen getrennter Religionsunterricht an öffentlichen Schulen wirklich der Integration dient. Zunächst führt eine solche Konstruktion zur Separation von Schülern und Schülerinnen, die sich in einen evangelischen, katholischen, islamischen etc. Religionsunterricht aufspalten. Integration in der Gesellschaft durch Separation in der Schule – wie soll das gehen? In vielen Städten und Ländern Europas wird ein anderer Weg beschritten, so auch in Hamburg: Der Religionsunterricht wird ungeachtet der religiös-weltanschaulichen Unterschiede für alle gemeinsam erteilt. Ein solcher Religionsunterricht für alle, so die These dieses Beitrages, kann einen wichtigen Beitrag für das Ziel von Inklusion in einer Schule für alle und zur Integration in unserer Gesellschaft leisten.1 1 | In diesem Beitrag wird die Forderung von Inklusion in der Schule und das Ziel von Integration in der Gesellschaft als sich ergänzende Perspektiven gesehen.
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Ich konzentriere mich im Folgenden darauf, den »Religionsunterricht für alle«, wie er in Hamburg anzutreffen ist, darzustellen. Er soll in den Kontext eines größeren Forschungszusammenhangs gestellt werden, der für mich seit Jahren in meiner Arbeit zentral ist: Das europäische Projekt REDCo (Religion in Education. Contribution to Dialogue or Factor of Conflict in transforming societies of European Countries), innerhalb dessen wir auch unsere Forschungen in Hamburg haben intensivieren können. Ich fange im Folgenden mit einem kurzen Einblick zum REDCo-Projekt an und fokussiere dabei einen kleinen Ausschnitt der Forschung, nämlich die Frage, wie Schüler/-innen überhaupt zur Frage von religiöser und kultureller Heterogenität stehen. Anschließend wende ich mich schwerpunktmäßig dem Religionsunterricht für alle in Hamburg zu. Am Schluss werde ich ein Schlaglicht auf neuere Perspektiven für interreligiöses Lernen in Europa werfen.
2 D AS REDC O -P ROJEK T : E INBLICK IN DIE EMPIRISCHE A NALYSE ZUR F R AGE DER A K ZEP TANZ VON H E TEROGENITÄT DURCH J UGENDLICHE IN E UROPA Die folgenden Angaben beziehen sich auf aktuelle Forschungsergebnisse, die im Rahmen des europäischen Forschungsprojektes REDCo gewonnen worden sind. »REDCo« steht für »Religion in Education. Contribution to Dialogue or Factor of Conflict in transforming societies of European Countries« (Josza/Knauth/Weisse 2009). Die beteiligten Länder waren: Estland, Russland, Norwegen, Deutschland, die Niederlande, Frankreich, England und Spanien. Ich beziehe mich im Folgenden auf einen Ausschnitt unserer mit qualitativen Methoden durchgeführten empirischen Forschung, zu der an dieser Stelle nur wenige Angaben gemacht werden können. Das Sample unserer qualitativen Studie, die hier im Vordergrund steht, war so angelegt, dass unterschiedliche sozial-ökonomische und kulturell-religiöse Faktoren mit maximaler Variation einbezogen wurden und eine GenderBalance angestrebt wurde. In allen Ländern lag das Sample bei mindestens 70 ausgefüllten Fragebögen, in fast allen Ländern lag die erreichte Fallzahl deutlich darüber, z.B. in Hamburg bei rund 150. Insgesamt sind über 1000 Fragebögen ausgefüllt worden. Entgegen unseren Erwartungen, dass sich die Schülerinnen und Schüler bei den Antworten kurz fassen würden, ha-
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ben wir bei den meisten ausführliche, bei etlichen sehr ausführliche Antworten bekommen, die eine reiche Ressource für unsere Analysen bieten. Wie sahen einige wichtige, in diesem Rahmen erzielte Ergebnisse zur Frage der Akzeptanz oder Ablehnung von religiöser und kultureller Heterogenität aus? Diese Frage erscheint als wichtig, um abschätzen zu können, ob Schüler/-innen selber bereit sind, sich innerhalb einer übergeordneten Zielvorstellung von Inklusion zu positionieren oder nicht. Abgesehen von den erwartbaren Unterschieden, die in den Aussagen von Schülern/Schülerinnen in den acht beteiligten europäischen Ländern zum Ausdruck kommen (und das ist nicht verwunderlich, wenn man sich die Spannbreite von Estland sowie Russland auf der einen Seite und Frankreich sowie Spanien auf der anderen Seite vergegenwärtigt), haben sich auch starke Gemeinsamkeiten in allen diesen Ländern herausgeschält. Ich konzentriere mich zunächst auf die Frage, wie die Schüler/-innen zur Frage des religiösen Pluralismus stehen. Wie werden Bedenken gegenüber anderen Religionen geäußert, inwiefern wird positiv auf religiösen Pluralismus zugegangen und wie sieht das Gesamtbild aus? Danach werden zusätzlich Perspektiven zum Religionsunterricht angesichts religiöser Heterogenität skizziert und an einem Fallbeispiel exemplifiziert. Insgesamt gilt für alle Länder, in denen wir unsere Untersuchungen durchgeführt haben, dass die Bedenken zu religiöser Pluralität weit weniger ausgeprägt sind, als die positiven Einschätzungen und Konnotationen religiöser Vielfalt. Um die Hauptargumentationen nachvollziehbar zu machen, verbinde ich generelle Bemerkungen mit ausgewählten Zitaten von Schülern/Schülerinnen aus den genannten Ländern. Die Strukturen der Argumentationen sind in diesen Ländern so ähnlich, dass sie wie ein Netzwerk einander ergänzender Aspekte erscheinen. Dass mit einer solchen vergleichenden Darstellung ein Wagnis verbunden ist, ist mir bewusst. Aber ein solches Vorgehen ist als ein tastender Versuch im Feld von international-vergleichender Forschung zu werten, die insgesamt im Bereich der Religionspädagogik nur in wenigen Ansätzen begonnen worden ist. In der folgenden Darstellung sind die Bezüge zu einzelnen Ländern nicht als inhaltliche Abgrenzungen zu verstehen, sondern bieten konkrete Verortungen mit exemplarischem Charakter.
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Bedenken gegenüber religiösem Pluralismus: Im Folgenden finden wir neben prinzipiellen Einwänden gegenüber den Möglichkeiten einer friedlichen Koexistenz von Menschen unterschiedlicher Religion in stärkerem Maße Hinweise auf Konditionen, an die ein friedliches Zusammenleben gebunden ist. Hierbei werden vor allem folgende Faktoren genannt. Trennung durch Religion: Jugendliche in Spanien thematisieren vor allem die Beziehung zwischen katholischen und muslimischen Schülern/ Schülerinnen. Hier wird von einer katholischen Schülerin erklärt, dass ein Zusammenleben mit Muslimen nicht möglich – ja »eine Katastrophe« – sei, weil man unterschiedliche Bräuche und Essensvorschriften habe (Schweinefleisch und Alkohol). Umgekehrt wird die Möglichkeit des Zusammenlebens von einer muslimischen Schülerin in Frage gestellt, weil die eigene Religion sich auf den Koran gründe und die Christen »immer über Jesus reden« (Dietz/Roson Lorente/Ruiz Garcon 2008: 38). Weitere Bedenken beziehen sich auf: Intoleranz durch Religion, Zwang und Fanatismus durch Religion, Vorurteile durch Religion und Überlegenheitsbewusstsein durch Religion. So weit die Voten mit Hauptargumenten, die auf Schwierigkeiten im Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit hinweisen.
Wertschätzung religiöser Pluralität: Fast spiegelbildlich zu den Bedenken treten in unserer Analyse die wertschätzenden Faktoren von Heterogenität heraus. Hier treten besonders hervor: Interesse an anderen Religionen, Bürgerrechte und Toleranz durch Religion, Verständigung im Nahbereich bei unterschiedlicher Religion, Verbundenheit im Glauben trotz unterschiedlicher Religion. Wichtig ist in den Augen der Schüler/-innen die Erfahrung der Akzeptanz trotz unterschiedlicher Religion. So unterstreicht eine muslimische Schülerin in St. Petersburg die Möglichkeit religiöser Toleranz anhand eigener Alltagserfahrungen: »Ich bin eine Muslimin, aber alle Klassenkameraden mit anderem Glaubenshintergrund behandeln mich sehr gut.« (Kozyrev 2008a: 297) Die Frage der persönlichen Einstellung gewinnt z.B. in den Voten norwegischer Schüler/-innen an Gewicht: »Ja, ich glaube, dass Menschen mit unterschiedlichen Religionen zusammen leben können, wenn sie es intensiv genug wünschen und sich hinreichend lieben, und Menschen können lieben, wenn sie wollen.« (Lippe 2008: 162)
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Der Mensch sei wichtiger als seine Religion und Religionen stehen für Frieden und Gleichheit: So geht eine muslimische Schülerin in Hamburg ausdrücklich von dem Gleichheitsgrundsatz für alle Menschen aus, der ein Zusammenleben ermöglichen sollte: »Ich denke, dass Menschen zusammenleben können, weil sie alle als Menschen gleich sind, egal ob sie dieselbe Religion haben oder nicht. Wer denkt, dass sie nicht zusammenleben können, hat eine falsche Auffassung über Religion, weil alle Religionen Frieden wollen.« (Knauth 2008: 230) Schließlich wird von Schülern/ Schülerinnen auf den großen Stellenwert von religiöser Toleranz und auf eine globale Ethik der Verständigung verwiesen. So schreibt ein Mädchen in England über die Möglichkeit des Zusammenlebens von Menschen mit unterschiedlichen Religionen und Kulturen: »Ja, sie können zusammen leben, weil wir letztendlich alle Menschen sind und auf die Erde gekommen sind, um zusammen zu leben.« (Ipgrave/McKenna 2008: 132) Wenn wir das Mosaik dieser unterschiedlichen Meinungen und Akzente zusammensetzen und sie an die umfassenderen Forschungsergebnisse in den acht Ländern von REDCo zurückbinden, dann können wir zu den folgenden Schlussfolgerungen gelangen: Religiöser Pluralismus wird nicht nur akzeptiert, sondern ausdrücklich begrüßt. Schüler/-innen äußern Kritik gegenüber Wahrheitsansprüchen, die Menschen mit anderen Religionen und Weltanschauungen ausschließen: »Die Mehrheit äußerte eine grundlegende Ablehnung gegen alle Versuche, das Prinzip der Gleichheit aller Religionen zu unterminieren.« (Bertram-Troost/Ipgrave/Jozsa/Knauth 2008: 407) Gleichzeitig wird in unserer Analyse deutlich, dass dieselben Jugendlichen z.T. auch Vorurteile gegenüber anderen Menschen, auch gegenüber anderen Religionen, haben. Trotz des Bewusstseins, dass Konflikte ihre Ursachen in Religionen haben können und religiöse Pluralität auch mit Schwierigkeiten verbunden ist, teilen die Jugendlichen in Europa mehrheitlich die Vorstellung, dass ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religion möglich sei. Dies gilt unter der Bedingung, dass Respekt und Dialogfähigkeit eingeübt werden, dass man unterschiedliche Ansichten im religiösen Feld kennenlerne und aufeinander höre (vgl. Bertram-Troost/Ipgrave Jozsa/Knauth 2008: 408). Diese Strukturen des Denkens der von uns befragten Jugendlichen sind bemerkenswert. Sie spiegeln, dass es eine große Aufgeschlossenheit gibt, auf religiös-weltanschaulichen Pluralismus in Europa zuzugehen,
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ohne dabei mögliche Probleme auszuklammern, ja: ohne dabei selbst frei von problematischen Ansichten zu sein.
3 H AMBURGER R ELIGIONSUNTERRICHT FÜR ALLE IM K ONTE X T E UROPAS Religionsunterricht ist entscheidend dafür, dass Schüler/-innen sich in einer offenen Atmosphäre mit Religion und Dialog auseinandersetzen können. Dies haben unsere Untersuchungen auf europäischer Ebene gezeigt. Abgesehen von Unterschieden, die aufgrund der Konditionen in unseren z.T. ganz verschiedenen Ländern erwartbar sind, haben sich die folgenden Gemeinsamkeiten für die Relevanz von Religionsunterricht in der Schule herausgeschält. 1. Für diejenigen Schüler/-innen, die keiner Religionsgemeinschaft zugehören, bildet die Schule das hauptsächliche oder sogar einzige Forum, um etwas über Religion und über die Religiosität von ihren Mitschülern/Mitschülerinnen zu erfahren. 2. Für Schüler/-innen mit Religionszugehörigkeit bildet die Schule den Hauptort, um andere Religionen und einzelne Mitglieder kennenzulernen. 3. Viele Schüler/-innen haben Vorurteile anderen Religionen gegenüber, sind aber zugleich bereit, mit anderen Religionen ins Gespräch zu kommen, weil das von ihnen als interessant angesehen wird. Die Schule gilt als das wichtigste, mitunter das einzige Forum, um in einen solchen Dialog zu kommen. 4. Fast alle Schüler/-innen halten eine interreligiöse Verständigung sowohl auf personaler als auch sozialer Ebene für möglich und notwendig. Schulen bieten eine gute Möglichkeit, dies einzuüben. Ohne in Details zu gehen, ist in unserer Gesamtuntersuchung der große Stellenwert von Schule für interreligiöse Verständigung in den Voten der Jugendlichen sehr deutlich. Der Wunsch von Schülern/Schülerinnen, mehr über andere Religionen zu erfahren, erscheint umso bemerkenswerter, als gleichzeitig auch Vorurteilsstrukturen anderen Religionen gegenüber in der Analyse deutlich heraustreten. Angesichts dieses Befundes liegt es nahe, die Anstrengungen in der Schule zu verstärken, das Kennen-
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lernen anderer Religionen zu ermöglichen, den interreligiösen Dialog auf einer dieser Altersgruppe angemessenen Ebene einzuüben. Damit könnte ein wichtiger Schritt verbunden sein, um Vorurteile, die sich ansonsten womöglich verfestigen würden, abbauen zu helfen. Und damit läge ein wichtiger Baustein auf dem Weg zur Inklusion auf dem Gebiet von Religion und Weltanschauung vor. Ich möchte an dieser Stelle konkreter werden und durch ein Fallbeispiel verdeutlichen, was diese allgemeinen Tendenzen im speziellen Kontext Hamburg heißen können. Ich stelle dies anhand einer unserer gestellten Fragen dar, und zwar der nach einem von Schülern/Schülerinnen gewünschten gemeinsamen oder getrennten Religionsunterricht.
3.1 Religionsunterricht in Hamburg In Hamburg wird – anders als in den meisten Bundesländern – der Religionsunterricht (RU) für alle Schüler/-innen gemeinsam erteilt. Er ist auf den Dialog in der Klasse bzw. in Religionskursen ausgerichtet und trennt nicht nach Konfession, Religion oder Weltanschauung. Somit gilt mit wenigen Ausnahmen an öffentlichen Schulen in Hamburg, dass es einen dialogischen »Religionsunterricht für alle« gibt. Dies wird unterstützt von Vertretern/Vertreterinnen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften in Hamburg, u.a. der islamischen Schura. Die Schura hat das Angebot unseres Ersten Bürgermeisters, Ole von Beust, die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts, abgelehnt und sich für die Beibehaltung des konfessionsübergreifenden RU ausgesprochen, weil die Schura keine Aufsplitterung des RUs will. Ein solcher Religionsunterricht kann nicht auf die Einübung in Religion ausgerichtet sein, und das soll er ausdrücklich auch nicht. Religionspädagogisch wird in Hamburg davon ausgegangen, dass eine Erziehung in eine bestimmte Religion hinein Aufgabe von Elternhaus und Gemeinde ist, dass die öffentliche Schule aber eine andere Aufgabe hat, nämlich: in religiöse Themen so einzuführen, dass damit eine Verbindung zwischen Traditionen verschiedener Religionen und der Lebenswelt von Schülern/Schülerinnen möglich wird. Das Ziel besteht nicht darin, in nur eine Religion einzuführen, sondern in unterschiedliche Religionen, in die gelebten Religionen unserer Gesellschaft, in die »Nachbarreligionen«: die Religionen der Nachbarn und Nachbarinnen im Klassenzimmer, in der Schule, im Stadtteil, in der Gesellschaft insgesamt. Hierzu ist in größerem Maße als bisher eine Be-
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rücksichtigung dieser Religionen in der Lehramtsausbildung erforderlich. Pädagogisch sinnvolle und rechtlich vertretbare Möglichkeiten sind notwendig, um den Religionsunterricht nicht nur von christlichen, sondern auch von Lehrern/Lehrerinnen mit muslimischem, jüdischem, buddhistischem etc. Hintergrund erteilen zu lassen. Insofern wäre ein getrennter islamischer RU für Hamburg ein Rückschritt, besonders auf dem Gebiet der Integration. Hamburg geht deswegen einen anderen Weg: Seit Jahren wird daran gearbeitet, über die evangelische Theologie auch andere Theologien der Weltreligionen an der Universität zu verankern (vgl. Weiße 2009). Hierfür arbeitet das interdisziplinäre »Zentrum Weltreligionen im Dialog« seit Jahren und baut dabei auf die Zusammenarbeit ganz verschiedener Disziplinen der Universität Hamburg. Mit klarer Unterstützung des Dekans der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft, Karl Dieter Schuck, in Kooperation mit der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und der Fakultät für Geisteswissenschaften sowie mit Rückenwind durch das Präsidium der Universität Hamburg und der Wissenschaftssenatorin der Stadt wird im Juni 2010 aus dem genannten Zentrum eine »Akademie der Weltreligionen« an der Universität Hamburg hervorgehen, die durch Ausschreibung einer Professur für den Bereich »Islam und Bildung« Kontur gewinnt. So weit der generelle Ansatz. Wie wird der Religionsunterricht für alle nun von denjenigen, für die der Unterricht gedacht ist, wahrgenommen: den Schülern/Schülerinnen? In einer Befragung, die im Rahmen des europäischen Großforschungsprojektes REDCo in Europa durchgeführt wurde, sind u.a. in Hamburg Schüler/-innen im Alter von 14 bis 16 Jahren nach ihren Wünschen zum Religionsunterricht befragt worden. Solle dieser nach Konfessionen oder Religionen getrennt sein oder für alle gemeinsam angeboten werden? Die Antworten der Hamburger Schüler/-innen gehen bei wenigen Ausnahmen alle in dieselbe Richtung: Der »Religionsunterricht für alle« solle beibehalten werden. Das sagen die meisten Schüler/-innen, egal ob sie einen christlichen, muslimischen oder z.B. einen konfessionslosen Hintergrund haben. Einwände gegen einen gemeinsam erteilten Religionsunterricht, die von Einzelnen erhoben wurden, beziehen sich auf die Lehrerrolle, das mögliche Konfliktpotential im religiös-thematischen Bereich, ein generelles Desinteresse und den – nicht weiter begründeten und in sich ambivalenten – Wunsch, in einer religiös homogenen Gruppe unterrichtet zu werden. Derartige Positionen von Schülern/Schülerinnen bieten wichtige
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Anhaltspunkte für die Weiterentwicklung der didaktischen Konstruktion von Religionsunterricht in Hamburg. Sie verstärken die Notwendigkeit von Überlegungen zur Verbesserung und Pluralisierung der Lehramtsausbildung, sie unterstreichen die Relevanz der Wahrnehmung von Konflikten im Klassenzimmer, die sich auch an religiösen Positionen entzünden können, sie weisen auf eine Unterrichtsentwicklung hin, in der Binnendifferenzierung einen größeren Stellenwert einnehmen könnte. Die an Zahl weit umfangreicheren und in der Begründung differenzierteren Argumente Hamburger Schüler/-innen stehen für einen »Religionsunterricht für alle« in Hamburg. Sicher liegt das auch an der »Macht des Faktischen«, da sie i.d.R. keinen konfessionell getrennten Religionsunterricht kennen. Dennoch ist es erstaunlich, wie klar und aufgefächert Argumente von Schülerseite geäußert werden, die einen gemeinsamen Religionsunterricht favorisieren. Aus der Fülle der Äußerungen greife ich zwei heraus, die sich zum einen auf religionspädagogische, zum anderen auf gesellschaftliche Sachverhalte beziehen. Als Erste soll eine muslimische Schülerin zu Wort kommen: »Ich persönlich finde es besser wenn Schüler aus verschiedenen Religionen zusammen unterrichtet werden. […] Wenn z.B. in meiner Religionsklasse nur Muslime wären, wären wir alle derselben Meinung und würden gar nicht so richtig, also überhaupt nicht diskutieren können oder was Neues lernen. Man lernt dann nur das, was man in der Moschee lernt. Um dies zu lernen gehe ich doch auch zur Moschee! Es würde für mich nicht sehr interessant sein wenn ich in der Schule alles was ich gelernt habe, noch mal wiederholen müsste. Es wäre langweilig.« (Knauth 2009: 91)
An dieser Stellungnahme wird deutlich, wie wichtig für Schüler/-innen ein Face-to-Face-Lernen mit Mitschülern/Mitschülerinnen anderer religiöser Couleur sein kann. Weiterhin werden aus Schülerperspektive die unterschiedlichen religionspädagogischen Aufgabenbereiche von Schule und Gemeinde angesprochen. Dies entspricht unserem religionspädagogischen Grundverständnis in Hamburg, die Schule nicht mit Aufgaben zu überfrachten, die besser in der Familie oder der Gemeinde aufgehoben sind. Im zweiten Zitat äußert sich eine Schülerin ohne Religionszugehörigkeit folgendermaßen:
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»Ich fände es nicht so gut, wenn sie getrennt unterrichtet werden. Dadurch kann man leichter etwas über andere Religionen erfahren. Außerdem denke ich, dass dadurch leichter der Hass auf Leute, die nicht der eigenen oder bestimmten Religion angehören, vermindert werden kann. Außerdem können die Leute, die einer bestimmten Religion angehören bestimmte Dinge in ihrer Religion erklären. Ich finde, wenn man die Schüler, die verschiednen Religionen angehören trennen würde, kommt es so rüber, als wenn sie anders wären (als wenn man Ausländer und nicht Ausländer oder Schwarze und Weiße getrennt unterrichten würde).« (Knauth 2009: 91)
Diese Schülerin weist besonders auf die Gefahr durch Separation hin. Sie geht – so wie wir es in unseren Untersuchungen in Europa insgesamt gesehen haben – davon aus, dass Vorurteile, ja Hass, zwischen Menschen unterschiedlicher Religion bestehen, und hält es für möglich, dass diese Barrieren durch Begegnung reduziert werden. Sie nimmt damit Elemente eines dialogorientierten Lernens auf, dem nicht nur in Hamburg, sondern auch in anderen Gebieten Europas eine zunehmend große Rolle zugewiesen wird. Mit ihren Hinweisen am Schluss richtet sie das Augenmerk in drastischer Form auf die in ihren Augen nicht begründbare Trennung von Schülern/Schülerinnen im Religionsunterricht. Sie nimmt damit indirekt Grundsätze antirassistischer Erziehung auf. Stellen wir unsere Überlegungen in einen größeren Kontext: Im Bereich von Unterricht muss generell deutlich werden, dass das Prinzip der Partizipation und Inklusion leitend für die Strukturierung und das Leben in der Schule ist. Wer sich für staatsbürgerliche Gleichberechtigung, Partizipation und Gerechtigkeit einsetzt, wird sich auch für die Rechte von Muslimen und Menschen anderer religiöser Gruppierungen im Religionsunterricht einsetzen. Wenn nun aber im Religionsunterricht nach Konfessionen und Religionen getrennt wird, dann ist eine wechselseitige Wahrnehmung unterschiedlicher Gruppierungen nur schwer möglich. Eine solche Konstruktion ist eher geeignet, nur die jeweils eigenen Rechte wahrzunehmen und nur den jeweils eigenen Hintergrund zur Kenntnis zu nehmen. Wenn aber in einem Religionsunterricht für alle, wie er in Hamburg und etlichen europäischen Ländern vertreten wird, Schüler/-innen ganz unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen zusammensitzen, dann kann im sensiblen Bereich von Religion deutlich werden, dass eine wechselseitige Wahrnehmung die Voraussetzung für die Herausbildung eigenen Verstehens und die Wahrnehmungen anderer Positionen notwendig ist, ohne
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dass damit Diskriminierung verbunden sein muss. Zugespitzt könnte man sagen: Im Religionsunterricht kann in besonderer Form eingeübt werden, dass kulturelle und religiöse Differenz nicht zu einem Abgrenzungsmechanismus führen muss, sondern dass die wechselseitige Wahrnehmung je unterschiedlicher Hintergründe auch für die Formulierung der eigenen Position möglich ist, damit aber nicht Vorrechte und Ausgrenzung verbunden sind. Damit kann der Religionsunterricht ein Erfahrungsfeld darstellen, das für die weitere Biographie von Schüler/-innen einen Anhaltspunkt dafür bietet, dass ohne Angst, Selbstabgrenzung und Ausgrenzung anderer die je eigenen Überzeugungen vertreten und ausgelebt werden können. Und gleichzeitig kann erfahren werden, dass Respekt vor Auffassungen, Positionen und Lebensweisen anderer Menschen mitsamt ihrer Religion, ihrer Weltanschauung und ihrer Kultur ohne Aggression oder Exklusion möglich ist. Religionsunterricht, so könnte man vielleicht sagen, ist ein Einübungsfeld, vielleicht aber auch ein Testfall für die Möglichkeit eines Zusammenlebens, in dem Differenz nicht als auszugrenzende Fremdheit gesehen wird, sondern als der Normalfall im Zusammenleben von Menschen. In diesem Sinne käme dann einem Religionsunterricht eine erhebliche Bedeutung für die Möglichkeiten von Inklusion im Schulleben und zur Frage zu, ob Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und politischen sowie religiösen Hintergründen friedlich zusammenleben können oder nicht. Das sehen auch viele führende Wissenschaftler/-innen in Europa so, die eine große Wertschätzung des Hamburger Ansatzes zeigen. Um diese Aussage zu untermauern, beziehe ich mich auf Kommentare von Kolleginnen und Kollegen, die in dem genannten REDCo-Projekt mitgearbeitet haben: • Aus der Nachbarperspektive des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen wird unterstrichen, dass angesichts konfessionell getrennten Religionsunterrichts die realen Begegnungsmöglichkeiten zwischen den unterschiedlichen Religionskursen erheblich verstärkt werden müssten, um interreligiöse Begegnungen zu ermöglichen (vgl. Knauth/Jozsa 2008). • Aus russischer Sicht wird darauf insistiert, dass für eine Etablierung von Religionsunterricht an Schulen die zentrale Bezugswissenschaft die Pädagogik und nicht die Theologie darstellen solle, um nicht in den Verdacht von Missionstätigkeit im öffentlichen Bildungswesen zu geraten (vgl. Kozyrev 2008b).
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• Von norwegischer und englischer Seite wird auf den wünschenswerten Beitrag von Religionsunterricht im sozialen Raum (Citizenship-Education) verwiesen. Schüler/-innen sollten in einem konzeptionellen Rahmen von prozessorientierter und offener Identitätsentwicklung im Religionsunterricht einen Raum zugestanden bekommen, in dem sie ihre Standpunkte entwickeln und die anderer mit Respekt kennenlernen könnten (vgl. Skeie 2008, Jackson 2008). • In den Niederlanden wird versucht, ein »versäultes« Schulsystem, in dem es viele nach Religionen und Konfessionen getrennte Schulen gibt, zu überwinden und gemeinsame Lernmöglichkeiten zu finden. Für diese Suche bietet der konfessionell getrennte Religionsunterricht in Deutschland weniger einen Impuls, wohl aber der Religionsunterricht für alle in Hamburg (vgl. Avest/Miedema/Bakker 2008). • Aus der Sicht einer »laicité d’intelligence« heraus wird davon ausgegangen, dass sich bei der Einbeziehung von Religion im öffentlichen Schulwesen die gesellschaftliche Pluralität auch im Klassenzimmer widerspiegeln müsse (vgl. Willaime 2008). • Und am Schluss eine Mahnung aus spanischer Perspektive. Dort dominiert immer noch ein konfessionell-katholischer Religionsunterricht, aber es gibt in einzelnen Regionen auch einen relativ neu eingeführten islamischen Religionsunterricht. Dies sei zwar eine wünschenswerte Anerkennung, sei aber gleichermaßen gefährlich. Unter der Fragestellung »Eine Multikulturalisierung der Segregation?« heißt es hierzu von spanischer Seite: »Die […] hierarchisch segregierte und damit verarmte religiöse Vielfalt verhindert bzw. konterkariert einen alltäglichen, lebensweltlichen Umgang eben mit dieser Vielfalt.« (Dietz 2008, 173) Wir sehen in diesen Beiträgen, die in ihrer Argumentation hier nur angedeutet werden können, deutliche Verbindungen zur Frage der Inklusion in Schule und Gesellschaft.
4 A BSCHLUSS Interreligiöser Dialog wird in allen Ländern Europas immer wichtiger. Im Mai 2008 haben die Regierungen der 47 Mitgliedsstaaten des Europarats in einem »White Paper on Intercultural Dialogue« (Council of Europe 2008) die große Relevanz von interkulturellem und interreligiösem Dia-
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log unterstrichen. Hier heißt es z.B.: »Interreligiöser Dialog kann auch zu einem stärkeren Konsens in einer Gesellschaft über die Lösung sozialer Probleme beitragen.« (Council of Europe 2008: 23, eigene Übersetzung) Interreligiöser Dialog ist wichtig für Schüler/-innen, deren Positionen sich in einem noch unabgeschlossenen Entwicklungsprozess befinden. Für diese ist die Begegnung mit anderen religiösen und kulturellen Standpunkten wichtig, um • andere Standpunkte auch dann zu respektieren, wenn sie nicht den eigenen entsprechen, • Religionen und Kulturen nicht als monolithisch anzusehen, sondern als bestimmt durch die tägliche Praxis von vielen Menschen und als veränderbar, • Barrieren gegen den ideologischen Missbrauch von Religion und gegen die Instrumentalisierung für politische Konflikte aufzurichten. Im Religionsunterricht kann ein Dialog im Klassenzimmer eingeübt werden, der die Möglichkeit bietet, Respekt für andere Überzeugungen zu entwickeln und konkret zu praktizieren. Dies kann zunächst durch eine Zunahme an Wissen über andere Religionen mit ihren vielfältigen Binnenunterschieden erreicht werden und des Weiteren durch die Möglichkeit, im geschützten Raum der Klasse mit Mitschülern/Mitschülerinnen anderer religiöser und weltanschaulicher Meinungen in den Dialog zu treten. Resümee: Wir brauchen im Kontext Europas einen Religionsunterricht, der die Traditionen von Religionen in ihrer Vielfalt und Differenziertheit repräsentiert und auf die Lebenswelten von Menschen in unserer Gesellschaft so bezieht, dass Wissen, Werthaltungen und Ethik miteinander verbunden werden. Wir brauchen einen Dialog im Religionsunterricht, in dem nicht über andere, sondern mit anderen gesprochen wird, in dem Begegnung mit anderen didaktisch gestaltet werden kann und alltäglich stattfindet, in dem Differenz weder wegretuschiert wird noch Anlass für Diskriminierung bildet. Wir brauchen einen Religionsunterricht an unseren öffentlichen Schulen, der die Schüler/-innen nicht nach Religionen spaltet, sondern gemeinsames Lernen ermöglicht. Dies wird der Bildung der Einzelnen im Bereich von Religion ebenso dienen wie der sozialen Bildung im Klassenraum und womöglich in der Gesellschaft. Damit könnten Unterschiede in Religion und Kultur zur Wahrnehmung von Vielfalt ohne
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Angst und Diskriminierung beitragen und so einen Baustein zur Integration in unserer Gesellschaft und zur Inklusion in der Schule darstellen. Insofern könnte die Schlussfolgerung gezogen werden, dass der dialogorientierte Religionsunterricht für alle in Hamburg oder ähnliche Ansätze in Europa einen wichtigen Beitrag für den Religionsunterricht, aber darüber hinaus auch für das Schulleben insgesamt leisten kann. Wer im Religionsunterricht erfährt, dass Differenz auf dem Gebiet von Religion und Weltanschauung nicht Grund für Separation sein muss, sondern im Gegenteil zur Bereicherung der Perspektiven beitragen kann, der könnte damit eine Grunderfahrung machen, die sich auch insgesamt im Schulleben auswirkt: Dann könnte die Vorstellung einer Inklusion auf anderen Gebieten, z.B. dem der sozialen und ökonomischen Unterschiede oder dem der Leistungsunterschiede, vielleicht ebenfalls als überzeugend und praktizierbar erscheinen. Und umgekehrt könnte das Gesamtziel von Inklusion im Schulleben wiederum auf die Gestaltung und die Atmosphäre in einem Religionsunterricht für alle zurückwirken.
L ITER ATUR Avest, Ina Ter/Miedema, Siebren/Bakker, Cok (2008): »Getrennt und zusammen leben in den Niederlanden, oder: Die Bedeutung des interreligiösen Lernens«, in: Weiße, Wolfram (Hg.), Dialogischer Religionsunterricht in Hamburg, Münster: Waxmann Verlag, S. 179-188. Bertram-Troost, Gerdien/Ipgrave, Julia/Jozsa, Dan-Paul/Knauth, Thorsten (2008): »European Comparison. Dialogue and Conflict«, in: Knauth, Thorsten/Jozsa, Dan-Paul/Bertram-Troost, Gerdien/Ipgrave, Julia (Hg.), Encountering Religious Pluralism in School and Society, Münster: Waxmann Verlag, S. 405-411. Council of Europe (2008): White Paper on Intercultural Dialogue »Living Together as Equals in Dignity«, Launched by the Council of European Ministers of Foreign Affairs at their 118th Ministerial Session (Strasbourg, 7 May 2008), Strasbourg, Cedex. Dietz, Gunther (2008): »Konfessionell segregierter Religionsunterricht in einer multikulturellen Gegenwartsgesellschaft? Eine spanische Perspektive«, in: Weiße, Wolfram, Dialogischer Religionsunterricht in Hamburg, Hamburg, Münster: Waxmann Verlag, S. 167-174.
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Auf dem Weg zu einer neuen Sprachbildung für alle Das Modellprogramm F ÖR M IG 1 Ingrid Gogolin
1 V ORBEMERKUNG Es gibt vermutlich keinen erziehungswissenschaftlich informierten Menschen, der der Illusion der Chancengleichheit anhängt. Aber es ist ein Leitmotiv der Arbeit vieler Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler, dazu beizutragen, dass die Lücke ein Stück mehr geschlossen wird, die zwischen dem Versprechen einer meritokratischen Vergabe von Bildungschancen und der Realität besteht. Karl Dieter Schuck gehört zu diesen Wissenschaftlern. Seine Arbeit ist bewegt von der Frage, wie Partizipation an Bildung auch jenen ermöglicht werden kann, die nicht zu den Begünstigten gehören. Der Blick seiner Forschung richtet sich primär auf Heranwachsende, denen ein sonderpädagogischer Förderbedarf zugesprochen wurde, der ihre Partizipationschancen beeinträchtigt. Ganz besonders interessiert ihn das Problem einer angemessenen Diagnostik, die er zu den Voraussetzungen für Bildungsgerechtigkeit zählt (vgl. Schuck 1 | Mein Beitrag stützt sich auf den Abschlussbericht des Modellprogramms, der im Januar 2010 vorgelegt wurde. Am Abschlussbericht mitgewirkt haben die Mitglieder des F ÖR M IG -Teams: Inci Dirim, Thorsten Klinger, Imke Lange, Drorit Lengyel, Ursula Neumann, Ute Michel, Hans Reich, Hans-Joachim Roth und Knut Schwippert. Somit stammt dieser Beitrag eigentlich aus der Feder eines ganzen Autoren- und Autorinnenteams – und es gratuliert das ganze F ÖR M IG -Team KD Schuck zu seiner Ehrung.
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2007; 2008). Auf dieser Ebene der Phänomene, die für Beeinträchtigung sorgen, unterscheiden sich unsere Zugänge. Im Interesse aber, die Mechanismen freizulegen, die für ungleiche Partizipationschancen sorgen, treffen wir uns – und gemeinsam ist uns auch die Hoffnung (Illusion?), es könne möglich sein, durch erziehungswissenschaftliche Arbeit dazu beizutragen, dass sich die Gerechtigkeitslücke wenigstens etwas schließt. Im Fokus meiner Arbeit liegt die Frage, wie es gelingen kann, Bildungschancen für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland zu verbessern. Ihre Anwesenheit in den Bildungseinrichtungen erhöht das Ausmaß der Heterogenität in der Klientel der Einrichtungen. Eine gemeinsame Leitidee in Karl Dieter Schucks und meiner eigenen Arbeit ist es, dass eine verbesserte Fähigkeit der Akteure und Akteurinnen im Bildungssystem, mit Heterogenität umzugehen – ohne dabei das Mittel der Exklusion einzusetzen – zum Schließen der Gerechtigkeitslücke beitragen wird. Eine Chance, an einer Übersetzung dieser Leitidee in Bildungspraxis teilzuhaben, bot sich dem Team der International und Interkulturell Vergleichenden Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg durch die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation des Modellprogramms FörMig – Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Das Programm wurde 2009 abgeschlossen; Erfahrungen und Evaluationsergebnisse liegen vor – just in time, um einen Eindruck davon zum Band zu Karl Dieter Schucks Ehren beizutragen, verbunden mit dem Dank für vielfältige Anregungen und die angenehmste Form der kollegialen Kooperation: die freundschaftliche.
Das Modellprogramm F ÖR M IG – kurze Geschichte Das Modellprogramm FörMig – Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund – kann auf eine fünfjährige Laufzeit zurückblicken (2004-2009), während der es gelungen ist, Konzepte, Begriffe und Metaphern zu entwickeln, die nicht nur in der fachlichen, sondern auch in der bildungspolitischen Öffentlichkeit aufgegriffen wurden. Dazu gehören vor allem: die Metapher der »durchgängigen Sprachbildung«, die Konzeptionen von »Bildungssprache« als Gegenstand und von »bildungssprachlichen Fähigkeiten« als Ziel der Anstrengungen. Diese Begriffsschöpfungen und ihre Ausfüllung waren auf eine vorherige Analyse des Stands von Forschung und Entwicklung gestützt, die im Auftrage der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförde-
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rung durchgeführt wurde (vgl. Gogolin/Neumann/Roth 2003). In dieser Analyse war eine Bestandsaufnahme deutscher und internationaler Forschungsergebnisse zu der Frage enthalten, welche Voraussetzungen für Innovationsmaßnahmen gegeben waren, die zur Verbesserung des Bildungserfolgs von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund beitragen können. Daran hat sich die Skizze eines Innovationsprogramms angeschlossen, das das Ziel besaß, zu besseren Bildungschancen für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund beizutragen. Der Auftrag zu dem Gutachten war eine der vielen Schockreaktionen, die nach den ersten publizierten PISA-Ergebnissen (Deutsches PISA-Konsortium 2001) durch das Land gingen. Die Öffentlichkeit war aufgeschreckt – nicht zuletzt, weil man vordem wohl kaum geglaubt hatte, dass gerade in Deutschland eine so enge Abhängigkeit zwischen Herkunft und Bildungschancen besteht. Als herausragende »Risikogruppe« im deutschen Bildungswesen wurden die Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund identifiziert. Diese Erkenntnisse schmerzten die Nation, zu deren historischen Fundamenten die Vision gehört, dass Bildung ungeachtet von Herkunft, Stand und Klasse möglich sei. An den Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund offenbarte sich auch der breiteren Öffentlichkeit auf die eindringlichste Weise, dass es der deutschen Schule – entgegen ihrem Versprechen – nicht gelingt, Leistungsmöglichkeiten von den Zufällen der Herkunft zu entkoppeln. Die Initiierung von FörMig gehörte also zu den vielen Maßnahmen, die im Anschluss an Studien wie PISA 2000 ergriffen wurden. Im Zentrum der Expertise, die das Modellprogramm vorbereitete, standen Antworten auf die Frage, was genau die ungleichen Bildungserfolgschancen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund verursacht. Immerhin war das Ausmaß der Leistungsdifferenz, die diese Schülerinnen und Schüler in den Testleistungen gegenüber den Nichtgewanderten aufwies, durchaus erwartungswidrig. Es hatte schließlich in Deutschland schon seit den 1960er Jahren zahlreiche Anstrengungen gegeben, ihre Schlechterstellung im Schulsystem zu verringern. So waren allein in den 1970er und 1980er Jahren insgesamt 85 Modellversuche gefördert worden, die der besseren Bildungsbeteiligung der – wie es damals hieß – ausländischen Kinder und Jugendlichen dienten. Aber das Ziel eines Abbaus von Benachteiligung wurde damit offenbar nicht erreicht.
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Bekanntermaßen – und auch das wurde in der Expertise herausgearbeitet – entzieht sich ein Teil der für eine Schlechterstellung beim Bildungserfolg verantwortlichen Faktoren weitgehend der pädagogischen Handlungsmacht. Dazu gehört die soziale Lage der Familie und, damit eng verknüpft, ihr kulturelles Kapital. Zugewanderte Familien leben überdurchschnittlich häufig in prekären sozialen Verhältnissen, und dies wirkt sich bei der hohen sozialen Selektivität des deutschen Schulsystems negativ aus. Aber dennoch gibt es Spielraum dafür, durch angemessenes pädagogisches Handeln den Einfluss der Herkunft auf die Bildungschancen zu verringern. Die Vorüberlegungen zu FörMig waren darauf gemünzt, zu ermitteln, worin dieser Spielraum liegt und wie es gelingen kann, ihn besser auszunutzen. Hinweise darauf wurden der Analyse des internationalen Forschungsstands und dem Vergleich von Praxis im deutschen Schulsystem mit anderen Systemen, die bessere Erfolge bei der Förderung von Zugewanderten erzielten, gewonnen. Sie mündeten in die Empfehlung, ein künftiges Modellprogramm auf die – wie es zunächst hieß – sprachliche Förderung zu konzentrieren. Die Ausschreibung des Programms erfolgte in zwei Wellen – 2004 und 2005. Zehn Bundesländer beteiligten sich schlussendlich daran: Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, das Saarland, Sachsen und SchleswigHolstein. Die Aufgabe der Programmkoordination übernahm das Land Hamburg. Die Programmträgerschaft wurde dem Institut für International und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg übergeben. In die Laufzeit von FörMig fiel auch die Föderalismusreform des Jahres 2006. Eine Folge dieser Reform war die Auflösung der ursprünglichen Trägereinrichtung des Modellprogramms: der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung. Diese Instanz hatte die Zuständigkeit für gemeinsame Modellprogramme des Bundes und der Länder besessen, war aber mit der Föderalismusreform abgeschafft worden. In ihrer Nachfolge übernahm die Kultusministerkonferenz der Länder die politische Verantwortlichkeit für das Modellprogramm.
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2 F ÖR M IG -Z IELE UND W EGE ZU IHRER R E ALISIERUNG Nicht zuletzt die internationalen Vergleichsstudien wie PISA hatten aufgezeigt, wie eng die Abhängigkeit schulischer Leistungsfähigkeit von der Beherrschung sprachlicher Mittel ist. Der nationale und internationale Forschungsstand zu Bildungschancen von Migranten/-innen ließ ebenfalls die Bedeutung sprachlicher Bildung hervortreten. Der Vorschlag einer Konzentration auf die Sprachbildung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund lag daher nahe. Er besitzt zudem den Vorteil, dass hier in der Tat einer der Handlungsbereiche gegeben ist, in dem ein Bildungssystem Verantwortlichkeit und Spielraum besitzt. Daher lautete das Fazit unserer Expertise, dass die Verbesserung sprachlicher Voraussetzungen für Bildungserfolg gewiss nicht jedes Problem der Bildungsbenachteiligung löse. Aber sie besitzt den Vorteil, dass sie sich auf einen Kernbereich institutionellen Lehrens und Lernens richtet, in dem die Bildungseinrichtungen Handlungsmacht besitzen. Im Laufe der Vorbereitungen und in der Arbeit des Programms selbst kristallisierte sich immer stärker die folgende Erkenntnis heraus: Es ist nicht irgendeine Art der Sprachförderung oder -bildung, die geeignet ist, Bildungserfolgschancen zu verbessern. Vielmehr ist Bildungshandeln nötig, das Erkenntnisse der Forschung über Spracherwerb und Sprachentwicklung im Kontext von Mehrsprachigkeit so weit wie möglich berücksichtigt. Dazu gehört zum einen die Beachtung des Faktums, dass Kinder und Jugendliche aus zugewanderten Familien in der Regel mit zwei oder mehr Sprachen leben. Mehrsprachigkeit ist daher eine unvermeidliche Bedingung für das pädagogische Handeln in sprachlich und kulturell heterogenen Konstellationen. Zum anderen gehört dazu, dass jene sprachlichen Fähigkeiten im Zentrum der Maßnahmen stehen, die bildungsrelevant sind. Vor diesem Hintergrund wurde für und durch FörMig eine Konzeption der Sprachbildung entwickelt, die für Deutschland etwas Neues ist. Spezielle, nämlich die bildungsrelevanten sprachlichen Fähigkeiten wurden identifiziert, gestützt auf Forschungsergebnisse, die zeigen, dass ein potentieller Bildungserfolg nicht allein vom Verfügen über allgemeinsprachliche Fähigkeiten abhängt. Am Anfang einer Bildungskarriere – also im vorschulischen Bereich oder dem Eingangsbereich der Grundschule, oder auch: bei der Ankunft in einem neuen Sprachraum – sind allgemeinsprachliche Fähigkeiten von großer Bedeutung für die Chance, überhaupt
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zu kommunizieren, also auch: zu lernen. Je weiter aber eine Bildungsbiographie fortschreitet, desto mehr unterscheiden sich für Bildung relevante sprachliche Anforderungen vom Repertoire der Allgemeinsprache. Verkürzt, aber griffig ist die Formel, dass bildungsspezifische Sprache mehr mit den Merkmalen der Schriftsprache gemeinsam hat als mit Mündlichkeit – auch dann, wenn es um die gesprochene Sprache im Unterricht geht. Hiermit wurde auf Unterscheidungen zwischen sprachlichen Repertoires oder Registern rekurriert, in deren Zentrum die Differenzierung der jeweiligen Funktion von Äußerungen steht. Dieser Ansatz geht auf sozialwissenschaftliche und linguistische Theoriebildung und Forschung zurück, die an Basil Bernstein (1990) und Pierre Bourdieu (1991) anschließt. Deren Arbeiten hatten grundlegende Zusammenhänge zwischen spezifischen Sprachgebrauchsweisen und den Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe aufgewiesen. Sie hatten gezeigt, wie einflussreich das Verfügen über diese Sprachgebrauchsweisen auf die Chance der Teilhabe an Bildung ist. Grundlegend für die im engeren Sinne linguistische Füllung der Vorstellungen von teilhabe- und bildungsrelevanter Sprache ist die Functional 2 Grammar von M.A.K. Halliday ( 1994). Mit dieser können die je besonderen Strukturmerkmale beschrieben werden, die verschiedene sprachliche Varianten (oder, nach Halliday, Register) in Abhängigkeit von der jeweiligen Situiertheit und Funktion eines Sprachgebrauchs besitzen. Die Forschung über diese Zusammenhänge ist im englischen Sprachraum weit fortgeschritten. Für die deutsche Bildungsforschung kann das nicht behauptet werden. Hier sind Zusammenhänge zwischen Sprachgebrauchsweisen und Bildungschancen intensiv bis in die 1970er Jahre diskutiert worden, und zwar unter der leitenden Frage nach dem Einfluss des Dialektsprechens auf Bildungserfolg (z.B. Ammon 1971). Diese Forschungsrichtung ist aber weitgehend zum Erliegen gekommen und sie hat sich – anders, als dies im Vereinigten Königreich, in den USA, Kanada oder Australien geschah – kaum auf die Frage zubewegt, ob es Bezüge zu Phänomenen geben könne, die bei Zwei- oder Mehrsprachigen beobachtet werden. In der englischsprachigen Forschung werden die Begriffe »Academic Language« und »Academic Discourse« zur Bezeichnung der Register benutzt, die im Bildungszusammenhang relevant sind (vgl. Schleppegrell 2004). Das FörMig-Programmträgerteam hat als deutsche Analogbildung dazu den Begriff der »Bildungssprache« vorgeschlagen. Er erscheint pas-
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send, denn er eröffnet einen angemessenen Bedeutungshorizont für das sprachliche Können, über das ein Mensch verfügen lernen muss, wenn er auf Bildungserfolg Aussichten haben soll. Bildungssprachlichen Redemitteln kommt die Funktion zu, das Wissen kennenzulernen und sich anzueignen, das »mit Hilfe schulischer Bildung« erlangt werden kann (vgl. Habermas 1977). Die Redemittel der Bildungssprache sind auch außerhalb des Bildungskontextes in formellen Kontexten gebräuchlich – im geschriebenen Wort besonders, aber auch in öffentlich gesprochener Sprache. Im Bildungskontext aber, der mit der Schule als Institution verbunden ist, besitzt Bildungssprache die besondere Funktion, dass sie das Medium der Aneignung des Wissens und Könnens ist. Zugleich ist sie das Medium, in dem der Nachweis einer erfolgreichen Wissensaneignung erbracht wird. Charakteristisch für Bildungssprache ist zudem ihre Verzweigung über die Zeit. Sie differenziert sich immer stärker in unterschiedliche Sub-Register aus, je weiter eine Bildungsbiographie voranschreitet. Diese Ausdifferenzierung geht einher mit der Differenzierung des Unterrichts in Fächer oder Fächergruppen. Zur Bildungssprache gehören fachliche Begriffe. Schülerinnen und Schüler müssen z.B. lernen, dass man über das »Teilen« in der Mathematik anders spricht als in Religion oder Ethik; sie müssen die je besonderen Konzepte begreifen, die mit den jeweiligen fachlichen Konnotationen verbunden sind. Die Differenzierung hängt von der Einbettung des Gesagten ab, also von der Funktion von Äußerungen. Aber die lexikalische Dimension von Bildungssprache ist nicht ihr Ganzes. Mindestens ebenso bedeutsam, und in manchen Stadien des Lernprozesses wahrscheinlich wichtiger als eine spezifische Terminologie, sind die Strukturmittel der bildungssprachlichen Register: die besonderen Spielregeln, mit denen Sätze und Texte gebaut werden (vgl. Ortner 2009). Mit der sprachlichen Heterogenität infolge von Migration als Bildungsvoraussetzung in einer wachsenden Zahl von Bildungseinrichtungen ergab sich die Chance, die Bedeutung herauszuarbeiten, die der Schule beim Erwerb bildungssprachlicher Fähigkeiten zukommt – obwohl das Problem selbst keineswegs »migrantenspezifisch« ist. Es betrifft alle jene Lernenden, die nicht das Glück haben, in einem sehr schriftnahen Elternhaus aufzuwachsen, in ähnlicher Weise. Sie alle leben in mehr oder weniger großer Distanz zu bildungssprachlichem Sprachgebrauch und sind daher auf die Schule angewiesen, um sich die entsprechenden Fähigkeiten anzueignen. Es geht in jedem Falle um eine Form der Mehrsprachigkeit, auf
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die Bildungsprozesse reagieren müssen: sei es die, die sich aus sozio- oder dialektaler familiensprachlicher Praxis im Verhältnis zur schulischen Bildungssprache ergibt, oder sei es, dass in der Familie (auch) eine andere Sprache gesprochen wird als die Hauptsprache der Schule. Es ergibt sich mithin die Notwendigkeit, eine auf adäquaten Umgang mit diesen Formen von Mehrsprachigkeit gerichtete Sprachbildung zu entwickeln. Historische Analysen zeigen, dass in der Tradition der hiesigen Schule ein monolinguales Selbstverständnis (oder ein monolingualer Habitus, Gogolin 1994) herausgebildet wurde. Aus diesem heraus wird Bildungssprache nicht explizit schulisch vermittelt. Vielmehr beruht das alltägliche Unterrichten auf der Annahme, dass alle nötigen sprachlichen Grundlagen »normalerweise« entweder vor bzw. außerhalb der Schule erworben werden. Was für die Schule zu tun bleibe, sei Aufgabe des »Sprachunterrichts«. Es herrscht der Glaube, dass das Sprachkönnen, was noch fehlt, durch die Unterrichtsprozesse hindurch implizit hinzugewonnen wird – quasi als unvermeidliche Begleiterscheinung der Arbeit an der Sache. Diese Annahmen sind in vielen europäischen, so auch im deutschen Bildungssystem tief verwurzelt. Eine forschungsleitende Hypothese des FörMig-Teams ist es, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach zu den Mechanismen gehören, die die soziale Selektivität des Bildungssystems mit hervorbringen und aufrechterhalten. FörMig hat mit dem monolingualen Selbstverständnis der Schule in diesem Sinne gebrochen. Leitidee von FörMig war es, dass die Vermittlung von Bildungssprache als explizite Aufgabe der Bildungseinrichtungen verstanden wird. Sprache als Medium des Lehrens und Lernens sollte bewusst wahrgenommen, bewusst verwendet und bewusst vermittelt werden. Diese Aufmerksamkeit auf Sprache ist eine Anforderung, die grundsätzlich in allen Lernbereichen, im Unterricht aller Fächer zu realisieren ist. Kernanliegen des FörMig-Programms war dementsprechend der kumulative Aufbau bildungssprachlicher Fähigkeiten. Dieser Anspruch verbirgt sich hinter dem zweiten von FörMig geschöpften Begriff: »durchgängige Sprachbildung«. Dieser basiert auf dem Grundgedanken, dass Sprache wirkungsvoller angeeignet wird, wenn es eine Verknüpfung des fachlichen und des sprachlichen Lernens in der Schule gibt. Durchgängige Sprachbildung ist daher eine Aufgabe des gesamten Unterrichts. In der Bildungslaufbahn muss dafür gesorgt werden, dass die sprachlichen Fähig-
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keiten der Schülerinnen und Schüler mit den inhaltlichen Anforderungen des Unterrichts Schritt halten. Diese Vorstellung ist für die deutsche Schule neu. Traditionen, wie sie etwa aus England oder Australien unter dem Stichwort »Language across the curriculum« bekannt sind, haben hier bislang nicht Fuß gefasst. Sprachförderung gilt als spezifische Aufgabe des Sprachunterrichts, nicht aber als grundsätzliche Aufgabe eines jeden Unterrichts. Anstelle dieser Vorstellung haben die am Modellprogramm FörMig beteiligten Projekte Gesamtkonzepte sprachlicher Bildung entwickelt, die einerseits die je spezifischen Beiträge der verschiedenen Lernfelder im Elementarbereich bzw. Lernbereiche oder Fächer in der Schule zur durchgängigen Sprachbildung explizit ausweisen. Andererseits war es Gegenstand dieser Konzepte, bei der Sprachbildung mit anderen Instanzen zu kooperieren und auch, diese Kooperationen systematisch aufzubauen. Die Zusammenarbeit der Bildungseinrichtungen mit anderen Instanzen betraf insbesondere das Elternhaus, aber auch andere Quellen für Sprachbildung mit je eigenen Kompetenzen: von Migrantencommunities bis zu Bibliotheken und Fördervereinen, Betrieben, Künstlerinnen und Künstlern und öffentlichen Medien. Das Strukturmodell, in dem diese Intentionen realisiert wurden, trägt die Bezeichnung »regionales Sprachbildungsnetzwerk«. Keimzelle dafür ist die »FörMig-Basiseinheit« – ein Zusammenschluss mehrerer Bildungseinrichtungen in einer Region mit Partnern, die in die Sprachbildungsmaßnahme im engeren Sinne eingebunden sind. Mit den »Strategischen Partnern«, die daran mitwirken, die Sprachbildungsmaßnahme selbst zu unterstützen, zu stärken und zu verstetigen, wird aus der »Basiseinheit« ein »Sprachbildungsnetzwerk«.
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Abbildung 1: Modell eines »Regionalen Sprachbildungsnetzwerkes« in FörMig Die konkrete Ausgestaltung des Strukturprinzips war in den beteiligten Einrichtungen von Fall zu Fall verschieden – und das war ausdrücklich so gewollt. Es wurde kein einheitliches Vorgehen für Einzelmaßnahmen vorgegeben. Stattdessen wurde Wert darauf gelegt, dass passgenaue, auf die jeweils spezifische Bedarfslage einer Bildungseinrichtung eingerichtete Vorgehensweisen entwickelt werden. In diesen sollten die konkret vorhandenen Ressourcen einer Bildungseinrichtung und einer Region möglichst gut und gewinnbringend genutzt werden. Zu den Gründen für dieses Grundprinzip der Diversität von Lösungen gehören einerseits die Konsequenzen des föderalen deutschen Bildungssystems: Einheitslösungen sind nicht erlaubt, wenn mehrere Bundesländer an einer Maßnahme beteiligt sind. Hierneben aber waren für diese Entscheidung die bildungsrelevanten Merkmale ausschlaggebend, die sich aus der Beobachtung der Migration in Deutschland ergeben. Dazu gehört zum einen die ungleiche Verteilung von Migrantinnen und Migranten über die Bundesländer und Regionen, zum anderen die sehr unterschiedlichen Erfahrungen, die einzelne Bildungseinrichtungen mit Migration und ihren Folgen besitzen: Es gibt Bundesländer mit geringen Anteilen von Migrantinnen und Migranten und einer relativ jungen Zuwanderung
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– und es gibt die Länder mit Zuwanderung seit den 1950er Jahren und Regionen, in denen nicht einmal mehr jedes zweite Kind aus einer altansässigen Familie kommt. Die faktisch vorfindlichen Unterschiede der Problemlagen, in denen die Bildungseinrichtungen sich befinden, bildeten die Richtschnur für die Lösungen, die die beteiligten Einrichtungen finden sollten – verbunden damit, die für eine Lösung jeweils adäquaten und zugänglichen Ressourcen zu ermitteln. Das Programm bot deshalb ein Abbild der real existierenden Bildungspraxis in Deutschland – mit all ihren Unterschieden, aber einem gemeinsamen Ziel. Mit diesem Heterogenitätsprinzip vereinbar war es, Lösungen zu finden, die in ihrer Gemeinsamkeit so etwas wie ein erkennbares Programm erkennen lassen. Die Arbeit an dieser Aufgabe bestand in zwei Zugriffsweisen. Erstens waren alle Beteiligten auf ein leitendes inhaltliches Interesse und Ziel verpflichtet: nämlich auf die durchgängige Förderung bildungssprachlicher Fähigkeiten. Zweitens waren alle teilnehmenden Projekte nach dem erwähnten verbindenden Strukturmodell gestaltet: mit Basiseinheiten als den Keimzellen für regionale Sprachbildungsnetzwerke, flankiert durch das Programmträgerteam und länderübergreifende thematische Arbeitsgemeinschaften.
3 W AS WURDE ERREICHT ? E IN A USBLICK Im Verlaufe des Modellprogramms haben sich die anfänglichen Kern-Basiseinheiten zu Sprachbildungsnetzwerken mit vielfältigen Kooperationspartnern weiterentwickelt. Nach dem ersten Programmjahr war FörMig mit 130 Basiseinheiten in den zehn Länderprojekten verankert. Gefördert wurden rund 4500 Kinder und Jugendliche. Etwa 600 Eltern waren in Projekte einbezogen. Gut 450 Mitwirkende gehörten zu den Basiseinheiten, die mit mehr als 650 Partnern kooperierten. Dabei blieb es nicht; es steigerte sich die Zahl der Basiseinheiten auf 155; die Zahl der geförderten Kinder und Jugendlichen auf knapp 8000; die Zahl einbezogener Eltern auf knapp 2000. Auch jenseits dieses »Wachstums« war die fünfjährige Geschichte des Modellprogramms für alle Seiten ein intensiver (und unabgeschlossener) Lern- und Entwicklungsprozess. Den Beteiligten wurden grundlegende Neuorientierungen sowohl in inhaltlicher als auch in struktureller Hinsicht abverlangt. Viele Mitwirkende waren in das Programm eingetreten
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mit der Erwartung, fertige Konzepte überreicht zu bekommen, die es abzuarbeiten galt. Die Konstruktion von FörMig aber war nicht auf die Erfüllung dieser Erwartung gerichtet, sondern darauf, dass die Akteurinnen und Akteure die Konzepte – mit Unterstützung der ländereigenen Koordinationsstellen und des Programmträgers – selbst entwickeln. In der Rückschau jedoch wird von zahlreichen Beteiligten die Einsicht formuliert, dass der gewählte Weg der aktiven Mitwirkung an der Programmentwicklung ertragreich war und zu Kompetenzen führte, die bei der bloßen Abarbeitung von Vorgaben nicht hätten erreicht werden können. Auch wird im Rückblick deutlich, dass es keine leichte Aufgabe war, Basiseinheiten zu bilden und zu konsolidieren – der Auftrag, den FörMig in struktureller Hinsicht zu lösen hatte, war um einiges komplexer als die aus anderen Modellprogrammen vorliegenden Erfahrungen, in denen es beispielsweise »nur« um die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Lehrkräften eines Unterrichtsfaches ging. Im Verlaufe des Programms gingen die Beteiligten zunehmend und erfolgreich dazu über, ihre Aktivitäten in breitere Konzepte der Institutionsentwicklung, insbesondere der Schulentwicklung, einzubinden. Das Prinzip einer durchgängigen, kooperativen Sprachbildung, das im Aufbau von Basiseinheiten und regionalen Sprachbildungsnetzwerken seine organisatorische Form findet, hat sich als grundlegendes Strukturkonzept bewährt. Bildlich gesprochen wurde die Durchgängigkeit der Kooperation und Vernetzung in FörMig in zwei Dimensionen betrieben: einer vertikalen, verstanden als Zusammenarbeit über die Schnittstellen in Bildungsbiographien hinweg, und einer horizontalen, verstanden einerseits als Zusammenarbeit zwischen Beteiligten innerhalb einer Bildungsinstitution und andererseits als Vernetzung und Partnerschaft zwischen Bildungseinrichtungen und anderen Personen und Institutionen, die Beiträge zur gezielten Sprachbildung leisten. Dieses Gesamtkonstrukt nennen wir das »FörMig-Schnittstellenmodell«; es ist illustriert in der folgenden Abbildung:
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Abbildung 2: FörMig-Schnittstellenmodell Die Risiken, die für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem bestehen, sind an den Übergängen zwischen Institutionen im Verlauf der Bildungskarriere besonders hoch (u.a. Gomolla/Radtke 2003, Konsortium Bildungsberichtserstattung 2006; 2008). Daher war es eine Aufgabe der Basiseinheiten, organisatorische Knotenpunkte zwischen den abgebenden und aufnehmenden Institutionen zu bilden. Aufgrund des Zuschnitts des deutschen Bildungssystems hat FörMig sich auf die drei besonders prekären Übergangsstellen in Bildungsbiographien konzentriert: von der elementaren Bildung (Vorschulklassen der Grundschule, Kindertageseinrichtungen anderer Träger) zur Schule, von der Grundschule zur Sekundarstufe I (in Berlin und Brandenburg: Klasse 6 zu Klasse 7; übrige Länder: Klasse 4 zu Klasse 5) und von den verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II – vor allem: in das berufsbildende System mit seinen vielfältigen Differenzierungen. Die meisten Basiseinheiten haben sich am Übergang vom Elementarbereich in die Grundschule gebildet; deutlich seltener stand der Übergang in die Sekundarstufe I im Mittelpunkt, und nur wenige Basiseinheiten hatten den Übergang von der Schule in den Beruf zum Thema. Hier macht sich ein Strukturproblem des deutschen Bildungswesens bemerkbar, näm-
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lich die nach wie vor starke Versäulung der Teile des Bildungssystems, die offenbar zunimmt, je höher in der Bildungsbiographie die Institutionen angesiedelt sind. In der abschließenden Evaluation des Modellprogramms wurden Bedingungen ermittelt, die offenbar gegeben sein müssen, damit das Strukturprinzip der durchgängigen und kooperativen Sprachbildung praktisch realisiert werden kann; mit einem Ausblick darauf werde ich meinen Beitrag beschließen. Konform mit anderen Forschungsergebnissen zur Bildungsqualität wurden Voraussetzungen für das Gelingen von Vorhaben ermittelt, die nicht spezifisch für das Gegenstandsfeld von FörMig sind, sondern allgemeine Merkmale »guter Schule« darstellen. Solche sind • die Beteiligung und Unterstützung der Leitung der jeweiligen Institutionen daran, ein Innovationsvorhaben zu realisieren; • ein formaler Beginn einer Maßnahme, verbunden mit der Festlegung von Ansprechpartnern und Verantwortlichen; • ein gemeinsamer Ansatz in der Sache und geteilte Vorstellungen von den besten Vorgehensweisen. Für den Kontext von FörMig eher spezifisch war die Gelingensbedingung, dass die Personen, die an der bildungsbiographischen Übergangsstelle eines geförderten Kindes oder Jugendlichen zusammenwirken sollten, tatsächlich in eine Kooperationsbeziehung miteinander kamen. Voraussetzung dafür war es, Gelegenheit für regelmäßige Kontakte zu schaffen – und nicht zuletzt: gemeinsame Qualifizierungsmaßnahmen zu ermöglichen. Dies ist ein hartes Stück Arbeit im versäulten deutschen Bildungssystem. Wenn etwa Personen unterschiedlicher Trägereinrichtungen beteiligt sind – was am Übergang vom Kindergarten in die Schule oder von der Allgemeinbildenden Schule in die Berufsbildung in der Regel der Fall ist – sind die Voraussetzungen für die Herstellung stabiler Kooperationsbeziehungen nur sehr schwer herzustellen. Dies gilt erst recht, wenn Personen aus anderen als Bildungseinrichtungen beteiligt sind, es also z.B. um die Vernetzung auf Stadtteilebene bei der Etablierung eines regionalen Sprachbildungsnetzwerkes geht. Solche Netzwerke lassen sich nach den Erfahrungen der beteiligten Projekte folgerichtig nicht von außen erzwingen. Vielmehr muss das Zusammenfinden der Partner offenbar Teil eines komplexen – und durchaus
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längere Zeit benötigenden – Entwicklungsprozesses sein, in dem den Beteiligten der verschiedenen Institutionen Gelegenheit gegeben wird, sich schrittweise einander zu nähern. Es erleichtert den Prozess, wenn er von außen moderiert wird und wenn frühzeitig konkrete Vereinbarungen zwischen den Institutionen getroffen werden, in denen gemeinsame Ziele, Schritte und die Erwartungen an die Beteiligten niedergelegt sind. Aber es dauert offenbar geraume Zeit, bis die Vertrauensbasis für die Kooperation stabil ist. Nach den in FörMig gewonnenen Erfahrungen ist für die allmähliche Annäherung und Vertrauensbildung zwischen den Kooperationspartnern eine Zeitspanne von etwa zwei Jahren erforderlich, bis eine verlässliche inhaltliche und organisatorische Festigung der Zusammenarbeit erreicht ist. Die gemeinsame Qualifikation der Beteiligten und die Moderation von außen scheinen in dieser Phase unerlässlich, um eine »gemeinsame Sprache« zu finden und zu erreichen, dass die Arbeitsweisen der beteiligten Einrichtungen füreinander transparent und verständlich werden. Bewährt hat sich in FörMig ein Instrument mit dem Titel »Zielvereinbarung«. Hierbei handelt es sich im ein Strukturschema, auf dessen Grundlage sich die Kooperationspartner über ein gemeinsames langfristiges Ziel verständigen und die nächsten kleineren Schritte dorthin festgelegen. Diese Vereinbarungen wurden – am besten: mit begleitender Unterstützung von außen – in regelmäßigen Abständen untersucht und revidiert. Auch hier bedurfte es eines durchaus zeitaufwendigen Klärungsund Qualifikationsprozesses, bevor die Beteiligten imstande waren, Ziele so zu formulieren, dass sie eindeutig sind – und dass sie konkret genug sind, um erreichbar zu sein. Für die Stabilisierung und Weiterentwicklung des Erreichten hat es sich in den FörMig-Projekten als besonders hilfreich erwiesen, wenn es zu einer klaren Institutionalisierung der Kooperationsaktivitäten kam: zur festen Verankerung der nötigen Zeiten im Arbeits- oder im Stundenplan, zur klaren Festlegung von Verantwortlichkeiten, zur expliziten Ausweisung der Ressourcen, die für die Arbeit eingesetzt werden können – und so weiter. Wo die Maßnahmen allein auf das individuelle Engagement und Freiwilligkeit gestützt werden mussten, konnten sie weder durchschlagend wirken noch überdauern. Soweit der – angesichts der Reichhaltigkeit der Erfahrungen von FörMig viel zu knappe –Bericht über einige Gelingensbedingungen für die erfolgreiche Implementierung einer durchgängigen Sprachbildung mit dem
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Ziel der Förderung der bildungssprachlichen Fähigkeiten, die zunächst, aber nicht allein auf die Besserung der Bildungslage von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gerichtet ist. Im Modellprogramm selbst wurde diese Frage nicht untersucht, aber sie wäre der Untersuchung wert, ob die ergriffenen Maßnahmen, und die Bedingungen für ihr Gelingen, über die Zielsetzung der Sprachbildung hinaus Gültigkeit haben. Könnten sie beispielsweise mit Erfolg eingesetzt werden, wenn es um die bestmögliche Förderung von Kindern mit seelischen oder körperlichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen im regulären Schulbetrieb ginge? Es sind zwar schon vielfach in programmatischen pädagogischen Arbeiten die Gemeinsamkeiten postuliert worden, die benachteiligend wirken – unabhängig davon, welchem speziellen Bildungsrisiko Kinder und Jugendliche ausgesetzt seien (vgl. z.B. Hinz 2004). Aber eine gehaltvolle empirische Prüfung der Frage, worauf genau diese Annahme zutrifft und worauf eventuell nicht, wurde nach meiner Kenntnis noch nicht unternommen. Karl Dieter Schuck wäre genau der Richtige für eine solche Unternehmung – am besten in einer erziehungswissenschaftlich-interdisziplinären, kooperativen Perspektive, und herzlich gern zusammen mit »uns Interkulturellen«.
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Frühförderung im Kontext der sprachlichen Entwicklung des Kindes Alfons Welling
1 E INFÜHRUNG In einem Arbeitspapier der Schulleitungen der Hamburger Förder- und Sprachheilschulen vom 11.02.2010 wurden »Berechnungsgrundlagen für die integrative Förderung« vorgestellt (internes Arbeitspapier der BSB vom 11.02.2010, unveröff.). Im Kern geht es um Fragen der Ressourcen, denen sich Schüler/-innen bis zum Ende des Schuljahres anpassen sollen (so die Formulierung in einem Papier von Staatsrat U. Vieluf, Papier vom 19.02.2010 aus der Behörde für Schule und Berufsbildung, unveröff.). Gleichzeitig erscheint die Meldung in der Tageszeitung »Neues Deutschland« vom 19.02.2010: »Aufschrei in Deutschland – Hamburg will behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam unterrichten – und dabei Geld sparen«. Die Bildungsbehörde schreibe sich zwar die Inklusion behinderter Schüler und Schülerinnen auf ihre Fahnen, in der Realität drohten aber massive Einsparungen, so dieser Medienbericht. Im vorliegenden Beitrag wird mit Nachdruck dafür eingetreten, dass sich Sprachentwicklung von Anfang an im Kontext mit der Umgebung gemeinsam entwickelt (vgl. Ehlich/Bredel/Reich 2008). Es geht um die Sprachaneignung im frühen Alter, in dem die Sprache des Kindes im Rahmen seiner Entwicklung in seiner Umwelt gesehen wird. Die frühe Entwicklung des Kindes wird in diesem Beitrag also nicht betrachtet im Sinne des Verständnisses einer funktionsorientierten, eindimensionalen Förderung des Kindes, vielmehr betont dieser Beitrag die Einbeziehung der Eltern des Kindes bzw. des Umfeldes bis hin zu seiner Förderung im
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Rahmen der Grundschule. Aus systematischen Gründen erstreckt sich die Förderung vor allem auf die Phase von 2;0 Jahren bis ins Alter von 6;0 Jahren, also über die frühe Epoche der Entwicklung des Kindes. Gleichwohl wird die Individualität des Kindes betont, nicht um eine Pathologie hervorzuheben, sondern um die schöpferische Entwicklungsperspektive des Kindes zu fokussieren. Vergleichbar ist der Fokus bei Fragen der Zuwanderung nicht auf den Verdacht auf Scheinehe oder Zwangsheirat zu richten. Inklusion ist umfassender definiert. Das Thema der Sprache muss man unideologisch anpacken. Der Sprachgebrauch des Kindes kann verschiedene Theorien der Betrachtung zum Ausgangspunkt haben, denn wenn Sprache verschieden gedeutet wird, liegen unterschiedliche Vorstellungen von Sprache zugrunde. Einer dieser Theorien zufolge sind Kinder mit einem Plan zum Erwerb von Sprache und speziell der Grammatik ausgestattet. Dann sprechen wir von der Universalgrammatik, die davon ausgeht, dass grundlegende Strukturen von Sprache genetisch verankert sind. Ähnlich wie beim Laufenlernen gibt es eine bestimmte Abfolge im Erwerb, die sozusagen vorprogrammiert ist. Im Rahmen dieser bestimmten Erwerbsfolge gibt es wie beim Laufen- oder Sehenlernen auch eine kritische Periode. Diese ist dann möglicherweise zweigeteilt: Eine erste, sehr flexible Phase zu Beginn des Lebens, also die Zeit vor dem Schulalter, und eine zweite bis zum Einsetzen der Pubertät. Der sprachliche Input lege dann fest, wie die Leerstellen in diesem Plan ausgefüllt werden. In diesem Prozess – so wird behauptet – erwerbe das Kind seine Muttersprache. Spracherwerb basiert dann auf dem Zusammenspiel angeborener Voraussetzungen und struktureller Beschränkungen sowie von Verrechnungsmodulen, was einer eher nativistischen Hypothese des Spracherwerbs entspricht (vgl. Clahsen 1986; 1988). Nach einer anderen Hypothese vollzieht sich Sprachentwicklung gleichzeitig auf mehreren parallelen Ebenen der Strukturbildung. Danach entsteht das Bild eines Prozesses, der durch die Interaktion zwischen einem strukturellen »A priori« und einem sprachlichen Angebot der Umwelt (z.B. den elterlichen Bezugspersonen) und allgemeinen Prinzipien der Selbstregelung vorangetrieben wird (vgl. Tracy 1991). In diesem Beitrag wird die zweite Hypothese betont und zudem die pädagogische Perspektive der Inklusion als aktuelle schulische Herausforderung der Sonderpädagogik in den Mittelpunkt gestellt. Es ist dann Teil des Konzepts, das hier verfolgt wird, dass die Sprachentwicklung produktiv gesehen und anhand verschiedener Formen hervorgehoben wird,
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die den Hauptgedanken dieses Buchbeitrags beinhalten. Das 2. Kapitel beginnt mit der Wiedergabe eines Videobeitrags zum Thema. Sich mit den Theorien von Sprachentwicklung unter verschiedenen Perspektiven zu befassen, heißt, das Konzept dahinter zu ergründen und ihm gleichzeitig Prinzipien, Methoden und Techniken anheimzustellen sowie deren Zusammenspiel zu erörtern. Im Folgenden werden im 3. Kapitel Aspekte dieses Konzepts hervorgehoben und Aspekte des Sprachverlaufs hinzugefügt: hier die Prinzipien, Methoden und Techniken der Sprachförderung. Im 4. Kapitel wird das Konzept mit Hilfe der Aspekte der Inklusion ergänzt, ehe eine pädagogische Maßgabe hieraus abgeleitet wird.
2 E LEMENTE DER S PR ACHENT WICKLUNG Um die Elemente der Sprachentwicklung genauer herauszuarbeiten, nehmen die folgenden Ausführungen auf eine Videodokumentation Bezug, die zu Lehrzwecken einen Überblick über die kindliche Sprachentwicklung vermitteln soll: In einem ersten Schritt, der den angenommenen Beginn der Entwicklung des Kindes anzeigt, werden lustbetonte Lautspielereien (Alter: 0;10) zusammengetragen. Das Kind wälzt sich vom Rücken in den Vierfüßlerstand und beschäftigt sich mit einem Kochtopf und einem großen Buch: Es klopft auf dem Topf und schlägt auf das Buch und erprobt so Klopfgeräusche. Das zweite Beispiel beinhaltet »erweiterte Lauffolgen« des Kindes (Alter: 1;0). Es spielt mit einem Spieltier, das es in der Hand hält, und führt es nach und nach an den Mund, während es schließlich anfängt, Lautäußerungen zu produzieren. Im dritten Beispiel – parasprachliche Ausdrucksmittel im Interaktionszusammenhang (Alter: 1;3) – weint das Kind, ehe es von der Mutter aufgenommen wird, die nun beginnt, mit dem Kind zu spielen. Das vierte Beispiel beinhaltet das Erproben eines Lautinventars (Alter ebenfalls: 1;3). Es scheint Laute zu erproben, zeigt den Gebrauch von Lauten mit ansteigender Stimmkontur und Nutzung eines abschließenden Lautbestandteils. Es spielt mit den Lippen, um ein Geräusch zu erzeugen. Das nächste Beispiel zeigt das Kind (Alter: 2;10) in der Interaktion mit seinem Vater. Hier sind Äußerungen im sprachlich-reflexiven Funktionsraum zu beobachten. Der Vater regt das Kind dazu an, über das Geräusch eines Donners nachzudenken.
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Das fünfte Beispiel (Alter: 3;3) zeigt eine »Diskussion« mit Gleichaltrigen: eine sprachliche Kommunikation mit vier Gleichaltrigen, denen das Kind eine Aussage über das Spiel erläutert. Das sechste Beispiel (Alter: 4;5) ist umschrieben mit »Interaktion im Spiel«: Zwei Kinder unterhalten sich über ein Maskenspiel und sprechen darüber, wie es funktioniert. Die Videodokumentation wird durch weitere Einzelbeispiele (z.B. Selbstimitationen) ergänzt. Erste bedeutungstragende Lautäußerungen, Einwortäußerungen mit fallender Stimmkontur, Wunschäußerungen mit steigender Stimmkontur, ehe das Kind dann Äußerungen im Kontext vollzieht. Am Schluss beginnt das Kind (Alter: 1;9) das Stadium der ZweiwortÄußerungen, das sich weiter ergänzt und mit einem Beispiel von Ein- und Zweiwortäußerungen und im Handlungsvollzug abgeschlossen wird (Alter: 1;11). Diese Phase endet mit einer Sequenz im Alter von 2;2 (Thema: Erste komplexe Sinneinheiten). Das Kind kann sich über selbst berichtete Bildgeschichten und persönliche Erfahrungen mit der Mutter unterhalten. Es beginnt mit der Differenzierung des Wortschatzes und kann sich sprachlich voll bewegen (vgl. Schaack 1978). Das Kind ist nun nach und nach mit einer Reihe von Kompetenzen ausgestattet, die es phonologisch-phonetisch erworben hat, semantischlexikalisch, morphologisch-syntaktisch und pragmatisch-kommunikativ. Mit diesen entwickelten Elementen können sich auch sehr früh Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung des Kindes zeigen, denen im Rahmen einer Frühförderung in dieser frühen Entwicklung begegnet werden kann. Zusammengefasst nach Bernhardt und Stemberger (vgl. 1998: 11ff.) muss jeder Versuch, den Spracherwerb zu beschreiben und empirisch abzusichern, einer Reihe allgemein anerkannter »Wahrheiten« Rechnung tragen, die vor einzeltheoretischen und einzelsprachlichen Annahmen eine ausdrückliche Gültigkeit beanspruchen. Die Autorin und der Autor nennen in diesem Zusammenhang u.a. vier Phänomene, die den phonologisch-phonetischen Spracherwerb kennzeichnen: (1) Kinder- und Erwachsenensprache: Die Form der Wörter, die Kinder gebrauchen, unterscheidet sich systematisch von der der erwachsenen Sprecher/-innen. In der Regel zeigt sich dieser Unterschied in einer Art segmentaler und prosodischer »Vereinfachung« der Kindersprache gegenüber der Erwachsenensprache. (2) Variation und Variabilität: Variationen beziehen sich auf phonologischphonetische Oberflächenformen. Variabilitäten als sprachübergreifendes Merkmal auf die Möglichkeit, diese Formen variabel hervorzubringen.
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Trends individueller Kindersprache lassen sich mit der Ebene intra- und interindividueller Gebrauchsformen verallgemeinern. (3) Erwerb und Erwerbsstörung: Die kindlichen Produktionen verändern sich im Laufe der Zeit, schneller oder langsamer, abhängig vom »Grad der Gestörtheit« des Systems, das vom Kind verwendet wird. Im Fall der Erwerbsstörung ist dieser Verlauf durch länger anhaltende Lernplateaus gekennzeichnet, die oberflächlich gewissermaßen eine »Stabilität« suggerieren, allerdings eine Variationsarmut im jeweils Erworbenen anzeigen. (4) Perzeption und Produktion: Das Kind nimmt die Segmente des Gesprochenen zeitlich früher wahr, als es diese erwartungsüblich selbst hervorbringen kann. Es nimmt die Äußerungen von Erwachsenen als »normgerecht« wahr, ist sich des Unterschieds zwischen den eigenen Produktionen und denen der Erwachsenen mehr oder minder bewusst.
3 K ONZEP T DER S PR ACHFÖRDERUNG : S YSTEMATISCH DEN S TANDPUNK T GE WINNEN Sprachförderung erfordert von der fördernden Lehrerin bzw. dem Lehrer fachliche Reflexionskompetenzen. Um diese zu erlangen, ist ein weites Blickfeld vonnöten – im Detail wie im gesamten Kontext. Die tägliche Arbeit mit dem Kind wirft zahlreiche Fragen auf, die den Wunsch vieler Sprachförderinnen bzw. Sprachförderer nach Gewissheiten wecken, dass das, was sie in der Sprachförderung tun, auf »richtiger« Erkenntnis beruht. »Richtig« heißt, dass man nach gesicherten Grundlagen für präventive und förderrelevante Maßnahmen sucht, die über genügend »Beweiskraft« verfügen und in der Sprachförderung für die Richtigkeit der Erkenntnis bürgen können. Die so fundierte Praxis ist ein wesentlicher Teil der »evidence based« Praxis. Im Großen ist diese Praxis gleichbedeutend mit der wissenschaftlichen Praxis (vgl. Sacket et al. 1999), im Kleinen bedeutet dies, das eigene Tun immer wieder zu hinterfragen. Sprachförderkonzepte bilden eine von vielen theoretischen Grundlagen der Sprachförderung. An ihnen richtet sich die Praxis aus. Ein Förderkonzept beinhaltet die Indikation für Fördermaßnahmen, es bewertet und gewichtet das sprachförderliche Vorgehen und beurteilt Fördervorgehen und Förderergebnisse, so dass die Förderqualität gesichert wird und sich weiterentwickelt. Ein Förderkonzept bildet den Rahmen für Ansprüche, Leitgedanken und Grenzen, in denen Problemfelder der täglichen Berufspraxis
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von wissenschaftlichen Fragestellungen differenziert, eingegrenzt und begründet werden können. Erst wenn Klarheit über die Grundlinien des Konzeptes herrscht, werden Ideen sichtbar, nach denen ein Förderansatz »im Prinzip« verfährt. Wenn gültige Förderprinzipien als Leitsätze eines Förderkonzeptes ausgewiesen werden, wird transparent, anhand welcher Entscheidungsgrundlagen bestimmte Fördermethoden ausgewählt werden, die sich bis in die Handhabung von einzelnen Fördertechniken auswirken. Nur in einem Konzept der strukturierten Begriffe sind schließlich die Methoden und Techniken der Praxis im Sinne des Wortes »aufgehoben«. Die Bedeutung und das Beziehungsgeflecht von Konzept(en), Prinzip(ien), Methode(n) und Technik(en) der Sprachförderung werden im Folgenden systematisch beschrieben. Ziel des Prologs ist es, die Begriffe »Konzept«, »Prinzip«, »Methode« und »Technik« zu klären und anhand dieser vier Kategorien die speziellen Ansätze der Förderung aufzugliedern und zu vergleichen (Abb. 1).
Abb.1: Strukturierte Vereinigung der Begriffe Konzept, Prinzip, Methode und Technik in einem sprachförderlichen Konzept Sprachfördernde Lehrer/-innen bezeichnen Regeln bzw. Leitbilder für das Durchführen einer Behandlungstechnik als Prinzipien (lat. Anfang, Ursprung, Grundstoff). Prinzipien sind somit Gestaltungsideen der Förder-
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praxis, an denen auch Sprachtherapeutinnen bzw. Sprachtherapeuten ihr Handeln ausrichten können (vgl. von Knebel/Welling 2007). Mit Prinzipien sind Wertorientierungen verbunden, denn was sprachförderlich prinzipiell für wichtig gehalten wird, empfindet die Sprachförderin bzw. der Sprachförderer vermutlich auch als gut und wichtig. Förderprinzipien beruhen nicht nur auf anerkannten Grundsätzen, die nicht mehr bewiesen werden müssen, sondern auch auf Überzeugungen, die einzelne Therapeuten/-innen und/oder eine Gruppe von »gleichgesinnten« Sprachförderern/-innen hat: • Ein gültiger Grundsatz in der Sprachförderung ist beispielsweise, Behandlungsziele auf der Grundlage des »Clinical Reasoning Prozesses« zu formulieren. • Als Überzeugungen (im Sinne von Hypothesen) gründen Förderprinzipien auf wissenschaftlich anerkannten Theorien, z.B. auf Aktivitätsmodellen (vgl. Szagun ²2008). Es ist damit zu rechnen, dass Gültigkeit und Geltung sprachförderlicher Prinzipien inhaltlich stets einem Wandel unterworfen sind, weil sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse verändern und weiterentwickeln. Für die Praxis ist eine Verknüpfung aus Überzeugung und prinzipiell persönlich Richtigem mit Kenntnissen über empirisch Wichtiges wünschenswert. Das Konzept der Sprachförderung ist in erster Linie z.B. auf die Verbesserung der Alltagssituation von Menschen jeden Alters ausgerichtet, die durch erworbene oder angeborene Störungen etwa des Sprachsystems betroffen sind.
3.1 Prinzipien der Sprachförderung In diesem Unterabschnitt soll noch einmal zum Ausdruck gebracht werden, wie eine handlungstheoretische Interpretation der Förderung den anthropologischen Kern der Konzeption treffen kann und das Kind menschlich erscheinen lässt. Dies geschieht thesenartig hier bezogen auf zehn Prinzipien der Sprachförderung.
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• Erstes Prinzip: Prinzip der Komplexität des Sprachgebrauchs Das Prinzip der Komplexität des Sprachgebrauchs beinhaltet die Sprachgestaltung des Kindes, die an seine individuellen Sprachmöglichkeiten gebunden ist. Sie vollzieht sich in seiner Anpassung an seine Umgebung (z.B. personell, materiell, kompetenzorientiert), an den Sprachkontext und an das situative Umfeld. Sprachförderung berücksichtigt die hiermit zusammenhängenden Anforderungen an das Fördergeschehen als komplexhafte Aufgabenstellung aus der Perspektive des handelnden Menschen. • Zweites Prinzip: Prinzip der Selbstorganisation in der Sprachmitgestaltung Das Prinzip der Selbstorganisation in der Sprachmitgestaltung des Kindes impliziert das Bild des eigenaktiv handelnden Kindes, das in der Förderung herausgefordert ist, ausgelöste, geführte, unterstützte oder selbständige Sprachmitgestaltung usw. zu unterstützen und mitzugestalten. • Drittes Prinzip: Prinzip der Anpassungsentwicklung an Umweltanforderungen Das Prinzip der Anpassungsentwicklung an Umweltanforderungen setzt ein besonderes Verständnis von Sprachentwicklung voraus: Das Kind passt sich nach Maßgabe seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten interaktiv an die Herausforderungen seiner Umwelt an. • Viertes Prinzip: Prinzip des Sprachlernens Das Prinzip des Sprachlernens verweist auf den Variantenreichtum in der Auseinandersetzung des Kindes mit den Herausforderungen an die Sprachgestaltung. Das Kind erschafft sich dadurch immer wieder etwas Neues, das sprachförderlich weiter entfaltet werden kann. • Fünftes Prinzip: Prinzip der Individualisierung Das Prinzip der Individualisierung der Förderpraxis bedingt folgendes Verständnis: Die Entwicklung und das Sprachhandeln des einzelnen Kindes geschehen individuell und bedürfen einer individuellen Vorgehensweise unter Berücksichtigung seiner Ressourcen. • Sechstes Prinzip: Prinzip der Lebensweltorientierung Das Prinzip der Lebensweltorientierung formuliert die Aufgabe der Förderfachkraft, ihre Behandlungsplanung (z.B. biographische Analyse, Erfassen der Problemlagen des Kindes, Förderziele, Förderthema, und Fördergegenstand) vor dem Hintergrund des Kindes in seiner Lebenswelt zu begründen und zu verantworten. • Siebtes Prinzip: Prinzip der konzeptuellen Beziehung zwischen Befundung und Förderpraxis Das Prinzip der konzeptuellen Beziehung zwischen Be-
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fundung und Förderpraxis formuliert die Aufgabe der am Förderprozess Beteiligten, die unterschiedlichen Perspektiven ihrer Anliegen konzeptuell zu bündeln, für die Förderung in der Praxis auszuwerten sowie kontinuierlich zu reflektieren und anzupassen. • Achtes Prinzip: Prinzip der Integriertheit von Sprach- und Handlungsziel Das Prinzip der Integriertheit von Sprach- und Handlungsziel erfordert, die Beziehung zwischen dem Sprachpotenzial des Kindes und seinen Handlungsmöglichkeiten in den Blick zu nehmen und anzuerkennen, dass das Sprachziel dem Handlungsziel logisch nachgeordnet ist. • Neuntes Prinzip: Prinzip des kooperativen Sprachhandelns Sprachhandeln als intersubjektive Sprachgestaltung gründet auf dem Anspruch, Handlungsziele zu koordinieren, sich an Werten zu orientieren und Handlungspläne (begriffliches Verständnis) abzustimmen. • Zehntes Prinzip: Prinzip der interdisziplinären Koordination und interprofessionellen Zusammenarbeit Das Prinzip der interdisziplinären Koordination oder Interdisziplinarität beruht darauf, diejenigen wissenschaftlichen Bezugssysteme für die Sprachförderung zu nutzen, die zum Verständnis des Wesens der Sprachstörung und somit zu ihrer »therapeutischen« Beeinflussung beitragen können. Dieses Prinzip bildet eine Orientierungsgrundlage für die Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen (Interprofessionalität) im gemeinsamen Aufgabenfeld der »sprachtherapeutischen« Praxis.
3.2 Methoden: Handlungsorientierungen in den Verfahrensweisen suchen Methoden (griech. Wege, Verfahren) sind spezielle Verfahrenweisen, die spezielle Abläufe strukturieren. Methoden sind handlungsorientiert und werden auf dieser Basis von Prinzipien im Rahmen eines Konzeptes realisiert. Methoden sprachförderlicher Konzepte sind und bleiben Methoden der Sprachförderung in den Händen professionell arbeitender Sprachtherapeuten/-innen. Die Fördermethodik insgesamt und die Fördermethoden im Einzelnen lassen sich als eine Aufforderung zur Ausführung von speziellen Handlungen verstehen, in denen Ziele unter Einsatz entsprechender Verfahren realisiert werden. Hierbei verfolgt jeder einzelne Schritt ein Teilziel bzw. bildet eine Teilhandlung. Charakteristisch ist dabei auch die Struktur der Handlung. Sie besitzt die entsprechenden Merkmale Sequenzialität, Irreversibilität und Ausschließlichkeit:
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• Sequenzialität: Wird eine Fördermethode angewandt, dienen die Teilziele einer Basis der Verwirklichung eines jeweils nächsten Teilziels. • Irreversibilität: Einzelne Schritte der Behandlung sind real unumkehrbar. Dies ist nur in der Vorstellung, in der Planung und in der Reflexion einer Handlung möglich. • Ausschließlichkeit: Das Ausführen einer gewählten Methode schließt den gleichzeitigen Vollzug anderer Methoden aus. Zu den Methoden des Sprachförderkonzeptes gehört u.a. der individuell, problemlösend und dialogisch gestaltete Förderprozess unter Einbeziehung der Bezugspersonen.
3.3 Techniken: Handwerkliches im Spezifischen meistern Techniken (griech. Kunst, Handwerk) verweisen auf das besondere Knowhow derjenigen, die eine Aufgabe oder ein Problem direkt meistern wollen. Wenn Techniken von Sprachförderern/-innen eingesetzt werden, gehören diese zu dem spezifischen Handwerkszeug, das einem Förderzweck dienen soll. Die Begründung des Einsatzes bestimmter Techniken der Sprachförderung im Rahmen eines methodisch strukturierten Konzeptes hilft vorzubeugen, dass Techniken ein »Eigenleben« führen und ihre Bedeutung sich auf eine sinnferne Förderpraxis oder gar (sinnlose) Übungssammlung reduziert. Techniken sind sehr eng mit den Methoden verbunden. So wie die Methoden direkt der Praxisgestaltung dienen, sind Techniken ein spezifisches, flexibel und individuell einsetzbares Handwerkzeug der Sprachförderung. Der Begriff »Technik« offenbart die Notwendigkeit, stets nach konzeptuellen, prinzipiellen und methodischen Verankerungen eines Förderansatzes zu suchen, in dem die Techniken der Förderung einen Maßstab zur Orientierung vorfinden und von diesem aus Bedeutung in einem Konzept gewinnen. Die Umfeldgestaltung, der Einsatz von reflektierter Sprache, die Auswahl von spezifischen Aufgaben sind vergleichbar dem Prinzip der Selbstorganisation in der Bewegungsmitgestaltung (vgl. Ritter/Welling 2007: 27ff.).
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4 E PILOG : I NKLUSION ALS SCHULISCHE H ER AUSFORDERUNG Die Inklusion kann erst als gegeben bezeichnet werden, wenn die Schüler/-innen nach der Schulentlassung ein selbstbestimmtes und sozial integriertes Leben in unserer demokratischen Gesellschaft führen können. Dies setzt voraus, dass die Kinder von ihrer frühen Förderung an auf Lehrer/-innen treffen, die sich durch Professionalität im Bereich der Sprachentwicklung und der Sprachentwicklungsförderung auszeichnen und die bis in die tiefsten Bereiche das Prinzip der Entwicklungsorientierung von Anfang an bejahen (vds o.J.). Jüngste politische Verlautbarungen lassen eine andere Deutung zu, hier wird der Sprachkurs als willkommene Hürde gedeutet. Oder? Integrationsgipfel, Islamkonferenz, die Einwanderungsfrage muss unideologisch behandelt werden. 40 Jahre nach Aufkommen des Themas muss es endlich unideologisch angepackt werden! Die Reaktionen auf das Urteil des Verwaltungsgerichts zum Ehegattennachzug beweisen das Gegenteil. Unideologisch wäre, es als selbstverständlich zu sehen, dass ein Deutscher heutzutage auch türkische oder marokkanische Eltern haben kann. Eine Frechheit ist es aber, von »Menschen, die über viele Generationen bei uns leben« zu fordern, dass sie »die deutsche Sprache lernen und deutsche Gesetze einhalten«. Man stelle sich vor, sie würden sich an die Sachsen wenden: Ihr seid Deutsche, aber ihr müsst euch an deutsche Gesetze halten! Eben: selbstverständlich. So ist das mit der Sprache. Für fast alle Deutschen mit Migrationshintergrund ist es selbstverständlich, Deutsch zu sprechen. Studien belegen das – eine unideologische Lösung ist nicht in Sicht. Auch dass die Regierung keine Statistik vorlegen kann, die nahelegt, dass Sprachkurse Zwangsehen verhindern, offenbart die Vorverurteilung: Heiraten Deutsche Ausländer/-innen, kann das ja nur Scheinehe oder Zwangsheirat sein. Damit wird die Unschuldsvermutung umgedreht – im Rechtsstaat gehören Deutsche, die ihre Familien bei sich haben wollen, nicht unter Generalverdacht. Bereits am 17.12.2008 hat auch die Bundesrepublik Deutschland die UN-Konvention zu den Rechten der Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Dies wurde vom Verband der Sonderpädagogik e.V. (vds) und der GEW begrüßt. Seit vielen Jahrzehnten setzt sich der Verband Sonderpädagogik und setzen sich gewerkschaftliche Vertretungen für die gleichbe-
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rechtigte und uneingeschränkte Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in der Gesellschaft ein.
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4 Inklusion und Schulentwicklung
Schuleffektivität, Pluralität und soziale Gerechtigkeit Spannungen und Widersprüche gegenwärtiger Qualitätsstrategien im Bildungssystem Mechtild Gomolla
1 P ROBLEMAUFRISS »Schuleffektivität« ist ein vielschichtiges Konzept, das im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts international als Leitbegriff in Bildungsforschung, -politik und -praxis einen rasanten Aufstieg erlebt hat. Das Effektivitätsdenken hat zu tiefgreifenden Veränderungen der Alltagswirklichkeit in Schulen u.a. pädagogischen Einrichtungen beigetragen. Als derzeit einflussreichste Theorie des institutionellen Wandels im Bildungssystem ist Schuleffektivität international zur Grundlage einer boomenden Industrie geworden, die kostenintensive Forschung generiert und einen kontroversen Korpus von Wissen erzeugt hat (zum Überblick vgl. Townsend 2007). Der Reiz, den das Effektivitätsparadigma über Ländergrenzen hinweg und quer zu politischen Lagern auf Fachleute und Laien ausübt, liegt v.a. im positivistischen Forschungsansatz begründet. Die hauptsächlich quantitativ ausgerichtete School Effectiveness-Forschung (SER) mit dem operativen Arm des School Improvement (SI) repräsentiert einen Kontrapunkt zu vermeintlich unpräzisen Denkweisen im Bereich von Bildung und Erziehung. Sie verspricht klare Erfolgskriterien mit Taxonomien, Rezepten und Instrumenten zur Prüfung und Verbesserung schulischer Prozesse und Ergebnisse. Diese sind scheinbar universell, d.h. in jedem Kontext und zur Umsetzung vielfältiger Zwecke einsetzbar, ob zum Aufbau einer
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rudimentären Bildungsversorgung in Krisengebieten, als Exportartikel in Entwicklungsländer oder zur Reform der Bildungssysteme in den ehemaligen Wohlfahrtsstaaten der westlichen Welt. In Deutschland unterliegt das schulpolitische Feld – wie andere bildungs- und sozialpolitische Bereiche – seit rund 15 Jahren einer grundlegenden Neubestimmung unter dem Leitbegriff der Effektivität (vgl. z.B. Helmke et al. 2000; Terhart 2000). Dies zeigt sich v.a. in der Verbreitung von Assessment-Programmen wie TIMSS, PISA und IGLU. Ebenso wird die in den Bundesländern seit Mitte der 1990er Jahre erfolgende Umstellung der staatlichen Bildungssteuerung, die einerseits auf Deregulierung und Dezentralisierung und andererseits auf Rechenschaftslegung setzt, als Strategie zur Effektivitätssteigerung verstanden. So sind Schulleitungen und Lehrkräfte im Rahmen der sogenannten »Teilautonomie« der Schulen aufgefordert, individuelle Schulprofile und -programme zu entwickeln, um Angebote und Arbeitsweisen besser auf lokale Bedürfnisse auszurichten. Die Technologie zur Kontrolle und Verbesserung des schulischen Lernens umfasst systematisches Bildungsmonitoring und die Verankerung von Bildungsstandards. Die alten Lehrpläne werden durch kompetenzorientierte Kerncurricula ersetzt. Neue Evaluationsregime, Schulinspektionen, Zielvereinbarungen u.a. aus dem privatwirtschaftlichen Sektor übernommene Managementstrategien sollen ebenfalls dazu beitragen, die Effektivität der schulischen Prozesse zu steigern.1 Auf der internationalen wie auf der nationalen Ebene werden systematisches Monitoring der Ergebnisse von Schule und Strategien zum schulischen Qualitätsmanagement auch als zentraler Handlungsansatz betrachtet, um Bildungsungleichheiten – v.a. entlang von Merkmalen der ethnischen Herkunft, des sozio-ökonomischen Status und des Geschlechts – entgegenzuwirken und die strukturelle und kulturelle Integration minorisierter ethnischer Gruppen zu fördern (vgl. Radtke 2006). Aber wie angemessen ist der rational-technische Ansatz, den das Paradigma der Schuleffektivität verkörpert, hinsichtlich der komplexen, unterschiedlich gelagerten Bedürfnisse aller Schüler/-innen im Bildungssystem? Wie effektiv geht er auf heterogene Bildungsvoraussetzungen und -bedürfnisse in einer zunehmend fragmentierten sozialen Welt ein? In1 | In der deutschsprachigen Schulforschung werden diese Entwicklungen v.a. unter dem Etikett Educational Governance behandelt (vgl. z.B. Böttcher 2002; Altrichter/Brüsemeister/Wissinger 2007; Rürup 2007).
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wieweit ist er geeignet, historische Beziehungen und den Einfluss nationaler oder internationaler Politiken auf die sozio-kulturellen Grundlagen in unterschiedlichen Gesellschaften oder in einzelnen Schulbezirken zu reflektieren? Im Unterschied zu den umfangreichen Kontroversen über Schuleffektivität in den angelsächsischen Ländern2 liegen im deutschen Sprachraum erst wenige Studien vor, die die Implikationen und Folgen des Schuleffektivitätsdenkens für die Verwirklichung schulpolitischer Ziele der Inklusion, Gerechtigkeit und demokratischen Teilhabe aus einer grundlagentheoretischen Perspektive untersuchen.3 Weit entfernt von jedem Anspruch, das Thema erschöpfend zu behandeln, besteht das Ziel dieser kurzen Abhandlung darin, auf der Grundlage von überwiegend aus den angelsächsischen Ländern stammenden kritischen Studien in den Gebieten der Erziehungswissenschaften, der politischen Soziologie und der international vergleichenden Bildungsforschung die Zusammenhänge von Schuleffektivität, Pluralität und Gerechtigkeit genauer zu erfassen und das Feld für künftige Forschungsarbeiten abzustecken. Dabei geht es mir nicht um eine Diskussion der Ergebnisse oder methodischen Probleme einzelner Studien, die sich der Schuleffektivitätsforschung zuordnen lassen. Ohne die Relevanz methodischer Aspekte herunterzuspielen, werden diese Fragen jedoch im weiteren Text zu dem Zweck aufgegriffen, den Kontext und die sozialen Beziehungen der Forschungstätigkeit an die Diskussion über Schuleffekte zurückzubinden (vgl. Slee/Weiner 2001). Das Ziel dieses Beitrages liegt in einer Untersuchung von Schuleffektivität aus einer bildungssoziologischen Perspektive als spezifischem curricularem und pädagogischem Diskurs. Im Vordergrund steht die Frage: Wie und mit welchen Folgen für wen, werden Aspekte der Differenz, Pluralität und Gerechtigkeit im Schuleffektivitätsdenken inkorporiert, verzerrt oder ausgeschlossen? Der Text wirft zunächst ein Schlaglicht auf die Geschichte von Schuleffektivität als Forschungsparadigma, Politik und Praxis in seiner gegen2 | Aus der Fülle der Literatur sei hier auf die Arbeiten von Angus (1993), Fielding (1997), Morley/Rassool (1999), Slee/Weiner with Tomlinson (1998), Thrupp (1999), Slee/Weiner (2001), Wrigley (2003), Bogotch/Mirón/Biesta (2007) verwiesen. 3 | Als kritische Beiträge in der deutschsprachigen Literatur vgl. z.B. Radtke/Weiß (2000), Lohmann/Rilling (2002), Gomolla (2005), Radtke (2006), Reinmann/ Kahlert (2007), Bellmann (2005).
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wärtig international dominanten Ausprägung. Die widersprüchlichen Implikationen im Hinblick auf Fragen der Differenz und Gleichheit werden am Beispiel Englands illustriert. Um die nicht nur für seine Umsetzung in England charakteristischen Begrenzungen und Widersprüche des Effektivitätsparadigmas im Hinblick auf die Umsetzung schulpolitischer Ziele der Inklusion und Gleichstellung genauer zu verstehen, werden zentrale erkenntnistheoretische und methodische Prämissen in den Blick genommen. Ferner wird der breitere ökonomische, politische, soziale und kulturelle Kontext beleuchtet, in dem SER seit Mitte der 1970er Jahre weltweit zunehmend Bedeutung erlangte. Der Artikel endet mit Fragen für künftige Forschung, die insbesondere aktuelle Entwicklungen im deutschen Kontext reflektieren.
2 S CHULEFFEK TIVITÄT UND C HANCENGLEICHHEIT – EINE WECHSELVOLLE G ESCHICHTE Das Begriffspaar School Effectiveness4 und School Improvement (SESI) bezieht sich in seiner bündigsten Definition auf die Frage: »Was ist eine gute Schule und wie kann Schule verbessert werden? […] School Effectiveness beschäftigt sich mit den Fragen, was eine wirksame Schule ausmacht bzw. welche Faktoren die Wirksamkeit einer Schule konstituieren. School Improvement hingegen wirft die Fragen auf, wie Schule verbessert werden kann und welche Prozesse zu einer Verbesserung führen.« (Huber 1999: 10)
Viele kritische Kommentatorinnen und Kommentatoren wie etwa Ira Bogotch, Luis Mirón und Gert Biesta (2007) grenzen ein enges Verständnis von SER/SIR als Ansammlung von
4 | Die Begriffe Schuleffektivität und Schulqualität werden oft synonym gebraucht. Im deutschen Sprachraum ist der weiter gefasste Begriff der Qualität stärker verbreitet (vgl. Helmke et al. 2000; Terhart 2000). Demgegenüber wird international der Begriff Effektivität bevorzugt, welcher präziser auf Aussagen über Ergebnisse erzieherischen Handelns, gemessen an vereinbarten Kriterien und über das Verhältnis von Zielen und der zu ihrer Erreichung nötigen Mittel gerichtet ist (vgl. zusammenfassend Huber 1999).
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»specific tenets addressing administrative and teacher actions and their effects on both school climate and student academic performances« (Bogotch et al. 2007: 93)
von einer breiteren Definition ab. Diese reflektiert die politische Nutzung der SER in den vergangenen Jahrzehnten und unterstreicht ihren normativen und ideologischen Charakter. In den Worten von Bogotch und Kollegen: »SESI represents a normative model that establishes, monitors, and judges measurable criteria of effectiveness. Moreover, its influence extends beyond SESI studies themselves; that is, by drawing connections to SESI, however tenous, school reform in general attain the status of legitimacy by attribution.« (Ebd.).
Das folgende Schlaglicht auf die Geschichte der SER zeigt, wie sehr dieses Genre5 seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts das erziehungswissenschaftliche Denken auch über Fragen sozialer Gerechtigkeit in unterschiedliche Richtungen beeinflusst hat.
2.1 Der organisationale Fokus der frühen SER Die Ursprünge von SER/SIR werden von Vertreterinnen und Vertretern des Genres in den Debatten über Chancengleichheit der 1960er und 1970er Jahren in den USA und Großbritannien verortet (vgl. z.B. Reynolds 2005; diverse Beiträge in Townsend 2007). Als negativer Bezugspunkt werden zumeist großflächige Bildungsberichte angeführt, die erstmalig die bis dahin weitgehend tabuisierten Effekte von Armut und rassistischer Unterdrückung auf Schulleistungen zur Sprache brachten (vgl. Coleman et al. 1966; CACE 1975 [Plowden Committee 1967]; Jencks et al. 1972). Ihre zentrale Botschaft lautete, dass die Schule kaum einen Einfluss auf Bildungserfolg ausübe, sondern dass dieser weitgehend vom familiären Herkunftshintergrund abhänge. Das Scheitern kompensatorischer Erziehungsprogramme war nicht von der Hand zu weisen. Das Konzept des »familiären Hinter5 | Die Bezeichnung »Genre« unterstreicht den Charakter von Schuleffektivität als spezifisches Set expliziter und impliziter »norms and conventions for organising and presenting messages for particular social purposes« (Clark/Ivanic 1997: 13; zit.n. Slee/Weiner 2001: 85).
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grundes«, das v.a. mit der berühmten Coleman-Studie (Coleman et al. 1966) populär wurde, war allerdings umstritten. Einflussreiche Soziologen wie Basil Bernstein (1971), Pierre Bourdieu und Jean Claude Passeron (1971) stellten das vorherrschende Bild von Schulen und Universitäten als sozial und politisch neutrale Institutionen in Frage. Sie betrachteten staatliche Bildung und Erziehung eher als »Transmissionsriemen« zwischen sozialen Beziehungen auf der Makro- und Mikroebene. Sie zeigten aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven, dass Schulen oder Universitäten Formen der kulturellen Privilegierung der Sprache, Werte und kulturellen Codes der Mittelklasse institutionalisierten. Auf der gleichen Linie lag die Kritik marxistischer Bildungsforscher (vgl. z.B. Bowles/ Gintis 1976), die sagen, dass bereits in Unterricht und Schulen Hierarchien der Arbeitswelt reproduziert und legitimiert würden. Die ersten Arbeiten zur Schuleffektivität6 verstanden sich als pragmatische Antwort auf die deterministischen und pessimistischen Sichtweisen der 1970er Jahre hinsichtlich der Möglichkeiten engagierter Lehrkräfte und Schulen, das Schicksal der ihnen Anbefohlenen positiv zu beeinflussen. Eine Reihe anerkannter Wissenschaftler/-innen versuchte den Beweis anzutreten, dass auch Kinder in armen innerstädtischen Bezirken – wenn man ihnen eine geeignete Schulumgebung bietet – erfolgreich lernen können. Ausgangspunkt war die Überzeugung, »all children are eminently educable and […] the behaviour of the school is critical in determining the quality of that education« (Edmonds 1979, S. 29).
Mit Hilfe statistischer Korrelationsmaße wurden Schulmerkmale, die in der Lage sein sollten, die Leistungen von Kindern in den Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen unabhängig von ihrem sozio-ökonomischen Status zu steigern, identifiziert. Ein erster Meilenstein war das »Fünf-Faktoren-Modell« von Ronald Edmonds (1979). Demnach korrelieren höhere Leistungen in den Grundlagenfächern mit klarem Schulleitungshandeln, dem Fokus auf Unterricht, einem unterstützenden Schulklima, hohen Erwartungen und regelmäßigem Monitoring der Lernfortschritte. Auf der Suche nach dem Idealbild einer »guten Schule« wurden solche Merkmals6 | Als wegweisend in den USA gelten die Studien von Edmonds (1979); in Großbritannien diejenigen von Reynolds (1976) und Rutter et al. (1979); letztere ist im deutschsprachigen Kontext am stärksten rezipiert worden.
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kataloge in einer mittlerweile unübersehbaren Anzahl von Arbeiten zu verfeinern gesucht (vgl. diverse Beiträge in Townsend 2007). Die zunächst eng mit der SER verbundene School Improvement Research (SIR) zielte auf die schulpraktische Umsetzung der Erkenntnisse zur Schuleffektivität (vgl. Reynolds 2005, 17ff.). Gestützt auf Organisationstheorien, die das Bild von Schulen als bürokratische Organisationen, in denen Innovationen per Dekret verordnet werden können, in Frage stellten und stattdessen die Eigenrationalität und Mikropolitik organisationaler Prozesse sichtbar machten, verstand die frühe SER die einzelne Schulorganisation als für den Schulerfolg ausschlaggebende Handlungseinheit. Unter Begriffen wie »Schulethos«, »Schulklima« oder »Schulkultur« wurde der kumulative Effekt aus dem Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren der Schulsituation zu fassen gesucht (vgl. Rutter et al. 1979; Purkey/Smith 1983). Schulen wurden als Mehrebenensystem (nested layers) begriffen, in dem individuelle, unterrichtliche, schulische und kontextuelle Faktoren in einer komplexen wechselseitigen Verschränkung zu den resultierenden Wirkungen beitragen. Grundlegend ist die Annahme, dass Prozesse auf strukturell übergeordneten Ebenen diejenigen auf den darunter liegenden Ebenen jeweils unterstützen und rahmen (vgl. Barr/Dreeben 1983). Die frühe SER/SIR-Bewegung hat v.a. in den angelsächsischen Ländern das erziehungswissenschaftliche Denken auch in Bezug auf Fragen der Chancengleichheit stark geprägt. Die Bewegung »provided a jolt to schools that were failing to make efforts or make changes or take ›educational common sense‹ on board. It also provided a much-needed warning to those who might be expecting far too little from those they taught« (Benn/ Chitty 1996, 57f.; zit.n. Willmott 1999: 254).
Die Ideen der Schuleffektivitätsforschung haben ebenso den aufkommenden internationalen Diskurs über »inclusive education« entscheidend geprägt (vgl. Campbell 2002). In den USA, Großbritannien, Kanada und Australien stellte die Zielperspektive des school restructuring oder whole school change im Feld der multikulturellen und antirassistischen Bildung eine Art »Minimalkonsens« dar (vgl. Banks 1986; McGee Banks 1993; Troyna 1993). Die einfache Grundidee lautete, dass sich die Wirksamkeit von Lehr- und Lernprozessen verbessern lasse, wenn innerhalb einer Institution eine gewisse Kohärenz und Konsistenz der Lernerfahrungen gewährleistet sei. Ziel war es, einen organisatorischen Rahmen zu schaffen,
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um im Dialog der beteiligten Lehrkräfte einen Konsens über die ethische, pädagogische und administrative Orientierung im Schulhaus herzustellen. Multikulturelle und antirassistische Schulentwicklung hatte sich diesen Ansätzen nach zumindest zu beschäftigen mit: »the learning styles favoured by the school, the languages and dialects that are sanctioned, the teaching materials and the norms towards ethnic diversity that permeate the school environment.« (Banks 1986, 226)
Mit dem Blickwechsel von Merkmalen der Kinder und ihres familiären Hintergrundes auf die Bildungseinrichtungen und darin stattfindenden Prozesse hat SER/SIR zu einer Erweiterung der vorherrschenden Konzepte sozialer Gerechtigkeit beigetragen. Über die formale und faktische Gleichheit beim Zugang zu Bildungseinrichtungen hinaus wurde die Frage virulent, wie ein hohes intellektuelles Niveau der schulischen Arbeit von Lernenden und Lehrenden, das sich auch in guten Fachleistungen niederschlägt, mit dem Ausgleich vorfindbarer Disparitäten in den Bildungserfolgen verbunden werden kann (vgl. Oakes/Lipton 2003). Anstelle isolierter, additiver Fördermaßnahmen für einzelne benachteiligte Gruppen lenkte SER/SIR den Blick auf die Notwendigkeit, Schulen als gesamte Organisation geplanten (Selbst-)Beobachtungs- und Entwicklungsprozessen zu unterziehen, um die schulischen Arrangements so zu gestalten, dass die emotionale und soziale Entwicklung und das fachliche Lernen von Kindern auf einem breiten Spektrum von Voraussetzungen und -bedürfnissen effektiv gefördert werden kann und Barrieren, die die gleichberechtigte Teilhabe bestimmter Gruppen versperren, abgetragen werden. Dabei galten partnerschaftliche Formen der Kooperation mit Eltern und Gemeinden v.a. in sozio-ökonomisch marginalisierten Bezirken, die häufig stark von Angehörigen minorisierter ethnischer Gruppen bewohnt waren, als Schlüssel, um den Schulerfolg zu steigern (vgl. McGee Banks 1993).
2.2 Verlagerung der Aufmerksamkeit auf schulische Performanz und Rechenschaft Obgleich das Konzept der Schuleffektivität in der akademischen Fachwelt von Anfang an umstritten war – zumal die einflussreichen Arbeiten von Rutter et al. und Reynolds nicht in traditionell erziehungswissenschaftlichen oder bildungssoziologischen, sondern in medizinischen Forschungs-
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zusammenhängen entstanden – wurde es zu einer internationalen Erfolgsstory. Die Forschung etablierte sich rasch als wissenschaftliche Subdisziplin mit eigenen Mitgliedschaften, Journalen und Kongressen und nahm schnell den Charakter einer Bewegung an, wobei fast religiöse Untertöne manchmal kaum zu überhören sind. Die zentrale Botschaft »School matters!« – »Die Schule spielt eine Rolle!«, der optimistische Common Sense-Ton und der rezeptartige Duktus trafen – so etwa Martin Thrupp (1999: 17) – die Bedürfnisse von Lehrkräften, Schulpolitikerinnen und -politikern und waren in den Medien hoch populär. Die Denkweisen und Ergebnisse der Schuleffektivitätsforschung wurden in den Deregulierungspolitiken der Reagan-Regierung in den USA und der Thatcher-Regierung in Großbritannien, die für nachfolgende Bildungsreformen in vielen Ländern als Vorbild dienten, als politisch nutzbares Konzept aufgefasst. Die wachsende Orientierung auf die Ergebnisse (Outcome) von Schule passte zu einem neo-liberalen und neo-konservativen Reformcredo, das auf marktbasierte Politikansätze, Wettbewerb, Effizienz (value for money) und das Erreichen von Resultaten durch privates Unternehmertum setzte. In seiner inhaltlichen Ausrichtung hat sich der Fokus der SER/SIR in den letzten 30 Jahren stark verändert. Um von den zahlreichen methodischen und theoretischen Entwicklungen nur einige Wichtige zu nennen (für einen ausführlichen Überblick vgl. Ditton 2000; Sammons 2002; Reynolds 2005; diverse Beiträge in Townsend 2007): In Verbindung mit veränderten empirischen Forschungs- und Evaluationsdesigns hat sich die Aufmerksamkeit auf das Geschehen im Unterricht als ausschlaggebender Größe für Schulerfolg verlagert. Neue statistische Verfahren für Mehrebenenanalysen haben zur Verfeinerung theoretischer Modellvorstellungen hinsichtlich der Struktur und der Produktionsfunktion der Schule beigetragen. Anstelle von Momentaufnahmen über die Wirksamkeit des Unterrichts- und Schulgeschehens werden vermehrt Längsschnittdaten erhoben. In Anbetracht der Kritik an Schulrankings auf der Basis von Rohdaten, die die unterschiedlichen Voraussetzungen der pädagogischen Arbeit in einzelnen Schulen ausblenden, soll die Schuleffektivität mit Hilfe sogenannter »value added«-Maße genauer bestimmt werden. Demnach ist eine Schule effektiv, wenn der Lernfortschritt größer bzw. die in Noten gemessene Leistungen besser ist als die Eingangsvoraussetzungen erwarten ließen – und wenn ihr dies auch in höherem Maße gelingt als anderen Schulen, die von Schüler/-innen mit vergleichbaren Ausgangsvoraussetzungen besucht wird. Wie im folgenden Zitat von der bekannten
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britischen Schuleffektivitätsforscherin Pamela Sammons prägnant zusammengefasst wird, zielt SER – anstelle der primären Beschäftigung mit Anliegen sozialer Gerechtigkeit – nunmehr allgemeiner darauf, den relativen Einfluss von Schülermerkmalen einerseits und ihrer Schulerfahrung andererseits auf den Bildungserfolg sichtbar zu machen: »School effectiveness research seeks to disentangle the complex links between the pupil’s dowry (the mix of experiences, prior attainments, and personal and family attributes) which any pupil brings to school, from those of their educational experiences at school and to explore the way these jointly influence their later educational attainment, progress and development. The main foci are: the impact of social institutions; characteristics that promote pupil’s outcomes; and the influence of contexts on outcomes. SER seeks to provide empirical evidence to assist the evaluation and critique of classroom practice and educational policy.« (Sammons 2002: 121)
Im Zitat klingt auch die politische Indienstnahme von SER im englischen Bildungssystem an. Dass diese in dem gesamten Text nicht weiter reflektiert wird ist ein verbreitetes Merkmal der SER/SIR-Literatur der 1990er Jahre.
2.3 Schuleffektivität als offizielle Politik und Gleichheitsziele: Fallbeispiel England Die meisten Wissenschaftler/-innen im Feld von SER sehen sich normativen schulpolitischen Zielen der Chancengleichheit verpflichtet. Mit der zunehmenden Nutzbarmachung von SER/SIR als Steuerungskonzept sind Gleichheitsziele jedoch in vielen Ländern vom Interesse an hohen Standards in den Grundlagenfächern, der Unterordnung öffentlicher Schulbildung unter die Ökonomie und Tendenzen zur Deregulierung und Privatisierung von der Agenda verdrängt worden. Vor dem Hintergrund der aktuellen Umstrukturierungen der Bildungssteuerung in den deutschen Bundesländern ist der Blick nach England besonders lehrreich. Hier wurde das Paradigma der Schuleffektivität früher und radikaler als in vielen anderen Ländern zur Grundlage tiefgreifender Umgestaltungen der Bildungswirklichkeit. SER/SIR wurde in staatlichen Körperschaften, die mit der Steuerung und Kontrolle des Erziehungssystems befasst waren, aufgegriffen und zum dominanten Ansatz in der Evaluation und Inspektion von
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Schulen und lokalen Schulbehörden, in der Lehrerfortbildung wie bei der Verteilung von Geldern für Forschung und Entwicklung. Diese vorbehaltlose Umarmung von SER/SIR durch die Politik steht – wie Roger Slee und Gaby Weiner (2001) hervorheben – in einem erstaunlichen Gegensatz zu den Grenzen des Genres hinsichtlich der Umsetzung größerer bildungspolitischer Ziele, welche in der Schuleffektivitätsliteratur konsistent transparent gemacht und erfrischend ehrlich diskutiert würden: »In the UK in particular, school effectiveness advocates were remarkably successful in both gaining public acceptance and entering the body of the state. Effectiveness discourses predominated, urging Fielding (1997) to describe the research as hegemonic in character and impact. As advocates joined major policy-making bodies in key government departments and agencies (e.g., Teacher Training Agency (T TA), Department for Education and Employment (DfEE), OFSTED), school effectiveness discourses have consumed in-service courses and influenced the allocation of research and development funding. This was despite the fact that school effectiveness researchers were often candid about their inability to realise some of the most ambitious methodological aims and claims of the movement and also about their difficulties in linking school effectiveness with school improvement – that is, in transforming so called ›failing‹ or ›bad‹ schools into more ›effective‹ or ›good‹ schools.« (Slee/Weiner 2001: 87)
In dem gegebenen politischen Rahmen entfaltet SER/SIR im Hinblick auf die Verwirklichung von Zielen der Inklusion, Gerechtigkeit und demokratischen Teilhabe eher kontraproduktive Wirkungen. In zahlreichen empirischen Studien werden v.a. folgende Problemfelder hervorgehoben: Viele Untersuchungen zeigen, dass die Neuausrichtung der Schulpraxis an durch den Staat gesetzte Leistungskriterien, die in einer Marktumgebung durch managerialistische Qualitätsstrategien koordiniert werden, einem kommerzialisierten Wertesystem Vorschub leisten. Menschen, pädagogische und organisatorische Praktiken und Beziehungsformen werden zunehmend daran gemessen und danach ausgewählt, wie viel sie zur Performanz und zum kommerziellen Erfolg der Schule beitragen. Schulen reagieren auf die Kopplung von Marktwettbewerb mit Verfahren des zentralen Qualitätsmanagements durch verstärkte Selektion beim Zugang zu Schulen entlang der Trennlinien sozio-ökonomischer Status, Geschlecht, Ethnizität und besonderer Lernbedürfnisse. Der Zwang, in einer Wettbewerbsumgebung zu überleben, zwingt die Schulen aber nicht nur dazu,
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ihre Kundschaft sorgfältig auszuwählen, sondern sich auch im Nachhinein von Kindern zu trennen, die die glatten Abläufe stören, Leistungen anderer beeinträchtigen und Eltern abschrecken. Dies zeigt sich deutlich in der Anfang der 1990er Jahre in die Höhe schnellenden Quote der Schulausschlüsse von v.a. schwarzen männlichen Jugendlichen mit afro-karibischem Hintergrund (vgl. Gillborn/Mirza 2000). Die Sorge um eine gute Position in den Schulrankings zwingt die Schulen auch zu ganz neuen Formen der internen Rationierung und Zuweisung von Betreuungs- und Unterrichtszeit – nicht nach Bedürfnissen der Kinder, sondern nach ökonomischen Nutzenkalkülen. Wie David Gillborn und Deborah Youdell (2000) eindrücklich zeigen, kümmern sich Schulen verstärkt um diejenigen Kinder und Jugendlichen, von denen Leistungssteigerungen erwartet werden, die den größten Ertrag für die Gesamtresultate der Schule mit sich bringen. Zu den »hoffnungslosen Fällen« gehören hauptsächlich Kinder aus sozio-ökonomisch marginalisierten schwarzen Bevölkerungsgruppen. Im Wechselspiel von elterlichem Schulwahlverhalten und Selektionspraktiken der Schulen hat sich in wenigen Jahren eine soziale Polarisierung und Hierarchisierung der Schulen und die Segregation unterschiedlicher sozialer Gruppen verstärkt. Unter den gegebenen Rahmenbedingungen werden auch Schulen mit einem ausgeprägten inklusiven Ethos gezwungen, letztlich sämtliches Handeln an ihrer Position in den Schulrankings zu orientieren. Selbst in solchen Schulen wird die Tendenz festgestellt, dass abhängig von ökonomischen Nutzenkalkülen, an bestimmten Punkten Benachteiligungen und Diskriminierungen in Kauf genommen werden (vgl. Gewirtz et al. 1995; Gewirtz 2002, 2003; Gillborn/Youdell 2000; Gomolla 2005). Eine inklusive Unterrichts- und Schulentwicklungspraxis wird zudem durch die international festzustellenden grundlegenden Veränderungen im Verständnis öffentlicher Schulbildung und der Arbeit von Lehrer/-innen behindert. Bemängelt wird v.a. die zu enge Definition von Bildungserfolg als Basiskompetenzen und Examensnoten, die der Arbeit in vielen Schulen mit hoher ethnischer und sprachlicher Heterogenität wenig gerecht wird. Festzustellen ist eine Rückkehr zu einer engen, traditionalistischen Pädagogik.7 Diese ist wenig geeignet, auf die unterschiedlichen 7 | Diese Prozesse lassen sich mit dem in der neoinstitutionalistischen Organisationsforschung entwickelten Konzept des Isomorphismus erklären. Gemeint sind Prozesse der Strukturangleichung von Organisationen, die in gleichen Um-
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Identitäten und sozio-kulturellen Erfahrungen einzugehen – auch als modellhafte soziale Lernerfahrung zur Vorbereitung auf das Leben in einer pluralen Gesellschaft und zur aktiven Teilhabe an demokratischen Prozessen. Bemängelt wird ferner, dass die zu enge Definition von Bildungserfolg als Basiskompetenzen und Examensnoten, der Arbeit in vielen Schulen mit hoher ethnischer und sprachlicher Heterogenität wenig gerecht wird. Auch solche Schulen, in denen Lehrkräfte, Eltern und Schüler/-innen oft Hervorragendes leisten, werden durch die bestehenden Verfahren des Qualitätsmanagements stigmatisiert (vgl. Hatcher 1998; Morley/Rassool 1999; Gewirtz 2002, 2003; Wrigley 2003). Durch die in England gegebene Kombination von Steuerung durch Staat und Markt werden Formen der partnerschaftlichen Zusammenarbeit von Behörden und Schulen, zwischen und innerhalb einzelner Schulen zunehmend eingeschränkt. Die momentane Performanzkultur – so das Fazit vieler Studien – führt zu reflexartigen Antworten auf äußere Anforderungen an Wandel, die für authentische und nachhaltige Schulentwicklung eher schädlich sind. Freiräume für Initiative und Responsivität werden faktisch eher begrenzt als ausgeweitet (vgl. Wrigley 2003). Seit den 1990er Jahren finden sich forciert durch die Politik internationaler Organisationen wie der OECD und der Europäischen Union in einigen Ländern neue Initiativen, um Aspekte der sprachlichen und soziokulturellen Heterogenität und Ziele der Gleichstellung in die Qualitätsentwicklung in Bildungssystem und Schulen zu integrieren. Diesen Weg beschritt auch die bis zum Frühjahr 2010 amtierende britische Labourregierung, die sich zu dem Ziel bekannte, neben einer Verbesserung der Standards auch Ziele der sozialen Inklusion und Kohäsion zu erreichen. Von den managerialistischen Qualitätsstrategien blieben die grundlegenden Definitionen, was als Bildungserfolg zählt, die hochgradig selektiven Schulstrukturen, die Markt- und Wettbewerbsmechanismen und die autoritären Top-Down-Systeme der Qualitätskontrolle, freilich systematisch ausgeblendet. Solche strukturellen Widersprüche sind als eine wichtige
welten operieren – entweder durch Zwang, normativen Druck oder Nachahmung besonders erfolgreicher Modelle. Dieser zuletzt genannte Typ des mimetischen Isomorphismus für Organisationen in besonders instabilen Umwelten charakteristisch, wie sie unter Markt- und Wettbewerbsbedingungen gegeben sind (vgl. Hasse/Krücken 1999: 16ff.).
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Ursache für die relative Wirkungslosigkeit dieser Maßnahmen anzusehen (vgl. Tikly/Osler/Hill 2005).8 Diese Tendenzen haben in den angelsächsischen Ländern umfangreiche Kontroversen über das Effektivitätsdenken im Bildungsbereich hervorgerufen. Hauptstränge der Kritik setzen zum einen an den epistemologischen und methodischen Prämissen der Forschung an. Zum anderen gehen zahlreiche Studien unter Rückbindung der Schuleffektivitätsforschung an ihren ökonomischen, politischen, kulturellen und sozialen Kontext der Frage nach, wie SER/SIR seit Ende des 20. Jahrhunderts an der Formung einer neuen Ordnung von Schule und ihrer Klientel mitwirkt. In den folgenden Abschnitten werden einige zentrale Argumentationslinien zusammengefasst.
3 E PISTEMOLOGISCHE UND ME THODISCHE P R ÄMISSEN Bob Lingard, Jim Ladwig und Allan Luke (1998: 85) verdeutlichen den Konservatismus der Schuleffektivitätsforschung in Anlehnung an den Philosophen Jean François Lyotard mit einem Bild des argentinischen Dichters Jorge Luis Borges: »Ein Kaiser will eine absolut präzise Karte des Reiches erstellen lassen. Das Resultat ist der Ruin des Landes: Die gesamte Bevölkerung widmet ihre ganze Energie der Kartographie.« (Lyotard 1994: 162)
Durch die mangelnde Auseinandersetzung mit grundlegenderen Fragen über die Ziele von Schule, so Lingard und Kollegen (1998), käme die SER/ SIR über tautologische Beschreibungen etablierter Praktiken kaum hinaus (vgl. auch Lauder et al. 1998; Heid 2000). Kritische Stimmen bemängeln 8 | Konzeptionell anders ausgerichtet und unter anderen bildungspolitischen Rahmenvorgaben werden auch im Schweizer Kanton Zürich verankerte Schulentwicklungsprogramm ›Qualität in multikulturellen Schulen‹ neue Qualitätsstrategien als strategischer Rahmen genutzt, um die schulischen Strukturen, Prozesse und Ergebnisse gezielt unter Zielen der Inklusion und Gleichstellung zu entwickeln. Für einen ausführlichen Vergleich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Initiativen gegen Bildungsungleichheit in Zürich und England (vgl. Gomolla 2005).
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v.a. den Reduktionismus dieses Genres. So betrachtet etwa Michael Fielding (1997) die frühe SER als notwendiges Korrektiv der in den 1970er Jahren überwiegenden pessimistischen und z.T. deterministischen Betonung der Bedeutung sozialer und politischer Faktoren auf den Schulerfolg. Der Abzug der Aufmerksamkeit von den strukturellen Hindernissen der Armut und Ungleichheit sei aber von Beginn an Teil der spezifischen Kurzsichtigkeit des Genres gewesen. Ein Schlüsselproblem ist die Präsentation statistischer Korrelationen – z.B. zwischen Testergebnissen und Abwesenheitsquoten als Outcomes der Schule und Prozessvariablen bzgl. der Lernbedingungen, Organisation der Schule und der weiteren Lernumgebung der Schule – als »Faktoren«. Um Aussagen über Schuleffektivität generalisieren zu können, wird dabei ein Kausalzusammenhang unterstellt. Robert Willmott (1999: 258f.) zufolge rekurrieren die Behauptung »B wurde verursacht durch A« auf der Basis beobachteter Regelmäßigkeiten zwischen beiden und die Vorstellung, die Wissensentwicklung schreite durch konstante Konjunktionen von Ereignissen voran, im Feld von SER/SIR jedoch in unzulässiger Weise auf den humeschen Kausalitätsbegriff. Demnach drücken sich Kausalzusammenhänge in beobachtbaren, regelmäßigen Konjunktionen von Ereignissen aus. Echte wissenschaftliche Erklärungen müssten jedoch hinter die Etablierung beobachteter Regelmäßigkeiten treten und diese Zusammenhänge zunächst einmal konstituieren. Durch das enge Spektrum messbarer Ergebnisse und die Isolierung von Variablen, die in der Wirklichkeit variable und komplexe Beziehungen berühren, so auch Roger Slee und Gaby Weiner (2001: 88), werde deren Bedeutung im Blick der Forschung über Schuleffektivität neutralisiert. Ein aktuelles Beispiel aus der deutschen PISA-Studie betrifft die festgestellten konsistenten Korrelationen unterschiedlicher Familienhintergründe von getesteten Jugendlichen mit Migrationshintergrund (beide Eltern, ein Elternteil oder kein Elternteil in Deutschland geboren) mit dem erreichten Kompetenzniveau der Schüler/innen. Diese erwecken den Eindruck, die Ursachen für Kompetenzerwerb und Bildungserfolg lägen in den Familien. Die Interaktionen zwischen Schule und Familien – etwa Zuschreibungen und Reaktionen darauf, das Wissen der Lehrkräfte über den Familienstatus und daraus abgeleiteten Prognosen für Bildungschancen, sowie pädagogisches oder administratives Handeln – werden aber nicht weiter analysiert. Dies wären aber relevante Kausalzusammenhänge, die ernstzunehmende Erklärungen ermöglichen würden, wenn sie untersucht würden (vgl. Hamburger 2005).
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Wie im vorangegangenen Abschnitt schon angeklungen, wurden die wiederholten Appelle, komplexere Theorien der Schulwirksamkeit zu entwickeln, bisher zumeist in die Aufforderung übersetzt, die mathematischen Instrumente zu verfeinern. Trotz einer gewissen Erweiterung der Perspektiven auf das Zusammenwirken von Schul- und sozialen Herkunftsmerkmalen und einer v.a. in jüngster Zeit stärkeren Gewichtung von Kontextfaktoren hat sich an der theoretischen Struktur jedoch wenig verändert (vgl. kritisch Bogotch et al. 2007; Thrupp et al. 2007). Aufschlussreich ist daher die Betrachtung der Leerstellen und Auslassungen im theoretischen Universum der Schuleffektivitätsforschung.
3.1 Effektiv für was? Bogotch, Mirón und Biesta (2007; vgl. auch Biesta 2007) zeigen aus einer bildungstheoretischen Perspektive, dass der im positivistischen Forschungsansatz angelegte Reduktionismus der SER die Prozesse im Innern der »black box-Schule« dem Wortsinn getreu tatsächlich weitgehend im Dunkeln lassen. Im Anschluss an John Dewey, George Herbert Mead und die kulturhistorisch ausgerichtete Tätigkeitstheorie vertreten sie ein Verständnis von Bildung und Erziehung als symbolisch vermittelter Interaktion, in der es v.a. um die Konstruktion von Bedeutungen gehe. Kausalitätsannahmen seien adäquat, um Beziehungen in der physikalischen Welt zu erklären. Jegliche Wirkung von Unterricht auf Lernen hänge jedoch davon ab, wie und in welchem Ausmaß die Antworten von Schüler/-innen organisiert werden könnten. Dabei seien die Antworten und die Konstruktion von Bedeutungen grundsätzlich idiosynkratisch und stellten eine genuin soziale Aktivität dar: »In order to understand and make sense of the interaction between teaching and learning, it is, therefore, important to see that meaning can only be communicated through participation and, more specifically, participation in social practices which embody particular meanings.« (Bogotch/Mirón/Biesta 2007: 98f.)
Dies gilt laut Bogotch et al. nicht nur für den Unterricht. Auch andere Faktoren wie Gruppengröße, Führungsstil oder sogar die Architektur der Schule könnten das Lernen nur so weit beeinflussen, wie Schüler/-innen die Bedeutungen und Lerngelegenheiten, die ihnen angeboten werden, interpretierten. Damit sei nicht gesagt, der Unterricht u.a. Faktoren der
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Schulsituation hätten überhaupt keinen Einfluss auf das Lernen – aber dass Unterrichtsmerkmale nicht als Kausalfaktoren und Lehr-Lern-Beziehungen nicht als Kausalbeziehungen verstanden werden könnten. Diese Perspektive wirft für die Autoren grundsätzliche Fragen über die Bedeutung des Begriffs der Effektivität auf. So werden etwa Vorstellungen von »gutem« oder »effektivem Unterricht« als Unterricht, der Lernen möglichst umfassend kontrolliert, fragwürdig. Auch wird deutlich, dass Effektivität ein instrumenteller, an sich inhaltsleerer Wert ist: »It is a notion which says something about the value of means and instruments, of ways of achieving particular ends, but is neutral with respect to the ends themselves. The point is that when we talk about the effectiveness of certain processes or activities, there is always a further question to be asked: effective for what? This means that a phrase like ›effective teaching‹ or even the more general ideas of ›effective schooling‹ and ›school effectiveness‹ do not mean anything at all as long as it is not specified what it is that the teaching or schooling aims to achieve.« (Bogotch/Mirón/Biesta 2007, 99)
3.2 Effektiv für wen? Viele Autorinnen und Autoren kritisieren, dass der positivistische Forschungsansatz und die Reduktion auf ein enges Set messbarer Variablen, auf denen die SER/SIR basiere, zwar durch Konkretheit, scheinbare Wertfreiheit, Objektivität und direktem Handlungsbezug bestechen. Aus dem Blick geraten jedoch v.a. jegliche Fragen sozialer Macht. Insofern betrachtet Michael Fielding (1997) die Art und Weise, in der im Rahmen von SER/ SIR Subjekt und Objekt des Forschungsprozesses konstituiert werden, als »deeply political process […] which takes what is essentially a political problem, removes it from the realm of political discourse, recasts it in quasi-technical language and hands it over to specialists in the area […] school effectiveness becomes dislocated from considerations about the nature and resourcing of the good life and instead becomes preoccupied with the technical and measurable within the safe confines of a severely constrained arena of debate.« (Fielding 1997: 143)
In ihrer erhellenden Analyse der theoretischen Struktur der SER fassen Hugh Lauder, Ian Jamieson und Felicity Wikeley (1998: 58f.) die theoreti-
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schen Leerstellen und Auslassungen der Schuleffektivitätsforschung unter drei Aspekte zusammen, die eher Antworten auf die Frage »Effektiv für wen?« darstellen.
Die atomistische Sicht von Schuleffektivität Ein Teil der Schwierigkeiten, Wissen über Schuleffektivität zu transferieren, resultiert Lauder et al. (1998) zufolge daraus, dass Schulen keine Inseln seien, sondern Teil eines Systems. Erfolg oder Versagen hänge davon ab, wie sich auch andere Elemente des Systems verhalten und ändern. Im englischen Kontext bestehe das Problem v.a. darin, dass der Einfluss des schulischen Quasi-Marktes auf die Resultate der Schulen, v.a. in denen, die als »failing schools« etikettiert werden, in der SER ausgeblendet bliebe (vgl. Tomlinson 1998).
Die mangelnde Konzeptualisierung von Aspekten des Sozialen, Kulturellen und Politischen als Dimensionen von Unterricht und Schule Aspekte des Sozialen, Kulturellen und Politischen als Dimensionen von Unterricht und Schule werden im SER/SIR-Diskurs in vielerlei Hinsicht ausgeblendet, bzw. wie noch zu zeigen ist, neu konfiguriert. Beispielsweise Fragen der Konstituierung wertvollen Wissens – und wie der Beitrag dieses Wissens an sozialen Prozessen evaluiert werden kann – spielen jenseits von Humankapitaltheorien in der Literatur keine Rolle. Lauder et al. (1998) zufolge hat die SER/SIR insbesondere die wesentliche Aufgabe, die Bedeutung von sozialer Klassenzugehörigkeit, rassistischen und patriarchalen Strukturen und Kulturen für den Schulerfolg zu theoretisieren, nicht aufgenommen. Auch heute noch gilt die Feststellung des australischen Bildungsforschers Lawrence Angus (1993), dass im Schuleffektivitätsparadigma jegliche sozialen Bezüge zum ›Hintergrund-Rauschen‹ würden, das in Forschung und Praxis bestenfalls professionell kontrolliert werden könne (z.B. durch die statistische Berücksichtigung unterschiedlicher Schüler-Inputs bei Vergleichen zwischen Schulen), aber nicht mehr den eigentlichen Gegenstand der pädagogischen Aufmerksamkeit bilde: »Family background, social class, any notion of context, are typically regarded as ›noise‹ – as ›outside‹ background factors which must be controlled for and then stripped away so that the researcher can concentrate on the important domain of school factors. […] sexism, racism, and any other social and educational disad-
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vantages and conflicts that surround and pervade schooling […] may be remotely acknowledged, but they are sanitised in school effectiveness research, reduced to distant ›home background‹ and regarded merely as quality of input.« (Angus 1993: 341ff.)
Etwa die Idee, dass Schulresultate auch von Schüler-Subkulturen beeinflusst sind, die Teil weiterer externer Subkulturen sind, kann in der SER nicht aufgenommen werden. Nach der vielfältigen, komplexen und manchmal widersprüchlichen Art und Weise, in der Merkmale des Geschlechts, der Ethnizität, sozialen Schichtzugehörigkeit, sexuellen Orientierung, Alter und Behinderung im pädagogischen Alltag miteinander in Beziehung treten und welche breiteren sozialen Machtverhältnissen sich in diesen Prozessen ausdrücken, wird kaum gefragt. Dadurch bleiben die »Schlüsselfaktoren« für »guten Unterricht« oder »gute Schulen« (z.B. »hohe Erwartungen« inhaltsleer. Durch die implizite Konstruktion eines universellen ›Lernenden‹, so auch Louise Morley und Naz Rassool (1999; Rassool/Morley 2000), versperre der Schuleffektivitätsansatz den Blick auf die komplexen und widersprüchlichen Identitätsstrategien, mit denen sich Schüler/-innen aber auch die Lehrpersonen im Schulalltag positionieren.9 In den Worten von Naz Rassool und Louise Morley: »By representing pupils as cognitive entities, issues relating to sexualities, gender, ›race‹ and coercive power relations are excluded. Affective factors such as interpersonal processes, self-esteem, confidence and a positive sense of selfworth are notoriously difficult to measure. While literacy and numeracy are of central importance as indicators of school effectiveness, little attention is paid to the part that anxiety, alienation, fear and low self-esteem play in cognitive development.« (Rassool/Morley 2000: 251)
Um die Bedeutung dieser Beziehungen für den Schulerfolg erfassen zu können und geeignete professionelle Handlungsansätze zu entwickeln, bieten v.a. ethnographische Studien, die qualitativ ausgerichtet sind, einen 9 | Eine symptomatische Folge ist etwa die sich in den 1990er Jahren in England und im Gefolge von PISA u.a. großflächigen Schulleistungsstudien im vergangenen Jahrzehnt in Deutschland zuspitzende Verengung der Thematisierung von Genderfragen in der Schule auf die moralische Entrüstung über die schlechteren Leistungen von Jungen.
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reichen Wissensfundus. Damit führt die mangelnde Konzeptualisierung von Aspekten der sozialen Differenz innerhalb der SER/SIR auch zu Fragen nach dem Verhältnis von quantitativen und qualitativen Methoden. Dies verdeutlicht z.B. Kamala Nehaul mit ihrer Studie »The Schooling of Children of Carribbean Heritage« (1996). Gestützt auf ethnographische Untersuchungen in Grundschulen stellt sie die Unterschiede zwischen dem »de-rassialisierten« Modell einer effektiven Schule und Handlungsansätzen, die explizit auf den Abbau von Rassismus und Diskriminierung zielen, heraus. Nehaul identifiziert zwei Schlüsselfaktoren für gute Leistungen, die mit der Schuleffektivitätsforschung übereinstimmen: zum einen hohe Erwartungen an die akademischen Leistungen und an das Verhalten, die ethnische Minoritäten-Schüler/-innen mit anderen Gruppen gleichstellen; zum anderen eine stimulierende Lernumgebung, in der klare Unterrichtsziele verfolgt und unterschiedliche individuelle Lernbedürfnisse berücksichtigt werden. Aber für sich allein genommen, so Nehaul, reichen diese Faktoren nicht aus. 19 von den 25 schwarzen Kindern in ihrer Fallstudie hatten negative Schulerfahrungen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft gemacht, die ihre Schulleistungen negativ beeinflussten. Nehaul fordert, dass die Schule zusätzlich zu den vorherrschenden Qualitätskriterien für schwarze Kinder ein Ort sein müsse, an dem allgemein gute Beziehungen zwischen den Schüler/-innen und den Lehrpersonen gewährleistet seien und das Curriculum von einem hohen antirassistischen Ethos durchzogen sei: »no negative encounters in interpersonal relations with teachers or pupils. The curriculum is permeated with a high-profile antiracist ethos and, as a result, pupils learn how to handle and counteract the negative racist encounters experienced outside school. There is trust between parents and teachers, and a willingness to talk openly about children’s ›race‹ and background experiences. In these ›ideal‹ schools, the chance that pupils of Caribbean heritage, as a group, will underachieve is likely to be minimal« (Nehaul 1996, 187).
Die Wirkungen des breiteren ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Kontextes auf schulische Prozesse und ihre Ergebnisse werden Lauder et al. (1998: 59) zufolge jedoch auch verfehlt, indem der sich wandelnde Charakter der Arbeit der Lehrkräfte u.a. schulischer Handlungsträger systematisch ausgeblendet werde: Welche Konsequenzen hat der Wechsel zu einem Marktsystem für schulische Werte und Praktiken? Wie
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verändert sich die Rolle und professionelle Ethik von Lehrer/-innen mit der Verlagerung von kollegialen zu hierarchischen Formen der Entscheidung und der Betonung von Leadership? Welche Konsequenzen hat die zunehmende Standardisierung nicht nur der Curricula, sondern auch der Lehrmethoden – z.T. auf der Basis internationaler Vergleichsstudien? Wie wirken sich diese extern eingeführten Veränderungen auf die Leistungen von Lehrer/-innen aus und wie reagieren Schulen auf diese Änderungen politischer Vorgaben? Solche Fragen spielen im SER/SIR-Diskurs kaum eine Rolle (vgl. auch Gleeson/Husbands 2001).
Das kontrafaktische Problem Der Fokus der SER/SIR liegt auf der Frage, ob Schulen Bildungserfolg steigern können. Darüber hinausgehende Beurteilungen, ob das gegenwärtige System mit seinen vorherrschenden Werten und Praktiken der beste Weg ist, um Leistungen zu steigern, können, so Lauder, Jamieson und Wilkeley (1998), von den theoretischen Kernannahmen des Programms nicht mehr aufgenommen werden. Die bisherigen Ausführungen legen nahe, dass es Indikatoren für Performanz, Effizienz oder Effektivität von Schulen, die gegenüber sozialen Strukturen und Machtverhältnissen Neutralität oder Universalität beanspruchen könnten, nicht geben kann. Die für die SER/SIR charakteristische Art der Herstellung von Wissen und die gewählten Instrumente, um die Leistungen von Heranwachsenden, Lehrkräften und Schulen zu messen, sind von Neutralität weit entfernt. Sie erweisen sich bei genauerer Betrachtung eher als Bündel normativer Annahmen und Vorschreibungen und eröffnen einen Schauplatz auf dem – durch den positivistischen Forschungsansatz wirksam abgeschirmt – grundlegende politische Fragen über die gesellschaftlichen Funktionen von Schule; ihre Positionierung zu anderen Feldern staatlichen Handelns und zu Schulgemeinden; ihre Inhalte und Arbeitsweisen; was als »Bildungskultur« zählt und zählen sollte; wer daran partizipieren und davon profitieren sollte und welche ihrer vielfältigen kulturellen Repräsentationen und Produktionen genutzt werden, um sie zu evaluieren, neu verhandelt werden. Lingard et al. (1998) schlagen daher vor, das Paradigma der SER/SIR, wie den neuen ökonomischen Rationalismus im Bildungssystem, generell als Artikulationen eines partikularen kulturellen und politischen Standpunktes zu betrachten:
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»They are in and of themselves articulations of a particular cultural standpoint, a now dominant set of assumptions, discourses and beliefs. In this light, perhaps our argument with economic rationlism in education is a matter of, among other things, cultural politics, a matter of disputed epistemic standpoints about what might count as an educational culture, who should participate in and benefit from that culture, and what the singns, indicators, and markings of such a culture might be.« (Lingard et al. 1998: 84; Hervorhebung MG)
Um zu verstehen, wie der Schuleffektivitätsansatz seit Ende des 20. Jahrhunderts an der Formung einer neuen Ordnung von Schule und ihrer Klientel mitgewirkt hat bzw. mitwirkt, ist der breitere ökonomische, politische, soziale und kulturelle Kontext zu betrachten, in dem er geprägt wurde und Bedeutung erlangte.
4 S CHULEFFEK TIVITÄT ALS » CULTUR AL POLITICS « Die Schuleffektivitätsliteratur in ihrer heutigen Form markiert die Konvergenz von zwei historischen Entwicklungen – von (1) Diskursen über die pädagogische und institutionelle Performanz von Schulen und (2) dem korporativen Managerialismus10 als dominantem Ansatz der Rekonstruktion der öffentlichen Schule im Kontext breiterer sozialstaatlicher Veränderungsprozesse. Beide Phänomene sind nicht neu, sondern weisen eine lange Geschichte in institutionellen Traditionen und Praktiken auf. Die schlichte Schlussfolgerung lautet jedoch, dass das Schuleffektivitätsden10 | John Clarke (2003) zufolge ist »Managerialismus« Teil eines ökonomischen Diskurses, in dem öffentliche, politische und staatliche Entscheidungen mittels einer universellen Logik der Kostenkalkulation und dem Hinweis auf die Universalität/Überlegenheit des Marktes als Mechanismus zur Entscheidungsfindung in ökonomische Sachzwänge umgedeutet werden: »In der Tat verkörpert Managerialismus die Kostenkalkulation in seiner Verpflichtung zu einer rationalen, schonungslosen, geschäftsmäßigen Sicht auf institutionelle und politische Entscheidungen in besonderer Weise. Aber Managerialismus fügt der Macht des ökonomischen Diskurses weitere Legitimationsquellen zu. […] er steht auch für den Versuch, die widerstreitenden Ansprüche der institutionellen und politischen Macht aufzulösen.« (Ebd.: 46f.; vgl. auch Clarke/Newman 1997; Gewirtz 2002, 2003).
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ken in seiner heute nicht nur in den angelsächsischen Ländern vorherrschenden Form, ein Artefakt des neuen Managerialismus ist.
4.1 Diskurse über die Performanz von Schulen In historischer Perspektive lässt sich der Schuleffektivitätsdiskurs als Fortsetzung der industriellen und technischen Versuche, Curriculum und Unterricht zu quantifizieren, betrachten. Dies umfasst tayloristische Versuche der 1930er Jahre, die Schulen als Fabriken und Farmen behandeln, um maximale Produkterträge zu erwirtschaften, wie die nach dem 2. Weltkrieg aufgekommenen humankapitaltheoretische Ansätze, die darauf zielen, den Ertrag von Bildungsinvestitionen in entwickelten und gerade industrialisierten Ländern zu maximieren (vgl. Bellmann 2010; Herzog 2010; Waldow 2010). Historisch beispiellos ist jedoch die in den gegenwärtigen Politiken der Deregulierung, Dezentralisierung und Output-/ Performanzorientierung angelegte neue Epistemologie des lokalen Selbstmanagements und der Selbstüberwachung. Im Endeffekt sollen Schulen Technologien eines institutionellen Selbst entwickeln, wodurch »Steuerung aus der Distanz« möglich wird. Anders als das auf direkte zentrale Kontrolle setzende technokratische fordistische Steuerungsmodell basiert das neue toyotistische betriebswirtschaftliche Modell auf Selbstmonitoring, lokaler Selbststeuerung, lokaler Berichterstattung und Techniken der diskursiven Selbstrekonstruktion – bei zentralen Zuständigkeiten, die kein sichtbares Zentrum der Macht mehr haben. Diese Prozesse werden v.a. aus der Perspektive der auf die späten Arbeiten Michel Foucaults zurückgehenden Gouvernementalitätstheorie in den letzten Jahren in den Blick gerückt (vgl. Bröckling et al. 2000; Lehmann-Rommel 2004; Masschelein/ Simons 2005). In diesem Kontext vollzieht sich, so Lingard et al. (1998: 87) eine sichtbare Restrukturierung von Fragen über Gleichheit und Bildungschancen. Durch die Wissensformen und Praktiken, die sich mit dem Paradigma der Schuleffektivität verbinden, werden Schüler/-innen aus sozial marginalisierten bzw. sogenannten »Risikogruppen/-gemeinden« auf historisch neue Weise als »Belastung« der Schulen positioniert. Dies kann sowohl dadurch geschehen, dass sie primär als Gefährdung der schulischen Gesamtschulleistung, der Position in Schulrankings oder einer guten Reputation der Schule bei Eltern und in der breiteren Öffentlichkeit gesehen werden; aber auch indem sie zum Ansatzpunkt für finanzielle Zuschüsse
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auf der Basis des Prozentanteils von »förderfähiger equity-Klientel« werden. In beiden Fällen befördert der dem Schuleffektivitätsparadigma innewohnende methodologische Individualismus eine Wegbewegung von sozio-kulturellen Erklärungen von Schülerleistung als Errungenschaften der sozialen Bewegungen der späten 1960er bis frühen 1980er Jahre und damit eine Rückkehr des individuell defizitären Subjekts. Lingard et al. (ebd.) folgen Lyotard (1994), indem sie die vorrangige Beschäftigung mit messbaren Ergebnissen in den Kontext der Performativität als allgemeinem kulturellen Prinzip der Postmoderne stellen. Die Performanzorientierung passe zu einer Kultur, in der »theoretische Großerzählungen« ihre Legitimität verloren und einem »eiligen Empirismus« (ebd.: 153) Platz gemacht hätten. Die Soziologin Anna Yeatmann charakterisiert die Performativität des postmodernen Staats als Prinzip selektiver Schließung in Bezug auf die Informationsflut und soziale Komplexität – v.a. in der Konfrontation mit den offenen Politiken von »voice« und Repräsentation und sozialen Bewegungen (z.B. Feminismus, Post-Kolonialismus), die damit eingedämmt werden sollen (vgl. Yeatman 1994, 117; zit.n. Lingard et al. 1998: 87). Die zu neuen Techniken der Gouvernementalität passende Ungläubigkeit gegenüber jeglicher pädagogischen Moral oder Erziehungsphilosophie schaffe, so Lingard et al. (ebd.) im Endeffekt jedoch eine Kultur und eine Narration in und aus sich selbst: Schuleffektivität basiere auf der Narration über den Erfolg technokratischer Quantifizierung: »School effectiveness research is attractive in this way precisely because of ist refusal of grand narratives, its suspension of normative cultural assumptions, and because it refuses to profess an epistemological standpoint or moral position. Such reserach resonates with the new techniques of governmentality. But, as Lyotard would be the first to insist, this government incredulity towards pedagogical morality and educational philosophy in effect constitutes a culture and a narrative in and of itself […] The school effectiveness literature is founded on a narrative about the success of technocratic quantification.« (Lingard et al. 1998: 87)
4.2 Der Staat und der politische Kontext von Schuleffektivität In der Literatur zu den Zusammenhängen von Globalisierung, Nationalstaat und Bildung finden sich dichotome Zugänge vom belagerten oder trotzigen Nationalstaat in Beziehung zu den Strömen der Globalisierung
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(vgl. diverse Beiträge in Amos et al. 2002 und in Amos/Radtke 2007). Zahlreiche Autorinnen und Autoren betonen die wechselseitigen, konstitutiven Beziehungen von Nationalstaaten mit entstehenden globalen Strukturen und Prozessen. Dabei wird den Nationalstaaten eine Schlüsselrolle in der Vermittlung und Regulierung von Globalisierung, sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene, beigemessen. Innerhalb der Nationalstaaten werden Konzepte des New Public Management und des korporativer Managagerialismus unter Einbezug privater Anbieter zum zentralen Prinzip der Umstrukturierung. Als Ersatz für die Keynesianischen Bürokratien soll damit besser auf äußeren Wandel reagiert und mehr Flexibilität, lokale Responsivität, gesteigerte Effizienz und Innovation ermöglicht werden. Dabei wird der internationale »Wettbewerbscharakter« der vermeintlich nationalen Wirtschaft zur neuen »meta-policy«, so Anna Yeatman (1994), die die Parameter setzt für Ausmaß und Art der Vorkehrungen in allen Feldern öffentlicher Politik, einschließlich der Schule. Die Betonung von Rechenschaftslegung, Ausgabenbegrenzung und Bewegung zu mehr Beiträgen der Nutzer/-innen öffentlicher Dienstleistungen sei das Ergebnis. Betont würden Fragen der Maximierung von Outcomes bei Minimierung von Input statt emanzipatorischer Erzählungen. »The postmodern state adopts a technicist modus operandi against a backdrop of ›delegitimation‹ and proliferating difference in which the emphasis is upon ›maximizing output‹ and ›minimizing input‹ rather than narratives of emancipation.« (Lingard et al. 1998: 89)
Die Frage lautet nicht länger: »Ist das wahr? sondern: Wozu dient es?«, kombiniert mit der Sorge »Ist es effizient?« (Lyotard 1994: 150). Im Kontext dieser strukturellen und prozeduralen Rekonstruktion der Nationalstaaten findet der Schuleffektivitätsansatz laut Lingard et al. (1998: 88) einen neuen fruchtbaren Boden. Er bietet eine Sicht für staatliches Handeln, die akzeptiert, dass Schulen als technische Systeme manipulierbar sind und einen Unterschied machen können, zumindest in der Leistung, wenn auch nicht im Sinn von Chancen – Anliegen, die von diesem Policy-Regime größtenteils ausradiert würden. Die Schuleffektivitätsforschung passe zum technizistischen Charakter der staatlichen Steuerung durch Performanzindikatoren – vor dem Hintergrund reduzierter politischer Erwartungen von Individuen, die als verantwortlich für ihre
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eigene Performanz und Wohlergehen angesehen werden. Auch hier vollzieht sich Lingard et al. zufolge die Wiederkehr des einzelnen defizitären Subjekts. Sowohl Schulen als auch Schüler/-innen würden losgelöst aus ihren sozialen Kontexten betrachtet und als einheitliche »industrielle Maschinen« konzipiert. Zugleich sorge das Schuleffektivitätsparadigma dafür, dass politische Fragen über die Ziele von Schule durch technische ersetzt würden.
5. A USBLICK Auch in der erziehungswissenschaftlichen und bildungssoziologischen Forschung in Deutschland haben in den letzten Jahren grundlegendere Auseinandersetzungen mit dem Paradigma der Schuleffektivität unter Gesichtspunkten der Pluralität, Gerechtigkeit und demokratischen Teilhabe begonnen. Die Fragen • nach den Implikationen und Folgen des Paradigmas der Schuleffektivität auf den pädagogischen Umgang mit Aspekten der Differenz, Heterogenität und Gleichheit und auf die Bildungschancen Angehöriger minorisierter Gruppen; • wie im Rahmen von Schuleffektivität Fragen des Politischen, Sozialen und Kulturellen als Dimensionen von Schule neu konfiguriert und welche Bedeutung dies für politische und pädagogische Strategien einer inklusiven Gestaltung von Unterricht und Schule hat; • welche Ambivalenzen, Leerstellen, Engführungen und Widersprüche der Schuleffektivitätsdiskurs unter Gesichtspunkten der Differenz und demokratischen Teilhabe aufweist und • welche Ansatzpunkte und Perspektiven für eine Schulentwicklungsforschung, -politik und -praxis, die die Anerkennung von Pluralität und Zielen der sozialen Gerechtigkeit und demokratischen Partizipation als Qualitätsmerkmale öffentlicher Schulbildung ins Zentrum stellt, sich identifizieren lassen • sind auch mit Bezug auf den deutschen Kontext noch grundlegend aufzuarbeiten. Um das Potential der SER/SIR bewahren und weiterentwickeln zu können wird es v.a. darauf ankommen, die Forschung und Schulentwicklungspraxis wieder mit jenen Forschungszweigen zu verbinden, die den Beitrag von Schulen an der Hervorbringung oder
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Modifizierung sozialer Ungleichheiten, aber auch die Auswirkungen sozialer Fragmentierungsprozesse, des Wandels von Identitäten oder der Dynamik globaler, nationaler und lokaler Prozesse auf die Schule aus breiteren genuin sozial- und erziehungswissenschaftlich fundierten Perspektiven erfassen.
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Inklusive Schulen entwickeln Wie helfen Daten aus Lernstandserhebungen? Eva Arnold
1 E INLEITUNG Um das Leitziel Inklusion zu erreichen, genügt es nicht, organisatorische Vorkehrungen zu treffen, die verhindern, dass Kinder und Jugendliche aufgrund bestimmter sozialer Merkmale segregiert und ausgegrenzt werden. Inklusion erfordert den Wandel von Einstellungen und Haltungen auf Seiten von Schulleitungen und Lehrkräften, aber auch ganz konkrete Veränderungen im Schulleben und im Unterricht. Inklusion ist deshalb nicht nur eine schulpolitische Aufgabe, sondern eine Herausforderung für die Schul- und Unterrichtsentwicklung auf der Ebene von Einzelschulen. Inklusion als Entwicklungsaufgabe jeder einzelnen Schule zu befördern, ist das Ziel von Publikationen wie dem »Index für Inklusion« (Boban/Hinz 2003). Hier geht es darum, Schulleitungen und Lehrkräfte dafür zu sensibilisieren, Barrieren und Ressourcen für das Lernen und die Teilhabe aller Kinder zu erkennen, inklusive Lernarrangements und Unterstützung für Kinder mit vielfältigen Lernvoraussetzungen zu organisieren und inklusive Werte zu verankern. Die Prozesse, mit denen diese Ziele angestrebt werden, müssen, wie Boban und Hinz betonen, in jeder Schule individuell geplant und umgesetzt werden. Der »Index für Inklusion« versteht sich als Hilfestellung auf diesem Weg. Da Inklusion jedoch kein »Sonderprogramm« für ausgewählte Schulen sein soll, sondern ein Prinzip, das möglichst flächendeckend umzusetzen ist, stellt sich die Frage, welchen Beitrag Instrumente der Schulentwicklung leisten, die nicht speziell für diese Thematik entwickelt wurden.
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Dieser Frage wird in diesem Beitrag an einem Beispiel nachgegangen, das in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat: »Lernstandserhebungen« werden zunehmend häufig als Ausgangspunkt für die Entwicklungsprozesse in Einzelschulen genutzt. Das bedeutet, dass in einer größeren Zahl von Schulen Schulleistungstests in bestimmten Fächern und Jahrgängen durchgeführt werden, deren Ergebnisse den teilnehmenden Schulen rückgemeldet werden. Die Schulen sollen auf dieser Basis über Aktivitäten der Schul- und Unterrichtsentwicklung entscheiden. Welche Chancen bietet dieses Vorgehen, um inklusive Schulen zu entwickeln? Welche Risiken sind damit verbunden? Grundlage für die folgenden Ausführungen sind ausgewählte Ergebnisse einer Evaluationsstudie zum Bremer Schulentwicklungsprojekt »Schule macht sich stark – Ein Aktionsprogramm für Schulen in kritischer Lage« (Senator für Bildung und Wissenschaft 2005). In diesem Projekt wurden mehrere Lernstandserhebungen durchgeführt, deren Ergebnisse von den beteiligten Schulen als Anregung zur Schulentwicklung genutzt werden sollten. Im Zuge der Evaluation des Projekts ergab sich die Möglichkeit, das Vorgehen der Schulen im Umgang mit den Lernstandserhebungen genauer zu untersuchen.
2 L ERNSTANDSERHEBUNGEN ALS I NSTRUMENT DER S CHULENT WICKLUNG AUF DER E BENE VON E INZELSCHULEN Schulleistungsstudien, wie z.B. TIMSS oder PISA, sind entwickelt worden, um Aussagen über die Leistungsfähigkeit von Bildungssystemen auf der höchsten Systemebene (i.d.R. auf der Ebene von Staaten) zu gewinnen. Angesichts des erheblichen Aufwandes, der mit diesen Studien verbunden ist, stellte sich jedoch bald die Frage, ob die gewonnenen Daten nicht auch verwendet werden könnten, um Qualitätsentwicklung auf unteren Systemebenen anzustoßen. Zur Frage, ob Leistungserhebungen durchgeführt werden sollen, um Schul- und Unterrichtsentwicklung auf der Ebene einzelner Schulen zu initiieren, gibt es sowohl befürwortende als auch kritische und ablehnende Stimmen (vgl. zusammenfassend z.B. Sommer 2004). Dennoch hat sich dieser Gedanke weithin durchgesetzt. In vielen Bundesländern erhalten Schulen inzwischen über Lernstandserhebungen
I NKLUSIVE S CHULEN ENT WICKELN
Rückmeldungen zur Leistungsentwicklung ihrer Schülerschaft, die sie als Impulse für Entwicklungsprozesse nutzen sollen (vgl. Maier 2008). Methodisch unterscheiden sich Lernstandserhebungen von Schulleistungsstudien in erster Linie dadurch, dass keine Stichprobenerhebungen stattfinden. Stattdessen werden in allen Schulen, die Rückmeldungen erhalten wollen/sollen, Vollerhebungen in den Jahrgängen durchgeführt, auf die sich die Rückmeldungen beziehen. Die Tests werden aus Kostengründen zumeist von den Lehrkräften eigenständig durchgeführt (z.B. bei der Vergleichsarbeiten-Studie VERA; vgl. Groß Ophoff et al. 2006). Im Unterschied zu den Schulleistungsstudien ist die Teilnahme an Lernstandserhebungen für Schulen nicht selten freiwillig. Weiterhin wurde die Darstellung der Resultate den Erfordernissen der veränderten Verwendung angepasst. Um Lehrkräfte und Schulleitungen über den Leistungsstand ihrer Schüler/-innen zu unterrichten, werden die Schulleistungen auf Schul-, Jahrgangs- und/oder Klassenebene im Verhältnis den Leistungen der Schüler/-innen anderer Schulen, Jahrgänge oder Klassen dargestellt (vgl. Groß Ophoff et al. 2006). Zum Teil werden zusätzlich auch die von den Schülern/-innen erreichten Kompetenzstufen charakterisiert. Trotz erheblicher – nicht nur methodischer – Bedenken (vgl. Bos/Voss 2008) werden in vielen Fällen auch Rückmeldungen auf der Ebene einzelner Schüler/-innen gegeben. Zu den besonderen Anforderungen an Lernstandserhebungen gehört auch die »Fairness« der Vergleiche. Dass es wenig sinnvoll ist, Schulleistungen von Schulen und Klassen unabhängig von Schulform und Schulstandort miteinander zu vergleichen, liegt auf der Hand. Daher wurden verschiedene Ansätze entwickelt, die zu »fairen« Vergleichen führen sollen (vgl. z.B. Nachtigall/Kröhne 2006:68f.). Ein Ansatz besteht darin, aus der Gruppe aller getesteten Schulen bzw. Klassen zu Vergleichszwecken solche auszuwählen, die sich hinsichtlich zentraler Lernvoraussetzungen möglichst ähnlich sind. Ein anderer Ansatz wählt keine real existierenden Schulen bzw. Klassen zum Vergleich, sondern bestimmt theoretische Vergleichswerte (Erwartungswerte) durch regressionsanalytische Verfahren. Solche Vergleichswerte sind besonders »fair«, für die Rezipientinnen und Rezipienten allerdings nicht leicht zu durchschauen. Die Verbreitung von Lernstandserhebungen im deutschen Schulsystem hat zu grundsätzlichen Diskussionen über Vorzüge und Nachteile der outputorientierten Steuerung im Bildungsbereich geführt – etwa darüber, ob sie die Aufmerksamkeit einseitig auf die Fächer lenken, die getestet werden, und dabei an-
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dere Unterrichtsgegenstände (z.B. musische Fächer) in den Hintergrund geraten. Zugleich wurde deutlich, dass es Schulleitungen und Lehrkräften nicht leichtfällt, die Ergebnisse von Lernstandserhebungen nachzuvollziehen und als Anregungen für verändertes Handeln zu nutzen. Von der Wahrnehmung der Testergebnisse zur Veränderung des Unterrichts sind mehrere Schritte notwendig. Helmke und Hosenfeld beschreiben in ihrem »Zyklusmodell« vier Schritte, die von der Rezeption der Daten über die Reflexion und die Aktion in eine erneute Phase der Evaluation führen. Sie machen zudem deutlich, dass der Erfolg jeder dieser Schritte von vielfältigen Voraussetzungen abhängt (vgl. Groß Ophoff et al. 2006: 32). Aktuelle Studien unterstützen den Eindruck, dass die Arbeit mit den Ergebnissen von Leistungserhebungen sorgfältig vorbereitet werden muss. Wie Maier (2008) berichtet, finden intensive Auseinandersetzungen mit den Ergebnissen von Leistungsstudien vor allem fachbezogen, das heißt in Fachkonferenzen statt. In der von Maier durchgeführten Befragung zeigt sich, dass Leistungsdaten bevorzugt dazu genutzt werden, um Noten und Selektionsentscheidungen zu überprüfen und abzusichern. Entgegen den häufig geäußerten Erwartungen nutzen offenbar wenige Lehrkräfte Daten aus Lernstandserhebungen zur Förderdiagnostik oder leiten Konsequenzen für die Gestaltung des Unterrichts ab.
3 E RFAHRUNGEN AUS DEM B REMER S CHULENT WICKLUNGS PROJEK T »S CHULE MACHT SICH STARK – E IN A K TIONS PROGR AMM FÜR S CHULEN IN KRITISCHER L AGE « 3.1 Das Projekt Das Schulentwicklungsprojekt »Schule macht sich stark – Ein Aktionsprogramm für Schulen in kritischer Lage« wurde von 2004 bis 2009 in Bremen durchgeführt. Dieses Projekt zielte auf eine systematische, nachhaltige Verbesserung des Unterrichts in Schulen, die »sowohl bezüglich der äußeren Bedingungen in einer kritischen Lage sind […] als auch im Inneren Krisensymptome zeigen […]« (Senator für Bildung und Wissenschaft 2005). Fünf Schulen, denen ein externes Gutachten solche Krisensymptome bescheinigte, erhielten für die Dauer von vier Jahren ein umfangreiches Fortbildungsbudget. Sie verpflichteten sich, einen systematischen Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozess in Gang zu set-
I NKLUSIVE S CHULEN ENT WICKELN
zen, damit ihre Schüler/-innen in heterogenen Lerngruppen zunehmend mehr individuelle Unterstützung erhalten. Zudem verpflichteten sich die Schulen, an der wissenschaftlichen Evaluation des Projekts teilzunehmen. Weitere fünf Schulen erhielten kein Fortbildungsbudget, nahmen aber als Vergleichsgruppe an der Evaluation teil. Die gewichtigste Evaluationsmaßnahme im Rahmen dieses Projekts war die Durchführung von drei Lernstandserhebungen im Abstand von jeweils zwei Jahren (vgl. Köller 2009). Diese Untersuchungen, die sich auf die Bereiche Lesen und Mathematik bezogen, sollten einerseits den Erfolg der Unterrichtsentwicklung in den Schulen dokumentieren. Andererseits sollten die Resultate der Erhebungen von den Schulen genutzt werden, um Entwicklungsprozesse zu stimulieren, bzw. zu kontrollieren, ob die ergriffenen Maßnahmen in die richtige Richtung gehen. Sowohl die fünf Schulen der Projektgruppe wie auch die fünf Schulen der Kontrollgruppe erhielten daher die Ergebnisse der drei Lernstandsuntersuchungen zurückgespiegelt und wurden angeregt, mit diesen zu arbeiten. Die Formate, in denen das Evaluationsteam Informationen über die Ergebnisse der Lernstandserhebung übermittelte, wurden in Abstimmung mit den Schulleitungen der beteiligten Schulen entwickelt. Zu den Rückmeldungen gehörten zunächst Beispielaufgaben für die getesteten Bereiche Lesen und Mathematik. Anschließend folgten Rückmeldungen auf der Ebene der einzelnen Schüler/-innen, auf der Ebene der Klassen (im Vergleich zu den übrigen Klassen des Projekts, differenziert nach Schulformen, sowie zu regressionsanalytisch konstruierten »vergleichbaren Klassen«) und auf der Ebene der Schule (im Vergleich zur Jahrgangsstufe der eigenen Schule sowie zu denselben Jahrgängen der übrigen Schulen, differenziert nach Schulformen). Auf allen Ebenen wurden drei Kategorien unterschieden: rot markiert wurden die schwachen Leser/-innen bzw. die schwachen Rechner/-innen (dazu zählen die 20 % leistungsschwächsten Schüler/-innen des jeweiligen Jahrgangs), grün die starken Leser/-innen bzw. die starken Rechner/-innen (d.h. die 20 % leistungsstärksten Schüler/ innen) und gelb die durchschnittlichen (das sind die übrigen 60 % Schüler/-innen). Für Klassen, die zwei Jahre zuvor bereits schon einmal getestet worden waren, wurden auch Daten zu den Leistungszuwächsen übermittelt, die sich aus dem Vergleich der aktuellen Leistungen mit den Leistungen in der früheren Erhebung ergaben. Bezüglich der Leistungszuwächse wurde wiederum zwischen geringen (untere 20 % aller Schüler/-innen des getesteten Jahrgangs), durchschnittlichen (mittlere 60 % der Vertei-
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lung) und hohen Leistungszuwächsen (obere 20 % der Verteilung) unterschieden. Die Schulleitungen erhielten die Ergebnisse auf Jahrgangs- bzw. Schulebene, jedoch nicht die Resultate der einzelnen Schüler/-innen. Im Jahr 2007 bekamen die zehn Schulen die Ergebnisse der Lernstandserhebung, die im Herbst 2006 durchgeführt worden war. Die Rückmeldungen erfolgten schriftlich. In allen Schulen wurde von Seiten der Projektleitung die Durchführung eines Workshops angeboten, bei dem zentrale Ergebnisse präsentiert und diskutiert werden konnten. Mit einer Ausnahme nahmen alle Schulen dieses Angebot an. Die Gestaltung der anschließenden Arbeitsschritte war den Schulen selbst überlassen. Sowohl die Reaktionen der Teilnehmer/-innen in den Workshops wie auch ihre weitere Arbeit mit den Ergebnissen der Lernstandserhebung konnten dokumentiert werden: Die Schulleitungen wurden mit einem Leitfadeninterview telefonisch nach dem Umgang mit den Daten in ihren Schulen befragt. Die Lehrkräfte, die an den Workshops teilnahmen, beantworteten einen eigens für diesen Zweck entwickelten Rückmeldebogen, in dem unter anderem nach Erwartungen und Erfahrungen in Bezug auf die Nutzung der Daten gefragt wurde. Nach den Workshops hatten die Forscher/-innen die Gelegenheit, in einigen ausgewählten Situationen den Umgang mit den Daten vor Ort zu beobachten – unter anderem in Besprechungen von Jahrgangsteams und Fachgruppen, aber auch in Einzelgesprächen zwischen Lehrkräften und Abteilungsleitungen. Diese Beobachtungen wurden protokolliert und inhaltsanalytisch ausgewertet (Arnold/Götz 2008). Schließlich wurde im Frühsommer 2009 ein weiterer Rückmeldebogen an die Lehrkräfte der fünf Projektschulen ausgegeben. Dieser Bogen bezog sich auf die Erträge des Projekts »Schule macht sich stark« und enthielt unter anderem Fragen nach Faktoren, die die Schulund Unterrichtsentwicklung im Projekt unterstützten. Die auf diesem Weg gewonnenen Materialien bilden die Grundlage für die folgenden Ausführungen.
3.2 Ausgewählte Ergebnisse Die Gespräche mit den Schulleitungen ergaben, dass in den Schulen ein erheblicher Aufwand getrieben wurde, um die Ergebnisse der Lernstandserhebung zu würdigen, zu reflektieren und für die Planung von Aktivitäten zu nutzen. Die wichtigsten Gremien zur Beschäftigung mit den Daten waren die Jahrgangs- und die Fachgruppen.
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Um die Nachhaltigkeit der Auseinandersetzung mit den Daten zu sichern, entwickelten einige Schulen eine komplexe »Architektur« aufeinander bezogener Schritte: »Wir arbeiten in Jahrgangsteams. Jedes Jahrgangsteam hat einen Teamsprecher. Diese sechs Teamsprecher von Jahrgang fünf bis zehn arbeiten zusammen mit der Schulleitung in einer Planungsgruppe. Als die Ergebnisse kamen und wir von der Schulleitung uns ein Bild gemacht hatten, wurden die Ergebnisse in die Planungsgruppe gegeben und darin die Ergebnisse erläutert, interpretiert und diskutiert. Die im Laufe der Zeit schlussgefolgerten Erkenntnisse wurden von den jeweiligen Teamsprechern mit in ihre Jahrgangsteams genommen, die sich wöchentlich treffen. Die Ergebnisse aus den Teambesprechungen liefen dann über die Teamsprecher zurück in die Planungsgruppe, wo sie weiter diskutiert und die Verfahrensweisen überlegt wurden.« (B4/SL/14)
Hinsichtlich der Rezeption der Daten werden weder in den Befragungen noch in den Beobachtungen nennenswerte Probleme deutlich: Von 182 Lehrkräften, die nach genannten Workshops befragt werden konnten, hielten 148 (84,5 %) die Ergebnisdarstellung für übersichtlich. 143 Lehrkräfte (82,7 %) waren der Ansicht, dass statistische Begriffe, Tabellen und Abbildungen verständlich erläutert wurden. Allerdings zeigte sich in einigen der beobachteten Situationen, dass die Konzepte der »vergleichbaren Klassen« bzw. »vergleichbaren Schulen« statistisch sehr komplex und daher nicht für alle Lehrkräfte verständlich waren. Obwohl »Vergleichbarkeit« hier ausschließlich auf empirischem Weg hergestellt wurde und dies auch erläutert worden war, vermuteten einige Lehrkräfte eine versteckte Normsetzung durch das Evaluationsteam oder die Bremer Behörde für Bildung und Wissenschaft. Bei der Reflexion der Daten konzentrierten sich die Lehrkräfte bevorzugt auf das Abschneiden der einzelnen Schüler/-innen in ihren Klassen. Dies zeigte sich bereits bei der Befragung, die nach den Workshops stattfand. In dieser Befragung bewerteten mehr als die Hälfte aller Lehrkräfte die vergleichenden Aussagen zu den Schülern/Schülerinnen ihrer Klasse ohne Einschränkungen als »wichtig«. Vergleiche zwischen Klassen fand hingegen nur etwa ein Drittel der Befragten »wichtig«, Vergleiche zwischen Schulen sogar weniger als 30 % (vgl. Tabelle 1). T-Tests für abhängige Stichproben ergeben, dass der Mittelwert des Items 3.1 (Schülerebene) signifikant vom Mittelwert des Items 3.2 (Klas-
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Eher Eher unwichtig wichtig
Wichtig
M
S
3.1 Vergleichende 11 Aussagen zum Leistungsstand und zur Leistungsentwicklung einzelner Schülerinnen/Schüler -6,30%
10
88
3,33
0,85
-5,70%
-37,40%
-50,60%
3.2 Vergleichende Aussagen zum Leistungsstand und zur Leistungsentwicklung von Klassen
9
38
69
59
3,01
0,863
-5,10%
-21,70%
-39,40%
-33,70%
3.3 Vergleichende Aussagen zum Leistungsstand und zur Leistungsentwicklung der Schülerschaft der Schule
9
43
72
52
2,95
0,852
-5,10%
-24,40%
-40,90%
-29,50%
3.4 Vergleichende Aussagen zu den sozialen Merkmalen der Schülerschaft der Schule
7
19
67
79
3,28
0,81
-4,10%
-11,00%
-39,00%
-45,90%
Item
Unwichtig
65
Tabelle 1: Praxisrelevanz von Aussagen auf unterschiedlichen Ebenen der Datenaggregation senebene) abweicht (T = 5,337; df = 1659; p < 0,001). Ebenfalls statistisch signifikant ist der Mittelwertsunterschied zwischen Item 3.1 (Schülerebene) und Item 3.2 (Schulebene) (T = 5,423; df = 160; p < 0,001). In derselben Befragung machten die Lehrkräfte darüber hinaus deutlich, dass es ihnen vorwiegend darum geht, Informationen zu erhalten, die geeignet sind, den individuellen Förderbedarf von Schüler/-innen zu erkennen (vgl. Tabelle 2).1 75 % der Befragten stimmten dieser Aussage 1 | Bei den wie nachfolgend gekennzeichneten Passagen handelt es sich um Ausschnitte aus den Gesprächs- bzw. den Beobachtungsprotokollen. Die Nummerierung erlaubt eine eindeutige Zuordnung: Ax/Bx = Nummer der Schule; SL = Gespräch mit Schulleitung; ST = Diskussion in einer Steuer- bzw. Planungsgruppe; JT = Diskussion in einem Jahrgangsteam; SL+LK = Gespräch zwischen Schul- und Klassenleitung; J-FG = Gruppe von Lehrkräften einer Jahrgangsstufe bzw. einer Fachgruppe. Die letzte Ziffernkombination bezeichnet den Gesprächsabschnitt.
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vorbehaltlos zu. Informationen, die erkennen lassen, ob in den beteiligen Schulen bestimmte Schülergruppen vernachlässigt werden, erwarteten hingegen nur 40 % der Befragten. Noch etwas niedriger war der Anteil unter den Lehrkräften, die aus der Lernstandserhebung Hinweise für die Auswahl/Planung von Fortbildungen ableiten wollten. Der Mittelwert des Items 4.1 unterscheidet sich signifikant von den Mittelwerten der Items 4.2 (T = 6,29; df = 130; p < 0,001), 4.3 (T = 5,935; df = 116; p < 0,001), 4.4 (T = 6,943; df = 131; p < 0,001), 4.5 (T = 8,140; df = 120; p < 0,001) und 4.6 (T = 8,668; df = 117; p < 0,001). Item
Stimmt nicht
Stimmt Stimmt eher nicht eher
Stimmt
Weiß ich m* nicht
s*
4.1 die geeignet sind, den individuellen Förderbedarf von Schülerinnen und Schülern zu erkennen.
6
3
21
124
11
3,73
0,66
-3,60%
-1,80%
-12,70%
-75,20%
-6,70%
4.2 die geeignet sind, den Unterricht in den untersuchten Klassen zu verbessern.
13
21
32
82
15
3,21
1,003
-19,60%
-50,30%
-9,20%
19
40
63
22
3,21
0,93
-12,30%
-26,00% -40,90% -14,30%
16
46
71
3,18
0,957
3,08
0,984
2,81
1,116
Lernstandserhebungen sollen Informationen liefern,
-8,00% -12,90%
4.3 die erkennen lassen, ob 10 in den beteiligen Schulen bestimmte Schülergruppen vernachlässigt werden. -6,50% 4.4 die zur gemeinsamen 13 Unterrichtsentwicklung mit Kolleginnen und Kollegen anregen. -8,20%
-29,10%
-44,90% -7,60%
4.5 aus denen sich Hin14 18 weise für die Auswahl/ Planung von Fortbildungen ableiten lassen. -8,90% -11,50%
44
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-28,00% -36,30%
-15,30%
4.6 die geeignet sind, um die Lage der Schule nach außen darstellen zu können.
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-19,50%
-33,10%
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-13,60% -20,10%
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Tabelle 2: Erwartungen an die Nutzbarkeit von Daten aus Lernstandserhebungen * Bei der Berechnung von Mittelwerten und Streuungen wurden unentschiedene Antworten (»weiß ich nicht«) als fehlende Werte behandelt.
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Nach den Workshops kamen 143 von 182 Lehrkräften (83,2 %) zu dem Schluss, dass Lernstandserhebungen helfen, den Leistungsstand von Schülern/-innen einzuschätzen. 127 (d.h. 73,8 %) von ihnen äußerten die Ansicht, dass diese Untersuchungen wichtige Ergänzungen zu den Informationen liefern, die Lehrkräfte über ihre Klassen haben; 103 (60,6 %) bezeichneten Lernstandserhebungen als wichtiges Instrument der Qualitätsentwicklung in Schulen. Auf der anderen Seite bilanzierten 89 von 182 Lehrkräften (54,6 %), dass Aufwand und Ertrag bei Lernstandserhebungen nicht in einem angemessenen Verhältnis stehen, und 92 (55,8 %) sahen die Gefahr, sich einseitig auf kognitive Leistungen zu konzentrieren. Die Beobachtungen vor Ort bestätigen, dass sich Lehrkräfte besonders intensiv mit den Ergebnissen der Lernstandserhebung beschäftigen, die sich auf die einzelnen Schüler/-innen ihrer Klasse beziehen. In den entsprechenden Situationen verglichen sie das Abschneiden der Schülerinnen und Schüler mit den Einschätzungen, die sie aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen gewonnen haben. Kommentiert wurden in erster Linie unterdurchschnittliche Leistungen sowie Leistungsergebnisse, die den Erwartungen widersprachen. Inhaltlich konzentrierten sich die Diskussionen vorwiegend auf Ursachen, die dem Einfluss der Lehrkräfte weitgehend entzogen sind. Um erwartete schlechte Leistungen zu erklären, wurde z.B. der familiäre Hintergrund einzelner Schüler/-innen angeführt, ihre mangelhaften Deutschkenntnisse oder Motivationseinbrüche in der Entwicklungsphase der Pubertät. Bei unerwartet schlechten Leistungen wurden die Aufgaben kritisiert – z.B. dass die Texte Begriffe enthielten, die den Schülern/-innen nicht geläufig waren, oder dass die Aufgaben zu wenig anspruchsvoll waren, so dass die betreffenden Schüler/-innen wenig motiviert waren, sich anzustrengen. Faktoren, deren Gestaltung in der Hand der Lehrkräfte liegen, wie z.B. die Gestaltung des Unterrichts, wurden dagegen eher selten angesprochen. Eine Ausnahme bildete eine Fachgruppe, die anhand der Leistungsdaten zu dem Schluss kam, dass leistungsstarke Schüler/-innen zu wenig gefördert würden, und die sich Maßnahmen zur Abhilfe überlegte. Eine Schule organisierte die Reflexion der Ergebnisse durch die Schüler/-innen, die sich parallel zu ihren Lehrern/Lehrerinnen um Erklärungen für Erfolge und Misserfolge bemühten. In den getesteten Klassen wurden unter Anleitung einer Lehrkraft, die nicht in dieser Klasse unterrichtete, Ursachen für Erfolge und Misserfolge diskutiert und Lösungsmöglichkei-
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ten für Probleme entwickelt. Die Ergebnisse dieser Diskussionen wurden anschließend den Ergebnissen von Diskussionen gegenübergestellt, die zeitgleich unter den Lehrkräften der Klasse geführt wurden: »Die Klassen- und Fachlehrkräfte aller beteiligten Klassen treffen sich zeitlich parallel mit den Schülergruppen. Beide besprechen 45 Minuten mögliche Ursachen und Lösungen und halten diese schriftlich auf einem Flipchart fest. Moderiert werden die Lehrkraftsitzungen von den Klassenlehrerinnen und -lehrern, die Moderation der Schülergespräche übernehmen andere Lehrkräfte. Anschließend stellen Schülerschaft und die Klassenlehrkräfte im Klassenraum ihre Ergebnisse gegenüber.« (A5/J-FG/5)
Bei diesem Vorgehen wurde den Schülern/Schülerinnen explizit eine eigene Sicht auf die Ergebnisse der Lernstandserhebung zugestanden und zugetraut, dass sie sich an der Suche nach Ursachen und Lösungen beteiligten. Der Leiter dieser Schule attestierte den Schülern/-innen sogar mehr Bereitschaft zur Selbstkritik als den Lehrkräften, die seiner Ansicht nach Ursachen für ungünstige Ergebnisse zu einseitig auf mangelnde Ressourcen zurückführen. Aktivitäten im Anschluss an die Reflexion der Lernstandserhebung bezogen sich überwiegend auf die Schüler/-innen. Manche Schulen organisierten individuelle Auswertungsgespräche zwischen Lehrkräften und Schülern/Schülerinnen, zum Teil wurden dabei förmliche Zielvereinbarungen geschlossen. »Die Lehrkräfte besprechen mit den Schülerinnen und Schülern Förderbedarfe und sollen dann Zielvereinbarungen aushandeln, die zu besseren Leistungen führen sollen. Die Lehrkräfte fertigen Protokolle jedes Beratungsgesprächs an, die dann anschließend in Rückkoppelungsgesprächen mit den Abteilungsleitungen der Schulstandorte besprochen werden. Das heißt also, dass die Schul- und die Klassenleitung Zielvereinbarungen über den Förderungsbedarf der Schülerschaft diskutieren, organisieren und festmachen.« (A4/SL/4)
Weitere Folgeaktivitäten, die auf die Förderung bestimmter Schülergruppen zielten, waren Lese- und Matheclubs für leistungsschwache und leistungsstarke Schüler/-innen, die Einrichtung einer Rechtschreibgruppe oder die Betreuung der Hausaufgaben eines gesamten Jahrgangs. Solche Aktivitäten werden durch entsprechende schulorganisatorische Maßnah-
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men flankiert, wie sie in dem folgenden Gesprächsausschnitt angesprochen werden: »An erster Stelle steht für uns, eigene Unterrichtseinheiten zu entwickeln mit den Lehrkräften hier vor Ort, die unserer Schule entsprechen. Beispielsweise kümmert sich eine schwangere Kollegin ausschließlich um die Entwicklung von Unterrichtseinheiten, und zwar für das gesamte Kollegium. Außerdem haben wir den Lehrerinnen und Lehrern deutlich mehr Zeit gegeben, um Förderprojekte zu entwickeln und umzusetzen. Die Teams erhalten drei Stunden und stehen nicht mehr so stark unter Zeitdruck. Damit soll gewährleistet werden, dass ein Ergebnis dabei herauskommt.« (A5/SL/8)
Aktivitäten zur Lehrerfortbildung bildeten weitere Konsequenzen der Beschäftigung mit den Ergebnissen der Lernstandserhebung – und zwar nicht nur in den Schulen, die im Rahmen des Projekts Fortbildungsmittel erhielten, sondern auch in den Schulen, die nur an der Evaluation teilnahmen: »Die Ergebnisse der Lernstandserhebung waren der Anschub, Fortbildungen speziell im Sekundarschulbereich einzuführen; inklusive verpflichtenden Fortbildungen zur Veränderung der Unterrichtsstruktur wie binnendifferenzierende Maßnahmen über Stationslernen und über Gruppenarbeit.« (B1/SL/12) »Für die gesamte Leistungsbandbreite haben wir versucht, eine methodische und inhaltliche Neuorientierung vorzunehmen. […] Es war ein wichtiger Punkt für uns, die Wochenplanarbeit und die Binnendifferenzierung weiter zu verfolgen. Die LAU hat für diese Arbeit bestimmte Akzente gesetzt und den Blick auf bestimmte Schüler gelenkt.« (B2/SL/24+27)
Knapp zwei Jahre nach der Rückmeldung der Ergebnisse der Lernstandsuntersuchung, im Frühsommer 2009, äußerten sich 70 Lehrer/-innen, die an den fünf Projektschulen tätig waren, rückblickend zum Ertrag des Projekts. Jeweils mehr als die Hälfte von ihnen berichtete, dass sie ihren Unterricht verändert hätten. Im Mittelpunkt dieser Veränderungen standen mehr individuelle Leistungsrückmeldungen, die gezielte Förderung von Kompetenzen, Selbstständigkeit und Eigenverantwortung und die Berücksichtigung von unterschiedlichen Lernvoraussetzungen durch methodisch vielfältigere Lernarrangements. Für solche positiven Veränderungen
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machten allerdings nur etwa 25 % der Befragten die Arbeit mit den Ergebnissen der Lernstandserhebung verantwortlich. Deutlich mehr Lehrkräfte nannten die Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen (83 %), wachsende Berufserfahrung (72 %), hilfreiche Unterrichtsmaterialien (73 %) und Fortbildungsveranstaltungen (63 %) als Faktoren, von denen sie bei der Weiterentwicklung ihres Unterrichts profitierten.
4 F A ZIT Die Erfahrungen im Projekt »Schule macht sich stark« haben gezeigt, dass von Lernstandserhebungen Impulse für die Schul- und Unterrichtsentwicklung ausgehen können – sofern ausreichend Energien investiert werden, um die Ergebnisse zu würdigen und über Konsequenzen zu beraten. Schulleitungen kommt eine zentrale Rolle zu, wenn es darum geht, das Kollegium dazu zu ermutigen, sich ernsthaft mit den Ergebnissen auseinanderzusetzen. Zudem ist die Existenz von Jahrgangs- und Fachgruppen eine Voraussetzung dafür, dass es zu einem ergiebigen Austausch über die Ergebnisse kommt. Sofern Lernstandserhebungen die Aufmerksamkeit auf die einzelnen Schüler/-innen lenken und zu Maßnahmen führen, die die Binnendifferenzierung im Unterricht erhöhen, können sie dazu beitragen, dass Schulen dem Ziel der Inklusion näher kommen. Dies gelingt vor allem in Schulen, in denen die Schulleitung die Arbeit der Lehrkräfte aktiv in diese Richtung steuert. Wird dies versäumt, besteht die Gefahr, dass sich die Diskussion über die Leistungsergebnisse in der Aufzählung jener Schülermerkmale erschöpft, die als Hindernisse auf dem Weg zu guten Schülerleistungen angesehen werden. Wenn über die Eigenheiten der Schüler/-innen gesprochen wird, ohne dass die Gestaltungsmöglichkeiten der Lehrkräfte thematisiert werden, kann das dazu führen, dass Schüler/innen mit »ungünstigen« Eigenschaften zusätzlich stigmatisiert werden. Das Gespräch auf Möglichkeiten zu zentrieren, wie Benachteiligungen ausgeglichen werden können und die Vielfalt der Schüler/-innen für die Gestaltung des Unterrichts genutzt werden kann, kostet Energie. Diese zu investieren ist notwendig, solange Heterogenität noch vielerorts als Bedingung gilt, die erfolgreichen Unterricht erschwert. Die besondere Aussagekraft von Lernstandserhebungen ergibt sich aus der Möglichkeit, die erzielten Leistungen in Schulen und Klassen mit
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denen anderer Schulen und Klassen zu vergleichen. In dieser Stärke liegt zugleich die Gefahr, die Tests vornehmlich als Konkurrenzsituationen zu deuten, in denen es darum geht, möglichst gut abzuschneiden. Negative Auswirkungen von Vergleichen zwischen Schülern/Schülerinnen, Klassen, Schulen und Schulsystemen sind bereits ausführlich diskutiert worden – etwa die Gefahr der Entmutigung von Schülern/-innen, die in Lernstandserhebungen wiederholt schlecht abschneiden. Auch die Neigung, vorwiegend Inhalte und Aufgabentypen zu behandeln, die in den Lernstandserhebungen verwendet werden (»teaching to the test«), wird als unerwünschte Nebenwirkung von Leistungsvergleichen genannt, die sich besonders in Situationen zeigt, in denen Lehrkräfte oder Schulen mit negativen Sanktionen rechnen müssen, wenn ihre Schüler/-innen schlecht abschneiden. Gründlich zu überdenken ist die Frage, wie individualisierte Ergebnisse angemessen gegenüber den Schülern/Schülerinnen offengelegt und zum Ausgangspunkt für Vereinbarungen über nächste Lernschritte gemacht werden können. Solche individuellen Rückmeldegespräche verfolgen meist das Ziel, das Ergebnis einer Lernstandserhebung als motivationsfördernden Impuls zu nutzen. Manche Schüler/-innen profitierten sicherlich von Rückmeldungen zu ihrem Leistungsstand oder zu ihrer Leistungsentwicklung, indem sie diese als Ansporn empfinden. Andere – und darunter dürften nicht wenige sein, deren Lernvoraussetzungen aus dem einen oder anderen Grund schwierig sind – könnten jedoch entmutigt werden, weil sie den Eindruck gewinnen, dass sie ohnehin keine Chance haben, sich in Relation zu ihren Altersgenossen zu verbessern. In Bezug auf diese Schüler/-innen stellt sich die Frage nach der »Fairness« von Vergleichen in besonderer Weise: Welche Lernvoraussetzungen müssen in der Lernstandserhebung erfasst werden, damit auch benachteiligte Schüler/-innen eine adäquate Rückmeldung ihrer Leistungen erhalten können? Wie sollten Lehrkräfte das Gespräch mit den Schülern/Schülerinnen gestalten, damit solche Rückmeldungen entwicklungsförderlich wirken? Unter dem Leitziel Inklusion erscheint es sinnvoll, Ergebnisse von Lernstandserhebungen in erster Linie zu förderdiagnostischen Zwecken zu nutzen. Dass diese Möglichkeit häufig vernachlässigt wird, zeigt die Befragung von Maier (2008) ebenso wie Beobachtungen, die im Rahmen des hier berichteten Projekts gemacht wurden. Um dies zu ändern, müsste allerdings sichergestellt werden, dass die Erhebungen tatsächlich individualdiagnostische Aussagen ermöglichen (vgl. Bos/Voss 2008), denn die
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Arbeit mit unzuverlässigen Daten ist wenig sinnvoll. Gelingt es hingegen, die Ergebnisse von Lernstandserhebungen zu nutzen, um individuelle Lernvoraussetzungen zu erkunden und sich über individuell günstige Unterrichtsformen und Rahmenbedingungen auszutauschen, können sie dazu beitragen, dass Schulen sich in Richtung des Leitziels Inklusion weiterentwickeln.
L ITER ATUR Arnold, Eva/Götz, Melanie (2008): »Von Daten zu Taten. Rezeption und Nutzung der Ergebnisse einer Lernstandserhebung in den Schulen des Bremer Projekts »Schule macht sich stark«, in: Unveröffentlichter Zwischenbericht an die Projektleitung, Universität Hamburg. Boban, Ines/Hinz, Andreas (2003): Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule für Vielfalt entwickeln. Entwickelt von Tony Booth/ Mel Ainscow, übersetzt, für deutschsprachige Verhältnisse bearbeitet und herausgegeben von Ines Boban und Andreas Hinz. URL: www. eenet.org.uk/resources/docs/Index%20German.pdf (14.03.2010). Bos, Wilfried/Voss, Andreas (2008): »Empirische Schulentwicklung auf Grundlage von Lernstandserhebungen. Ein Plädoyer für einen reflektierten Umgang mit Ergebnissen aus Leistungstests«, in: Die Deutsche Schule 100, 4, S. 449-458. URL:http:// dispatch.opac.d-nb.de/DB=1.1/SET=6/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA& IKT=8506&TRM=203369-0&PRS=HOL&HOLDINGS_YEAR=2008\ t_“blank"http://dispatch.opac.d-nb.de/DB=1.1/SET=6/TTL=1/CMD? ACT=SRCHA&IKT=8506&TRM=203369-0&PRS=HOL&HOLDINGS_YEAR=2008 Groß Ophoff, Jana/Koch, Ursula/Hosenfeld, Ingmar/Helmke, Andreas (2006): »Ergebnisrückmeldungen und ihre Rezeption im Projekt VERA«, in: Kuper, Harm/Schneewind, Julia (Hg.), Rückmeldung und Rezeption von Forschungsergebnissen. Zur Verwendung wissenschaftlichen Wissens im Bildungsbereich, Münster: Waxmann Verlag, S. 1940. Köller, Olaf (2009): »Evaluation pädagogisch-psychologischer Maßnahmen«, in: Wild, Elke/Möller, Jens (Hg.), Pädagogische Psychologie, Berlin: Springer Verlag, S. 333-351.
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Maier, Uwe (2008): »Rezeption und Nutzung von Vergleichsarbeiten aus der Perspektive von Lehrkräften«, in: Zeitschrift für Pädagogik 54, 1, S. 95-117. URL: http://dispatch.opac.d-nb.de/DB=1.1/ SET=6/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=8506&TRM=2000490&PRS=HOL&HOLDINGS_YEAR=2008 Nachtigall, Christof/Kröhne, Ulf (2006): »Methodische Anforderungen an schulische Leistungsmessung – auf dem Weg zu fairen Vergleichen«, in: Kuper, Harm/Schneewind, Julia (Hg.), Rückmeldung und Rezeption von Forschungsergebnissen, Münster: Waxmann Verlag, S. 59-74. Senator für Bildung und Wissenschaft (2005): Projekt »Schule macht sich stark« (SMS), Vorlage Nr. L 80 für die Sitzung der Deputation für Bildung am 15. Januar 2005. URL: www2.bildung.bremen.de/sfb/behoer de/deputation/depu/l80_16.pdf (14.03.2010). Sommer, Norbert (2004): »Welchen Nutzen kann die Einzelschule aus den Ergebnissen und Instrumenten der ›großen Vergleichsuntersuchungen‹ ziehen?«, in: Journal für Mathematik-Didaktik 25, 3/4, S. 269293.
Inklusive Schule braucht Unterstützung(ssysteme) Waldtraut Rath und Christine Pluhar
1 E INFÜHRENDE A NMERKUNGEN ZUM THEMA SPEZIELLE U NTERSTÜT ZUNG UND H ILFEN FÜR EINE INKLUSIVE S CHULE Bei der Suche nach einem Thema für diesen Artikel einigten wir Autorinnen uns auf »Inklusive Schule braucht Unterstützung(ssysteme)«. Wir stellen bei unseren Darlegungen aus Gründen der Übersichtlichkeit und der begrenzten Seitenzahl ein ausgewähltes Unterstützungszentrum für Sehgeschädigte sowie das zuständige Bundesland Schleswig-Holstein in den Mittelpunkt; denn wir nehmen an, dass die meisten Aussagen verallgemeinerbar sind und für andere Bildungseinrichtungen und Unterstützungssysteme in ähnlicher Weise Gültigkeit haben; sie sind übertragbar oder können für Gruppen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen anderer Art sinnvoll modifiziert werden. Die Darstellung des Landesförderzentrums Sehen, Schleswig folgt weitgehend einer Selbstdarstellung durch Leitung und Kollegium. Ermutigt wurden wir Autorinnen durch die Erfolgsgeschichte dieses Zentrums, dem bereits 1995 Hans Wocken folgende besondere Kennzeichnung zuerkannte. »Der geniale Prototyp eines Förderzentrums ist bis auf den heutigen Tag die Schule für Sehbehinderte in Schleswig. Weil Schleswig-Holstein vormals keine eigene Schule für blinde und sehbehinderte Schüler hatte, mussten alle betroffenen Schülerinnen und Schüler die einschlägige Sonderschule in Hamburg besuchen. […] Um diesem Umstand abzuhelfen, wurde die Schleswiger Schule für Sehbe-
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hinderte eingerichtet. Das kennzeichnende Signum dieser Schleswiger Schule ist nun, dass sie eine ›Schule ohne Schüler‹ ist. Die sehgeschädigten Schüler besuchen die Schule ihres Heimatortes; ihre sonderpädagogische Förderung wird durch […] Sonderpädagogen der Schleswiger Schule sichergestellt.« (Wocken 1995: 84)
Wir Autorinnen wissen sehr wohl um die apodiktisch klingende Formulierung des von uns gewählten Titels. Woher nehmen wir den Mut dazu? Schließlich kennen wir die kontroversen Diskussionen über alles, was mit Inklusion zusammenhängt, und die oft recht aufgebracht vorgetragenen Argumente. Wir wagen diese Darstellung im Vertrauen auf unsere beruflichen Erfahrungen: Beide waren/sind wir seit mehr als drei Jahrzehnten an der Gründung und Entwicklung des erwähnten Unterstützungs- und Beratungszentrums für Sehgeschädigte in Schleswig beteiligt, und zwar mit wechselnden Aufgaben und Funktionen: beratend, leitend, verwaltend in der Schulaufsicht oder wissenschaftlich begleitend. Wir brachten aufgrund unserer beruflichen Qualifikationen und Kenntnisse gute Bedingungen für diese Arbeit mit und kannten die einschlägige Literatur sowie vergleichbare Entwicklungen in verschiedenen europäischen Ländern und in den USA. Im Mittelpunkt der folgenden Darstellungen werden praxisbezogene Aspekte stehen und breitere theoretische Klärungen, z.B. von Begriffen wie »Integration« oder »Inklusion«, nicht erfolgen; denn es ist davon auszugehen, dass andere Artikel dieses Bandes ausreichend darüber informieren. In »blind sehbehindert«, einer renommierten Fachzeitschrift für Blindenund Sehbehindertenpädagogik im deutschsprachigen Raum, finden sich 2003 in deutsch-amerikanischer Zusammenarbeit von Phil Hatlen und Waldtraut Rath entstandene Aussagen zum Gebrauch der Begriffe »Integration« und »Inklusion«, die auch heute noch als weitgehend konsensfähig gelten können. Danach wird das Wort »inclusion« oder »Inklusion« in englischer oder deutscher Version als Synonym für Integration verwendet, aber auch als neue Phase der Entwicklung der Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen verstanden (vgl. Hatlen/Rath 2003: 261). Positionspapiere zur inklusiven Erziehung wurden in jüngster Zeit von zwei einflussreichen Fachverbänden veröffentlicht, dem »Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e.V.« als speziellem Fachverband für Erziehung und Bildung von Menschen mit Sehschädigung (vgl. Feser 2009: 231-232) und dem »Verband Sonderpädagogik e.V.« als Fachverband
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für Erziehung und Bildung von Menschen aller Behinderungsarten (vgl. Verband Sonderpädagogik e.V. 2010: 72f.). Beide Verbände sehen in der Inklusion den Prozesscharakter und ein langfristig zu verfolgendes Ziel. Zum Abschluss der einführenden Anmerkungen gibt es für interessierte Leser/-innen noch einige Hinweise zum Umgang mit der Fachliteratur. Beiträge zum Thema »Inklusive Schule« finden sich laufend in den jüngsten Jahrgängen der zitierten Fachzeitschriften »blind sehbehindert« und »Zeitschrift für Heilpädagogik«; der Bericht des XXXIV. Kongresses für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik (2009) gibt einen eindrucksvollen Gesamtüberblick über den Bereich Erziehung und Bildung von Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung, einschließlich des speziellen Themas »Inklusive Schule«. Wer an Hintergrundwissen interessiert ist, möge die Anthologie über 200 Jahre Blindenbildung in Deutschland zur Hand nehmen. Eine umfassende Information mit Gesamttexten der KMK-Empfehlungen zur Sonderpädagogischen Förderung, den zehn Förderschwerpunkten und Kommentaren enthält der Sammelband der edition bentheim. Die genannten Bücher stehen auf der Literaturliste dieses Artikels.
2 D IE G RÜNDUNGSGESCHICHTE DES L ANDESFÖRDERZENTRUMS S EHEN , S CHLESWIG Verschiedene Einflüsse von gesellschaftlichen Zeitströmungen der 1970er Jahre, der prägenden Zeit vor der Gründung des Zentrums im Jahr 1983, unterstützten mit notwendigen Reformen und Veränderungen die Bemühungen der handelnden Personen. Die traditionellen Werte waren mehr und mehr in Frage gestellt und von postmateriellen Forderungen wie Selbstentfaltung, Partizipation, Lebensqualität überlagert worden; Sozialstaatlichkeit wurde bewusst angestrebt. Damit rückte auch die Situation der gesellschaftlichen Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen deutlicher ins Blickfeld. Die Weise, in der sich z.B. bildungspolitische Gremien mit der Bildung behinderter Kinder und Jugendlicher beschäftigten, glich einer Trendwende (vgl. Rath 2008: 165f.). Dazu zählte u.a., dass Mitwirkung von Eltern erwünscht war und Rat und Mitarbeit von Mitgliedern der Selbsthilfe erwartet wurde. Der für bundesdeutsche Verhältnisse frühe Gründungszeitpunkt für ein eigenständiges, landesweit zuständiges Unterstützungszentrum für
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Sehgeschädigte in Schleswig-Holstein (1981 erste Vorplanung, 1983 Beginn) kam zumindest aus der Sicht vieler Beteiligter nicht aus dem Nichts. In den mehr als 200 Jahren Blindenbildung in Deutschland gab es von Anfang an immer wieder Bestrebungen, eine Erziehung von Schülern/ Schülerinnen mit einer Sehschädigung in den Schulen ihres Wohnortes zu rechtfertigen und durchzusetzen. Bis zum heutigen Tag hatten und haben Lehrkräfte der Schulen für Blinde und Sehbehinderte teil an einem diesbezüglichen professionellen kollektiven Know-how (vgl. Rath/Dreves 2006: 39ff.). In den 70er- und 80er Jahren wurden verschiedene Forschungsprojekte und einige Programme der Schulbehörden zur gemeinsamen Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Sehschädigung an verschiedenen Orten der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt, z.B. in Berlin (West), Hamburg, Soest, Waldkirch und Würzburg. Die Diskussion über schulische Integration war in vollem Gange.
2.1 Der Anfang Als 1981, im »Weltjahr der Behinderten«, Regierungsvertreter aus Schleswig-Holstein nach einem öffentlichkeitswirksamen Projekt suchten, kam zur Sprache, dass Schleswig-Holstein als einziges Bundesland keine Schule für Sehbehinderte hätte und seine sehbehinderten Schüler/-innen immer noch nach Hamburg schicken müsste. Von der Hamburger Schulbehörde wurde zum wiederholten Male Druck auf die Behörden des Nachbarlandes ausgeübt, endlich eine eigene Landesschule für diese Klientel zu gründen. Für zwei Regierungsvertreter aus Schleswig-Holstein war das Anlass zum Handeln. Sie meldeten sich bei dem Schulleiter der Hamburger Blinden- und Sehbehindertenschule zu einem Gespräch an, der sich seinerseits Unterstützung einlud: Peter Appelhans, den Leiter des integrativen Programms zur Beschulung blinder und sehbehinderter Kinder und Jugendlicher an der Abteilung Gymnasium der benachbarten Heinrich-Hertz-Schule, und Waldtraut Rath als zuständige Professorin für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik an der Universität Hamburg. Das Ergebnis war wegen nicht vorhandener Mittel ein Verzicht auf die Gründung einer Internatsschule klassischen Typs zugunsten einer moderneren Lösung, der Einrichtung eines Unterstützungs- und Beratungszentrums für sehbehinderte Kinder und Jugendliche, einer »Schule ohne Schüler und Schülerinnen«. Peter Appelhans signalisierte Interesse an der Leitung
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eines solchen Zentrums und die Regierungsvertreter aus Schleswig-Holstein avisierten für den Anfang sieben Planstellen. In Rekordzeit nahm die »Staatliche Schule für Sehbehinderte« in Schleswig zwei Jahre später (1983) ihre Arbeit auf. Ein passendes Haus wurde gefunden, dem designierten Schulleiter Peter Appelhans gelang zeitgerecht der Wechsel vom Stadtstaat Hamburg ins Bundesland Schleswig-Holstein, für die vorgesehenen sieben Stellen fanden sich engagierte und kreative Mitarbeiter/-innen. Die Aufbauzeit forderte angesichts der vielen neuen Aufgaben allen Beteiligten besondere Anstrengungen ab, oft zusätzlichen Aufwand an Kraft und Zeit.
2.2 Rückblick aus gegenwärtiger Sicht Der Rückblick aus der Gegenwart zeigt nach mehr als einem Vierteljahrhundert unter dem aktualisierten Namen »Landesförderzentrum Sehen, Schleswig« eine Einrichtung, die den konzeptionellen und organisatorischen Anforderungen an die Arbeit eines modernen Förderzentrums für Sehgeschädigte zur wohnortnahen sonderpädagogischen Versorgung und zur Förderung von Inklusion in vorbildlicher Weise gewachsen ist. Breite Kontakte im nationalen und internationalen Bereich, ein positives Echo und entsprechende informelle und offizielle Belobigungen können als Bestätigungen gewertet werden. Die gelungene Etablierung dieses Zentrums sollte allerdings nicht dazu verführen, vorschnell Verallgemeinerungen von Erkenntnissen und Erfahrungen mit dem Ziel der direkten bundesweiten Anwendbarkeit auf junge Menschen mit anderen Behinderungsarten zu fordern. Denn die Arbeit in allen sonderpädagogischen Bereichen ist spätestens seit den veränderten gesetzlichen Vorgaben durch die Kultusministerkonferenz der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) von 1994 bzw. 1998 in voller Breite in Gang gekommen und hat unter Berücksichtigung der jeweiligen regionalen Gegebenheiten für verschiedene Gruppen eine Vielfalt von Veränderungen im Sinne der Reformen bundesweit hervorgebracht. Für den Erhalt des Erfolgs jeder Form der Unterstützung und Beratung erweist sich eine Verzahnung mit dem Gesamtgefüge ähnlich arbeitender Personen und Einrichtungen im eigenen Bundesland als wichtig; die rege Teilnahme als Lehrende oder Lernende an speziellen Weiterbildungsangeboten, wie sie u.a. von den bereits erwähnten Fachverbänden organisiert werden, ist dringend geboten. Inzwischen bestehen in Schleswig-Holstein
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eigenständige Unterstützungs- und Beratungszentren für die Förderschwerpunkte Sehen, Lernen und Sprache. Darüber hinaus werden für Kinder und Jugendliche mit anderen Behinderungsarten Dienstleistungen in unterschiedlichen Organisationsformen bereitgestellt. Last but not least: Ein aktuelles Ereignis der vorletzten Märzwoche 2010 erfreute viele Menschen in Schleswig-Holstein, die direkt oder über die Medien daran teilnehmen konnten: Der Bundespräsident hatte den Wunsch geäußert, Unterricht in einer inklusiven Schule zu besuchen, und entschied sich für das Land Schleswig-Holstein. Dort wurde eine entsprechende Schule in der Stadt Lübeck ausgesucht und außer dem gewünschten Unterricht auch eine Ausstellung aller Einrichtungen organisiert, deren Lehrkräfte unterstützend und beratend in der Lübecker inklusiven Schule tätig sind. Ergebnisse waren ein interessierter und zufriedener Bundespräsident und ein besonderes Medienereignis für viele SchleswigHolsteiner/-innen.
3 K ONZEP TIONELLE G RUNDL AGEN DES L ANDESFÖRDERZENTRUMS S EHEN , S CHLESWIG 2008 hat Josef Adrian, der zurzeit amtierende Leiter des Landesförderzentrums Sehen, Schleswig, auf dem XXXIV. Kongress des Verbandes der Blinden- und Sehbehindertenpädagogen und -pädagoginnen e.V. einen Vortrag über das Landesförderzentrum Sehen, Schleswig gehalten. Die folgenden Darstellungen entstammen in gekürzter und teilweise leicht veränderter Form diesem inzwischen veröffentlichten Referat (Adrian: 2009). Adrian beginnt wie folgt:
»Wohnortnahe sonderpädagogische Versorgung von Schülerinnen und Schülern mit Sehschädigung ist heute in unterschiedlicher Intensität und Quantität Bestandteil der Arbeit nahezu aller Bildungseinrichtungen für Sehgeschädigte in der Bundesrepublik. Der Entwicklungsstand in Konzeption und Praxis ist sehr unterschiedlich. Während sich diese Arbeit in Schleswig-Holstein konzeptionell eigenständig entwickeln konnte, ist sie in vielen anderen Bundesländern nach wie vor ein der traditionellen Sonderschulpädagogik beigefügtes, sie ergänzendes und von ihr stark geprägtes sehgeschädigtenspezifisches Angebot der Bildungseinrichtungen. Dass heute, 25 Jahre nach Gründung der Staatlichen Schule für Sehgeschädigte, […] die Diskussion über ihren Stellenwert und ihre Auswirkungen
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auf das Sehgeschädigtenbildungswesen noch intensive Reaktionen selbst auf emotionaler Ebene auslösen kann, mag verblüffen, ist aber Realität.« (Ebd.: 131)
Im weiteren Verlauf seines Artikels zeigt Adrian auf, dass wohnortnahe sehgeschädigtenspezifische Förderzentrumsarbeit heute eine eigenständige konzeptionelle Grundlage hat, die sich von der etablierten, stationären Arbeit der Bildungseinrichtungen im Sehgeschädigtenbildungswesen unabhängig machen konnte. Abbildung 1 gibt einen Überblick über konzeptionelle Grundlagen des Förderzentrums und dient als Leitfaden für Kapitel drei und vier. Zunächst wird der Begriff »Förderzentrum« eingegrenzt und der Auftrag solch eines Zentrums definiert. In Abbildung 1 bilden »Förderzentrum« und »Auftrag« die Dachkonstruktion eines Hauses, die von drei Säulen getragen wird: »Leitideen«, »Konzepte«, »Legitimation«. Diese Säulen brauchen ein stabiles Fundament, zu dem wesentlich das »Personal« in seiner multiprofessionellen Zusammensetzung gehört. Danach folgen Informationen über weitere Aspekte der organisatorischen Praxis und über hilfreiche Rahmenbedingungen.
Abbildung 1: Übersicht über konzeptionelle Grundlagen des Förderzentrums (Adrian 2009: 131)
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3.1 Förderzentrum Ein Förderzentrum, wie es hier thematisiert wird, orientiert sich an konsensfähigen Ergebnissen aus Diskussionen und Fachliteratur, »wonach • Ziel und Sinngebung von Förderzentren die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher sind, • Förderzentren ihrer ursprünglichen Bestimmung zufolge Schulen ohne Schüler/-innen sind, • Förderzentren gleichzeitig Zentren für besondere Kompetenzen und Professionen und deswegen sonderpädagogische Kompetenzzentren sind.« (Ebd. 132) In Nordrhein-Westfalen erhält der Begriff »Kompetenzzentrum« derzeit eine besondere Bedeutung, weil sich infolge des geänderten Schulgesetzes neue sonderpädagogische Kompetenzzentren konstituieren. Der Begriff selbst scheint als Arbeitsbegriff sinnvoll zu sein, als Bezeichnung für eine sonderpädagogische Bildungseinrichtung wirkt er aber eher unglücklich gewählt, nicht zuletzt aufgrund seiner inflationistischen Verwendung in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen. Der Ausdruck »Förderzentrum« erfährt allerdings auch Kritik; ihm wäre »Bildungszentrum« vorzuziehen, weil dadurch der umfassende Auftrag eines Förderzentrums wesentlich deutlicher gekennzeichnet werden könnte. Aber die Diskussion um »Förderzentrum« oder »Bildungszentrum« ist zurzeit nicht angesagt; sie wurde vor einiger Zeit im Interesse einer begrifflichen Vereinheitlichung durch Vorgaben der Kultusminister (KMK) beendet.
3.2 Auftrag Der Auftrag des Landesförderzentrums Sehen, Schleswig lautet: »Wohnortnahe sonderpädagogische Unterstützung und Beratung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Sehschädigung«. Dieser Auftrag reicht weiter als die oben dargestellte konsensfähige Formulierung vorgibt und erschließt in der Praxis ein breiteres Aufgabenfeld als in nahezu allen Einrichtungen für Sehgeschädigte in der Bundesrepublik Deutschland. Denn der Auftrag ermöglicht, dass bei entsprechendem Förderbedarf landesweit Kinder in der Frühförderung (0-6 Jahre), Schüler/-innen aller Schularten sowie Jugendliche und junge Erwachsene beim Übergang von
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der Schule in die Berufsausbildung grundsätzlich einbezogen sind. Im Ergebnis zeigt sich, dass die wohnortnahen Angebote der Förderzentren deshalb ihre Klientel viel häufiger erreichen als die traditionellen Schulen für Blinde und Sehbehinderte.
3.3 Leitideen Zu den wesentlichen Leitideen des Landesförderzentrums Sehen, Schleswig gehört die Mitarbeit an der Gestaltung des Gemeinsamen Unterrichts von Schülern/Schülerinnen mit und ohne speziellen Förderbedarf, gemeinschaftliches Lernen und soziale Integration von klein auf. Auch wer bewusst und erfolgreich für den Gemeinsamen Unterricht eintritt, weiß, dass dieser nicht die Mechanismen eines nach wie vor separierenden Schulsystems außer Kraft setzt. Deshalb ist integrativer Unterricht immer dann vom Scheitern bedroht oder gar zum Scheitern verurteilt, wenn Schüler/-innen mit Förderbedarf ohne ausreichende Berücksichtigung ihrer jeweiligen individuellen Bedürfnisse dem Unterricht lediglich »beiwohnen« dürfen oder wenn Sonderpädagogik in Form von exportierter Sonderschulpädagogik sich ausschließlich über individuelle Förderung innerhalb oder gar außerhalb der Lerngruppe definiert, ohne das System zu berücksichtigen oder Einfluss auf ausgrenzende Bedingungen, Mechanismen oder Verhaltensweisen zu nehmen. Sonderpädagogische Unterstützung im Gemeinsamen Unterricht berücksichtigt den individuellen Bedarf der Schülerin oder des Schülers mit Förderbedarf im jeweiligen sozialen Kontext, bezieht ihn/sie in das Handeln ein und unterstützt die Personen des Umfeldes im angemessenen Umgang damit. Die notwendigen Interventionen sind dabei keineswegs von vornherein konfliktfrei, weil »normale«, in ihrer separierenden Auswirkung bisher nicht erkannte Alltagsmechanismen in der Schulorganisation, in pädagogischen Zielsetzungen oder in der Didaktik bzw. Methodik des Unterrichts auf Veränderung (noch) nicht hinterfragt worden sind. Dies gelingt immer dann am besten, wenn sich Lehrkräfte, ganze Kollegien oder gar ganze Schulen einschließlich der beteiligten Eltern auf den Weg machen, ihre pädagogischen Angebote zu verändern, indem sie versuchen, Barrieren, die das Lernen von Kindern und Jugendlichen jedweder Ausgangslage behindern, abzubauen. Wenn sie außerdem die Eigenaktivität der Kinder und Jugendlichen schätzen und fördern, entsprechende Unterrichtskonzepte auf den Weg bringen und das Lernen in He-
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terogenität bejahen, haben Schüler/-innen mit besonderem Förderbedarf erfahrungsgemäß die größten Chancen, sich zu entwickeln und die notwendige individuelle Unterstützung von den Lehrkräften oder auch von den Mitschülern und Mitschülerinnen zu erhalten. Insofern hat wohnortnahe Förderzentrumsarbeit oder Integrationspädagogik ein elementares Interesse an inklusiven Zielvorstellungen und Verhaltensweisen in den Schulen ihrer Zuständigkeit. Wer das Glück hat, in solchen inklusiv ausgerichteten Klassen oder Schulen mitzuarbeiten, kann ermessen, was es bedeutet, wenn jedes Kind mit seiner individuellen Ausgangslage so angenommen wird, wie es ist. Es werden Kräfte freigesetzt, die sonst häufig durch Anstrengungen bei der Überwindung von separierenden Barrieren gebunden wären. Inklusion erweist sich als eine lebendige Leitidee für konkretes sonderpädagogisches Unterstützungs- und Beratungshandeln. Dass dabei die einzelne Schülerin oder der einzelne Schüler mit Sehschädigung im jeweiligen sozialen Kontext im Mittelpunkt der Überlegungen steht, muss keineswegs individuelle Förderung ausschließen. Im Gegenteil, jedes Kind, jede Schülerin und jeder Schüler, wird in den eigenen individuellen Ansprüchen ernst genommen und auf fachlich hohem Niveau unterstützt. Dafür steht ein subsidiäres sonderpädagogisches Angebot zur Verfügung, das die handelnden Personen vor Ort fachlich darin unterstützt und berät, individuelle Bildungsansprüche zu verwirklichen. Subsidiarität von Sonderpädagogik und Inklusion sind eng aufeinander bezogene Leitbegriffe der Arbeit von Förderzentren. Subsidiär angelegte Sonderpädagogik im Rahmen von unterstützender und beratender Förderzentrumsarbeit fördert Inklusion, kann sie aber nicht herstellen; das Entstehen von Inklusion müssen die Schulen vor Ort selbst leisten. Die Förderzentren können diesen Prozess aber insofern unterstützen, als sie potentiell vorhandenen Segregationsmechanismen nicht entsprechen und Hilfen zur Selbsthilfe, Service- und Unterstützungsleistungen einbringen, die der Inklusion förderlich sind. Wer dabei die weiterhin vorhandenen Segregationsmechanismen negiert, läuft Gefahr, im Alltag an Widerständen zu scheitern. Subsidiär ausgerichtete Unterstützung und Beratung gehen offensiv mit Widerständen um, hinterfragen sie und bieten Lösungsansätze an. Solche Prozesse können Stress bereiten und aufreibend sein. Ein klarer Auftrag, rechtliche Legitimationen oder Regelungen wie der behinderungsbedingte Nachteilsausgleich können dabei ebenso hilfreich sein wie individuelles Eingebundensein von Lehrkräften in das professio-
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nelle Umfeld eines Förderzentrums, in dem entsprechende Erfahrungen existieren und mithilfe eines professionellen Konfliktmanagements aufgearbeitet werden können. Sonderpädagogik in diesem Sinne stimmt mit wesentlichen Ergebnissen der »Nach-PISA-Diskussion« überein und trägt u.a. dazu bei, mehr Heterogenität in den Lerngruppen herbeizuführen sowie Segregation abzubauen. Gleichzeitig steht sie auch dafür, niemanden auszugrenzen und bislang nicht sonderpädagogisch angemessen versorgten Schülern/Schülerinnen zu helfen, denen die Unterstützung verweigert wird, nur weil sie Einrichtungen besuchen, die dem Leitgedanken nach Integration oder Inklusion nicht entsprechen. Prinzipiell gilt Unabhängigkeit vom Lernort: Alle Kinder im Vorschulalter bzw. alle Schüler/-innen mit Sehschädigung haben einen gleichwertigen Anspruch auf sonderpädagogische Unterstützung und Beratung. Infolgedessen unterstützt ein Förderzentrum Sehen grundsätzlich auch schwerstbehinderte Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigung des Sehens in sonderpädagogischen Einrichtungen jedweder Art. Auch hier ist der Ansatz subsidiär angelegter Sehgeschädigtenpädagogik angemessen. Entsprechende Widerstände, zum Teil administrativer Art, die in manchen Bundesländern noch verhindern, schwerstbehinderte Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigung des Sehens in den Schulen für Geistigbehinderte sehgeschädigtenspezifisch zu unterstützen, müssen dringend überwunden werden.
3.4 Konzepte Ein sonderpädagogisches Förderzentrum, das sich den oben dargestellten Leitideen verpflichtet sieht, braucht eigene Konzepte. Diese stellen statt eines eigenen regelmäßigen stationären Unterrichtsangebotes die individuelle sehgeschädigtenspezifische Versorgung der Schüler/-innen in ihrem jeweiligen sozialen Kontext sicher und streben in enger Kooperation mit den Personen vor Ort individuell passende Lösungen an. Dazu gehören • ein aufeinander abgestimmtes sonderpädagogisches Angebot vom Frühund Elementarbereich, allen Schularten und -formen bis zum Ende der Ausbildung, das sich zusammensetzt aus Unterstützung und Beratung vor Ort, Kursen für Schülerinnen und Schüler, Seminaren oder Fortbildungen für professionelle Partnerinnen und Partner,
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• ein Medienzentrum und zusätzliche Dienste, • eine multidisziplinär ausgerichtete Diagnostik, • ein multiprofessionell zusammengesetztes Personal, das für eine flexible, mobile und individuelle Umsetzung diagnostischer Erkenntnisse verantwortlich und dabei einem »horizontal« ausgerichteten Beratungskonzept im Sinne des subsidiären sonderpädagogischen Ansatzes verpflichtet ist, • die Vernetzung von Personen und Einrichtungen oder die Stärkung und Einbindung der Menschen vor Ort, die – je nach individuellem Bedarf – einen höheren Stellenwert haben können als die unmittelbare sonderpädagogische Förderung, • die Sicherung der Professionalität von Kolleginnen und Kollegen, die sehr ausgeprägt eigenständig und häufig allein vor Ort agieren.
3.5 Legitimation Integrative und auf Inklusion zielende Arbeit im Gemeinsamen Unterricht bedarf der Legitimation, um sich nicht wie in der Vergangenheit häufiger passiert dem Vorwurf ausgesetzt zu sehen, sie würde Veränderungen des Schulsystems auf Kosten der Kinder und Jugendlichen anstreben. Entsprechende Einwände und Argumente kamen von Eltern, die ihr Kind in dieser speziellen Schulsituation als benachteiligt empfanden, und von Lehrkräften, die diese Bedenken teilten. Unterstützt wurden sie auch von einigen Mitgliedern von Selbsthilfeorganisationen sehgeschädigter Menschen. Solchen Vorwürfen fehlte damals wie heute grundsätzlich die Legitimation. Die Vorgaben der Kultusministerkonferenz von 1972 waren eine Legitimation, die Vorgaben von 1994 und 1998 sind ein Auftrag für alle. Seit Mitte der 1990er Jahre enthalten nahezu alle Schulgesetze der Länder die klare Aufforderung, Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf den Zugang zum Gemeinsamen Unterricht zu ermöglichen. Den KMKVorgaben von 1998 folgte in mehreren Ländern die Umsetzung in einen Lehrplan »Sonderpädagogische Förderung, Förderschwerpunkt Sehen«. Landesverordnungen zur sonderpädagogischen Förderung regeln darüber hinaus in differenzierter Form die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben. Die Legitimation für den Gemeinsamen Unterricht ist inzwischen offensichtlicher als die Umsetzung in der Praxis. Das lässt den Schluss zu, dass die Legitimation noch keine Garantie für die Umsetzung ist. Allerdings ermutigen und verpflichten die heutigen gesetzlichen und sonstigen ad-
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ministrativen Vorgaben zum Ausbau und zur Weiterentwicklung der Förderzentrumsarbeit.
4 F ÖRDERZENTRUM UND ORGANISATORISCHE P R A XIS Nachfolgende Ausführungen beziehen sich auf die Organisation eines Förderzentrums vor dem Hintergrund einer 25-jährigen Erfahrung als Staatliche Schule für Sehgeschädigte in Schleswig, die sich seit August 2008 »Landesförderzentrum Sehen, Schleswig« nennt, mit derzeit über 860 Schülern/Schülerinnen und mehr als 80 Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen. Vorgestellt werden das Personal, Arbeitsfelder, Arbeitsbereiche und besondere Angebote des Förderzentrums sowie hilfreiche Rahmenbedingungen.
4.1 Personal Moderne Förderzentrumsarbeit erfordert multidisziplinäre Kompetenzen und Qualifikationen des Personals, um den unterschiedlichen individuellen Anforderungen gerecht zu werden. Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen, die die Mehrheit des Schleswiger Förderzentrumspersonals bilden, werden ergänzt durch Fachkräfte anderer Qualifikation, die vor Ort oder in den Kursen einbezogen werden. Die 1998 von der KMK herausgegebenen maßgeblichen »Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Sehen« geben diese Multiprofessionalität in den Bildungseinrichtungen für Sehgeschädigte vor. Solange aber in diesen überwiegend Unterrichtsversorgung berücksichtigt wird, besteht die Gefahr, dass die Multiprofessionalität in den Hintergrund tritt. Das Personal des Schleswiger Förderzentrums setzt sich zusammen aus: • • • • • • •
Sonderpädagoginnen und -pädagogen Lehrkräften mit Lehrbefähigungen für andere Schularten Fachkräften mit Diplom in Pädagogik, Psychologie, Motologie Orthoptisten/-innen Low-Vision-Trainern/-Trainerinnen Lehrkräften für Orientierung und Mobilität Rehabilitations-Lehrern/-innen
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• • • • • • •
Heilpädagoginnen und -pädagogen Sozialpädagoginnen und -pädagogen Erzieherinnen und Erziehern Fachkräften für Musiktherapie und Physiotherapie Verwaltungsfachkräften Medienassistentinnen und -assistenten Fachkräften für IT und Punktschriftübertragung.
Erfolgreiche Förderzentrumsarbeit basiert auf der Innovationsbereitschaft des Personals, auf der Bereitschaft, ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit zu tragen sowie der Bereitschaft und der Fähigkeit zur Arbeit im Team. Um diese Fähigkeiten zu pflegen und zu stärken, bedarf es regelmäßiger Kontakte der Kolleginnen und Kollegen untereinander, die i.d.R. die Woche über einzeln in verschiedenen Schulen agieren. Gelegenheiten zum Austausch werden in regelmäßigen Teamsitzungen, Fortbildungen oder Fallbesprechungen zweimal pro Monat ganztägig an Versammlungstagen im Schleswiger Zentrum geboten.
4.2 Arbeitsfelder (Die Angaben über die Schülerzahlen beziehen sich auf das Jahr 2009.) • Unterstützung und Beratung im Früh- und Elementarbereich (189 Kinder) • Unterstützung und Beratung von Schülern/Schülerinnen in Allgemeinen Schulen, die Blindentechniken verwenden (elf Schüler/-innen) • Unterstützung und Beratung von Schülern/Schülerinnen in Allgemeinen Schulen, die sehbehindert sind (192 Schüler/-innen) • Unterstützung und Beratung von Schülern/Schülerinnen mit Sehschädigung in den Schulen für Geistigbehinderte (337 Schüler/-innen) • Unterstützung und Beratung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Übergang von der Schule in den Beruf/in der Ausbildung (137 Schüler/-innen)
4.3 Arbeitsbereiche • Unterstützung und Beratung vor Ort, die je nach Arbeitsfeld unterschiedliche Schwerpunkte haben können. So ist beispielsweise die Arbeit bei
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Schülern/Schülerinnen mit Blindheit vor Ort wesentlich stärker durch regelmäßige Mitarbeit im Unterricht und individueller Zuwendung zu ihnen geprägt als bei der Mehrheit der Schüler/-innen mit Sehbehinderung. • Kurse: Teilnahme freiwillig (i.d.R. zwei- bis dreimal im Jahr möglich, in Einzelfällen häufiger) – Einbeziehung der Familie • Seminare (Fortbildungsangebote an professionelle Kooperationspartnerinnen und -partner) • Medienzentrum (umfassende Medien- und Hilfsmittelzentrale zum flexiblen Einsatz vor Ort)
4.4 Besondere Angebote • • • • • •
Orientierung und Mobilität/Bewegungserziehung Beurteilung des funktionalen Sehens/Sehhilfenerprobungen Arbeitsplatzausstattung/IT Lebenspraktische Fertigkeiten/Arbeitspraktische Fertigkeiten Psychologische Unterstützung und Beratung Musiktherapeutische Angebote
4.5 Hilfreiche Rahmenbedingungen • Transparenz der Arbeit (Austausch, intern in regelmäßigen, organisierten Zusammenkünften, Fallbesprechungen und Mitarbeitergesprächen) • Vernetzung und fachlicher Austausch (regional/landesweit/bundesweit/ international), funktionierende Informationssysteme zur Kommunikation und Vernetzung untereinander • Funktionierende Informationssysteme zur Kommunikation und Vernetzung des Personals untereinander • Flexible Gestaltungsmöglichkeiten auf allen Ebenen • Fortbildungsmöglichkeiten • Passende Arbeitszeitregelung • Anwendung des Bundesreisekostenrechts
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5 E RFAHRUNGEN UND H ER AUSFORDERUNGEN AUS DER S ICHT DES P ERSONALS DES L ANDESFÖRDERZENTRUMS S EHEN , S CHLESWIG Wohnortnahe Förderzentrumsarbeit ist konzeptionell eigenständig und deshalb erfolgreich. Sie erfährt ein hohes Maß an Akzeptanz von den Betroffenen, in den Familien und Bildungs- bzw. Ausbildungseinrichtungen. Dabei sind gute Qualität des Angebotes, Verlässlichkeit und Beratungskompetenz Voraussetzungen. Die Personen vor Ort müssen sich angenommen und zumindest im Laufe der Zusammenarbeit entlastet fühlen. Wohnortnahe Förderzentrumsarbeit eignet sich nicht als »verlängerter Arm« traditioneller Bildungsangebote für Sehgeschädigte. Sie muss konzeptionell eigenständig sein, auch als Teil einer traditionell arbeitenden Bildungseinrichtung. Wohnortnahe Förderzentrumsarbeit kann stärker mit stationärer Sonderpädagogik vernetzt werden, wenn diese sich weiter entwickelt in Richtung • Subsidiaritätsverständnis, • kürzerer Verweilzeiten mit entsprechenden flexiblen, individuellen Angeboten, • multiprofessionellem Personal. Wohnortnahe Förderzentrumsarbeit ist eine Herausforderung an die Hochschulen, • diesen Prozess zu unterstützen und entsprechende Konzepte zur Weiterentwicklung mit den Schulen zu entwickeln, • die Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen entsprechend zu akzentuieren. Die Erfahrungen wohnortnaher Förderzentrumsarbeit verdeutlichen die dringende Notwendigkeit, Multiprofessionalität in den Schulen und Förderzentren im Sinne der Vorgaben der Kultusministerkonferenz umzusetzen.
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6 A USBLICK AUS S ICHT DER A UTORINNEN Das beschriebene »Förderzentrum ohne Schüler und Schülerinnen« für Kinder und Jugendliche mit Sehschädigung in Schleswig wollen wir Autorinnen exemplarisch als Unterstützungssystem verstanden wissen, das die notwendige Ergänzung zur inklusiven Schule bildet. Anders gesagt: Damit Allgemeine Schulen inklusiver werden können, benötigen sie derartige Unterstützungssysteme. Alternativ wäre zu fordern, dass alle Allgemeinen Schulen ständig über eine ausgebildete Blinden- und Sehbehindertenlehrkraft verfügen sollen. Bei ca. 1000 Schulen in Schleswig-Holstein würden entsprechend ebenso viele spezialisierte Blinden- und Sehbehindertenlehrkräfte benötigt. Die Prävalenzrate von Kindern/Jugendlichen mit Blindheit oder Sehbehinderung ist jedoch vergleichsweise niedrig; die Forderung wäre also vollkommen überdimensioniert. Hinzu käme, dass eine einzige ausgebildete Blinden- und Sehbehindertenlehrkraft an einer Allgemeinen Schule nicht über das ein ganzes Schülerleben hindurch benötigte Know-how verfügt, allenfalls hat sie sich auf Teile dessen spezialisiert. Eine einzige Lehrkraft würde also noch nicht einmal für eine qualifizierte spezialisierte Förderung ausreichen. Deshalb benötigen die Allgemeinen Schulen für den inklusiven Unterricht die Unterstützung eines voll ausgebauten Förderzentrums. In diesem ist die ganze Bandbreite der Expertise vorhanden. Ein multiprofessionelles Team ist erforderlich. Nicht jede Lehrkraft kann alles können, aber das Förderzentrum muss auf dem heutigen »state of the Art« alles erforderliche Wissen und Können bereithalten. Es ist Aufgabe der Schulleitung, dafür zu sorgen und sich zu vergewissern, dass die Qualität der Arbeit der Lehrkräfte gesichert ist und weiterentwickelt wird. Es ist Aufgabe der Haushaltsgesetzgeber/-innen und in Bezug auf die Umsetzung die der Bildungsministerien, die notwendigen Ressourcen hierfür bereitzustellen. In der seit 2009 auch in der Bundesrepublik Deutschland rechtsgültigen UN-Konvention wird im Artikel 24 sehr klar beschrieben, dass Schüler/-innen mit Sehschädigung neben der Teilhabe an einem qualitativ hochwertigen Gemeinsamen Unterricht das Recht auf Erwerb ergänzender und alternativer Formen des Lernens haben, z.B. auf Unterricht in »Lebenspraktischen Fertigkeiten« oder in »Orientierung und Mobilität«. Die Schulen sollen ausgestattet werden mit Lehrkräften, die Brailleschrift (Blindenschrift) beherrschen.
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Wir interpretieren diese Formulierung der UN-Konvention so, dass die Staaten sicherzustellen haben, dass die Schulen im Bedarfsfall die erforderliche Unterstützung durch ein fachlich zuständiges, gut ausgestattetes Förderzentrum erhalten. Die Blinden- und Sehbehindertenschulen werden sich in ihrem Angebot an die veränderten Verhältnisse in den Allgemeinen Schulen anpassen. Sie haben ihre Expertise auf die Bedarfe der Allgemeinen Schulen und die Bedürfnisse von deren Schülern/-innen mit Blindheit oder Sehbehinderung auszurichten. Sie werden mehr und mehr in den Allgemeinen Schulen arbeiten und dabei mit helfen, dass diese Schulen inklusiver werden. Sie werden immer weniger eigene Schüler/-innen versorgen. Aber: Nur auf dieser Weise des grundlegenden Wandels werden sie als Förderzentren oder Kompetenzzentren erhalten bleiben (vgl. Pluhar 2009: 114). Uns beiden Autorinnen ist aus langjähriger Erfahrung und aus der intensiven Beschäftigung mit der Geschichte der Blindenbildung ganz besonders wichtig: Die Institutionen müssen bestehen bleiben, auch wenn sie keine eigenen Schüler/-innen mehr haben, denn nur eine institutionelle Verankerung sichert auch bei problematischen Ressourcensituationen eine qualitativ hochwertige Unterstützung.
L ITER ATUR Adrian, Josef (2009): »Konzeptionelle und organisatorische Anforderungen an die Arbeit eines modernen Förderzentrums für Sehgeschädigte zur wohnortnahen sonderpädagogischen Versorgung und zur Förderung von Inklusion«, in: Verband der Blinden- und Sehbehindertenpädagogen und -pädagoginnen e.V. (Hg.), Teilhabe gestalten – Kongressbericht, S. 131-138. Drave, Wolfgang/Rumpler, Franz/Wachtel, Peter (Hg.) (2000): Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung – Allgemeine Grundlagen und Förderschwerpunkte (KMK) mit Kommentaren, Würzburg: edition bentheim. Feser, Dieter (2009): »Position zur inklusiven Beschulung und Bildung blinder und sehbehinderter Menschen in der Bundesrepublik Deutschland des Verbandes für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e.V. (VBS)«, in: blind sehbehindert 129, S. 231-232.
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Hatlen, Phil/Rath, Waldtraut (2003): »Die Rolle der Schulen für Blinde und Sehbehinderte in der Inklusiven Erziehung und Bildung«, in: blind sehbehindert 123, S. 261-269. Pluhar, Christine (2009): »Pädagogik für Menschen mit Sehschädigung im Rahmen des Förderschwerpunktes Sehen, Bestandsaufnahme und Perspektiven«, in: Verband der Blinden- und Sehbehindertenpädagogen und -pädagoginnen e.V. (Hg.), Teilhabe gestalten – Kongressbericht, S. 109-115. Rath, Waldtraut (2008): »Sehgeschädigtenpädagogik«, in: Bleidick, Ulrich/ Ellger-Rüttgardt, Sieglind Luise (Hg.), Behindertenpädagogik – eine Bilanz. Bildungspolitik und Theorieentwicklung von 1950 bis zur Gegenwart, Stuttgart: Kohlhammer Verlag, S. 156-168. Rath, Waldtraut/Dreves, Friedrich (2006): »›Ein Blick zurück in die Zukunft‹ Zu den frühen Jahren preußisch-deutscher Blindenbildung«, in: Drave, Wolfgang/Mehls, Hartmut (Hg.), 200 Jahre Blindenbildung in Deutschland (1806-2006), Würzburg: edition bentheim, S. 25-42. Verband der Blinden- und Sehbehindertenpädagogen und -pädagoginnen e.V. (Hg.) (2009): Teilhabe gestalten – Kongressbericht – XXXIV. Kongress vom 14.-18. Juli 2008 in Hannover, Würzburg: edition bentheim. Verband Sonderpädagogik e.V. (2010): »Positionspapier: Inklusives Bildungssystem«, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 61, S. 72-73. Wocken, Hans (1995): »Sind Förderzentren der richtige Weg zur Integration?«, in: Die Sonderschule 40, S. 84-93.
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5 Inklusion und der Blick auf Entwicklungen
Ansätze einer (behinderten-)pädagogischen Diagnostik in einer inklusiven Schule Gabriele Ricken
1 D IAGNOSTIK IN EINER INKLUSIVEN S CHULE Kein Unterricht findet ohne diagnostische Prozesse statt: Unterrichtsgespräche, Auswertungen von Schülerarbeiten, Gespräche mit Eltern: Auf vielfältige Weise werden Daten über Kinder und Jugendliche erhoben. Diese fließen in Bewertungen und Urteile über Lehr-Lernprozesse ein. Aus diagnostischen Befunden werden Vermutungen über die weitere Entwicklung abgeleitet. Diagnostische Daten werden als Argumente für Entscheidungen über Veränderungen herangezogen (vgl. Ingenkamp/ Lissmann 2005). Diagnostische Prozesse sind somit ein immanenter Bestandteil von Bildungs- und Erziehungsprozessen (vgl. Schuck 2004). Das Diagnostizieren ist eine Kernkompetenz von Lehrern/Lehrerinnen, in der sie besser ausgebildet werden müssen. Das klingt nach einem »Mehr« an professioneller Diagnostik, einer Verbreitung von Kenntnissen über diagnostische Konzepte. Am 26. März 2009 trat in Deutschland das »Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen« der Vereinten Nationen in Kraft (www2.institut-fuer-menschenrechte.de/webcom/show_page.php/ _c-556/_nr-9/i.html, abgerufen am 05.04.2010). Daraus folgt ein »Anders« in der pädagogischen Diagnostik. Mit der Ratifikation dieser UN-Konvention hat sich Deutschland verpflichtet, das Recht auf inklusive Bildung zu verwirklichen. Das bedeutet, dass für alle Kinder und Jugendlichen Bedingungen in Schulen so zu schaffen sind, dass sie ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten entsprechend lernen können. Damit wird akzeptiert, was in
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Leistungsdifferenzen sichtbar ist: Menschen lernen unterschiedlich. Was bisher als problematisch bewertet wurde und zu Benachteiligungen und Diskriminierungen von Kindern und Jugendlichen führte, wird nunmehr als Potential für die Entwicklung aller wertgeschätzt. Damit sind eine Didaktik der Vielfalt in der »Fläche« (vgl. Prengel 2009) und ein diagnostisches Konzept in einer inklusiven Schule umzusetzen, die zu Hypothesen hinsichtlich erreichter Entwicklungsstände, stattfindender Lehr-Lernprozesse, deren Effektivität, und nötige Veränderungen im System führen. Dies kommt der Vorstellung von einer lernprozessbegleitenden Diagnostik, die in der behindertenpädagogischen Diagnostik seit den 1980er Jahren gefordert wird, sehr nahe (vgl. Probst 1983; Schuck 2004; 2007). Nötig sind sorgfältige Beobachtungen und Beurteilungen von Entwicklungswegen, die unter inklusiven Bedingungen jede/-r Einzelne in der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Lernangebot vollzieht. Nichts anderes als eine »klassische« Lehr-Lernprozess-Diagnostik steht damit im Fokus. Unterscheidungen zwischen einer behindertenpädagogischen und einer pädagogischen Diagnostik sind damit uninteressant. Gleichwohl ist die Zuständigkeit für Problemlagen neu zu verhandeln. Behindertenpädagoginnen/Behindertenpädagogen könnten in einer inklusiven Schule zu Spezialisten/-innen in der Erkennung behindernder, erschwerender Problemlagen und ihrer Veränderung werden. Um den Blick auf alle Entwicklungsbereiche zu weiten, ist die Lehr-Lernprozess-Diagnostik begrifflich als eine »Angebots-Entwicklungsprozess-Diagnostik« zu verstehen. Behindertenpädagoginnen/Behindertenpädagogen wären immer dann Expertinnen und Experten, wenn Hindernisse im Lern- und Entwicklungssystem entstanden sind. So zu diagnostizieren, erfordert eine zeitliche und personelle Flexibilität, da entstandene Problemlagen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung zu analysieren sind. Damit muss diagnostische Arbeit neu organisiert werden. Aufwändige Gutachtenprozeduren zur Feststellung des Förderbedarfs in festgelegten Zeitfenstern verlieren in dieser Konsequenz an Bedeutung, nicht jedoch die Problemerkennung. Schuck formuliert dies (2004: 359) so: »Ich lasse nicht von der Forderung ab, für alle Kinder, die dem wie auch immer verfassten Schulsystem zum Problem geworden sind, eine gründliche Bestandsaufnahme und die Entwicklung eines Förderkonzepts nach erziehungswissen-
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schaftlichen und entwicklungspsychologischen Standards zu gewähren […] Diesem ersten Schritt muss die anhaltende Evaluation der Lern- und Entwicklungsprozesse beim Kind und die Evaluation der Lern- und Entwicklungsprozesse im System Schule folgen.«
Mit dem Recht, eine inklusive Schule entwickeln zu können, gibt es nunmehr die Chance, die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen oder die »Qualifikationsfunktion« der Schule (vgl. Prengel 2009: 176) in den Mittelpunkt zu stellen. Für die Weiterentwicklung der Diagnostik ist damit interessant, wie eine Angebots-Entwicklungsprozess-Diagnostik theoretisch unter Einbeziehung von entwicklungspsychologischen, erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Konzeptionen methodisch im Schulalltag umzusetzen ist (vgl. Schuck 2007, Ricken/Schuck 2010). Im zweiten Teil des Textes werden Ansätze für eine Ausgangs- und eine formative Diagnostik vorgestellt. Da konkrete Strategien und Methoden im Kontext eines diagnostischen Gesamtkonzepts umgesetzt werden und keine unbeabsichtigten Verkürzungen erzeugt werden sollen, werden im ersten Teil Positionen für eine Diagnostik unter inklusiven Bedingungen umrissen. Diese werden aus wesentlichen Diskursergebnissen der behindertenpädagogischen Diagnostik abgeleitet.
2 G EGENSTAND UND M E THODEN AUS EINER BEHINDERTENPÄDAGOGISCHEN
P ERSPEK TIVE
In der Entwicklung einer Diagnostik spielte und spielt eine wesentliche Rolle, dass die schulstrukturelle Organisation der behindertenpädagogischen Arbeit nachhaltig die Fragen beeinflusst, die mit diagnostischen Mitteln und in einem solchen Prozess zu beantworten waren und sind.
2.1 Der diagnostische Gegenstand Der zentrale diagnostische Auftrag im gegliederten Schulsystem der Bundesrepublik Deutschland war seit den 1960er Jahren, mit einem Überweisungsverfahren herauszufinden, welches Kind, welche/-r Jugendliche sonderschulbedürftig ist. Für eine Antwort auf diese Frage musste die »Auffälligkeit« in der Entwicklung eines Kindes abgebildet werden. Der diagnostische Befund enthielt Aussagen zur Entwicklung des Kindes, aus
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denen seine Platzierung in einer Sonderschule abgeleitet wurde. Man ging zuerst davon aus, dass die Förderung in homogenen kleinen Schülergruppen durch speziell ausgebildete Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen am wirksamsten sei (vgl. Schröder 2005). Untersuchungen zu den Effekten der sonderschulischen Förderung haben im Vergleich zu integrativen Formen belegt, dass Kinder in ihrer kognitiven Entwicklung nicht von Sonderschulen profitieren (vgl. Schuck 2007). Hinsichtlich ihrer emotionalen Situation kommt es in Sonderschulen und Allgemeinen Schulen sowohl zu Entlastungs- als auch Belastungssituationen für leistungsmäßig randständige Kinder (vgl. Hinz et al. 1998). Bedingungen und Zeitpunkte in ganz konkreten Klassen und Schulen tragen zu diesen Effekten bei. Der »Auswahl-Auftrag« wurde in den 1980er Jahren zunehmend kritischer reflektiert und eine individuelle Orientierung, die eine Schaffung spezifischer Bedingungen an Allgemeinen Schulen ermöglicht, wurde gefordert (vgl. Schuck 2007). Folgt man den Befunden, dann kann die Frage nach dem sonderpädagogischen Förderbedarf nur unter Einbeziehung der aktuellen Bedingungen beantwortet werden. Umgebungsbedingungen tragen wesentlich zur Entwicklungen bei. Analysen einzelner Faktoren führen zu Über- oder Unterschätzungen der vorhandenen Varianz (vgl. Hasselhorn/Gold 2006). Ein komplexes, sozialwissenschaftliches Herangehen an die Beschreibung und Erklärung von Entwicklung unter erschwerenden Bedingungen wurde insbesondere in den 1980er Jahren in der Behindertenpädagogik immer mehr zum »state of the art«. Erste umfassende Schulleistungsstudien wie die Scholastik-Studie (vgl. Helmke/Weinert 1997) oder Längsschnittstudien wie die Mannheimer Risikokinderstudie (vgl. Ihle et al. 1997) belegten die Wechselwirkungen verschiedener Faktoren empirisch. Mit der KMK-Empfehlung zur Sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland 1994 (vgl. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 1994), in der eine Kind-Umfeld-Diagnose eingefordert wurde, um den Förderbedarf eines Kindes zu bestimmen, folgte man diesen Erkenntnissen. Danach ist die Analyse auf familiäre und schulische unterstützende und gefährdende Bedingungen zu erweitern. Bei der Analyse dieses komplexen Gegenstands sind zwei Aspekte entscheidend: Erstens gelten Annahmen über Risiko- und Resilienzfaktoren auf der Basis von Korrelationsstudien. Probst hat bereits 1973 die Rolle der familiären Bedingungen für die Entwicklung von Lernbeeinträchti-
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gungen empirisch belegt. Schulische Faktoren wie die Unterrichtsqualität, das Schulklima und Lehrererwartungen werden in ihrer Wirkung erst in letzter Zeit untersucht (vgl. Weinert/Helmke 1997). Das Angebots-NutzenModell von Helmke (2003) gilt für Unterrichtsprozesse als ein Modell, mit dem die Komplexität der wirkenden Faktoren darzustellen ist. Nach diesem Modell stellen Lehrer/-innen Angebote bereit, die Lernende je nach Motivation und Bedürfnislage für ihren Wissensaufbau nutzen. Das bedeutet, dass uns das Wissen über die Komplexität von Entwicklung nicht in die Lage versetzt, zu klären, wie die einzelnen Faktoren bei konkreten Problemlagen zusammenwirken und wie sie im konkreten Kontext zu gewichten sind. In allen Korrelationsstudien verstoßen einzelne Kinder gegen die statistische Signifikanz des allgemeinen Zusammenhangs. Deshalb sind individuelle Beurteilungen nur auf der Basis von Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich und mit äußerster Vorsicht vorzunehmen, um Beliebigkeiten in der Auswahl und Bewertung individueller Entwicklungsdaten zu reduzieren (vgl. Ricken/Fritz 2007). Zweitens bedeutet eine Gegenstandserweiterung um die jeweiligen Bedingungen, dass die Bedingungen förderbedürftig sein können. Schuck (2001) schlägt hierfür die Kategorie des institutionellen Förderbedarfs vor. Behandelt man dies konsequent weiter, dann löst sich der sonderpädagogische Förderbedarf als individuelle Kategorie auf, und es geht um das Erkennen einer Problemlage eines konkreten Systems, die Veränderungen und Unterstützungen bedarf. Wie Problemlagen in heterogenen Lerngruppen aussehen, die eine behindertenpädagogische Kompetenz erfordern, muss empirisch untersucht und theoretisch systematisiert werden. Anzunehmen ist, dass Variablen, die das unmittelbare Lernklima bestimmen und direkt investierte Lernzeit beeinflussen, wie unmittelbare, ermutigende Rückmeldungen, Wertschätzung von Anstrengungen und Entwicklungsfortschritten, adaptive Veränderungen von Bedingungen, in diesem Kontext eine größere Rolle spielen als strukturelle Bedingungen (vgl. Sundermann/Selter 2006; Walter 2008; Schuck 2010). Der Diagnostik kommt somit die Aufgabe einer Angebots-Entwicklungsprozess-Analyse in konkreten und zugleich komplexen Systemen zu, in deren Ergebnis der sonderpädagogische Förderbedarf eines Systems benennbar wird. Die Überlegungen zum diagnostischen Gegenstand sollen mit Daten zur Rolle der Intelligenz abgeschlossen werden, da diese lange als das individuelle Kriterium für Lernbehinderungen galten (vgl. Schröder 2005). Sie
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sei infolge leichter organisch bedingter Funktionsbeeinträchtigungen bei einigen Kindern weniger gut entwickelt und für die weitere Entwicklung bestimmend (vgl. Kornmann 2003). Aufgrund dieser Auffassung wurde 1972 die Intelligenz in den KMK-Empfehlungen (Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 1972) das zentrale Kriterium im Überweisungsverfahren: Kinder mit einem IQ zwischen 55 und 85 galten als lernbehinderte und sonderschulbedürftige Kinder. Mit der KMK-Empfehlung von 1994 wurde die Bedeutung der Intelligenz in Begutachtungsverfahren relativiert. Einerseits ist die Intelligenzentwicklung eng mit den sozialen Lebensbedingungen von Kindern/Jugendlichen verbunden (vgl. Schuck 2007). Andererseits ist die Intelligenz nur ein individuelles Merkmal, das mit vielen anderen in der Entwicklung zusammenwirkt. Daten aus empirischen Untersuchungen mit mehreren Bedingungsvariablen, in denen Pfadanalysen verwendet wurden, zeigen, dass die Intelligenz eine mittelbare Rolle im Erwerb spezifischer Fähigkeiten und spezifischen Wissens spielt. Dies drückt sich in zwei Befundarten aus: Erstens »schieben« sich in Längsschnittstudien spezifische Vorkenntnisse im Vorschulalter als entscheidende Prädiktoren zwischen kognitive Variablen (Intelligenz, Arbeitsgedächtnis oder Verarbeitungsgeschwindigkeit) und spätere Schulleistungen (z.B. Ennemoser 2003). Intelligenz, Verarbeitungsgeschwindigkeit und Arbeitsgedächtnisleistungen sind kognitive Komponenten, die den Erwerb der frühen Vorkenntnisse unterstützen. Diese Vorkenntnisse beeinflussen den Wissensaufbau unmittelbar. Zweitens zeigt ein Vergleich von Kindern mit durchschnittlicher und unterdurchschnittlicher Intelligenz sowie vergleichbar schwachen Leistungen im Lesen, Schreiben und Rechnen keine bemerkenswerten Unterschiede in eben diesen Fähigkeiten. Damit verliert die Unterscheidung von Lernschwierigkeiten in Abhängigkeit von der Intelligenz (Diskrepanzkriterium) an Erklärungswert (vgl. Stanovich 1999, Ricken/Fritz 2009). Der Entwicklungsstand in den spezifischeren Fähigkeitsbereichen muss also in der Diagnostik einen deutlich breiteren Raum einnehmen. Damit würde sich auch der Blick auf spezifischere Lernsituation richten: Auch diese Überlegungen führen zu der Konsequenz, dass das Konzept des sonderpädagogischen Förderbedarfs neu zu fassen ist.
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2.2 Methoden und Strategien Um der Komplexität des Gegenstandes gerecht zu werden, werden Systeme von Methoden benötigt, mit denen die Entwicklung aller Kinder zu den jeweils relevanten Bedingungen in Beziehung gesetzt werden kann. Ein solches System ist mehrstufig zu konzipieren, so dass »grobe« Erfassungen und differentielle Bestimmungen im Unterricht bzw. in der Schule möglich sind. Solche Systeme liegen gegenwärtig nicht vor. Unbefriedigend ist besonders die Situation der Erfassung von Bedingungen. Die zur Verfügung stehenden Leitfäden und Checklisten sind derzeit umfangreiche, additive Listen. »Typologien transaktionaler Beziehungen von personalen und Umfeldvariablen« (Kretschmann 2003: 181), die eine spezifische problembezogene Gewichtung der Faktoren erlauben, fehlen. Für die Bestimmung der individuellen Entwicklung sieht die Situation besser aus. Für die Schulleistungsbereiche entstehen gegenwärtig interessante neue Ansätze. Bevor im nächsten Abschnitt auf Beispiele für neue Entwicklungen eingegangen wird, soll auf ein methodisches Problem eingegangen werden, das zu strategischen Konsequenzen führt. In den frühen Phasen der behindertenpädagogischen Diagnostik wurde eine Transparenz der Aufnahmeentscheidungen gefordert. Man erhoffte sich dies durch den Einsatz hochwertiger Verfahren, so dass im Überweisungsverfahren von 1972 Methoden verwendet wurden, die den psychologisch-methodischen Standards entsprachen (vgl. Kornmann 2003). Eine frühe Studie zur Einschulungsdiagnostik von Krapp und Mandl zeigte 1977, dass es auch dann zu Fehlurteilen kommt. In der Studie wurde mit validen und reliablen Schulleistungstests der Zusammenhang zwischen Leistungen vor der Schule und am Ende der ersten Klasse geprüft. Für einen Teil der Kinder war aus den Vorschuldaten richtig auf Schulleistungen zu schließen. Für einen anderen Teil der Kinder stimmte das nicht. Sie waren hinsichtlich der gemessenen Schulleistungen am Ende der ersten Klasse entweder besser oder schlechter, als aus ihren Vorschulleistungen zu schließen war. Zu ähnlichen Befunden führen auch aktuellere Längsschnittstudien. Somit ist es im Rahmen einer statistischen Bedeutsamkeit möglich, auf die weitere Entwicklung zu schließen. Für Schulleistungsbereiche werden so beachtliche Trefferraten erzielt. Die Vorläuferfähigkeiten, die die weitere Entwicklung nachhaltig beeinflussen, sind gut bekannt. In der Bielefelder Längsschnittstudie entwickelten 90,2 % der Kinder, die im letzten
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Kindergartenjahr wenig phonologische Bewusstheit entwickelt hatten, ihre Lesefähigkeit so, dass sie am Ende der zweiten Klasse zu den schwachen Lesern/Leserinnen gehörten (vgl. Jansen et al. 1993). Damit wurde ein großer Anteil der Risiko tragenden Kinder erkannt. Dennoch gab es auch in dieser Studie ca. 10 % Kinder, die sich anders entwickelten als erwartet. Das bedeutet, dass auch beim Einsatz hochwertiger Verfahren, theoretisch und empirisch gut fundierter Prädiktoren bei Prognosen auf der individuellen Ebene mit Fehlern behaftet sind. Statistisch bedeutsame Zusammenhänge sind für die Beurteilung individueller Lernwege nur bedingt brauchbar, auf der individuellen Ebene haben wir es mit Wahrscheinlichkeitsaussagen zu tun. Überprüft man den Entwicklungsstand von Kindern nur einmalig, wird man sich bei einigen Kindern irren müssen. Dies gilt auch für alle Verfahren, mit denen gegenwärtig Lernausgangslagen erfasst werden. Der Gefahr der Fehleinschätzung ist nur dann zu begegnen, wenn: • mit Fehldiagnosen gerechnet wird, • Korrekturen als Ausdruck einer professionellen Diagnostik verstanden werden, • auf die Identifikation (Klassifikation) von Problemlagen flexibel reagiert werden kann, • Kinder und Problemlagen in ihrer Entwicklung verfolgt werden, • »dem prospektiven Anspruch an die Diagnostik ein evaluativer, die Förderung konzipierender und begleitender Anspruch« entgegengesetzt wird (Schuck 2007: 153).
3 A NALYSEN VON P ROBLEML AGEN UND DEREN V ER ÄNDERUNG 3.1 Bestimmung der Problemlage Angebots-Entwicklungsprozessanalysen beginnen mit der Erhebung eines aktuellen Entwicklungsstandes. Wie gut kann ein Kind lesen? Wie gut liest es im Vergleich zu den Kindern seiner Klasse? Liest das Kind so gut, wie es die Bildungsziele für Zweitklässler erwarten lassen? Welche Lautkombinationen liest es richtig, welche sind noch schwierig? Die Fragen unterscheiden sich in der Richtung des Vergleichs, der für die Beantwortung
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durchgeführt werden muss. Vergleiche mit der Klasse oder mit Bildungszielen sagen etwas über Differenzen aus. Überschreiten diese Differenzen bestimmte quantitative Werte, werden Leistungen von Kindern als auffällig interpretiert. Das ist der Fall, wenn der Punktwert eines Kindes gleich oder geringer ist als der Wert, den 15 oder 10 Prozent der schwächsten Kinder einer Vergleichsgruppe erreichen. Ebenso kann der Abstand zum Ziel als kritisch bewertet werden. Dieses Auswertungsprinzip gestattet die Aussage, ob für ein Kind ein problematischer Entwicklungsstand mit einem objektiven Maß festzustellen ist. Wie man auf diese reagieren kann, bleibt offen. Es sei denn, man akzeptiert als Ziel, dass die beobachtete Fähigkeit selbst quantitativ verbessert werden soll. Die Begrenzung dieser Auswertung erkennt man gut an Verfahren für den mathematischen Bereich. Hier werden über Untertests in der Regel viele Basiskompetenzen geprüft. Dabei entstehen Profile, die Stärken und Schwächen ausweisen. Zusammenhänge zwischen den einzelnen Aufgaben sind unklar, so dass die gegebenen faktoriellen Ordnungen der Untertest kaum mehr als eine quantitative Interpretation von Fähigkeiten erlauben (vgl. dazu Ricken/Fritz 2009). Gelänge es jedoch, Fähigkeiten in eine Ordnung zu bringen, Beziehungen zwischen ihnen herzustellen, wäre ein Entwicklungsmodell gefunden. Dieses sagt etwas darüber aus, wie sich bestimmte Fähigkeiten entwickeln. Sowohl für die Aneignung der Schriftsprache als auch des mathematischen Wissens sind solche »Meilensteine« und vor allem Beziehungen zwischen den »Meilensteinen«, die für alle Kinder zu gelten scheinen, bestimmbar: Wer die Mächtigkeit einer Menge nicht versteht, wird nicht verstehen, was beim Aufteilen von Mengen passiert. Damit werden also qualitative Aussagen, qualitative Beschreibungen über einen erreichten Entwicklungsstand möglich. Die diagnostische Aussage ist dann eine Aussage über eine Position eines Kindes in einer Entwicklungslinie. Ein »Gerüst« von Fähigkeiten, Kompetenzen und Konzepten wäre zugleich ein Orientierungspunkt für die Ableitung von Entwicklungszielen, die in Angriff genommen werden können. Ziele, die theoretisch abgeleitet werden können, sind wichtige Aspekte, die in alle Überlegungen einzubringen sind, um das, was von allen Beteiligten als wertvoll erachtet wird, zu erreichen (vgl. Schuck 2004). Entwicklungspsychologisch gut begründete Konzepte stehen derzeit für den Schriftsprachbereich zur Verfügung. In diese Perspektive ist das Prüfen von Voraussetzungen einzuordnen. Für die Schriftsprache ist diese die phonologische Bewusstheit. Im mathematischen Bereich beeinflusst ein
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frühes Wissen über Zahlworte, Mengen, Mächtigkeiten von Mengen und Beziehungen zwischen Mengen die weitere Entwicklung (vgl. Ricken/Fritz 2009). Um das Entwicklungsniveau im Prozess zu identifizieren, variiert man Aufgabenbedingungen systematisch (z.B. Wörter versus Pseudowörter lesen), lässt Kinder ihre Vorgehensweise kommentieren oder prüft Fehler auf ihre Systematik (z.B. lautgetreue Schreibungen RAIDA statt Reiter). Kann ein Kind Pseudowörter lesen, dann ist daraus zu schließen, dass es die »Lesetechnik« beherrscht. Liest es bekannte Wörter dagegen langsam, hat es vermutlich kein Lexikon entwickelt. Sieht das Ergebnis genau umgekehrt aus, dann speichert das Kind Wörter, aber es beherrscht nicht den Rekodierprozess. Auf diese Weise gelangt man zu Hypothesen über »Störstellen« im Leselernprozess (vgl. z.B. Landerl/Wimmer/Moser 1997). Anhand der Schreibung wird auf die Stufe/Strategie geschlossen, die das Kind oder der/die Jugendliche erreicht hat (z.B. Schreib-Probe, May 2002): • alphabetische Strategie: Sprechwörter werden in Laute gegliedert und Lauten werden Buchstaben zugeordnet. Schreibungen sind lautgetreu, • orthographische Strategie: Regeln werden beachtet, • morphematische Strategie: Wortbausteine werden verwendet. Für den mathematischen Bereich wird mit dem Konzept prozessbezogener Aufgaben gearbeitet, um Informationen über Denkprozesse zu erhalten. Sundermann und Selter (2006) zeigen an vielen einzelnen Aufgaben (Aufgaben erfinden, lebensweltliche Situationen mathematisieren, darstellen, begründen oder kooperieren) interessante Unterschiede in den Vorgehensweisen der Kinder. Nicht explizit sichtbar wird, wie sich die Lösungen zu einem Gesamtbild über den erreichten Entwicklungsstand zusammensetzen lassen. Einer Lösung für dieses Problem kommt man näher, wenn man eine Modellierung von Kompetenzniveaus auf der Basis der Item-ResponseTheorie anstrebt. Dabei werden Aufgaben und Anforderungen anhand ihrer Lösungswahrscheinlichkeiten in Beziehung gesetzt. Dies geschieht über eine theoretische Skalenbildung, die empirisch überprüft werden muss. Sind Skalen konstruierbar, dann sind Abschnitte auf Skalen im Sinne von qualitativ unterscheidbaren Niveaus zu definieren. Diese Methode wurde bisher vor allem für Lernstandserhebungen zur Schulevaluation eingesetzt, aktuell entstehen Verfahren für die Individualdiagnose (vgl. Sou-
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vignieur/Trenk-Hinterberger/Adam-Schwebe/Gold 2008). Mit so einem Aufgabensystem erhalten Kinder Skalenwerte, die qualitativen Niveaus zuzuordnen sind. Diese Aussagen sind durch die mathematischen Bedingungen (Lösungswahrscheinlichkeiten) Aussagen über den wahrscheinlich erreichten Entwicklungsstand eines Kindes. Ein Beispiel ist das »Berner Screening« von Moser, Opitz, Berger und Reusser (2007), mit dem die Entwicklung anhand zweier Kompetenzniveaus (Niveau I: einfache Aufgaben zur Zahlzerlegung, Niveau II: nicht zählendes Rechnen bis 20) beurteilt wird. Ein weiteres Beispiel für den Vorschulbereich liegt mit dem MARKO-D (vgl. Ricken/Fritz/Balzer i.Dr.) vor. Für diesen Ansatz wurden auf der Basis vorliegender Entwicklungsmodelle und aktueller empirischer Befunde tragende Konzepte bestimmt, die für die frühe Entwicklung des mathematischen Verständnisses als Meilensteine in Frage kommen: »Kardinalität«, »Teil-Teil-Ganzes« und »relationaler Zahlbegriff«. Diese Konzepte wurden in einem Modell dargestellt. Für den Test wurden fünf Niveaus operationalisiert, die in unterschiedlichen Studien mit insgesamt ca. 3000 Kindern repliziert werden konnten. Die Daten wurden erfolgreich einer Prüfung mit einem dichotomen Raschmodell unterzogen. Die Aufgaben, die die jeweiligen Konzepte erfordern, clustern sich auf der Skala, so dass Niveaus unterschieden werden können. Als Ergebnis des Tests wird der Entwicklungsstand des Kindes, sein erreichtes Niveau in der Konzeptentwicklung auf der Skala, abgebildet. Ergänzt wird die qualitative Aussage durch den Vergleich mit der Verteilung der Niveaus in den Altersgruppen.
3.2 Formative Evaluation Die Erhebung von Ausgangswerten ist ein erster Schritt für eine AngebotsEntwicklungsprozess-Analyse. Im Folgenden sind die Entwicklungen und Veränderungen, die in pädagogischen Prozessen entstehen, von Bedeutung. Nach einer Ausgangsanalyse wäre ein individueller Plan zu erstellen, differenzierte Aufgaben zusammenzustellen oder auch ein standardisiertes Programm auszuwählen. Die Wirkungen können dann in unterschiedlicher Nähe beobachtet werden. In einigen Fällen wird man sich dafür entscheiden, Veränderungen erst nach Abschluss einer Förderphase zu bestimmen. Dann wiederholt man die Prätest-Aufgaben am Ende. Dieses Vorgehen entspricht einer »summativen Bewertung« von Maßnahmen.
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Geprüft wird, ob individuelle Zuwächse festzustellen sind, die über die Konfidenzintervalle der Testverfahren hinausgehen. Wenn keine Verbesserungen eingetreten sind, wird man sich über das realisierte Konzept Gedanken machen müssen und dies verändern. Das entspricht der Idee einer prozessbegleitenden, »formativen Bewertung«. Dabei erfolgt eine Rückkopplung zwischen »Maßnahmen« und individuellen Wirkungen. Leistungen und Angebote werden während des Lernprozesses aufeinander bezogen. Profitieren Kinder nicht von dem Programm, dann wird das Förderkonzept im Prozess der Förderung adaptiert. Damit wird letztlich die Adaption der Förderung an die Entwicklungsfortschritte des Kindes mit dem Gedanken der präzisen Zielsetzung und der Offenlegung der Ziele verknüpft (Response-to-the-Intervention-Ansatz, vgl. Walter 2008). Während in Bereichen, in denen mit kontrollierten Einzelfallstudien gearbeitet wird, wie z.B. bei der Erhebung von Verhaltenshäufigkeiten (z.B. Meldeverhalten vor und im Verlauf einer Intervention), diese Vorgehensweise etabliert ist, gehören prozessbegleitende Erhebungen von Fähigkeitsveränderungen zu den neuen Ansätzen (vgl. Strathmann/Klauer 2008, Strathmann/Klauer/Greisbach 2010)). Lernprozessbegleitende Beobachtungen und Testungen erfordern eine besondere Auswahl der Prüfaufgaben. Dabei sind zwei Wege möglich: • Erfassung quantitativer Veränderungen in der Zeit, • Erfassung qualitativer Veränderungen in der Zeit. Für die Abbildung von quantitativen Veränderungen müssen Aufgaben mit gleichen Anforderungen generiert werden. Für einzelne Messpunkte werden Zufallsstichproben von Aufgaben gezogen. Dieses Prinzip entspricht der curriculumsorientierten Messung (CBM), wie sie z.B. von Hosp, Hosp und Howell (2006) vorgeschlagen wurde. In diesem Ansatz für das Curriculum wurden repräsentative Aufgaben ausgewählt. Zu erweitern ist dies aber auch auf Basiskompetenzen oder tragende Konzepte, die für die Entwicklung relevant sind und in nicht ganz so engem Zusammenhang zum Curriculum stehen. Die Aufgaben werden im Unterricht mit einem jeweils geringen zeitlichen Aufwand – Diktat von 20 Wörtern, Silbenlesen pro Minute – verwendet. Aus den ersten Werten (i.d.R. drei Werte) wird ein Baseline-Wert gebildet. Dann wird eine mögliche Entwicklungserwartung formuliert. Sodann werden im Verlauf spezifischer Interventionsphasen die Gewinne kontrolliert. Für alle Beteiligten sind so
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Fortschritte mit einfachen Maßen (Anzahl gelesener Silben) visualisierbar und Tagesschwankungen sichtbar. Bei einer geringeren quantitativen Zunahme muss (drei Messpunkte) das Förderkonzept verändert werden. Im Detail ist noch zu klären, wann Prüfungen optimal sind und welcher Verlauf als kritisch anzusehen ist und weitere Maßnahmen erfordert. Für die Erfassung qualitativer Veränderungen sind die oben skizzierten Kompetenzmodelle und deren Anwendung für die Konstruktion von Testverfahren interessant. Wenn Skalen konstruiert werden können, die für die Entwicklung in einem größeren Zeitraum repräsentativ sind, dann kann man Fähigkeitswerte zu verschiedenen Zeitpunkten vergleichen, die im gleichen Bezugssystem eingeordnet sind. Veränderungen lesen sich als Verschiebungen der individuellen Fähigkeitswerte auf der Skala, hinter denen qualitative Veränderungen von Konzepten oder Kompetenzen stehen (vgl. dazu Ricken/Fritz 2009).
4 F A ZIT Mit der Möglichkeit der Entwicklung einer inklusiven Schule verschieben sich die Aufgabenstellungen einer (behinderten-)pädagogischen Diagnostik insofern, als dass Angebots-Entwicklungsprozess-Analysen im Mittelpunkt stehen werden. Es geht nicht mehr darum, in einem mehr oder weniger einmaligen Prozess die Ausgangslage eines Kindes zu beschreiben oder nach »sicheren« Klassifikationen und Prognosen zu suchen. Vielmehr sind sehr genaue Analysen über den erreichten Entwicklungsstand in konkreten Problemfeldern für alle Kinder unter Einbeziehung der Entwicklungsbedingungen durchzuführen. Im Ergebnis entsteht eine Aussage über eine »Problemlage«. Damit ist der sonderpädagogische Förderbedarf inhaltlich um die Lern- und Entwicklungsbedingungen zu erweitern, vor allem auf das Zusammenwirken von Angeboten und Entwicklung hin. Der sonderpädagogische Förderbedarf bestimmt sich nicht mehr nur durch einmalige »Ausgangsdiagnosen«. Diese sind zugunsten einer intensiven diagnostischen Beobachtung niederschwellig zu halten. Bei Kindern, die Lernschwierigkeiten entwickelt haben, ist hier sehr genau zu beobachten, wie sie auf Fördermaßnahmen reagieren und wie diese zu verändern sind. Ein Blick auf die vorhandenen diagnostischen Mittel, die für diese Beobachtungen eingesetzt werden können, zeigt einen intensiven Entwick-
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lungsbedarf. Man stößt derzeit eher auf Fragen als auf Antworten, wenn lernprozessbegleitende Diagnostik ernst genommen wird und nicht nur im Tabellenausfüllen besteht. Wie dicht diagnostische Phasen im pädagogischen Prozess zu setzen sind, ob so die gewünschte individuelle Förderung aller Kinder möglich ist, bleibt empirisch zu prüfen.
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Entwicklungsbewertung und Inklusion André F. Zimpel
1 I NKLUSION ERFORDERT EIN NEUES E NT WICKLUNGSVERSTÄNDNIS Seit dem 1. Januar 2009 gilt in Deutschland die UN-Konvention für behinderte Menschen. Dieser UN-Konvention widerspricht die Abschiebung von Menschen in Sondereinrichtungen, wie z.B. Sonderschulen. Erstmals gibt es dagegen ein Beschwerderecht. Zwar setzt die Konvention keine Frist. Dennoch: Früher oder später wird sich die Gesellschaft auf diese grundlegende Veränderung einstellen müssen. Das gilt auch z.B. für das gesamte Schulsystem. Menschen, bei denen eine Behinderung diagnostiziert wurde, werden einen gleichberechtigten Platz in allen gesellschaftlichen Institutionen mit rechtlichen Mitteln verteidigen können. Zwar ist in der deutschen Übersetzung der Konvention noch missverständlich von einem »integrativen Schulsystem« die Rede. Doch im englischen Originaltext ist zweifelsfrei ein inklusives Schulsystem gemeint. Inklusion fordert die Anpassung der Institutionen an den Menschen mit Behinderung und nicht umgekehrt, die Anpassung des Menschen an die Institution. Dies erfordert auch ein neues Verständnis für die Bewertung der geistigen Entwicklung. Von der Wissenschaft erwarten Eltern und Schulen möglichst genaue Entwicklungsvorhersagen. Als wissenschaftlich objektive Prognose gilt im Zeitalter der Lebenswissenschaften der Kausalzusammenhang zwischen einer genetischen Ursache und einer statistisch nachgewiesenen Abweichung von der Norm. Ich möchte zunächst an drei Beispielen zeigen, dass Vorhersagen über die geistige Entwicklung alles andere als einfach zu tref-
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fen sind, weil geistige Entwicklung selbst mit statistischen Mitteln nicht linear vorhersagbar ist, weil Vorhersagen über die geistige Entwicklung leicht zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden und weil Normalität zwingend Verschiedenheit voraussetzt. Anschließend möchte ich darstellen, wie sich mit mathematischen Mitteln ein zukunftsoffenes Entwicklungsverständnis begründen lässt. In diesem Zusammenhang werde ich die Bedeutung von zwei wichtigen Elementen einer inklusiven Didaktik für die Entwicklungsbewertung diskutieren, konkret: Kompetenzraster und Projektlernen.
2 D ER G -F AK TOR DER A LLGEMEININTELLIGENZ Ein historisches Beispiel für die fatalen Folgen von Vorhersagen über einen vermeintlich angeborenen Grad der geistigen Entwicklung von Schulkindern ist die Messung eines sogenannten Generalfaktors der Intelligenz. Im Jahre 1904 hat dafür der britische Psychologe Charles Spearman (18631945) ein spezielles statistisches Verfahren entwickelt, die Faktorenanalyse. Mit diesem Verfahren glaubte er, ein objektives Maß für die allgemeine und angeborene geistige Energie eines Menschen gefunden zu haben. Heute spricht man in diesem Zusammenhang eher von »fluider Intelligenz«. Das jeweilige Maß dieses g-Faktors bei Elfjährigen sollte Eltern und Lehrenden jede Hoffnung nehmen, dass die Kinder im Laufe ihres Lebens als Spätentwickler ihre Intelligenz noch steigern könnten. 1944 führte diese Behauptung zur Einführung der Eleven-Plus-Prüfung in Großbritannien, die vielen britischen Schulkindern unverhältnismäßig früh den Weg in die Universitäten versperrte (vgl. Gould 1988: 326ff). Heute unterscheidet man zwischen »fluider« und »kristalliner« Intelligenz. Dabei erinnert die fluide Intelligenz stark an Spearmans g-Faktor. Denn diese Form der Intelligenz gilt als die größtenteils vererbbare Geschwindigkeit beim geistigen Erfassen unbekannter Aufgaben, die angeblich kaum durch Übung zu erhöhen sei. Die kristalline Intelligenz gilt dagegen im Wesentlichen als die beim Lernen erworbene Fähigkeit, Techniken und Wissensbausteine sinnvoll zur Lösung bestimmter Ziele einzusetzen. Nun ist allerdings seit langem bekannt, dass Tests, mit denen die fluide Intelligenz gemessen wird, Trainingseffekte nach sich ziehen. Es ist also die Testdurchführung selbst, die folgende Frage aufwirft: Steigert sich bei
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der Testdurchführung nur die kristalline Intelligenz oder auch die fluide Intelligenz? Zur Beantwortung dieser Fragestellung nutzte das Team um die Neuro- und Kognitionswissenschaftlerin Susanne Jäggi von der University of Michigan die experimentelle Erfahrung, dass ein stark gefordertes Arbeitsgedächtnis mit der Zeit seine Leistungsfähigkeit verbessern kann. Bei 70 Versuchspersonen testete es in einem Prätest die fluide Intelligenz. Mit der Hälfte dieser Personen trainierten sie dann knapp drei Wochen lang täglich das Arbeitsgedächtnis. In einem mit dem Prätest identischen Posttest für fluide Intelligenz zeigten nun alle Versuchspersonen, wie erwartet, etwas bessere Resultate. Die Steigerungsrate bei den Personen, die aktiv ihr Arbeitsgedächtnis trainiert hatten, war jedoch in allen Fällen deutlich größer. Diese Steigerung war abhängig von der Trainingsdauer und zeigte den größten Effekt bei den Versuchspersonen, die anfangs am schlechtesten abgeschnitten hatten (vgl. Jäggi/Buschkühl/Jonides/Perrig 2008: 6829ff.; Sternberg 2008: 6791f.). Wenn jedoch ein Training des Arbeitsgedächtnisses offensichtlich die fluide Intelligenz erhöhen kann, wie soll das noch dazu passen, dass die fluide Intelligenz erblich festgelegt sei? Ein weiteres Puzzlestück zum Gesamtbild lieferte die Beantwortung folgender Frage: Welche Regionen des Gehirns bewirken, dass manche Personen bei den meisten Intelligenztests gut abschneiden und andere meistens unter dem Durchschnitt liegen? Jan Gläscher vom California Institute of Technology und sein Team werteten Hirnscans von 241 Personen mit Hirnverletzungen aus, die z.B. eine Folge von Kopfverletzungen, Schlaganfällen oder Tumoroperationen waren. Der Vergleich mit Intelligenztestergebnissen (Wechsler Adult Intelligence Scale) zeigte: Verletzungen in abgrenzbaren Hirnarealen betreffen in der Regel nur spezifische Komponenten der Intelligenz. So beeinträchtigen Verletzungen im linken Stirnhirn beispielsweise das verbale Verständnis, während Läsionen des rechten Scheitelhirns eine Verschlechterung der Gestaltwahrnehmung bewirken. Jan Gläscher vom California Institute of Technology und sein Team fanden bei diesen Untersuchungen heraus, dass die Verbindungsfasern zwischen dem linken Stirnhirn und rechten Scheitelhirn den Umfang des Arbeitsgedächtnisses beeinflussen (siehe Abbildung). Auch sie kamen zu dem Ergebnis, dass die fluide Intelligenz von diesen Hirnarealen abhängt, noch stärker jedoch von der Aktivierung
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der vordersten Spitze des linken Stirnlappens, dem frontopolaren Kortex (vgl. Gläscher et al. 2009: 681ff.).
Abbildung 1: Hirnareale, die wahrscheinlich mit der fluiden Intelligenz zusammenhängen Aber gerade diese Hirnregion entwickelt sich beim Menschen am langsamsten. Während der Pubertät durchläuft sie eine grundlegende Umgestaltung. In ihr laufen alle erfahrungsabhängigen neuronalen Verschal-
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tungen zusammen. Der Neurobiologe Gerald Hüther schreibt über diese Region im Stirnhirn: »Sie ist in besonderer Weise daran beteiligt, aus anderen Bereichen des Gehirns eintreffende Erregungsmuster zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, und auf diese Weise von ›unten‹, aus tiefer liegenden und früher ausgereiften Hirnregionen eintreffende Erregungen und Impulse zu hemmen und zu steuern. Ohne Frontalhirn kann man keine zukunftsorientierten Handlungskonzepte und inneren Orientierungen entwickeln, kann man nichts planen, kann man nicht die Folgen von Handlungen abschätzen, kann man sich nicht in andere Menschen hineinversetzen und deren Gefühle teilen, auch kein Verantwortungsgefühl empfinden. […] Und es ist die Hirnregion, die in besonderer Weise durch den Prozess strukturiert wird, den wir Erziehung und Sozialisation nennen.« (Hüther 2009: 11)
Hüther spricht in diesem Zusammenhang von nicht trainierbaren Metakompetenzen (vgl. ebd.: 12), den Haltungen, die sich vor allem in Abhängigkeit vom sozialen Umfeld der Heranwachsenden, den familiären und kulturellen Erfahrungen, entwickeln und Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten vermitteln. Folglich ist die fluide Intelligenz also weder durch ein genetisches Programm fest vorgegeben, noch ist sie beliebig trainierbar. Wie alle komplexen Fähigkeiten entwickelt sie sich in komplizierten bio-psycho-sozialen Wechselwirkungen, die sich nicht in linearer Weise vorhersagen lassen. Wenn wir also die fluide Intelligenz von Lernenden fördern wollen, sollten wir dreierlei berücksichtigen: • Wie werden die biologisch bedingten individuellen Bedürfnisse beim Lernen berücksichtigt? • Wie lässt sich Begeisterung für das Lernen wecken, damit eigenmotiviertes und ausdauerndes Üben gewährleistet ist? • Wie lässt sich ein günstiges soziales Umfeld schaffen, das Metakompetenzen, wie z.B. Selbstvertrauen, Problemlösungskompetenz und Frustrationstoleranz, fördert? Gerade für die Förderung von Metakompetenzen bietet ein inklusiver Unterricht zweifelsfrei die ideale Lösung. Denn das Wesen eines inklusiven Unterrichts besteht ja zweifelsfrei darin, dass er auf eine äußere Leistungsdifferenzierung verzichtet. Eine Unterscheidung zwischen inkludierbaren
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und nicht inkludierbaren Kindern wäre paradox. Das bedeutet: Konflikte, denen Leistungsdifferenzen zugrunde liegen, können nicht durch Verbesonderung entsorgt werden. Also müssen sie didaktisch konstruktiv gelöst werden. Die didaktische Lösung dieser Konflikte ist die ideale Bedingung zum Training von Metakompetenzen, wie z.B. Kooperationsbereitschaft, Dialogbereitschaft und Frustrationstoleranz (vgl. Zimpel 2008: 99ff.). Auch wenn sich nicht in linearer Weise vorhersagen lässt, wie diese Entwicklung von Metakompetenzen im Einzelnen verläuft, so lässt sich jedoch leicht einsehen, dass sich der Möglichkeitskorridor für günstige bio-psycho-soziale Wechselwirkungen durch Inklusion erweitert.
3 TRISOMIE 21 UND GEISTIGE E NT WICKLUNG Ein weiteres Beispiel für die Annahme einer genetisch vorhersagbaren Intelligenzentwicklung ist das Down-Syndrom: Erst seit 1959 ist bekannt, dass es sich bei der freien Trisomie 21 um eine Chromosomenanomalie handelt. Jede Zelle der betroffenen Menschen enthält 47 statt der üblichen 46 Chromosomen. Seit der Beschreibung der anatomischen Merkmale von Kindern mit diesem Chromosomenüberschuss durch den britischen Apotheker und Neurologen Dr. John Langdon Down im Jahre 1866 gibt es eine nahezu ungebrochene wissenschaftliche Tradition: Man bescheinigt Menschen mit der von Down beschriebenen vermeintlichen Erbkrankheit eine geringe Lebenserwartung und – eine erheblich eingeschränkte Intelligenz vom Grad einer geistigen Behinderung (vgl. Down 1866: 259 ff.). Aufgrund der gestiegenen gesellschaftlichen Anerkennung und nicht zuletzt der verbesserten medizinischen Behandlung von eventuellen Organfehlbildungen sind Siebzigjährige mit einer Trisomie 21 heute längst keine Seltenheit mehr. Dieser erfreulichen Entwicklung steht allerdings eine ethisch problematische Entwicklung entgegen: Die Zahl der Kinder, die mit einer Trisomie 21 geboren werden, geht bedenklich zurück. Das ist auch eine Folge der wachsenden diagnostischen Möglichkeiten: Fruchtwasseruntersuchungen, Chorionzottenbiopsien, Nackenfaltenmessungen und Bluttests während einer Schwangerschaft. Übertroffen wird diese bedenkliche Entwicklung immer dann, wenn Eltern mit zynischen Bemerkungen konfrontiert werden, wie: »So ein Kind wäre doch heute nicht mehr nötig, wozu gibt es vorgeburtliche Untersuchungen!«.
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Diese Entwicklung hängt sicherlich auch mit dem Vorurteil zusammen, dass eine freie Trisomie 21 zwangsläufig mit einer Einschränkung der Intelligenz vom Grade einer geistigen Behinderung einhergehen muss. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es liegt mir fern, die vielen biologisch, sozial und psychologisch bedingten Risiken für Lernschwierigkeiten bei einer Trisomie 21 kleinzureden. Doch bekanntlich widerlegt schon ein Beispiel eine Universalaussage. Und es gibt in der Tat mehr als nur ein Beispiel: Stellvertretend für andere Personen seien an dieser Stelle die Japanerin Aya Iwamoto, der Italiener Francesco Aglio und der Spanier Pablo Pineda angeführt (vgl. Halder 2010: 53). Sie sind jedoch keineswegs die einzigen Beispiele. Aya Iwamoto schloss 1998 an der Kagoshima Women’s University das Studium der englischen Literatur ab und belegte erfolgreich die Studiengänge Französisch und englische Konversation. Sie arbeitet als Übersetzerin von Kinderbüchern. Ein weiteres Beispiel ist Dottore Francesco Aglio aus Cremona. Seine Eltern beschreiben ihn als einen unermüdlichen und unersättlichen Leser. Nach der Überwindung großer gesundheitlicher Probleme in früher Kindheit absolvierte er seine Schullaufbahn ohne speziell angepasstes Programm und ohne Stützlehrer/-in oder Coach. Nach dem Gymnasium absolvierte er an der Uni in vier Jahren ein Wirtschaftsstudium mit Erfolg. Er ist jetzt 25 Jahre alt und arbeitet bei einem Wirtschaftsberater. Pablo Pineda besuchte eine Regelschule (unterstützt durch einen Tutor), erwarb das Diplom als Grundschullehrer und absolvierte 2004 in Málaga ein Studium in Psychopädagogik. Seit 2006 arbeitet Pineda für Málagas Sozialdienst als Berater für Familien, in denen ein Kind mit Behinderung lebt. Demnächst kommt ein Film mit ihm in der Hauptrolle ins Kino mit dem Titel: »Yo tambien – ich auch«. Das Vorurteil, dass Menschen mit einer Trisomie 21 aufgrund ihrer geistigen Behinderung Probleme beim abstrakten Denken hätten, führte dazu, dass man glaubte, das Erlernen der Schriftsprache sei ihnen nicht möglich. Deshalb erregte in den 1960er Jahren das Buch »Die Welt des Nigel Hunt – Tagebuch eines mongoloiden Jungen« großes Aufsehen. Die Beteuerungen des Vaters im Vorwort illustrieren, dass dieses Buch keinesfalls den Erwartungen entsprach: »Ich erzähle die nüchterne, ungeschminkte Wahrheit, wenn ich sage, dass er das Lexikon aufs Geratewohl öffnete, das Wort ›Arteriosklerose‹ buchstabierte, wobei er es fehlerfrei
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aussprach, und vergnügt kicherte: ›Was für ein herrliches Wort!‹« (Hunt 1979: 21) In den 1970er Jahren zeigte sich, dass Nigel Hunt kein Ausnahmetalent war. Das frühe Lesenlernen wirkte sich bei vielen Kindern mit einer Trisomie 21 sogar zusätzlich positiv auf die Lautsprachentwicklung aus, wie in den 1980er Jahren Studien im englischsprachigen Raum zeigten (vgl. Oelwein 1995, Buckley 1999).
4 D IE V ERSCHIEDENHEIT DER N ORMALEN Auf dem 6. Weltkongress zum Down-Syndrom im Oktober 1997 in Madrid forderte Pineda: »Teilt die Menschen nicht in zwei Gruppen ein, die Normalen und die Anormalen. Wir sind genau so gleich und verschieden wie Ihr.« Die normalen Menschen – wer ist damit gemeint? Antwort: die Mehrheit in der Mitte unserer Gesellschaft. Kommen wir wirklich ohne diese Einteilung aus? Fragt man Menschen unter den Bedingungen von Behinderungen, wie sie leben wollen, antworten diese meistens: »So normal wie möglich!« Normalität besitzt eine hohe Anziehungskraft. Nichts beruhigt Eltern so sehr, wie die Auskunft: Das ist völlig normal in diesem Alter. Die große Gruppe der normalen Menschen ist umworben von Wirtschaft und Politik. In Deutschland nennt man die große Gruppe der normalen Menschen liebevoll »Lieschen Müller« und »Otto Normalverbraucher«. Im englischen Sprachraum spricht man von »Average Joe« und »Average Jane«, im Schwedischen von »Medel Svensson« und »Erik Johansson«, im Norwegischen von »Ola Nordmann« und »Kari Nordmann« usw. Grund ist die breite Anwendung des mathematischen Modells der Normalverteilung in unserer Gesellschaft. Ein umstrittenes Beispiel dafür ist die schon im ersten Beispiel diskutierte Intelligenzmessung (vgl. Zimpel 2010c). Die ursprüngliche Überlegung war: Wenn angeborene Körpergrößen normal verteilt sind, sollte das Gleiche für die angeborene Intelligenz eines Menschen gelten. Doch warum sind Münzwürfe, Fehlerverteilungen, Körpergrößen, Testergebnisse und Fähigkeiten überhaupt normal verteilt? Wenn ich vier Münzen auf einmal werfe, gibt es nur eine Möglichkeit, viermal Wappen zu werfen. Auch für den Wurf »viermal Zahl« gibt es nur eine Möglichkeit. Es gibt jedoch jeweils vier Möglichkeiten, einmal
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Zahl oder einmal Wappen zu werfen, sowie sechs Möglichkeiten, zweimal Zahl und zweimal Wappen zu werfen. Bezeichne ich Wappen mit »0« und Zahl mit »1«, ergibt sich folgendes Muster der Möglichkeiten: 0000, 1000, 0100, 0010, 0001, 1100, 1010, 1001, 0110, 0101, 0011, 1110, 1101, 1011, 0111, 1111. Zählen wir die Anzahl der Zahlwürfe mit den Summen null, eins, zwei, drei und vier, erhalten wir eine symmetrische Binomialverteilung, wenn wir die Anzahlen der Kombinationsmöglichkeiten für jede Summe (1, 4, 6, 4, 1) jeweils durch die Gesamtzahl aller Variationen (2 hoch 4 gleich 16) teilen. Diese Verteilung deutet schon in sehr einfacher Form die charakteristische Glockenform der Normalverteilung an. Mit jeder Erhöhung der Anzahl der Münzen tritt die charakteristische geschwungene Form der Kurve deutlicher hervor. Die Dichtefunktion der Standardnormalverteilung ist eine Grenzverteilung, die man als Verallgemeinerung der symmetrischen Binomialverteilung auffassen kann: Man bezeichnet mit n die Anzahl der unterschiedlichen Einflussgrößen, die das Gesamtergebnis beeinflussen. Im Grenzfall, n gegen unendlich, konvergiert die symmetrische Binomialverteilung gegen eine Normalverteilung. Die gleiche Verteilung wie bei vier Münzwürfen finden wir auch in der Matrix der Muster, in denen k Testaufgaben gelöst werden können. Im folgenden Beispiel beträgt k – wie schon im Münzwurfbeispiel – wieder vier: 1. 0 2. 0
0 0 0 1 0 0 1 0
0 0 0 1
1 1
3. 0 4. 0
0
1
0 0
1
1
0 0
1
0 0 0
1
0 0
Σ 0
1
1
1
1
0 1 1 1 0 0
0 1 1 0
1 1
1 1
1 1
1
0
1
1
0
1
1
0
1
1
1
1
0
1
2 2 2 2 2 2
3
3
3
3
4
1
Tabelle 1: Möglichkeitsmuster von vier Testaufgaben • • • • • •
In einem Test mit vier Ein-Punkt-Aufgaben gibt es also: 1 Möglichkeit, um null Punkte zu erreichen, 4 Möglichkeiten, um einen Punkt zu erreichen, 6 Möglichkeiten, um zwei Punkte zu erreichen, 4 Möglichkeiten, um drei Punkte zu erreichen, und 1 Möglichkeit, um vier Punkte zu erreichen.
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Mit der folgenden Bildungsvorschrift (Iterationsgleichung) kann man das Möglichkeitsmuster für jedes beliebige k direkt ermitteln:
Den mathematischen Beweis dafür habe ich für mathematisch Interessierte als Anlage beigefügt (siehe Seite 352). Diese Betrachtungsweise der Möglichkeitsmuster zeigt: Berechnet man den Wert der Abweichung zwischen zwei mittleren Testergebnissen A und B, kann diese unter Umständen größer sein als die Abweichung zwischen einem mittleren und einem extremen Testwert, C und D: A
B
2.
0 1
3. 4. Σ
1.
C
D
1 0
Unterschied 1 1
0 1
1 1
Unterschied 1 0
0
1
1
0
1
1
1
0
1
1
1
0
2
2
4
2
4
2
Tabelle 2: Vergleich der Unterschiede zwischen einzelnen möglichen Testergebnissen Bei einer Normalverteilung sind es die unzähligen Kombinationen, die eine hohe Wahrscheinlichkeit des Durchschnitts bedingen. Für die viel unwahrscheinlicheren Extremwerte ist dagegen die geringe Zahl möglicher Kombinationen verantwortlich. Das bedeutet: Die sogenannten normalen Eigenschaften sind in ihrer Zusammensetzung meist untereinander völlig verschieden. Die Zusammensetzungen zweier mittlerer Testwerte können sich untereinander stärker unterscheiden als von extremen Testwerten. Bekanntlich ist auch eine durchschnittliche Körpergröße kein Garant dafür, dass einem Jacken und Hosen mittlerer Größen passen. Es gibt z.B. auch viel mehr Kombinationsmöglichkeiten von Kopf-, Hals-, Oberkörper-, Unterkörpergrößen und Beinlängen für eine mittlere Größe als es Kombinationen gibt, aus denen sich extrem große oder kleine Körperlängen zu-
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sammensetzen. Das große Spektrum der Verschiedenheit mittlerer Werte untereinander zeigt, dass die Vorstellung von einem einheitlichen normalen Typus wie z.B. »Lieschen Müller« oder »Otto Normalverbraucher« eine Täuschung ist (vgl. Zimpel 2008: 93 ff., Zimpel 2010b: 27ff.). Wie zu zeigen war, ist allein die große Anzahl von Möglichkeiten der Zusammensetzung mittlerer Werte der Grund, warum Intelligenztestergebnisse und Körpergrößen wie auch Münzwürfe um ihren Mittelwert streuen. Das spricht nicht gegen Intelligenztests überhaupt. Es spricht aber auf jeden Fall gegen Zukunftsprognosen und die Schlussfolgerung: Weil Testergebnisse normalverteilt sind, seien sie größtenteils genetisch vorbestimmt wie Körpergrößen. Selbst wenn eine genetische Disposition bekannt ist, lassen sich daraus keine sicheren Schlussfolgerungen über die geistige Entwicklung ableiten. Das klassische Beispiel dafür, die Trisomie 21, habe ich ja schon im zweiten Beispiel angeführt. Es gibt jedoch eine weitere, in diesem Zusammenhang viel wichtigere Schlussfolgerung: Die Bildung homogener Gruppen aufgrund der Standardabweichung von einer Norm ist eine Illusion. Denn wenn eine Eigenschaft einer Personengruppe um einen Mittelwert streut, dann gerade deshalb, weil sich die einzelnen Personen in der Zusammensetzung dieser Eigenschaft unterscheiden. Die Gleichheit in einer Eigenschaft setzt also zwangsläufig die Unterschiedlichkeit in anderen Eigenschaften voraus! Jede homogene Lerngruppe ist also streng genommen auch immer gleichzeitig heterogen! Bleibt die Heterogenität jedoch unreflektiert, ist es unmöglich, ihr didaktisches Potenzial für die Entwicklung von Metakompetenzen zu nutzen. Da jeder Mensch ein Universum von Eigenschaften ist, bietet eine inklusive Schule für alle das größte Möglichkeitsfeld für didaktisch sinnvolle Kombinationen von Unterschieden und Gemeinsamkeiten beim Lernen.
5 M IT U NBERECHENBARKEIT RECHNEN Wie ich anhand von drei Beispielen gezeigt habe, können Zahlen die objektive Vorhersagbarkeit von Entwicklung vortäuschen, egal ob es sich um Chromosomenanzahlen, Zensuren, Mittelwerte oder Standardabweichungen handelt. Natürlich können wir auf solche Zahlen keinesfalls verzichten – schon deshalb nicht, weil unsere eingeschränkten Möglichkeiten der
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Erkenntnis ansonsten der Komplexität menschlicher Entwicklung nicht gewachsen wären (vgl. Zimpel 2008: 64 ff.). Im Umgang mit solchen Zahlen ist jedoch gerade dann, wenn es sich um wichtige Weichenstellungen in der Biographie eines Menschen handelt, höchste Vorsicht geboten! Denn obwohl Statistiken ein unentbehrliches Instrument für bevölkerungspolitische Entscheidungen sind, können sie im Einzelfall unberechtigte Vorurteile schüren und zu unerwünschten, sich selbst erfüllenden, Prophezeiungen beitragen. Das liegt daran, dass statistische Erhebungen ja gerade auf der Abstraktion vom Einzelfall beruhen. Die allgemeine Tendenz einer Ökonomisierung der Bildung drängt Lehrende und Erziehende dazu, ihr Handeln an Förderpläne, Qualitätsmanagement und Bildungsstandards anzupassen. Dabei wird der fälschliche Eindruck geweckt, Lernen und geistige Entwicklung ließen sich mit ingenieursmathematischen Mitteln verobjektivieren, vermessen und optimieren. Das liegt auch daran, dass sich die entwickeltesten Formen der Mathematik aus ingenieursmathematischen Fragestellungen entwickelt haben. In technischen Fragen, wie z.B. im Maschinenbau, besteht die Aufgabe der Mathematik darin, bislang Unberechenbares berechenbar und damit vorhersagbar zu machen. Gibt es auch den umgekehrten Fall? Gibt es mathematische Verfahren, die Unberechenbarkeit in scheinbar vorhersagbaren Situationen aufzeigen? Ja, die gibt es – und nicht zu knapp. Das berühmteste Beispiel ist der Schmetterlingseffekt im Wettergeschehen. Hier ist die Unberechenbarkeit allerdings ein Ärgernis. Doch wie ist das in festgefahrenen Situationen wie z.B. scheinbar unüberwindbaren Lernschwierigkeiten? Wäre hier nicht die Suche nach neuen Mustern, die helfen, wieder mit Unberechenbarkeit zu rechnen und dadurch Vorurteile zu überwinden, ein Segen? Auf die Suche nach solchen mathematischen Mitteln hatte ich mich in dem Buch »Der zählende Mensch« begeben und sie unter dem Begriff »Humanmathematik« zusammengefasst (vgl. ebd.: 125ff.). Wir können nicht nicht mathematisch denken. Jeder Art des Denkens liegt unbewusst irgendeine Struktur, ein Muster oder eine Form zugrunde. Und Mathematik ist nun einmal die Wissenschaft von Strukturen, Mustern und Formen. Die bewusste Anwendung mathematischer Regeln hilft, diese unbewussten mathematischen Muster auf Stimmigkeit zu prüfen.
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Ein einfaches Beispiel für solche Muster sind logische Strukturen. In der zweiwertigen Logik ist eine bedeutungsvolle Aussage entweder wahr oder falsch. Von der Leistungsfähigkeit der zweiwertigen Logik können wir uns täglich überzeugen, wenn wir in irgendeiner Form einen Computer benutzen. Im Umgang mit Handys, Bankautomaten, Formularen, Tests usw. festigen wir diese zweiwertige Logik permanent, ohne dass wir ständig darüber bewusst reflektieren müssen. Deshalb ist diese Art der Logik den meisten Menschen in Fleisch und Blut übergegangen. In dieser zweiwertigen Alltagslogik leuchten Leistungstests im Multiple-Choice-Verfahren meist unmittelbar ein: Entweder habe ich die Lösung richtig oder falsch angekreuzt. Der Unterschied zur experimentellen Überprüfung einer Fähigkeit, wie z.B. einer Praxisprüfung beim Lesen, wird dadurch verwischt. Entweder kann jemand lesen oder eben nicht. Das ist doch logisch, oder? Es gibt jedoch in der Mathematik keine Vorschrift, die verlangt, logische Systeme müssten zweiwertig sein. Ersetzt man die zweiwertige Logik durch eine dreiwertige Logik, kann man beispielsweise zusätzlich zu den Wahrheitswerten null und eins für »falsch« und »richtig« noch den Wert einhalb für »möglich« vergeben. Diese dreiwertige Logik ermöglicht mir nun eine etwas differenziertere Bewertung einer Leistung im Experiment. Ich kann also festlegen: Wenn eine Person eine Leistung richtig zeigt, dann besitzt sie auch die Fähigkeit. Beispiel: Wer einen schweren und unbekannten Text liest, kann auch lesen, wenn eine Täuschung ausgeschlossen ist. In diesem Fall ordne ich der Aussage »Die Fähigkeit liegt vor« den Wahrheitswert eins zu. Wer eine Leistung nicht zeigt, kann sich jedoch extra ungeschickt anstellen, abgelenkt oder unmotiviert sein. Deshalb vergebe ich in diesem Fall für die Aussage »Die Fähigkeit liegt vor« den Wahrheitswert einhalb. Das bedeutet: Es ist möglich, dass die Fähigkeit nicht vorliegt. Die Verneinung, eins minus den Wahrheitswert einer Aussage, hat im Fall von einhalb denselben Wahrheitswert: 1 – ½ = ½. Also gilt auch: Es ist möglich, dass die Fähigkeit vorliegt. Wie sieht das nun bei einem Leistungstest im Multiple-Choice-Verfahren aus? Eine richtige Lösung kann geraten sein. Also vergebe ich den Wahrheitswert einhalb: Es ist möglich, dass die Fähigkeit nicht vorliegt. Für eine falsche Lösung gilt wiederum, die Person könnte sich extra ungeschickt angestellt haben, abgelenkt oder unmotiviert gewesen sein. Es gilt also auch einhalb: Es ist möglich, dass die Fähigkeit vorliegt.
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Welche Wahrheitswerte sind nun »wahrer«? Das ist eine selbstbezügliche Frage zweiter Ordnung. Sie ist mathematisch nicht entscheidbar. Es lassen sich nicht nur zweiwertige und dreiwertige Logiken konstruieren, sondern unendlich viele. Da die Mathematik das Ziel verfolgt, mit immer weniger immer mehr zu sagen, gilt für die Wahl des geeigneten Kalküls: so einfach wie möglich, aber so differenziert wie nötig! Empfinde ich die zweiwertige Logik als stimmig, ist sie wegen ihrer einfachen Handhabbarkeit und damit geringeren Fehleranfälligkeit die beste Wahl. Empfinde ich sie jedoch als zu undifferenziert, werde ich nach einer stimmigeren mehrwertigen Logik suchen (vgl. Zimpel 2010b: 10ff.). Dieses einfache Beispiel zeigt, dass Beurteilungen niemals unabhängig von den Urteilenden sind. Beurteile ich z.B. die Intelligenz einer Person, stellt sich sofort die Frage: Wie intelligent ist mein Urteil? In den Naturwissenschaften mag diese Selbstbezüglichkeit des Urteilens (kurz: Selbstreferenz) weitestgehend ausblendbar sein. In der Bildungs- und Erziehungswissenschaft und darüber hinaus auch immer dann, wenn wir es mit Menschen zu tun haben, ist diese Selbstreferenz von eminenter methodischer Bedeutung. Ein aktuelles Beispiel und erster Schritt in die Richtung einer Berücksichtigung selbstreferenter Bewertungen sind Kompetenzraster. Im nächsten Abschnitt werde ich begründen, warum Kompetenzraster der Selbstreferenz von Entwicklungsbewertungen im besonderen Maße Rechnung tragen, und wo ich Möglichkeiten sehe, dieses Potenzial zu vergrößern.
6 D IE ZENTR ALE B EDEUTUNG DES E IGENVERHALTENS FÜR EINE INKLUSIVE D IDAK TIK Schulnoten sind seit ihrer Einführung vor zirka 100 Jahren umstritten, weil sie Objektivität nur vortäuschen. Das ist besonders deshalb fatal, weil Zensuren nicht selten über Bildungskarrieren und damit über Zukunftschancen entscheiden. Dabei sind Zensuren bei Schülern/-innen gar nicht so unbeliebt – allerdings nur, solange es sich um gute Zensuren handelt. Schlechte Zensuren können dagegen zu schweren Selbstzweifeln, Lernunlust, Aversionen, Depressionen und Versagensängsten führen. Für die Lernmotivation ist das natürlich alles andere als wünschenswert. Zensuren verdeutlichen, dass es in der Schule neben dem konkreten Lernen, dem Erwerb eines individuell erlebten Kompetenzzuwachses,
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auch eine andere Form des Lernens gibt. Diese abstrakte Form des Lernens zielt auf den Erwerb von Abschlüssen, die individuell eher als gesellschaftliche Anerkennung und Erlaubnis, nun etwas Bestimmtes tun zu dürfen, erlebt wird. Problematisch wird dieses abstrakte Lernen immer dann, wenn es sich verselbständigt. Dies ist immer der Fall, wenn nur noch für Zensuren gelernt wird und der individuelle Kompetenzzuwachs nicht mehr als befreiend erlebt wird. Eine Extremform dieses abstrakten Lernens ist das sogenannte »Bulimielernen«, bei dem gesellschaftlicher Druck Zensuren zum Selbstzweck erhebt. Eine interessante Alternative zu Zensuren sind deshalb Kompetenzraster: »Das Kompetenzraster ist eine Matrix, mit der in der Senkrechten die (Teil-)Lernbereiche eines Faches und in der Waagerechten in aufsteigender Linie – meist in sechs Stufen – die Kompetenzlevels aufgeführt werden.« (Bönsch 2010: 5) Dieses tabellarische Raster steckt Entwicklungsziele ab, die in der Regel in der Form von Ich-kann-Sätzen aufgelistet sind. Dadurch betont man die Kompetenzen und gibt den Lernenden auf ihrem Lernweg eine Orientierungshilfe an die Hand. Meist wird das Raster im Klassenraum für alle sichtbar ausgehängt: »Als Zeichen einer erfolgreich erledigten Arbeit erhalten die Schüler einen grünen Punkt auf das Kompetenzraster. Ein roter Punkt wird vom Lehrer für das Beherrschen einer Kompetenz vergeben.« (Grotemeyer 2009: 14) Die Kompetenzraster sollen den Dialog zwischen Lehrenden und Lernenden über verschiedene Lernwege fördern: »Das Grundanliegen ist, Schülern vor allem zu ›Ich-kann-Erlebnissen‹ zu verhelfen im Gegensatz zu ständigen Defizitbeschreibungen. Ein Lernender kommt am ehesten zu Erfolgserlebnissen, wenn er weiß, welches die Anforderungen (die anzustrebenden Kompetenzen) sind, also wenn Transparenz in Bezug auf die Ziele, Inhalte, Qualitätsniveaus und Bildungsstandards gegeben ist. Wer das Anforderungstableau kennt, kann sich an ihm orientieren, kann prüfen, wie weit er ist und was ihm noch fehlt. Das häufig genannte Prinzip der Selbstreferentialität meint, das metakognitive Wissen zu fördern. Das ›Sich-über-die-Schulter-schauen‹ wird zur Grundbefindlichkeit. Häufigere Lernstandskontrollen bewahren vor naiven und eventuell falschen Selbsteinschätzungen.« (Bönsch 2010: 5)
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Die Selbstreferenz von Lernprozessen ist Gegenstand der Kybernetik. Schon Piaget nutzte systematisch mathematische Rückkoppelungsmodelle, um Phänomene der geistigen Entwicklung zu erklären. Als wichtiges Argument für seine Theorie bezog er sich auf das Modell »order from noise« (Ordnung aus dem Rauschen, auch »stochastische Resonanz« genannt) des Physikers Foerster (vgl. Piaget 1976: 180). Auf Foerster geht auch der Begriff »Kybernetik zweiter Ordnung« zurück. Sie fordert, den Beobachter/die Beobachterin eines Systems ebenso wie das System selbst zu beschreiben und zu erklären. Insofern widmet sie sich der Beobachtung der Beobachtung und ersetzt den Begriff einer objektiven Realität durch Eigenwerte kognitiver Systeme (vgl. Foerster 2003: 229ff.; 261ff.). Foerster hat mit seiner kybernetischen Forschung und Theoriebildung der empirisch-experimentellen Kognitionsforschung nach dem zweiten Weltkrieg eine völlig neue Richtung gegeben: Das Verhalten eines lebendigen Organismus wird weder monokausal von innen noch von außen gesteuert, sondern es steuert sich selbst, indem es Eigenverhalten bildet. Dieses Eigenverhalten entwickelt sich analog zu Fixpunkten in mathematischen Iterationsgleichungen, die am Computer als Fraktale dargestellt werden können, und ist vor allem unter dem Namen »Selbstorganisation« populär geworden (vgl. Zimpel 2000: 122f.; 2003: 6ff.; 2010a: 244ff.). Selbstreferenzielles Eigenverhalten liegt zweifelsfrei den eingangs im Zusammenhang mit fluider Intelligenz erwähnten Metakompetenzen zugrunde. Kompetenzraster bieten einen empirischen Zugang zur Dokumentation ihrer Entwicklung. Bönsch schreibt zum Anliegen der Selbstreferenzialität: »Wenn die Schüler am jeweiligen Kompetenzraster ihren Lernstand feststellen und überprüfen können sollen – etwa mit Punktmarkierungen –, brauchen sie jederzeit Selbstkontrollmöglichkeiten, um gut begründet ›Ich-kann-Markierungen‹ vornehmen zu können oder eben damit noch zu warten.« (Bönsch 2010: 6)
Diese Annäherung an die Selbstbezüglichkeit des Lernens kommt dem kybernetischen Lernmodell des Eigenverhaltens schon recht nahe. Ein Problem ist jedoch die Gefahr einer zu starren Aufgliederung eines übergeordneten Lernziels in immer kleinere Lernziele. Kybernetisch lässt sich die Aufgliederung eines Lernziels in immer kleinere Teilziele als »didaktische Schleife« analysieren. Mit jedem Durchlauf dieser didaktischen Schleife kann es für Lernende – aber auch für
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die Lehrenden – immer schwerer werden, einen Überblick über den ursprünglichen Sinn der Aufgabe zu gewinnen. Schlimmstenfalls verschwindet der ursprüngliche Sinn der Aufgabe spurlos im Strudel der didaktischen Schleife (vgl. Zimpel 2009: 10ff.). Diese didaktische Schleife ließe sich durch eine Stärkung der Schülerbeteiligung bei der Zielfindung vermeiden, wie es z.B. beim Projektlernen der Fall ist (vgl. Beckmann/ Hoffmann/Zimpel 2003: 107ff.). Ein besonders überzeugendes Beispiel für das Projektlernen geben Schülerfirmen: »Schülerfirmen sind eine Art des prolongierten Projektlernens. Sie werden hin und wieder von Schülern initiiert, öfter von Lehrkräften oder anderen Betreuern. Mancherorts werden sie innerhalb eines Unterrichtsfaches betrieben, anderenorts in einer Arbeitsgemeinschaft. Auch Kombinationen von beiden gibt es.« (Ravensburg 2009: 9)
Das Projektlernen fördert die Entwicklung von Metakompetenzen in besonderem Maße, da es permanente Feedbackprozesse zwischen den übergreifenden Zielen und den anstehenden Tagesaufgaben ermöglicht: »Dass die Mitgliedergruppe sich in den meisten Schülergenossenschaften altersstufenübergreifend heterogen zusammensetzt, ermöglicht, die anliegenden Aufgaben so zu verteilen, dass die meisten Beteiligten sich herausfordernden, aber zugleich erreichbaren Aufgaben und Zielen gegenübersehen. Hierin liegen eine unabdingbare Voraussetzung für positive Selbstwirksamkeitserfahrungen und zugleich ein Schlüssel für das Erlernen von kompetenzorientierter Arbeitsteilung und Teamarbeit.« (Ebd.: 11)
All diese Beispiele zeigen: Entwicklungstheorien können bezogen auf die Entwicklung von Metakompetenzen weder unstrittige Wirklichkeitsbeschreibungen noch algorithmische Handlungsvorschriften liefern. Sucht man hinter Entwicklungsbewertungen eine Entwicklungslogik, wird die Praxis also selbst zu einer Feldstudie, in der man Axiome entwickelt und verwirft. Dieser permanente Dialog zwischen Theorie und Praxis sowie zwischen Reflexion und Handlung wird für die Zukunft der inklusiven Schule von zentraler Bedeutung sein. Denn ein starkes Argument für inklusive Schulen ist, dass sie hervorragende Ausgangsbedingungen für die Entwicklung von Metakompetenzen bieten. Will sie sich daran messen
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lassen, ist das auch eine Herausforderung an die Weiterentwicklung geeigneter Formen der Entwicklungsbewertung.
L ITER ATUR Beckmann, Wiebke/Hoffmann, Thomas/Zimpel, André F. (2003): »Lernen am gemeinsamen Gegenstand«, in: Institut für Behindertenpädagogik (Hg.), Bewährtes sichern – Neues wagen – Zukunft gestalten, Hamburg: Feldhaus Verlag, S. 107-137. Bönsch, Manfred (2010): »Erfolgreich lernen«, in: Schule Praxis 1, S. 4-7. Buckley, Sue J. (1999): »Promoting the Cognitive Development of Children With Down’s syndrome: The Practical Implications of Recent Research«, in: Rondal, Jean A./Perera, Juan/Nadel, Lynn (Hg.), Down’s Syndrome: A Review of Current Knowledge, London: Whurr. Down, J. Langdon H. (1866): »Observations on an Ethnic Classification of Idiots«, in: Clinical Lectures and Reports by the Medical and Surgical Stuff of the London Hospital. Vol. III, S. 259-262. Foerster, Heinz v. (2003): Understanding understanding. Essays on Cybernetics and Cognition, New York: Springer Verlag. Gläscher, Jan/Tranel, Daniel/Paul, Lynn K. et al. (2009): »Lesion Mapping of Cognitive Abilities Linked to Intelligence«, in: Neuron, Volume 61, Issue 5, S. 681-691. Gould, Steven J. (1988): Der falsch vermessene Mensch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Grotemeyer, Maria (2009): »Eigenständiges Lernen mit Kompetenzrastern«, in: Praxis Schule 6, S. 13-15. Halder, Cora (2010): »Dottore Francesco Aglio!«, in: Leben mit Down-Syndrom 63, S. 53. Hunt, Nigel (1979): Die Welt des Nigel Hunt – Tagebuch eines mongoloiden Jungen. 3. Auflage, München: Reinhardt Verlag. Hüther, Gerald (2009): »Pubertäres Durcheinander«, in: Praxis Schule 3, S. 10-13. Jäggi, Susanne M./Buschkuehl, Martin/Jonides, John/Perrig, Walter J. (2008): »Improving Fluid Intelligence with Training on Working Memory«, in: Proceedings of the National Academy of Sciences USA 105, S. 6829-6833.
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A NDRÉ F. Z IMPEL
A NL AGE Die einzelnen Zeilen des Pascal’schen Dreiecks lassen sich mit einer selbstbezüglichen Iteration auch ohne die Berechnung der vorhergehenden Zeilen ermitteln. Für die Berechnung der siebenten Zeile ist k=7. Hier erfolgt zunächst die etwas umständliche Berechnung über das Pascal’sche Dreieck:
Abbildung: Pascal’sches Dreieck. Nun erfolgt zum Vergleich die ausführlich dargestellte Berechnung der letzten Zeile des Pascal’schen Dreiecks über die selbstbezügliche Iterationsformel:
E NT WICKLUNGSBEWERTUNG UND I NKLUSION
Die einzelnen Iterationsschritte sind:
Dass dies immer gilt, kann man über die vollständige Induktion beweisen. Das ist eine mathematische Beweismethode, die eine Aussage für alle natürlichen Zahlen verallgemeinert, indem sie von einem beliebigen Element einer Folge n auf den Nachfolger n+1 schließt: Ziel ist der Beweis, dass man für jede natürliche Zahl k die k-te Zeile des Pascal’schen Dreiecks durch die Iterationsformel
mit a =1 und n=2,3,…,k,k+1 ermitteln kann. 1 Induktionsanfang, für n=1 gilt:
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A NDRÉ F. Z IMPEL
Induktionsannahme, für eine beliebige, aber feste natürliche Zahl k und n=2,3,…,k,k+1 wird behauptet:
Induktionsschritt:
a ist in der Induktionsannahme hypothetisch definiert worden: n
Durch Subtraktion und Auflösung der Klammer erhalten wir:
Die Multiplikation der Brüche ergibt:
Damit ist die vollständige Induktion abgeschlossen. Wenn die hypothetische Aussage beim Übergang von Folgeglied eins zu Folgeglied zwei bis zu Folgeglied n und zu Folgeglied n+1 zutrifft, kann es keine Ausnahmen geben. Das ist vergleichbar mit einer Kettenreaktion umfallender Dominosteine. Jeder umfallende Stein bewirkt das Umfallen seines Nachfolgers.
Die Autoren und Autorinnen
Eva Arnold, Prof. Dr., ist Referentin für Qualitätsentwicklung und Prodekanin für Studium und Lehre der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg, VonMelle-Park 8, 20146 Hamburg, [email protected]. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Interne Evaluation und Qualitätsentwicklung in Bildungsinstitutionen. Iris Beck, Prof. Dr., ist Professorin für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Behindertenpädagogik; Schwerpunkt: Allgemeine Behindertenpädagogik und Soziologie am Institut für Behindertenpädagogik der Fakultät Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg, Sedanstraße 19, 20146 Hamburg, [email protected]. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Lebenslagen-, Partizipationsforschung, Steuerung sozialer Problemlagen, Implementation und Evaluation gemeindeorientierter Unterstützungssysteme. Sven Degenhardt, Prof. Dr., ist Professor für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik am Institut für Behindertenpädagogik der Fakultät Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg, Sedanstraße 19, 20146 Hamburg, [email protected]. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Computer bei sehgeschädigten Menschen, Medienpädagogik, Low-Vision/Vision Rehabilitation, Qualität und Evaluation sehgeschädigtenpädagogischer Prozesse. Seit 2002 begleitet er MISEREOR-Projekte der Entwicklungszusammenarbeit in der VR China.
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I NKLUSION ALS H ERAUSFORDERUNG
Hannelore Faulstich-Wieland, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Schulpädagogik unter besonderer Berücksichtigung von Sozialisationsforschung sowie Gleichstellungsbeauftragte der Fakultät Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg, Von-Melle-Park 8, 20146 Hamburg, [email protected]. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Koedukation, Geschlechterverhältnisse im Bildungssystem sowie Mädchen/ Frauen und Technik/Naturwissenschaften. Mechtild Gomolla, Prof. Dr., ist Professorin für Erziehungswissenschaft, insbesondere interkulturelle und vergleichende Bildungsforschung an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, Postfach 700822, 22008 Hamburg, [email protected]. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Bildungsprozesse unter Bedingungen von Migration, Rassismus und institutioneller Diskriminierung, differenzbewusste Qualitätsentwicklung in pädagogischen Organisationen, Schule als öffentlicher Bildungs- und Erziehungsraum. Birgit Herz, Prof. Dr., ist Professorin für Pädagogik bei Verhaltensstörungen an der Leibniz Universität Hannover, Schloßwenderstr. 1, 30159 Hannover, [email protected]. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind International vergleichende Pädagogik bei Verhaltensstörungen, Institutionelle und soziale Desintegrationsprozesse bei schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen sowie Geschlechterdifferenz in der schulischen und außerschulischen Erziehungshilfe. Norbert Maritzen ist Direktor des Instituts für Bildungsmonitoring (IfBM), Beltgens Garten 25, 20537 Hamburg, [email protected]. de, www.bildungsmonitoring.hamburg.de Christine Pluhar, Referatsleiterin Förderzentren, Ministerium für Bildung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein III 31, Brunswiker Straße 16-22, 24105 Kiel, [email protected]. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Systementwicklung, Planung und Organisation in Bezug auf die Weiterentwicklung von Sonderschulen zu Förderzentren als Unterstützungssysteme für inklusive Bildung, Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen.
D IE A UTORINNEN UND A UTOREN
Wolfgang Praschak, Prof. Dr., ist Professor für Erziehungswissenschaft bei Beeinträchtigung der körperlichen und motorischen Entwicklung. Er arbeitet am Institut für Behindertenpädagogik der Universität Hamburg, Sedanstraße 19, 20146 Hamburg, [email protected]. Seine Arbeitsschwerpunkte gelten der Entwicklung einer allgemeinen und integrativen Pädagogik für Menschen mit einer schwersten Behinderung und der Schaffung von optimierten Bedingungen für eine frühe und früheste Förderung von Kindern, die von einer Behinderung bedroht sind. Wulf Rauer, Prof. Dr., ist Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung empirischer Methoden an der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg, Von-Melle-Park 8, 20146 Hamburg, rauer@erzwiss. uni-hamburg.de. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Evaluation pädagogischer Institutionen und Programme sowie pädagogisch-psychologische Diagnostik. Helmut Richter, Prof. Dr., ist Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der außerschulischen Jugendbildung und Prodekan der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg, Binderstraße 34, 20146 Hamburg, [email protected]. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Theorie und Geschichte der Sozialpädagogik, Kommunal- und Vereinspädagogik. Waldtraut Rath, Prof. Dr., ist emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Behindertenpädagogik mit den Schwerpunkten Blinden- und Sehbehindertenpädagogik, Hagedornstraße 27, 20149 Hamburg, [email protected]. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Bildungsplanung und Bildungsorganisation unter der Bedingung der Blindheit oder Sehbehinderung, Mehrfachbehinderung und Sehschädigung, Sehverlust im Alter sowie die Situation behinderter Studierender. Gabriele Ricken, Dr., ist Vertretungsprofessorin für Psychologie der Behinderten an der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg, Sedanstraße 19, 20146 Hamburg, [email protected]. Ihre Arbeitsschwerpunkte
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sind: Entwicklung diagnostischer Konzepte und Strategien, Schwierigkeiten beim Erwerb mathematischer Konzepte, Entwicklung von Förderkonzepten. Barbara Scholand, M. A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Promovendin an der Universität Hamburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft 1, Von-Melle-Park 8, 20146 Hamburg, [email protected]. Ihre Schwerpunkte sind Gender/Heterogenität, Schul- und Fachkulturen, Sozialisation, Gewaltprävention. Joachim Schroeder, Prof. Dr., ist Professor für Lernbehindertenpädagogik am Institut für Sonderpädagogik, Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt a.M., Senckenberganlage 15, 60325 Frankfurt a.M., [email protected]. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Schulentwicklung, Migrations- und Geschlechterforschung und berufliche Eingliederung benachteiligter Jugendlicher. Joachim Schwohl ist Lehrkraft für besondere Aufgaben im Arbeitsbereich Behindertenpädagogik der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg, Sedanstraße 19, 20146 Hamburg, [email protected]. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Strategien und Methoden zur Förderplanung, Behinderungen in schulischen Lehr-Lern-Prozessen und Inklusionspädagogik aus der Perspektive von Bildungsbenachteiligung. Tanja Sturm, Dr., ist Vertretungsprofessorin für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Förderschwerpunkts Lernen, Sedanstraße 19, 20146 Hamburg, [email protected]. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind inklusive Schulentwicklung, Behinderungen in schulischen Lehr-Lern-Prozessen sowie der Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht. Wolfram Weiße, Prof. Dr., ist Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Religionspädagogik und für ökumenische Theologie an der Universität Hamburg. Er ist Direktor des interdisziplinären Zentrums »Weltreligionen im Dialog« bzw. der daraus hervorgehenden »Akademie der Weltreligionen« der Universität Hamburg, Von-Melle-Park 8, 20146 Hamburg, [email protected]. Sei-
D IE A UTORINNEN UND A UTOREN
ne Arbeitsschwerpunkte sind: Dialog zwischen Menschen verschiedener Religionen und Kulturen, Religionsunterricht im internationalen Kontext mit Schwerpunkten in Europa, Südafrika und Nordamerika, Funktionen von Religion in gesellschaftlichen Kontexten, internationales Christentum. Alfons Welling, Prof. Dr., ist Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Sprachbehindertenpädagogik an der Universität Hamburg, Sedanstraße 19, 20146 Hamburg, welling@erzwiss. uni-hamburg.de. Seine Arbeitsschwerpunkte sind neben anderen Unterricht und schulische Sprachtherapie im Praxisfeld des Förderschwerpunktes sprachliche Beeinträchtigung, schriftsprachlicher Anfangsunterricht, das Konstrukt der phonologisch-phonetischen Entwicklungsstörung und Mehrsprachigkeit und Sprachförderung – sprachdidaktische Implikationen. André F. Zimpel, Prof. Dr., Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Sonderpädagogik, Schwerpunkt Geistigbehindertenpädagogik, Sedanstraße 19, 20146 Hamburg, zimpel@erzwiss. uni-hamburg.de. Seine Interessengebiete sind Kybernetik und Systemtheorie im Allgemeinen sowie Lernschwierigkeiten und Spieltheorie im Besonderen. Sein Forschungsschwerpunkt ist die geistige Entwicklung unter den Bedingungen neurologischer und psychologischer Syndrome.
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Theorie Bilden Stefan Dierbach Jung – rechts – unpolitisch? Die Ausblendung des Politischen im Diskurs über Rechte Gewalt Juli 2010, 298 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1468-8
Peter Faulstich Vermittler wissenschaftlichen Wissens Biographien von Pionieren öffentlicher Wissenschaft 2008, 196 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-878-0
Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki, Olaf Sanders (Hg.) Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-588-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theorie Bilden Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Figurationen von Adoleszenz Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane II 2009, 216 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1025-3
Jenny Lüders Ambivalente Selbstpraktiken Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs 2007, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-599-4
Michael Wimmer Dekonstruktion und Erziehung Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik 2006, 420 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-469-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theorie Bilden Jürgen Budde Männlichkeit und gymnasialer Alltag Doing Gender im heutigen Bildungssystem 2005, 268 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-324-2
Stephanie Maxim Wissen und Geschlecht Zur Problematik der Reifizierung der Zweigeschlechtlichkeit in der feministischen Schulkritik 2009, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1030-7
Frank Elster Der Arbeitskraftunternehmer und seine Bildung Zur (berufs-)pädagogischen Sicht auf die Paradoxien subjektivierter Arbeit
Torsten Meyer, Andrea Sabisch (Hg.) Kunst Pädagogik Forschung Aktuelle Zugänge und Perspektiven
2007, 362 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-791-2
2009, 276 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1058-1
Peter Faulstich (Hg.) Öffentliche Wissenschaft Neue Perspektiven der Vermittlung in der wissenschaftlichen Weiterbildung
Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.) Lehren bildet? Vom Rätsel unserer Lehranstalten
2006, 196 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-455-3
August 2010, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1176-2
Werner Friedrichs Passagen der Pädagogik Zur Fassung des pädagogischen Moments im Anschluss an Niklas Luhmann und Gilles Deleuze
Bettina Suthues Umstrittene Zugehörigkeiten Positionierungen von Mädchen in einem Jugendverband
2008, 306 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-846-9
2006, 296 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-489-8
Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Grenzgänge Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane
Simone Tosana Bildungsgang, Habitus und Feld Eine Untersuchung zu den Statuspassagen Erwachsener mit Hauptschulabschluss am Abendgymnasium
2005, 178 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-286-3
Andrea Liesner, Olaf Sanders (Hg.) Bildung der Universität Beiträge zum Reformdiskurs 2005, 164 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-89942-316-7
2008, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-798-1
Katharina Willems Schulische Fachkulturen und Geschlecht Physik und Deutsch – natürliche Gegenpole? 2007, 314 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-688-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de