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German Pages 356 Year 2014
Hans-Christoph Koller, Gereon Wulftange (Hg.) Lebensgeschichte als Bildungsprozess?
Theorie Bilden | Band 35
2014-10-08 11-04-15 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03ac379171133512|(S.
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Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe Theorie Bilden wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Der Zusammenhang von Theorie und Bildung ist in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, da Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben ist. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. Die Reihe Theorie Bilden ist ein Forum für theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Die Reihe wird herausgegeben von Hannelore Faulstich-Wieland, HansChristoph Koller, Karl-Josef Pazzini und Michael Wimmer, im Auftrag der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.
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Hans-Christoph Koller, Gereon Wulftange (Hg.)
Lebensgeschichte als Bildungsprozess? Perspektiven bildungstheoretischer Biographieforschung
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat und Korrektorat: Judith Zimmer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2970-5 PDF-ISBN 978-3-8394-2970-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
Einleitung
Hans-Christoph Koller / Gereon Wulftange | 7 Indexikalität und Verweisräume in Bildungsprozessen
Rainer Kokemohr | 19 Über Ehre und Erfolg im »Katz-und-Maus-Spiel«. Versuch einer holistischen Interpretation der Bildungsgestalt eines jungen Erwachsenen
Lothar Wigger | 47 »Aufstieg durch Bildung« – Versionen der Selbstbeschreibung im Interview mit Hakan Salman
Hans-Rüdiger Müller | 79 Bildung und Biographie. Zur Erschließung von Bildungsprozessen in Lebensgeschichten durch Differenzierung des narrationsstrukturellen Verfahrens
Heide von Felden | 103 »Das war das Bedeutendste daran, dass ich mich so verändert habe.« Mit Ehrgeiz und Ansporn über Umwege zum Ziel – der ›Bildungsweg‹ Hakans. Oder: Ist jede Transformation von Weltund Selbstverhältnissen sogleich bildungsbedeutsam?
Thorsten Fuchs | 127 Lernen als Positionswechsel: Komparative Analysen als Perspektive der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung
Florian von Rosenberg | 153 Wissenspfade in der Biographie von Hakan Salman
Arnd-Michael Nohl | 173
»Da ist meine Welt zusammengebrochen.« Zur Krise und ihrer affektiven Dimension als Herausforderung für Bildungsprozesse
Gereon Wulftange | 193 Subjektivation und transformatorische Bildungsprozesse im Interview mit Hakan Salman
Hans-Christoph Koller | 217 »Es ist wieder dasselbe Katz-und-Maus-Spiel« í Die Frage nach Bildungswegen und die Suche nach Bildungsprozessen
Nadine Rose | 239 Fremdheitszuschreibungen als Anstoß für transformatorische Bildungsprozesse?
Janina Zölch | 261 »… desto eingedeutschter wurde ich.« Eine rassismuskritische Perspektive auf (Hakan Salmans) Bildung
Anke Wischmann | 285 Autorinnen und Autoren | 305 Anhang: Transkript des Interviews mit Hakan Salman | 309
Einleitung H ANS -C HRISTOPH K OLLER / G EREON W ULFTANGE
Die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung stellt den Versuch dar, zwei Forschungsrichtungen der Erziehungswissenschaft aufeinander zu beziehen, die traditionell strikt voneinander getrennt waren, nämlich die philosophisch orientierte Bildungstheorie, die sich innerhalb der Erziehungswissenschaft als Ort der Reflexion über Ziele, Begründung und Kritik pädagogischen Handelns verstehen lässt, und die empirische Bildungsforschung, genauer: die qualitative Erforschung der Verlaufsformen und Bedingungen von Bildungsprozessen. Den Grund dafür, diese beiden Forschungsrichtungen einander anzunähern, stellt die Überzeugung dar, dass beide für sich genommen jeweils entscheidende Leerstellen aufweisen und deshalb systematisch aufeinander angewiesen sind. Empirische Bildungsforschung, so die These, benötigt eine theoretische Klärung ihres Gegenstands, also der Frage, was unter Bildung verstanden werden soll (und zwar einschließlich einer Reflexion der normativen Implikationen der jeweiligen Fassungen des Begriffs). Und umgekehrt bedarf die Bildungstheorie einer empirischen Erforschung von Bildungsprozessen, will sie sich nicht in einer bloßen »Postulatepädagogik« erschöpfen, wie Andreas Gruschka das schon vor zwei Jahrzehnten formuliert hat (vgl. Gruschka 1992). Das Programm einer bildungstheoretisch fundierten Biographieforschung geht zurück auf Arbeiten Rainer Kokemohrs und Winfried Marotzkis, die seit Ende der 1980er Jahre versucht haben, die methodologischen Überlegungen der vor allem von Fritz Schütze begründeten sozialwissenschaftlichen Biographieforschung für die empirische Untersuchung von Bildungsprozessen fruchtbar zu machen (vgl. Kokemohr 1989, Kokemohr /
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Marotzki 1989, Kokemohr 2007 sowie Marotzki 1990, 1991, 1995 und 2006). Mittlerweile hat eine ganze Reihe von Erziehungswissenschaftler_innen diesen Ansatz aufgegriffen und versucht, ihn zur Untersuchung von Bildungsprozessen in verschiedenen Kontexten zu nutzen. Als grundlegend für den Ansatz können vor allem zwei allgemeine Prämissen gelten. Zum einen geht bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung davon aus, dass Bildungsprozesse – unabhängig davon, wie man sie im Einzelnen begrifflich fassen mag – keine objektiven Gegebenheiten sind, die sich unabhängig von den Bedeutungszuschreibungen der Beteiligten vollziehen und deshalb mit objektivierenden Verfahren gemessen werden könnten. Bildungsprozesse lassen sich vielmehr im Sinne des interpretativen Paradigmas als interaktiv hervorgebrachte, sinnhafte Phänomene begreifen, die nur angemessen zu erfassen sind, wenn man die Bedeutungszuschreibungen rekonstruiert, die ihnen zugrunde liegen (vgl. Hoffmann-Riem 1994). Daraus folgt, dass Bildungsprozesse in erster Linie mit den Mitteln qualitativer (oder rekonstruktiver) Forschung untersucht werden können. Zum anderen ist anzunehmen, dass Bildungsprozesse (von seltenen Ausnahmen abgesehen) keine einmaligen, instantanen Vorgänge darstellen, sondern als langfristiges Geschehen aufzufassen sind, das sich im Kontext lebensgeschichtlicher Entwicklungen vollzieht. Deshalb können im Rahmen der Methodologie qualitativer Forschung biographische Verfahren als besonders geeignet gelten, um Bildungsprozesse empirisch zu erfassen. Vor diesem Hintergrund haben verschiedene diesem Ansatz zuzurechnende Arbeiten Anlässe, Verlaufsformen und Bedingungen von Bildungsprozessen mit den Mitteln sozialwissenschaftlicher Biographieforschung untersucht und sind dabei zu durchaus vorzeigbaren Resultaten gelangt. Dazu gehören neben den bereits erwähnten Arbeiten Rainer Kokemohrs und Winfried Marotzkis u. a. Studien von Hans-Christoph Koller (1999), Heide von Felden (2003), Arnd-Michael Nohl (2006), Florian von Rosenberg (2011), Thorsten Fuchs (2011) und Nadine Rose (2012). Die Vielzahl solcher Untersuchungen zeigt, dass der Ansatz der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung mittlerweile zu den etablierten und breiter rezipierten Forschungsansätzen in der Erziehungswissenschaft gehört (als Überblick vgl. Rosenberg 2011: 17–56 und Fuchs 2011: 85–188). Neben der Resonanz, die diese Forschungsrichtung erfahren hat, gibt es andererseits aber auch eine Reihe grundsätzlicher Anfragen und
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kritischer Einwände gegen eine solche Verknüpfung unterschiedlicher Zugänge zu ›Bildung‹ bzw. gegen die je spezifischen Formen, in denen diese Verknüpfung erfolgt (vgl. dazu z. B. Wigger 2004, Stojanov 2006, Müller 2003 und 2009, Fuchs 2011). Zu diesen Anfragen und Einwänden gehören u. a. die folgenden Fragen: •
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Wie können im Rahmen bildungstheoretisch fundierter Biographieforschung die gesellschaftlichen und diskursiven Rahmenbedingungen individueller Bildungsprozesse angemessen berücksichtigt und Bildungsprozesse als Transformationen nicht nur von Selbst-, sondern auch von Weltverhältnissen analysiert werden? Wie kann es gelingen, Theorie und Empirie im Rahmen dieses Ansatzes so miteinander zu verknüpfen, dass das empirische Material nicht nur zur Illustration bereits vorliegender theoretischer Konzepte dient, sondern auch zu deren Weiterentwicklung beiträgt? Wie können die normativen Implikationen des Bildungsbegriffs im Rahmen solcher Forschung angemessen berücksichtigt werden? Ist es möglich, sich dabei auf einen rein deskriptiven Begriff von Bildung(sprozessen) zu beschränken, oder sollte(n) Bildung(sprozesse) darüber hinaus auch als wünschenswerte Transformationen des Welt- und Selbstverhältnisses in einem näher zu bestimmenden Sinn qualifiziert werden?
Diese Fragen stehen im Zentrum des vorliegenden Bandes, dessen Grundgedanke darin besteht, diese und weitere Fragen anhand eines empirischen Beispiels zu diskutieren, das den gemeinsamen Referenzpunkt aller Beiträge bildet. Als solche Grundlage dient ein biographisches Interview mit Hakan Salman, einem jungen Mann mit türkischem Migrationshintergrund, das aus einem von Vera King und Hans-Christoph Koller geleiteten Forschungsprojekt stammt und allen Beiträger_innen zur Verfügung gestellt wurde.1 Um die unterschiedlichen Analysen und Interpretationen nachvoll-
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Es handelt sich dabei um das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Forschungsprojekt über »Bildungskarrieren und adoleszente Ablösungsprozesse bei männlichen Jugendlichen aus türkischen Migrantenfamilien«, durchgeführt vom 1.1.2008 bis 31.3.2011 an der Universität Hamburg. Wissenschaftliche Mitarbeiter_innen waren Javier Carnicer und Janina Zölch,
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ziehbar zu machen, wird das Interview in voller Länge am Ende dieses Bandes abgedruckt; bei der Transkription des Interviews wurden alle Personen- und Ortsnamen verändert, um die Anonymität des Interviewten zu gewährleisten. Die Reihe der Beiträge wird eröffnet durch den Text von Rainer Kokemohr, der sich der bildungstheoretischen Frage, inwiefern der in der Erzählung Hakan Salmans artikulierte Prozess den Namen Bildung verdient, auf dem Wege einer sprach- und bildungstheoretisch begründeten Mikroanalyse nähert. Unter Rekurs auf Konzepte der Pragmalinguistik und der Inferenzanalyse begreift er Welt-Selbst-Verhältnisse als indexikalische Verweisräume, die durch deiktische Ausdrücke modifiziert werden können. Als Bildungsprozess gilt ihm dabei diejenige Form der Thematisierung eines Erzählproblems, bei der es im Zuge solcher Modifikationen zur Eröffnung neuer Verweisräume und damit zu einem »qualitativen Sprung« in der Behandlung des Problems kommt. Die exemplarische Analyse ausgewählter Interviewpassagen führt ihn zu der These, dass die Erzählung Hakan Salmans durch einen Gegensatz zweier Verweisräume gekennzeichnet sei, in dem sich die Welt der Mutter bzw. der Freunde auf der einen und die Welt des Vaters und der Lehrer auf der anderen Seite unvereinbar gegenüberstünden. In einer Passage, in der der Erzähler sein Scheitern in der mündlichen Abiturprüfung mit der Erfahrung eines KZ-Häftlings vergleicht, werde dieser Gegensatz zwar bis an eine kritische Schwelle gebracht, ohne diese Schwelle aber im Sinne einer Überwindung dieses Gegensatzes bzw. der Eröffnung eines neuen Verweisraums zu überschreiten. Die Erzählung erscheint so als Erzählung eines »Bildungsvorhalts«, dessen Auflösung zukunftsoffen dem »lebensgeschichtlichen Fortgang« vorbehalten bleibt. Lothar Wigger liest das Interview mit Hakan Salman im Anschluss an Hegel als Dokument einer »Bildungsgestalt«, d. h. eines Zusammenhangs zwischen objektiven Bedingungen einerseits und subjektiver Verfasstheit sowie Stellung zu diesen Bedingungen andererseits, der als jeweiliges Resultat der Auseinandersetzung eines Menschen mit seiner Umwelt und gleichzeitig als Grundlage jeder weiteren Auseinandersetzung zu verstehen sei. Als wesentliches Kennzeichen der Bildungsgestalt Hakan Salmans
studentische Hilfskräfte Elvin Subow und Esther Pinck. Zu Fragestellung, theoretischem Rahmen, methodischer Anlage und Ergebnissen dieses Projekts vgl. King et al. 2011, Koller et al. 2010 und Zölch et al. 2009.
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arbeitet Wigger ein spannungsvolles Nebeneinander mehrerer Tendenzen heraus, in dem sich der Anspruch auf Erfolg und Ansehen, ein Unterlegenheitsgefühl infolge von Ohnmachtserfahrungen sowie ein hohes moralisches Selbstbewusstsein gegenüberstehen. Hakans Verhältnis zu anderen ist demnach primär davon bestimmt, inwiefern diese ihn unterstützen und seine Maßstäbe für Erfolg und Moral teilen, während für seinen Weltbezug die doppelte Differenz zwischen Familie und Schule einerseits sowie zwischen türkischem und deutschem Freundeskreis andererseits charakteristisch sei. Ausgehend von dieser Rekonstruktion fragt Wigger, inwiefern diese Bildungsgestalt sich im Verlauf von Hakans Lebensgeschichte grundlegend transformiert, und kommt zu dem Ergebnis, dass zwar Veränderungen zu verzeichnen seien, die jedoch nur einen Aspekt der Biographie betreffen, nämlich die Haltung zu Schule bzw. Schulerfolg, während die Bindung an Familie, Verwandte und Stadtteil oder die personalisierte Sicht auf Institutionen unverändert blieben. Abschließend geht der Beitrag auf die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen an eine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung ein und begegnet dabei der drohenden »Weltvergessenheit« dieser Forschungsrichtung mit dem Versuch, die Analyse der individuellen Biographie Hakan Salmans gesellschaftstheoretisch zu kontextualisieren, indem sie die Anerkennungskonflikte rekonstruiert, die sich aus den Strukturbedingungen der Institution Schule ergeben (können). Der Beitrag von Hans-Rüdiger Müller zielt darauf ab, zunächst die immanente Sinnstruktur des Interviewtextes zu rekonstruieren, um diese dann einerseits auf den lebensweltlichen Horizont und das lebenspraktische Umfeld des Interviewten und andererseits auf den bildungstheoretischen Diskurs zu beziehen. Die immanente Sinnstruktur des Textes wird dabei auf zwei »Sinnfiguren« zurückgeführt, deren erste die Lebensgeschichte des Interviewten in der Ordnungsmatrix des öffentlichen Bildungsdiskurses als »Bildungskarriere« zu verstehen gibt, während die zweite die im sozialen Bezugssystem von Familie und Freunden verankerten »Vergemeinschaftungspraxen« hervorhebt. Die lebensweltliche Bedeutung dieser Sinnfiguren liegt Müller zufolge zum einen in der Ausrichtung auf Bildungsabschlüsse als »Mittel der sozialen Inklusion, beruflichen Integration und kulturellen Adaption«, zum andern in der Selbstverortung in einem für den Interviewten selbst nicht immer ganz leicht zu ordnenden »Feld von Bindungen, Verpflichtungen und Distinktionen«. Bildungstheoretisch lässt sich dies als eine »Bildungskonfiguration« begreifen, die weniger dem Modell
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einer grundlegenden Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen entspricht als vielmehr einer »kontinuierlichen aktiven und passiven Adaption an unterschiedliche Erfahrungs- und Handlungsfelder« – und damit als eine Konfiguration, die geeignet scheint, die strikte Entgegensetzung von ›Bildung‹ und ›Sozialisation‹ infrage zu stellen. Heide von Feldens Beitrag geht von den oben skizzierten Fragestellungen aus, die der Tagung zugrunde lagen. Im Blick auf das Verhältnis von Theorie und Empirie vertritt sie die These, dass die Analyse und Interpretation des Interviews mit Hakan Salman es erlaube, eine Variante des Umgangs mit Migrationserfahrungen herauszuarbeiten, nämlich »das Kennenlernen einer zweiten Welt neben der ersten«, ohne dass diese neue Lebenswelt vom Biographieträger »durchschaut und verarbeitet« würde. Insofern kommt es ihrer Deutung zufolge nur zu ersten Schritten eines Bildungsprozesses, da der Umgang Hakan Salmans mit Erfahrungen der Differenz zwischen »türkischer« und »deutscher« Lebenswelt noch unentschieden bleibe. Zugleich wird versucht, die gesellschaftlichen und diskursiven Rahmenbedingungen dieses Bildungsprozesses sowohl durch erzählstrukturelle Analysen als auch durch die Thematisierung der gesellschaftlichen Bedeutung des Bildungsaufstiegs angemessen zu berücksichtigen. In normativer Hinsicht betont von Felden, dass Bildung die Fähigkeit zu einem kritischen Umgang mit Kulturgütern, zu Selbstreflexion und Mehrperspektivität umfasse und dass damit Kategorien zur Verfügung stünden, Bildungsprozesse auch empirisch ausweisbar zu machen. Thorsten Fuchs geht in seinem Beitrag davon aus, dass im Rahmen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung die normative Dimension des Bildungsbegriffs insofern zu wenig berücksichtigt wurde, als ungeklärt sei, ob jede Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen bereits den Namen ›Bildung‹ verdiene bzw. welche inhaltlichen Bestimmungen über die Qualität oder Richtung dieser Transformation dafür erforderlich seien. In Anknüpfung an Kirsten Meyer arbeitet er als zentrale Momente von Bildung Selbstbestimmung und kritische Reflektiertheit heraus und beschreibt die kritische Prüfung persönlicher Ansichten bzw. vermeintlich selbstverständlicher Werte und Normen als unverzichtbare Merkmale von Bildungsprozessen. Aus dieser Perspektive wendet sich Fuchs dann dem Interview mit Hakan Salman zu und diskutiert, inwiefern die darin zum Ausdruck kommenden Veränderungen des Verhältnisses zur Welt, zu anderen und zu sich selbst diesem Anspruch genügen. Als bildungsbedeut-
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sam erscheine zwar, dass der Interviewte sich in seinen Lebensvollzügen selbstkritisch befrage; doch der Umstand, dass er für sein Scheitern in der Schule ausschließlich andere verantwortlich mache und seine Zuversicht, sein Ziel mit Fleiß und Leistungsstreben schon erreichen zu können, keinerlei kritischer Prüfung unterziehe, sprächen eher dagegen, dass es sich hier um einen Bildungsprozess handle. Florian von Rosenberg versucht anhand von Fallvergleichen einerseits die »kollektive Einbindung« des hier zur Diskussion stehenden Einzelfalls und andererseits die besondere Verlaufsstruktur des Transformationsprozesses von Hakan Salman herauszuarbeiten. Unter Verweis auf ArndMichael Nohls Konzept der »Sphärendifferenz« sowie eigene empirische Studien wird der bei Hakan Salman wirksame Gegensatz zwischen der Sphäre der Familie und der Sphäre der pädagogischen Institutionen als eine für Migrantenfamilien typische Konstellation gedeutet, die schulische Erfolge erschwere. Kennzeichnend für den vorliegenden Fall seien darüber hinaus Passungsschwierigkeiten zwischen dem sozialisatorisch erworbenen Habitus und dem Feld der Schule im Sinne Bourdieus, die aber nicht nur zur Reproduktion sozialer Strukturen beitrügen, sondern auch ein Transformationspotenzial darstellten. Da es bei Hakan Salman nicht zu einer Reinterpretation der eigenen Geschichte komme, deutet von Rosenberg die sich in dem Interview abzeichnende Transformation jedoch nicht als Bildungs-, sondern als Lernprozess, betont aber zugleich, dass darunter mehr als ein bloßer Wissenszuwachs zu verstehen sei. Die methodologische Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Empirie im Rahmen qualitativer bzw. rekonstruktiver Forschung greift der Beitrag von Arnd-Michael Nohl auf. Da die dokumentarische Methode von Anfang an fallvergleichend vorgeht, sei es nicht möglich, den spezifischen Zugang dieses Verfahrens zu empirischen Materialien anhand der Analyse eines Einzelfalls zu demonstrieren. Stattdessen verfolgt der Beitrag das Ziel, eine neue grundlagentheoretische Kategorie, nämlich den Begriff des »Wissenspfades«, in die Diskussion einzuführen und dessen Reichweite im Zuge einer Interpretation der Biographie Hakan Salmans zu erproben. Mit diesem Begriff versucht Nohl das aus Ökonomie und historischer Soziologie stammende Konzept der »Pfadabhängigkeit« für die Analyse individueller Biographien fruchtbar zu machen und herauszuarbeiten, wie ein zunächst kontingenter Rahmen individueller Problembearbeitung sich allmählich so verfestigen kann, dass er nachfolgende Ereignisse determiniert. Die-
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sen Prozess verdeutlicht der Beitrag am Beispiel einer zunächst ganz unspektakulär erscheinenden Szene aus Hakan Salmans biographischer Erzählung, die sich in der Folge als prägend für die Art und Weise herausstellt, in der dieser mit Lernaufgaben umgeht. Gereon Wulftange nähert sich dem Interviewtext in einer vortheoretischen, gleichwohl bildungstheoretisch sensibilisierten Haltung an, die durch Überlegungen der Grounded Theory angeregt ist. Er entfaltet anhand einiger Schlüsselstellen des Interviewtextes die Hypothese, dass Veränderungen grundlegender Figuren des Welt- und Selbstentwurfs durch krisenhafte Erfahrungen herausgefordert werden, die eine starke emotionale, affektive, pathische Färbung aufweisen. Ausgehend von dieser empirisch herausgestellten Hypothese skizziert er bildungstheoretische Fragen und Anschlussmöglichkeiten, um diese Vermutung begrifflich zu präzisieren. Hans-Christoph Koller liest das Interview mit Hakan Salman aus der Perspektive der bildungstheoretisch gewendeten Subjektivationstheorie Judith Butlers, die ihm geeignet scheint, dem Vorwurf der »Weltvergessenheit« an die Adresse der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung zu begegnen. Subjektivation gilt dabei als ambivalenter Prozess der Subjektkonstitution, in dem die Unterwerfung unter gesellschaftliche Machtverhältnisse und die Entstehung einer (potenziell widerständigen) Handlungsfähigkeit untrennbar verbunden sind. Bildung lässt sich dann als Transformationsprozess begreifen, in dem sich durch »resignifizierende« Bedeutungsverschiebungen das Verhältnis des Subjekts zur Welt, zu anderen und zu sich selber verändert. Anhand von drei »Schlüsselszenen« aus der Erzählung Hakan Salmans versucht Koller zu zeigen, wie in mehreren Anläufen das zunächst durch Mangel- und Ohnmachtserfahrungen geprägte Welt- und Selbstverhältnis des Protagonisten einer Orientierungsfigur Platz macht, die durch das Streben nach Selbstständigkeit auf der Basis emotionaler Unterstützung durch andere gekennzeichnet ist. Als bildungstheoretische Quintessenz wird abschließend hervorgehoben, dass Bildung hier nicht als dramatische Konversion erscheint, sondern als allmähliches Geschehen, das durch eher unscheinbare Verschiebungen eingeleitet wird. Judith Butlers Theorie der Subjektivierung spielt ebenfalls eine wichtige Rolle im Beitrag von Nadine Rose, der das von Hakan Salman an zwei markanten Stellen verwendete Bild vom »Katz-und-Maus-Spiel« in den Mittelpunkt stellt. Die Metapher wird dabei als verdichtete Antwort auf die Erzählaufforderung des Interviewers verstanden, die Rose im Anschluss an
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Butler als »Anrufung« deutet. Die Beschreibung der Schwierigkeiten des eigenen Bildungs(um)wegs als »Katz-und-Maus-Spiel« erscheint so als Reaktion auf die implizite Norm, den eigenen Lebens- und Bildungsweg als geradlinigen Prozess zu schildern. Dass die Metapher beim ersten Mal zur Charakterisierung der sehr viel bedrohlicheren Ohnmachtsposition gegenüber dem gewalttätigen Vater verwendet wird, wirft die Frage auf, ob die Bedeutungsverschiebung zwischen den beiden Verwendungsweisen im Sinne Butlers als »Resignifizierung« und damit als Bildungsprozess aufzufassen sei. Da eine Antwort auf diese Frage eine Analyse der dominanten gesellschaftlichen Diskurse, in die eine solche Erzählung eingebettet ist, erforderlich mache, lässt Rose die Frage offen, macht aber deutlich, dass dabei insbesondere solche Diskurse zu berücksichtigen wären, in denen Menschen als »Migrationsandere« angerufen werden. Der Beitrag von Janina Zölch thematisiert vor allem die Diskriminierungserfahrungen, die von Hakan Salman beschrieben werden, und geht vor diesem Hintergrund der Frage nach, ob solche Erfahrungen ein Problem darstellen, für dessen Bewältigung das bestehende Welt- und Selbstverhältnis einer Person sich als nicht ausreichend erweist, und inwiefern mit Diskriminierungserfahrungen verbundene Fremdheitszuschreibungen deshalb »zum Anstoß oder zur Herausforderung für transformatorische Bildungsprozesse werden« können. Dabei nutzt sie Mark Terkessidis’ Beschreibung der »vier Akte der Bewusstmachung von Fremdheit«, um Hakan Salmans Umgang mit Diskriminierungserfahrungen zu rekonstruieren, und kommt zu dem Ergebnis, dass dieser Umgang auf einen Bildungsprozess im Sinne einer Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses verweise, der allerdings insofern nicht abgeschlossen sei, als seine kritische Haltung gegenüber Fremdheitszuschreibungen, denen er selbst ausgesetzt war, mit stereotypen Kategorisierungen seiner deutschen bzw. türkischen Freunde einhergehe. Ähnlich wie andere Beiträge stellt auch Anke Wischmann die Frage ins Zentrum, inwiefern es sich bei der Lebensgeschichte Hakan Salmans um eine »Bildungsgeschichte« handelt. Die Besonderheit ihrer Perspektive besteht darin, dass sie zugleich untersuchen möchte, »unter welchen Bedingungen diese Frage gestellt und beantwortet wird«, und dazu die Ansätze der Critical Race Theory und der Subjektivierungstheorie Judith Butlers heranzieht. In ihrer Analyse des Interviews kommt sie zu dem Schluss, dass für den vorliegenden Fall eine Strategie der Anpassung an das rassistisch
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geprägte deutsche Gesellschafts- und Bildungssystem kennzeichnend sei, insofern Hakan Salman sich dessen vermeintlich meritokratischen Anforderungen unterwerfe und dabei rassistische Argumentationsmuster wie z. B. die Dichotomie türkisch vs. deutsch verwende. Diese Strategie verhelfe ihm zwar zu einer gewissen Handlungsfähigkeit, sodass sich »ein transformatives Geschehen vom ohnmächtigen Kind zum handlungsfähigen und (bildungs-)erfolgreichen jungen Erwachsenen« rekonstruieren lasse. Eine Infragestellung oder gar Veränderung der rassistischen Diskurse, die ihm die Anerkennung als Subjekt verweigerten, finde aber nicht statt, sodass von Bildung im Sinne einer grundlegenden Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses nicht die Rede sein könne. Ein großer Teil der hier versammelten Beiträge geht zurück auf die Vorträge einer Tagung, die im Mai 2012 an der Universität Hamburg stattgefunden hat. Unser Dank gilt allen Teilnehmer_innen dieser Tagung sowie insbesondere Judith Zimmer, die die Beiträge Korrektur gelesen und das Layout erstellt hat.
L ITERATUR Felden, Heide von (2003): Bildung und Geschlecht zwischen Moderne und Postmoderne. Zur Verknüpfung von Bildungs-, Biographie- und Genderforschung. Opladen: Leske + Budrich. Fuchs, Thorsten (2011): Bildung und Biographie. Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. Bielefeld: transcript. Gruschka, Andreas (1992): »Kennt die Bildungstheorie die Bildungsprozesse junger Erwachsener?«. In: Neue Sammlung 32, S. 355–370. Hoffmann-Riem, Christa (1994): »Die Sozialforschung einer interpretativen Soziologie – Der Datengewinn«. In: dies.: Elementare Phänomene der Lebenssituation. Ausschnitte aus einem Jahrzehnt soziologischen Arbeitens. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 20–70 (erstmals erschienen 1980). King, Vera / Koller, Hans-Christoph/Zölch, Janina / Carnicer, Javier (2011): »Bildungserfolg und adoleszente Ablösung bei Söhnen aus türkischen
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Migrantenfamilien. Eine Untersuchung aus intergenerationaler Perspektive«. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 14 (4), S. 581–601. Kokemohr, Rainer (1989): »Bildung als Begegnung? Logische und kommunikationstheoretische Aspekte der Bildungstheorie Erich Wenigers und ihre Bedeutung für biographische Bildungsprozesse in der Gegenwart«. In: Otto Hansmann / Winfried Marotzki (Hg.): Diskurs Bildungstheorie. Rekonstruktion der Bildungstheorie unter Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft. Bd. 2. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 327–373. Kokemohr, Rainer (2007): »Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Fremden. Annäherungen an eine Bildungsprozesstheorie«. In: Hans-Christoph Koller / Winfried Marotzki / Olaf Sanders (Hg.): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Bielefeld: transcript, S. 13–69. Kokemohr, Rainer / Marotzki, Winfried (Hg.) (1989): Biographien in komplexen Institutionen: Studentenbiographien I. Frankfurt a. M. / Bern u. a.: Peter Lang. Koller, Hans-Christoph (1999): Bildung und Widerstreit. Zur Struktur biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne. München: Fink. Ders. / Carnicer, Javier / King, Vera / Subow, Elvin / Zoelch Janina (2010): »Educational Development and Detachment Processes of Male Adolescents from Immigrant Families«. In: Journal of Identity and Migration Studies 4 (2), S. 44–60. Marotzki, Winfried (1990): Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften. Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Ders. (1991): »Aspekte einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung«. In: Dietrich Hoffmann / Helmut Heid (Hg.): Bilanzierungen erziehungswissenschaftlicher Theorieentwicklung. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 119–134. Ders. (1995): »Qualitative Bildungsforschung«. In: Eckard König / Peter Zedler (Hg.): Bilanz qualitativer Forschung, Bd. 1. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 99–113. Ders. (1996): »Neue Konturen Allgemeiner Pädagogik: Biographie als vermittelnde Kategorie«. In: Michele Borrelli / Jörg Ruhloff (Hg.): Deutsche Gegenwartspädagogik, Bd. II. Baltmannsweiler: Schneider, S. 67–84.
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Müller, Hans-Rüdiger (2003): »Rezension zu Hans-Christoph Koller: Bildung und Widerstreit. Zur Struktur biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne. München: Fink 1999«. In: Jahrbuch für Bildungsund Erziehungsphilosophie, Bd. 5, S. 264–272. Ders. (2009): »Bildungsprozesse in biografischer Erfahrung«. In: Wolfgang Melzer / Rudolf Tippelt (Hg.): Kulturen der Bildung. Beiträge zum 21. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Opladen / Farmington Hills: Barbara Budrich, S. 252í254. Nohl, Arnd-Michael (2006): Bildung und Spontaneität – Phasen von Wandlungsprozessen in drei Lebensaltern. Opladen: Budrich-Verlag. Rose, Nadine (2012): Migration als Bildungsherausforderung. Subjektivierung und Diskriminierung im Spiegel von Migrationsbiographien. Bielefeld: transcript. Rosenberg, Florian von (2011): Bildung als Habitustransformation. Empirische Rekonstruktionen biographischer Bildungsprozesse zwischen Habitus und Feld. Bielefeld: transcript. Stojanov, Krassimir (2006a): »Philosophie und Bildungsforschung: Normative Konzepte in qualitativ-empirischen Bildungsstudien«. In: Ludwig Pongratz / Michael Wimmer / Wolfgang Nieke (Hg.): Bildungsphilosophie und Bildungsforschung. Bielefeld: Janus, S. 66í85. Wigger, Lothar (2004): »Bildungstheorie und Bildungsforschung in der Gegenwart. Versuch einer Lagebeschreibung«. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 80, S. 478–493. Zölch, Janina / Carnicer, Javier / King, Vera / Koller, Hans-Christoph /Subow, Elvin (2009): »Bildungsaufstieg als Migrationsprojekt. Fallstudie aus einem Forschungsprojekt zu Bildungskarrieren und adoleszenten Ablösungsprozessen bei männlichen Jugendlichen aus türkischen Migrantenfamilien«. In: Vera King / Hans-Christoph Koller (Hg.): Adoleszenz – Migration – Bildung. Bildungsprozesse Jugendlicher und junger Erwachsener mit Migrationshintergrund. 2. erw. Aufl. Wiesbaden: VSVerlag, S. 67–84.
Indexikalität und Verweisräume in Bildungsprozessen R AINER K OKEMOHR
V ORBEMERKUNG Der hier zugrunde gelegte Bildungsbegriff hat sich inzwischen in manchen Diskussionen durchgesetzt. Da ich an seiner Geburt und Entwicklung nicht ganz unschuldig bin, skizziere ich einleitend meine Sicht seiner Geschichte. Von Bildung als einem Prozess spreche ich, wenn sich unsere WeltSelbstverhältnisse so ändern, dass wir auf neuartige Erfahrungen antworten können. In der Rückschau erkenne ich, dass diese Auffassung nicht unberührt ist von frühen Erfahrungen, die letztlich auf Lasten durch die Kriegsund Nachkriegsgeschichte zurückgehen. Begriffliche Fassungen haben wir seit den frühen 1980er Jahren in ausgedehnten Analysen und Diskussionen im Rahmen unseres Oberseminars diskutiert. Eine Übereinstimmung in der Grundvorstellung gab es schnell. Ein systematisch wichtiger Punkt hat uns jedoch länger beschäftigt. Winfried Marotzki hat dafür plädiert, jene Veränderung von Welt- und Selbstverhältnissen als Transformation aufzufassen.1 Das Wort Transformation legt nahe, jene Veränderung als logisch rekonstruierbaren Prozess zu sehen. In klugen Interpretationen u. a. im Anschluss an G. Günthers zweiwertige Logik nimmt er Hegelsches Erbe auf, um über Beschreibung und Analyse hinaus
1
Marotzki 1990: 144 ff.
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einen begrifflichen Rahmen für eine bildungstheoretisch anspruchsvolle Analyse von Kommunikationsprozessen zu gewinnen. Mit einer gewissen Naivität habe ich nach einem anderen Weg gesucht, weil ich das Leben in seiner kulturellen Verschiedenheit nur bedingt für logisch rekonstruierbar halte und – bestärkt durch meine Erfahrungen in anderen Kulturen2 – nicht sehe, wie umgangssprachlicher Wuchs verlustfrei in logisch idealisierenden Formen aufzuheben sei. In den Folgejahren hat die Diskussion Hans-Christoph Koller und mich zu der Ersetzung des Transformationsbegriffs durch die der Rhetorikdiskussion entlehnte Vorstellung geführt, dass es sich in Bildungsprozessen um eine Veränderung von Grundfiguren von Welt- und Selbstverhältnissen handele. Die Funktion und Veränderung von Grundfiguren wiederum ließ sich in der von Grice ausgehenden pragmalinguistischen Debatte über die Möglichkeit und Struktur von Verstehen im Übergangsfeld von Kommunikation und Kognition aufnehmen, zu deren später Phase das Buch »Relevance« von Sperber und Wilson gehört.3 Ihr bedeutender Beitrag liegt darin, die Funktion inferentieller Satzverknüpfungen hervorzuheben und deren Relevanz für Bedeutungsbildung in kommunikativen Prozessen hervorzuheben. Vereinfach formuliert geht es um sprachlich-kognitive Formen der Satzverknüpfung, die Textkohärenz durch den sinnvollen Anschluss einer Äußerung an die vorausgehende Äußerung sichern. Die Autoren sehen in der Chomsky-Katz-Tradition Inferenz als ein Schlussverfahren, das paradigmatisch in Syllogismen und ähnlichen Figuren operiere. Mit ihrer Annahme, es gebe einen entsprechenden kognitiv-sprachlichen Apparat, der, allen
2
Seit 1986 arbeite ich regelmäßig in Kamerun. Die Untersuchungen der frühen Feldforschungsaufenthalte haben ab 1991 in Mbouo, Bandjoun, zum Aufbau einer Reform-Primarschule, 2005 zur Eröffnung eines Instituts wissenschaftlicher Lehrerausbildung in unmittelbarer Nachbarschaft der Schule und 2010 zu dessen Erweiterung zu einer neuen Universität mit derzeit 6 Fakultäten geführt. – Seit 2001 bin ich auch regelmäßig in Taiwan, wo sich die chinesische Kultur außerhalb des Diktats der maoistischen Kulturrevolution stärker erhalten hat als auf dem chinesischen Festland. Es liegt auf der Hand, dass die Erfahrungen in drei so verschiedenen Kulturen besondere Herausforderungen für das Verstehen bedeuten.
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Sperber / Wilson 1986.
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Menschen eingeboren, textuelle Kohärenz durch Inferenz ermögliche, ist ihr handlungstheoretisch zunächst sehr offenes Konzept jedoch an ein logisches Korsett gebunden. Diese Bindung ließ mich zögern, der Einhegung von Inferenz in Grundbegriffen der Logik vorbehaltlos zu folgen. Ohne einem engen Kulturalismus folgen zu wollen, glaubte und glaube ich, dass wichtige kulturelle Besonderheiten nicht umstandslos von einem Regelsystem gedeckt sind, das letztlich auf dem okzidentalen Identitätsprinzip aufbaut.4 Deshalb habe ich mit Dan Sperber in Paris über kulturelle Relativierungen inferentieller Satzverknüpfung gesprochen. Er hielt den universalen Regelapparat logisch rekonstruierbarer Satzverknüpfung jedoch für die wirksame Grundlage, auf die alle Unregelmäßigkeiten oder Brechungen sprachlicher Weltzuwendung zurückzuführen seien. Dabei konnte er seine Haltung auf einen Begriff von Inferenz stützen, der damals eng als Begriff der Logik aufgefasst wurde. »To infer« bedeutet »schließen«, und die Bedeutung von Inferenz schien tatsächlich in logisch rekonstruierbaren Schlussverfahren repräsentiert zu sein. Doch in Analysen meiner KamerunErfahrungen – so in einer penibel analysierten Unterrichtsszene mit dem Lehrer Sébastien im abgelegenen Kameruner »Busch« – hatte ich gesehen, dass Äußerungen, statt nur von logisch stringenten Schlussverfahren, auch von pragmatischen Vergesellschaftungsformen abhängen, der Stabilität der Gruppe dienen und als normal gelten können. In dieser kulturellen Erfahrung liegt ein Ursprungsmoment für meine Unterscheidung ubiquitärer und singulärer Inferenz als gegensätzlichen Inferenztypen sowohl in narrativen als auch in Interaktionstexten. Entsprechend habe ich gern zur Kenntnis genommen, dass die wissenschaftliche Diskussion den Inferenzbegriff inzwi-
4
Anstoß zur Frage, was in verschiedenen Kulturen als sinnvolle Verknüpfung von Äußerungen gilt, waren u. a. frühe Erfahrungen von Klatschkommunikation in Kamerun. Dass wir auf die basalen Voraussetzungen unseres Sprechens und Denkens zurückgehen müssen, hat Jullien gezeigt. Durch das Identitätsprinzip sei die Tradition okzidentaler Wahrheitsphilosophie von der Tradition chinesischer Weisheitsphilosophie unterschieden (vgl. Jullien 2001: 197 ff.). In der chinesischen Tradition sieht er neben der direkten Darstellung »anregende Ausdrucksweisen« als besondere Kommunikationsform (vgl. ders. 2000: 139 ff.).
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schen über sein logisches Korsett hinaus geweitet und pragmatisch sowie kulturtheoretisch modifiziert hat.5 Ubiquitäre und singuläre Inferenz sind mein Versuch, pragmatisch und strukturell verschiedene Kommunikationsverläufe begrifflich zu fassen. Im vorliegenden Beitrag nutze ich die Unterscheidung als heuristische Leitlinie der Interpretation möglicher Bildungsprozesse. Gegenüber früheren Darstellungen6 präzisiere ich das Konzept durch die Analyse deiktischer Ausdrücke und ihrer Funktion in der Artikulation des indexikalischen Gesamtraums, der Verweisräume grundiert. Das führt zur These meines Beitrags, dass deiktische Modifikationen von Verweisräumen, indem sie zur Veränderung des indexikalischen Gesamtraums führen, ein wesentliches, vielleicht sogar das entscheidende Moment von Bildungsprozessen sind. Damit wird Indexikalität zum Thema. »Ich« ist ein deiktisches Wort. Es gehört zu jenen Wörtern, deren Bedeutung situationsabhängig ist. Jeder von uns kann »ich« sagen, aber jedes Mal ist ein anderer gemeint. Deiktische Ausdrücke dienen dazu, vom Ich-Hier-Jetzt aus Verweisräume zu entwerfen, sprachlich konstituierte Zeigfelder, wie Bühler sie unter Husserls Einfluss genannt hat, und sie mit der Situation des Sprechens zu verknüpfen. Eine ausgeprägte Diskussion um Indexikalität gibt es seit den späten 1960er Jahren. In ihr kehrt der Streit um umgangssprachliche Inferenz spiegelverkehrt auf. Für an formaler Stringenz orientierte Linguisten und Philosophen gilt Inferenz als trübender Einfluss umgangssprachlicher Herkunft, von dem die propositional wahre, von deiktischen Momenten gereinigte Aussage zu unterscheiden sei. Im Rahmen dieser Vorstellung erscheint Inferenz als abzuscheidendes Seitenthema. Gegen diese Lesart halten Pragmalinguisten m. E. zu Recht daran fest, dass Indexikalität zum Kern sprachlichen Handelns gehört. Denn die Bedeutung von Ausdrücken hängt u. a. von deiktischen Sprechhandlungen ab, die den indexikalischen Verweisraum konstituieren, indem und in dem sie auf ihn verweisen und ihn als Grund ihres Verweisens in Anspruch nehmen. Dies ist eine pragmalinguistische Formulierung des phänomenologischen Verhältnisses von Thema und Horizont: Man kann von einem Thema nur innerhalb eines mitge-
5 6
Vgl. Gumperz 1999: 375. Vgl. Kokemohr / Prawda 1989, Kokemohr 1989a, 1989b, 1990, 1994, 2003, 2010. – Ich verweise auf mehrere meiner Texte, um den interessierten Blick auf Entstehung sowie Erfahrungs- und Hintergründe des Konzepts zu erleichtern.
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setzten Sinnhorizonts sprechen.7 Indem Menschen mittels deiktischer Ausdrücke Verweisräume konstituieren, binden sie sie zugleich an den leiblichen oder leiblich vermittelten Orientierungsraum ihrer Erfahrungen, sodass je konstituierte Verweisräume stets auch reale Lebensumstände aufnehmen. Die Orientierung an deiktischen Ausdrücken führt auf die Frage, wie sich narrative Bildungsprozesse zu einem Begriff von Bildung verhalten, der als Subjektivierung aufgefasst wird. Ohne vorzugreifen, lässt sich die Richtung skizzieren, in der ich die Antwort sehe: Bildung als Subjektivierungsprozess ist ein narrativer Prozess. Hier scheint sich die Formulierung »Selbst- und Weltverhältnis« oder, in einer Scheidung von Person- und Sachbezügen, sogar »Selbst-, Fremd- und Weltverhältnis« einzubürgern. Wenn man aber sieht, dass von »ich« immer nur als einer deiktischen Referenz im je vorausgesetzten indexikalischen Verweisraum, und das heißt, nur in Relation zu dem zu sprechen ist, was in eben dieser deiktischen Sprechhandlung voraussetzend in Anspruch genommen wird, dann ergeben sich Konsequenzen auch für die Terminologie. »Ich« und »die Welt«, »das Selbst« und »die Welt« sind deiktische, voneinander abhängige Ausdrücke, die ohne ihr Pendant ohne Bedeutung sind. Deshalb tilge ich das »und« und spreche in Zukunft schlicht von Welt-Selbstverhältnissen. Die in anderem Kontext sinnvolle Unterscheidung von Person- und Sachbezügen ist m. E. erst als sekundäre Unterscheidung sinnvoll.8 Eine zweite Konsequenz bezieht sich auf die Reihung, in die wir Selbst und Welt bringen. Wenn »ich« und »die Welt« als deiktische Ausdrücke systematisch gleichursprünglich und zueinander relational sind, ist die von der linearen Sprache verlangte Reihung beliebig. Doch wenn man hier das Argument heranzieht, dass »ich« als relationaler Ausdruck nur im Spiegel des A/anderen bedeutet, dann bietet sich mit dem Anschein einer konsekutiven Beziehung der Terminus Welt-Selbstverhältnis oder dort, wo der Prozess im Blick ist, Welt-Selbstverhalten an.
7
Vgl. Merleau-Ponty 1966: 170, 254, 381í385 et passim.
8
Dass das Wort »Verhältnis« auch in der Zusammenziehung von Selbst und Welt semantisch eine Distanz des sich Verhaltenden zum Gegenstand des Verhaltens nahelegt, muss ich als missverständliche, weil ein Subjekt als sich verhaltende Instanz voraussetzende Vorstellung in Kauf nehmen, die der deutschen Sprache geschuldet ist und sich kaum tilgen lässt.
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H AKANS
NARRATIVES
W ELT -S ELBST -V ERHALTEN
Ich lese das Transkript der Hakan-Erzählung als Text. Die Bedeutung dieser scheinbar trivialen Aussage liegt darin, dass ich nicht die psychosoziale Entität mit dem Namen Hakan analysiere, sondern den Text des Erzählers mit diesem Namen. Die textuelle Konfiguration9 befrage ich nach möglichen Prozessen, die sich textuell vollziehen. Bildung fasse ich entsprechend als textuellen Prozess auf. Eine Lektüre in diesem Interesse fordert einen mikroanalytischen Bick auf relevante Textsequenzen. Ihn auf das gesamte Dokument zu richten würde den verfügbaren Raum eines Aufsatzes weit überschreiten. Deshalb konzentriere ich mich nach einer knappen, vortheoretischen Schilderung des Lebensweges auf wenige Abschnitte, um eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie die Hakan-Erzählung im Kontext familiärer Migration Momente des Welt-Selbstverhaltens artikuliert und textuell be- oder verarbeitet. Erst in einem weiteren Schritt lese ich die ausgewählten Textstellen inferenzanalytisch. Hakan, als Kind seiner türkischen Eltern in Deutschland geboren, erzählt, er habe in Kindergarten und Grundschule viele neue Freunde kennengelernt, die er bis heute noch habe. Doch gleich im Anschluss an diese Bemerkung spricht er vom Leben zwischen zwei Sprachen, dem Türkischen in der Familie und dem Deutschen im Kindergarten (vgl. Z. 8í12). Zu Hause habe ihm bei Schulaufgaben, abgesehen von gelegentlichen Einhilfen der älteren Schwester, niemand helfen können. Deshalb sei es »mein größtes Problem« (Z. 17 f.) geworden, den Schulstoff »sich selber aneignen«. Während die Schulfreunde diese Hilfe zu Hause gehabt hätten, habe er nicht »zu Mama rennen, zum Papa rennen« (Z. 23 f.) können.10 Später habe er durch die enge Kooperation mit Freunden das Defizit seines türkischen Familienhintergrundes ausgleichen können und sich auf einem guten Weg zum Abitur gesehen.
9
Den Begriff nutze ich im Sinne von Ricœurs Mimesis-Theorie, vgl. Ricœur 1988: 87 ff.
10 Textmarkierungen wie Pausen oder Betonungen übernehme ich aus dem Transkript. Meine Hervorhebungen im Rahmen von Analysen kennzeichne ich jeweils.
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Zwei wichtige Erzählsequenzen auf dem Weg zum Abitur hebe ich hervor. Da ist zunächst die schwierige Geschichte mit dem Vater. Der sei 1960 nach Deutschland migriert, die Mutter habe er erst 1981 geholt. In der als schwierig erlebten Ehe der Eltern habe er den Vater die Mutter oft schlagen gesehen. Der Vater habe Hausverbot bekommen, was die Beziehung zu ihm stark eingeschränkt habe. Schließlich sei er in die Türkei zurückgekehrt. Als er nach einigen Jahren plötzlich wieder erschienen sei und gefordert habe, die Kinder mit in die Türkei zu nehmen, sei es zum »sehr großen emotionalen und familiären Knick« (Z. 98 f.) gekommen. In diesem Streit habe der Vater die Mutter mit einem Messer bedroht. Nur die herbeigerufene Polizei habe den Angriff verhindert. Dies sei das letzte Mal, dass er, Hakan, den Vater gesehen habe. Der sei 2001 »verstorben« (Z. 27). Erst in der Pubertät habe er den Verlust des Vaters wahrgenommen, als seine Freunde von ihren Vätern, den Anwälten, Ärzten und Professoren, gesprochen hätten. Sehr engagiert spricht Hakan dann vom Konflikt mit seinem Erdkundelehrer. Er sei insgesamt ein guter Schüler gewesen. Doch dieser Lehrer habe seine Lieblingsschüler gehabt und er, Hakan, habe nicht dazu gehört. Obwohl er sehr fleißig gewesen sei und sich im Unterricht bemüht habe, habe der Lehrer ihn nicht beachtet und schlecht bewertet. Vor den Abiturprüfungen hätten sich die Schüler gegenseitig unterstützt, und er, Hakan, habe Mitschülern in Biologie helfen können. Der mündlichen Abiturprüfung habe er sich schließlich in Biologie und in Erdkunde stellen müssen. In Biologie sei die Prüfung gut verlaufen. Doch um das Abitur zu bestehen, hätte er sieben Punkte in Erdkunde gebraucht, aber vom Erdkundelehrer nur sechs Punkte bekommen. Damit habe er zur großen Enttäuschung auch seiner Mitschüler das Abitur nicht bestanden. Seine Welt sei zusammengebrochen. Mutter und Freunde hätten ihn in seiner Verzweiflung unterstützt. Im Zweifel, die letzte Klasse zu wiederholen, um das Abitur doch noch zu schaffen, habe er sich für das Fachabitur entschieden. Wie sich Hakans Welt-Selbstverhalten textuell konstituiert, versuche ich in drei Textabschnitten herauszuarbeiten, in seinen Erzählungen der frühen Lebensjahre, des Konflikts mit dem Vater und des Scheiterns im Abitur.
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Hakan und die langjährigen Freunde Der Erzähler leitet die Schilderung seines Lebensweges knapp mit den administrativen Markierungspunkten seiner gesellschaftlichen Existenz ein, spricht dann über Kindergarten und Grundschule und die neu gewonnenen Freunde, aber auch von der Existenz in der Zweisprachigkeit: »I: Dann ja, erzähl mir dein (.) dein Lebensweg, dein Bildungsweg. H: Okay, äm geboren und aufgewachsen bin ich in deutsche Stadt [mh] äm ich war sechs Jahre alt, da kam ich (2) kam ich in die erste Klasse (.), aber vorweg (.) Kindergartenbesuch [mh] äm mit zwei oder drei, so weit ich mich erinner, kam ich in Kindergarten, hier in deutsche Stadt, und (3) ja, es waren (.), soweit ich mich (.) daran erinner( ތ.) war es ein sehr schönes Erlebnis. Sehr viele neue Freunde kennengelernt, die ich, bis jetzt, zu meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr immer noch kenn’ [mh] und sehen tue (.) Äm (2) wie ich die deutsche Sprache damals, äh, aufgenommen habe, weiß ich ehrlich gesagt nicht, also un- auf unbewusster Weise (.) mit zwei Sprachen aufgewachsen [mh] zu Hause Türkisch [mh] im Gespräch mit den Eltern (.) äm und in dem- im Kindergarten (.) immer Deutsch gesprochen …« (Z. 1í12)
Hakan antwortet auf die Eingangsfrage des Interviewers in deutlicher ichDeixis (»bin ich«, »ich war«, »kam ich«). Damit ist von Beginn an ein indexikalischer Verweisraum wirksam, der ausdrücklich vom artikulierten »ich« als der erzählerischen Origo des Ich-Hier-Jetzt-Systems aus entworfen wird.11 Doch schnell wird der Verweisraum durch ein »aber vorweg« geweitet, das den neutral mitgeteilten administrativen Daten das Kontinuum der Kindergartenzeit im Ton eines konkret erinnerten Ereignisses als »ein sehr schönes Erlebnis« entgegenstellt. Begründet wird das Prädikat mit dem Hinweis, er habe »viele neue Freunde kennengelernt, die ich, bis jetzt, zu meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr immer noch kenn’ [mh] und sehen tue«. (Z. 7 f.). Die Besonderheit der Freundschaften wird durch die Dauer ausgezeichnet, die als Spanne zwischen dem Einsatzpunkt des Kennenlernens und dem Heute in dreifacher Zeitdeixis – »bis jetzt«, »zu meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr« und »immer noch« markiert und
11 Vgl. Bühler 1982: 136, 373, 429.
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durch Verben des inneren Zustands »die ich … kenn’« und andauernder Aktivität »und sehen tue« als Qualität seines Lebens ausgezeichnet wird. Erzählend an keine besonderen Handlungen oder Ereignisse gebunden wird ein Verweisraum entworfen, der Freundschaft als dauerhafte Verbundenheit im Charakter des Ereignishaften artikuliert. Doch nach kurzem Zögern spricht Hakan, markiert durch Tönungspartikeln, die den Themenwechsel markieren, von seiner frühkindlichen Situation zwischen zwei Sprachen und Welten. Nicht die biographisch primäre türkische Familienwelt wird angesprochen, sondern das Deutsche als die »auf unbewusster [!] Weise« (Z. 9 f.) erworbene Sprache, der unbestimmte Verweisraum seiner Innenwelt des außerfamiliären Feldes von Kindergarten und Schule. Als er erzählt, dass er sich nicht erinnern könne, wie er das Deutsche »aufgenommen« (Z. 9) habe, erscheint das »ich« als Subjekt ausdrücklichen Nicht-Wissens: »weiß ich ehrlich gesagt nicht«. Das NichtWissen modifiziert die Kontur des abgesteckten Verweisraums. Während im Blick auf die mit den Freunden geteilte Welt das »ich« deiktisch explizit den Freunden in Selbstverständlichkeit zugeordnet wird (»Sehr viele neue Freunde kennengelernt, die ich, bis jetzt … immer noch kenn’ [mh] und sehen tue«), verschwindet das artikulierte »ich«, wo von den zwei Sprachen die Rede ist, und das Erzählen reduziert sich in nominaler Sprachverwendung und stockendem Redefluss auf die Nennung der Orte: »also un- auf unbewusster Weise (.) mit zwei Sprachen aufgewachsen [mh] zu Hause Türkisch [mh] im Gespräch mit den Eltern (.) äm und in dem im Kindergarten (.) immer Deutsch gesprochen.« Der Vater und die Familie Der zweite Textabschnitt schildert eine gespenstische Szene. Der Mutter sei es gelungen, den Vater fern zu halten und mit den Kindern eine relativ sichere Lebenssituation herzustellen. Doch der Vater sei in die mühsam aufgebaute Welt eingebrochen. »Ja irgendwann kam mein Vater und wollte uns mitnehm[ ތmh] da hatten wir (3) auch ein sehr großen emotionalen und familiären Knick, [mh] zu der Zeit (.) da (.) na ja wenn ichތs detailliert erzähle (.) kam zu uns nach Hause und (.) sehr aggressiv mit ތm Messer in der Hand (.) [mh] bedrohend (.) meine Mutter (.) äm hat sie (.) geschlagen /lässt die Handkante auf den Tisch fallen/ un- (.) ich natürlich (4) /klopft
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wiederholt mit den Fingerspitzen auf den Tisch, sanft aber hörbar/ ich hab natürlich versucht dazwischen zu gehen [mh] (.) was zu der Zeit einfach unmöglich war [mh], weil mein Vater einfach da der Überlegenere war [mh] körperlich und (.) ne? /Das Klopfen auf dem Tisch wiederholt sich mehrmals während er erzählt/ äm (.) Meine Mutter hat es irgendwie geschafft die Polizei zu rufen, und (.) es war dann auch (.) das letzte Mal dass ich mein Vater (.) gesehen habe.« (Z. 97í108)
»Irgendwann«, so formuliert Hakan, »kam mein Vater und wollte uns mitnehmen«. »Irgendwann« ist eine adverbiale Deixis. Sie verweist auf ein offenes Feld anhaltender Dauer, in das ein Ereignis im unbestimmten Augenblick unberechenbar eintritt. Im derart drohenden »irgendwann« wird die Absicht des Vaters angesiedelt, »uns« mitzunehmen. Dessen plötzliche Rückkehr habe einen »sehr großen emotionalen und familiären Knick« ausgelöst. Vom konkreten Geschehen selbst, der tödlichen Bedrohung der Mutter durch das Messer des Vaters, wird im distanzierenden Blick »zu der Zeit (.) da« »detailliert« erst gesprochen, nachdem der »Knick«, das Resultat der zerstörten Familie genannt ist. Erst in der Rückschau auf die Szene tritt das »ich« in betonter Wiederholung zwischen Mutter und Vater. Er, Hakan, habe »natürlich versucht dazwischen zu gehen«, was aber »zu der Zeit einfach unmöglich war, weil mein Vater einfach da der Überlegenere (!) war [mh] körperlich und (.) ne?«. Die komplizierte Äußerung lastet die Ohnmacht des Erzählers dem deiktisch ins »da« verwiesenen Vater an, nicht ohne dessen – komparativ gesteigerte – Überlegenheit »zu der Zeit« in die Ferne einer vergangenen Situation zu verweisen, sie nur »körperlich« zu nennen, sich selbst mit einer kurzen Pause im Umkehrschluss der Leerstelle des »körperlich« und »(.)« als geistig oder moralisch überlegen anzudeuten und im abschließenden »ne?« die Zustimmung des Interviewers zu erheischen: »körperlich und (.) ne?« In den adverbialen Tönungspartikeln »natürlich« und »einfach« wird das Verhalten des Erzählers in einer Selbstverständlichkeit gezeichnet, die den Erzähler auf der zwar ohnmächtigen, aber richtigen Seite zeigt. Dass das Verhalten des Vaters ein möglicher Ausdruck einer Verzweiflung sein könnte, kommt auch im zeitlichen Abstand der Erzählung nicht in diesen Blick. So stehen auf der moralisch überlegenen Seite Mutter und Sohn, während sich im Zugriff der Polizei die Ohnmacht der erzählten Vaterfigur erweist.
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Das dramatische Geschehen wird abgeschlossen, indem es deiktisch in zeitliche Ferne gerückt wird: »…und (.) es war dann auch (.) das letzte Mal dass ich mein(!) Vater (.) gesehen habe [mh]«. Doch der Fortgang der Erzählung überrascht: »… und (.) es war dann auch (.) das letzte Mal dass ich mein Vater (.) gesehen habe [mh] (.) vor seiތm Tod. (.) 2001 ist er verstorben und (.) ja (2) dann kam die Pubertät [mh] und erst dann habe ich den Verlust meines Vaters gespürt [mh] (3) Es hieß immer in der Schule: ja mein Vater tut dies mein Vater tut das [mh] mein Vater ist Arzt, mein Vater ist Anwalt, mein Vater arbeitet an der Uni, is ތMathelehrer [mh] (.) Mit der Pubertät fing es an, (2) also achte, neunte, zehnte Klasse (.) Es war für mich die (.) zweitschlimmste Zeit in meinem Leben …« (Z. 107í114)
Zwar scheint der schwarze Tag des familiären »Knicks« im Tod des Vaters gebannt und in der Mitteilung des Sterbedatums »2001 ist er verstorben« gleichsam im fernen Verweisraum versiegelt. Doch schon im »verstorben«, das in anteilnehmender Färbung an die Stelle eines nahe liegenden, der mitgeteilten emotionalen Distanz eher entsprechenden »gestorben« tritt, sowie deiktisch eingebunden im angeschlossenen, widerspruchsfrei einfach geäußerten »und dann« taucht der Vater wieder auf, dieses Mal als »Verlust« in der Innenwelt der Pubertät. Er wird negativierend als das berufen, was er im positivierenden Vergleich zu den Vätern der Freunde, den Anwälten oder Ärzten, nie gewesen sei. Der Erdkundelehrer und das Abitur Hakan erzählt, im Abitur habe sich die Erfahrung der Bedrohung und des Verlassenseins dramatisch verschärft, als ihn sein Erdkundelehrer in der mündlichen Prüfung habe durchfallen lassen: »Aber es hat nich gereicht, (.) [mh] ich habe sechs Punkte bekommen. [mm] (5) Da ist meine Welt zusammengebrochen. [mh] (4) Also das war sogar schlimmer als (.) der Tod meines Vaters, [mm] (.) kann ich so sagen. (4) Ne, jegliches Vertrauen (.) in ein Menschen (.) ist in diesem Augenblick (.) [mh] von Winde verweht. Das (.) is ތnicht zu beschreiben [mh] es (.) deine Freunde haben ihrތn Abitur (.) und du (3) hast deine letzte Chance (.) verspielt. [mm] (2) Das Gefühl kann ich nicht (.) ä [ne]
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weiß nicht, [ne] großartig beschreiben, es ist (3) ja. (.) Zu der Zeit warތn es halt ein sehr sehr großer Niederschlag für mich …« (Z. 291í299)
Wieder wird zunächst das Faktum gesetzt und dann das WeltSelbstverhalten angesprochen. Zwei Aspekte sind hervorzuheben. Im wie selbstverständlich mitgeteilten Vergleich von Vatertod und deiktisch nur als »das« genannten Welt-Selbst-Zusammenbruch wird die kontrastive Kluft zwischen den Welten erneut aufgerissen und der Zusammenbruch »meiner Welt« in der Vernichtung »jegliche(n) Vertrauen(s)« mit dem Verlust verglichen, den der »Tod meines Vaters« bedeutet habe. Der Mangel seiner türkischen Herkunftswelt wird verbunden mit dem Verlust, der ihn, jetzt als ein deiktisch in die Vergangenheit gesetztes, dem vernichtenden Urteil ausgesetztes »du«, von der Welt der Freunde trennt, die »ihr Abitur« haben, während »du (.) … deine letzte Chance verspielt [hast]«. Was im ersten Teil der Erzählung als Welt der Freunde aufgebaut worden ist, erscheint hier als Welt zerstörten Vertrauens. Der Gegenstand der Zerstörung artikuliert sich deiktisch als Ausdruck eines unbestimmten »es«, »da« oder »das«: »…es hat nicht gereicht«; »Da ist meine Welt zusammengebrochen«; »Also das war sogar schlimmer…«; »Das (.) ist nicht zu beschreiben«. Der distanzierend-unbestimmten Artikulation entspricht die zitathaft geliehene Redeweise, die »jegliches Vertrauen (.) in einen Menschen (.) … in diesem Augenblick (.) von Winde verweht« sieht. Der seit der Kindheit betriebene Entwurf eines umgreifenden Verweisraums Hakanschen Welt-Selbstverhaltens verliert seine Kontur. Doch Freunde hätten zu ihm gehalten. »Aber es kamen zwei Freunde zu mir gerannt, nach Hause und haben mich getröstet ich [mh] Freunde, Freunde das ist das größte was es auf dieser Welt gibt.« (Z. 305í307)
Hakan feiert sie emphatisch: »Freunde, Freunde das ist das größte was es auf dieser Welt gibt.« Erst dann, gleichsam im Schutze der Freunde und nach verständnisvoller Anerkennung durch den Interviewer im wiederholten »mh« spricht er von der Katastrophe: »Äm (4) aber als ich in diesem Raum saß [mh] (.) und mir das Ergebnis von den drei Lehrern anhören musste (2) /schnalzt/ (5) [mh] ich vergleiche es, ich möchte, ich
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möchte nicht rassistisch klingen (?) [mm] das ist nicht meine Art [mm] also ein gewisses Niveau muss man noch beibehalten, aber ich vergleiche es mal (.) mit einem KZ-Lager [mh] (3) Du sitzt da und wirst beurteilt [mh].« (Z. 311í315)
Dieses »ich«, das »in diesem Raum saß« und das sich »das« Ergebnis von »den« drei Lehrern anhören musste, ist das in der Zeitform (»saß«; »anhören musste«) deiktisch in die Vergangenheit gerückte, objekthafte »ich«, auf das das hier und jetzt aussagende »ich« den eigenen Blick richtet. Diesem ausgesetzten Objekt gilt der härteste in Deutschland mögliche Vergleich mit dem KZ-Lager. Doch statt direkt geäußert zu werden – etwa »ich saß da in einem KZ-Lager« – und so das »ich« als unentrinnbar leidendes Subjekt zu markieren, wird der Vergleich durch die Abwehr seines rassistischen Tons und eines minderen, ihm, Hakan, nicht eigenen »Niveaus« vor Fehldeutung geschützt und wie in einem der Beobachtung ausgesetzten Experiment – »ich vergleiche es mal« – auf den im »du« und »da« distanzierten Erzähler bezogen: »Du sitzt da und wirst beurteilt.« Dennoch erscheint die deiktische Distanzierung des ausgesetzten »ich« wie das Moment einer Wende, in der sich die Erzählung, von Stockungspausen durchsetzt, von der mit dem Abitur verlorenen Welt, der Geschichte ab- und der durch das Fachabitur eröffneten Zukunft zuwendet. Der Verweisraum seines Welt-Selbstverhaltens scheint deiktisch zu zerfallen, sich zu verflüssigen und ein anderer zu werden.
Z UR NARRATIVEN S TRUKTUR B ILDUNGSPROZESSEN
VON
Quasthoff zeigt an Beispielen von Alltagskonversation, wie spontane oder ungeplante Alltagskonversation der Selbstdarstellung dienen kann.12 Auch in lebensgeschichtlichen Stegreiferzählungen überwiegen oft sprecherorientierte Funktionen. Zwar wird deren Funktion nur selten ausdrücklich. Doch oft sind sie ein Versuch, ein bisher nicht oder nur wenig verstandenes Problem besser zu verstehen, das das Welt-Selbstverhältnis des Erzählers belastet. In diesem Sinn sehe ich auch Hakans Erzählsequenz im Umkreis des KZ-Vergleichs als Versuch, zu verstehen, wie es zum unerwarteten
12 Vgl. Quasthoff 1980a: 148 ff., dies. 1980b: 136 ff.
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Abiturproblem kommen konnte. Wenn seine Erzählung ein solches Wendemoment hin zu besserem Verständnis ist, dann muss sich dies als narrative Änderung des Welt-Selbstverhältnisses nachweisen lassen. Erst die Qualität dieser Änderung erlaubt zu beurteilen, ob von einem Wendemoment im Sinn eines Bildungsprozesses zu sprechen ist, der dem Erzähler erlaubt, seine kontradiktorisch hart geführte Opposition von guter Mutter-FreundeWelt und schlechter Vater-Lehrer-Welt zu lockern und auf ein strukturell anderes Verständnis hin zu überwinden. Bei positiver Antwort wäre die Erzählung als narrative Manifestation eines Bildungsprozesses zu werten. Wie eingangs schon angedeutet, wählen Erzähler lebensgeschichtlicher Stegreiferzählungen unterschiedliche Wege. Sie entfalten ihre narrativen Konstruktionen zwischen ubiquitärer und singulärer Inferenz.13 Die vielfältigen Varianten unterscheiden sich wesentlich in der deiktischen Verbindung erzählter Verweisräume. Als problemlos erscheint eine Erzählung z. B. dadurch, dass Verweisräume in einfacher zeitlicher Deixis durch »und dann« gereiht werden. In solchem Fall kann sich das – hier stark vereinfachte – Schema ubiquitärer Inferenz ergeben:
Abb. 1: Ein Thema = Problem kann in verschiedenen Verweisräumen ausgelegt werden. Widerspruchsfrei präsentiert bilden sie einen Gesamtraum
13 Zu früheren Fassungen dieser Unterscheidung vgl. etwa Kokemohr / Prawda 1989, Kokemohr 1989.
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Im Falle ubiquitärer Inferenz treibt ein Thema das Erzählen in scheinbar problemloser Reihung an.14 Erfahrungssituationen werden als Verweisräume erzählt, in denen das Thema einfach, plausibel und erwartbar ausgelegt wird. Dabei wird das tatsächlich treibende Thema oft nicht ausdrücklich genannt, so dass es erst in sensibler Interpretation aufgedeckt werden kann. Ein alltägliches Beispiel ist Klatschkommunikation, in der das irritierende Verhalten abwesender Dritter kritisiert und im Reflex der Kritik das eigene Welt-Selbstverhältnis gestärkt wird. Eine in ubiquitärer Inferenz als problemlos artikulierte Erzählung gibt zu verstehen, dass alles in diesem Leben in Ordnung sei. Zwar gelten verschiedene Verweisräume anderen Lebenssituationen, anderen Lebensorten, anderen Zeiten oder anderen Ereignissen. Doch nichts strukturell Neues verändert den die Verweisräume umgreifenden Gesamtraum des erzählten Welt-Selbstverhältnisses. Eine genauere Untersuchung zeigt, dass sich die Reihung von Verweisräumen zu einem indexikalischen Gesamtraum wesentlich deiktischen Ausdrücken verdankt, die die Übergänge zu neuen Verweisräumen als unproblematisch und damit den Erzähltext als kohärent erscheinen lassen. Ohne hier in die genauere Diskussion von Indexikalität einzutreten, kann ich auf das pragmalinguistische Konzept von Hanks verweisen, das zwischen der Ebene deiktischer Ausdrücke und der der Indexikalität unterscheidet.15 Deiktische Ausdrücke wie »ich«, »hier«, »jetzt«, »du«, »dort«, »gestern« fungieren auf der Ebene situativen Verweisens. Damit dienen sie Hanks zufolge der Gestaltung dessen, was ich den narrativen Verweisraum nenne. In solchem Verweisen setzen sie als indexikalischen Grund den Gesamtraum von Zeit, Raum, Modalität, Qualität oder Quantität, der im Er-
14 Das Thema einer Erzählung ist ein erzählenswertes Problem (vgl. Anm. 12). Die Formulierung, ein Problem treibe auch eine problemlose Erzählung an, legt einen Widerspruch nahe. Doch Erzählforschung geht m. E. zu Recht davon aus, dass spontanes Erzählen von einem unverarbeiteten Problem angetrieben wird. Zwar kann das Problem verdeckt sein. Doch gäbe es dieses Problem nicht, würde der Erzählstrom schnell versiegen, wie man in der Selbstbeobachtung leicht feststellen kann. Schon die zeitliche Ausdehnung der Hakan-Erzählung spricht dafür, dass ein Problem seine Erzählung vorantreibt. Eine andere Frage ist allerdings, ob und wie das Problem bearbeitet wird. 15 Vgl. Hanks 1992: S. 46 ff.
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zählen voraussetzend in Anspruch genommen wird. So haben deiktische Ausdrücke eine doppelte Funktion. Indem sie auf Instanzen, Dinge, Ereignisse in Raum und Zeit und ihre kategorialen Beschaffenheiten verweisen, setzen sie zugleich die Ebene der Indexikalität als den tragenden Gesamtraum. Bildungstheoretisch gedeutet ist die Ebene des indexikalischen Gesamtraums die des erzählten Welt-Selbstverhältnisses, das im entsprechenden Gebrauch deiktischer Ausdrücke stabilisiert oder modifiziert wird.16 Der in Anspruch genommene indexikalische Grund hat quasi-transzendentale Funktion. Transzendental ist seine Funktion, insofern Raum und Zeit, analog zur Kantischen Transzendentalphilosophie, Bedingung der Möglichkeit deiktischen Verweisens sind. Eine nur quasi-transzendentale Funktion hat er jedoch, weil er sich dem sozialisatorisch erworbenen Gebrauch deiktischer Ausdrücke verdankt. Deshalb ist nicht nur die Verwendung deiktischer Ausdrücke kulturspezifisch und lebensgeschichtlich geprägt, sondern mit ihnen auch der indexikalische Grund selbst als der Gesamtraum des Welt-Selbstverhältnisses, das einem Erzähler erlaubt, am Ende seiner Erzählung mit dem Ton der Befriedigung sagen zu können: »Das ist mein Leben!«17 Ubiquitäre Inferenz bezeichnet den Typus biographischen Erzählens, in dem durch den Gebrauch deiktischer Ausdrücke Verweisräume innerhalb des indexikalischen Gesamtraums als in sich stimmiges Welt-Selbstverhältnis zu verstehen gegeben werden. Da Erzählen immer nur die situative Performanz eines Gesamtraums ist, ist dieser nur so beständig, wie er –
16 Zu theoretischen Grundlagen der folgenden Argumentation vgl. Verf: 2013. 17 Im okzidentalen Kulturraum spezifizieren deiktische Verweise das, worauf sie verweisen, typischerweise so, dass das Verwiesene dieses und nicht zugleich ein anderes ist. Freunde in China und in Taiwan haben mir in wiederholten Diskussionen erläutert, dass das im chinesischen Kulturraum durchaus anders sein kann, so dass A und B in deiktischer Unschärfe zugleich als verschieden und als gleich gedeutet werden können. Damit verschwimmt auch die Kontur von Bildungsprozessen im genannten Sinn. Sie treten zwar in Situationen besonderer Herausforderung auf. Doch die uns überraschende Folgsamkeit nicht nur Heranwachsender könnte auch damit zu tun haben, dass das den Widerspruch ausschließende Identitätsprinzip nicht oder nicht in gleicher Weise wirksam ist. Jullien sieht darin den Grund dafür, dass chinesisches Denken »nie das Politische herausgearbeitet« habe (Jullien 2001: 207, Hervorhebg. durch den Autor).
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intertextuell – an vorausgehende Erzählungen anknüpft und in nachfolgendem Erzählen zu erneuerter Präsenz gebracht wird. Aber nicht alle Lebensgeschichten werden in ubiquitärer Inferenz erzählt. Eine Erzählung kann Lebenssituationen auch so entfalten, dass das Erzählen und mit ihm der erzählerische Gesamtraum scheitert. Auslösen kann das Scheitern eine im Erzählstrom sich durchsetzende Erzählnot, die, dem von Fritz Schütze so genannten Erzählzwang ähnlich, einer Gestaltschließung im Sinne eines in sich stimmigen Welt-Selbstverhältnisses entgegensteht. Genauer gesprochen kann das Erzählen scheitern, wenn deiktische Ausdrücke Gegensätzliches nicht mehr plausibel zu verbinden und den indexikalischen Gesamtraum des Welt-Selbstverhältnisses nicht mehr als stimmig zu sichern erlauben. In diesem Fall kann es zu einem qualitativen Sprung kommen, der den Gegensatz auf neuem Niveau zu bearbeiten und zu überwinden erlaubt. Vom Sprung zu reden ist eine Metapher. Sie ist mehrfach gerechtfertigt. Zunächst erlaubt sie, die qualitative Veränderung vom Gegensatz, der dem Gesamtraum eines in sich stimmigen Welt-Selbstverhältnisses entgegensteht, hin zu seiner Überwindung zu betonen. Und sie ist hilfreich, weil sie sich einer normativen Behauptung enthält, dass von einem Bildungsprozess nur dann gesprochen werden könne, wenn die Veränderung einer bestimmten Gesetzmäßigkeit oder Norm folge. So lange wir eine verlässliche Gesetzmäßigkeit von Bildungsprozessen im Sinne narrativer Übergänge in andere Welt-Selbstverhältnisse nicht hinreichend kennen, ist es sinnvoll, den Blick durch eine vage Redeweise offen zu halten und ihn vor zu früher normativer Beschränkung zu schützen. Schließlich ist die Metapher des Sprungs auch deshalb sinnvoll, weil sich der Übergang vom sperrigen Gegensatz hin zu seiner Überwindung selbst als ein überraschender Sprung vollziehen kann, mit dem ein neuer indexikalischer Gesamtraum entworfen wird. Beispiele zeigen, dass ein solcher Sprung sich darin vollziehen kann, dass ein zuvor kontradiktorisch entworfener Gegensatz von Verweisräumen dadurch überwunden wird, dass eine Metapher an seine Stelle tritt, die neue Verweisräume, neue Deu-
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tungen eröffnet.18 In diesem Fall spreche ich von singulärer Inferenz. Sie lässt sich schematisch so darstellen:
Abb. 2: Deiktische Artikulation von Welt-Selbstverhalten in singulärer Inferenz
Die Wucht des KZ-Vergleichs kann die Hakan-Erzählung als Beispiel singulärer Inferenz erscheinen lassen. Er erinnert an eine Metapher und mit ihm scheint der bis dahin tragende Gesamtraum so aufzubrechen, dass der erzählende Fortgang in ubiquitärer Reihung unmöglich wird. Sollte dies so sein, dann könnte seine Erzählung als Prozess singulärer Inferenz gelten, in dem gegensätzliche Verweisräume, statt auf einen sie einenden indexikalischen Grund bezogen zu werden, in einen neuen narrativen Gesamtraum eingestellt werden, in dem auch das erzählte Welt-Selbstverhältnis ein anderes wird. Der Erzählwiderstand könnte anders begriffen und zum produktiven Moment des Erzählfortgangs werden. Die Vermutung ist am Erzähltext zu prüfen. Zunächst lässt sich festhalten, dass der KZ-Vergleich der Hakan-Erzählung eine Konstellation mar-
18 Ob der Sprung in eine neue Metapher der paradigmatische Fall ist, ist auch wegen der verwickelten Problematik der Metapher und metaphorischer Rede noch nicht einfach zu beantworten.
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kiert, die den Umbau des indexikalischen Grundes und des erzählerischen Welt-Selbstverhältnisses erwarten lässt. Dieser Eindruck ist nicht nur der Ungeheuerlichkeit geschuldet, in der der Erzähler seine Befindlichkeit artikuliert. Wie schon angedeutet, zeigt sich das den Erzähler Bannende des Vergleichs vielmehr im Wechsel der Deixis vom »ich« zum »du«: »… aber als ich in diesem Raum saß … ich vergleiche es mal … mit einem KZLager [mm] (3) Du sitzt da und wirst beurteilt…« (Z. 311í315, Hervorhebungen durch den Verf.). Das »ich«, das in diesem Raum saß, wird in der Optik des Vergleichs zum »du«, das da sitzt und beurteilt wird. Das »ich« des Präteritums wird ins historische Präsenz dieses da sitzenden »du« übersetzt, das »ich« eines einmaligen Geschehens zum »du« eines bewegungslosen Bildes. Der Wechsel hin zu dem in den Blick genommenen Objekt schärft den KZ-Vergleich zur andauernden Ohnmacht. In dieser Ohnmacht kulminiert der Gegensatz der Welt des Vaters und des Erdkundelehrers zu der Welt der Mutter und der Freunde. Die Ich-duKontur des KZ-Vergleichs legt die Schwelle frei, jenseits derer der indexikalische Erzählgrund nicht als derselbe aufrecht erhalten werden kann: Das da sitzende Du kann im KZ nur erstarren, aber nicht als dasselbe »ich« überleben. Zu fragen ist also, wie die Erzählung fortgeführt wird. Mindestens drei Möglichkeiten lassen sich unterscheiden. Wird singuläre Inferenz mit dem indexikalischen Grund das erzählerische Welt-Selbstverhältnis so verändern, dass der Erzählwiderstand anders begriffen und als vollzogene singuläre Inferenz zum produktiven Moment des Erzählfortgangs wird? Bleibt das Erzählen gleichsam vor der freigelegten Schwelle hängen, so dass man zwar von einem Bildungsvorhalt als dem Potential möglicher, aber nicht vollzogener singulärer Inferenz sprechen kann?19 Oder wird der gespannte Gegensatz erzählerisch neutralisiert und in ubiquitäre Inferenz zurückgeführt? Diese Frage ist an die Hakan-Erzählung zu stellen. Wirkt der KZVergleich in der Erzählung als eine Metapher im Sinn eines Sprungs? Ist er die Keimzelle20 einer neuen »Tonart« oder regt er einen qualitativ anderen
19 Den Begriff des Bildungsvorhalts habe ich eingeführt in Kokemohr 2007: 64í66. 20 Starke, noch nicht konventionell gewordene Metaphern können Keimzelle eines neuen Welt-Selbst-Entwurfs sein, wie Schöffler in kritischer Rekonstruktion der Metaphernforschung der 1970er und frühen 1980er Jahre zeigt, vgl. Schöffler:
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Gesamtraum an, der den Gegensatz der gegensätzlichen Welten wenn nicht schon überwindet, so doch so modifiziert, dass er jenseits kontrafaktischer Blockade zur auslegbaren Differenz wird? Es ist zweckmäßig, die Prüfung der Frage durch das folgende Schema vorzubereiten.
Abb. 3: Artikuliert Hakans Erzählung in singulärer Inferenz die Veränderung eines Welt-Selbstverhaltens?
Das Schema stellt, von links nach rechts gelesen, den Prozess dar, in dem der Erzähler das Thema seines Welt-Selbstverhaltens zunächst in die kontradiktorische Opposition der Verweisräume von Mutter und Freunden einerseits, von Vater und Erdkundelehrer andererseits führt. Im strengen Sinn des Begriffs kann man in Hakans Erzählung von einer Kontradiktion nicht sprechen, denn eine Kontradiktion liegt nur dann vor, wenn eine wahre Aussage A einschließt, dass die ihr zugeordnete Aussage B nicht wahr ist. Ein Wahrheitswert kann aber nur klar formulierten Aussagen, nicht je-
1987. Das Spezifische einer starken Metapher sieht Black darin, dass sie Ähnlichkeit schafft, statt »eine bereits vorher existierende Ähnlichkeit« zu formulieren, vgl. Black 1983: 68.
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doch Verweisräumen zukommen. Dennoch spreche ich von einer kontradiktorischen Konstruktion, da der Erzähler sein Welt-Selbstverhältnis deutlich dem einen Verweisraum zuordnet und es ebenso deutlich im anderen als nicht lebbar erachtet. In diesem Sinn gibt der Erzähler das Verhältnis der zwei Verweisräume als pragmatische Ausschlussrelation zu verstehen. Jenseits der Schwelle des KZ-Vergleichs kann Hakans Ja-Nein-Kontradiktion zwar fortgeführt, es kann ihre harte Ja-Nein-Abgrenzung gelockert oder aufgelöst, aber ihre kontradiktorische Logik kann nicht gesteigert werden. Der Doppelstrich rechts vom KZ-Vergleich markiert mit der Unmöglichkeit der Steigerung die Schwelle. Wenn der Erzähler jenseits ihrer zu verstehen gibt, er habe auf die Wiederholung des Abiturs verzichtet, das ihm zugänglichere Fachabitur gewählt und damit eine gute persönliche und berufliche Perspektive gefunden, dann könnte dieser Fortgang vermuten lassen, dass es sich um einen Bildungsprozess singulärer Inferenz handelt, in dem das erzählerische Welt-Selbstverhältnis sich verändert, der Erzählwiderstand der Kontradiktion gelockert, aufgelöst oder anders begriffen und zum produktiven Moment des Erzählfortgangs wird. Fungiert der KZVergleich als eine Metapher, die eine Modifikation oder Überwindung der kontradiktorischen Struktur eröffnet? Hakans Erzählung führt, wenn auch sehr nah, nur an die Schwelle eines so verstandenen Bildungsprozesses. Einen Sprung über die Schwelle vollzieht sie, so weit ich sehe, noch nicht. Für diese Deutung sprechen zwei Gründe. Deutlich ist der erste Grund. Die Rede »wie im KZ« ist ein Vergleich und keine Metapher. Sie wird ausdrücklich als Vergleich eingeführt: »… aber als ich in diesem Raum saß … ich vergleiche es mal … mit einem KZLager … (3) Du sitzt da und wirst beurteilt…«. Der Vergleich lässt den tatsächlichen Prüfungsraum als einen Raum imaginieren, der zwar dem KZ gleicht, aber kein KZ ist. Der zweite Grund liegt in der deiktischen Konstruktion, die das WeltSelbstverhältnis des Gegensatzes vor einer Veränderung bewahrt. Schon der einleitende Satz »ich möchte nicht rassistisch klingen (?) [mm] das ist nicht meine Art [mm] also ein gewisses Niveau muss man noch beibehalten« bewahrt im deiktisch distanzierenden »das ist nicht meine Art« die Autonomie des aus metasprachlicher Perspektive auf sich selbst schauenden Erzählers. Und der schon erwähnte Wechsel der Deixis vom »ich« zum »du« verschiebt das erlebende »ich« ins distanzierende »du«. Auch wenn
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dieses »du« im historischen Präsenz zum passiven Objekt erstarrt, an dem sich das Scheitern im Abitur vollzieht, bleibt der KZ-Vergleich ohne verändernde Kraft. Er ist nur der semantische Stachel in der Entgegensetzung der zwei Verweisräume, deren Wahrheitsanspruch er, Hakan, aber nicht erweisen könne: »Du sitzt da und wirst beurteilt [mh] (2) Mein Fehler war (.) keine neutrale Person mit in d- in diesem Klassenraum zu (.) nehmen zu bitten: hör dir einfach mein Vortrag, meine Au- meine Lösungen, mit an [mm] (3) einfach diese Garantie (.) [mh] zu haben. Egal wie oft ich sage ich habe alle Antworten gegeben, mehr als das (.) qualitativ, Quantität [mm] (.) es is( ތ.) ich komm gegen drei nich an [mm, klar] (2) das is ohne Frage [mm] (.) /lässt die Hand auf den Tisch fallen/ Kann jeder sagen, ne? [mm] (.) Das war mein größter Fehler. [mh] (7) Ja, die Antwort, die h- hieß einfach Hakan qualitativ (.) nicht so gut gewesen (2) es tut uns leid, bei mir fließen denn (.) /zeigt mit dem Finger auf sein Auge/ [mm, ja] dann schon die Tränen und /holt tief Luft/ äm (4) ja ich weiß nich was (3) was diese drei Menschen in diesem Moment gedacht haben [mm] ich würdތs mir (3) so sehr wünschen, [mm] (.) ich weiß es immer noch nicht ob, obތs die Wahrheit war obތs nicht die Wahrheit war (7) ich (.) es fällt mir schwer darüber noch jetzt zu reden [mh] auch in zehn Jahren (.) [mh] weilތs einfach zu tief sitzt (.) diese Niederlage das war /Klopft mit den Fingern auf den Tisch, etwa 3 Sekunden lang/ ich wurde noch nie so sehr enttäuscht [mm] (.) von (.) Menschen (3) aber es ist halt passiert …« (Z. 315í331)
Es ist aufschlussreich, dass sich die Verletzung und das Leiden vor allem in einer prosodisch-deiktischen Geste artikulieren. Der Erzähler »lässt die Hand auf den Tisch fallen«. Nicht nur sprachliche Ausdrücke haben deiktische Funktion. Ihnen liegen vielmehr Körperorientierungen wie Zeigegesten zugrunde. So verstanden vergeht in der fallenden Hand die deiktische Kraft, die das Geschehnis in eine gezeigte, der Reflexion zugängliche Distanz bringen könnte. Die vorausgehende Beteuerung »ich habe alle Antworten gegeben« wird im Kommentar »Kann jeder sagen, ne?« zum Zeugnis der »Niederlage« und es gelingt nicht, sie jenseits der Schwelle aus der Ohnmacht in einen anderen Aufbruch zu überführen: »es ist halt passiert«. Dem Schwinden der deiktischen Kraft in der fallenden Hand entspricht die Schwächung des »ich«. Sie zu verstehen hilft die Erkenntnis von Ben-
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veniste, dass »ich« kein Pronomen ist.21 Anders als Pronomen wie »er« oder »sie« repräsentiert das aussagende »ich« keine vom Redeakt unabhängige, ihm vorausliegende Instanz. Es ist, was es ist, nur als sprachlich handelnder, je situativ performativer Vollzug. Dieser Sachverhalt zwingt zu der Einsicht, dass auch das Subjekt, das wir neuzeitlich dem performativen »ich« wie ein substantiiertes Prädikat zuzurechnen gewohnt sind, vom »Gegebenheitsdefizit« betroffen ist, wie Gondek und Tengelyi den Mangel im Anschluss an den französischen Phänomenologen Marion formulieren.22 Dieser Gegebenheitsmangel des aussagenden »ich« ist ein wichtiges Moment von Bildungsprozessen. Denn diese vollziehen sich in der situativen Performanz des aussagenden »ich«. Sie sind nicht Gegebenheit, sondern Moment des sich in situativer ich-Performanz verändernden WeltSelbstverhaltens. Deshalb erlaubt die Einsicht in die Performativität des »ich« und des in sie einbezogenen Welt-Selbstverhaltens, Hakans Erzählung unter der Frage zu prüfen, ob von einem Bildungsprozess gesprochen werden kann. Um sich dieser Frage zu nähern, ist zunächst wichtig, dass sich die »ich«-Deixis an entscheidender Stelle auflöst. Beobachten lässt sich diese Auflösung in der Abfolge der »ich«Aussagen. Die Rede mag an Kafkas »Prozess« erinnern, wenn die »ich«Ohnmacht unter dem Urteil der Prüfungskommission betont wird: »Egal wie oft ich sage ich habe alle Antworten gegeben … es is( ތ.) ich komm gegen drei nich an (2) … (.) /lässt die Hand auf den Tisch fallen/ Kann jeder sagen, ne? (.) … ja ich weiß nich was (3) was diese drei Menschen in diesem Moment gedacht haben (.) ich würdތs mir (3) so sehr wünschen, (.) ich weiß es immer noch nicht ob, obތs die Wahrheit war obތs nicht die Wahrheit war«, bevor sich nach einer Pause von sieben langen Sekunden ein erratisch einsames »ich« im Schweigen verliert: »(7) ich (.)«. Die Zeit eines narrativ möglichen Sprungs über die Schwelle vergeht, bevor eine Coda die Ohnmacht besiegelt »es fällt mir schwer darüber noch jetzt zu reden …« Dieses »ich«, das sich im Verlust seiner deiktischen Kraft schweigend verliert, ist eines der aufregendsten Momente der Erzählung. Gerade indem es als Geste ohne Ziel weder sich noch sein Welt-Selbstverhalten bezeugen kann, führt es aber an die Schwelle eines Bildungsvorhalts im oben genann-
21 Benveniste 1966: 252; siehe auch Lösener 2010: 155í165. 22 Gondek / Tengelyi 2011: 192. Vgl. auch Verf. 2013: 282.
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ten Sinn, wenn auch (noch?) nicht über sie hinaus. Der kontradiktorische Gegensatz, auf den verweisend das aussagende »ich« sein Welt-Selbstverhalten zuvor bezeugt hatte, wird im Fortgang der Erzählung als konstitutives Moment des indexikalischen Gesamtraums restituiert. Zwar verliert der Gegensatz vorübergehend seine »ich«-stabilisierende Kontur: »ich weiß es immer noch nicht ob, obތs die Wahrheit war obތs nicht die Wahrheit war«. Doch in der Erzählung der Abiturfeier wird der Gegensatz der Verweisräume erneuert: »Alle s- waren da [mh] (5) Und dann fiel mein Name (.) Hakan Salman [mh] (3) Alle dachten ich bin nicht da [mm] aber nein, ich bin nach vorne hin, (5) habe der Schulleiterin (3) die Hand gegeben (2) sie sagte, hat mir was in mein Ohr geflüstert (6) ä da bin ich- da hab ich angefangen zu weinen, nach der- nach dem Satz sie hat gesagt: (3) Ich hab sehr großen Respekt, dass du (.) trotz allem [mh] hier erschienen bist. (4) Daneben stand mein Erdkundelehrer [mh], mit einer Rose in der Hand, [mh] (3) Aus reiner (.) Humanität habe ich ihm trotzdem die Hand geschüttelt, [mh] weil ich (4) weiß nicht warum /Lässt die Hand auf den Tisch fallen/ Aber, (.) der hat schon gemerkt, was er für ein Fehler gemacht hat. [mh] (7) Ja, hab mein Zeugnis genommen (4) und hab den größten Applaus, den es überhaupt gibt, bekommen [mh] von der ganzen (.) Gesamtheit die in der Aula (.) [mm] war. (.) Also (.) alle standen hinter mir, es war das einerseits das (.) schlimmste Gefühl, [mh] andererseits auch das schönste Gefühl,[mm] dass so viele hinter mir stehen …« (Z. 353í367)
Zwar wäre es ungerecht zu sagen, es habe sich im Welt-Selbstverhalten nichts geändert. Denn das »einerseits … andererseits« am Ende des Zitats hat eine andere Tönung als der kontradiktorisch harte Gegensatz. Vor allem aber gibt es wieder eine Sequenz der Auflösung. Dem Erdkundelehrer habe er »aus reiner (.) Humanität … trotzdem die Hand geschüttelt, … weil ich … (4) weiß nicht warum«. Wieder lässt der Erzähler »die Hand auf den Tisch fallen«. Dem »ich«, das sich in der Erzählung der Prüfungsszene seine Enttäuschung »von Menschen« nicht erklären und im resignativen »es ist halt passiert« nur hinnehmen konnte, entspricht das »ich«, das nicht weiß, »warum«. Gegenüber der Deutung, dass auch hier die Schwelle nicht überwunden werde, bleibt die ambivalente Irritation, dass die Hand dem Erdkundelehrer, nicht nur »trotzdem« gegeben, sondern in der Emphase »reiner Humanität … [sogar] geschüttelt« wurde. Der Bildungsvorhalt zeigt sich als Anregung zu zukünftiger Veränderung, die jedoch noch in der Un-
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ruhe des performativen Selbstwiderspruchs des »ich« und des unverständlichen Welt-Selbstverhaltens verbleibt. Noch wird der Grund des Scheiterns allein dem Erdkundelehrer zugesprochen, »der hat schon gemerkt, was er für ein Fehler gemacht hat«. Doch die Rede vom »Fehler«, die hier dem Menschen »mit einer Rose in der Hand« zugesprochen wird und das kontradiktorische Gefüge der Verweisräume noch zu sichern scheint, könnte im inneren Monolog oder in späteren Erzählungen auch zum Potential werden, die kontradiktorische Konstruktion der Verweisräume und mit ihr das WeltSelbstverhalten selbst zu verflüssigen. In der Restitution des Gegensatzes wird das Bildungsproblem sichtbar, vor dem Migranten in besonderer Schärfe stehen können. Hakans Erzählen ist ein narratives Welt-Selbstverhalten in der Spannung zwischen der Mutter sowie den Freunden und der vom Vater auferlegten Last ungelöster Migrationsprobleme und ihrer enttäuschenden Verstärkung im verweigerten Abitur. Einbrüche werden deiktisch distanzierend abgewehrt, Momente der Aufnahme deiktisch hervorgehoben. Auf diese Weise ist die Erzählung der Versuch, den ersehnten indexikalischen Gesamtraum des Daseins von bedrohenden Momenten zu entlasten und den Erzähler der Welt der Freunde »natürlich«23 einzuschreiben. Diese Figur scheint typisch zu sein für Welt-Selbstverhältnisse in der Spannung sozialer In- und Exklusion, wie sie nicht nur Migranten trifft, sondern auch Menschen unabhängig von geographischer Migration etwa im sozialen Auf- oder Abstieg. Da das aussagende »ich« keine Gegebenheit ist und Welt-Selbstverhalten nur in situativer Performanz zur Geltung zu bringen ist, sind Redefiguren wie der Gegensatz von Ein- und Ausschluss oft genutztes Mittel der Inklusionssicherung. Sie können, wie in Hakans Erzählung geschehen, zu einem Bildungsvorhalt führen, der, gestützt vom sozialen Kontext, in eine kritische Überwindung der Entgegensetzung einmündet oder diese, bei ausbleibender Unterstützung, verfestigt. Hier kommt das normative Moment des Bildungsbegriffs ins Spiel. Von einem Bildungsprozess im vollen Sinn wird man nur sprechen können, wenn es einen Schritt über die Schwelle gibt, der über das Welt-Selbstverhalten im kontradiktorischen Gegensatz hinausführt. Zu sagen, dass der Schritt über das vormalige Welt-Selbstverhalten »hinaus« führen muss, ist gerechtfertigt, weil er die kulturell offene Möglichkeit einschließt, dass das
23 Der Erzähler benutzt das Wort »natürlich« 35-mal.
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sich aussagende »ich« jenes vormalige Verhalten als Grundierung überwundener ich-Performanz wahr- und in einen anderen Blick nimmt, ohne dass eine inhaltlich bestimmte Norm von Bildung vorausgesetzt werden muss. Die deiktischen Sprechhandlungen und indexikalischen Verweisräume zeigen, dass Hakans Erzählung diesen Schritt noch nicht vollzieht. Auch ihr Ende gilt der Aufnahme in die eine und der Distanzierung von der anderen Welt. Dass etwa die Rose in der Hand des Erdkundelehrers Ausdruck einer Wertschätzung sein könnte, die sich jenseits der Sympathie dennoch Leistungsnormen verpflichtet weiß, kommt nicht in den Blick. Hakans Erzählung realisiert keinen Bildungsprozess. Die Wucht des Widerspruchs der Welten bleibt in der deiktischen Konstruktion eines Entweder–Oder verstellt, so dass das aussagende »ich« ein anderes WeltSelbst-Verhalten (noch) nicht artikuliert. Es ist die Erzählung eines Bildungsvorhalts, der aber zukunftsoffen im lebensgeschichtlichen Fortgang in einen Bildungsprozess im vollen Sinn übergehen kann.
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Über Ehre und Erfolg im »Katz-und-MausSpiel«. Versuch einer holistischen Interpretation der Bildungsgestalt eines jungen Erwachsenen L OTHAR W IGGER
E INLEITUNG In den letzten zwanzig bis dreißig Jahren hat sich die Biographieforschung als eine eigene Forschungsrichtung innerhalb der Erziehungswissenschaft etabliert. Sie arbeitet mit unterschiedlichen Theoriereferenzen, in einer Variante auch mit dem Bildungsbegriff. Winfried Marotzki (1990) und HansChristoph Koller (1999) sind die bekanntesten Vertreter dieses Ansatzes, sie haben den Diskurs entscheidend geprägt. Beide gehen aus von Rainer Kokemohrs Überlegungen zu transformatorischen Bildungsprozessen (2007). Heide von Felden (2003) und Arndt-Michael Nohl (2006) haben in den letzten Jahren weitere wichtige Arbeiten zur bildungstheoretischen Biographieforschung vorgelegt. Kritische Einwände gegen Ansatz und Ergebnisse der bildungstheoretischen Biographieforschung sind von verschiedenen Seiten vorgetragen worden (vgl. Wigger 2004, Schäfer 2007, Müller 2009), auf die die vor Kurzem erschienenen Dissertationen von Florian von Rosenberg (2011) und Thorsten Fuchs (2011) wiederum Antworten zu geben suchen. Vor dem Hintergrund dieser Diskussionen hat Koller drei Probleme als zentral für die gegenwärtige bildungstheoretische Biographieforschung he-
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rausgestellt und auf der diesem Band vorausgegangenen Hamburger Tagung zum Thema gemacht. Der erste Problemkreis thematisiert das Verhältnis von Theorie und Empirie unter der Frage, wie Empirie zur Weiterentwicklung von Theorie beitragen kann und nicht nur der Illustration theoretischer Entwürfe dient. Das zweite Problem sind die normativen Implikationen des Bildungsbegriffes und die Frage nach der Möglichkeit einer rein deskriptiven Nutzung des Bildungsbegriffes. Die dritte Frage schließlich zielt auf die angemessene Berücksichtigung der gesellschaftlichen und diskursiven Rahmenbedingungen individueller Bildungsprozesse in der bildungstheoretischen Biographieforschung vor dem Hintergrund der biographischen Fokussierung auf die individuelle Perspektive der Befragten und der Kritik an einer gewissen »Weltvergessenheit« und einer Vernachlässigung der gesellschaftlichen und diskursiven Bedingungen von Bildungsprozessen. Gemeinsame Grundlage der Diskussionen der Hamburger Tagung war ein Interview mit einem 22-jährigen türkischen jungen Erwachsenen, das im Folgenden bildungstheoretisch interpretiert werden soll. Zuvor sollen jedoch einige theoretische und methodische Voraussetzungen des Versuchs einer holistischen Interpretation und der Rekonstruktion einer Bildungsgestalt skizziert werden. Anhand des Beispiels sollen abschließend Antworten auf die drei aufgeworfenen Fragen gesucht werden.
Z UR R EKONSTRUKTION VON B ILDUNGSGESTALTEN UND B ILDUNGSPROZESSEN Die bildungstheoretische Biographieforschung greift auf den klassischen Bildungsbegriff zurück, wie er von Wilhelm von Humboldt u. a. entwickelt wurde. So begreift Koller seine »Theorie transformatorischer Bildungsprozesse […] als Anknüpfung an und Weiterentwicklung von Humboldts Bildungsdenken« (2012: 15). Er stützt sich auf Überlegungen von Kokemohr, der Bildung bestimmt hat »als Veränderung der grundlegenden Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses von Menschen, die sich potenziell immer dann vollziehen, wenn Menschen mit neuen Problemlagen konfrontiert werden, für deren Bewältigung die Figuren ihres bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses nicht mehr ausreichen« (ebd.: 15 f.).
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Kokemohr nimmt Humboldts Gedanken auf, dass der Mensch sich und seine Fähigkeiten in der tätigen Auseinandersetzung mit der Welt, d. h. den Gegebenheiten, Zwängen und Herausforderungen seiner natürlichen, sozialen und kulturellen Umgebung bildet. Und er fasst – ähnlich wie Humboldt – den Bildungsprozess und das Verhältnis des Menschen zur Welt und zu sich sprachtheoretisch. In zweierlei wichtigen Hinsichten geht Kokemohrs Ansatz über Humboldt hinaus. Während Humboldt »von einem gleichsam natürlichen Bestreben des Menschen nach Entfaltung seiner Kräfte bzw. nach Erweiterung seiner Weltansicht auszugehen scheint« (ebd.: 16), gelten nun krisenhafte Ereignisse oder ein Scheitern als Anlässe für Bildungsprozesse. Ein zweiter Unterschied ist der explizite Anspruch, dass diese Überlegungen anschlussfähig für (qualitativ-)empirische Untersuchungen sein sollen. In einer ähnlichen Weise hat Marotzki die bildungstheoretischen Grundlagen seiner biographischen Untersuchungen konzeptualisiert, bei allen Gemeinsamkeiten aber doch mit besonderen Akzentuierungen. So sieht Marotzki auch die Bedeutung der Sprache für die Entwicklung eines reflektierten Verhältnisses des Menschen zu sich und zur Welt, stellt aber die methodologisch induzierte Identifizierung von Bildung und Sprache infrage: »[O]b Bildung also in diesem Sinne in der Sprache stattfindet und sich nicht nur in ihr ausdrückt, ist ein alter Streitpunkt.« (Marotzki 2006: 128) Wie Kokemohr unterscheidet Marotzki Bildungsprozesse von Lernprozessen und bezeichnet die höherstufigen Lernprozesse als Bildungsprozesse. Während Lernprozesse sich innerhalb eines gegebenen Rahmens vollziehen, z. B. Wissen im Horizont eines gegebenen Verständnishorizontes akkumuliert wird, transformieren Bildungsprozesse diese Rahmen oder Horizonte. Solche Transformationen haben ihre Anlässe, sind aber nicht determiniert, sondern freie und produktive Leistungen der Subjektivität, durch Reflexion eine größere Flexibilität, Freiheit und Individualisierung zu erreichen (vgl. 1990: 52 f.). Marotzki fasst die Transformationen von Weltund Selbstreferenz als »Wechsel des jeweiligen Strukturprinzips« (ebd.: 225), der es ermöglicht, sich und die Welt neu und anders zu sehen, zu verstehen und zu interpretieren (ebd.). Auch Marotzki sieht in Humboldts Bildungstheorie das »klassische Muster« für die bildungstheoretisch inspirierte Biographieforschung, stützt sich aber stärker auf einen anderen Klassiker bildungsphilosophischen Denkens, der in der Regel nicht rezipiert wird, auf G. W. F. Hegel. Zu den
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Referenztheorien der bildungstheoretischen Biographieforschung gehören vor allem neuere soziologische oder philosophische Theoretiker, auch Adorno, aber nicht Hegel. Marotzki ist da eine Ausnahme. Er hat sich mehrfach mit Hegel auseinandergesetzt1 und einige seiner Gedanken in die bildungstheoretische Biographieforschung transferiert, so vor allem das Moment der Negativität in der Erfahrung und im Bildungsprozess, aber auch die elementare Bedeutung von Leiden für die Subjektivität, das Anerkennen von Krisensituationen als Ermöglichung von Umorientierung und die Überwindung von Destabilisierungen oder Blockaden in einem neuen Modus der Selbst- und Weltreferenz. »Die Differenz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit wird vom Subjekt also auf jeder Stufe seines Bildungsprozesses erfahren, m. a. W. Differenzerfahrung ist für Bildungsprozesse konstitutiv.« (Marotzki 1989: 158) Auch der von Marotzki benutzte Begriff der »Bildungsgestalt« (1990: 313) geht zurück auf Hegel, der in seiner »Phänomenologie des Geistes« (1807/1970) den Bildungsweg des Bewusstseins in der Weise beschrieben hat, dass das »natürliche Bewusstsein« (das sind wir in unserer Naivität und Ungebildetheit) in der Einnahme und Prüfung von vielen inhaltlichen Positionen aus der Geschichte des menschlichen Denkens und Handelns die Erfahrung des Scheiterns aller dieser Standpunkte macht, sodass sich der Standpunkt des »absoluten Wissens« (d. i. der Standpunkt der hegelschen Philosophie) als der einzig wahre erweist. Die dargestellten inhaltlichen Positionen sind idealisierte Positionen des Wissens und Handelns, der Kultur und Religion, von Hegel als »Gestalten« bezeichnet. Sie enthalten jeweils Thesen über sich (als »Wissen« der Subjektivität von sich) und über die Welt (als Objektivität und »Gegenstand des Wissens«) sowie über den Anspruch, dass sie übereinstimmen. Dieser Anspruch der Übereinstimmung und Konsistenz impliziert den Zweifel und die Selbstprüfung als Movens der Bewegung der Erfahrung. Die Erfahrung von unüberbrückbaren Diffe-
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Mit Hegel argumentieren zu wollen, »scheint in vielfacher Hinsicht unzeitgemäß zu sein« (Marotzki 1989: 151), insbesondere angesichts schwerwiegender Einwände gegen seine Philosophie (z. B. seine Identifizierung von Erklärung und Rechtfertigung). Zugleich enthält die Hegelsche Philosophie aber auch Einsichten und Konzepte, deren Geltung und Differenziertheit vielen modernen sozialwissenschaftlichen Theorien überlegen ist, insofern erscheinen Relektüre und Applikation sinnvoll und versprechen, Gewinn zu bringen.
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renzen führt das Bewusstsein in Krisen, die Erfahrung des Scheiterns seiner Annahmen über sich, über die Realität, über deren Verhältnis oder über seine Kriterien der Prüfung führt zu einem Paradigmenwechsel. Hegel konstruiert so eine (notwendige) Folge von immer differenzierteren Gestalten der Bildung des Bewusstseins in der dialektischen Entwicklung und Aufhebung von Widersprüchen, um zu zeigen, dass einzig sein philosophischer Standpunkt sich argumentativ rechtfertigen lässt (»ex negativo«), und er will zugleich auf diese Weise den Leser argumentativ zu seinem Standpunkt führen (»Phänomenologie« als Einleitung in die »Enzyklopädie« als das umfassende System des wahren Wissens). Hegels »Phänomenologie« liefert ein verführerisches Modell. Es ist aber die Frage, ob und wie es sich mit der Erforschung der Bedingungen und Verlaufsformen tatsächlicher Bildungsprozesse in der Gegenwart verbinden lässt, ob und wie Resultate von Bildungsprozessen als Bildungsgestalten modelliert werden können, ob und wie sich Bildungsprozesse als Transformationen von Bildungsgestalten identifizieren lassen. Zuletzt hat Koller auf die Schwierigkeiten der empirischen Erforschung von transformatorischen Bildungsprozessen als »abgeschlossenen Vorgang der Ersetzung eines etablierten durch ein neues Welt- und Selbstverhältnis« (Koller 2012: 169) selbstkritisch aufmerksam gemacht. Hegels »Rechtsphilosophie« (1821/1970), seine Analyse und normative Theorie der Bewusstseinsformen, Praktiken und Institutionen der modernen Gesellschaft, scheinen dann anschlussfähiger und fruchtbarer zu sein als seine mit heterogenen Ansprüchen belastete »Phänomenologie«.2 Vor diesem Hintergrund lässt sich das Programm bildungstheoretischer Biographieforschung so akzentuieren: Es interessiert das Individu-
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Darauf hat zuletzt Heinz-Elmar Tenorth in seinem Vortrag »›Bildung‹ – ein Thema im Dissens der Disziplinen« und seiner darin erneuerten Kritik der Bildungsphilosophie anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der RuhrUniversität Bochum hingewiesen: »Wo gibt es diese Bildungstheorie als Theorie des Aufwachsens von Subjekten? Trotz aller Bemühungen meiner philosophischen Freunde, eine Theorie des Aufwachsens kann ich nicht in Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ erkennen, obwohl dort unablässig von ›Bildung‹ die Rede ist; aber damit ist doch kaum der Bildungsprozess empirischer Subjekte gemeint (dafür sollte man vielleicht eher die Rechtsphilosophie lesen).« (Tenorth 2011: 356)
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um und seine Bildung, d. h. sein Verständnis, seine Sicht und seine Stellung zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich. Die biografischen Erzählungen und Argumentationen sind als individuelle Selbstreflexionen auf den Prozess der eigenen Entwicklung und als Selbstdarstellung der früheren und gegenwärtigen Standpunkte zu verstehen. Sie sind zu einem gegebenen Zeitpunkt Momentaufnahmen einer Reflexion auf die Kontinuitäten und Diskontinuitäten des eigenen Lebens. Die Äußerungen des Individuums können als eine »Bildungsgestalt« rekonstruiert werden, d. h. als ein Zusammenhang vieler Vorstellungen und Urteile, Intentionen und Handlungen. Mit »Bildungsgestalt« ist dabei ein »Verhältnis von Mensch und Welt« gemeint, das einen in sich differenzierten Zusammenhang von einer historischen Lage der Welt und einer subjektiven Verfasstheit und Stellung zu den objektiven Bedingungen, zu anderen und zu sich darstellt – als Ergebnis einer Geschichte der Auseinandersetzung dieses Menschen mit den Gegebenheiten, Zwängen und Anforderungen seiner Umwelt zu einem bestimmten Zeitpunkt und als Grundlage einer weiterer Auseinandersetzung und möglichen Entwicklung. In Erinnerung an Humboldts Annahmen einer »Wechselwirkung« zwischen Mensch und Welt und von »Spuren«, die Menschen in ihrer Auseinandersetzung mit der Welt hinterlassen, hat Marotzki auf die »Subjekt-Objekt-Dialektik« (2006: 126) der klassischen Bildungstheorie hingewiesen. Zur Rekonstruktion einer individuellen Bildungsgestalt gehört demnach auch der Versuch der Rekonstruktion der sozialen Verhältnisse und institutionellen Kontexte der individuellen Biographie. Die rekonstruierten besonderen Verhältnisse und Institutionen bedürfen schließlich einer gesellschaftlichen und historischen Kontextualisierung, d. h. einer theoretischen Verallgemeinerung. Die bildungstheoretische Biographieforschung hat sich methodisch zunächst und vor allem auf die methodologischen Überlegungen von Fritz Schütze (1983) zur Erforschung von Biographien gestützt und benutzt zumeist das narrative Interview als Verfahren der Datengewinnung und das narrationsanalytische Verfahren zur Auswertung der so gewonnenen Daten. Theodor Schulze (2006; 2007; 2010) hat demgegenüber mit seinen Arbeiten gezeigt, wie fruchtbar die »hermeneutische Denktradition« für die Interpretation biographischer Texte und Prozesse gemacht werden kann und dass sein Entwurf einer »reflexiven Hermeneutik« doch eine bedenkenswerte und anregungsreiche methodische Alternative in der
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Biographieforschung darstellt. Der folgende Versuch steht methodisch in dieser Tradition.3
Z UM I NTERVIEW
MIT
H AKAN S ALMAN
Das vorliegende Material umfasst das narrativ angelegte Interview mit einem (etwas längeren) Nachfrageteil sowie einige wenige Hintergrundinformationen zur Vorgeschichte, die konkrete Interviewsituation und den Eindruck des Interviewers. Das Interview mit dem 22-jährigen Hakan Salman besteht aus einer umfangreichen, ca. 50-minütigen Darstellung der Lebensgeschichte, in deren Mittelpunkt er seine Schulkarriere stellt, und einem Nachfrageteil, der zehn Aspekte vertiefend thematisiert: die deutschen und türkischen Freunde, den Vater, die Mutter, die Schwester, den Nachhilfelehrer, die Diskriminierungserfahrungen in Schule, Freizeit und Hochschule, dann die Erwartungen der Mutter und von anderen, Fachabitur, Praktikum und Berufswahl, schließlich die Lebensziele der Eltern sowie die Lektüre von Literatur. Hakans Antwort auf die Aufforderung »erzähl mir dein […] Lebensweg, dein Bildungsweg« (Transkript des Interviews in diesem Band, Z. 1) ist zunächst keine geschlossene Erzählung. Insbesondere der Anfang ist durch den häufigen Wechsel der Themen, Perspektiven und Redeweisen charakterisiert. Es vermischen sich Berichte über Ereignisse des Lebenslaufes mit Stellungnahmen und Bewertungen, Erklärungen und Rechtfertigungen. Es ist ein holpriger Beginn, so als suchte Hakan nach dem roten Faden für seine Darstellung. Zugleich wird von ihm bereits in den ersten Minuten des Interviews vieles für ihn Wichtige angesprochen: neben Daten über seine ersten Lebensjahre und über die Migration der Eltern und ihre Trennung, sein zweisprachiges Aufwachsen, seine Probleme in der Schule von Beginn an, seine Einschulung während des Wohnens im Frauenhaus mit Mutter
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Die Differenz zu Schulzes »Toposanalyse« besteht vor allem darin, dass im Fokus nicht allein ein markanter, fallübergreifender Topos steht, sondern dass für die Rekonstruktion der Bildungsgestalt dieses Falles alle durch das empirische Material zur Verfügung gestellten Informationen in eine konsistente Interpretation eingefügt werden müssen. Insofern lässt sich das Verfahren als holistisch bezeichnen.
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und Schwester, sein Verhältnis zu dem gewalttätigen und inzwischen verstorbenen Vater, sein Verhältnis zur Mutter und das zur Schwester, die ihn beide nach ihren Möglichkeiten unterstützt haben, aber ihm bei seinen Problemen nicht helfen konnten. Erst nach einiger Redezeit – nach der Erzählung über den Verlust des Vaters und der Rechtfertigung seiner schlecht verlaufenen Schulkarriere durch seine mangelnde Förderung – nehmen die Narrationen zu, orientiert sich Hakan zunehmend an den institutionellen Abläufen und der Chronologie als rotem Faden. Zugleich bleibt Hakans »biographische Erzählung« durch eine Mischung unterschiedlicher Textarten gekennzeichnet: (1.) Hakan informiert den Interviewer über Aspekte und Stationen seines Lebens, mit zum Teil recht genauen Jahreszahlen und Datierungen, wie z. B. über die Dauer des Aufenthalts im Frauenhaus; (2.) er erzählt detailliert Ereignisse und Situationen, teils sein Erleben und Empfinden unmittelbar erinnernd wiedergebend; (3.) er bewertet Lebensphasen und Ereignisse, zwar distanziert im Rückblick, zugleich in einer unmittelbar emotionalen Weise (in der Nutzung der Unterscheidung von »schön« und »schlimm«); (4.) er gibt Begründungen und Rechtfertigungen, vor allem für Entwicklungen und Entscheidungen in seiner Schulkarriere; (5.) er benennt praktische Konsequenzen und Lebensmaximen als seine Folgerungen aus seinen Erfahrungen. Hakans Lebensgeschichte: eine glückliche Kindheit, eine Schulzeit ohne erwünschten Erfolg, eine ungewisse Zukunft Die durch institutionelle Vorgaben des Bildungssystems formierte Chronologie seines Lebens gibt ihm das Gerüst für seine biographische Darstellung vor, auch wenn er sich vor allem anfangs nicht immer genau daran hält: beginnend mit Kindheit und Kindergartenbesuch, anschließend die Schulzeit, die er nicht darstellen kann, ohne auf seine Probleme in der Schule und die damit verwobenen problematischen Familienverhältnisse und die dramatischen Ereignisse in der Familie einzugehen, dann nach dem erfolgreichen Realschulabschluss die ausführliche Schilderung der Zeit der gymnasialen Oberstufe und des Scheiterns im Abitur, schließlich die Zeit des Praktikums und Zivildienstes sowie das Studium der Medizintechnik, das er zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht abgeschlossen hat. Diese Phasen bewertet Hakan unterschiedlich: In seiner Erzählung spannt er einen Bogen von der Phase einer glücklichen Kindheit über die
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Phase einer mehr oder weniger problematischen Schulzeit, die kurz nach der Trennung der Eltern und dem Verlust der Familieneinheit beginnt und mit dem Misserfolg der nicht bestandenen Abiturprüfung endet, und über die (als nicht problematisch bewertete) Zeit von Praktikum und Zivildienst bis zum gegenwärtigen Studium, das weiterhin mit Problemen des Lernens und Defiziten des Wissens belastet ist (vgl. Z. 398 f.), aber optimistisch bewertet wird. Während er seinen Kindergartenbesuch als »ein sehr schönes Erlebnis« (Z. 6) bezeichnet und insgesamt eine »schöne Kindheit« (Z. 38) bilanziert, beginnen für ihn die Probleme bereits in der ersten Klasse: »zweiundneunzig glaube ich, kam ich in die erste Klasse, (.) und (.) ja, da fing (.) mein größtes Problem an« (Z. 17). Hakan hatte Probleme mit der deutschen Sprache und im Erlernen der Unterrichtsinhalte. Die weitere Schulzeit wird ambivalent beschrieben, als Zeit der Anerkennung wie der vergeblichen Anstrengungen, von Erfolgen wie von Enttäuschungen. In Hinblick auf die schlechten Startbedingungen seiner Schulkarriere einerseits und mit Blick auf den relativ guten Realschulabschluss und das erreichte Fachabitur andererseits hätte Hakan seinen Bildungsweg auch als eine Erfolgsgeschichte erzählen können. Aber das von Hakan als »Niederlage« (Z. 329) erlebte Scheitern in der mündlichen Nachprüfung des Abiturs überschattet seine Biographie. Das Abitur ist der Maßstab für den angestrebten Erfolg, den seine Mutter von ihm erwartet: »Ou, ich glaube sie hatte sehr großer Erwartungen, sie hat immer gesagt (.) ich möchte dein dein Abi sehen, ich möchte deine Diplom, ich möchte dein Diplom sehen, ich möchte dich hier sehen, ich möchte dich ganz oben sehen (.) Ich wurd natürlich gleichzeitig unter Druck gesetzt, Hakan du musst das machen, du kannst nicht versagen, du kannst deine Umgebung nicht enttäuschen. Und das ist dieser gesellschaftliche Druck. Ich (.) Ne Zeitlang, zur Abizeit, jetzt gerade jetzt merke ich das (3) bekomme ich Depression [mh] (2) wegen diesem äu (.) Druck, der auf mir lastet. Zu versagen.« (Z. 887 ff.)
Aber nicht nur sie, sondern Hakan selbst erwartet es von sich, nicht zuletzt angesichts seiner Vorbilder, der erfolgreichen Schwester und deutschen Mitschüler aus dem bildungsbürgerlichen Milieu. Hatten die Lehrer ihm einerseits »Potenzial« (Z. 135) zugesprochen, ihm andererseits »große Chancen« (Z. 115) für einen erfolgreichen Schulabschluss abgesprochen, so
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hat er dieses Ziel trotz seiner Folgsamkeit, trotz aller eigenen Anstrengungen und aller Unterstützungen durch Mutter, Schwester und Freunde nicht erreicht. Erst das Praktikum bei Verwandten und das so ermöglichte Fachabitur eröffnen ihm eine neue Chance auf den angestrebten gesellschaftlichen Erfolg, das Fachhochschulstudium versteht er als den »Startschuss« in seine »neue Zukunft« (Z. 392). Man erfährt aus der Darstellung wenig über Hakans Interessen oder seine Anliegen, seine individuellen Lebensziele oder persönlichen Ansichten. Das dominante Thema der erzählten Lebensgeschichte ist sein Scheitern im Abitur. Das Eingeständnis des schulischen Misserfolgs und die Darstellung seiner Probleme mit der Schule wie auch mit dem Studium nötigen Hakan zu verschiedenen Rechtfertigungen und zu einer anderen, einer besseren Darstellung seines Selbst. So versucht er diese Probleme zu entschuldigen und ihn entlastende Gründe für sein Scheitern zu benennen, indem er auf andere verweist, die schuld an seinem Misserfolg sind. Und er verbindet seine Erzählungen mit praktischen Konsequenzen und moralischen Lehren, die er aus seinen Erfahrungen gezogen hat, sodass er und seine Geschichte in einem besseren Licht erscheinen. Gründe und Schuldige für die misslingende Schulkarriere und enttäuschte Erwartungen Hakan verortet die Gründe für seine Schulprobleme nicht in bestimmten Unterrichtsfächern oder in schlechtem Unterricht, nicht in sachlichen Schwierigkeiten oder in fehlenden eigenen Lernanstrengungen4, er nennt zunächst als entscheidenden Grund, dass er allein auf sich gestellt war, dass er keine ausreichende Hilfe hatte. Als sein größtes Problem von Beginn der Schulzeit an sieht Hakan die Notwendigkeit, den Schulstoff »sich selber aneignen« (Z. 18) zu müssen. Ein Grund dürften seine mangelnden Deutschkenntnisse gewesen sein, sein »größtes Handicap« (Z. 20), wie er sagt, aber es ist etwas anderes gemeint. Seine Beschreibung des Problems enthält schon den Hinweis auf den aus
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Nur an einer Textstelle führt Hakan seine anderen Interessen an, »andere […] Gedanken, […] Freunde finden […], Sport […], Fußball spielen, rausgehen […] etcetera« (Z. 55 ff.), und an anderen Stellen wird deutlich, dass er seine Hausaufgaben nicht oder nur unter äußerem Druck gemacht hat.
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seiner Sicht eigentlichen Grund, nämlich das Erfordernis, sich die Inhalte »alleine anzueignen« (Z. 21). Seine Schwester konnte er zwar fragen, aber »zu Mama rennen, zum Papa rennen, das ging natürlich nicht« (Z. 23 f.). Zur Erklärung bzw. zur Rechtfertigung für die nicht erfolgreich verlaufene Schulzeit führt er also zunächst die fehlende Unterstützung durch die Eltern gleich zu Beginn seiner Schulzeit an. Seine erste Erläuterung, warum ihm weder Mutter noch Vater helfen konnten, nämlich dass die Mutter kein Deutsch spricht und dass der Vater verstorben ist, genügen allerdings nicht, er muss auf die zerrütteten Familienverhältnisse zu sprechen kommen. Er muss von dem gewalttätigen Vater und der Trennung der Eltern erzählen; und auch von den damit zusammen hängenden prekären Lebensbedingungen, zunächst die beengten räumlichen Verhältnisse im Frauenhaus (Z. 32 ff.), später, in einer besseren Wohnung, die beengten finanziellen Verhältnisse, insofern die Mutter alleine die dreiköpfige Familie versorgen musste (Z. 35 ff.). Hakan betont mehrfach, wie sehr seine Mutter versucht habe, ihn zu unterstützen, ihn z. B. zu den Hausaufgaben zu bewegen. Er habe durch sie die türkische Sprache, Geschichte und Kultur gelernt (Z. 94 f., Z. 771 ff.), sie konnte ihm aufgrund ihrer fehlenden deutschen Sprachkenntnisse (Z. 96 f.) aber weder inhaltlich noch hinsichtlich der deutschen Sprache helfen (Z. 63 f.). Auch an seiner älteren Schwester hebt er hervor, dass sie ihn nach ihren Möglichkeiten auch unterstützt habe (Z. 22 f.), aber die vermisste Förderung der Eltern nicht ersetzen konnte (Z. 23 ff.). Für die Lernprobleme und Defizite will er also weder Mutter noch Schwester verantwortlich machen, auch nicht seine türkischen oder deutschen Mitschüler. Er spricht auch nicht von Lehrern, die ihn nicht gefördert hätten, Lehrer werden in dieser Passage als Schuldige oder Verantwortliche nicht thematisiert. Dafür, dass »die Schulbildung in der Anfangsphase meines Lebens (2) echt auf der Strecke geblieben« (Z. 43 f.) ist, macht er vielmehr ausschließlich seinen Vater verantwortlich, der durch seine Gewalttätigkeit die Familie zerstört hat und vor dem auch im Frauenhaus sowohl er wie seine Mutter und Schwester in ständiger Angst lebten. Die Angst vor dem Vater dominiert sein Leben und lähmt ihn mit der Folge, dass er in der Schule nicht nur nicht mitkommt, sondern hinter den anderen Schülern zu-
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rückbleibt.5 Deren Lernerfolge führt er umgekehrt auf ihre Förderung durch die Eltern zurück, im Gegensatz zu ihm wären sie »vom feinsten gefördert« (Z. 45 f.) worden. Diese Formulierung wie auch die folgende imaginierte Ansprache: »[S]o mein Sohn, ein plus eins ist zwei« (Z. 46) verweisen auf ein idealisiertes Bild einer funktionierenden Familie, in der der Vater anwesend ist, sich explizit auf ihn als seinen Sohn bezieht und ihm durch die Präsentation des zu lernenden Wissens zum schulischen Erfolg verhilft. Diese Idealvorstellung ist die Hintergrundfolie zur Erklärung seiner Schulprobleme und zur Entschuldigung seines Zurückbleibens hinter den eigenen Erwartungen und Ansprüchen. Hakan macht den Vater auch für seine späteren Probleme und letztlich für seine insgesamt misslingende Schulkarriere verantwortlich. Zeigt sich in der Rekonstruktion der Bruch in der Lebensgeschichte in der Differenz zwischen glücklicher Kindheit und problematischer Schulzeit und dem Zeitpunkt der Trennung der Eltern, so datiert Hakan selber den eigentlichen Bruch erst später, er sieht einen »sehr großen emotionalen und familiären Knick« (Z. 98 f.) in dem letzten und vergeblichen Versuch des Vaters, die Kinder gewaltsam an sich zu nehmen. Diese Situation bedeutet für ihn den endgültigen Verlust des Vaters, den er danach nicht mehr sieht. Es ist zugleich der endgültige Verlust der Hoffnung auf Rückkehr und auf eine Hilfe durch den Vater, der bereits die vielen Jahre vorher, während seiner Pubertät, schon nicht mehr da war, als er trotz aller Anpassung Probleme in der Schule hatte und die Lehrer ihm bereits alle Zukunftschancen abgesprochen haben (vgl. Z. 114 f.). Im Rückblick auf diese schwierige Schulzeit der 8. bis 10. Klasse hält Hakan als eine erste Bilanz seiner Schullaufbahn fest: »[T]rotzdem hatte ich immer noch das Defizit (.) nicht gefördert zu werden … Es hat einfach gefehlt.« (Z. 118 f.) Das Thema dieser Passage ist das Fehlen des Vaters. »Es hieß immer in der Schule: ja mein Vater tut dies mein Vater tut das [mh] mein Vater ist Arzt, mein Vater ist Anwalt, mein Vater arbeitet an der Uni, is’ Mathelehrer [mh] (.)« (Z. 110 ff.) Wichtig an der Stelle scheint nicht zu sein, dass die Mitschüler auf die angesehenen akademischen Berufe ihrer Väter verweisen und Hakan da-
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An diese Erklärung seiner scheiternden Schulkarriere schließt er nun keine weitere Erläuterung seiner inhaltlichen Defizite an und er setzt seine Erzählung auch nicht damit fort, dass und wie er schreiben, lesen oder rechnen gelernt hat, sondern er vergleicht sich mit seinen Mitschülern, die besser sind als er.
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runter leidet, dass sein Vater nur ein einfacher Arbeiter war, sondern die akademischen Berufe stehen für den schulischen Erfolg der besseren Schüler durch die vermeintliche väterliche Förderung in intakten Familien. Die so betonte Bilanz »Es hat einfach gefehlt« hat insofern eine zweite Bedeutung: »Er hat einfach gefehlt«. So erklärt und entschuldigt Hakan seine schulischen Defizite durch eine personalisierte Schuldzuschreibung. Er rechtfertigt sich als einen schlechten Schüler, weil er keinen Vater hatte, dessen Präsenz er als Garanten des schulischen Erfolgs imaginiert. Aber nicht nur der Vater ist schuld, auch einzelne Lehrer haben ihm das Schulleben schwer gemacht und ihm schließlich den erhofften Erfolg, das Abitur, versagt.6 Die verschiedenen Erzählungen aus der Zeit der gymnasialen Oberstufe enden mit Enttäuschungen und der Klage über verweigerte Chancen, denn er hält den Schulerfolg für sich als angemessen und aufgrund seiner Anstrengungen auch für gerechtfertigt. Die ausführliche Schilderung der Abiturprüfung (Z. 262í331) nimmt eine Schlüsselstellung in Hakans biographischer Erzählung ein. Mit dem Scheitern im Abitur ist sein Selbstverständnis als ambitionierter und Erfolg beanspruchender Schüler zerstört. »Da ist meine Welt zusammengebrochen.« (Z. 292 f.) Hakan interpretiert dieses Scheitern als einen Willkürakt der Prüfer. »Vertrauen an die Menschheit weg [mm] ne?« (Z. 310) Obwohl er alle Fragen beantwortet habe, hätten sie ihm mit der Differenz von nur einem Punkt eine ausreichende Note und damit eine insgesamt bestandene Abiturprüfung verweigert. Ob seine Antworten richtig oder falsch waren, weiß er nicht, »ich weiß es immer noch nicht ob ob’s die Wahrheit war, ob’s nicht die Wahrheit war« (Z. 326 f.). Er ist sich aber sicher, dass die Beurteilung ungerechtfertigt war und dass es nur an den Prüfern gelegen habe, ihm die erforderlichen Punkte zu verweigern. Gerade vor dem Hintergrund seiner gefühlsmäßigen Bindung an den Biologielehrer und der
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Beispiele sind die Erzählungen von der Lehrerin, die vom Besuch der gymnasialen Oberstufe abrät, was seine Schwester und er aber nicht akzeptieren können (Z. 201 ff.), der Englischlehrerin, die ihm den Austausch mit Schülern der USA und damit aus seiner Sicht die Möglichkeit verweigert, »jetzt perfekt Englisch sprechen« (Z. 228) zu können, dem Erdkundelehrer, der ihm »das Leben zur Hölle gemacht« (Z. 243) habe, »seine Lieblingsschüler« (Z. 246) bevorzugt und ihm mit Hausaufgaben eine »Falle« (Z. 262) gestellt habe, schließlich von den drei Lehrern, die ihn in der mündlichen Abiturprüfung haben durchfallen lassen.
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Überzeugung, dass dieser ihn fördern würde, ist er von ihm tief enttäuscht. »[I]ch wurde noch nie so sehr enttäuscht [mm] (.) von (.) Menschen.« (Z. 330) Er interpretiert die Beurteilung als eine falsche, ja inhumane Maßnahme; für die Verweigerung des ihm eigentlich zustehenden Erfolgs des Abiturs hat er für die Prüfer nur die härtesten politisch-moralischen Vorwürfe: Mit dem KZ-Vergleich (vgl. Z. 315) wirft er ihnen Rassismus und Diskriminierung vor. Den Grund für seine schlechte Note sieht er nicht in seinen Leistungen oder in den Maßstäben der Institution Schule, sondern im schlechten Charakter und einer inakzeptablen nationalistischen Gesinnung der Prüfer. Hakans Versuche, seinen Misserfolg zu entschuldigen und andere dafür verantwortlich zu machen, können aber nicht revidieren, dass er das Abitur nicht bestanden hat. So wie die Schule über die Eignung oder Nichteignung der Schüler urteilt, bezieht er die Niederlage auch auf sich als Person. Er versteht das Scheitern als ein vernichtendes Urteil über seine Person. Nicht nur das Vertrauen in einige andere Menschen, auch das Selbstvertrauen, trotz aller Widrigkeiten und Probleme seinen Vorbildern entsprechend auch zu den erfolgreichen Absolventen zu gehören, ist mit der gescheiterten mündlichen Nachprüfung verloren. Er traut sich es nun nicht mehr zu, mit einem erneuten Versuch das Abitur zu erlangen, und entscheidet sich für das Fachabitur und den Umweg. Das Gefühl der Unterlegenheit Aufschlussreich für Hakans Selbstsicht ist die zweifache Verwendung der Rede vom »Katz-und-Maus-Spiel«. Gleich am Anfang des Interviews nutzt Hakan die Redewendung zur Beschreibung seiner Lebenssituation im Frauenhaus zu Beginn seiner Schulzeit. »[D]ie Probleme die (.) in einem schwirren und (.) Angst vorm Vater, der [mh] kommt jetzt und sucht er uns und (.) Katz-und-Maus-Spiel [mh] da is die Schulbildung in der Anfangsphase meines Lebens (2) echt auf der Strecke geblieben [mh].« (Z. 42 ff.)
So wie die stärkere Katze mit der Maus spielt und sie scheinbar entkommen lässt, bevor sie sie tötet, sieht Hakan sich als kleiner Junge (wie auch seine Mutter und Schwester) dem übermächtigen Vater und dessen Willkür aus-
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gesetzt, in ständiger Angst gefunden und geschlagen zu werden, hilflos, ohnmächtig und ohne Chance zu entkommen. Bemerkenswerterweise benutzt Hakan die Redewendung ein zweites Mal in seiner abschließenden Reflexion auf sein Studium und seinen offensichtlich größeren Aufwand an erforderlichen Lernanstrengungen im Vergleich zu seinen Kommilitonen. »Es ist wieder dasselbe-Katz-und-MausSpiel.« (Z. 413) Zwar ist der autoritäre und gewalttätige Vater tot und Hakan ist inzwischen ein erwachsener Mann, aber wenn die Unterlegenheit im Leistungsvergleich mit seinen Kommilitonen »dasselbe Spiel« wie in seiner Schulzeit ist, dann sieht sich Hakan wieder und immer noch in der Rolle des Ohnmächtigen, der der Willkür eines übermächtigen Anderen ausgesetzt ist und aufgrund seiner Benachteiligung nicht gewinnen kann und ein schlechtes Ende befürchten muss. Festzuhalten ist, dass Hakan am Ende der Erzählung seiner Biographie das Bild vom Anfang seiner Schulzeit wiederholt und mit dieser Rahmung seiner Lebensgeschichte offenbar ein Allgemeines seines Lebensgefühls artikuliert: Er fühlt sich unterlegen, alleingelassen, unbeeinflussbaren Mächten ausgesetzt, Mächten, die für ihn undurchschaubar agieren, in der Erwartung weiterer Niederlagen. Auch wenn er nur zwei Mal diese Redewendung benutzt, so passen auch andere Narrationen in das Muster des »Katz-undMaus-Spiels«, so vor allem die Erzählungen über den Vater7 oder die über die Schule8.
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Der Vater lässt sich zwar, als er einmal in die Wohnung eindringt, durch Geld beschwichtigen und fortschicken (vgl. Z. 695 ff.), aber das andere Mal versucht er gewaltsam, die Kinder der Mutter zu entziehen. Hier beschreibt Hakan die Vergeblichkeit, den Vater daran zu hindern, die Mutter zu schlagen. »[I]ch hab natürlich versucht dazwischen zu gehen [mh] (.) was zu der Zeit einfach unmöglich war [mh], weil mein Vater einfach da der Überlegenere war [mh] körperlich und (.) ne?« (Z. 103 ff., vgl. Z. 710 ff.).
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Hakan erzählt z. B. über seine Abhängigkeit von der Autorität und Willkür des Erdkundelehrers (Z. 262) wie auch über das mündliche Abitur, in der er sein Ausgeliefertsein und seine Machtlosigkeit – »ich komm gegen drei nicht an« (Z. 319 f.) – erlebt und sich die Anwesenheit eines neutralen Beobachters gewünscht hätte, der die ungerechtfertigte Benotung verhindert hätte.
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Moralität und Charakterstärke Das Unterlegenheitsgefühl ist aber nur eine Seite von Hakans Selbstverständnis, die andere Seite ist das Selbstbewusstsein, das diese Unterlegenheit nicht akzeptiert. Er stellt sich als jemand dar, der nicht resigniert und trotz schlechter Bedingungen und Erfahrungen der Unterlegenheit weiterhin seinen Erfolg anstrebt, aus den Lektionen des Lebens seine praktischen und moralischen Konsequenzen gezogen hat9 und auch auf die in seiner Moralität gründende Überlegenheit verweisen kann. Zu der Erzählung von der Abiturprüfung gehört auch die im ersten Interviewteil später eingeschobene von dem Abiturball. Hatte er sein Erleben des Misserfolgs mit der Sprache des Boxsports als einen »sehr sehr großen Niederschlag« (Z. 299) beschrieben, so zeigt er wie ein besiegter Boxer auch in dem Moment seiner größten Niederlage Moral und Charakter. Obwohl er in Hinsicht auf den schulischen Erfolg und im Vergleich zu den anderen der Verlierer ist, der »Buhmann des Abends« (Z. 349), geht er zur Zeugnisvergabe und zeigt dadurch moralische Größe und seinen Charakter, in dieser Hinsicht, in moralischer Hinsicht ist er der »Held des Abends« (Z. 349 f.). Die Schulleiterin drückt ihm ihren »sehr großen Respekt« (Z. 358) über sein Erscheinen aus, der Beifall der Anwesenden ist ihm Ausdruck ihrer Anerkennung. Er gibt auch dem Lehrer, dem er die Schuld für die schlechte Note und das versagte Abiturzeugnis gibt, die
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Seine Narrationen von biographisch bedeutsamen Ereignissen in der Schulzeit münden in moralische Überzeugungen, die er mit praktischen Konsequenzen verbindet: die als peinlich erlebte Entdeckung, dass seine Schwester für ihn seine Hausarbeiten gemacht hat, ist für ihn »Ansporn«, es selber schaffen zu können, und er zieht die Konsequenz, die Schreibschrift zu lernen (Z. 65 ff.); das Umsetzen in der Klasse neben einen guten Schüler ist ihm »Ansporn«, »genau so gut zu werden« (Z. 151 f.), und lässt ihn seine komplette Einstellung gegenüber Schule ändern; während seines letzten Jahres vor dem Realschulabschluss und der Zulassung zur gymnasialen Oberstufe macht seine Schwester Abitur, was er zum Vorbild nimmt und ihn zu verstärkten Lernanstrengungen motiviert í »Meine Schwester tut es, also mache ich das auch« (Z. 172 f.) í und auch dazu, selbst finanzierte Nachhilfestunden in Englisch zu nehmen; das Vorbild der Schwester ist auch ausschlaggebend für die Entscheidung für die gymnasiale Oberstufe (Z. 206 f.), gegen die Ratschläge der Lehrerinnen.
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Hand, »aus reiner (.) Humanität« (Z. 360) wie er sagt. In dieser Berufung auf ein universelles moralisches Prinzip als Handlungsmotiv artikuliert Hakan seinen ehrenhaften Charakter und drückt zugleich seine moralische Überlegenheit im Vergleich zu demjenigen aus, dessen Motive er mit seinem KZ-Vergleich als inhuman bestimmt hat. Die erlittene Niederlage (»das schlimmste Gefühl«, Z. 366) findet ihre Kompensation in dem Stolz auf sich und der Anerkennung seiner Moralität durch die anderen (»das schönste Gefühl«, Z. 366). Hakans moralische Überzeugungen sind kein großes Thema des Interviews. Nur an wenigen Stellen werden sie deutlich: »Ich war (2) eigentlich ein sehr Braver« (Z. 116), sagt er über sich als Schüler, und seine Erzählungen – wie auch sein Verhalten im Interview – lassen vermuten, dass er den Verhaltenserwartungen der Schule weitgehend gefolgt ist und auch die in Familie und Freundeskreisen geltenden moralischen Regeln akzeptiert und befolgt. Und als ausschlaggebend für Studien- und Berufswahl nennt er den Wunsch »Menschen helfen« (Z. 375), »etwas Gutes tun für Menschen« (Z. 376), »Menschenleben retten« (Z. 948). Damit entscheidet er sich gegen eine Berufskarriere, die seine Schwester mit ihrem BWL-Studium eingeschlagen hat, und für einen technischen, aber moralisch legitimierbaren und im weiteren Sinne helfenden Beruf, seine Moralität ist insofern mit seiner Erfolgsorientierung verschränkt. Hakan beschließt die Darstellung seines Lebenswegs mit einer Mischung aus Stolz und Realismus. Die Zulassung zum Studium der Medizintechnik ist der verspätet eingetretene Erfolg: »[…] kann ich sagen ich habe es (3) mit einem kleinen Umweg, doch geschafft [mh] (2) Auch wenn es etwas länger dauert [mm, ja] komme ich ans selbe Ziel an.« (Z. 394 ff.) Als entscheidend stellt er seinen Willen zum Erfolg heraus.10 Mit dem Studium haben zwar wieder vergleichbare Probleme wie in der Schule angefangen, dass er im Vergleich des Lernens nicht so gut mithalten kann – »ich bin kein, kein Genie« (Z. 410) –, aber er ist zuversichtlich, sein Ziel zu erreichen aufgrund seiner Erfahrung, mit Problemen umzugehen, und seiner Fähigkeit, Niederlagen zu verkraften und nicht aufzugeben. Hakan stellt sich
10 An dieser Stelle erwähnt er nicht, dass er das Praktikum für sein erfolgreiches Fachabitur bei einem Verwandten absolviert hat (Z. 923 ff.), er also wie selbstverständlich das Unterstützungssystem türkischer Familienbeziehungen in Anspruch genommen hat und ihm der »Umweg« leicht gemacht worden ist.
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also dar als jemand, der seinen Erfolg als Ziel vor Augen hat und ihn erreichen will und kann und dabei auf seine moralische Stärke vertrauen kann. Sein Unterlegenheitsgefühl wird aufgewogen durch sein Selbstvertrauen und das Selbstbewusstsein seiner Moralität. Das ist sozusagen die moralische Quintessenz, mit der er sich darstellt und seiner Geschichte für sich und den Interviewer ein positives Ende gibt. Hakans Selbst-, Fremd- und Weltverhältnis Hakans Selbstverhältnis lässt sich charakterisieren durch ein spannungsvolles Nebeneinander (a) von dem Anspruch auf gesellschaftlichen Erfolg und soziales Ansehen, (b) von einem allgemeinen Unterlegenheitsgefühl als Folgerung aus den Erfahrungen der Ohnmacht gegenüber der physischen Macht des Vaters und der institutionellen Macht der Lehrer wie der schulischen Misserfolge im Leistungsvergleich mit den Mitschülern und (c) von dem moralischen Selbstbewusstsein, sich hohen moralischen Ansprüchen verpflichtet zu wissen und sich trotz aller Misserfolge und Schwächen selbst moralisch nichts vorwerfen zu müssen. Hakans Verhältnis zu anderen korrespondiert mit diesen Bestimmungen: Auf der Basis von emotionalen und moralischen Bindungen in der Familie und den Freundschaften11 werden andere primär danach beurteilt, ob und inwieweit sie ihn, den Benachteiligten und Unterlegenen, unterstützen und fördern, und auch, ob und inwieweit sie seine Maßstäbe gesellschaftlichen Erfolgs und der Moral teilen. So unterscheidet er zwischen dem Vater, der mit seiner Gewalt die Familie zerstört und ihn im Stich lässt, und seiner Mutter und Schwester, die ihn nach ihren Möglichkeiten unterstützen, ihm beistehen und als Familienmitglied unbedingt helfen; so unterscheidet er zwischen den Lehrern, die ihm wohlwollen und ihn fördern, und denen, die ihn schikanieren oder sich als inhuman erweisen; so unterscheidet er zwischen den Mitschülern und Freunden, die ihm in der Schule beistanden und geholfen haben, und den türkischen Freunden, die einen anderen, einen für ihn nicht förderlichen und akzeptablen Lebensweg eingeschlagen haben.
11 Es gibt kaum emotionale Bestimmungen der Beziehungen im Interview, die Emotionalität lässt sich erschließen, wird aber – das mag an der Interviewsituation oder an der Interviewsprache liegen – nicht verbal ausgedrückt.
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Das Interview liefert zunächst wenig inhaltliche Auskünfte über Aspekte oder Bereiche der Welt. Hakans Weltverhältnis lässt sich über das Verhältnis zu sich und zu anderen erschließen. Seine grundsätzliche Stellung zur Welt ist die Akzeptanz der geltenden Regeln seiner Umwelten und seine Einfügung in diese Lebenskreise von Familie, Verwandtschaft, Schule, Stadtviertel oder Freunden. Die Institutionen, ihre Strukturen und Praktiken werden personalisiert wahrgenommen und thematisiert: das Lehrerverhalten als eine Frage persönlicher Zu- oder Abneigung, Hausaufgabenpflicht und -kontrolle als »Falle«, d. h. als individuelle Bosheit, die Benotungspraxis und die Verweigerung erstrebter Zertifikate als Ergebnis von Willkür, Unmenschlichkeit und Diskriminierung. Nimmt man Welt als Gesamtheit von Hakans Interaktionsverhältnissen, so zeigt sich in seinem Weltverständnis eine doppelte Differenz: die Differenz zwischen der Familie und der Schule und die Differenz zwischen türkischem und deutschem Freundeskreis. Hakan kontrastiert die emotionale Geborgenheit und Unterstützung durch Mutter und Schwester mit der Schule, in der er sich von Anfang an als benachteiligt und alleingelassen erlebt und deren Erwartungen ihm zunächst schlicht fremd sind. Nur mühsam und unter Druck kommt er den Anforderungen nach. Türkisches Familienleben und deutsche Schule werden als zwei einander fremde Welten dargestellt. Hakan unterscheidet deutlich zwischen seinem Leben im türkischen Milieu und seinem Leben mit deutschen Mitschülern und Kommilitonen. Hier unterscheiden sich nicht nur die Freizeitbeschäftigungen, sondern auch die Orientierungen und Sitten. Die deutsche Kultur charakterisiert er durch »Mühe«, »Fleiß« (Z. 492), das Lesen von Büchern, durch Intellektualität, symbolisiert durch das Tragen einer Brille, durch Bildungs- und Berufskarrieren; die türkische Kultur demgegenüber durch ein Vermeiden von Anstrengung, aber auch niedrige Schulabschlüsse und einfache Arbeiten, Arbeits- und Zukunftslosigkeit. Hakan entfremdet sich dem türkischen Milieu zunehmend durch seinen Anspruch auf schulische und berufliche Karriere und gesellschaftlichen Aufstieg und seine Orientierung an seinen deutschen Freunden. Aus dieser Perspektive sind die sozial deklassierten ehemaligen türkischen Freunde für ihn »gefährlich«, insofern sie ihm den Aufstieg neiden und vielleicht zu verhindern suchen. Insofern sucht er auch Distanz zu diesem Kreis, auch wenn er immer noch von Freunden spricht (sie allerdings von seinen »wahren Freunden« unterscheidet). Hakan beschreibt sich
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als beiden Sphären zugehörig, will keine aufgeben (vgl. Z. 545 ff.) und kann sie aber auch nicht integrieren (vgl. Z. 524 ff.). Die hier rekonstruierte Bildungsgestalt ist also nicht ohne Gegensätze und Konfliktpotenzial, dafür stehen als erstes die hier als türkisch und deutsch bezeichneten entgegengesetzten Orientierungen, aber auch der Gegensatz des immer noch praktizierten Vertrauens in andere Menschen als der Bedingung eigenen Fortkommens und den erfahrenen Enttäuschungen. Zudem garantieren weder Erfolgswille noch Selbstvertrauen den gewünschten Erfolg, der vielmehr von externen Bedingungen abhängt. Auch ist das universelle Gefühl eigener Ohnmacht wenig hilfreich bei der Bewältigung von vorgegebenen oder selbst gesetzten Aufgaben. Mit dem abstrakten Selbstvertrauen, es irgendwie und irgendwann doch zu schaffen, ohne genaue Kenntnis der eigenen Stärken und Schwächen, korrespondiert ein abstraktes Verständnis von Welt, deren Strukturen undurchschaut sind, sodass auch geeignete Mittel eigener Zielverwirklichung unbekannt bleiben müssen.
Z UM V ERHÄLTNIS
VON
T HEORIE
UND
E MPIRIE
Kollers kritische Frage, ob das empirische Material nur dazu dient, vorgefasste theoretische Überzeugungen zu bestätigen oder zu illustrieren, oder ob und wie es zur theoretischen Weiterentwicklung genutzt werden kann, diese Frage lässt sich konkret nur in Hinblick auf die jeweilige Untersuchung beantworten. Grundsätzlich ist es eine Frage eines »sinnvollen Aufeinanderbeziehens« (Marotzki 2006: 134) der beiden heterogenen Wissensformen Theorie und Empirie. Kollers eigene Überlegungen zu den Schwierigkeiten der empirischen Erfassung von transformatorischen Bildungsprozessen belegen m. E. die kritische Begrenzung und Überarbeitung der zugrunde gelegten Bildungstheorie (vgl. Koller 2012: 168 f.). Hakans Biographie erlaubt die Rekonstruktion einer Bildungsgestalt und auch die Rekonstruktion von Veränderungen im Welt- und Selbstverhältnis, aber von einem radikalen Wandel grundlegender Einstellungen, von einem Wechsel des Standpunktes zur Welt oder zu sich, von einer »Transformation« lässt sich nicht recht sprechen. Versucht man die aus dem Material rekonstruierte Bildungsgestalt zu benennen, so lässt sich vielleicht von dem Selbstbewusstsein eines moralisch selbstgewissen und enttäuschten,
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aber weiterhin erfolgsorientierten und Erfolg beanspruchenden Bildungsverlierers sprechen, der unentschieden in und mit zwei unterschiedlichen kulturellen Milieus lebt. Weitere eigenständige Bildungsgestalten und damit transformatorische Bildungsprozesse sind aus dem Material nur schwer zu rekonstruieren, denn Hakan beschreibt seinen Bildungsweg durchgängig aus einer Perspektive, von seinem jetzigen Standpunkt der enttäuschten Erfolgsaspiration aus. Es gibt nur eine Stelle, an der er von einem grundsätzlichen Wandel in seinen Einstellungen oder Überzeugungen spricht, es ist eine Begebenheit aus der 8. Klasse: »[…] allein (.) durch das Umsetzen (.) hat sich meine Aufmerksamkeit im Unterricht (.)meine (.) mein Denken, meine (3) meine komplette Einstellung gegenüber Schule (2) verändert. [mh] Grund auf.« (Z. 147 ff.)
An dieser Stelle ließe sich – Hakans biographische Konstruktion aufgreifend – von einem transformatorischen Bildungsprozess sprechen, insofern sich Hakan anscheinend aus seinen bisherigen Gewohnheiten und dem türkischen Milieu löst, indem er die mit der deutschen Kultur identifizierte Erfolgsorientierung übernimmt. Hakans Lehrerin gibt den als entscheidend herausgestellten Impuls, indem sie Hakan auffordert, einige Dinge in seinem Leben zu ändern (vgl. Z. 136 f.), und ihn in der Klasse neben einen guten deutschen Schüler setzt, d. h. sie löst ihn aus seinem Umfeld und seiner Bindung an das durch seine Mitschüler repräsentierte türkischsprachige Milieu. Die deutsche Schule mit ihren Leistungserwartungen und ihrem Leistungsvergleich ist das Medium für diesen Prozess. Die türkische Mutter, die ihren Mann verlassen musste, verpflichtet ihre Kinder auf die Schule und den darin liegenden Erfolgsweg über Bildung, sie erwartet den sozialen Aufstieg durch Bildung. Hakan passt sich als braver Schüler den Erwartungen seiner unmittelbaren Umgebung an, macht die deutschen Schüler zu seinen persönlichen Vorbildern und verbessert sich schulisch anscheinend durch das gemeinsame Lernen.12 Wollte man weiter von einem Bildungsprozess als einer Transformation zu einer neuen Bildungsgestalt sprechen, so müsste eine erste, abgelöste
12 Dies beurteilt er einerseits als Entwicklung »in die gute Richtung« (Z. 161), andererseits bewertet er sich und sein Verhalten aber auch als »ein bisschen labil« (Z. 163), d. h. er nimmt eine ambivalente Stellung zu seiner Entwicklung ein.
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Gestalt vermutet werden, die dann beschrieben werden könnte durch das Bild eines bemühten, aber überforderten, leistungsschwachen und in seinem Herkunftsmilieu verwurzelten Schüler. Aber die Behauptung einer Transformation würde nur einen biographischen Aspekt betreffen, nämlich die Stellung zur Schule und zum Schulerfolg. Andere Seiten seines Lebens, wie z. B. die praktizierte Verbundenheit mit Familie, Verwandtschaft und Stadtteil oder die personalisierte Sicht auf institutionelle Praktiken und Strukturen scheinen dagegen auf Kontinuitäten im Welt- und Selbstverhältnis zu verweisen. Das heißt, man könnte Bildungsgestalten und Bildungsprozesse rekonstruieren, wenn man (1.) Erwartungen an Bildung als Etablierung eines neuen Welt- und Selbstverhältnisses zurückweisen würde und sich (2.) mit plausiblen Vermutungen über vergangene Welt- und Selbstverhältnisse zufrieden geben würde. In diese Richtung scheinen mir auch Überlegungen Kollers zu gehen, der als Gründe für die Schwierigkeit der empirischen Erforschung von transformatorischen Bildungsprozessen zum einen »so hohe theoretische Ansprüche an Bildungsprozesse […], dass sie nur in Ausnahmefällen erfüllt werden können«, sieht, zum anderen unzureichende Mittel der empirischen Erfassung13, und ein anderes Bildungsverständnis vor-
13 Koller sieht »ein ernsthaftes methodologisches Problem« (2012: 166) für die empirische Erforschung transformatorischer Bildungsprozesse, insofern diese die Erfassung der Bildungsprozesse selber beansprucht und in Abwehr der »in vielerlei Hinsicht problematische[n] Homologiethese Schützes« (ebd.) sich nicht mit einer Rekonstruktion auf Grundlage eines Interviews zufrieden geben will. Auch eine qualitative Längsschnittuntersuchung kann Transformationsprozesse nach Koller nur indirekt erschließen. Die »Protokollierung ›natürlicher‹ Interaktionen« (ebd.: 167), wie z. B. von Diskussionen, würde es demgegenüber erlauben, Bildungsprozesse »in actu« zu rekonstruieren í sofern sie stattfinden und sich zudem klären ließe, welche Bedeutung ihnen zukommt. Eine Lösung des Problems sieht Koller in der Betrachtung narrativer Interviews als möglicher Bildungsprozesse. Koller geht davon aus, »dass das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte eine geeignete Form darstellt, Bildungsprozesse anzustoßen, die sich während des Erzählens selber vollziehen, indem Vergangenes und Gegenwärtiges in Beziehung gesetzt werden« (ebd.: 168). Wenn also das biographische Erzählen selbst ein Bildungsprozess ist oder einen solchen darstellt, kann die Analyse des Erzählens Bildungsprozesse »in actu« erfassen. Mir scheint,
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schlägt: »Vielleicht […] besteht Bildung ja weniger in dem abgeschlossenen Vorgang der Ersetzung eines etablierten durch ein neues Welt- und Selbstverhältnis als vielmehr in einem unabschließbaren Prozess der Infragestellung oder Verflüssigung bestehender Ordnungen und eines Anderswerdens mit offenem Ausgang.« (Koller 2012: 169)
Z UR N ORMATIVITÄT
DES
B ILDUNGSBEGRIFFES
Bildungstheoretische Biographieforschung ist mit dem Vorbehalt bzw. Problem konfrontiert, dass ihre zentrale Kategorie »Bildung« als normativ gilt bzw. normative Implikationen hat (vgl. Krinninger / Müller 2012). Die klassische Bildungstheorie war beides: analytisch und normativ. Mit »Bildung« thematisierte Humboldt das Verhältnis von Mensch und Welt in einer sehr grundsätzlichen Weise. Ausgehend von der kantischen Frage »Was ist der Mensch?« bestimmt Humboldt den Menschen als aktiv die Welt gestaltend und als passiv durch die Welt bestimmt. Der Mensch ist frei und vernunftfähig, d. h. er setzt sich selbst die Ziele seines Handelns und kann sie nach Kriterien der Vernunft prüfen und orientieren. Zugleich ist der Mensch auf »die Welt« angewiesen und in allen seinen Möglichkeiten der Lebensge-
dass diese Konzeption narrativen Interviews aber zu viel zumutet und dass die Bedeutung der sprachlichen und rhetorischen Aspekte von Erzählungen bildungstheoretisch überschätzt wird. Biographische Erzählungen basieren auf Ereignissen, Erlebnissen und Erinnerungen und die Konsequenz der Kritik an der Homologiethese Schützes kann nicht die Negation oder Marginalisierung dieser Referenzen der Erzählung sein und auch nicht eine methodische und theoretische Konzentration auf die Sprache und den Modus der Erzählung. Auch ist an der Differenz von Forschungs- und pädagogischen Zwecken festzuhalten. Die Aufforderung, sein Leben zu erzählen, es vielleicht zu bilanzieren oder auch sich selber in dieser Weise Rechenschaft abzulegen, kann ein Anstoß für Bildungsprozesse sein, narrative Interviews sind aber eine Forschungsmethode und kein »Bildungsgespräch« (Josef Derbolav) und auch kein »praktischer Diskurs« als Moment emanzipatorischer Erziehung im Sinne von Klaus Mollenhauer. Kollers Überlegungen werfen ein neues Licht darauf, wie Interviews interpretiert werden können, sie bergen jedoch die Gefahr, die Grenze zur pädagogischen oder therapeutischen Arbeit zu verwischen.
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staltung von ihr abhängig. Humboldt als ein Denker in der Tradition der Aufklärung (und deren Kritik an einer göttlichen Vorsehung, einer Unterordnung unter geistige oder politische Autoritäten und einer vorgegebenen Bestimmtheit der gesellschaftlichen Stellung) begreift retrospektiv die Kulturentwicklung und die Geschichte der Menschheit wie auch den Menschen und die Lebensumstände seiner Zeit als deren eigenes Werk in ihrer Auseinandersetzung mit der Welt. Zugleich sieht er prospektiv die Geschichte der Menschheit als zukunftsoffen und die Bestimmung des Menschen selbstbestimmt und erwartet vor dem Hintergrund der geschichtlichen Realisierung von politischer und gesellschaftlicher Freiheit eine Vervollkommnung der Menschheit. Dafür steht der historisch neue Begriff der »Bildung«: Bildung ist das, wie der Mensch wurde und was der Mensch aus sich gemacht hat (»Formung«), und Bildung steht für die Möglichkeiten des Menschen (»Bildsamkeit«) und der Menschheit, sich durch und mit Vernunft höher zu entwickeln. »Im Begriff der Bildung ist dann die These von der Selbstkonstruktion des Subjekts artikuliert« in der paradoxen Verschränkung von Individualisierung und Vergesellschaftung (vgl. Tenorth 2011: 359). Wie Humboldt thematisiert Hegel Bildung in der doppelten Beziehung auf die Gattung Mensch und auf den einzelnen Menschen (vgl. Wigger 1994). Auch Hegels Bildungstheorie verbindet realistische Beobachtung und Analyse mit normativer Auszeichnung und Legitimation. Im Gegensatz zu Humboldts Bild idealer Bildung und Hervorhebung der Individualität bestimmt Hegel im Kontext seiner Analyse der Widersprüche und der Zerrissenheit der Moderne die individuelle Bildung in ihrer Abhängigkeit von Gesellschaft, Staat und Geschichte. In normativer Hinsicht weist sie diese Institutionen, Verhältnisse und Praktiken der bürgerlichen Gesellschaft als vernünftige Bedingungen für die Bildung vernünftiger Subjekte aus. In der Geschichte der Pädagogik wurde der Bildungsbegriff zumeist nur normativ aufgenommen und diskutiert, als Ideal, an dem die (schlechte) Wirklichkeit gemessen werden kann. Für eine empirische Bildungsforschung ist der Bildungsbegriff aber in analytischer Perspektive relevant, insofern er differenzierte Fragestellungen und »sensibilisierende Konzepte« (Kelle / Kluge 2010) für die Interpretation von empirischen Materialien bereitstellt. In dieser Hinsicht liefert er Heuristiken, die als solche zur Disposition stehen und so viel oder so wenig normativ sind wie theoretische Vorannahmen z. B. der Sozialisationsforschung oder der Habitusanalyse.
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In diesem Sinn lässt sich das spezifische Gefüge des Welt- und Selbstverhältnisses des befragten jungen Mannes als eine »Bildungsgestalt« rekonstruieren, die Resultat eines »Bildungsprozesses« ist. Sowohl das aktuell anzutreffende Bildungsergebnis wie auch der vorausgegangene Bildungsweg lassen sich darüber hinaus aus einer distanzierten Perspektive beurteilen und bewerten, das ist ein eigener, ein zweiter Schritt nach (abgeschlossener) Analyse und Rekonstruktion. Für Beurteilung und Bewertung, die die Grundlage für mögliche pädagogische Konsequenzen (z. B. Beratung) sein können, bedarf es eines ausgewiesenen und begründeten (normativen) Bildungskonzepts. Unter qualitativen Bildungsforschern und vielen Pädagogen gibt es allerdings eine gewisse Scheu, wenn nicht starke Skrupel, zu urteilen oder zu werten. Das steht in einem eigentümlichen Kontrast zur Unbefangenheit quantitativ arbeitender Bildungsforscher, Probanden unterschiedlichen Kompetenzstufen zu zuordnen, vor allem aber zur alltäglichen pädagogischen Praxis in Schulen, Kenntnisse und Fähigkeiten von Schülern zu beurteilen und zu bewerten, mit gravierenden Folgen für Lebenslauf und Biographien. Auch in dem als Beispiel herangezogenen Fall ist bereits über die Bildung des jungen Mannes in einem gesellschaftlich gültigen Maß geurteilt worden, nach seinem Scheitern im Abitur hat er noch die Fachhochschulreife erworben und ein Studium begonnen. Nach diesen Kriterien formaler Bildung hat er einen erfolgreichen Weg beschritten, denn nur ca. 11 % der Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund erreichen dieses Bildungsniveau (vgl. von Felden i. d. Bd.). Die in dem Interview sich dokumentierende Bildung des Befragten lässt sich aber auch von anderen Bildungskonzepten aus betrachten. Thorsten Fuchs hat vor dem Hintergrund des Jugendbildungskonzepts der transzendentalkritisch-skeptischen Pädagogik festgehalten, dass diese Ansprüche und Erwartungen anscheinend nicht erreicht sind (vgl. Fuchs i. d. Bd.). Denkbar ist auch eine Betrachtung von einem Konzept von zeitgemäßer Allgemeinbildung aus, wie es Wolfgang Klafki vorgelegt hat (1991: 43 ff.). Wenn Klafki Bildung in sehr grundsätzlicher Weise als Zusammenhang der Fähigkeit zur Selbstbestimmung, der Mitbestimmungsfähigkeit und der Solidaritätsfähigkeit versteht, so lassen sich in dem thematisierten Fall in allen drei Dimensionen Ausprägungen finden, so zum Beispiel in der Studienentscheidung für die Medizintechnik und dem Berufswunsch, anderen Menschen zu helfen. Die von Klafki einer zeitgemäßen Allgemeinbildung zugeschriebene Beschäftigung mit epochaltypischen Schlüsselproblemen hat
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dagegen keinen expliziten Niederschlag in der biographischen Erzählung gefunden, sieht man von »Ungleichheit« und »Ungerechtigkeit« ab, die als Diskriminierungserfahrungen oder als Klagen über Lehrerverhalten Themen des Interviews sind. Diese Hinweise auf mögliche Beurteilungen unter normativen Gesichtspunkten in der Differenz zu bildungstheoretisch orientierten Analysen müssen an dieser Stelle genügen.
Z UM INSTITUTIONELLEN K ONTEXT B ILDUNG
INDIVIDUELLER
Kollers dritte Frage zur bildungstheoretischen Biographieforschung zielt auf die Möglichkeiten einer gesellschaftlichen oder diskursiven Kontextualisierung individueller Biographien. Biographien werden als Schnittpunkte individueller und gesellschaftlicher Perspektiven angesehen, aber durch die Interviewformen wird die individuelle Perspektive fokussiert, sodass der Anspruch, auf diese Weise Aufschluss über überindividuelle Bedingungen zu erhalten, uneingelöst bleibt (vgl. Wigger 2004). Koller sieht zwei Strategien (vgl. 2012: 156 f.), die Einbeziehung gesellschaftstheoretischer Ansätze – z. B. von Pierre Bourdieu oder Judith Butler – in die Auswertung oder die Erweiterung der empirischen Basis um weitere Datensorten, wie z. B. die Analyse sozialer Felder im Sinne Bourdieus (vgl. von Rosenberg 2011) oder von Foucault inspirierte diskursanalytische Verfahren (vgl. Reh 2003). An dieser Stelle soll jedoch ein anderer Weg vorgestellt werden (vgl. Wigger 2010). Die in dem Exempel rekonstruierte Bildungsgestalt und der damit angesprochene Bildungsprozess verweisen auf die sozialisierende Macht und die hohe biographische Bedeutung der Institution Schule. Deshalb sollen die Bedingungen von Bildungsgestalt und Bildungsprozess zunächst in den Grundlinien einer Schultheorie aufgesucht werden. Nun liegt als Material der Interpretation nur das Interview vor, das (aus guten Gründen) anonymisiert ist, im Nachfrageteil aber leider der Schule keine Aufmerksamkeit schenkt und auch nicht der Moral von Familie und Herkunftsmilieu, sodass man wenig über die Schule des Befragten und auch wenig über die Familie und Herkunftskultur weiß. Da zusätzliche Informationen über die Schule wie Dokumente der Schule, Interviews mit Lehrern o. ä. oder über die Familie und den Stadtteil nicht verfügbar sind, bleibt hier nur als ein erster
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Versuch, die institutionellen Kontextbedingungen mithilfe von Kenntnissen über die Schule im Allgemeinen zu skizzieren. Zentrale Aufgabe der Schule ist die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten durch den Unterricht in den verschiedenen Fächern; den jeweiligen Lernstand der Schülerinnen und Schüler beurteilen die Lehrerinnen und Lehrer in ihren inhaltlichen Rückmeldungen sowohl sachlich als auch im Hinblick auf die individuelle Entwicklung, oft auch im Vergleich der Klasse. In der Auseinandersetzung mit den Ausschnitten der Welt, den Unterrichtsinhalten und schulischen Anforderungen, konstituiert sich das Selbstbewusstsein von Schülerinnen und Schülern im Hinblick auf das, was sie wissen und können. In ihrem fachlichen Lernen und in ihrem Bildungsgang finden sie auch ihre Anerkennung durch die Lehrer, die Mitschüler, die Eltern und wen auch immer. Diese Anerkennung von Wissen und Können hat ihre Kriterien einerseits in den Kriterien der thematischen Sache: in der Wahrheit eines Wissen, der Richtigkeit einer Regelanwendung, der Kunstfertigkeit einer Ausübung oder Anfertigung, der Schönheit oder der Vollendung eines künstlerischen oder sprachlichen Ausdrucks. Ein weiteres Kriterium in pädagogisch-didaktischen Verhältnissen ist andererseits die Berücksichtigung des individuellen Entwicklungs- und Bildungsstandes und des individuellen Fortschritts in der Aneignung und Präsentation von Wissen und Können. Es ist an dem dargestellten Beispiel bemerkenswert, dass über Unterrichtsinhalte, sachliche Interessen und Fähigkeiten das Interview keine Auskunft gibt. Lernen und fachliche Leistungen erscheinen für Hakan nur erwähnenswert im Vergleich mit den anderen Schülerinnen und Schülern und als bloße Mittel für den Erfolg im Wettbewerb. Im Mittelpunkt des Interviews und der darin präsentierten Bildungsgestalt steht die Anerkennung in einer anderen Dimension, in der Dimension des Vergleichs und der Hierarchie der Noten. Die Schule vergibt Zeugnisse und Bildungszertifikate als Ergebnisse ihrer vergleichenden Benotung der Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Dieser Vergleich der Leistungen der Schülerinnen und Schüler führt nicht nur zu einer differenzierten Rangordnung, sondern auch zu einer selektiven Differenzierung der Bildungswege und Zukunftschancen. Deshalb gilt ihr in der Regel die Aufmerksamkeit und das Interesse von Eltern und Außenstehenden, von Schülerinnen und Schülern. Die schulische Benotung und Rangordnung gibt Kriterien für diese entscheidende Form sozialer An-
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erkennung vor und ist die Grundlage für die Konstitution des Selbstbewusstseins als gute oder schlechte Schülerinnen oder Schüler, als Gewinner oder Verlierer des schulischen Wettbewerbs bzw. über den schulischen Kontext hinaus generalisiert als »Sieger« oder »Versager« (vgl. Nüberlin 2002). Die Anerkennung des schulischen Erfolgs bzw. Misserfolgs betrifft die ganze Person, ihre gegenwärtige Stellung in der Hierarchie der Schülerinnen und Schüler wie die Möglichkeiten und Grenzen einer zukünftig zu erreichenden sozialen Stellung. Anerkennungskonflikte bleiben für die meisten Schülerinnen und Schüler nicht aus, insofern von allen die Anstrengung und das Bemühen um den Erfolg erwartet wird, in der Konkurrenz aber nicht alle erfolgreich sein können. Der Konflikt zwischen einem Selbstbild, das dem in Schule und Gesellschaft universell gültigen Erfolgsanspruch gerecht werden will, und der offiziellen Bewertung des relativen Misserfolgs kann zu einem Anerkennungsstreben führen, in dem der Selbstanspruch des Erfolgs aufrecht zu erhalten versucht wird trotz des schulischen Misserfolgs, z. B. durch Rechtfertigungen und Entschuldigungen, oder aber ein positives Selbstbild wird gewahrt, indem der attestierte Misserfolg zu kompensieren versucht wird durch Verweis auf Erfolge in anderen Lebensbereichen oder nach anderen Kriterien. Das Interview ist ein Beispiel für diesen Konflikt. Es lassen sich verschiedene Bewältigungsstrategien auffinden für die Erfahrung des Scheiterns, die den Kern der biographischen Erzählung ausmacht: Entschuldigungen durch schlechte Ausgangsbedingungen für eine erfolgreiche Schulkarriere, Schuldzuweisungen an ungerechte Lehrer, die Demonstration eines selbstsuggestiven Selbstvertrauens und die Hervorhebung der eigenen Moralität und damit der Anspruch auf Anerkennung in einer anderen Sphäre als der schulischen Leistung. Die Schule erwartet um der Erfüllung ihrer Aufgaben willen von ihren Schülerinnen und Schülern ein schulkonformes Verhalten, regelmäßige Anwesenheit, aktive Mitarbeit, Erfüllung aufgetragener Aufgaben, soziales Verhalten etc. Fehlverhalten wird missbilligt und nach Maßgabe einer Vielzahl von Regelungen sanktioniert. Die Grade des Wohlverhaltens und Bemühens sind Kriterien der Anerkennung der Moralität vonseiten der Institution. Die Einhaltung der schulischen Ordnung und Regeln und die Akzeptanz der schulischen Anforderungen gelten unbedingt. Sie sind die Basis für konformes oder abweichendes Verhalten und für die Konstitution eines mo-
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ralischen Selbstbewusstseins, für das Selbstverständnis als eine moralisch integre (oder eine ihr eigenes Recht verfolgende) Person. In dem Interview stellt sich der Befragte als regelkonform und angepasst dar, als jemand, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen und sich nichts vorzuwerfen hat. Aus dieser moralischen Selbstgewissheit erwächst der Anspruch Hakans auf Anerkennung als Person und damit auch auf den Erfolg, auf gesellschaftliche Anerkennung in Form eines Bildungszertifikats wie des Abiturs oder Studienabschlusses. So verschränken sich das Gefühl der Ehre und der Anspruch auf Erfolg und Anerkennung. Hakans Bildungsgestalt verweist also in ihren verschiedenen Aspekten auf die Institution Schule und ihre unterschiedlichen Funktionen. Damit ist kein Determinismus vorausgesetzt, denn Bildungsprozesse sind – wie bereits oben gesagt – freie und produktive Leistungen der Subjektivität in Auseinandersetzung mit anderen und der Welt. Ein Vergleich des hier diskutierten Beispiels mit anderen Fällen könnte die Varianz der Bedingungen wie die der Reaktionen verdeutlichen (vgl. Wigger 2009; Equit 2010, 2012). Die gesellschaftstheoretische Kontextualisierung der Analysen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung steht damit noch ganz am Anfang und ist eine bei Weitem nicht bewältigte Aufgabe.
L ITERATUR Equit, Claudia (2010): Gewalthandeln und Ehre. Versuch einer anerkennungstheoretischen Deutung. In: Lothar Wigger / Claudia Equit (Hg.): Bildung, Biografie und Anerkennung. Interpretationen eines Interviews mit einem gewaltbereiten Mädchen. Opladen / Farmington Hills: Budrich, S. 55í82. Dies. (2012): Zum Verhältnis von Bildungs- und Anerkennensprozessen am Beispiel des Falls »Simone«. In: Miethe / Müller (Hg.): Qualitative Bildungsforschung, S. 209í226. Felden, Heide von (2003): Bildung und Geschlecht zwischen Moderne und Postmoderne. Opladen: Leske + Budrich. Fuchs, Thorsten (2011): Bildung und Biographie. Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. Bielefeld: transcript.
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»Aufstieg durch Bildung« – Versionen der Selbstbeschreibung im Interview mit Hakan Salman H ANS -R ÜDIGER M ÜLLER
Für die Interpretation des Interviews formulieren die Herausgeber drei Fragestellungen, die über die unterschiedlichen Zugänge und Detaildeutungen hinweg den gemeinsamen Rahmen der Beiträge abgeben sollen. In gegenstandsbezogener Hinsicht wird vor allem Interesse an dem Verhältnis von individuellen Bildungsprozessen und ihrem gesellschaftlichen oder diskursiven Kontext angemeldet. In methodologischer Hinsicht stehen zwei Fragen im Vordergrund: Zum einen solle bedacht werden, wie in einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung Theorie und Empirie fruchtbar zueinander in Beziehung gesetzt werden können, und zum anderen steht die Frage zur Diskussion, wie im erziehungswissenschaftlichen Erkenntnisprozess mit den unvermeidlichen normativen Implikationen des Bildungsbegriffs umgegangen werden kann. Alle drei Fragen werden in der folgenden Interpretation des Interviews mit Hakan aufgegriffen oder besser gesagt bearbeitet, indem sie in den fallbezogenen Argumentationen immanent mitgeführt werden. Aufbau und Durchführung der Interpretation werden zeigen, welche Antworten aus Sicht der vorgetragenen Analyse den drei allgemeinen Fragen gegeben werden können. Dennoch sollen der Interpretation des Materials ein paar Vorklärungen vorausgehen. (1) Die Interpretation des Interviews folgt keinem systematisierten bildungstheoretischen Modell, das anhand des Fallmaterials auf seine Tragfähigkeit und Plausibilität hin untersucht werden soll. Ein solches Modell
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schiene mir aufgrund der Heterogenität des gegenwärtigen Bildungsdiskurses innerhalb und außerhalb der Erziehungswissenschaft (Palentien et al. 2007; Tenorth 2011; Wigger 2009) nur um den Preis folgenreicher Ausblendungen möglich, die vielleicht zur Untersuchung spezieller Teilfragen legitim erscheinen mögen, im Kontext einer bildungstheoretischen Biographieforschung, die eine klärende Konfrontation ihres Theoriearsenals mit dem empirischen Material sucht, eher hinderlich sind. Stattdessen möchte ich den Versuch unternehmen, zunächst das Fallmaterial selbst als Teil des Bildungsdiskurses zu rekonstruieren, also das in ihm zum Ausdruck kommende Bildungsverständnis nachzuzeichnen, um von hier aus Fragen an den bildungstheoretischen Fachdiskurs zu stellen, die der Aufklärung der Konstruktionen beider Seiten, sowohl des Diskurses im Interviewtext als auch des Theoriediskurses außerhalb des Textes, dienlich sind. (2) Methodologisch knüpft dieser Versuch an die Hermeneutik Paul Ricœurs (1972, 2005a) an, der – vorwiegend bezogen auf literarische Texte – zwischen der eigenständigen Sinnstruktur eines Textes und der mehrdeutigen Auslegung dieses Sinns, einerseits durch den Urheber des Textes und andererseits durch den Leser, unterscheidet.1 Bezogen auf den vorliegenden Interviewtext folgt daraus, dass es zunächst um eine Rekonstruktion der immanenten Sinnstruktur des Dokuments gehen muss, die – etwa so wie bei der Analyse eines Romans als Kunstwerk – abgelöst von den Motivationen des (der) Produzenten als vieldeutiges Sinngebilde Bestand hat. Davon ausgehend werden dann Deutungsmöglichkeiten entworfen, und zwar sowohl in Richtung der Lebenswelt des Probanden, aus der der Interviewtext stammt und im Hinblick auf die er für den Erzähler Bedeutung hat2, als auch in Rich-
1
Ähnlich unterscheidet auch die objektive Hermeneutik (vgl. Oevermann et al. 1983) zwischen der latenten Sinnstruktur eines Falls und seiner Auslegung durch die Akteure (»subjektiven Realisierung«) bzw. die Forscher, wobei dann allerdings der objektive Status der vom Forscher eingeführten sozialen Normalitätskonstruktionen methodologisch in eine andere Richtung führt, als sie hier eingeschlagen wird.
2
Das Interview ist als subjektiv motivierte lebensgeschichtliche Erzählung bzw. als biographisches Gespräch ebenso Teil der Lebenswelt des Probanden wie auch Teil der Lebenswelt des Interviewers. Gleiches gilt für das Wissenschaftsund Bildungssystem als ein beiden gemeinsamer Deutungshorizont, der allerdings je nach lebensweltlichem Kontext ausgelegt wird. Das Interview als sozia-
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tung des bildungstheoretischen Fachdiskurses, um dann beide Deutungsrichtungen miteinander produktiv zu konfrontieren. So konstituiert sich der Forschungsgegenstand zwischen Textimmanenz, Lebensweltbezug und theoriegeleitetem Forschungsinteresse. (3) Vorsicht scheint mir vor dem Hintergrund des bisher Gesagten auch hinsichtlich des Verhältnisses von biographischem Prozess und Bildung geboten. Des offenen Verständnisses des Bildungsbegriffs wegen ist es nicht möglich, streng definierte Indikatoren zur Identifikation von Bildungsschritten vorab festzulegen, wie es beispielsweise in den verschiedenen Varianten einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse versucht wird (Koller 2012; Koller / Marotzki / Sanders 2007; Nohl 2006; Rosenberg 2011). Stattdessen gilt die Suche den biographischen Konfigurationen3, in denen zwischen Subjektgenese, Praxisformen und sozialkulturellem Prozess Handlungs- und Erfahrungsräume identifiziert werden, deren Bildungsrelevanz erst in der interpretativen (perspektivisch differenzierten) Bearbeitung des Textes deutlich werden kann. Die erzählte reflexive Lebenspraxis und die retrospektive Reflexion auf diese Lebenspraxis im Kontext der Interviewsituation greifen dabei ineinander, sodass die Bildung des erzählten Ich und die Bildung des erzählenden Ich nicht gänzlich voneinander zu trennen sind.4 Und dennoch bedarf es darüber hinaus eines textexternen Auslegungsrahmens, wenn es darum gehen soll, Bildung als ein pädagogisch relevantes Phänomen zu verstehen, also als eine Modalität des Lebens, die ihre Rechtfertigung aus der pädagogischen Praxis als Teil der kulturellen Lebensform zieht (Müller 2013b). Ein rein deskriptiver Begriff von Bildung fiele mit dem des biographischen Prozesses zusammen und würde sich mithin erübrigen. Von dieser allgemeinen Gegenstandsbestimmung ausgehend erfolgt die Arbeit am Material in zwei grob voneinander unterscheidbaren Schritten. Zunächst richtet sich das Interesse im Wesentlichen auf den vorliegenden Text als Sprachdokument, das einen sowohl den beiden Sprechern als auch
le Situation liegt im Überschneidungsbereich beider Welten und ist genetisch als überbrückende Kommunikation zu verstehen. 3
Es handelt sich um die Übertragung des figurationssoziologischen Modells von Norbert Elias (1970, 2003) auf den Gegenstand von Biographie und Bildung. (Vgl. hierzu auch Müller 2013a, ferner Müller et al. 2012 und Krinninger & Müller 2012).
4
Vgl. hierzu das Konzept der narrativen Identität bei Ricœur (2005b).
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dem Leser des Transkripts verständlichen Sinn enthält. Dabei liegt der Schwerpunkt der Analyse auf den Produktionsregeln, die diesen Sinn ermöglichen. Welchen sprachlichen Ordnungen folgt der Text? Welche sozialen Praxisformen werden in der biographischen Erzählung sichtbar? Auf welche symbolisch-kulturellen Sinngehalte oder Sinnbezirke rekurriert der Text? Wie erklären diese Sinnstrukturen den Lebens- und Bildungsweg, die Subjektgenese, die Lebensführung, die Lebensform des erzählten Ich? In einem zweiten Schritt wird einerseits versucht, die so rekonstruierte Sinngestalt des Textes auf den lebensweltlichen Horizont und das lebenspraktische Umfeld des Interviewten zu beziehen. Wie lässt sich diese Sinngestalt als bedeutungsvoll im Hinblick auf den Interviewten verstehen? Auf welche Bedeutungshorizonte verweist der Text, wenn man ihn als Dokument der textexternen Lebenspraxis des erzählenden Subjekts liest? Wie fügt sich der immanente Bildungssinn des Erzähltextes in die Welt ein, der er entstammt? Dieser Interpretationsschritt öffnet gewissermaßen das textimmanente Verständnis zu den außertextuellen Bedeutungen hin, die er im Leben des Erzählers – nach allem, was der Text und die wenigen Zusatzinformationen über dieses Leben mitteilen – haben könnte. Andererseits, und das lässt am deutlichsten das pädagogische Forschungsinteresse hervortreten, werden in diesem zweiten Schritt die bisherigen Ergebnisse mit einer kritischen Lesart des Textes konfrontiert, die dessen Sinnstruktur in den Diskurs der Bildungstheorie hereinholt, also zur bildungstheoretischen Argumentation herausfordert. Hier bieten sich auch die normativen Implikationen des pädagogischen Bildungsbegriffs zur Explikation an – allerdings nicht als Maßstab, dem die bisherigen Ergebnisse zu subsumieren sind, sondern als Anlass zur Differenzierung der eingesetzten Theoriebezüge und zur Diskussion von Divergenzen zwischen lebensweltlich fundierten und fachlich begründeten Bedeutungshorizonten. In der nun folgenden Darstellung gliedert sich die Interpretation des Interviews wie folgt. Unter der Zwischenüberschrift »Der Student der Medizintechnik und sein Bildungsweg« wird zunächst eine erste Sinnfigur des Textes rekonstruiert, die dicht an die vom Interviewer zu Beginn des Gesprächs gegebene Instruktion anschließt, den Bildungsweg zu beschreiben. Eine zweite Sinnfigur, die vor allem das sozialkulturelle Umfeld Hakans beleuchtet, folgt im nächsten Abschnitt. Orientiert an der hier vom Interviewten eingeschlagenen Richtung der biographischen Erzählung wird in diesem Abschnitt Bildung vor allem unter sozialisatorischem Aspekt the-
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matisiert. Beide Sinnfiguren durchziehen den Interviewtext insgesamt und können nicht bestimmten Erzählpassagen allein zugeordnet werden. Sie lassen sich als ineinander verwobene Grundfiguren oder Sinndimensionen verstehen, in denen die Aufforderung des Interviewers, den eigenen Bildungs- und Lebensweg zu beschreiben, in eine Erzählung transformiert wird. Der dritte Abschnitt dient der Auslegung der beiden rekonstruierten Sinnfiguren vor dem Hintergrund ihres lebensweltlichen Kontextes und als Herausforderung bildungstheoretischer Argumentationen.
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Bereits der Beginn des Interviews gibt einen Hinweis darauf, dass die Frage nach der »Bildungsgeschichte« bzw. dem »Bildungsweg« (Interviewprotokoll, Abschnitt »Zusammentreffen«, Z. 1) in einem bestimmten Sinne konkretisiert wird, nämlich dem einer institutionellen Bildungskarriere. »Okay, äm geboren und aufgewachsen bin ich in deutsche Stadt äm ich war sechs Jahre alt, da kam ich in die erste Klasse, aber vorweg Kindergartenbesuch äm mit zwei oder drei, soweit ich mich erinner, kam ich in den Kindergarten […].« (Z. 2–4)
Mit der Thematisierung des Beginns des institutionellen Bildungswegs wird die etwas unklare, unentschieden-additive Formulierung des Interviewers5 vereindeutigt und ein stabiler Leitfaden für die anschließende biographische Erzählung eingeführt: Die Darstellung der Lebens- und Bildungsgeschichte erfolgt am Leitfaden der institutionellen Stationen des Bildungswegs vom Kindergarten und der Einschulung über die weiterführende Schule bis zum Studium der Medizintechnik. Auch lebensgeschichtlich relevante Erläuterungen ranken sich gewissermaßen um dieses pädagogische InstitutionenGerüst, wie sich in der kurzen Eingangserzählung ebenfalls bereits andeutet: Schon im Kindergarten lernt er »viele neue Freunde« (Z. 6) kennen, die
5
Der Interviewer erläutert Hakan vor Interviewbeginn, »[…] dass es bei dem Interview um seine Lebens- und Bildungsgeschichte« gehe (Abschnitt »Zusammentreffen«; Herv. HRM) und leitet das Gespräch dann mit der Aufforderung ein: »[…] erzähl mir […] dein Lebensweg, dein Bildungsweg« (Z. 1).
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deutsch-türkische Zweisprachigkeit seines sozialkulturellen Milieus belastet von der ersten Klasse an seinen Schulbesuch (Z. 10–25) und die ebenfalls zu diesem Zeitpunkt stattfindende Trennung seiner Eltern erschwert die soziale Integration in die Schülerschaft (Z. 31–39). Die Auslegung des Bildungsbegriffs in den der »institutionellen Bildung« strukturiert die Geschichte jedoch nicht nur in einem erzähltechnischen Sinne. Sie verortet sie zugleich in einem semantischen Feld, nämlich dem aktuellen öffentlichen Bildungsdiskurs, in dem das Thema »Bildung« vor allem unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlich ungleich verteilten Bildungschancen, insbesondere der strukturellen Benachteiligung von Migrantenkindern, debattiert wird. Mit der Referenz auf dieses diskursive Feld wird eine Reihe von weiteren Ordnungsgesichtspunkten relevant, die die Bildungsgeschichte als institutionelle Laufbahn von ihrem vorläufigen Ende (dem erreichten Studentenstatus) her vorstrukturieren und auszubuchstabieren helfen. Der individuelle Bildungsweg vom Kindergarten bis zum Studium der Medizintechnik wird zwar nicht als linear und barrierefrei vorgestellt, aber letztlich doch seines vorläufigen Resultats wegen als eine Erfolgsgeschichte markiert, die den Erzähler von den meisten seiner türkischen Freunde deutlich unterscheidet. Diese Ordnungsmatrix differenziert zwischen gelungenen (selbst) und misslungenen (Z. 506–514; 550–563) Bildungsverläufen, zwischen erstrebten und blockierten (Z. 113–116; 214– 231), vorgespurten (Z. 68–84; 164–173) und aktiv erschlossenen (Z. 959– 989) Wegstrecken, zwischen kontinuierlichen und diskontinuierlichen (Z. 192–193; 336–338) Karrierepfaden wie auch zufallenden (Z. 921–928) und erkämpften (Z. 174–186) Etappensiegen. Über diese Unterscheidungsmatrix hinweg folgt sie dabei einer einheitlichen Logik: Es gilt, etwas zu »erreichen« (Z. 899–907), einen guten Bildungsabschluss zu machen, einen angesehenen Beruf zu finden, ein materielles Auskommen zu haben, das einen anerkannten gesellschaftlichen Status begründet und die Verwirklichung allgemeiner Lebensziele (dickes Auto, Familie, Haus, »vielleicht mal schöne Urlaube machen« und »die Welt sehen«; Z. 990–998) in Aussicht stellt. Es sind nicht primär Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung oder der Entfaltung von individuellen Potenzialen (obgleich auch diese Aspekte nicht ausgeschlossen sind), sondern es geht vor allem um die soziale Karriere, die relative Positionierung im sozialen Raum und das mit dem Bildungsabschluss und dem Beruf materiell oder auch ideell verbundene Prestige, wie man mit Pierre Bourdieu (1989) sagen könnte.
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Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang auch eine schon bei Interviewbeginn erkennbare bipolare Zeitstruktur der Erzählung. Von Beginn des Interviews an ist der chronologische Anfang der Bildungsgeschichte (Kindergarten, erste Klasse) mit der Gegenwart des Erzählers verknüpft (»[im Kindergarten] neue Freunde kennengelernt, die ich, bis jetzt, zu meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr immer noch kenn’«; Z. 6–8), was sowohl auf die (wenn auch über Umwege) sich entwickelnde Kontinuität, als auch auf die teils direkte, teils indirekte Präsenz des im Wesentlichen positiv konnotierten (vorläufigen) Jetzt-Zustandes in der Darstellung des chronologischen Prozesses verweist: Alles, was im Folgenden berichtet wird, so ließe sich die damit nahegelegte Rezeptionsinstruktion verstehen, mag für sich genommen belastend erscheinen, kann aber angesichts des positiven Entwicklungsresultats, das im Status des Medizintechnik-Studenten und seiner Teilhabe an einem im selben akademischen Milieu angesiedelten wissenschaftlichen Forschungsprojekt seinen aktuellen Ausdruck findet, den Bildungsweg nicht nachhaltig gestört haben. Eher sind die im Laufe der Erzählung berichteten, teils auch sehr belastenden Momente der Lebensgeschichte als Bestätigung eines (mit Unterstützung anderer – Schwester, Mutter, Cousin, Lehrerin, Freund: siehe Z. 738–754; 1044– 1056) aktiv und konsequent verfolgten Weges (Z. 415–418) zu verstehen. Selbst die Teilnahme am Abi-Ball als einziger Kandidat, der das Abi nicht geschafft hat, lässt ihn zum »Held des Abends« (Z. 349–350) werden: »alle standen hinter mir, […] einerseits das schlimmste Gefühl, […] andererseits auch das schönste Gefühl« (Z. 365–366). Und trotz einiger Unsicherheit, ob er den Anforderungen des Studiums und den aktuell an ihn gerichteten Leistungserwartungen auch gerecht werden kann (Z. 398–400; 904–907), markiert diese erfolgsbetonte Gesamtrahmung auch noch die Richtung, in die die Lebens- und Bildungsgeschichte prospektiv fortgeschrieben wird (Z. 392–398; 408–418). Bilanzierend heißt es am Ende seiner lebensgeschichtlichen Spontanerzählung: »[…] da ich mich schon daran gewöhnt habe Niederlagen einzustecken, auch Gutes zu erleben, macht es mir keine Sorgen […], also ich weiß, ich habe mein Ziel vor Augen ob, wann ich dann dahin komme das steht noch nicht fest, aber dass ich dahin komme, das weiß ich« (Z. 413–417). Grundtenor der biographischen Erzählung ist die Geschichte vom sozialen Aufstieg des Migrantenkindes Hakan, ein erfreulicher Beweis für die rhetorische Formel vom »Aufstieg durch Bildung«.
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Unterstrichen wird die Konstruktion der eigenen Bildungsgeschichte in der Matrix des öffentlich-institutionellen Bildungsdiskurses auch durch Eigenheiten des Sprachgebrauchs. Auffallend häufig finden sich im Text Elemente des professionellen Bildungsjargons, die die Platzierung der biographischen Selbstbeschreibung im semantischen Feld öffentlicher Bildung bekräftigen. So ist an verschiedenen Textstellen von den »Defiziten« (Z. 118, 152, 265, 403, 459) oder auch einem schulischem »Handicap« (Z. 20) die Rede, die es zu diagnostizieren und zu beheben gelte, und auch davon, dass es darum ginge, den Schulstoff zu »beherrschen« (Z. 60, 150, 157, 1024). Die »Förderung« des eigenen Bildungsweges durch andere ist ein immer wiederkehrendes Thema, das primär im schulischen Kontext auftaucht (Z. 46, 64, 92, 118, 196, 404, 826) und dann auch auf die herkunftskulturellen Anregungen und die soziale Unterstützung in der Familie, insbesondere von Seiten der Mutter, übertragen wird (Z. 91–97, 722, 735– 751). Die Sprache des Textes ist hier vor allem die Sprache des öffentlichen Bildungs- und Hilfesystems, die als übernommener Jargon im Dienste der Plausibilisierung und Legitimierung der Wege und Umwege der individuellen Bildungsgeschichte steht.6 Aufschlussreich ist auch die Redensart des »Katz-und-Maus-Spiels«, die Hakan zur Beschreibung der Interaktion zwischen ihm und dem Bildungssystem verwendet, und zwar einmal zu Beginn seiner Schulkarriere nach der Einschulung und ein anderes Mal bezogen auf seine aktuelle Situation im Studium (Z. 43, 413), sodass diese Metapher den bisherigen Bildungsgang zeitlich umschließt. Das Sprachbild beschreibt gemeinhin eine ungleich verteilte Machtsituation zwischen zwei Parteien (die Maus im Kontrollbereich der Katze), die jedoch nicht gleich zugunsten der mächtigeren Partei entschieden wird (Katze frisst Maus), sondern eine Zeitlang duldend offengehalten wird, um ein Spiel mit den Behauptungs- oder Befreiungsversuchen der schwächeren Partei zu ermöglichen (in der Überzeugung, trotz des provozierten Risikos am Ende der Gewinner zu sein). Offenbar sieht sich hier der Erzähler dem Bildungssystem insofern ausgeliefert, als es immer wieder Lernerwartungen und Leistungsanforderungen an ihn stellt, denen er nicht ohne weiteres nachkommen kann, wobei ihn seine Erfahrung jedoch gelehrt hat, dass es Spielräu-
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Zuweilen kommt es dabei zu recht artifiziellen Sprachfiguren: »eingeschult wurde ich im Frauenhaus«, Z. 28; »trotzdem hatte ich immer noch das Defizit nicht gefördert zu werden«, Z. 118.
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me des Aufschubs, des Umwegs oder der Verlangsamung gibt, deren Nutzung ihm letztlich einen produktiven Umgang mit der momentanen Überforderung ermöglichen (bis das Spiel an einer anderen Stelle von Neuem beginnt). Das erklärt auch die Mischung von optimistisch in die Zukunft gerichtetem Selbstvertrauen und gleichzeitig bestehenden Zukunfts- und Versagensängsten, die in der biographischen Konstruktion des Bildungsgangs mitschwingen. Das Verhältnis zwischen institutionellen Anforderungen und subjektivem Vermögen wird von stützenden oder schwächenden Bedingungen moderiert, die weder vorhersehbar noch wirklich kontrollierbar sind, und die daher die Macht der institutionellen Struktur und den Spielraum von individuellem Leistungsverhalten mit dem Moment der biographischen Kontingenz verbinden. Zusammenfassend lässt sich die so herausgearbeitete erste Sinnfigur des Textes als Darstellung des Bildungswegs im Sinne einer »Bildungskarriere« kennzeichnen, die im Zusammenspiel von institutionellen Verlaufsmustern, kontingenten Randbedingungen und subjektiven Eigenstrukturierungen ihre besondere Form findet. Die Familie und das soziale Umfeld wird in dieser Version vor allem funktional thematisiert: als Ressource wie auch als Quelle der Belastung, nicht aber als Ort eines »Kulturkonflikts«, der dem Bildungs- und Berufsweg systematisch entgegensteht. Vielmehr gibt es zahlreiche Hinweise auf eine kontinuierliche Adaption des Erzählers an das kulturelle System von Bildung und Beruf, die nur dort zu einem Konflikt mit den türkischen Altersgenossen führt, wo sie das Risiko der sozialen Entfremdung in sich birgt (»Ich wurde nach ’ner Zeit lang ausgegrenzt, von den türkischsprachigen Mitschülern […]. Hey, hab ich gesagt, es geht um meine Zukunft! Ich muss da was dafür tun um erfolgreich zu sein […]«, Z. 496–504).7
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Die beschriebenen adaptiven Praktiken umfassen auch materielle und kulturelle Leistungen. So setzt er beispielsweise sein beim Jobben selbstverdientes Geld zur Kompensation der begrenzten elterlichen Mittel als »Bildungsinvestition« zur Bezahlung eines Nachhilfelehrers ein (Z. 804–813). Zur kulturellen Adaption an das Bildungsmilieu des Gymnasiums nutzt er die Lektüreanregungen eines Mitschülers, denen er allerdings eher als selbst auferlegte Verpflichtung nachkommt: »[…] ich hab mich auch ein bisschen unter Druck gesetzt […] Mittlerweile mag ich sehr gerne Büchern rumwälzen […], vor allem […] Fremdwörterbücher […]« (Z. 1055–1060).
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S INNFIGUR 2: D ER S OHN EINER TÜRKISCHEN E INWANDERERFAMILIE UND SEIN KULTURELLES U MFELD Ein anderer Strang der Selbstbeschreibung führt in den Bildungskontext von Familie, Nachbarschaft und Freunden. Die hier rekonstruierbaren Sinnstrukturen stehen weder grundsätzlich im Kontrast zu denen des institutionellen Bildungsdiskurses, noch lassen sie sich ihm einfach subsumieren. Sie haben vielmehr – trotz ihrer offensichtlichen Verflechtung mit dem Ordnungssystem Schule und Universität – ihre eigene Logik. Während der institutionelle Bildungsdiskurs eher einer zeitlichen Ordnung folgt – einer nach Alter und Entwicklungsstand gestuften Reihe von institutionalisierten Lernkontexten, deren erfolgreicher Abschluss jeweils die Bedingung für den nächst vorgesehenen Bildungsschritt ist –, handelt es sich bei der Darstellung der außerschulischen Erfahrungskontexte eher um raumbezogene Strukturierungen, eine Art Topographie des Alltags. Temporalität und Telos treten zurück hinter die Merkmale der Perspektivität und der Relationalität. So erscheint etwa die Familie als der – zeitweise von Vater und Mutter umkämpfte – Raum des alltäglichen Zusammenseins. Das Zuhause wird als Ort der Auseinandersetzung um die räumlich-symbolischen Familiengrenzen und des Streits der Eltern um die Strukturierungsmacht beschrieben (Z. 603–625). Die gewaltförmige Eskalation des Ehestreits führt zur Flucht der Mutter ins Frauenhaus (Z. 628–641), in das sie ihre Kinder nachholt (Z. 646–649). Und die förmliche Trennung der Familie unter Aufsicht des Jugendamtes wird in einem eindrucksvollen räumlichen Arrangement bildhaft zur Anschauung gebracht: »[…] da standen wir, meine […] Schwester und ich in der Mitte des Raumes, in der ein’ Ecke saß mein Vater und in der anderen Ecke meine Mutter, taub, stumm. […] meine Schwester wurde gefragt, wo möchtest von nun an leben bleiben? Meine Schwester ist schnur-stracks zu meiner Mutter und ich natürlich auf die Fußstapfen getreten. […] und dann war die Situation klar.« (Z. 655–665)
Auch die Rückkehr des Vaters in die Türkei und sein späterer Versuch, die Kinder gewaltsam aus der Wohnung der Mutter zu sich in die Türkei zu holen (Z. 697–734), lässt sich als Territorialkampf um den passenden Ort des Aufwachsens lesen. Und wenn der Erzähler heute das aktuelle Zusammen-
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wohnen mit der Mutter als »zur Zeit das Beste, was mir überhaupt passieren konnte« (Z. 766) bezeichnet, dann verweist auch das auf die Relevanz der Familie als Raum des alltäglichen Zusammenlebens. Auch Freunde und Bekannte (»[…] ich habe Freunde in verschiedenen Kategorien«, Z. 425) werden primär nach räumlichen Zuordnungen unterschieden. Die früheren Schulfreunde »habe ich immer nur damals zur Schule gesehen« (Z. 435), wobei noch einmal zu differenzieren ist zwischen den türkischen Schulfreunden, die sich »das Leben einfach machen« wollten (Z. 488–494), und den deutschen Schulfreunden, die ihm und untereinander solidarisch Unterstützung (Z. 456–471) gewährt und Ansporn für bessere Leistungen (Z. 141–155) gegeben haben. Daneben gibt es die »Alltagsfreunde« (Z. 432), die türkischer Herkunft sind (Z. 522–523) und die er aus seiner »Gegend« (Z. 433) kennt, mit denen er Fußball gespielt und später Partys gefeiert hat, unter denen er jedoch auch noch einmal »selektiert« (Z. 556), denn »auf der Straße« gibt es Menschen, mit denen man leicht »in Probleme verwickelt werden kann« (Z. 558), sodass es hier geboten erscheint, »’n bisschen wachsamer« (Z. 569–570) zu sein. In den privaten Kontakten mit den jetzigen Kommilitonen aus der Uni geht es demgegenüber etwas »lockerer« und weniger »angespannt« zu (Z. 565), wenn er mit ihnen in »angenehmer Atmosphäre« feiert, gemeinsam kocht, Musik hört und Cocktails mixt (Z. 588–593). Und schließlich spielt die Raumdimension zur Ordnung der zentralen Ereignisse auch im größeren familienbiographischen Maßstab eine wichtige Rolle, denn die Geschichte der Familie spannt sich – im Sinne eines generationentypischen Verlaufs der Migration – als Transformation eines räumlich gedachten Lebensentwurfs auf: Der ursprüngliche »Traum« (Z. 1020) vom kurzfristigen Arbeitsaufenthalt in Deutschland unter Beibehaltung des Lebensmittelpunkts in der Türkei verblasst nach und nach vor der Realität des dauerhaften Verbleibs der Familie in Deutschland fernab der Heimat (Z. 1003–1031): »[…] aus einem Jahr wurden zwei, aus zwei wurden drei, vier und dann zwanzig Jahre(n), […] obwohl man nur Geld für einen Traktor sparen wollte, oder ’n Haus, das man sich dort [in der Türkei] kaufen wollte. Aber irgendwann blieben sie hier und dann gab’s auch keinen Weg mehr zurück.« (Z. 2010–2015)
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Ähnlich, aber gleichsam mit umgekehrtem Vorzeichen, folgt auch der Zukunftsentwurf des Erzählers als Fortsetzung der Familienbiographie einer räumlichen Struktur: »mein Traum ist es irgendwann […] für die dritte Welt Länder [medizintechnische Ausrüstungen, HRM] in Massenden von Geräten zu produzieren. Und für eine gute Sache zu arbeiten. Also in […] de(m) Glauben gehe ich meine(m) Ziel nach.« (Z. 976–989)
Und zu diesen Zielen gehören: »meine Familie […], vielleicht mal ’n Haus […], schöne Urlaube machen […], die Welt sehen […]« (Z. 995–997) – eine von Haus und Familie ausgehend räumlich gedachte Ausdehnung des Lebenshorizonts. Bildungstheoretisch ist diese räumliche Strukturierung des erinnerten und entworfenen Lebens deswegen besonders interessant, weil ihr auch fundamental die Lokalisierung des erzählenden bzw. erzählten Ich zugehört. Die räumliche Gliederung der Lebensgeschichte fordert zur Positionierung der eigenen Person in oder zu den für sie relevanten Lebensfeldern auf. Das Ich ist (keineswegs widerspruchsfrei) in verschiedenen Regionen der Topographie engagiert, verhält und versteht sich relational zu den unterschiedlichen Ansprüchen, Erwartungen, Aufforderungen und Begrenzungen dieser Räume und perspektiviert damit – je nach Standort und Blickrichtung – zugleich sein Selbstverhältnis, sei es als engagierter Akteur oder als reflektierender Beobachter und Erzähler. Im Unterschied zur Linearität (wenn auch nicht Gradlinigkeit) der institutionellen Karriere, in der sich das Subjekt mehr oder weniger im Zentrum eines Bildungsgangs befindet oder doch wenigstens immer wieder dahin zurückfindet, entsteht in der erzählten Topographie des Lebens das Feld einer dezentrierten Subjektivität, die nur in Relationen begreifbar wird und Strategien der Territorialisierung, der Synchronisierung oder der Hierarchisierung hervorruft. Nicht überall im Text kommen die dabei entstehenden Identitätsversionen so explizit zum Ausdruck, wie in dem folgenden Zitat: »Ich habe noch eine Kategorie von Freunden: ich habe die türkischen Freunde und ich habe die deutschen Schulfreunde. Die türkischen Freunde sind meine Alltagsfreunde, wie ich sie eben beschrieben habe. […] mittlerweile versuche ich beides unter einem Hut zu kriegen, also ich kann beide Seiten nich vermischen, das geht
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nich. Das passt auch nicht zusammen. Ich bin […] halb deutsch, aber wenn ich mit den alltäglichen Freunden bin, bin ich der Türke. Also […] es klingt doof, sei es von Schimpfwörtern bis zu meiner türkischen Blutader bis zum Döner essen von drei Stück hintereinander […].[…] bin ich mit meinen Kommilitonen, mit meinen deutschen Freunden zusammen, bin ich der Brillenträger, der Literaturkenner und was weiß ich was, aber, ja, […] die beiden Seiten muss ich strikt trennen […] das, denk ich, mache ich auch sehr gut.« (Z. 520–533)
Die Schule und die Universität, die Freunde in der Nachbarschaft und die Familie, das Praktikum und der Zivildienst stellen soziale Figurationen dar, in die sich die Erzählperson als Handlungs- und Erfahrungssubjekt einschreibt und die als Ganzes ein interdependentes und zugleich spannungsreiches Gefüge von Personen, Praktiken und sozialen Strukturen ergeben. Neben den bereits in der ersten Sinnfigur des Textes rekonstruierten Unterstützungs- und Belastungsmomenten, die in diesen Figurationen bezogen auf den Bildungsgang durch die Institutionen angelegt sind, zeigen sich in der Beschreibung dieser sozialen Felder noch weitere bildungstheoretisch interessante Konstruktionen, die vor allem die sozialisatorische Seite der Bildung8 betonen, weil es im Wesentlichen um soziale Zugehörigkeiten und soziale Anerkennung sowie um den Nachweis von Charakterstärke im Kontext sozialer Verpflichtungen und um die Reziprozität von sozialen Beziehungen geht. Auch hier bietet sich wieder als Zugang die Analyse sprachlicher Auffälligkeiten an. So taucht an verschiedenen Textstellen die Redewendung vom »Geben und Nehmen« auf, um die Wechselseitigkeit der sozialen Unterstützungsleistungen zu markieren. Die Freundschaft zu einem »Mathegenie« in der Klasse beeindruckt Hakan vor allem wegen dessen selbstloser Hilfsbereitschaft (»[…] uns, den Schülern, die Defizite hatten,
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Diese Formulierung relativiert bewusst die terminologisch zuweilen heftig umkämpfte Differenz von Sozialisation und Bildung dahingehend, dass hier in der semantischen Struktur des Textes die Bildung des Subjekts als sozialisatorischer Prozess beschrieben wird, wobei jedoch durch die vom Akteur aus erfolgende Auswahl und Strukturierung des sozialisatorischen Umfeldes wiederum auf die reflexive (und damit bildende) Seite des Sozialisationsprozesses verwiesen wird. Dass dennoch Bildung und Sozialisation nicht synonym zu verstehen sind, soll an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Vgl. hierzu auch den nächsten Abschnitt.
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die Probleme hatten, die Fragen hatten, hat er seine freie Zeit geopfert, uns Nachhilfe zu geben«, Z. 459–460), aber umgekehrt hat auch Hakan »in Biologie zum Beispiel […] in gewissen Themenbereichen« (Z. 465–466) anderen Mitschülern beim Lernen geholfen: »Es ist ein Geben und Nehmen, aber das schätzt man an einem Freund.« (Z. 470–471) Neben dem instrumentellen Wert dieser sozialen Beziehungen ist es vor allem die Begeisterung für das egalitäre Freundschaftsmodell, für das, was man an einem Freund »schätzt«, die in diesen Zitaten zum Ausdruck kommt. Ähnlich verhält es sich in Bezug auf das Verhältnis zu seiner Mutter, zu der er eine besonders enge, liebevolle Beziehung unterhält – als erwachsener Sohn im gemeinsamen Haushalt allerdings nicht in der Asymmetrie des MutterKind-Verhältnisses, sondern auf gleicher Augenhöhe (»nich’ wie Mutter und Sohn, sondern wie Freundin und Freund, […] Feuer und Flamme, […] wie sehr dicke Freunde«, Z. 752–754). Und auch hier herrscht das Prinzip der Reziprozität vor: Er zahlt keine Miete, unterstützt sie aber, »weil sie [als Rentnerin; HRM] nich viel verdient« (Z. 757), sie kocht und wäscht für ihn, er geht einkaufen und bringt den Müll herunter, »ein Geben und Nehmen« (Z. 761). Die Betonung von sozialen Bindungen und Verpflichtungen korrespondiert mit den Momenten der sozialen Zugehörigkeit, der Anerkennung und Bestätigung und auch des sozialen Status. Dies zeigt sich vor allem in Erzählpassagen, in denen Hakan sich in Relation zu Freunden, Mitschülern und Bekannten beschreibt. Der schon erwähnten Textstelle, in der der motivierende und unterstützende Einfluss eines neben ihm sitzenden Mitschülers betont wird, fügt der Erzähler hinzu: »Wir haben echt alles gemeinsam gemacht, Referate, und dann hieß es Hakan Hakan Hakan, ich möchte gerne mit dir ein Referat machen, wollen wir? Warum? Weil ich’s auf einmal beherrscht habe, aber aufgrund deren Mithilfe habe ich mich hoch gerappelt, hochgezogen […]« (Z. 155–158)
Mindestens ebenso sehr wie das Moment des Lerneffekts spricht aus diesen Formulierungen der soziale Prestigegewinn, den Hakan aus seiner Position in der Schülergruppe gewinnen kann, denn, wie die Metapher des »Hochziehens« (ebenso wie die des »Mitziehens«, Z. 511, und des »In-denDreck-Ziehens«, Z. 559–560) anzeigt, geht es nicht nur um die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, sondern auch um die vertikale Gliederung des
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sozialen Raums sowie die dabei wirkenden sozialen Kräfte und die in Anerkennungsprozessen zugewiesenen sozialen Platzierungen. Eben deswegen ist es auch so schwer, die Zugehörigkeiten zu den unterschiedlichen Freundesgruppen, Bekanntenkreisen und anderen sozialen Figurationen sowie die entsprechenden Versionen des Selbst »unter einen Hut zu kriegen« (Z. 524). Der Vorrang der sozialen Gemeinschaft als Quelle des Selbstverhältnisses fordert das Subjekt zu dynamischen und spannungsreichen Balancen heraus, die zwar nicht die Bildung der individuierten Person, wohl aber Individualität als der sozialen Anpassung entgegengesetztes Bildungsziel in den Hintergrund treten lassen. Dies schlägt sich auch in der charakteristischen Überkreuzung von re-aktiven und pro-aktiven Aspekten der Lebensführung nieder. Während die Dramaturgie der biographischen Erzählung einerseits deutlich die Willensstärke und Durchhaltekraft Hakans bei der Gestaltung seines Lebens und der Verfolgung seiner Ziele herausstellt (nicht zuletzt durch die narrative Formel zum Abschluss seiner Geschichte: »[…] ich habe mein Ziel vor Augen, […] dass ich dahin komme, das weiß ich«, Z. 415–417), finden sich doch gleichzeitig auch deutliche Hinweise auf den prägenden und steuernden Einfluss der Umwelt, sei es im Hinblick auf die Modellfunktion seiner Schwester, in deren »Fußstapfen« er an zwei entscheidenden Stellen seiner Biographie9 getreten sei, oder des Mitschülers im Gymnasium, dessen Leseeifer er zu imitieren suchte10, oder sei es in Bezug auf den überaus folgenreichen Appell der Lehrerin (vgl. Z. 133–152), sich in der Klasse umzusetzen, um sich von leistungsorientierteren Schülern anregen zu lassen: »[…] klingt […] ein bisschen labil, aber es is’ einfach so« (Z. 163–164). Die reaktive Haltung mag (entgegen dem eigenen Selbstverständnis) als Charakterschwäche ausgelegt werden; die narrative Konstruktion lässt sie hingegen als eine soziale Praktik erscheinen, die die prägenden Effekte sozialer Bindungen produktiv zu nutzen sucht und die auch in der nachträglichen Reflexion Bestand hat. Die in diesem Abschnitt rekonstruierte zweite Sinnfigur erweitert das Gegenstandsfeld der Bildung gegenüber dem institutionellen Bildungsver-
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Es handelt sich zum einen um die Entscheidung, bei welchem Elternteil er leben möchte (vgl. Z. 663), und zum zweiten um die Entscheidung, ob er trotz seiner »Leistungsdefizite« das Abitur anstreben solle (vgl. Z. 172–173).
10 »[…] ich habe gedacht, wenn ich dasselbe tue wie er, kann ich auch so werden wie er.« (Z. 1057–1058)
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lauf nicht nur um andere Bildungsorte, sondern auch um andere Modalitäten der Bildung. Die personale Entwicklung spreizt sich über ihre Zuspitzung zur »Bildungskarriere« hinaus auf das soziale Gefüge unterschiedlicher Gruppen, Gemeinschaften und Individuen aus, die in einem figurierten, wenn auch keineswegs harmonisch aufeinander abgestimmten Zusammenhang stehen und die Bildungsbewegungen des Erzählers in verschiedene Richtungen laufen lassen. Die Kraft der beschriebenen sozialen Bindungen dezentriert die Prozesse der Subjektgenese und stellt die hohe Relevanz von Gemeinschaften und Gemeinschaftsidealen für die Herausbildung von Selbstgewissheit, Selbstvertrauen und Selbstbestimmung (im Unterschied zu Autonomie-Konzeptionen, die stärker auf die Abgrenzung der Person von ihrem gesellschaftlichen Umfeld bauen) heraus. Die Relationalität dieses dem Text immanenten Bildungskonzepts wirkt auch auf die im vorhergehenden Abschnitt rekonstruierte Sinnfigur der »Bildungskarriere« relativierend zurück, die zwar ihre leitende Ordnungsfunktion für die Erzählung der Lebensgesichte nicht einbüßt, jedoch im Lichte der im weiteren thematisierten alltäglichen Handlungs- und Erfahrungszusammenhänge als Teil einer komplexeren Bildungsfiguration sichtbar wird.
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Im Gesamtbild stellt sich die »Lebens- und Bildungsgeschichte« Hakans als Verflechtung zweier Sinnfiguren dar, die unterschiedliche Aspekte des Bildungsgeschehens beleuchten, den institutionellen Bildungsweg und die sozialen Vergemeinschaftungspraxen in unterschiedlichen sozialen Figurationen. Doch so heterogen das Feld der Bildung zwischen institutionalisierten Lernanforderungen, deutsch-türkischem Familienmilieu und den verschiedenen Freundeskreisen und Peer-Erfahrungen auch sein mag und so massiv auch kritische Lebensereignisse (wie etwa die Erfahrung familialer Gewalt oder das nicht bestandene Abitur) in den Lauf des Lebens eingegriffen haben mögen, von biographischen Brüchen, die eine grundlegende Umstrukturierung der Selbst- und Weltverhältnisse als markantes Zeichen eines Bildungsschritts etwa im Sinne einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse zur Folge gehabt hätten, kann eigentlich nicht die Rede sein. Doch
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wäre es voreilig, von der rekonstruierten Sinnstruktur der biographischen Erzählung direkt auf die lebensgeschichtliche Wirklichkeit des erzählenden Subjekts zu schließen. Zwischen dieser erfahrenen Lebenswirklichkeit und dem bildungstheoretisch interessierten Verstehen dieser Wirklichkeit steht der Text zunächst als eigenständige und von den externen Bezügen seines Produzenten wie auch seiner Rezipienten gelöste, daher vieldeutige, Sinngestalt. Die Frage, was diese Erzählung für ihren Erzähler in seiner Lebenswelt bedeutet und wie sie aus der Perspektive des bildungstheoretischen Diskurses verstanden werden kann, ist zwar von dieser Sinngestalt nicht unabhängig, erfordert aber noch einen weiteren, über die Immanenz des Textes hinausgehenden Interpretationsschritt. Diese Differenz wird augenfällig, wenn man bedenkt, wovon in dem Interview nicht die Rede ist. Thematisch ausgeblendet bleiben zum Beispiel partnerschaftliche Beziehungen, die über Gruppenkontakte hinausgehen (Hat er eine Freundin?). Auch wie er das großstädtische Umfeld, im Unterschied zu anderen denkbaren Lebensorten, erfährt (Spielt ein urbanes Lebensgefühl eine Rolle? Immerhin werden das Wohnviertel, die Straße, die Bars als relevante Lebensräume genannt), bleibt deutlich unterbelichtet. Es wäre naiv anzunehmen, dass sich das erlebte Leben in der Lebenswirklichkeit einfach abbildete. Was also lässt sich über die lebensweltliche Bedeutung der in der biographischen Erzählung zutage getretenen narrativen Sinngestalt vermuten? Immerhin verweisen die rekonstruierten Sinnfiguren des Textes auf eine Reihe von zentralen Themen, Herausforderungen und Praktiken, die auf den lebensweltlichen Bedeutungshorizont, also auf ihre praktische Relevanz und kulturelle Auslegung schließen lassen. Sie kreisen um das »gute Leben«, sowohl in materieller als auch in moralischer Hinsicht, um Respekt und Anerkennung in sozialen Gemeinschaften und um Strategien der Selbstführung in einem von Kontingenzen und Fremdstrukturierungen durchzogenen Leben. Für Hakan ist das Erreichen der Bildungsabschlüsse das zentrale Mittel der sozialen Inklusion, beruflichen Integration und kulturellen Adaption an die Standards der technisch-akademischen Mittelschicht. Sein damit verbundener sozialer Aufstieg transformiert bisher erfolgreich ein familienbiographisches Motiv (Überwindung der eingeschränkten materiellen Lebensbedingungen durch sozialgeographische Mobilität) in einen eigenen Lebensentwurf, der jedoch immer auch mit der Unsicherheit behaftet ist, ob die persönlichen und sozialen Ressourcen ausreichen werden, um diesen
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»Traum« (ein materiell gut abgesichertes Berufs- und Familienleben als ökonomisch erfolgreicher und moralisch anerkannter Exporteur medizintechnischer Geräte) auch zu verwirklichen. Er rechnet mit Umwegen, vertraut aber auf seinen vitalen Willen. Die Verflechtung dieser Version mit den anderen Versionen des Selbst (im Verhältnis zur Mutter, zum Vater und der frühen Familiengeschichte, zur Schwester, zu Mitschülern und Kommilitonen, zu den befreundeten und den abgelehnten türkischen peers im Wohnmilieu) führt dazu, dass Hakan in einem dynamischen Feld von Bindungen, Verpflichtungen und Distinktionen agiert, die seinen Lebensalltag zwar nicht auf eine dramatische Weise belasten, aber doch mit konkurrierenden Anforderungen versehen, die offenbar nicht leicht zu ordnen sind. Dies zeigt sich u. a. auch auf der forschungspraktischen Ebene der Verabredung und Durchführung des Interviews, nämlich in der Diskrepanz zwischen der engagierten Motivation zur Teilnahme und der terminlichen Unzuverlässigkeit und den häufigen Störungen des zweistündigen Gesprächs. Vielleicht drückt sich in der hier beschriebenen Komplexität und Dynamik des alltäglichen Lebens ein den Einzelfall übergreifendes zeittypisches Merkmal unserer kulturell geprägten Lebensführung aus, wie wir es beispielsweise heute auch in vielen Familien vorfinden, in denen die Ansprüche des Berufs, der Kindererziehung, der Freizeit und Regeneration, der Bildungsinstitutionen, der Haushaltsführung, der Gesundheit und vieles mehr miteinander vermittelt werden müssen (vgl. Yurczyk et al. 2009; Lange & Xyländer 2011), oder in der auf Mobilität, Flexibilität und unsichere Beschäftigungsverhältnisse ausgelegten Arbeitswelt, die mit privaten Ansprüchen und Verpflichtungen abzustimmen sind. Womöglich erweist sich vor diesem gesamtkulturellen Hintergrund einer Gesellschaft, die den »flexiblen Menschen« (Sennett 2006) fordert, die Migrationserfahrung von Hakan und seiner Familie in gewisser Hinsicht als Vorteil, weil sie dazu herausgefordert hat, Strategien auszubilden, mit deren Hilfe Lebensziele in teils widerständigen Umwelten und mit Anpassung an nur mäßig kalkulierbare Bedingungskonstellationen flexibel verfolgt werden. Eine weitere Frage ist nun, welche Anregungen aus dem Interview für die bildungstheoretische Diskussion gezogen werden können. Die beiden Sinnfiguren, die in der Ordnungsmatrix des öffentlichen Bildungsdiskurses konstruierten »Bildungskarriere« und die im sozialen Bezugssystem verankerten »bildenden Vergemeinschaftungspraxen«, geben hierzu eine geeignete Vorlage. Sie können als die beiden Hauptstränge einer sich dynamisch
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und mitunter spannungsreich entwickelnden Bildungskonfiguration gelesen werden, deren Potenzial sich im Modell der grundlegenden Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen als Folge biographischer Brüche kaum zureichend erläutern ließe. Wirkmächtiger scheint das Moment der kontinuierlichen aktiven und passiven Adaption an unterschiedliche Erfahrungsund Handlungsfelder zu sein, bei der Selbst- und Fremdstrukturierungen ineinander greifen und Inkonsistenzen nicht unbedingt aufgelöst, sondern auch bewusst eine Zeitlang – gerade wegen der damit ermöglichten Differenzerfahrungen – aufrecht erhalten und ausgehalten werden.11 Einer solchen »Ausspreizung« des Bildungsprozesses entsprechend müssten theoretische Modellierungen neben der Temporalität und Zielorientierung stärker auch die Relationalität und Perspektivität von Bildungsbewegungen aufnehmen, also ihre räumliche Dimension systematisch berücksichtigen. Die
11 Dies erinnert an das aus der interaktionistischen Entwicklungstheorie (Goffman 1967; Döbert / Habermas / Nunner-Winkler 1977) stammende klassische Modell von »persönlicher« und »sozialer Identität«, das allerdings von der Synthetisierung dieser Differenz zu einer »Ich-Identität« ausgeht und sich darin von der hier vorgestellten Figur unterscheidet. Es scheint weder angemessen noch notwendig, den Bildungsprozess mit dem Telos einer integrierten Ich-Identität zu versehen, wie es zwar nicht dem Begriff, aber der Sache nach schon von Wilhelm von Humboldt postuliert wird, wenn er fordert, die Vielfalt und Mannigfaltigkeit der Selbst- und Weltbezüge eines Menschen zur »höchste[n] und proportionirlichste[n] Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen« (Humboldt 1960: 64) zu vereinen. Die Hypostasierung des Subjekts zu einem souverän sein Leben regierenden Ich wird – unter bildungstheoretischem Gesichtspunkt – seit Einzug des postmodernen Denkens in die pädagogische Diskussion problematisiert (vgl. stellvertretend: Meyer-Drawe 2000) und weicht der erkenntnisleitenden Annahme einer dezentrierten Subjektivität, dem theoretischen Konstrukt eines Feldes des Subjektivität, in dem das Ich nur relational zu den Gegenständen beschreibbar ist, auf die es sich bezieht. Der dazu seit einigen Jahren in die bildungstheoretische Diskussion importierte Begriff der »Subjektivierung« bzw. »Subjektivation« (Reh / Ricken 2012; verschiedene Beiträge in Ricken / Balzer 2012) trifft die Sache allerdings auch nur dann, wenn er zugleich mit dem Aspekt der Objektivierung / Objektivation des Ich in seinem Tun und der Annahme einer prinzipiell nicht aufhebbaren Kontingenz von Subjektivität (Wittgenstein 1984: 67 f. [Satz 5.621–5.641]) gedacht wird.
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im Kontext des 12. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung (Deutscher Bundestag 2005) geführte Diskussion um die außerschulischen Bildungsorte scheint bereits in diese Richtung zu weisen, sofern sie nicht das Potenzial dieser Bildungsorte auf deren Beitrag zum Lernerfolg im Bildungssystem reduziert. Das biographische Interview mit Hakan lässt sich als Aufforderung verstehen, eher die Bildungstheorie den neu in die Aufmerksamkeit getretenen Bildungsorten anzupassen als umgekehrt den Blick auf die neuen Bildungsorte den gewohnten Theorien. Der Versuch, den Bildungssinn der unterschiedlichen Orte aus der Innenansicht der biographischen Erzählung zu rekonstruieren (Sinnfigur 2), hat vor allem die sozialen Vergemeinschaftungspraktiken herausgestellt. Offenbar sind die Aspekte der sozialen Zugehörigkeit und der Anerkennung in einem bestimmten sozialen Status, der sozialen Verpflichtung und des Prestigegewinns in der Lebenswelt von Hakan bedeutsamer als etwa Aspekte der Entfaltung der individuellen Kräfte und die Einzigartigkeit einer personalen Gestalt. Insofern wäre zu fragen, ob hier nicht vielleicht der Begriff der Sozialisation eher am Platze wäre als der der Bildung? Transportieren wir womöglich mit dem Bildungsbegriff ein normatives Modell der Lebensführung in eine Lebenswelt, in der vorrangig andere Maßstäbe als die »Entfaltung der individuellen Person« gelten? Aber würde nicht vielleicht auch der Begriff der Sozialisation die Bedeutung der Vergemeinschaftungspraxis nur verzerrt beschreiben, wenn wir ihn definitorisch dem Bildungsbegriff gegenüberstellen und somit ausgrenzen, was an semantisches Potenzial in diesem mitschwingt? – Ohne eine schnelle Antwort auf diese Fragen zu geben, scheint es mir immerhin lohnenswert, die bildende Bedeutung von »Vergemeinschaftungsprozessen« und die sozialisierende Dimension von Bildungsprozessen wieder stärker in den Blick zu nehmen und zur Überwindung von im Wissenschaftsdiskurs (und letztlich kulturell) geprägten, aber wenig brauchbaren Polarisierungen zu nutzen.
L ITERATUR Bourdieu, Pierre (1989): Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Bildung und Biographie. Zur Erschließung von Bildungsprozessen in Lebensgeschichten durch Differenzierung des narrationsstrukturellen Verfahrens H EIDE VON F ELDEN
Bildungsprozesse aus Lebensgeschichten herauszuarbeiten, setzt voraus, einige Anmerkungen zum Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung zu machen, den verwendeten Bildungsbegriff zu erläutern und das methodische Verfahren zur Analyse von Lebensgeschichten in Texten darzulegen. In diese Richtung zielten mehr oder weniger auch die drei Fragen zur Vorbereitung der Tagung, die dieser Veröffentlichung zugrunde liegt und die sich mit der Weiterentwicklung der Diskussionen im Feld der Bildungstheorie und Bildungsempirie befasste. Zu Beginn des Beitrags gehe ich im ersten Teil auf diese Fragen ein und lege damit meine Herangehensweise an die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung dar. Im zweiten Teil erläutere ich das methodische Verfahren zur Analyse des Interviews mit Hakan Salman, dessen Ergebnisse im dritten Teil präsentiert werden. Der vierte Teil schließlich beinhaltet die Zusammenfassung der Ergebnisse.
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P ERSPEKTIVEN BILDUNGSTHEORETISCH ORIENTIERTER B IOGRAPHIEFORSCHUNG In diesem ersten Teil verdeutliche ich meine Position zur bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, indem ich auf die drei aufschließenden Fragen eingehe, die zur Vorbereitung der Tagung verschickt wurden. Zum Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung Die aufschließende Frage zu diesem Thema lautet: »Wie kann es gelingen, Theorie und Empirie im Rahmen dieses Ansatzes [der bildungstheoretisch fundierten Biographieforschung] so miteinander zu verknüpfen, dass das empirische Material nicht nur zur Illustration bereits vorliegender theoretischer Konzepte dient, sondern auch zu deren Weiterentwicklung beiträgt?« Dass das Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung in der Erziehungswissenschaft bereits seit den 1960er Jahren problematisiert wird, hat nicht zuletzt Thorsten Fuchs (2011) in seiner Dissertation sehr nachvollziehbar ausgeführt. Je nach Verortung wird von einem diametralen Gegensatz (vgl. ebd.: 36 ff.) oder auch von einem komplementären Verhältnis (vgl. ebd.: 57 ff.) zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung ausgegangen. Insbesondere hat Fuchs dabei auf die »Annäherungsarenen im Kontext qualitativer Forschung« (vgl. ebd.: 77 ff., vgl. auch Fuchs 2012) hingewiesen. In diesen »Annäherungsarenen« der qualitativ und rekonstruktiv arbeitenden Ansätze wird die Verbindung von Theorie und Empirie grob in folgende Gedanken gefasst. Dem Interpretativen Paradigma gemäß ist Wirklichkeit nur durch subjektive Deutungen wahrnehmbar. Das heißt, dass diese Forschung von Konstruktionen ersten Grades ausgeht, die sie im empirischen Material í meistens in Texten í findet, die wiederum von der Forschung durch Konstruktionen zweiten Grades rekonstruiert werden (vgl. Schütz 2004). Von den Deutungen der Subjekte ausgehend kann man gesellschaftliche Zusammenhänge rekonstruieren, weil die Subjekte ihre Haltungen zu anderen Personen und zu gesellschaftlichen Einrichtungen und Normen darlegen (vgl. Alheit 1996). Grundsätzlich geht es also in dieser Forschung um Deutungen. Das heißt auch, dass sowohl theoretisch als auch empirisch Norma-
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tivität mit einbezogen und reflektiert wird (vgl. Krinninger / Müller 2012). Die Frage der Normativität wird weiter unten noch einmal aufgegriffen. Zudem ist die qualitativ-empirische Forschung eine Theorie emergierende Forschung, die überwiegend auf dem Weg der Abduktion erfolgt. Eine Verknüpfung von Theorie und Empirie ist in dieser Forschung grundsätzlich intendiert, da ohne Explikation des theoretischen Vorverständnisses eine Auslegung empirischer Materialien nicht nachvollziehbar erfolgen kann. Abduktion bedeutet nun, das theoretische Vorwissen auch infrage zu stellen. »Abduktionen erfordern eine Revision bisheriger Annahmen, Elemente bislang für sicher gehaltener Wissensbestände werden aufgegeben, modifiziert, voneinander getrennt und neu kombiniert.« (Kelle 1997: 150) Soweit die Absichtserklärungen; inwiefern empirische Auswertungen theoretische Vorverständnisse verändern können, ist nach der Auswertung des zugrunde liegenden Interviews genauer zu sehen. Zur stärkeren Berücksichtigung von Weltverhältnissen in der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung Die aufschließende Frage zu diesem Thema lautet: »Wie können im Rahmen bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung die gesellschaftlichen und diskursiven Rahmenbedingungen individueller Bildungsprozesse angemessen berücksichtigt und Bildungsprozesse als Transformationen nicht nur von Selbst-, sondern auch von Weltverhältnissen analysiert werden?« Vermutlich bezieht sich diese Frage auf die Kritik von Lothar Wigger, der in seinen beiden Beiträgen von 2007 und 2009 ein »Defizit der erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung« (2007: 171) feststellt, das darin bestehe, dass in »der Konzentration auf subjektive Erzählungen und deren biografische Interpretation […] die Gesellschaftlichkeit des individuellen Denkens, Wahrnehmens und Handelns oft nur als abstrakt-allgemeiner Verweis in den Blick [kommt]« (ebd.: 172). An diese Kritik knüpft auch Thorsten Fuchs in seiner Dissertation an (vgl. Fuchs 2011: 184 f.). Um zu verstehen, was gemeint ist, sei auf Wiggers Referenzen eingegangen. Er bezieht sich vornehmlich auf den Einwurf Pierre Bourdieus über die »biographische Illusion« (vgl. Bourdieu 1990).
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»Das Subjekt und das Objekt der Biographie (der Fragende und der Untersuchte) haben in gewisser Weise das gleiche Interesse, das Postulat der Sinnhaftigkeit der berichteten Existenz (und, implizit, der gesamten Existenz) zu akzeptieren.« (Bourdieu 1990: 10) »Diese Neigung, sich dadurch zum Ideologen seines eigenen Lebens zu machen, daß man im Dienst einer allgemeinen Intention gewisse signifikante Ereignisse auswählt und zwischen ihnen eigene Beziehungen stiftet, um ihnen Kohärenz zu geben […], findet die natürliche Komplizenschaft des Biographen, der alles, angefangen bei seinen Dispositionen des professionellen Interpreten, dazu beiträgt, diese artifizielle Kreation von Sinn zu akzeptieren.« (Ebd.: 10)
Bourdieu übt Kritik daran, dass Erzählende und Forschende im Rahmen der Biographieforschung offenbar nur der subjektiven Perspektive der Erzählenden Gehör schenken, ohne diese subjektiven Perspektiven auf ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen des Feldes, welches das Subjekt ja erst konstituiere, hin zu reflektieren. Diese Kritik Bourdieus macht Wigger sich zu eigen, rekurriert dabei auf Steffani Engler (2001) und wählt als Beispiel für die Vernachlässigung der gesellschaftlichen Ebene wiederholt die Einzelfallinterpretation Marotzkis aus dessen Habilitationsschrift (vgl. Marotzki 1990). Nach Wiggers Auffassung könne man die gesellschaftliche Dimension in Marotzkis Einzelfallauslegung zu wenig feststellen. Abgesehen von dieser speziellen Kontroverse ist die Frage, ob die Kritik Wiggers zutrifft, die Biographieforschung vernachlässige die gesellschaftliche Dimension von Subjektivität insgesamt. Angesichts vieler Ansätze in der Biographieforschung, die explizit die gesellschaftliche Bedingtheit biographischen Wahrnehmens und Handelns in ihre Auswertungen mit einbeziehen (vgl. Alheit 1996, Dausien 1996, von Felden 2003, Herzberg 2004, Bartmann 2006, Garz 2007), kann man meines Erachtens davon nicht sprechen. Auch in der Biographieforschung, die sich häufig im Rahmen der Grounded Theory verortet, ist es selbstverständlich, »sensibilisierende Theorien« an die Auswertung anzulegen (vgl. Dausien 1996, Miethe 2012). Der Vorschlag Wiggers (2007 und 2009), biographische Interviews mithilfe des Habitusbegriffes nach Bourdieu auszuwerten, bedeutet also keine Kontroverse. Die wichtigste Argumentation gegenüber Wigger aber liegt in der Grundannahme der Biographieforschung, Konstruktionen und Rekonstruk-
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tionen aus der Textgebundenheit und damit aus den Sprach- und Erzählstrukturanalysen der zugrunde liegenden Texte zu eruieren. In der Sprachgestalt sind kulturelle Diskurse, sprachliche Gewohnheiten, gesellschaftliche Normen aufzufinden. Nach Alheit beinhaltet das Konzept Biographie sowohl subjektive als auch strukturelle Dimensionen (vgl. Alheit 1996: 293). Während die Erzählenden von Lebensgeschichten in der Tat Zusammenhangsbildungen vornehmen und ihrer eigenen Geschichte eine Kohärenz verleihen, sehen es die Forschenden im Rahmen der Biographieforschung als ihre Aufgabe an, die Art der Zusammenhangsbildung zu entschlüsseln, um damit die unterschiedliche Art der Weltwahrnehmung der Erzählenden zu rekonstruieren. Das bedeutet wiederum, dass es zu den wesentlichen Aufgaben der Forschenden gehört, den Erzählenden gerade nicht einfach zu glauben, sondern anhand der Strukturen des Erzählens die Bedeutungen, die »hinter dem Rücken der Erzählenden« (vgl. Schütze 1983: 284) liegen, zutage zu fördern. Das geschieht zum einen durch erzählstrukturelle Untersuchungen innerhalb eines Interviews, aber auch durch Vergleiche zwischen verschiedenen Interviews. Als Antwort auf die aufschließende Frage kann also gesagt werden: Sowohl durch Sprach- und Erzählstrukturanalysen als auch durch »sensibilisierende Theorien«, die an die Auswertung angelegt werden, können die gesellschaftlichen und diskursiven Bedingungen berücksichtigt werden. Zur stärkeren Berücksichtigung von inhaltlichen und normativen Dimensionen von Bildung in der Bildungsforschung Die aufschließende Frage zu diesem Thema lautet: »Wie können die normativen Implikationen des Bildungsbegriffs im Rahmen solcher Forschung angemessen berücksichtigt werden? Ist es möglich, sich dabei auf einen rein deskriptiven Begriff von Bildung(sprozessen) zu beschränken oder sollte(n) Bildung(sprozesse) darüber hinaus auch als wünschenswerte Transformationen des Welt- und Selbstverhältnisses in einem näher zu bestimmenden Sinn qualifiziert werden?« Sowohl Wigger (in Dörpinghaus / Poenitsch / Wigger 2006: 134) als auch Fuchs (vgl. Fuchs 2012: 141) haben die stärkere Berücksichtigung inhaltlicher Differenzierungen und gegenstandsspezifischer Bestimmungen von Bildung angemerkt sowie eine »normative Erweiterung« der bildungs-
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theoretisch orientierten Biographieforschung gefordert, weil sie meinen, Bildungsforschung würde »vorrangig unter formalen Gesichtspunkten betrieben« (ebd.). Meiner Auffassung nach sollte sowohl bildungstheoretisch als auch bildungsempirisch Normativität einbezogen werden, weil nur damit eine Vermittlung zwischen beiden Ebenen durch qualitative Forschung wirklich erfolgen kann. Indem qualitative Forschung auch auf der empirischen Ebene durch Rekonstruktionen der Deutungen der Erzählenden hermeneutisch vorgeht, sind normative Auslegungen Bestandteil der Analyse (vgl. Krinninger / Müller 2012). »Im Unterschied zu hypothesenprüfenden Verfahren […] handelt es sich bei der sinnrekonstruktiven und der hermeneutischen Forschung um einen dialogisch emergenten Prozess, bei dem Interpretationsperspektiven und -erträge sich wechselseitig immer weiter differenzieren können.« (Ebd.: 71)
Vermutlich bezieht sich die Kritik von Wigger und Fuchs u. a. auf die Definition von Winfried Marotzki, Bildungsprozesse als »Transformation der Welt- und Selbstreferenz« einer Person anzusehen. Marotzki (1990) hat sich für eine strukturtheoretische Bestimmung von Bildung (ebd.: 42) ausgesprochen, weil angesichts der Herausforderungen der aktuellen Gesellschaftsverfasstheit Bildungsprozesse als Reflexionsfähigkeit, Umgehen mit Komplexität, Tentativität, Mehrperspektivität und differenztheoretisches Denken gefasst werden sollten. »Wird Bildung als Positivierung von Bestimmtheit, also z. B. als Positivierung faktischen Wissens, angelegt und [werden] somit Zonen der Unbestimmtheit eliminiert, wird Bildung ausgehöhlt, letztlich verunmöglicht. Bildung im Modus der Bestimmtheit ist als Ausdruck identitätstheoretischen Denkens tendenziell gefährdete Bildung. Bildung im Sinne von Unbestimmtheit ist sich erfüllende Bildung als Ausdruck differenztheoretischen Denkens.« (Marotzki 1990: 154)
Er argumentiert in seiner Habilitation sowohl erkenntnistheoretisch als auch empirisch-methodisch, dass neue Erkenntnisse an die Transformation von Kontexturen gebunden seien (vgl. ebd.: 224 ff.). Marotzki geht es um die Kompatibilität von Bildung als Prozess, der qualitative Sprünge aufweist, und den Nachweis in biographischen Kontexturen, dass diese Modalisie-
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rungen in Erzählstrukturen und nicht allein in den inhaltlichen Ausführungen der Erzählenden zu finden sind. Es ist die Frage, ob damit Bildung zu wenig inhaltlich ausgewiesen wird, zumal Marotzki seinen Bildungsbegriff auch in Anlehnung an Benners Prinzipien der Bildsamkeit und der Selbsttätigkeit des Menschen (vgl. Benner 2010: 70í92) ausweist (vgl. Marotzki 1990: 227). Meiner Auffassung nach weist die Idee, Bildungsprozesse als höherwertige Lernprozesse aufzufassen, die mit einer Transformation der Welt- und Selbsthaltung verbunden sind, bereits einen normativen Charakter auf. Anhand der Ableitung seiner Definition vom Lernebenenmodell Batesons (vgl. Bateson 1985: 362 ff.) wird deutlich, dass er nicht allein formal argumentiert. In diesem Modell stehen die Ebenen I und II im Zentrum. Während mit Lernen I die klassische Verhaltensänderung gemeint ist, die aufgrund von neuen Informationen geschieht, versetzt Lernen II die Person in die Lage, die Kontexte zu verändern und das Lernen selbst zu lernen. Hier positioniert Marotzki die Veränderung des Weltverhältnisses einer Person und bestimmt darin die erste Voraussetzung eines Bildungsprozesses. Jemand ändert seine Weltanschauung oder seine Grundorientierung. Damit einher geht in der Regel die Veränderung des Selbstbezuges, die Marotzki als zweite Bedingung für einen Bildungsprozess bestimmt. Dabei hebt er hervor, dass die Fähigkeit, Weltanschauungen zu ändern, meistens eine Verfügung über die Prämissen der Weltanschauung bedeutet und damit das Subjekt seiner selbst habhaft wird und zu Mündigkeit gelangt (vgl. Marotzki 1990: 48). Eine Veränderung des Selbstbezugs wird mit Reflexion als Voraussetzung von Mündigkeit verbunden. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass Bildung in ihrer theoretischen Bestimmung grundsätzlich als »progressum ad infinitum« gesetzt wird (vgl. Lenzen 1997), sodass es eher um den Anstoß zu einem Seiner-selbst-habhaft-Werden und einer Selbstreflexion geht, die prinzipiell nur relativ erreichbar sind. Dennoch kann in diesen Bestimmungen die Normativität des Bildungsbegriffes sowohl auf theoretischer Ebene wie auf empirischer Ebene deutlich gemacht werden. Die Transformationen der Welt- und Selbstreferenz lassen sich auf dem Feld der Interviewauswertung mit den Vorschlägen Fritz Schützes im Rahmen seines narrationsstrukturellen Verfahrens vereinbaren (vgl. Schütze 1981, 1983, 1984). Für unser Verständnis sind damit sowohl Bestimmungen der Bildungstheorie berücksichtigt als auch methodisch nachvollziehbare Vorschläge zur Untersuchung von Bildungsprozessen in biographischen Materialien vorgelegt.
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M ETHODISCHES H ERANGEHEN
AN DAS I NTERVIEW
Zum Bildungsbegriff Um den Bildungsbegriff zu definieren, sei auf meine Habilitationsschrift verwiesen, in der ich mich ausführlich mit dem Bildungsbegriff aus moderner und postmoderner Perspektive auseinander gesetzt habe (vgl. von Felden 2003: 15-64). Ausgehend davon lautet die Definition von Bildung: Bildungsprozesse sind höherwertige Lernprozesse, die durch die kritische Auseinandersetzung mit Welt durch Aneignung und Verarbeitung kultureller, gesellschaftlicher und historischer Phänomene sowie Normen und Werte gesellschaftlichen Lebens geprägt sind (vgl. von Felden 2003: 120 ff.) und ausgehend von dem Prinzip der Bildsamkeit des Menschen und dem Prinzip der Selbsttätigkeit des Menschen (vgl. Benner 2010) in einer Weiterentwicklung der Individuen bestehen, die durch Transformationen der Welt- und Selbstreferenz ausgedrückt ist. In dieser Definition umfasst Bildung sowohl die kritische Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt als auch eine Weiterentwicklung des Menschen durch Transformation der Welt- und Selbstsicht. Die Transformation der Selbstsicht ist mit Reflexion verbunden im Sinne der Fähigkeit, mehrperspektivisch zu denken und andere Perspektiven nachzuvollziehen. Zur Differenzierung des narrationsstrukturellen Verfahrens Eine Auswertung nach dem narrationsstrukturellen Verfahren im Sinne von Fritz Schütze vorzunehmen, wird im Rahmen der Biographieforschung häufig allein mit der Analyse der Prozessstrukturen verbunden. Schütze hat heuristisch vier mögliche Prozessstrukturen als Haltungen ausgewiesen, in denen Interviewte Phasen ihres Lebens darstellen: Biographisches Handlungsschema, Institutionelles Ablaufmuster, Verlaufskurven, Wandlungsprozesse. Modalisierungen der eigenen Anschauung können anhand der Veränderungen der Prozessstrukturen erschlossen werden. Über Marotzki (1990) hinausgehend bin ich der Auffassung, dass es bei Bildungsprozessen nicht allein um Wandlungsprozesse geht, sondern um die Übergänge von einer zur nächsten Prozessstruktur. Offensichtlich hat sich hier die Haltung
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des Biographieträgers verändert, weil er über die neue Lebensphase anders spricht als über die alte. Damit möchte ich auch das Argument von Thorsten Fuchs relativieren, die Formalität der Bestimmung von Bildung liege daran, dass in allen vier von ihm untersuchten Habilitationen (Marotzki, Koller, Nohl, von Felden) Bildung stets im Kontext von Wandlungsprozessen sensu Schütze betrachtet werde (vgl. Fuchs 2011: 185). Neben der expliziten Berücksichtigung der anderen »kognitiven Figuren«, der »Sachverhaltsdarstellungen« und der »Zugzwänge des Erzählens« (vgl. von Felden 2008) erscheint es mir sinnvoll, Anleihen bei Rosenthal und Lucius-Hoene / Deppermann zu nehmen. So vergleiche ich die Lebenschronologie mit der Erzählchronologie (vgl. Rosenthal 1995, FischerRosenthal / Rosenthal 1997) und untersuche einige weitere erzähltheoretische Merkmale (u. a. die Interaktion in der Interviewsituation, die Gestaltung der Erzählzeit, die Trajektionen (vgl. Lucius-Hoene / Deppermann 2004). Nach meiner Erfahrung zeigt sich ein Interviewtext umso vielschichtiger, je mehr erzählstrukturelle Perspektiven angelegt werden. Das heißt auch, dass sich Interpretationen verdichten und andere Lesarten dann ausgeschlossen werden können. Anhand von aufschließenden Fragen zur Sprachgestalt können die »kognitiven Figuren«, wie der Biographieträger und seine Beziehungen (Interaktionsgefüge) sowie Situationen, Lebensmilieus und soziale Welten analysiert werden. Prozessstrukturen sind anhand der Haltungen zu ermitteln, in denen die Erzählenden Phasen ihres Lebens darstellen. Die unterschiedlichen Perspektiven werden zusammengeführt und ergeben ein Bild über das jeweilige Interview. Um Lern- und Bildungsprozesse zu erschließen, geben die anderen Perspektiven häufig wichtige Anregungen. Die Art des Lernens bzw. der Bildung hängt stark davon ab, wie sich die Interviewten selbst darstellen, in welchem Milieu sie aufgewachsen sind, wie ihre Beziehungen zu anderen Menschen geschildert werden, wie sie ihre Lebensphasen darstellen und in welcher Zeitgestaltung das Erzählte vorgebracht wird. Die meisten der erzählstrukturellen Figuren werden nicht bewusst gewählt, dennoch kann über sie ein hoher Gehalt an Sinnzusammenhang erschlossen werden. Die Grundidee ist also, die Zusammenhangsbildung einer Lebensgeschichte zu entschlüsseln, indem Erzählstrukturen unter verschiedenen Perspektiven analysiert werden. Die inhaltlichen Auffassungen der Interviewten bilden dabei eine Perspektive unter anderen, sie werden stets mit den Erzählstruk-
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turen verglichen, um ihre Aussagekraft zu beurteilen, und werden nicht allein für »bare Münze« genommen (vgl. die Kritik Bourdieus).
Z UR A USWERTUNG H AKAN S ALMAN
DES I NTERVIEWS MIT
Im Folgenden stellen wir wichtige Aspekte unserer Auswertung des Interviews mit Hakan Salman dar (Transkript des Interviews in diesem Band), indem wir erzählstrukturell insbesondere auf die Prozessstrukturen, die Gestaltung der Erzählzeit und den Sprachgebrauch eingehen und zeigen, welche Schlüsse wir in Hinsicht auf mögliche Bildungsprozesse ziehen.1 Umgehen mit Differenzerfahrungen Sowohl Roland Reichenbach als auch Hans-Christoph Koller verstehen Bildung vor dem Hintergrund postmoderner Analysen als Auseinandersetzung mit Pluralität und Differenz. Reichenbach legt die Perspektive darauf, wie die These zunehmender Pluralität einzelne Subjekte wirklich betreffe. Er versteht Bildung als »Ethos der Differenz« (vgl. Reichenbach 1997: 121í141), d. h. er fasst Bildung als Fähigkeit zum Umgehen mit Differenzen und sieht als Ziel, die Einzelnen in die Lage zu versetzen, Differenzerfahrungen verarbeiten zu können. Koller definiert Bildung im Anschluss an Humboldt als Erweiterung oder Transformation der je eigenen Weltsicht in dialogischer Auseinandersetzung mit fremden Sprachen und Sprechweisen. Er hält die Annahme für naheliegend, dass Migrantinnen und Migranten in besonderer Weise mit der Herausforderung zu solchen Bildungsprozessen konfrontiert sind (vgl. Koller 2009: 46). Insofern biete es sich an, Interviews mit Menschen mit Migrationserfahrungen unter dem Aspekt von Pluralität und Differenzverarbeitung zu betrachten. In Hinsicht auf die Prozessstrukturen, also auf die Haltungen des Biographieträgers gegenüber den verschiedenen Lebensphasen, die an der Sprechweise und insbesondere an der Wahl der Verben festgemacht werden
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An dieser Stelle danke ich meinen Mitarbeitenden Shevek Selbert und Dorothee Stahl herzlich, die wichtige Anregungen zur Interpretation des Interviews beigetragen haben.
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kann, ist eine auffällige Veränderung Hakan Salmans ab seinem 13./14. Lebensjahr (ab Z. 133 ff.) zu bemerken. Hatte er über die vorherige Zeit (vom 5. bis zum 13. Lebensjahr) überwiegend in der Haltung des institutionellen Ablaufmusters gesprochen (Kindergarten, Einschulung, Eltern, Freunde, Schulzeit), so lässt sich jetzt anhand der Auswahl der Verben von einer Haltung des biographischen Handlungsschemas sprechen. Er benutzt viele Verben, die ihn handlungsaktiv und zielsicher darstellen: »[…] ich wollte natürlich unbedingt mein Abi machen.« (Z. 170) »Ich bin selber zu einem (.) ä Nachhilfelehrer und hab den (.) 15 Mark damals bezahlt.« (Z. 182í183) »Bevor ich mit der Elften anfangen wollte, hatte ich vor nach Amerika zu fliegen.« (Z. 214í215) »Seit meinem sechzehnten Lebensjahr jobbe ich [aha] (.) nebenbei.« (Z. 808í809) Dass ihm weder der USAAustausch noch das Abitur – wie er meint – bewilligt wurden, ändert an seiner Haltung des biographischen Handlungsschemas nichts. Er nimmt das Erste hin und ist bei den Erlebnissen der Abiturprüfungen zutiefst gekränkt. Die Haupterzählung endet mit den Worten: »[…] also ich weiß, ich habe mein Ziel vor Augen [mh] (2) ob, (2) wann ich nun dahin komme, das (.) steht noch nicht fest, aber (.) dass ich dahin komme, das weiß ich.« (Z. 415í417) Das sind typische Formulierungen für ein biographisches Handlungsschema, einer Haltung, in der man sich für das Leben ein Ziel setzt, es verfolgt und zuversichtlich ist, es zu erreichen. Hakan Salman spricht im Interview aus, was in seinem 13./14. Lebensjahr geschieht. Auf Vorschlag seiner Lehrerin nimmt er neben dem deutschen Oberschichtschüler Robert Lange Platz. Dieser neue Sitznachbar unterstützt ihn, arbeitet mit ihm gemeinsam für Klausuren und Referate, sodass Hakan Salman ab jetzt als Arbeitsgruppenpartner immer beliebter wird. Mithilfe der deutschen Mitschüler habe er sich »hoch gerappelt, hochgezogen« (Z. 158) und durch die neue Sitzordnung – so stellt er es dar – habe sich seine Haltung zur Schule komplett verändert. »Allein (.) durch das Umsetzen (.) hat sich meine Aufmerksamkeit im Unterricht (.) meine (.) mein Denken, meine (3) meine komplette Einstellung gegenüber Schule (2) verändert [mh] Grund auf (.) ich hab gesehen, dass (.) der nebensitzende Mensch es beherrscht [mh] und habe mich immer gefragt, warum kannst Du es nicht auch? [mh] (4) Es war ein Ansporn [mh] (.) genau so gut zu werden (2) trotz meiner Defizite [mh] und das habe ich auch geschafft“« (Z. 147-152).)
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Mit dieser Veränderung lernt er eine neue Lebenswelt kennen, die Lebenswelt der deutschen Norm- und Leistungsorientierung, die in den weiterführenden Schulen an der Tagesordnung ist. Eine Veränderung der Prozessstruktur deutet eigentlich auf eine Transformation und damit auf einen Bildungsprozess hin. Die Frage in diesem Fall ist aber, worin diese Veränderung konkret besteht. Unserer Auffassung nach handelt es sich nicht wirklich um eine Transformation der Welthaltung, sondern um die Addition einer zweiten Welthaltung (der deutschen Lebensweise), die er seiner türkischen Lebensweise an die Seite stellt. Die handlungsorientierte, zielverfolgende Sprechweise vermittelt den Eindruck, dass er sich von Abhängigkeiten gelöst hat und sein Leben selbst in die Hand nimmt. Im weiteren Verlauf der Interpretation aber wird zweierlei deutlich, zum einen, dass er selbst Probleme hat, sich zu den beiden Lebenswelten zu positionieren, zum anderen, dass seine Beurteilungen insbesondere von Situationen des Scheiterns (Abiturprüfung) durchaus nicht realitätsadäquat sind. Man kann von ersten Schritten eines Bildungsprozesses sprechen, nämlich der Auseinandersetzung mit einer neuen Lebenswelt, aber nicht davon, dass er sich diese Veränderung tatsächlich angeeignet hat. In seiner Haupterzählung bemüht sich Hakan Salman von nun an sehr, seine Sozialisation in das deutsche kulturelle Norm- und Wertesystem positiv darzustellen. An mehreren Textstellen drückt er seine Dankbarkeit den deutschen Mitschülern gegenüber aus, die seine Veränderung, »also in die gute Richtung, würde ich mal sagen« (Z. 161), unterstützt haben (vgl. Z. 158í163, vgl. auch Z. 495í496). Durch den häufigeren Kontakt zu den deutschen Mitschülern fühlte er sich geradezu »eingedeutscht« (Z. 484). Zudem spricht er davon, von seinen türkischen Mitschülern teilweise sogar ausgegrenzt worden zu sein, und er verteidigt sich damit, dass er etwas für seine Zukunft tun müsse, um erfolgreich zu sein (vgl. Z. 496í504). Bei der Darstellung seiner Freundschaftsbeziehungen im Nachfrageteil allerdings kommt er ins Schleudern, indem er auch die Beziehungen zu türkischen Freunden nicht verleugnen will (vgl. Z. 515í533). Seine Antwort auf die Bitte des Interviewers, von seinen Freunden zu erzählen, beginnt er mit folgenden Worten: »Ja, natürlich (.) ich habe (4) also ich grenze (3) Freunde aus [mh] (3) Freunde (.) ich habe Freunde in verschiedenen Kategorien [mh] es klingt ä ’n bisschen komisch.« (Z. 424í426)
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Hakan Salman muss zunächst nachdenken, wie er seine Freundschaftsbeziehungen darstellen möchte, und kommt dann dazu, sie aus einer beschreibenden Perspektive in Kategorien zu teilen. Dabei hat er schon eine Ahnung davon, dass diese Unterteilung »komisch« klinge, also außergewöhnlich sei. Unserer Auffassung nach wird an seinen Freundschaftsbeziehungen sein Dilemma mit den Differenzerfahrungen unterschiedlicher Lebenswelten deutlich. Er formuliert, dass er Freunde ausgrenze, und später benutzt er häufig das Wort »selektieren« für eine Darstellung der verschiedenen Freundschaftsgruppen. Andererseits liegt ihm daran, »möglichst alle Freunde unter einen (.) Hut zu bringen [mh] also aus allem ein Alltag machen« (Z. 450í451), »also daran möchte ich (.) an mir persönlich arbeiten« (Z. 444). Wiederum später lautet die Formulierung: »Äm mittlerweile versuche ich beides unter einem Hut zu kriegen, also (4) ich kann beide Seiten nicht vermischen, das geht nicht [mh] (1) Das passt auch nicht zusammen [mh]. Ich bin halb (.) halb deutsch [aha], aber wenn ich mit den alltäglichen Freunden bin, bin ich der Türke. […] ja, die beiden Seiten muss ich strikt trennen, [mh] das, denke ich, mache ich auch sehr gut [mh].« (Z. 523í533)
Offensichtlich hat er Schwierigkeiten damit, die Freundschaftsgruppen zusammen zu bringen, was er eigentlich möchte, allerdings mit den Begriffen »ausgrenzen« und »selektieren« gerade nicht ausdrückt. Vor allem im Nachfrageteil wird seine Darstellung zunehmend uneindeutiger. Er betont, dass er teilweise in der deutschen, teilweise in der türkischen Welt zu Hause sei. In seinen näheren Beschreibungen der Freizeitgestaltung mit seinen türkischen und seinen deutschen Freunden fällt auf, dass er einerseits mit den Unterschieden beginnt: »[…] auf jeden Fall nicht dieselben Sachen« (Z. 536), andererseits im Laufe des Sprechens darauf kommt, es sei »nicht großartig anders« (Z. 585). Einerseits betont er, »ich fühle mich auf beiden Seiten sehr wohl« (Z. 545í546), andererseits aber macht er Unterschiede zwischen den »alltäglichen Freunden« und der Schule (Z. 548í550). Je mehr er ausführt, desto unklarer wird ihm selbst die jeweilige Verortung. Für die deutsche Seite malt er das Bild des Familiären: »Da umarmt man sich, da küsst man sich [mh] also hier auch, selbstverständlich, aber es ist hier nochmal hier ein anderes Gefühl. Ich find’s hier familiärer (.). I: Mh,
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also hier meinst Du mit den deutschen H: Genau [aha] genau, also auf jeden Fall. (2) Es ist aufgrund (4) des gemeinsamen Lebensganges [mh] was wir durchgestanden haben [mh], ich glaube, das hat uns so zusammengeführt, so zusammengeschweißt (.) deshalb ist es so.« (Z. 594í600)
Vor lauter »hier« muss auch der Interviewer nachfragen, für welche Seite die Charakterisierung tatsächlich gilt. Hakan Salman bevorzugt eigentlich die deutsche Lebenswelt, möchte aber die türkische nicht in den Hintergrund schieben. In beiden Lebenswelten benutzt er »hier«, quasi als würde er in der Perspektive hin- und herspringen. Wie oben bereits ausgeführt, beschreibt er seine Freundschaftsbeziehungen eher, stellt sie aber nicht erzählend lebendig dar. Gleichzeitig formuliert er: »Freunde, Freunde, das ist das Größte, was es auf dieser Welt gibt.« (Z. 306í307) Diese Formulierung erinnert an den Heinz RühmannSchlager aus dem Jahr 1930: »Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste, was es gibt auf der Welt.«2 Was bedeutet es, wenn Hakan Salman gesellschaftlich vorfindliche Verse für seine Empfindungen benutzt? Zusammen mit dem Umstand, dass die Freunde im Interview kaum in einer lebendigen dialogischen Beziehung erscheinen í im Gegensatz zur Darstellung der Beziehung zum Vater und zur Mutter, die wesentlich erzählintensiver ausfällt –, wirkt die Formulierung damit weit weniger authentisch, als sie vermutlich beabsichtigt ist. Insofern fällt an der Sprache Hakan Salmans mehrfach auf, dass er Worte oder Formulierungen benutzt, die entweder gesellschaftlich vorfindlich oder eigentlich unpassend sind (wie z. B. »selektieren«). Auch in Hinsicht auf seine aktive und selbstbestimmte Darstellung der Phase seit seinem 13./14. Lebensjahr kann man Zweifel anmelden, ob diese Darstellung nicht eher »aufgesetzt« oder realitätsverkennend ist (vgl. dazu auch die Ausführungen im nächsten Abschnitt). Vermutlich ist Hakan Salman sich vieler Dinge nicht sicher, möchte aber selbstsicher auftreten. Wie geht Hakan Salman nun mit Differenzerfahrungen um? Handelt es sich doch um einen Übergang in die deutsche Kultur, sodass in diesem Übergang eine Transformation bzw. ein Bildungsprozess gesehen werden kann? An der Beschreibung der Freundschaftsbeziehungen hat sich seine
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Aus dem Film »Die Drei von der Tankstelle«, Deutschland 1930, Regie: Wilhelm Thiele.
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Schwierigkeit gezeigt, sich zu seinen Differenzerfahrungen zu positionieren. Hier ist die Frage, ob er – mit Reichenbach gesprochen í über die Fähigkeit zum Umgehen mit Differenzen verfügt. Dass Hakan Salman das Ziel, Differenzerfahrungen verarbeiten zu können, erreicht hat, erscheint uns eher fraglich. Wir haben unsere Zweifel, weil der Gehalt des Interviews etwas anderes ausdrückt als einige Formulierungen. Nach unserer Auffassung reflektiert er nicht über das Verhältnis der beiden Welten zueinander, sondern bleibt auf einer vor-bewussten Ebene, sodass er nicht weiß, ob er beide in ihrer Widersprüchlichkeit akzeptieren oder ob er sich für eine entscheiden will oder ob ein dritter Weg der richtige für ihn ist. Er ist sich seiner selbst nicht sicher und kann derzeit noch nicht zu einer Entscheidung gelangen. Das lässt durchaus darauf schließen, dass er sich in einem Prozess befindet, der (noch) nicht abgeschlossen ist. Ähnlich wie Hans Christoph Koller vorschlägt: Es geht um ein »Anderswerden mit offenem Ausgang« (Koller 2012: 31). Ungeklärte Ohnmachtserlebnisse Im Interview fallen einige Schilderungen besonders auf, weil sie sehr ausführlich und isochron erzählt sind. Unter dem Aspekt der Untersuchung der Erzählzeit, in der die Unterschiede von gegenwärtiger Erzählzeit und vergangener erzählter Zeit analysiert werden, stößt man u. a. auf isochron erzählte Geschichten. Das heißt, der Erzähler taucht in die damaligen Geschehnisse ein und gibt sie teilweise durch wörtliche Rede wieder. Nach unserer Auffassung weist eine isochrone, ausführliche Erzählung darauf hin, dass diese Erlebnisse die Person emotional so stark berühren, dass sie sich in die damalige erlebte Zeit zurückversetzt und bis heute wenig Distanz zu diesen Erlebnissen aufgebaut hat. Grundsätzlich beziehen sich die genannten Erzählungen in diesem Interview zu einem großen Teil auf Demütigungen oder Ohnmachtserfahrungen, die entweder im Bereich Schule liegen (vier Beispiele) oder mit dem Thema »Vater« zusammen hängen (fünf Beispiele). Zu den ausführlichen Erzählungen im schulischen Bereich gehören: a) Seine Schwester schreibt seine Hausaufgaben, und die Lehrerin merkt es (Z. 64í84). b) Hakan gehört zu den »Buh-Schülern« beim Erdkundelehrer (Z. 238í262). c) Die Abiturprüfung (Z. 267í299) und d) der Abiturball (Z. 348í367). Die fünf Beispiele zum Thema Vater sind: a) Die letzte Begegnung mit seinem
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Vater, der mit einem Messer bewaffnet die Mutter bedroht, die aber die Polizei rufen kann (Z. 100í110). b) Streit der Eltern während der Kindergartenzeit, dabei hat der Vater die Mutter halb totgeschlagen (Z. 622í652). c) Das Sorgerecht wurde an die Mutter vergeben, weil die Kinder sich für sie entschieden hatten (Z. 652í671). d) Der Vater wollte Geld von der Mutter, bevor er sich in die Türkei absetzte, Hakan war 10 Jahre alt (Z. 672í695). e) Der Vater kam zum letzten Mal wieder, als Hakan 14/15 Jahre alt war, wurde gewalttätig und in Handschellen abgeführt (Z. 695í734). Für die Untersuchung eines möglichen Bildungsprozesses seien exemplarisch zwei Erzählungen aus dem Interview heraus gegriffen: a) Die Abiturprüfung: Trotz intensiven Lernens auch mit den Mitschülern hat er beide Leistungskurs-Klausuren nicht bestanden, sodass er sich einer mündlichen Nachprüfung stellen muss. Wiederum lernt er eine ganze Woche lang, aber scheitert letztlich. Obwohl er nach der Prüfung aufgrund der Reaktion seines geschätzten Biologielehrers zunächst ein gutes Gefühl hat, bekommt er statt der erforderlichen sieben Punkte nur sechs Punkte. Nun kann man wegen der knappen Entscheidung in der Tat seine Enttäuschung verstehen. Aber uns interessiert die Darstellungsweise Hakan Salmans, die durchgängig ein bei Emotionen verbleibendes Abwehrverhalten zeigt und nicht zu einer rationalen Selbstreflexion gelangt. Er bleibt dabei, alle Fragen beantwortet und alle Aufgaben gelöst zu haben. Er sei sogar unterbrochen worden und habe seine Sätze nicht zu Ende sprechen können. Zweimal schildert er im Interview, dass sein größter Fehler der Verzicht auf eine neutrale Person in der Prüfungssituation gewesen sei, die hätte bestätigen können, dass er alle Fragen beantwortet habe. Später beurteilt er die Situation wie folgt: »Ich vergleiche es, ich möchte, ich möchte nicht rassistisch klingen (?) [mm] das ist nicht meine Art [mm] also ein gewisses Niveau muss man noch beibehalten, aber ich vergleiche es mal (.) mit einem KZ-Lager [mm] (3) Du sitzt da und wirst beurteilt.« (Z. 312í315)
Durchgehend monoperspektivisch weist er alle Verantwortung für das Prüfungsergebnis von sich und sieht die Schuld allein bei den Lehrern. Die Welt sei für ihn zusammengebrochen, weil er jedes Vertrauen in andere Menschen verloren habe und bezeichnet diese Erfahrung – allerdings auf
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eine Nachfrage dazu í als reine Diskriminierungserfahrung (vgl. Z. 833í839). Seiner Auffassung nach habe er alles richtig gemacht, aber die prüfenden Lehrer hätten ihn diskriminieren wollen. Er fühlt sich allein als Opfer, das ohnmächtig seine Ver- bzw. Beurteilung anhören muss. Der völlig unpassende Vergleich von Prüfungssituation und KZ-Lager zeigt, wie sehr er übertreiben muss, um seine Verletztheit auszudrücken, und wie hilflos er darum bemüht ist, seine innere Gefühlswelt zu vermitteln. b) Die letzte Begegnung mit dem Vater: Völlig unerwartet steht der Vater vor der Tür, als Hakan 14 oder 15 Jahre alt war. Er hatte ihn zuletzt mit 10 Jahren gesehen, der Vater lebte in der Türkei. »Scheiße! (.) Mama, Mama, Papa steht vor der Tür. Und sie natürlich, nein, dasselbe Spiel von vorne [mm] (2) geh nach unten, aber lass ihn nicht hoch.« (Z. 705í706)
Hakan folgt der Bitte, aber nach einigen Ohrfeigen vom Vater gelingt es ihm nicht, ihn von der Wohnung fernzuhalten. Der Vater geht mit einem Messer auf die Mutter los, will sie töten, Hakan versucht dazwischen zu gehen, aber vergeblich. Er fühlt sich völlig ohnmächtig. Die Mutter kann sich in einem Zimmer einschließen und die Polizei rufen. »Und da fragt er mich, ich erinner’ mich noch an genau die Worte. Wer hat diese Menschen gerufen, mein Sohn? [mh] (.) Ich natürlich, weiß ich nicht. (.) Man kann sich das nicht vorstellen, wie (.) man in dieser Situation sich fühlt [mm] das ist nicht zu beschreiben, weiß ich nicht, hab ich gesagt. Wurde er in Handschellen abgeführt, ich schaute noch durchs Fenster (.) er hat sich aber nicht mehr umgedreht.« (Z. 727í732)
In seiner Schilderung schwingen die Ohnmacht des Sohnes gegenüber dem gewalttätigen Vater, die Unfähigkeit des Sohnes, die Mutter zu beschützen, und die Scham, den Vater zu belügen und zu verraten, gleichzeitig mit. Hakan Salman drückt das Verhältnis zum Vater an drei Stellen im Interview mit der Metapher vom Katz-und-Maus-Spiel aus (Z. 43, 413, 706), wobei dabei gleichzeitig von Lernanforderungen die Rede ist. »Äm nach der Trennung (.) bin ich halt im Frauenhaus eingeschult worden (.) und […] das Lernen allgemein dort [mmm] konnte man nicht […] die Probleme die (.) in
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einem schwirren und (.) Angst vorm Vater, der [mh] kommt jetzt und sucht er uns und (.) Katz und Maus Spiel [mh], da ist die Schulbildung in der Anfangsphase meines Lebens (2) echt auf der Strecke geblieben.« (Z. 39í45) »[…] ich muss mir ’ne Sache fünfmal durchlesen, bis ich sie verstehe. [mh] (2) [mh] Ich habe Kommilitonen, die (.) lesen sich das einmal durch [mm] (2) und speichern es ab [mh] (.) Es ist wieder dasselbe Katz und Maus Spiel [mh] (2) Aber da ich mich schon dran gewöhnt habe, (4) Niederlagen einzustecken, auch Gutes zu erleben (4) macht es mir keine Sorgen.« (Z. 410í415)
Hakan Salman fühlt sich offenbar immer als Maus, sei es, dass der unberechenbare Vater als Katze hinter ihm her ist oder dass er die Lernanforderungen erfüllen muss, die ihn verfolgen. Die Erfahrung der Ohnmacht gegenüber dem Vater, die alle Vater-Geschichten durchzieht, überträgt er offensichtlich auf den Lerndruck, der ihn fast ebenso verfolgt und den er nur schwer bewältigen kann. Negative Lernerfahrungen, wie das Abitur nicht zu erreichen, können dann nur abgewehrt werden. Gleichzeitig durchzieht die Haltung, sich als Opfer zu stilisieren und anderen die Schuld für etwas zu geben, das gesamte Interview. Dazu gebraucht er u. a. Argumente, die der gesellschaftliche Diskurs über Migration ihm liefert. So formuliert er durchgängig, dass ihm die Förderung, vor allem zu Beginn der Schule gefehlt hätte (Z. 64 und 92í94). Unserer Auffassung nach benutzt er das Argument als gängig vorfindbares Argument im Rahmen des Diskurses um Migration, ohne in seine Darstellung mit einzubeziehen, dass seiner Schwester diese Förderung offenbar nicht gefehlt hat, denn sie hat das Abitur und ein Studium absolviert und war zudem eine Person, die ihm teilweise auch geholfen hat. Auch in Hinsicht auf Anerkennungszuwendungen bzw. Diskriminierungserfahrungen verbleibt seine Perspektive bei anderen Personen. So zählt er sehr direkt auf, welche Lehrer und Lehrerinnen in ihm Potenzial sahen oder von einem weiteren Schulbesuch abrieten, und welche ihn als so genannten Buh-Schüler ansahen. Sein Blick ist in jedem Fall auf die anderen gerichtet, seinen Anteil an der Interaktion nimmt er in diesen Zusammenhängen nicht wahr. Unserer Auffassung nach gelangt Hakan Salman nicht zu einer eigenständigen Positionierung gegenüber den Leistungsnormen des deutschen Schulwesens, auch wenn er darstellt, dass er diese Normen übernommen
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habe. Seine Angst vor der Verfolgung des Vaters und den Leistungsanforderungen ist emotional noch nicht so weit bearbeitet, dass er zu einer realitätsadäquaten Einschätzung kommen kann. Auch dieser Umstand deutet darauf hin, dass bislang lediglich erste Schritte eines Bildungsprozesses erkennbar sind, dass aber eine eigenständige Haltung zur eigenen Entwicklung bisher nicht erfolgt ist. Aufstiegsorientierte Bildungsaspirationen Hakan Salman kommt aus einem Arbeitermilieu mit Migrationshintergrund. Sein Vater war Hafenarbeiter, Analphabet und kam bereits 1960 nach Deutschland. Seine Mutter ist seit 1981 in Deutschland, sie ist gelernte Schneiderin, arbeitete aber als Reinigungskraft im Krankenhaus und ist jetzt Rentnerin. Sie spricht kein Deutsch. Aufstiegsambitionen aber können durchaus an ihr festgemacht werden. So hält sie Hakan ab seinem 9. Lebensjahr dazu an, die Hausaufgaben zu machen. Die deutsche Sprache lernt er eher nebenbei im Kindergarten, im Elternhaus spricht er mit seinen Eltern türkisch und mit seiner Schwester deutsch. So hat er außer durch seine Schwester, die ein indirektes Vorbild für ihn war, keine Förderung durch sein Elternhaus, was deutsche Schulleistungen und Mittelschichtsnormen betrifft. Ab seinem 13./14 Lebensjahr zeigt Hakan Salman durch einen Sitzplatzwechsel im Klassenraum und die Unterstützung seines Sitznachbarn stärkere Tendenzen, sich an den Mittelschichtsnormen der deutschen Mitschüler zu orientieren. Zunehmend berichtet er von einem Ansporn und einem Ehrgeiz, eine Leistung ebenso zu erbringen wie die Mitschüler neben ihm. Er zeigt zunehmend Bildungsaspirationen, die darin begründet sind, die Mutter, die Schwester, aber auch die deutschen Freunde nicht zu enttäuschen und über schulische Leistungen Anerkennung zu gewinnen. Wie oben bereits ausgeführt, ist er anfällig für Demütigungen, wenn er eine Aufgabe nicht erfüllt oder ein Ziel nicht erreicht. In dieser sozialen Abhängigkeit der Anerkennung durch Leistung werden Bildungsmotivation und Anstrengungsbemühungen freigesetzt. So ist er mit den Mittelschichtsnormen des deutschen Schulsystems konfrontiert worden, hat sie zum Teil aufgenommen, entsprechend sein Verhalten angepasst und so lange mitgespielt, wie es seine Leistungen zuließen. Auf diesem Weg hat er den Aufstieg bis zum Fachabitur und der Zulassung zum Fachhochschulstudium
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geschafft, was prozentual für nicht sehr viele junge Erwachsene mit türkischem Migrationshintergrund zutrifft. So erreichen die Fachhochschulreife bzw. das Abitur nur 11,1% der Männer und 8,5% der Frauen mit türkischem Migrationshintergrund (vgl. Mikrozensus 2006: Höchster allgemeiner Schulabschluss nach derzeitiger oder früherer Staatsangehörigkeit und Geschlecht).
S CHLUSS Zum Schluss möchten wir kurz noch einmal auf die aufschließenden Fragen eingehen und zusammenfassen, wie unsere Auswertung damit zusammen hängt. Im Hinblick auf die Möglichkeit der Weiterentwicklung der theoretischen Konzepte (Frage 1) macht das Interview mit Hakan Salman nach unserer Auffassung deutlich, dass er eine Variante des Umgangs mit Migrationserfahrungen zeigt, nämlich das Kennenlernen einer zweiten Welt neben der ersten, ohne dass er sich diese Veränderung aneignet. Damit werden in unserer Sicht lediglich erste Schritte eines Bildungsprozesses ausgedrückt. Insofern kann die Analyse dieses Interviews Hinweise auf die Gangstruktur von Bildungsprozessen liefern im Sinne der Konfrontation und Irritation mit einer neuen Lebenswelt, die vom Biographieträger bislang aber nicht durchschaut und verarbeitet ist. In Hinsicht auf die zweite Frage haben wir uns bemüht, die gesellschaftlichen und diskursiven Rahmenbedingungen individueller Bildungsprozesse sowohl durch erzählstrukturelle Analysen als auch durch die Perspektive des Bildungsaufstiegs aus seinem Milieu und der gesellschaftlichen Bedeutung des erreichten Bildungsabschluss von Hakan angemessen zu berücksichtigen. Schließlich möchten wir bezogen auf die Frage der Berücksichtigung von inhaltlichen und normativen Dimensionen von Bildung ausführen: Nach unserer Auffassung transportiert der Gedanke, Bildungsprozesse als Transformation der Welt- und Selbstreferenz zu fassen, eine bestimmte Höherwertigkeit und damit normative Implikationen, indem die Reflexionsfähigkeit als notwendiges Element eines Bildungsprozesses angesehen wird. Wenn Bildung kritische Kompetenz im Umgang mit Kulturgütern und Selbstreflexion als Befähigung zu Mehrperspektivität ausdrückt, sind
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damit auf der individuellen Ebene Kategorien einbezogen, die Bildungsprozesse im empirischen Material beurteilbar machen.
L ITERATUR Alheit, Peter (1996): »Biographizität« als Lernpotential: Konzeptionelle Überlegungen zum biographischen Ansatz in der Erwachsenenbildung. In: Krüger, Heinz-Hermann / Marotzki, Winfried (Hg.): Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. 2. Aufl. Opladen, S. 276í307. Bartmann, Sylke (2006): Flüchten oder Bleiben? Rekonstruktion biographischer Verläufe und Ressourcen von Emigranten im Nationalsozialismus. Wiesbaden. Bateson, Gregory (1985): Ökologie des Geistes. Frankfurt a. M. Benner, Dietrich (2010): Allgemeine Pädagogik. Eine systematischproblemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. 6. überarbeitete Auflage. Weinheim und München. Bourdieu, Pierre (1990). Die biographische Illusion. In: bios. Zeitschrift für Biographieforschung, oral history und Lebensverlaufsanalysen. Leverkusen, I/1990, S. 75í81. Dausien, Bettina (1996): Biographie und Geschlecht. Zur biographischen Konstruktion sozialer Wirklichkeit in Frauenlebensgeschichten. Bremen. Dörpinghaus, Andreas / Poenitsch, Andreas / Wigger, Lothar (2006): Einführung in die Theorie der Bildung. Darmstadt. Engler, Steffani (2001): »In Einsamkeit und Freiheit«? Zur Konstruktion der wissenschaftlichen Persönlichkeit auf dem Weg zur Professur. Konstanz. Felden, Heide von (2003). Bildung und Geschlecht zwischen Moderne und Postmoderne. Zur Verknüpfung von Bildungs-, Biographie- und Genderforschung. Opladen. Dies. (2008): Lerntheorie und Biographieforschung: Zur Verbindung von theoretischen Ansätzen des Lernens und Methoden empirischer Rekonstruktion von Lernprozessen über die Lebenszeit. In: Dies. (Hg.) (2008): Perspektiven erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung. Wiesbaden, S. 109í128.
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»Das war das Bedeutendste daran, dass ich mich so verändert habe.« Mit Ehrgeiz und Ansporn über Umwege zum Ziel – der ›Bildungsweg‹ Hakans Oder: Ist jede Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen sogleich bildungsbedeutsam? T HORSTEN F UCHS
E INLEITUNG Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Frage, inwiefern normative Implikationen des Bildungsbegriffs im Forschungsprogramm der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung deutlicher zu berücksichtigen sind. Diese Frage kann als wesentlich für eine sich bildungstheoretisch elaboriert und empirisch differenziert verstehende Biographieforschung gelten. Im Konzert selbstkritischer Betrachtungen wird ihr bislang jedoch eine vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit zuteil. Während nämlich die Frage nach der begrifflich-theoretischen wie auch empirischen Erfassbarkeit von Welt- und Selbstverhältnissen, die nach den Anlässen für ›bildungswirksame‹ Transformationen von Welt- und Selbstverhältnissen und die nach dem konkreten Vollzug, den Prozessstrukturen und Verläufen solcher Transformationen im Panorama der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung intensiv bearbeitet und gerade auch in metatheoretisch angelegten Ausführungen prominent verankert werden, ist die Rele-
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vanz der Frage nach dem Stellenwert normativer Implikationen des Bildungsbegriffs in den entsprechenden Diskussionszusammenhängen auf auffällige Weise randständig.1 Kaum wird die Frage zum Thema einer eigens auf das Problem der Normativität im Bildungsdenken gerichteten Analyse gemacht.2 Und nur in einigen kritisch motivierten Auseinandersetzungen wird entschieden Ausschau danach gehalten, welchen normativen Kriterien eine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung genügen muss, um ihren Anspruch auf ein genuin bildungstheoretisches Profil zu untermauern (vgl. z. B. Wigger 2004; Stojanov 2006a; Fuchs 2010, 2011a). Vor diesem Hintergrund erweist es sich wohl als aussichtsreich, die Frage nach den normativen Kriterien von Bildungsprozessen explizit aufzunehmen, um so Klärungen zum Standort der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung vorzulegen und an der Entfaltung von möglichen Perspektiven zu arbeiten. Dazu wird mit Ausführungen zum Programm der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung und zum Konzept von ›Bildung‹ als Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses begonnen, um über die Diskussion zu dessen normativem Status einige bildungstheoretische Konturen zu entwickeln, die im Kontext von Überlegungen zur Selbstbestimmung als einerseits zwar nicht unproblematisches, andererseits aber auch nicht umstandslos zu umgehendes Moment von ›Bildung‹ auf eine kritische Reflektiertheit zu sprechen kommen. Diese kritische Reflektiertheit, Fundament zahlreicher bildungsphilosophischer Konzeptionen, wird in der an-
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So verweist Hans-Christoph Koller in gleich vier Beiträgen auf die Bedeutung der Frage nach den normativen Kriterien von ›Bildung‹ und hebt sie in Ergänzung zu den ersten drei bzw. vier Fragen jeweils in einer Fußnote hervor, während die anderen Fragen ausführlich zum Thema gemacht werden. Siehe Koller 2009: 186, Fn 2; 2011: 110, Fn 2; 2012a: 18, Fn 7; 2012b: 21, Fn 2. In allen Fällen kann die Bedeutung der normativen Kriterien von ›Bildung‹ für die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung »nicht genauer« (Koller 2009: 186) bzw. »nicht ausführlich erörtert werden« (Koller 2012a: 18). Sie wird zuweilen allerdings mit Jean-François Lyotards Philosophie des Widerstreits in Verbindung gebracht, aus der insofern ein normatives Element abgleitet wird, als ›Bildung‹ auf solche Transformationen zu beschränken ist, die einem Widerstreit gerecht werden, für den es zuvor keine Artikulationsmöglichkeiten gab.
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Dazu jüngst Krinninger / Müller 2012: insbes. 58í63 sowie Müller 2013.
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schließenden Interpretation des Interviews mit dem 22-jährigen Hakan Salman aufgegriffen. Aufgefordert, seinen ›Lebens- und Bildungsweg‹ zu erzählen, entfaltet Hakan Salman im Interview eine Stegreiferzählung und hebt hervor, wie er trotz bzw. wegen herkunftsbedingter ›Defizite‹ im Laufe seiner Schulzeit den Ehrgeiz entwickelt, das Abitur zu schaffen, an diesem Plan jedoch scheitert und – was für die Analyse von Bildungsprozessen aufschlussreich ist – die Gründe seines Scheiterns externalisiert. Kraft dieser Einzelfallstudie, so das Anliegen, das in einem vierten Teil eine Bilanzierung erfährt, wird der Hinweis auf einen Zugang zu lebensgeschichtlichen Erzählungen verdeutlicht, welcher sich der normativen Implikationen von ›Bildung‹ vergewissert und sie inhaltlich begründet in die Analysen einbezieht.
B ILDUNG ALS T RANSFORMATION DES W ELT - UND S ELBSTVERHÄLTNISSES – K ONTURIERUNG EINES NICHT - NORMATIVEN B ILDUNGSBEGRIFFS ? Mit der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, die gegen Ende der 1980er Jahre entstanden ist und sich seitdem zu einem »bereits relativ etablierten Ansatz« (Koller 2012c: 16) in der Erziehungswissenschaft entwickelt hat, ist bekanntermaßen ein doppeltes Anliegen verbunden. Zum einen geht es diesem Forschungsansatz darum, empirische Anschlüsse des bildungstheoretischen Denkens herzustellen, womit eine zentrale Kritik an der traditionellen Gestalt der Bildungstheorie aufgegriffen und der Versuch unternommen wird, den Bildungsdiskurs vom Niveau hoher und gleichsam abstrakter ›Feierlichkeit‹ auf die Ebene des Konkreten zu bringen. Winfried Marotzki (1996), dessen Beiträge für die heutige Gestalt und das Renommee der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung außer Frage stehen dürften, hat in einer oft aufgenommenen Formulierung deshalb von »Biographie als vermittelnde Kategorie« gesprochen und im Panorama deutscher Gegenwartspädagogik auf ›Verknüpfungsoperationen‹ von Bildungstheorie und Empirie im Modus der Biographieforschung aufmerksam gemacht (vgl. Fuchs 2011b). Neben diesem Anliegen, das die Überwindung bzw. Entdramatisierung des Theorie-Empirie-Hiatus zum Gegenstand hat, gibt es ein zweites Anliegen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, das sich auf
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eine Modernisierung von Bildungsbegriff und Bildungstheorie konzentriert. Hier geht es darum, ›Bildung‹ nicht in strikter und extrapolierender Weise an die Denksysteme traditioneller Pädagogik, etwa idealistischer oder neuhumanistischer Couleur, zu begreifen und in deren Fahrwasser zu bestimmen. Stattdessen wird eine Novellierung im Bildungsdenken vorgenommen, die sich – weil und insofern sich eine solche nicht einfach ›aus den Wolken melken‹ lässt – in historischer Auseinandersetzung verschiedener bildungstheoretischer Gehalte vergewissert. Dazu werden etwa die bildungstheoretischen Konzeptionen von Wilhelm von Humboldt, Theodor W. Adorno, Erich Weniger und Wilhelm Flitner oder auch bildungstheoretische Theoreme im Werk John Deweys betrachtet und vor dem Hintergrund gegenwärtiger, oft als postmodern bezeichneter Tendenzen kritisiert (vgl. Kokemohr 1989; Marotzki 1991; Koller 1999; von Felden 2003a; Nohl 2006). Auf diese Weise erfolgt der Versuch, Begriff und Theorie von ›Bildung‹ zu generieren, bei denen zwar einerseits eine Anknüpfung an gewisse traditionelle Bestimmungen erfolgt, sich aber andererseits von deren Normativität gelöst werden soll. ›Bildung‹ gilt es so anders zu denken (vgl. Koller 2012a).3 Nun wird eine solche Novellierung von Bildungsbegriff und -theorie nicht ausschließlich im Rahmen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung vorgenommen. Otto Hansmann (1985) etwa oder auch Wolfgang Klafki (1986) haben Mitte der 1980er Jahre ebenfalls die Bedeutung klassischer Bildungstheorien für ein zeitgemäßes Konzept allgemeiner Bildung geprüft und dabei »Bildung – in rekonstruktiver Absicht« (Hansmann 1985) konturiert, um (wieder) veritable bildungstheoretische Entwürfe zu gewinnen. Bei Klafki mündet die Überprüfung der klassischen Bildungstheorien dann in ein modernes Verständnis von ›Bildung‹ als Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit (vgl. insbes. Klafki 1994). Die Antwort der bildungstheoretisch orientierten Biographie-
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Im Rahmen von Arbeiten der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung werden vielfach nicht explizit bildungstheoretische Entwürfe, sondern »soziologische, psychologische und philosophische Theorien« (Koller 2012a: 17) aufgenommen, wobei durchaus fraglich ist, inwiefern diese Theorien untereinander ›kompatibel‹ sind und welche der hervorgehobenen Akzentuierungen von ›Bildung‹ aus welchen Gründen besondere Beachtung verdienen (vgl. Wlazny 2012).
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forschung auf die Frage nach einem modernen Begriff und einer zeitgemäßen Theorie der Bildung dagegen ist anders gelagert. Zwar werden auch von ihr nolens volens inhaltliche Bestimmungen von ›Bildung‹ aufgegriffen, wenn in Auseinandersetzung mit bestehenden bildungstheoretischen Konzepten an Begriffsentfaltungen gearbeitet wird. Allerdings werden diese in ihren normativen Gehalten deutlich zurückgewiesen und zugunsten von formalen bzw. strukturalen Indikatoren ersetzt.4 ›Bildung‹ wird dabei, wenngleich hier und da die terminologischen Umschreibungen variieren, als eine Transformation des grundlegenden Welt- und Selbstverhältnisses beschrieben, die deshalb erfolgt, da angesichts neuer, ungewöhnlicher Herausforderungen bislang als probat erwiesene Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses nicht weiter ausreichen. Der theoriestrategische Vorteil dieses Verständnisses von ›Bildung‹ als Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses, in dem neue »Lebensorientierungen« (Nohl 2006: 11) und neue Figuren der Wahrnehmung, Deutung und Bearbeitung von Problemen generiert werden, scheint zunächst einmal darin zu bestehen, dass durch den weitgehenden Verzicht auf fest umrissene inhaltliche Bestimmungen unfruchtbare bildungstheoretische Kontroversen vermieden werden und einige normativ-metaphysische Elemente der bildungstheoretischen Tradition – bei Humboldt etwa die Idee einer Höherentwicklung der Menschheit sowie die auf harmonische Einheit zielende Auseinandersetzung zwischen Mensch und Welt – eine Absage erfahren (vgl. Koller 1999; Wigger 2004: 486). Insofern wird eine Grundlage geschaffen, über ›Bildung‹ zu sprechen, ohne dabei eine inhaltlich eindeutige Fassung zu proponieren und in überkommenen, problematisch gewordenen bildungstheoretischen Kategorien verhaftet zu bleiben. Nicht-normativ ist die Konzeption von ›Bildung‹ als Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen deshalb aber keineswegs. Auch hier sind normative Implikationen eingeschrieben, insofern gesagt wird, dass ›Bildung‹ etwas Wünschenswertes, zu Befürwortendes, vielleicht sogar ange-
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So ist es den konzeptionellen Herleitungen wichtiger Arbeiten der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung zu entnehmen, siehe dazu Straub 2002; Müller 2003; Wigger 2004; Bönold 2005; Fuchs 2008, 2011a: 84í180. Nicht immer geht dieser Versuch vollends auf. Marotzkis Fassung etwa ist dennoch implizit mit Werten wie Freiheit, Mündigkeit und Verantwortung verbunden (vgl. Koller 1999: 153, Fn 2).
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sichts neuer gesellschaftlicher Problemlagen auch Notwendiges ist und daher »Bildung sein soll« (Koller 1999: 154). Dieses Konzept ist aber auch deshalb normativ, da von ›Bildung‹ nur dann gesprochen wird, wenn eine Transformation des grundlegenden Welt- und Selbstverhältnisses stattfindet: Konstante Weiterentwicklungen, Tilgungen eines zuvor ›Für-wahrGehaltenen‹ oder unproblematisch Empfundenen sowie das Durchhalten eines Deutungsmusters trotz manifester Widerstände lassen sich demnach nicht als veritable Bildungsprozesse ansprechen und werden vom Konzept einer ›bildungswirksamen‹ Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses nicht erfasst. Es ist daher auch nicht zutreffend, wenn es als rein deskriptiv bezeichnet wird. Keineswegs erfolgt in den einschlägigen Arbeiten der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung eine schlichte Beschreibung von Bildungsprozessen, die vorurteilsfrei, gleichsam im Duktus der ›epoché‹, auf Phänomene blickt. Vielmehr werden zur Identifikation von Bildungsprozessen folgenschwere Vorannahmen getroffen, mit denen etwas überhaupt als etwas, nämlich als eine ›bildungswirksame‹ Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen, in den Blick gerät und mit einer bestimmten ›Wertigkeit‹ belegt werden kann. Der bildungstheoretisch interessierte Blick wird dabei auf spezielle Figurationen begrenzt und lenkt die Aufmerksamkeit auf biographische Konstellationen bestimmter ›Dignität‹; der »Anspruch kulturell-normativer Neutralität, der mit dem schlichten Kriterium der ›Neuordnung‹ des Selbst- und Weltverhältnisses ohne Angabe einer Richtung« (Krinninger / Müller 2012: 59) vertreten wird, kann – weil sie die »tatsächliche Normierung nur verdeckt« (ebd.) – so jedoch nicht aufrechterhalten werden. Das eigentliche Problem hierbei besteht allerdings weniger darin, dass die Konzeption von ›Bildung‹ als Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses normativ konnotiert ist – zumindest dann nicht, wenn man Normativität nicht als willkürliche Setzung oder unwissenschaftliche Strategie versteht, sondern vielmehr als ein Rückbezug bzw. Fundament, mit dem Begriffe und Theorien überhaupt erst ihre Möglichkeit, ihre Sinnhaftigkeit und Geltung erhalten (vgl. Heitger 1966: 46). Als Problem ist vielmehr zu sehen, dass mit dem Hinweis auf scheinbar deskriptive Bescheidenheit und normativ-wertbezogene Zurückhaltung in der Konzeption von ›Bildung‹ als Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses der »Zugang gegenüber den inhaltlichen, sachbezogenen Aspekten des Bildungsprozesses auffällig indifferent« (Müller 2003: 272) bleibt und die Legitimation des bildungs-
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theoretischen Profils so vor einige Schwierigkeiten gestellt wird. Denn mit der Fokussierung auf Transformationen des Welt- und Selbstverhältnisses werden keine Aussagen zur Ausgestaltung, zur Qualität der vollzogenen Transformationen transportiert. Es wird lediglich gesagt, dass derartige Transformationen als Bildungsprozesse zu verstehen sind; und mehr scheint – zugunsten einer größtmöglichen Offenheit gegenüber den konkreten Fällen, also den in aller Regel berücksichtigen lebensgeschichtlichen Erzählungen – auch gar nicht gewollt. Von verschiedenen Seiten wird jedoch an dieser Offenheit deutliche Kritik geübt und hervorgehoben, dass eine Präzisierung der Richtung aussteht, in die Transformationen von Welt- und Selbstverhältnissen erfolgen müssen, um sie als Bildungsprozesse ansprechen zu können (vgl. Straub 2002: 186; Wigger 2004: 486; Stojanov 2006a: 79, 2006b: 13; Krinninger / Müller 2012: 60). Die Frage lautet demnach: Lässt sich jede Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses als ein Bildungsprozess bezeichnen? Oder müssen nicht in weitaus deutlicherem Maße »inhaltliche Kriterien« (Straub 2002: 186) herangezogen werden (vgl. auch Wigger 2004; Brandt-Herrmann 2008: insbes. 69)? Am radikalsten ist die Frage, ob denn jede Transformation des Selbst- und Weltverhältnisses sogleich als Bildungsprozess zu verstehen ist, vermutlich von Krassimir Stojanov gestellt worden. Stojanov (2006a: 74) fragt nämlich im Zuge seines Vorschlags zur »normativen Erweiterung« des Bildungsbegriffs der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, ob denn der Werdegang eines bekannten Rechtspopulisten, der ehemals, »in seinen jungen Jahren bei der ostdeutschen FDJ aktiv war, sich dann an den gewalttätigen Aktivitäten der RAF beteiligte, um sich heute als einer der profundesten Vertreter rechtsextremer und nationalistischer Ideologien zu profilieren« (ebd.: 76), nicht par excellence dem Kriterium der Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses entspricht, und damit – wenn man eben nicht noch weitere Kriterien zu Rate zieht – als waschechter Bildungsprozess deklariert werden muss. Das aber – so Stojanov mit Verweis auf die Position von Jörg Ruhloff – könne nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden, wenn bildungstheoretisches Denken als Betrachtung des menschlichen »Werdens nach gedanklichen Maßgaben anzusehen ist, die bestimmte Entwicklungen oder Verwicklungen gutheißen und andere als zu vermeidende auszuschließen bestrebt sind« (Ruhloff 2000: 119). Wenn der Bildungsbegriff nicht gänzlich von seiner Tradition entkoppelt werden soll, er »für Deutungen von Menschlichkeit und für die Wege, auf denen diese Deutun-
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gen erfüllt werden können« (ebd.), steht, dann lässt sich nicht die Frage ausklammern, inwieweit das ›bildungswirksam‹ transformierte Welt- und Selbstverhältnis auch das in einer konkreten historischen oder biographischen Situation Bessere bzw. Angemessenere, Sinnvollere, Gültigere ist (vgl. Müller 2009: 254). Dazu jedoch ist ›Bildung‹ auf Überlegungen zu beziehen, die Aussagen darüber treffen, was das menschliche Leben gut oder zumindest besser macht – und das beinhaltet gleichermaßen evaluative wie normative Elemente (vgl. Meyer 2011).
›B ILDUNG ‹ – S ELBSTBESTIMMUNG R EFLEKTIERTHEIT
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Derartige Überlegungen können durchaus auf das in Arbeiten der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung intensiver thematisierte Bildungsideal Wilhelm von Humboldts bezogen werden, das als wesentliches Moment die Selbstbestimmung enthält (vgl. Meyer 2011: 8; Koller 1999: 51í93; von Felden 2003b). Sie sind aber im bildungsphilosophischen Denken deutlich breiter angelegt. Vor allen Dingen in der zeitgenössischen – und keineswegs nur der deutschsprachigen – Bildungsphilosophie (Philosophy of Education) nimmt Selbstbestimmung mit Blick auf die Frage nach dem guten Leben geradezu eine »Schlüsselstellung« (Meyer 2011: 13) ein. Auch wenn in der Selbstbestimmung keinesfalls das einzig legitime Bildungsziel liegt, sie daher nicht zu weit auszulegen ist und sie auch mit anderen gesellschaftlichen Werten konfligieren kann, lässt sie sich doch nicht ersatz- und umstandslos aus dem Katalog legitimierbarer Bildungsmomente streichen (vgl. ebd.: 20; Petzelt 1997; Heitger 2004). In einer aktuellen bildungsphilosophischen Studie, die ›Bildung‹ in notwendiger Beziehung zur Frage nach dem guten Leben ausweist, hebt Kirsten Meyer (2011) deshalb bei aller Problematizität auf Selbstbestimmung als nicht zu tilgenden Bestandteil von ›Bildung‹ ab.5 Dabei werden von ihr verschiedene bildungsphilosophische Begründungen aus der deutschen und angloamerikanischen Diskussion verfolgt und trotz des Facettenreichtums »Familienähnlichkeiten« (ebd.: 16) zwischen den aufgefundenen
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Allerdings keineswegs so rigoros wie Heitger (2004), für den ›Bildung‹ in Selbstbestimmung aufgeht (vgl. Meyer 2011: 14).
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Konzepten von Selbstbestimmung markiert. Auf diese Weise wird der breit gelagerte bildungsphilosophische Diskurs um Selbstbestimmung auf die Dimensionen des selbstbestimmten Wollens, Handelns und Meinens konzentriert. Die von Meyer vorgestellten Begründungen zeigen dabei auch und gerade die leitenden »normativen Annahmen« (ebd.: 21) auf, die von ihr jedoch nicht eskamotiert, sondern geprüft und in der Zusammenschau für Bestimmungen von Selbstbestimmung aufgegriffen werden.6 Hierbei ist es insbesondere eine »kritische Reflektiertheit« (ebd.: 25; Herv. i. O.), die sie in dem zeitgenössischen bildungsphilosophischen Diskurs über Selbstbestimmung als wiederkehrendes Moment kenntlich macht. Demnach habe sich eine selbstbestimmte Person – so Meyer in ihrer Argumentation – auf die Bereitschaft einzulassen, »das, was ihr im Leben wichtig und wertvoll ist, kritisch in Frage zu stellen und sich das, bei dem sie bleiben will, dadurch bewusst anzueignen« (ebd.).7 Dies schließt die Reflexion über die Entstehung von eigenen Zielen und Wünschen ein, weil so überprüft werden kann, ob die eigenen Ziele und Wünsche noch gutzuheißen oder aber auf eine kritikwürdige Weise zustande gekommen sind und triftige Gründe deshalb dafür sprechen, von ihnen abzulassen. Eine derartige kritische Reflektiertheit besagt nun keineswegs, dass es darum geht, »das ganze Leben
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Für den angloamerikanischen Diskurs rekurriert Meyer dazu u. a. auf Harry Brighouse, Ronald Dworkin, Harry G. Frankfurt, Martha Nussbaum und Christopher Winch (vgl. Meyer 2011: 13í43, 62í68, 140í148). Im Kontext dieser Ausführungen weist sie interessanterweise auch den Vorwurf zurück, mit Selbstbestimmung – hier mit dem Terminus ›Autonomie‹ gleichgesetzt (vgl. ebd.: 14) – eine nur in bestimmten Kulturkreisen wertgeschätzte ›Verbesonderung‹ zu proponieren und sie als Bildungsmoment insofern fälschlicherweise zu stilisieren: »Zwar spricht vieles dafür, dass die Wertschätzung der Autonomie mit dem kulturellen Kontext variiert. Allerdings folgt daraus nicht, dass die Wertschätzung der Autonomie ein bloß kulturelles Phänomen ist.« (ebd.: 144) Ähnlich sogar auch Straub 2002: 187.
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Diese Stoßrichtung von ›Bildung‹ wird auch in anderen bildungsphilosophischen Zusammenhängen hervorgehoben; etwa von Alfred Schäfer (2005: 160), nach dem von ›Bildung‹ dann zu sprechen ist, wenn »das Individuum bereit ist, seine Sicht auf die Dinge und damit sich selbst infrage zu stellen«. Folgerichtig ist der Glaube daran, alles verstanden und im Griff zu haben, ebenso ›bildungshemmend‹ wie die Weigerung, sich irritieren zu lassen (vgl. ebd.: 158).
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ständig radikal in Frage zu stellen« (ebd.: 29). Es geht vielmehr darum, »überhaupt über Gründe zu reflektieren« (ebd.), was von Fall zu Fall ganz unterschiedlich aussehen kann, sodass Untersuchungen zu den Erfahrungen von Menschen nötig sind (vgl. ebd.: 97).8 Neben der kritischen Reflexion über eigene Ziele und Wünsche umfasst Selbstbestimmung schließlich auch eine Unabhängigkeit von Meinungen und Wissensansprüchen. Auch wenn es oft nicht möglich ist, »gänzlich unabhängig von anderen Personen zu seinen eigenen Meinungen zu gelangen, so wird eine selbstbestimmte Person doch darum bemüht sein, fremde Meinungen zumindest zu überprüfen« (ebd.: 30) und unreflektierte Übernahmen zurückzuweisen. Bildungsprozesse sind in dieser von Meyer anhand des bildungsphilosophischen Diskurses um Selbstbestimmung hervorgehobenen Ausrichtung Prozesse der Geltungsbewährung.9 Zu Kennzeichen solcher Bildungsprozesse gehören die Geltungsprüfung von persönlichen Ansichten, die kritische Beschäftigung mit dem Sein und dem Sollen sowie die Problematisierung von Werten und Normen in ihrer Selbstverständlichkeit (vgl. Petzelt 1965: 159í254; Fischer 1966); weshalb sie sich in Form von ›rückhaltlosen‹ Infragestellungen, dem Versuch einer selbstbestimmten Orientierung im Denken und der Problematisierung von Wahrnehmungen, Auffassungen, Deutungen oder auch Handlungen unter dem Aspekt der Konsistenz und Konsequenz artikulieren (vgl. Ruhloff 1996; Schönherr 2003). Im Folgenden wird dieses im bildungsphilosophischen Denken breit angelegte Verständnis weiter verfolgt, indem einige Themen der lebensgeschichtlichen Erzählung von Hakan Salman aufgenommen und daran bildungstheoretische Auslegungen verfolgt werden, die gemäß der um Selbstbestimmung angesiedelten Ausführungen eine kritisch-reflektierende Auseinandersetzung mit sich, anderen und der Welt10 in den Mittelpunkt der
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Zur Erforschung von Erfahrungen der Selbstbestimmung mit biographischen
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Dazu v.a. auch Meder 2002: 11.
Methoden siehe Schulze 2002a: insbes. 31í33. 10 Es muss nicht unbedingt als Verkomplizierung der Sache verstanden werden, wenn ›Bildung‹ in den Dimensionen von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnis bzw. »Welt-, Anderen- und Selbstverhältnis« (Koller 2012a: 17) unterschieden wird. Es wird vielmehr als aufschlussreiche Differenzierung aufzufassen sein, wenn man Antworten auf die Frage erhalten möchte, wie ›Bildung‹ in Erschei-
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Aufmerksamkeit stellen. Der Blick erfolgt hierzu auf den in der Stegreiferzählung in unterschiedlichen Zusammenhängen zum Vorschein tretenden Ehrgeiz, den von Hakan Salman hervorgehobenen Ansporn, die Motivation, das Leitungsstreben und Durchhaltevermögen.11
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Hakan Salmans lebensgeschichtliche Erzählung ist äußerst auffallend um seinen schulischen, z. T. auch noch nachschulischen Werdegang organisiert. Der Werdegang in Bildungsinstitutionen formiert insofern ein ›biographisches Zentrum‹, das jedoch gerade durch den thematischen Akzent der erzählgenerierenden Frage vorgegeben erscheint. Denn Hakan Salman wird in dem sehr kurzen Stimulus aufgefordert, von seinem »Lebensweg […], Bildungsweg« (Transkription des Interviews in diesem Band, Z. 1) zu erzählen. Dementsprechend rasch erfolgt in der selbst gestalteten Narration die Hinwendung zur ersten Station dieses ›Bildungswegs‹, nämlich der ersten ›originären‹ Bildungsinstitution, der Schule: »ich war sechs Jahre alt, da kam ich (2) kam ich in die erste Klasse.« (Z. 2í3) Der ›Bildungsweg‹ wird dabei sogleich in einen problematischen Kontext eingebettet: Mit der Einschulung fängt – wie es nämlich heißt – Hakan Salmans »größtes Problem« (Z. 17) an, das für ihn in der selbstständigen Aneignung jeglichen Schulstoffs liegt. Vor allen Dingen aber ist der Umgang mit der deutschen Sprache sein »größtes Handicap« (Z. 20).12 Weder
nung tritt und eigentlich möglich ist (vgl. Wigger in diesem Band; Fuchs 2011a: 376í383). 11 Sie bilden mit Theodor Schulze gesprochen so etwas wie ein biographisches Kraftfeld – zumindest jedoch auffällige biographische Topoi (vgl. Schulze 2006, 2010). 12 Die folgenden Interpretationen werden – abweichend zu anderen Vorgehensweisen in diesem Band – nicht etwa deshalb im Indikativ vorgetragen, weil in naiver Manier angenommen wird, dass sich alles so zugetragen hat, wie Hakan Salman es erzählt. Die Verwendung des Indikativs soll vielmehr deutlich machen, dass mit der Stegreiferzählung mehr als nur eine ›erzählte Lebensgeschichte‹ präsentiert wird. Denn mit ihr ist – gerade auch vom Interviewenden und denjenigen, die sich der Lebensgeschichte interpretatorisch annehmen – da-
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die Mutter, die zum Interviewzeitpunkt seit 27 Jahren in Deutschland lebt, nach wie vor jedoch »kein bisschen Deutsch« (Z. 24) spricht, noch die ›bildungsbeflissene‹ Schwester und schon gar nicht sein der Schriftsprache nicht mächtiger Vater können ihn bei der Vermeidung bzw. Bewältigung seines ›größten Problems‹ unterstützen und in schulischen Belangen zur Seite stehen. Hakan Salman sagt: »zu Mama rennen, zum Papa rennen, das ging natürlich nicht« (Z. 23í24) – und verweist mit dieser Aussage auf eigene Handlungseinschränkungen, die sich aus der Sprach- bzw. Bildungsferne seiner Eltern ergeben. Hinzu kommt, dass Hakan Salman unter bescheidenen und emotional widrigen Verhältnissen eingeschult wird. Bescheiden sind die Verhältnisse, weil es – trotz der im Interview mehrfach hervorgehobenen Aufmerksamkeit und Fürsorge seiner Mutter – an basaler materieller Ausstattung mangelt. Als emotional widrig sind die Verhältnisse zu verstehen, da eine unmittelbar zum Zeitpunkt von Hakan Salmans Einschulung vollzogene Trennung der Eltern nicht nur mit einer Neuordnung der sozialen Beziehungen einhergeht, sondern sogar mit einer Flucht der Mutter und ihren beiden Kindern in ein Frauenhaus verbunden ist. Dort lähmt eine deutliche »Angst vorm Vater« (Z. 42) und die Sorge, der Vater könne die Familienmitglieder aufspüren, das Lernen – wobei das Frauenhaus auch gar keine räumlichen Ressourcen dazu bereithält. Das alles führt zu äußerst ungünstigen Bedingungen und wird im Interview mit der Redewendung kommentiert, dass nicht nur die Aufmerksamkeit für schulische Belange »echt auf der Strecke« (Z. 44) geblieben ist, sondern auch selbstbezogen gewendet. Auch Hakan Salman ist in den familialen Wirren gewissermaßen ›auf der Strecke geblieben‹, während andere von Anfang an »vom feinsten gefördert« (Z. 45í46) wurden. Es fehlt ihm in seiner Deutung insofern eine Förderung von Grund auf.
rüber hinaus der Anspruch verbunden, auch eine ›erlebte Lebensgeschichte‹ bereitzuhalten (vgl. dazu inbes. Rosenthal 1995). Auch Theodor Schulze verweist in seinen grundlagentheoretischen Beiträgen entschieden auf diese biographische Referenz: »Es ist das Ich, das erzählt, aber auch das Ich, das erlebt hat, was es erzählt. Es ist das Ich, das sich erinnert und das seine Erinnerungen reflektiert. Es ist das Ich, das […] sich zu seinem Leben verhält, entwerfend und erinnernd« (Schulze 2002b: 138); im Mittelpunkt lebensgeschichtlicher Erzählungen steht das Ich, das »das gelebte Leben erinnernd betrachtet und beurteilt, erzählend ordnet, deutet und rechtfertigt« (Schulze 2002a: 31).
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Erst mit dem Verlassen des Frauenhauses und dem Beziehen einer »schöne[n] Wohnung« (Z. 51) geht es »sehr bergauf« (Z. 52). Hakan Salman ist zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits in der zweiten Klasse. Erst jetzt fängt er an, seine Hausaufgaben zu machen – »schrittweise« (Z. 53), wie er sagt; »das Lernen an sich« (Z. 54) ist jedoch für ihn noch nicht von Belang. Auch die Hausaufgaben macht er nicht mit Muße und »nicht freiwillig« (Z. 58). Es ist die Mutter, die ihn auffordert, seine Hausaufgaben zu machen, und ihn so »unter Druck« (Z. 59) setzt, weil sie ihm erst nach der Erledigung der Hausaufgaben erlaubt, mit den Freunden zu spielen. Kontrollieren indes kann die Mutter die Qualität der erledigten Hausaufgaben nicht, da ihr aufgrund fehlender deutscher Sprachkenntnisse hierfür nicht die entsprechenden Mittel bereitstehen. So folgt die Ernüchterung immer im Unterricht, wenn Hakan Salman feststellt, dass die Hausaufgaben »natürlicherweise« (Z. 63) falsch sind. Dabei stellt er diesen Umstand – wie auch schon zuvor beim Hinweis auf die nicht vorhandene Möglichkeit, seine Eltern bei Fragen zum Schulstoff um Hilfe bitten zu können – im Interview als ›natürlich‹ vor und führt ihn auf die von ihm diagnostizierte mangelnde Förderung zurück: »natürlicherweise war es falsch (.) aufgrund keiner Förderung« (Z. 63í64). Andere Erklärungen bleiben so aber gänzlich unberücksichtigt. Nicht bedacht wird z. B. gerade die Überlegung, dass die Hausaufgaben auch deshalb falsch sein könnten, weil er sie selbst erst gar nicht freiwillig und nicht gewissenhaft erledigt. Seine Schwester Pinar – die zwar nicht »im Frauenhaus eingeschult« (Z. 39í40) wird, aber mit denselben familialen Hintergründen konfrontiert ist und daher innerfamilial genau so wenig Förderung erfährt – hat schließlich »das alles sehr gut beherrscht zu der Zeit« (Z. 67í68). Sie scheint weder sprachlich noch beim selbstständigen Lernen Probleme zu haben. So werden die Ursachen von Hakan Salman also externalisiert, d. h. von der Möglichkeit einer persönlichen Einflussnahme ausgeschlossen und in einer Ausschließlichkeit auf die mangelnde Förderung zurückgeführt. Selbstkritische Befragungen und ein auf sich selbst gerichtetes problematisierendes Verhältnis kommen insofern aber erst gar nicht auf. Hakan Salman macht während des Interviews allerdings deutlich, dass er seine Schwester, die zu diesem Zeitpunkt bereits das Gymnasium besucht, um Hilfe bittet. Bei ihr findet er auch eine gewisse Unterstützung – allerdings derart, dass sie nicht etwa mit ihm übt, sondern seine Hausaufgaben für ihn erledigt: »Meine Schwester hat mir sehr viel geholfen sprich (.)
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nich beigebracht sondern zack, zack, zack ausgefüllt gehabt.« (Z. 72í74) Die von Hakan Salman als umfangreich wahrgenommene Hilfe der Schwester kann die Probleme aber nicht lösen. Zwar mag die Erledigung der Hausaufgaben durch die Schwester als angenehm und vorteilhaft verstanden werden, da sie Hakan Salman von der Last befreit, es selbst zu versuchen, und ihm – mit der Sicherheit ausgestattet, am nächsten Schultag dennoch mit den richtigen Hausaufgaben zu erscheinen – zudem ermöglicht, schneller zu seinen Freunden zu gehen. Als probates Mittel für ein selbstständiges Erlernen des Schulstoffs und einen besseren Umgang mit der deutschen Sprache lässt sie sich aber keineswegs bezeichnen. Mit Blick auf die beiden von Hakan Salman selbst identifizierten Probleme ist die gewährte ›Hilfe‹ der Schwester stattdessen als eindeutig kontraproduktiv zu bewerten. In der Grundschule wird die Lehrerin auch rasch darauf aufmerksam, dass die Hausaufgaben nicht von Hakan Salman selbst erledigt werden. Denn sie hat zuvor auch schon die Schwester unterrichtet und stellt Abweichungen der Schrift fest, sodass sie ihn unmittelbar vor der Klasse anspricht. Für Hakan Salman stellt dies nicht nur eine gewaltige »Bloßstellung, Demütigung« (Z. 77) dar. Die Situation ist für ihn auch insofern lehrreich, als er den »Ansporn« (Z. 78) entwickelt, es mit dem Erlernen der Schreibschrift selbst zu versuchen – »kontinuierlich jeden Tag« (Z. 82), selbst wenn die Einsicht folgt, dass es falsch ist. Wichtig für Hakan Salman ist, es überhaupt zu versuchen. Deshalb ist es in seiner Diktion zwar »ein kleines Erlebnis« (Z. 80), aber »ausschlaggebend« (ebd.) für eine ergriffene Haltungsänderung. Das Defizit, »nicht gefördert zu werden« (Z. 118), allerdings bleibt im weiteren biographischen Verlauf bestehen. Hausaufgaben sind auch während der anschließend besuchten Realschule weiterhin von ihm alleine, ohne Hilfe anzufertigen. Und für Klassenarbeiten muss Hakan Salman weitestgehend ohne Unterstützung lernen, was er gleichsam resignativ zum Ausdruck bringt, wenn er sagt: »Es hat einfach gefehlt.« (Z. 119) Ab und an lernt er milieunah zusammen mit türkischen Mitschülern, mit denen er auch seine Freizeit verbringt, wodurch schulische Belange allerdings wieder »auf der Strecke« (Z. 129) bleiben. Die sich daraus ergebenden Folgen bekommt er von verschiedenen Lehrern aufgezeigt, wenn sie ihm nur geringe Chancen in Aussicht stellen. Sehr wohl erkennt aber seine Klassenlehrerin »sehr viel Potenzial« (Z. 135) in ihm und empfiehlt die Wahl eines
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neuen Sitzplatzes in der Klasse. Hakan Salman folgt dieser Empfehlung und setzt sich zu Robert Lange, einem Klassenkameraden aus gutem Elternhaus, wodurch sich seine »Aufmerksamkeit im Unterricht« (Z. 144í148), sein »Denken« (Z. 148) und seine »Einstellung gegenüber Schule« (Z. 148í149) erneut verändern: »So und durch das alleinige Umsetzen [mh] (.) in der siebten Kl- (3) a- acht (.) achte Klasse, [mh] ich (.) weiß nicht mehr welcher Zeitraum das war (.) äm allein (.) durch das Umsetzen (.) hat sich meine Aufmerksamkeit im Unterricht (.) meine (.) mein Denken, meine (3) meine komplette Einstellung gegenüber Schule (2) verändert. [mh] Grund auf (.) ich (.) ich hab gesehen, dass (.) der nebensitzende Mensch es beherrscht [mh] und habe mich immer gefragt, warum kannst du es nich auch? [mh] (4) Es war ein Ansporn, [mh] (.) genau so gut zu werden (2) trotz meine Defizite [mh] und das habe ich auch geschafft. [okay] Der Freund, der neben mir saß (.) ich danke ihm immer noch (.) sei es Gruppenarbeiten, sei es für Klausuren lernen, Referate (2) ich (.) eine Ausgrenzung gab es nicht. Wir haben echt alles gemeinsam gemacht, [mh] Referate (.) und dann hieß es Hakan Hakan Hakan ich möchte gerne mit dir ein Referat machen, wollen wir? [mh] (2) Warum? Weil ich’s auf einmal beherrscht habe.« (Z. 145í157)
Für Hakan Salman ist es »Ansporn« (Z. 151), genauso gut zu sein wie der neue Sitznachbar. Durch Robert Lange und ihm Anerkennung entgegenbringende Mitschüler hat er sich rasch »hoch gerappelt, hochgezogen« (Z. 158) und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten entwickelt. Wenn Hakan Salman dabei bilanzierend sagt: »das war das Bedeutendste daran, dass ich mich (.) so verändert habe« (Z. 160í161), dann verweist er also auf ein zweites Erlebnis, das eine Veränderung seiner Haltung herbeiführt und von ihm als zentral aufgefasst wird. Der selbst ausgemachte Wendepunkt dürfte dabei insofern mit einem veränderten Selbstverhältnis verknüpft sein, als für Hakan Salman die Fragen aufkommen: »warum kannst du es nicht auch« (Z. 151), ›warum beherrscht es der andere – du aber nicht‹? In diesen Fragen artikuliert sich das Bestreben, genauso gut zu werden wie Robert Lange, und damit der Versuch einer Wertsteigerung des Ich, im Zuge dessen das jetzige Ich kritisch geprüft und persönliche Veränderungsmöglichkeiten in den Blick genommen werden. Gerade darin ist gemäß der bildungstheoretischen Leitlinien um Selbstbestimmung und kritische Reflektiertheit ein besonderes Bildungsmoment zu sehen. Denn nur derjenige, der
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sein Denken beurteilt und seine Veränderungsmöglichkeiten im Bewusstsein von Gründen betrachtet, verfällt nicht der Illusion schon perfekt zu sein und kehrt deshalb allen Bildungsbemühungen den Rücken (vgl. Fischer 1966: 89). Der von Hakan Salman ausgemachte Wendepunkt scheint allerdings nicht nur auf ein verändertes Selbstverhältnis hinauszulaufen, sondern zudem ein neues Weltverhältnis bereitzuhalten: Denn erkannt wird auch, dass sich das Einfachmachen des Lebens nicht auszahlt. Man kommt nicht sonderlich weit, wenn statt der aufmerksamen Lektüre der im Unterricht behandelten Werke schnell eine Buchbesprechung aus dem Internet ausdruckt wird. Um Erfolg in der Schule zu haben, ist eine andere »Einstellung gegenüber Schule« (Z. 148í149) erforderlich. Es ist nötig – so macht Hakan Salman deutlich –, sich anzustrengen und an Zielen zu arbeiten. Hakan Salman präsentiert hier das meritokratische Versprechen, dass durch Fleiß und Leistungen Gratifikationen erfolgen und soziale Positionierungen geändert werden können. Und dieses Versprechen beeindruckt ihn, sodass er seine Lebensführung danach ausrichtet. Das tritt etwa gerade dort hervor, wo er sich gegenüber seinen türkischen Freunden für die abflauenden Kontakte rechtfertigt und angesichts der Konfrontation mit sozialer Exklusion sagt: »Hey, habe ich gesagt, es geht um meine Zukunft! [mm] (2) Ich muss da was dafür tun (.) um erfolgreich zu sein [mh] das geht nicht (.) dass ich einfach so vor mich hin lebe.« (Z. 503í505) Dieses veränderte Weltverhältnis wird ihm über soziale Beziehungen zu seinen deutschsprachigen Klassenkameraden vermittelt und als ›Geschenk‹ wahrgenommen:13 »Also die Mühe, dieser Fleiß, der hat gefehlt. […]. [mh] Man wollte sich das Leben einfach einfach machen. [mh] (4) Und dieses zu erkennen (.) [mm] (2) das habe ich (.) das hab ich bekommen, das hab ich geschenkt bekommen, [mh] von (.) den deutschsprachigen Mitschülern.« (Z. 491í496)
Vor dem Hintergrund dieses ›neuen‹ Welt- und Selbstverhältnisses ergibt sich, dass Hakan Salman gegen Ende der Sekundarstufe I den festen Entschluss fasst, das Abitur zu machen. Er will in die Fußstapfen seiner
13 Deshalb ist die Betrachtung von Fremd- bzw. Anderenverhältnissen gerade nicht zu vernachlässigen und geht auch nicht in Weltverhältnissen auf (vgl. Fn 12; Fuchs 2011a: 312í339).
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Schwester treten, muss – wie aus einem Zwang heraus – abermals »das tun, was [s]eine Schwester tut« (Z. 663), folgt insofern aber auch einem fremden Beispiel, ohne die Art der Beispielhaftigkeit genauer zu betrachten oder sich mit persönlichen Ressourcen, den individuellen Möglichkeiten und Grenzen auseinandersetzen. Fragen wie »Was hat die Schwester, was ich nicht habe?« scheint sich Hakan Salman nicht zu stellen. Der Entschluss steht für ihn fest: Er will ebenfalls Abitur machen und hat sich daher vorgenommen, für bessere Noten im Realschulzeugnis zu ›kämpfen‹. Dazu liest er – nicht etwa weil es ihm Spaß macht, sondern weil er die Dringlichkeit zum Erreichen des Ziels erkennt – gleichsam berserkerhaft die Literatur des Deutschunterrichts. Auch nimmt er kurzzeitig Englischnachhilfe, die ihm zwar keine große Unterstützung liefert, ihn während des Erzählens aber erneut auf die fehlende Förderung zu sprechen bringt: »Es war nicht ’ne große Unterstützung (.) aber na ja [mm] es hat mir nicht es hat mir nicht wirklich viel gebracht [okay] (.) Ich hätte gerne von Anfang an so was gehabt, (.) aber das gab es nicht. [mm] Von Anfang an ’ne gute Förderung, […] das wär das Richtige gewesen.« (Z. 823í827)
Sein Ehrgeiz und ›harter‹ Einsatz wird schließlich aber belohnt: Er macht nämlich einen »Bombenrealschulabschluss« (Z. 191) und erhält die ersehnte Zulassung zur gymnasialen Oberstufe. Die Möglichkeit, eine berufliche Ausbildung zu ergreifen, wird dagegen kategorisch abgelehnt. Es wird vielmehr als Beleidigung aufgefasst, dass eine Lehrerin ihm rät, nach der Schule eine Berufsausbildung zu beginnen. Inwieweit die Lehrerin in ihrer Auffassung aber richtig liegen könnte, inwieweit die persönlichen Möglichkeiten limitiert sein könnten und für den nächsthöheren Bildungsabschluss womöglich nicht genügen, solche Fragen stellt sich Hakan Salman nicht: So sind die Worte der Lehrerin für ihn »nich von Bedeutung« (Z. 200). Für ihn gibt es nur das Verlangen, den Plan »durchzuziehen« (Z. 207). Waren während der Realschule noch gewisse selbstkritische Töne vorhanden, so treten sie hier vollkommen hinter die Zuversicht zurück, es mit Leistungsbereitschaft schon schaffen zu können. Auf dem Gymnasium wird Hakan Salman dann mit »sehr viel Neuland« (Z. 213) konfrontiert, was ihn enorm herausfordert. Trotz des Willens, mit Engagement auf »neue Problemstellungen« (Z. 211) und »neue Aufgaben« (Z. 211í212) zu reagieren, schreibt er in der 11. Klasse nicht nur seine erste
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›5‹, was ihn aber »nich besonders berührt« (Z. 226) – er scheitert dieses Mal auch insgesamt an den selbst gesteckten Zielen. Zwar ist er zwischenzeitlich nach eigener Auffassung »der Genie« (Z. 466) im BiologieLeistungskurs. Sowohl in diesem als auch im unbeliebten Erdkundeleistungskurs besteht er trotz intensiven Lernens mit Klassenkameraden die Abiturklausuren aber nicht und muss in die mündliche Nachprüfung, die er selbstbewusst meint, schaffen zu können. Noch hier verlässt sich Hakan Salman auf seine Leistungsbereitschaft. Er schottet sich eine Woche von der Außenwelt ab, um intensiv zu lernen. Aber auch diese Nachprüfung schafft er nicht, denn er braucht sieben Punkte, bekommt jedoch nur sechs. Das stellt für ihn die größte Enttäuschung und schmerzlichste Erfahrung seines Lebens dar: »Da ist meine Welt zusammengebrochen.« (Z. 292í293) Für ihn steht allerdings fest, dass sein Scheitern nicht sein eigenes Verschulden ist. Er hat schließlich gelernt und sich nach besten Kräften angestrengt. Es sind für ihn allein die Lehrer, die in der Situation der mündlichen Prüfung zu dritt gegen ihn sind, ihn nicht ausreden lassen und ihm so um die Möglichkeit bringen, eine Prüfung abzulegen, mit der er die nötigen sieben Punkte erreichen kann. Obwohl er alle Fragen des prüfenden Lehrers »so kurz und knapp wie er es wollte (.) [mm] beantwortet« (Z. 278), erhält er die Rückmeldung, dass er »qualitativ (.) nicht so gut gewesen« (Z. 322í323) ist. Folglich ist Hakan Salman nicht über sich selbst enttäuscht, sondern über die Lehrer, wenn er sagt: »ich wurde noch nie so sehr enttäuscht.« (Z. 330) Auch hier externalisiert er, führt die Gründe des Scheiterns nicht auf sich selbst zurück, sondern macht andere dafür verantwortlich und deutet die misslungene mündliche Prüfung schließlich auch als einen Akt der Diskriminierung, in deren Folge er jegliches »Vertrauen in einen Menschen« (294), in die »Menschheit« (310) überhaupt verliert.14 Hakan Salman entschließt sich daraufhin, die 13. Klasse nicht zu wiederholen, sondern geht von der Schule ab und absolviert in dem Betrieb seines Cousins, einem Anlageberater, zuerst den praktischen Teil für das Fachabitur. Anschließend studiert er an einer Hochschule, die ihn »sofort angenommen« (Z. 391) hat, Medizintechnik. In diesem Studium ist er abermals mit Problemen konfrontiert, die für ihn ähnlich gelagert sind wie die zur Schulzeit. Allerdings meint Hakan Salman, sie nun – »aufgrund der
14 Zur ausführlichen Interpretation dieser Szene siehe den Beitrag von Rainer Kokemohr in diesem Band.
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vielen Erfahrungen« (Z. 401) – früher erkennen und schon jetzt dagegen angehen zu können: Dabei rekurriert er auf sein während der Realschulzeit generiertes Muster: Er will – wenn er sagt, »ich muss jetzt doppelt so viel lernen« (Z. 407) – mit Fleiß und Leistungsbereitschaft sein Ziel erreichen. Das hat ihm am Ende der Realschule in der Tat den gewünschten Erfolg eingebracht, auf dem Gymnasium allerdings ist er damit gescheitert. Dennoch hat Hakan Salman keinen Zweifel daran, dass ihn dieses Vorgehen irgendwann zum Ziel bringt: »Es ist wieder dasselbe Katz-und-Maus-Spiel [mh] (2) Aber da ich mich schon dran gewöhnt habe (4) Niederlagen einzustecken, auch Gutes zu erleben (4) macht es mir keine Sorgen, [mh] also ich weiß, ich habe mein Ziel vor Augen [mh] (2) ob, (2) wann ich nun dahin komme das (.) steht noch nicht fest, aber (.) dass ich dahin komme; das weiß ich.« (Z. 413í417)
– Ob er damit wohl recht behält?
S CHLUSS : I ST JEDE T RANSFORMATION DES W ELT - UND S ELBSTVERHÄLTNISSES SOGLEICH BILDUNGSBEDEUTSAM ? In einem schnellen Finale sollen noch einmal Bezüge hergestellt werden: und zwar zwischen der vorgelegten Interpretation zur lebensgeschichtlichen Erzählung von Hakan Salman und dem ersten Teil, in dem zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung der normativen Implikationen und inhaltlichen Differenzierungen der Bildungstheorie argumentiert wurde. Dazu wird der interpretatorische Hinweis zur Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses während Hakan Salmans Realschulzeit aufgenommen. Hakan Salman verändert – so die vorgeschlagene Lesart – durch das Umsetzen, den neuen Sitzplatz neben Robert Lange, den Blick auf sich selbst und die Welt. Er fragt sich nämlich, ob er nicht auch so gut sein kann wie sein Sitznachbar, und initiiert darüber eine ›Arbeit am Ich‹, indem er sich den schulischen Belangen mit Engagement widmet und bereit ist, Mühe und Aufwand zum Erreichen der selbst gesteckten Ziele zu betreiben. Zugleich sieht Hakan Salman, dass die meritokratisch aufgestellte Gesellschaft die Leistungswilligen honoriert und man durch Ehrgeiz und Leistung die Möglich-
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keit hat, trotz herkunftsbedingter ›Defizite‹ mit einem sozialen Aufstieg belohnt zu werden. Deshalb würde er z. B. seine türkischen Freunde gerne auch »mitziehen« (Z. 511), sie zur Anstrengung auffordern – »tut! macht! « (Z. 511í512). Jedoch ist das Welt- und Selbstverhältnis nicht allein deshalb, weil es eine Veränderung erfährt, schon als bildungsbedeutsam zu charakterisieren. Das wäre ein schwaches Argument. Als bildungsbedeutsam kann die beschriebene Transformation aber zumindest insofern gelten, als Hakan Salman sich selbstkritisch befragt und sich nicht mit seinen Lebensvollzügen zufrieden gibt. Er will in schulischen Belangen besser werden und mehr Einsatz zeigen, er will es schaffen, so gut wie Robert Lange zu werden; deshalb kommt es zu einer neuen Sicht auf sich selbst und die Welt. Wenn er sich durch das Umsetzen dagegen aus der Schule herausgezogen und beispielsweise gesagt hätte, dass er weiß, dass er alles richtig macht, alles weiß und alles kann – und wenn die anderen das nicht sehen, es eben ihr Problem ist –, wäre das zwar womöglich auch als eine Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses zu beschreiben, die aber gemäß der bildungstheoretischen Referenzen aufgrund ihrer ›dogmatischen Denkungsart‹ keineswegs als bildungsbedeutsam bezeichnet werden kann. Viele weitere Stellen im Interview sprechen nun allerdings auch dafür, dass man die ›identifizierte‹ Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses nicht allzu hoch aufhängen und alles Folgende als einen hierauf zurückgehenden Bildungsprozess betrachten sollte. Vielfach kommt es in Hakan Salmans lebensgeschichtlicher Erzählung nicht zu problematisierenden Betrachtungen, dem Versuch einer Loslösung von heteronomen Vorgaben oder auch einer Geltungsprüfung von persönlichen Ansichten. Gerade die häufige Externalisierung – zu verstehen als eine persönliche ›Verantwortungsentsagung‹ – spricht gegen das Vorliegen eines offensichtlichen Bildungsprozesses. Auch die Zuversicht, mit der er am Ende der selbstgestalteten Erzählung ankündigt, sein Ziel mit Fleiß und Leistungsstreben schon erreichen zu können, stimmt skeptisch. Schließlich hat dieses Vorgehen in der Oberstufe gerade nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Weniger zweifelhaft allerdings ist, dass ›Bildung‹ mit guten Gründen auf inhaltliche Kategorien zu beziehen ist, wie sie im bildungsphilosophischen Denken um Selbstbestimmung und kritische Reflektiertheit verankert werden. Denn erst ›normative‹ Topoi wie etwa der Zweifel am Wert des Ich, die Problematisierung von Werten und Normen in ihrer Selbstverständlichkeit sowie die Auseinandersetzung mit der Frage, wie das Leben zu le-
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ben ist, können Spezifizierungen leisten und notwendige Differenzierungen kenntlich machen, die verhindern, dass jede Modellierung oder ereignishafte Verbiegung der Biographie gleich als ein Zug im Bildungsprozess verbucht oder gar als ›Bildung‹ interpretiert wird.
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Lernen als Positionswechsel: Komparative Analysen als Perspektive der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung F LORIAN VON R OSENBERG
Als eine Perspektive für die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung können komparative Analysen gesehen werden (vgl. Nohl 2006; Rosenberg 2011, 2013). In komparativen Analysen können anders als bei der Einzelfallanalyse fallübergreifende Muster empirisch rekonstruiert werden. Durch die Kontrastierung von empirischen Gegenhorizonten sind komparative Analysen einerseits in der Lage, die kollektive Einbindung einer Biographie auf empirischem Wege zu analysieren, andererseits lassen sich aber auch durch prozessanalytische Typenbildungen unterschiedliche Phasenverläufe beispielsweise von Lern- und Bildungsprozessen differenzieren (vgl. Rosenberg 2012). In Bezug auf den Fall von Herrn Salman möchte ich beide Perspektiven in Anschlag bringen. Zunächst sollen durch den Verweis auf komparative Analysen kollektive Einbindungen des Falls beleuchtet werden (1. & 2.), um dann den Transformationsprozess von Herrn Salman zu rekonstruieren (3.) und ihn mit anderen Transformationsprozessen zu vergleichen. Mehr oder weniger überraschend stellt sich dabei der Transformationsprozess von Herrn Salman auf meinem Interpretationsweg nicht als Bildungs-, sondern als Lernprozess heraus, was kritische Rückfragen an die in der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung gebräuchliche Unterscheidung von Lernen und Bildung befördert (4.).
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1. D IE V ORGESCHICHTE DES L ERNPROZESSES : S PHÄRENDIFFERENZEN Hakan Salman ist zum Zeitpunkt des Interviews1 22 Jahre alt und lebt in einer norddeutschen Großstadt. Herrn Salmans Vater ist 1933 in der Türkei geboren und reiste in den 1960er Jahren nach Deutschland ein. Er arbeitete in einer Fabrik als Hilfsarbeiter. Herrn Salmans Mutter wurde 1942 ebenfalls in der Türkei geboren, kam jedoch erst in den 1980er Jahren nach Deutschland. Das Interview von Hakan Salman beginnt folgendermaßen (Z. 1–8): »I: Dann ja, erzähl mir dein (.) dein Lebensweg, dein Bildungsweg. H: Okay, äm geboren und aufgewachsen bin ich in norddeutsche Großstadt [mh] äm ich war sechs Jahre alt, da kam ich (2) kam ich in die erste Klasse (.), aber vorweg (.) Kindergartenbesuch [mh] äm mit zwei oder drei, so weit ich mich erinner, kam ich in Kindergarten, hier in norddeutsche Großstadt, und (3) ja, es waren (.) so weit ich mich (.) daran erinnere (.) war es ein sehr schönes Erlebnis. Sehr viele neue Freunde kennengelernt, die ich, bis jetzt, zu meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr immer noch kenne [mh] und sehen tue (.) Äm (2)«
Indem der Interviewer Herrn Salman zunächst nach seinem »Lebensweg« und dann darauf folgend nach seinem »Bildungsweg« fragt, bekommt das Interview eine erste Rahmung. Herr Salman wird nicht dazu aufgefordert, nach eigenem Gusto seine Biographie zu erzählen, sondern das Forschungsinteresse des »Bildungswegs« wird als Proposition vom Interviewer gesetzt, an der sich der Interviewte in der Folge abarbeitet. Die Erzählung beginnt Herr Salman mit Angaben zu seiner Geburt und seinem Geburtsort. Kurz nach diesen Angaben wird mit dem Eintritt in die sechste Klasse der Beginn seines ›Bildungsweges‹ geschildert. Im Verlauf des Interviews wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit den Bildungsinstitutionen Herrn Salman einerseits äußerst schwerfällt und andererseits er bei seinen Schwierigkeiten nur sehr wenig bis gar keine familiäre Unterstützung erfährt. Auch wenn Hakan Salman spontan und intuitiv den Bildungsweg als institutionellen Bildungsgang beschreibt, verweist er nachfolgend mit dem Zu-
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Das Interview wurde von Javier A. Carnicer geführt.
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satz »vorweg« auf den Kindergarten als ein »schönes Erlebnis«. Abseits der folgenden Anforderungen der schulischen Bildungsinstitution kann er im Kindergarten einen Rahmen mit seinen Freunden teilen. Vergleicht man Herrn Salmans Interview mit anderen Interviews aus zwei DFG-Projekten2 zu biographischen Lern- und Bildungsprozessen, sind seine Einlassungen zu den ersten Kontakten mit pädagogischen Institutionen keine Selbstverständlichkeit. In anderen Fällen wird der Kindergarten und das erste Zusammentreffen mit Gleichaltrigen, außerhalb des familiären Rahmens, oft als Zumutung erlebt, aus der sich Erfahrungen der sozialen Isolation und des Rückzugs ergeben können. Diese Vergleichshorizonte machen deutlich, und das zeigt sich auch an unterschiedlichen Stellen des Interviews von Herrn Salman, dass seine soziale Einbindung in der Schule auf der Ebene der Peers ihm zunächst keine Probleme bereitet. Hakan Salman findet innerhalb der pädagogischen Institutionen Freunde und Freundschaften, die teilweise über einen langen Zeitraum gepflegt werden und die er als befriedigend empfindet. Wenn der Bildungsgang als ein Weg zwischen den Polen des Akteurs, der pädagogischen Institutionen, der Familie und der Peergroups beschrieben werden kann, dann zeigen sich über das Interview hinweg aus Herrn Salmans Perspektive die Peergroups als der unproblematischste Faktor. Wie sich noch dokumentieren wird, findet sich in dem Erschließen einer neuen Peergroup sogar eine entscheidende Stellschraube für Herrn Salmans sozialen Aufstieg im Bildungssystem. Probleme ergeben sich jedoch an anderer Stelle. Der Eintritt in die pädagogischen Institutionen – dies wird in Herrn Salmans Interview sehr schnell deutlich – ist gebunden an die deutsche Sprache. Die Eingangspassage wird von Herrn Salman folgendermaßen weitergeführt (Z. 8-15): »Äm (2) wie ich die deutsche Sprache damals, äh, aufgenommen habe, weiß ich ehrlich gesagt nicht, also un- auf unbewusster Weise (.) mit zwei Sprachen aufgewachsen [mh] zu Hause Türkisch [mh] im Gespräch mit den Eltern (.) äm und in dem im Kindergarten (.) immer Deutsch gesprochen [mh] Äm aufgrund, dass ich noch eine
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Es handelt sich um die von Arnd-Michael Nohl geleiteten Projekte: »Bildung – Tradierung und Transformation zwischen Individualität und Kollektivität« (2008–2010) und »Lernorientierungen diesseits und jenseits des Bildungsprozesses: Der biographisch kontextuierte Aufbau von Wissen und Können« (2010–2012). Vgl. hierzu Nohl/Rosenberg/Thompson 2014.
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Schwester habe, habe ich aber zu Hause immer wieder (.) beide Sprachen benutzt. [mh] Was, glaube ich, ein gutes Training war für mich, [aha] also, ich hab es strikt getrennt, Mutter und Papa Türkisch, (.) [mh] Schwester Deutsch. (.) So (.) äm.«
Das Verfolgen seines ›Bildungsgangs‹ ist für Hakan Salman an die Sprache der Institution gebunden. Die Sprache, die in den pädagogischen Institutionen gesprochen wird, ist jedoch nicht die Sprache, die Herr Salman von seinen Eltern gelernt hat. An dieser wie an anderen Stellen des Interviews zeigt sich eine Sphärendifferenz zwischen der Sphäre der Eltern und der Sphäre der pädagogischen Institution. Zurückgreifend auf komparative Analysen von Arnd-Michael Nohl (2001) kann diese Sphärendifferenz als Migrationslagerung interpretiert werden. In seiner Dissertation »Migration und Differenzerfahrung« versucht Nohl (2001) im Rahmen eines DFGProjektes das Typische von Migrationserfahrungen zu rekonstruieren. Zu diesem Zweck verglich Nohl ›türkische Jugendliche‹ in einer Großstadt in Deutschland, deren Familien eingewandert waren, mit ›deutschen Jugendlichen‹ in Deutschland, deren Familien nicht eingewandert waren, und ›türkischen Jugendlichen‹ in einer Großstadt in der Türkei, deren Familien ebenfalls nicht eingewandert waren. In komparativen Analysen dokumentierte sich, dass es für die Jugendlichen, deren Familien einen Einwanderungshintergrund hatten, typisch war, zwischen zwei Sphären zu unterscheiden, die als different und unverbunden wahrgenommen wurden. Unterschieden wurde zwischen der inneren Sphäre, die Nohl als Familie kennzeichnete, und der äußeren Sphäre, welche er als die der gesellschaftlichen Institutionen charakterisierte. Nohl (2001: 249) führt aus: »In der Migrationslagerung erfahren die Jugendlichen ihre sozialen Beziehungen in mindestens zwei Bereichen als different beziehungsweise diskrepant: in der Gesellschaft mit ihren öffentlichen Institutionen und einheimischen Mitgliedern auf der einen und in der Herkunftsfamilie und bisweilen der Einwanderungscommunity auf der anderen Seite. Diese Differenzerfahrung ist nicht allein durch die unterschiedlichen Normalitätserwartungen gekennzeichnet. Noch tiefgreifender wird von den Jugendlichen die Diskrepanz der in beiden Sphären vorherrschenden Modi der Sozialität erlebt.«
Vor diesem Hintergrund zeigt sich eine Falldimension von Hakan Salman als typisch für eine Migrationslagerung. Die fehlende Erfahrung der Eltern
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mit den pädagogischen Institutionen im Einwanderungsland und eine geringe Sprachkompetenz lassen Herrn Salman die Sphäre der Eltern und die Sphäre der pädagogischen Institution als getrennt wahrnehmen. Die Sphärendifferenz zieht sich als Homologie durch unterschiedliche Stellen des Interviews von Herrn Salman, beispielsweise zeigt sie sich auch in seinen später folgenden Differenzierungen seiner Freundeskreise, wo er zwischen »deutschsprachigen« und »türkischsprachigen« Freunden unterscheidet, wobei er letztere auch als seine »Alltagsfreunde« bezeichnet. In der angeführten Passage dokumentiert sich aber nicht nur eine Sphärendifferenz, sondern auch, dass die ältere Schwester ein Bindeglied zwischen der Sphäre der Familie und der Sphäre der Bildungsinstitution darstellt. Die Schwester hat aufgrund ihres Alters schon Erfahrungen im Brückenschlagen zwischen beiden Sphären gesammelt. Erfahrungen, die Herrn Salman teilweise helfen, seinen ›Bildungsgang‹ zu bestreiten. Dennoch gestaltet sich Herrn Salmans Einstieg in die pädagogischen Institutionen – der Eingangspassage weiter folgend – als schwierig. Herr Salman erzählt weiter (Z. 16–24): »Irgendwann (.) sprich mit (.) sechs, (.) sechs / sieben das war (.) zweiundneunzig glaube ich, kam ich in die erste Klasse, (.) und (.) ja, da fing (.) mein größtes Problem an. [mh](.) Mein Problem bestand darin, (.) äm (2) den Schulstoff (.) sich selber aneignen [mh] ich (.) habe (.) ziemlich schwierige (.) Probleme gehabt, in der Schulzeit (.) äm sei es in der deutschen Sprache [mh] das war mein größtes Handicap, Mathe, Politik jeglicher Unterrichtsstoff ä alleine anzueignen [mh] bei einigen Sachen (.) hab ich natürlich meine ältere Schwester fragen können. [mh] Sie hat mir auch ä zur Seite gestanden, so weit sie konnte aber (.) äm (.) zu Mama rennen, zum Papa rennen, das ging natürlich nicht (.) äm zumal meine Mutter (.)«
Die Sphärendifferenz bereitet Herr Salman in der Schule Probleme. Bei der für seinen ›Bildungsgang‹ wichtigen deutschen Sprache fehlt ihm die elterliche Unterstützung, was er als sein »größtes Handicap« bezeichnet. Er ist auf sich allein gestellt bzw. muss seine Schwester fragen, die ihm aber nur bedingt weiter helfen kann, vielleicht auch, weil sie sich selbst um ihre Einbindung in die Schule bemühen muss. In den folgenden Passagen des Interviews wird deutlich, dass Herrn Salmans fehlende familiäre Unterstützung des ›Bildungsgangs‹ nicht nur aufgrund der Unvertrautheit der Eltern mit den deutschen Bildungsinstitutionen scheitert (seine Eltern sprechen kein Deutsch). Vielmehr schildert Herr Salman, wie die familiären Gewalt-
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verhältnisse – die maßgeblich durch den Vater strukturiert werden – seinen ›Bildungsgang‹ negativ überlagern, sodass er sich zunächst wenig auf die Schule fokussieren kann. Durch die Trennung der Mutter von dem Vater und eine Flucht ins »Frauenhaus« konsolidiert sich in der Folge die familiäre Situation von Herrn Salman und auch in der Schule beginnt er durch ein »kontinuierliches Arbeiten« erste Fortschritte zu machen. Im Laufe der Adoleszenz bleiben die schulischen Probleme jedoch virulent. Seine Lehrerinnen diagnostizieren Passungsschwierigkeiten zwischen Herrn Salman und den Anforderungen der pädagogischen Institution. Er führt hierzu aus (Z. 114– 117): »(2) also achte, neunte, zehnte Klasse (.) Es war für mich die (.) zweitschlimmste Zeit in meinem Leben [mh] (.) ä (3) zumal (3) meine damaligen Lehrer-rinnen mir gesagt haben gesagt hatten, dass ich da dass sie da nie so große Chancen sehen für die Zukunft [mh] (2) Ich war (2) eigentlich ein sehr Braver zu der Zeit [mh] also (.)«
Wie sich im Kontext der Passage zeigt, ist für Herrn Salman die Adoleszenz eine schwierige Zeit. Er spürt den Verlust seines Vaters, zu dem er nach der Trennung der Mutter nur noch wenig und dann gar keinen Kontakt mehr hat, bevor sein Vater dann verstirbt. Im Interviewverlauf beendet Herr Salman mit der Schilderung des väterlichen Todes die längeren Erklärungen darüber, warum er getrennt von bzw. ohne seinen Vater aufgewachsen ist. Auf die Erzählung seines ›Bildungsgangs‹ zurückkommend, spricht Herr Salman dann wieder schulische Probleme an. Ohne dies zu konkretisieren, gibt Herr Salman an, dass ihm seine Lehrerinnen keine großen Chancen für seine Zukunft in Aussicht stellten, was wohl heißt, dass sie ihm in der Schule keine höheren Bildungsabschlüsse zutrauten. In einer Eigentheorie führt Herr Salman seine schulischen Probleme auf das »Defizit, nicht gefördert zu werden« (Z. 119) zurück, womit er wieder auf die für ihn problematische Sphärendifferenz zwischen Familie und pädagogischer Institution verweist, die ihm schulische Erfolgserlebnisse erschwert. In einem ersten Zwischenfazit dokumentiert sich bei Herrn Salman von der Kindheit bis in die Adoleszenz eine Sphärendifferenz, die sich durch die Schilderung seines ›Bildungsgangs‹ zieht. Herr Salman erzählt dabei seinen ›Bildungsweg‹ als einen ›Bildungsgang‹ durch die pädagogischen Institutionen. Der ›Bildungsgang‹ scheint dabei abseits der Familie zu ver-
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laufen, insofern Herr Salman sich in der Schule wenig bis gar nicht von seiner Familie unterstützt fühlt. Neben der fehlenden elterlichen Unterstützung zeichnet sich im Interview jedoch noch ein zweiter Einflussfaktor ab, welcher einen schulischen Erfolg erschwert.
2. R EPRODUKTION
SOZIALER
S TRUKTURIERUNGEN
Neben der rekonstruierten Sphärendifferenz zwischen den Eltern und der Schule können, Bezug nehmend auf die Theorie der Praxis von Pierre Bourdieu, auch Schwierigkeiten im Passungsverhältnis zwischen Herrn Salmans Habitus und dem Feld der Schule angeführt werden. Ausschlaggebend hierfür sind u. a. die habituellen Dispositionen von Hakan Salman. Der Habitus stellt bekanntlich ein Generierungsprinzip für Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster bereit (vgl. Bourdieu 1993: 101). Entsprechend Bourdieus praxeologischer Ausrichtung funktioniert der Habitus routiniert und das bedeutet vor allem implizit. Er ist »zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte« (Bourdieu 1993: 105). Gleichzeitig ist der Habitus kein rein individuelles Gebilde, sondern ein Produkt der sozialen Verhältnisse und Strukturen, in denen er erworben wurde. Ein grundlegendes Prinzip des Habitus – das auf viele Vertreter und Vertreterinnen der Bildungstheorie lange Zeit abschreckend gewirkt hat – ist seine Persistenz. Der Träger eines Habitus scheint sich immer wieder Verhältnisse zu suchen, die seinen Entstehungsbedingungen ähneln, um sich so möglichst reibungslos reproduzieren zu können. Der in der primären Sozialisation angeeignete Habitus, zu dem im Fall Hakan Salman – vielleicht auch aufgrund des fehlenden allgemeinbiographischen Erzählstimulus – wenig gesagt werden kann, funktioniert im Feld der Schule – so viel wird im Interview deutlich – nicht reibungslos. Die Lehrerinnen, als Vertreterinnen und Hüterinnen des schulischen Feldes, prognostizieren Herrn Salman keinen schulischen Erfolg. Ihm wird nicht zugetraut, im Feld der Schule das Spiel der kulturellen und symbolischen Kapitalakkumulation3 erfolgreich zu gestalten.
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Bourdieu erweitert den von Marx geprägten Kapitalbegriff, indem er ihn neben der ökonomischen Sphäre auch auf andere Logiken des Sozialen bezieht. Ökonomisches Kapital bezieht sich auf die materiellen Güter und deren Verfü-
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Ohne dass dies ausführlicher geschildert wurde, ist im Interview von Herrn Salman zu vermuten, dass seine primären Prozesse der Habitualisierung sich eher in einem Herkunftsmilieu vollzogen, das als ›bildungsfern‹ beschrieben werden kann. Der Vater hat keinen oder nur einen sehr kurzen Schulbesuch absolvieren können. In den Angaben zum Interview wird angegeben, dass er nicht schreiben kann. Über die Schulbildung der Mutter finden sich keine Angaben. Sie arbeitet als Schneiderin und Reinigungskraft und spricht – wie sich den Angaben zum Interview entnehmen lässt – nach jahrzehntelangem Aufenthalt in Deutschland nur wenig Deutsch. Im Feld der Schule, in dem bekanntlich ein bürgerlicher Habitus von Vorteil ist (vgl. hierzu Bourdieu / Passeron 1971), scheint Herr Salman entsprechend schwierige Eingangsbedingungen vorzufinden, da seine Familie vor dem Hintergrund eines Migrationsprozesses und einer damit einhergehenden Sphärendifferenz sowie einer bildungsfernen Milieuzugehörigkeit nur bedingt mit den feinen Unterschieden des deutschen Bildungssystems vertraut ist. Wie schon angeführt, scheinen auch Herrn Salmans Lehrerinnen – ähnlich wie orthodoxe Interpreten Pierre Bourdieus – stärker von der Persistenz des Habitus überzeugt zu sein. Sie gehen davon aus, dass Herr Salman eher der Reproduktion eines ›bildungsfernen‹ als der Transformation zu einem ›bildungsnahen‹ Habitus zugeneigt ist. Begibt man sich auf Spurensuche, um die Annahmen der Lehrerinnen zu ergründen, wird man in den Ausführungen über Herrn Salmans erste Schulfreunde fündig. Herr Salman führt aus (Z. 126–130): »Man ordnen man ordnet sich automatisch [mh] irgendwie [ja] es ist unbewusst [mh] aber man ordnet sich der gleichsprachigen ä Person an[mh] und sitzt dann auch nebeneinander und klönt denn auch auf derselben Sprache [mh] (.) unternimmt denn
gungsgewalt. Kulturelles Kapital lässt sich unterscheiden in objektivierte Formen des kulturellen Kapitals wie Kunst, Bücher, Maschinen etc., in inkorporierte Formen des kulturellen Kapitals, wie beispielsweise verinnerlichte kulturelle Kompetenzen und institutionalisierte Formen des kulturellen Kapitals, etwa ein Bildungstitel. Symbolische Kapitalformen beziehen sich auf gesellschaftliche Anerkennungsprozesse, wohingegen soziale Kapitalformen als Ressourcen zu sehen sind, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe basieren.
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auch was mit den, und (.) dann bleibt einfach das andere auf der Strecke [mh, ja] sprich schultechnisch [mh] (4).«
Herr Salman beschreibt, wie er sich zunächst – in seinen Worten – »unbewusst« gleichsprachige Freunde sucht. In dieser Passage wird deutlich, dass er zu diesem Zeitpunkt die türkische Sprache als seine Sprache ansieht, insofern, wie der Kontext der Passage zeigt, er sich zunächst Peers sucht, mit denen er türkisch sprechen kann. Diese Passage lässt sich gut als ein Beleg für die durch die Suche nach der Reproduktion der Ausgangsbedingungen getragene Persistenz des Habitus interpretieren. Hakan Salman reproduziert seine habituellen Gewohnheiten, indem er sich Freunde sucht, die diesen Gewohnheiten entsprechen. Die Passungsschwierigkeiten in der Schule können so ein Stück weit verschoben werden, insofern die Schule durch die Peergroup zumindest teilweise eine andere Rahmung erhält. Um dies zu erläutern, möchte ich auf komparative Analysen, die ich in einer früheren Untersuchung an einer Berliner Hauptschule gemacht habe, zurückgreifen (vgl. Rosenberg 2008). In dieser Arbeit, in der es mir um die Rekonstruktion der kollektiven Verarbeitung von Erfahrungen in der Schule durch Peergroups ging, ließ ich die Schüler und Schülerinnen in Gruppendiskussionen über ihre Erfahrungen in der Schule erzählen. Dabei wurde in komparativen Analysen deutlich, dass die Schüler sehr genau zwischen sozialen Räumen, in denen die Regeln und Praktiken der Peergroup bestimmend sind, und sozialen Räumen, in denen die Praktiken des Unterrichts und die institutionellen Erwartungsansprüche der Schule im Vordergrund stehen, unterscheiden. Manche Schülergruppen orientierten sich im Raum der Schule stärker an den sozialen Rahmungen der Peergroup, wobei sie versuchten, die Räume der Institution zu unterlaufen oder gar zu konterkarieren (vgl. Rosenberg 2008: 85 ff.). Andere Schülergruppen versuchten die Rahmungen der Peergroup strikt von den Räumen der Institution zu trennen, um so den schulischen Erwartungshorizonten besser gerecht werden zu können (vgl. ebd.: 129 ff.). Das Transkript deutet darauf hin, dass Herr Salman in der Schule zunächst überwiegend in eine Peergroup integriert ist, welche die schulischen Anforderungen zu unterlaufen sucht. Wie er in Zeile 129 ff. ausführt, hat dies zur Konsequenz, dass die Schule »auf der Strecke« bleibt. An anderer Stelle berichtet Herr Salman von seiner damalige Peergroup (Z. 487–492):
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»Auf der anderen Seite meine türkischsprachigen Mitschüler damals (.) einer hat seine Hausaufgaben gemacht (.) und der zweite hat sie ab-abgeschrieben. [mh] (4) Oder im Gegensatz dazu Bücher [mh] wurden nie gelesen [mh] (2) Nur es wurde eine Buchrezension aus dem Internet ausgedruckt [mh] und fertig war das Ding. Also die Mühe, dieser Fleiß, der hat gefehlt.«
In Beschreibungen seiner damaligen Peergroup wählt Herr Salman Beispiele, in denen die schulischen Erwartungshaltungen unterlaufen werden. Die Hausaufgaben werden kopiert, die Bücher werden »nie« gelesen. Herrn Salmans Beschreibungen lassen auf eine Peergroup schließen, die eine Distanz gegenüber der Schule aufgebaut hat und die versucht die Schule möglichst ohne größere Anstrengungen zu absolvieren. Im Fall von Herrn Salman, der, wie rekonstruiert, keine – in soziologischen Anführungszeichen geschrieben – »natürliche Begabung« für das Feld der Schule aufweisen kann und dem eine elterliche Unterstützung fehlt, bedeutet diese kollektive Einbindung, dass es zunächst so aussieht, als würde er unter anderen Vorzeichen die schulische ›Bildungsferne‹ seiner Eltern reproduzieren. Bezogen auf die institutionellen Anforderungen geraten Herrn Salmans habituelle Dispositionen zwar in Passungsschwierigkeiten, jedoch ist er in eine Peergroup eingebunden, in der diese Passungsschwierigkeiten nicht sanktioniert, sondern eher unterstützt und damit legitimiert werden. Es ist zu vermuten, dass Herr Salman durch die Einbindung in seine Peergroup einerseits seine in der Familie angeeigneten habituellen Dispositionen reproduzieren kann und er andererseits in der Peergroup einen sozialen Raum findet, um schulische Misserfolge kollektiv verarbeiten zu können.
3. P OSITIONSWECHSEL : P ASSUNGSSCHWIERIG KEITEN UND I TERATIONEN ALS B EGINN EINES T RANSFORMATIONSPROZESSES Vor dem Hintergrund der bisherigen Analysen möchte ich nun zwei Punkte weiterverfolgen. Einerseits, wie sich Herrn Salmans Haltung gegenüber der Schule verändert (3.), und andererseits, wie man diese Veränderungen aus einer transformationstheoretischen Perspektive interpretieren kann (4.). Hierfür möchte ich wieder die bereits angesprochenen Passungsschwierigkeiten zwischen dem primären Habitus von Herrn Salman und dem schu-
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lischen Feld aufnehmen. Anders als in den vorherigen Ausführungen möchte ich die Passungsschwierigkeiten zwischen Habitus und Feld jedoch nicht mehr nur als Erklärungsansatz für die Reproduktion von sozialen Strukturen nutzen, sondern auch als Potenzial für Transformationsprozesse. Die Passungsschwierigkeiten in der Schule bieten Herrn Salman eine – wenn auch äußerst schwierige und ernste – Gelegenheit, seine habituellen Dispositionen zu verändern. Passungsschwierigkeiten zwischen Habitus und Feld stellen meines Erachtens eine – wenn nicht gar die entscheidende – Theoriefigur dar, die es erlaubt, Pierre Bourdieus Theorie der Praxis nicht nur bildungssoziologisch, sondern auch bildungstheoretisch weiterzulesen (vgl. hierzu auch Rieger-Ladich 2005; Koller 2009; Rosenberg 2011). Im Fall von Herrn Salman bilden die Passungsschwierigkeiten den Hintergrund für eine zumindest latent vorhandene Unzufriedenheit. In einer der schon angeführten Passagen verweist Herr Salman darauf, wie schwer es ihm fällt – wohl auch in der Positionierung gegenüber seiner Mutter –, in der Schule nicht erfolgreich zu sein, und wie schwierig es für ihn ist, als ihm seine Lehrerinnen offenbaren, in der Zukunft »keine großen Chancen« für ihn zu sehen. Die sich fortsetzenden Passungsschwierigkeiten bilden in diesem Sinne nicht nur einen Moment, in dem Herr Salman seine Zugehörigkeit zu einem bildungsfernen Milieu reproduziert, sondern auch einen Moment, in dem Potenziale für Veränderungen aufkommen. Diese Veränderungen werden in den Schilderungen von Herrn Salman durch eine Iteration eingeleitet. Iterationen möchte ich mit Butler (vgl. 1998: 208 ff.) als transformationstheoretische Ergänzung zu Bourdieus Habitusmodell verstehen. Butler knüpft bei dem Konzept der Iteration an die Arbeit von Jacques Derrida an. Ausgangspunkt ist der Gedanke, dass der Habitus, um sich selbst zu reproduzieren, seinen eigenen modus operandi regelmäßig wiederholen muss. Wiederholt sich ein Habitus demnach nicht, kann er seine Funktion nicht aufrechterhalten. Gerade in dem durch eine Prozessstruktur angelegten Zwang der Wiederholung liegt nach Butler und Derrida nun auch die Möglichkeit der Abweichung, der fehlerhaften Aufführung und damit auch die Möglichkeit der Veränderung und Transformation (vgl. hierzu auch Rosenberg 2011; Rose 2012). Durchaus auf den Habitus übertragbar ist der Prozess des ›Werdens‹ nach Butler (2001: 33 f.) »keine einfache Sache, sondern eine ruhelose Praxis der Wiederholung mit all ihren Risiken, etwas, das sein muss, aber nicht abgeschlossen ist und am Horizont des gesell-
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schaftlichen Seins schwankt«. In der folgenden Passage dokumentiert sich, wie sich bezogen auf Herrn Salmans habituelle Dispositionen durch die Initiative einer Lehrerin eine Iteration ergibt (Z. 134–142): »H: Frau Kallenbach [mh] in dem Fall, es ist jetzt die Schulleiterin [mh] meiner ehemaligen Schule (.) äm die hat mit mir mal dar darüber gesprochen dass (2) in einem Schülergespräch da hat sie mir erzählt Hakan ich sehe sehr viel Potenzial in dir [mh] (3) äm (2) versuch doch mal einige Dinge/Gleichzeitig mit »Dinge«: ein sanftes klopfen mit den Fingern auf dem Tisch/in deinem Leben zu ändern/Gleichzeitig mit »ändern«: Zwei mal sanftes Klopfen mit den Fingern auf dem Tisch/ [mh] (2) fang doch erst mal an mit einer Sitz anderen Sitzordnung. [mh] Ich habe mir gedacht wa was (.) kann (.) sich für mich verändern, wenn ich (.) neben (.) jemanden anderen sitze? [mh] Und damit fing es an: sehr viel [ok] (.) ich saß neben.«
Die Lehrerin Frau Kallenbach bildet aus Herrn Salmans Perspektive einen Gegenhorizont zu den Lehrerinnen, die Herrn Salman wenige Chancen in der Schule eingeräumt haben. Dass eine Lehrerin in ihm Potenzial vermutet und ihm etwas zutraut, scheint Herrn Salman zu motivieren, sich auf Veränderungen einzulassen. Obwohl er nicht weiß warum, setzt sich Herr Salman auf Initiative der Lehrerin neben einen anderen Mitschüler. Der Einsatz des Transformationsprozesses geht in diesem Sinne nicht von Herrn Salman aus, vielmehr lässt sich dieser ein Stück weit erprobend auf den Rat der Lehrerin ein, ohne genau abzusehen, was dabei herauskommt. Rückblickend sieht Herr Salman den Platzwechsel als den Beginn einer neuen Haltung gegenüber der Schule. Es folgen Iterationen, in denen der Habitus sich nicht wie gewöhnlich reproduziert, sondern in denen sich Abweichungen, Veränderungen, vielleicht Fehler anzeigen, was zur Folge hat, dass sich neue habituelle Dispositionen ausbilden können. Auf Pierre Bourdieu zurückgreifend, könnte man den Platzwechsel von Herrn Salman auch als den Beginn eines sozialen Positionierungswechsel im Feld der Schule beschreiben, der einen Transformationsprozess auslöst. Herr Salman beschreibt die Umstände für seinen Platzwechsel folgendermaßen (Z. 142–150): »ich saß neben Robert Lange ich vergesse es nicht. [mh] Robert Lange (.) studiert zur Zeit, der (.) ok, nicht so viel von anderen erzählen, aber deren Eltern waren (.) ä sind es immer noch Lehrer, einer (.) der Vater ist Professor (.) [mh] und die Mutter
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ist (.) Ärztin [mh] (3) So und durch das alleinige Umsetzen [mh] (.) in der siebten Kl (3) a-acht(.) achte Klasse, [mh] ich (.) weiß nicht mehr welcher Zeitraum das war (.) äm allein (.) durch das Umsetzen (.) hat sich meine Aufmerksamkeit im Unterricht (.) meine (.) mein Denken, meine (3) meine komplette Einstellung gegenüber Schule (2) verändert.«
Die Passage zeigt, dass es sich beim Umsetzen nicht nur um einen Platz-, sondern auch um einen Positionswechsel im Feld der Schule handelt. Der neue Sitznachbar stellt bezüglich seiner Bildungsmilieuzugehörigkeit einen Gegenhorizont zu Herrn Salman dar. Sein Vater ist Professor, seine Mutter Ärztin. Bei der ersten Beschreibung von Robert Lange, bei der er die Berufe der Eltern hervorhebt, scheint Herr Salman auch ohne bildungssoziologisches Studium zu wissen, was entscheidende Variablen für schulischen Erfolg sind. Herr Salman gibt an, dass sich sein »Denken« und seine »komplette Einstellung« gegenüber der Schule – sein Schülerhabitus – verändert hat. Das Interview gibt an wenigen Stellen genaueren Einblick in die Prozessstruktur dieses Veränderungsprozesses. An anderer Stelle beschreibt Herr Salman weiter (Z. 150–155): »ich hab gesehen, dass (.) der nebensitzende Mensch es beherrscht [mh] und habe mich immer gefragt, warum kannst du es nicht auch? [mh] (4) Es war ein Ansporn, [mh] (.) genau so gut zu werden (2) trotz meine Defizite [mh] und das habe ich auch geschafft. [okay] Der Freund, der neben mir saß (.) ich danke ihm immer noch (.) sei es Gruppenarbeiten, sei es für Klausuren lernen, Referate (2) ich (.) eine Ausgrenzung gab es nicht.«
Rückblickend bezeichnet Hakan Salman seinen zunächst neuen Sitznachbar Robert Lange als »Freund«. Wie im Kontext des Interviews deutlich wird, findet Herr Salman nach seinem Platzwechsel einen Anschluss an eine für ihn neue Peergroup. In den Ausführungen von Herrn Salman finden sich keine Anzeichen von Distanzierungen und Abwertungen gegenüber dem für ihn andersartigen Bildungsmilieu, vielmehr scheint Herr Salman in diesem eine Motivationsquelle zu finden, seine Bezüge gegenüber der Schule zu verändern. Herr Salman beschreibt seinen Sitznachbarn in der angeführten Passage als »Menschen«. Er führt damit eine anthropologische Beschreibung ein, die, abseits der bildungssoziologischen Unterschiede, eine Gemeinsamkeit darstellt. In der Interviewpassage deutet sich an, dass der
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Kontakt zu Robert Lange bei Herrn Salman Prozesse des Fragens auslöst: Warum soll er nicht auch können, was sein ›menschlicher Nachbar‹ leistet? Herr Salman beginnt so, durch sich anbahnende freundschaftliche Beziehungen zu Repräsentanten eines anderen Bildungsmilieus, seine eigenen habituellen Dispositionen zu kontrastieren und damit einen Transformationsprozess einzuleiten. In den wenigen konkreteren Einlassungen von Herrn Salman bezüglich des Verlaufs seines Transformationsprozesses wird deutlich, dass es sich bei der Veränderung der habituellen Dispositionen weniger um einen reflexiven, als mehr um einen performativen Prozess handelt. Herr Salman führt zu den für ihn zu diesem Zeitpunkt neuen Kontakten aus (Z. 156–163): »echt alles gemeinsam gemacht, [mh] Referate (.) und dann hieß es Hakan Hakan Hakan ich möchte gerne mit dir ein Referat machen, wollen wir? [mh] (2) Warum? Weil ich es auf einmal beherrscht habe [mh] (2) aber aufgrund (.) deren Mithilfe habe ich mich hoch gerappelt, hochgezogen (4) das war das (.) bed-deutendste (4) das war das bedeutendste daran, dass ich mich (.) so verändert habe, [mh] also in die gute Richtung würde ich mal sagen [mh] würde ich immer noch neben ein türkischsprachigen Schülern sitzen, wäre ich glaube ich nie so weit gekommen.«
In der Passage dokumentiert sich, dass Herr Salman sich um eine neue kollektive Einbindung bemüht. Er verbringt Zeit mit der neuen Peergroup und teilt ihre primäre Orientierung an den institutionellen Erwartungshaltungen der Schule. Der Transformationsprozess bei Herrn Salman wird hier vor allem durch ein Mitmachen initiiert. In dieser Passage verweist Herr Salman selbst auf die kollektive Einbindung, wenn er festhält, dass er es durch »deren Mithilfe« geschafft hat, »sich hochzurappeln«. Die für ihn neue Peergroup gibt ihm Möglichkeiten, erfolgreiches schulisches Handeln einzuüben. Ein Stück weit installiert Herr Salman durch die Unterstützung einer neuen kollektiven Einbindung ein Trainingsprogramm, das ihn seine habituellen Dispositionen wandeln lässt. Auch in anderen Passagen, etwa wenn er davon erzählt, wie er versucht, alles genauso wie sein Mitschüler Robert Lange zu machen (vgl. Z. 1038 ff.), zeichnet sich ab, dass hier durch Wiederholungen ein längerfristiger Prozess des teilweise mimetischen Übens und Lernens eingeleitet wird. Mit mimetischem Lernen ist ein Prozess des Übens gemeint, in dem Herr Salman performativ die Praktiken eines neuen Bildungsmilieus aufführt, wobei er sich diese durch ein sich
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wiederholendes Aufführen gleichzeitig aneignet.4 Christoph Wulf schreibt hierzu (2007: 91): »Mimetisches Lernen bezeichnet nicht bloßes Imitieren oder Kopieren, sondern einen Prozess, in dem in der mimetischen Bezugnahme auf andere Menschen und Welten eine Erweiterung der Weltsicht, des Handelns und Verhaltens erfolgt.«
Herr Salman übt sich mimetisch in eine neue kollektive Ordnung, in diesem Fall in ein neues Bildungsmilieu, ein. Ich lese diese hier vorgenommene Einübung in ein neues Bildungsmilieu und den damit verbundenen Positionswechsel als Transformationsprozess, in dem es zu einer Neustrukturierung seines Schülerhabitus kommt, jedoch nicht zu einer Reinterpretation der eigenen Selbst- und Weltverhältnisse. In anderen Punkten des Interviews von Hakan Salman wird jedoch auch deutlich, dass der eingeleitete Übungsprozess des Anderswerdens nicht nur auf positive Reaktionen stößt. Über seine damaligen türkischsprachigen Freunde sagt er an anderer Stelle (Z. 496–503): »okay] (3) Ich wurde (3) nach ner Zeit lang ausgegrenzt, von den türkischsprachigen Mitschülern [aha] es wurde gesagt, ja du hängst ja nur noch mit den (.) ä ich möchte jetzt nicht öffentlich sagen mit den deutschen (.) I: Sag doch/lacht/ H.: Nein es (.) es ist mir unangenehm [okay] aber (2) äm wir haben doch denn hieß es wir haben noch so viel unternommen [mh] wir haben so viel gemeinsam wir haben so viel gemacht, warum nicht mehr? Hey, habe ich gesagt, es geht um meine Zukunft! [mm] (2) Ich muss da was dafür tun (.) um erfolgreich zu sein [mh]«
In der Passage wird ersichtlich, dass es – zumindest temporär – zu Distanzierungsprozessen von Herr Salman gegenüber seiner vorherigen Peergroup und umgekehrt kommt. Herr Salman unternimmt nicht mehr so viel mit seinen bisherigen Freunden, während er mehr Zeit mit seinen Freunden innerhalb des für ihn neuen Bildungsmilieus verbringt. Die Mitglieder der bisherigen Peergroup finden Herrn Salmans Einlassungen auf die »Deutschen« bedenklich. Sie rekurrieren auf die Gemeinsamkeiten und damit implizit auf die Unterschiede zu der neuen Peergroup. Herr Salman scheint
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Vgl. zum mimetischen Handeln Gebauer / Wulf 1998.
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sich zu diesem Zeitpunkt jedoch weniger für die Gemeinsamkeiten zu interessieren; wichtig ist für ihn gerade das Andersartige, Unterschiedliche, welches aus seiner Perspektive einen Erfolg im Feld der Schule in Aussicht stellt. Die Entscheidung für eine neue kollektive Einbindung wird von Herrn Salman zu einem Entschluss, sich für seine eigene Zukunft einsetzen zu wollen, stilisiert. Er muss »was dafür tun, um erfolgreich zu sein.« Er will sich aus dem (Bildungs-)Milieu, in dem seine bisherigen habituellen Dispositionen umstandslos Anschluss gefunden haben, herausbewegen, um sich selbst verändern zu können. In dem Fall von Herrn Salman zeigt sich an dieser Stelle, wie Transformationsprozesse in ein Wechselspiel zwischen Distinktion und Konjunktion eingebunden sein können.
4. L ERN - ODER B ILDUNGSPROZESS ? P ROZESSANALYTISCHE T YPENBILDUNG In dem Fall von Herrn Salman konnte eine Sphärendifferenz zwischen Eltern und Schule, folgende habituelle Reproduktionsprozesse in der Peergroup und ein Transformationsprozess des Schülerhabitus rekonstruiert werden. Abschließend möchte ich nun den Fall von Hakan Salman aus der Perspektive einer prozessanalytischen Typenbildung verfolgen (vgl. hierzu Rosenberg 2012). Anders als bei der sinn- und soziogenetischen Typenbildung (vgl. Bohnsack 2003: 150 ff.) schlage ich vor, bei der prozessanalytischen Typenbildung nicht nur unterschiedliche modi operandi von Habitusformen zu vergleichen, sondern komparative Analysen von Prozessen wie beispielsweise der Konstitution, Tradierung und Transformation vorzunehmen. Folgt man der in der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung gebräuchlichen Unterscheidung, wonach Lernen einen Wissenszuwachs innerhalb eines Orientierungsrahmens darstellt, während Bildung sich auf die Transformation eines Orientierungsrahmens bezieht, scheint es zunächst so, als würde sich im Fall von Herrn Salman ein Bildungsprozess andeuten. Vor dem Hintergrund einer prozessanalytischen Typenbildung, in der ich von den vierzig Fällen aus meiner Dissertation und den DFGProjekten ausgehe, ergibt sich jedoch eine andere Interpretation. In meiner Dissertation unterscheide ich zwei unterschiedliche Formen von transformativen Bildungsprozessen, die ich als Habituswandlungen und
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als Habitustransformationen gekennzeichnet habe (vgl. Rosenberg 2011: 285 ff.). Bei den Bildungsprozessen, die ich als Habituswandlungen gekennzeichnet habe, kommt es zu der Transformation einer Habitusdimension und damit in meinem Verständnis zu der Transformation eines Selbstund Weltverhältnisses. Eine zweite Form von Bildungsprozessen habe ich als Habitustransformationen rekonstruiert. Bei den Habitustransformationen vollzieht sich nicht nur die Transformation einer Habitusdimension, sondern es kommt zu der Transformation einer grundlegenden Relation von unterschiedlichen Habitusdimensionen. Bei diesen Bildungsprozessen transformieren sich damit mehrere Selbst- und Weltverhältnisse, wodurch der Habitus weniger als ein monolithischer Block, denn vielmehr als ein mehrdimensionales Gebilde mit unterschiedlichen Habitusdimensionen verstanden wird. Der Habitus wird nicht auf ein Prinzip reduziert, sondern er generiert sich mehrdimensional, wobei – und hier könnte man beispielsweise Überlegungen von Hans-Christoph Koller (1999) oder Andreas Reckwitz (2006) miteinbeziehen – davon auszugehen ist, dass ein mehrdimensionales Habitusgebilde durchaus agonal, hybrid und widerstreitend organisiert sein kann. Es läge nun nahe, den Fall von Herrn Salman als Bildungsprozess im Sinne einer Habituswandlung zu beschreiben. Vergleicht man den Fall von Herrn Salman mit Bildungsprozessen, in denen es zu Habituswandlungen kommt, sticht jedoch – wenn auch nicht auf den ersten Blick – eine entscheidende Differenz heraus. In Herrn Salmans Biographie kommt es – anders als bei den Fällen der Habituswandlung – nicht zu einer Reinterpretation der eigenen Geschichte. Von diesem sich auch in anderen Fällen zeigenden Unterschied ausgehend, möchte ich eine Kritik an der in der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung gebräuchlichen Differenzierung zwischen Lernen und Bildung andeuten und eine Reformulierung vorschlagen (hierzu ausführlicher: Rosenberg 2013). Winfried Marotzki (1990: 52) – auf dessen Arbeit bei der Unterscheidung von Lernen und Bildung gerne rekurriert wird – führt aus: »Jedem Lernprozess liegt ein Rahmen zugrunde, der als Kon-Text den Text definiert. Das bedeutet, dass die Art und Weise des Lernens durch einen solchen Rahmen festgelegt wird. Lernen innerhalb eines Rahmens hat akkumulierende Funktion: es vermehrt in quantitativer Weise das Wissen.«
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Problematisch bei dem hier eingeführten Lernbegriff ist meinem Eindruck nach, dass Lernen hier auf einen quantitativen Wissenszuwachs reduziert wird. Mit Käte Meyer-Drawe (1982: 34) ließe sich jedoch dagegen halten, dass der »Prozess des Lernens […] keiner der Integration von Wissensbestandteilen in eine vorgegebene Sinnmatrix [ist; F.v.R.], wobei sich weder das Wissen noch die Matrix ändern.« Der systematische Unterschied zwischen den Lernbegriffen von Marotzki und Meyer-Drawe liegt in der Konzeptionalisierung des Rahmenbegriffs. Während Marotzki von einer Wissensakkumulation ausgeht, in welcher der Rahmen untangiert bleibt, geht Meyer-Drawe davon aus, dass eine Veränderung des Wissens auch mit einer Veränderung des Rahmens einhergehen kann. Während Marotzki bei Lernprozessen ein zu starres Rahmenkonzept verfolgt, verschwimmt bei Meyer-Drawe eine Differenzierung von Lernen und Bildung. Auf der Suche nach einem Lernbegriff, der sich einerseits nicht auf einen quantitativen Wissenszuwachs beschränken lässt, der sich jedoch andererseits auch von dem Bildungsbegriff unterscheiden lässt, gibt der Fall von Herrn Salman meinem Eindruck nach produktive Anhaltspunkte. Einerseits zeigt der Fall von Herrn Salman einen Lernprozess, indem sich transformative Rahmenveränderungen anzeigen, anderseits lässt sich dieser Lernprozess jedoch auch von Bildungsprozessen abgrenzen, insofern hier eine für mein Verständnis von Bildungsprozessen zentrale Reinterpretation der eigenen Geschichte ausbleibt. Der Vergleich des Lernprozesses von Herrn Salman mit anderen Lern- und Bildungsprozessen kann damit andeuten, welche Potenziale komparative Analysen unterschiedlicher Art für empirisch fundierte Lern- und Bildungstheorien bereit halten.
L ITERATUR Bohnsack, Ralf (2003): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. Opladen: Leske + Budrich. Bourdieu, Pierre (1993): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Wissenspfade in der Biographie von Hakan Salman A RND -M ICHAEL N OHL
Empirische Forschung lässt sich nicht durch die Lektüre von Lehrbüchern, sondern erst in der Praxis erlernen. Hierbei können Bände wie der vorliegende eine große Hilfe sein, geben sie den Leser/innen doch Einblicke in die Interpretationspraxis unterschiedlicher Forscher/innen. Gerade weil ein einziges narratives Interview im Zentrum der Analyse steht, lassen sich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Interpretationsansätzen besonders gut erkennen (so auch schon in Kokemohr / Marotzki 1989, Kokemohr / Koller 1994, Wigger / Equit 2010). Dies setzt allerdings voraus, dass allen in solch einem Publikationsprojekt vertretenen Ansätzen der Bezug auf einen einzelnen Fall, der zu interpretieren ist, gemeinsam ist, können sich doch nur vor dem Hintergrund einer solchen Gemeinsamkeit auch Kontraste im methodologischen und forschungspraktischen Zugang abzeichnen. Nun gibt es in der qualitativen Bildungs- und Sozialforschung tatsächlich eine Reihe von Interpretationsverfahren, die den Einzelfall (meist, aber nicht nur, ein narratives Interview) in den Fokus rücken: die objektive Hermeneutik (Oevermann 2000), die Narrationsstrukturanalyse (Schütze 1983) wie auch der Ansatz von Rosenthal (2011). Gleichwohl wird in keinem dieser Interpretationsverfahren bestritten, dass, um die Signifikanz eines Einzelfalls, d. h. die spezifische Art und Weise, in der er strukturiert ist, herausarbeiten zu können, immer auch der Bezug zu anderen Fallstrukturierungen notwendig ist. Dieser Bezug bleibt am Anfang der jeweiligen Forschungsarbeiten jedoch weitge-
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hend implizit oder manifestiert sich in gedankenexperimentellen – nicht: empirischen – Vergleichshorizonten. Erst später – nach der Analyse des ersten Einzelfalles – wird die Datenbasis um weitere Fälle erweitert und eine dezidierte komparative Analyse angefertigt (siehe hierzu kritisch: Nohl 2013: 15í41). Auf diese Weise ist es in den genannten Ansätzen möglich, die eigene Vorgehensweise anhand der Analyse eines Einzelfalls prägnant darzustellen. In der dokumentarischen Methode, der ich in meinen Auswertungen folge, wird hingegen bereits zu Beginn dem vergleichenden Charakter allen Interpretierens in der methodischen Vorgehensweise empirisch Rechnung getragen. In einem ersten Auswertungsschritt – der formulierenden Interpretation – »muß [man; AMN] zunächst das Thema ausformulieren« (Bohnsack 1983: 165), wobei hier nach Möglichkeit die vorliegenden Texte (etwa aus zwei narrativen Interviews) in die eigenen, zusammenfassenden Worte des Interpreten überführt werden. In der »reflektierenden Interpretation« (ebd.: 167) muss man dann »die je spezifische Abarbeitung des Themas in ihrer Selektivität deutlich werden lassen – vor einem Gegenhorizont von Alternativen« (ebd.: 165). Hierzu sollte man »Passagen desselben thematischen Gehalts miteinander vergleichen und möglicherweise kontrastieren hinsichtlich der Form, in der das Thema […] abgearbeitet wird« (ebd.: 167). Ralf Bohnsack, der Entwickler der dokumentarischen Methode, aus dessen erster diesbezüglicher Arbeit ich hier zitiere, knüpft hierbei an die Grounded Theory von Glaser / Strauss und deren »constant comparative method« (1969: 101) an. Durchaus im Unterschied zu letzteren geht es ihm aber um die »Rekonstruktion und Explikation des Rahmens, innerhalb dessen das Thema abgehandelt wird«, d. h. der »Art und Weise, wie, d. h. mit Bezug auf welches Orientierungsmuster, welchen Orientierungsrahmen das Thema behandelt wird« (Bohnsack 2010: 135).1
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Auch wenn in der weiter oben zitierten Dissertation von Bohnsack die dokumentarische Methode in ihren Grundzügen (hinsichtlich der formulierenden und reflektierenden Interpretation) bereits ausgearbeitet ist, unterscheidet sie sich doch deutlich von der ausgereiften Form, die sie in der »Rekonstruktiven Sozialforschung« (Bohnsack 2010) erhalten hat. Nicht unerheblich trägt dazu bei, dass Bohnsack 1983 die dokumentarische Methode noch nicht an das grundlagentheoretische Werk Karl Mannheims eingebunden – und damit auf die Analyse
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Aus den genannten Gründen ist es nicht möglich, den spezifischen Zugang der dokumentarischen Methode zum empirischen Material anhand der Analyse eines Einzelfalls deutlich zu machen.2 Denn die Vergleichshorizonte, die in jeder Interpretation benötigt werden (selbst wenn sie, wie bei den o. g. Verfahren, implizit bleiben), müssen hier empirisch begründet sein, um eine valide Interpretation zu ermöglichen, die sich nicht weitgehend auf die impliziten Vergleichshorizonte – und damit die »Standortgebundenheit« (Mannheim 1985: 227) des Interpreten – verlässt. Dabei dienen diese empirischen Vergleichshorizonte (also: weitere empirische Fälle) nicht nur der methodischen Kontrolle der Interpretation, sondern erleichtern auch die Entwicklung von Interpretationsideen und sind eine zentrale Voraussetzung für die Typenbildung (vgl. hierzu Nohl 2012: 44 ff.). Anstatt also den methodologischen und forschungspraktischen Zugang der dokumentarischen Methode zu dem in diesem Band verhandelten narrativen Interview mit Hakan Salman herauszuarbeiten, möchte ich einen anderen Aspekt beleuchten, der ebenfalls die Interpretation empirischen Materials strukturiert und auf diese Weise Differenzen zwischen unterschiedlichen Ansätzen erzeugt: Die »rekonstruktiven Verfahren« – gemeint sind hier u. a. die o. g. Ansätze – »haben ihre methodologische Präzision vor allem dort gewonnen, wo sie […] Grundbegriffe auf einer formalen oder meta-theoretischen Ebene zu definieren vermochten« (Bohnsack 2010: 205). Im Unterschied zu gegenstandsbezogenen Theorien, die erst aus der empirischen Rekonstruktion heraus entwickelt werden sollen, greifen Grundlagentheorien der empirischen Forschung nicht voraus, sondern »stellen begriffliche Mittel zur Verfügung, mit deren Hilfe [empirisch gegründete; AMN] Gegenstandstheorien überhaupt erst konstituiert werden können« (Dörner / Schäffer 2012: 16; vgl. auch Bohnsack 2005: 70 f.). In diesem Aufsatz möchte ich eine neue grundlagentheoretische Kategorie – diejenige des »Wissenspfades« – einführen und in der Interpretation der Biographie Hakan Salmans zur Geltung bringen. Hierzu werde ich zunächst einige Überlegungen zur Bedeutung von Grundbegriffen für die rekonstruktive Sozialforschung anstellen, um dann den Begriff des Wissens-
kollektiver Erfahrungen und Orientierungen fokussiert – hatte (siehe hierzu Nohl et al. 2013). 2
Für eine luzide Darstellung der vergleichenden Interpretationspraxis der dokumentarischen Methode siehe Bohnsack 2010: 31 ff.
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pfades zu erläutern. Sodann werde ich das narrative Interview Salmans mit einer besonderen Aufmerksamkeit für diesen Grundbegriff interpretieren, wobei ich zumindest in Ansätzen empirische Vergleichsmöglichkeiten und damit den spezifischen Weg der dokumentarischen Methode deutlich machen werde. Schließlich werde ich mit einigen Anmerkungen zum reflexiven Verhältnis zwischen Grundlagentheorien und empirischer Forschung zu enden.
Z UR B EDEUTUNG GRUNDLAGENTHEORETISCHER B EGRIFFE FÜR DIE EMPIRISCHE F ORSCHUNG In einer seiner zentralen methodologischen Schriften fragt Aaron V. Cicourel, wie es den Forschenden möglich ist, innerhalb einer empirischen Untersuchung Kategorien zu entwickeln, und schreibt hierzu: »Idealiter erfordert […] die Kategorisierung sozialer Phänomene die Entwicklung einer allgemeinen sozialen Theorie« (1974: 35). Cicourel begründet diese These unter Verweis auf Alfred Schütz’ Begriff des »common sense knowledge« (Schütz 1953). In der empirischen Forschung wäre es problematisch, das Alltagswissen der Erforschten zu interpretieren, indem man auf die Alltagskategorien der Forschenden zurückgreift, da in diesem Fall die Lebenswelten der Erforschten und der Forschenden auf untrennbare Weise miteinander verschmelzen würden. Daher benötigt »der wissenschaftliche Beobachter eine Theorie […], die ein Modell des Handelnden bietet, der an einer Objektwelt mit Common-sense-Merkmalen orientiert ist. Der Beobachter muß unterscheiden zwischen den wissenschaftlichen Rationalitäten, die er zur Bestimmung seiner Theorie und seiner Ergebnisse benutzt, und den Rationalitäten des Common-sense, die er den untersuchten Handelnden beimißt.« (Cicourel 1974: 94) Eine solche grundlegende Theorie des Handelns (wie auch des Sozialen) ist m. E. den meisten empirischen Untersuchungen (allerdings mehr oder weniger explizit) unterlegt. Innerhalb der dokumentarischen Methode – wie letztlich auch für andere Verfahren – ist zum Beispiel die grundlagentheoretische Unterscheidung zwischen »implizitem« und explizitem Wissen fundamental. In Polanyis (1985) Definition bezeichnet das »implizite Wissen« jenen amorphen Teil des Wissens, der den Hintergrund allen expliziten Wissens bildet. Polanyi bezieht sich selbst auf Ryles (1946) Unterscheidung von »knowing that«
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und »knowing how« und schreibt, dass »wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen« (Polanyi 1985: 14). Karl Mannheim, auf dessen Werk die dokumentarische Methode gründet, bezeichnet das implizite als »atheoretisches« Wissen (1980: 73), das in Gemeinsamkeiten der Erlebnisschichtung eingebettet ist. Diese homologen Erfahrungen (wie etwa jene, als Wissenschaftler/innen Bücher zu schreiben oder als Arbeiter/innen am Fließband zu stehen) verbinden die Menschen, die diese Erfahrung teilen, miteinander. Insofern sind diese Menschen (seien es Wissenschaftler/innen oder Arbeiter/innen) einem spezifischen »konjunktiven Erfahrungsraum« (ebd.: 220) zugehörig, selbst wenn sie einander nicht persönlich kennen. Derartige grundlagentheoretische Unterscheidungen werden in der rekonstruktiven Sozialforschung bisweilen als »Metatheorie«, »formale Theorie« oder »Grundlagentheorie« bezeichnet. Ich möchte an dieser Stelle dafür plädieren, eher von Grundbegriffen zu sprechen. Erstens werden keine kompletten Theorien benötigt, um die empirische Forschung zu strukturieren, sondern lediglich zentrale Begriffe. Zudem implizieren Grundlagentheorien oftmals bereits Annahmen, die auch einen gegenstandstheoretischen Gehalt haben. So ist etwa Bourdieus Habitusbegriff eng mit seiner Kultursoziologie sozialer Ungleichheit verknüpft. Daher ist es ausreichend und hilfreicher, Grundbegriffe aus den ihnen zugrunde liegenden Theorien herauszuschälen. Zweitens kann der Begriff der formalen Kategorie im Kontext von Untersuchungen, die sich (auch) an der Grounded Theory orientieren, leicht missverstanden werden. Glaser und Strauss plädieren ja dafür, mit qualitativer Forschung sowohl gegenstandsbezogene (»substantive«) als auch »formale« Theorien (1969: 33) zu bilden. Auch wenn es hier Überlappungen gibt, stammen die formalen Theorien bei Glaser und Strauss doch aus der Interpretation empirischer Daten, während Grundbegriffe aus dem stammen, was Biesta et al. (2011) als »autonomes Theoretisieren« bezeichnen. Drittens wird »Meta-Theorie« in den Sozialwissenschaften meist als das Produkt einer theoretischen Reflexion unterschiedlicher Theorien verstanden (vgl. Ritzer 1990). Demgegenüber werden Grundbegriffe eher nicht aus der Meta-Reflexion unterschiedlicher Theorien gewonnen, sondern sind in spezifischen Philosophien, Handlungs- oder Sozialtheorien verankert. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Begriff des Wissenspfades, den ich nun diskutieren möchte.
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»Biographien sind in hohem Maße pfadabhängig, sodass man statt vom Lebensweg genauso gut vom Lebenspfad sprechen könnte. Einmal getroffene Entscheidungen beeinflussen die zukünftigen Ereignisse. […] Durch die Pfadabhängigkeit der Biographie nimmt die Bedeutung von Entscheidungen für den, der sie zu fällen hat, zu. Dies gilt für vergangene Entscheidungen, aber insbesondere auch für aktuelle, denn das Jetzt wird als Vergangenheit der gegenwärtigen Zukunft relevant werden. Vorab ist allerdings zumeist unklar, wie bedeutsam Entscheidungen tatsächlich sind. Manche vermeintliche Lebensentscheidung wird nach kurzer Zeit ›revidiert‹ oder bedeutungslos und manche leichthin gefällte Entscheidung stellt sich im Nachhinein als Weichenstellung heraus.«
Mit diesen Worten erläutert Jürgen Beyer (2006: 9), warum seine Habilitationsschrift weniger eine Weichenstellung in seinem Leben, denn die Fortsetzung eines schon mit dem Studium und der Promotion eingeschlagenen Pfades darstellt. Dieser Begriff des Pfades indes steht im Zentrum seiner Habilitationsschrift, mit der er eine inzwischen dreißigjährige Diskussion zum Theoriemodell der Pfadabhängigkeit aufgreift. Weder in seiner Arbeit noch in dieser Diskussion aber wird der Pfadbegriff systematisch auf individuelle Biographien bezogen, wie dies im vorliegenden Beitrag vorgeschlagen werden soll. In dem ursprünglichen Konzept der Pfadabhängigkeit, das auf die Ökonomen Brian W. Arthur und Paul A. David zurückgeht, stehen mehrere Annahmen im Vordergrund (vgl. zum Folgenden im Überblick: Beyer 2006: 14 ff., Bormann 2011: 93 f.): •
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Es geht prinzipiell um die Frage, wie es dazu kommt, dass Technologien, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte eingeführt wurden, sich am Markt halten (und ihn sogar dominieren) können, obgleich alternative Technologien vorhanden sind, die als effizienter gelten. Zum Zeitpunkt vor der Entstehung eines Pfades sind unbegrenzt viele »Optionen« für unterschiedliche Technologien vorhanden, bzgl. derer nicht vorhersehbar ist, welche sich durchsetzen wird.
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Dass eine technologische Option (z. B. die QWERTY-Tastatur) dann präferiert wird, ist eher durch »Zufälligkeiten bzw. ›small events‹« denn durch rationale Abwägungen verursacht (Duschek 2012: 196). Mit der Präferenz für eine Option bahnt sich allmählich ein Pfad, mit dem zunehmend alternative Optionen aus dem Blick geraten (Schreyögg / Sydow 2011: 323 f.). Dieser Pfad verfestigt sich aufgrund eines »increasing return«, d. h. im Rahmen von »Selbstverstärkungseffekten« (Beyer 2006: 36), die sich dadurch ergeben, dass ein – um es metaphorisch zu schildern – ausgetretener Pfad einfacher zu laufen ist. »Lock-In«: Ab einem bestimmten Zeitpunkt kann ein einmal eingeschlagener Pfad nur unter hohen Transaktionskosten verlassen werden. Duschek spricht hier von einer »Abfolge sich selbst verstärkender Rückkopplungen […], die einen zunehmenden Irreversibilitätsprozess der Selektion in Gang setzt« (2012: 198). Hiermit wird das Beibehalten einer »ineffizienten Technologie« und die Unmöglichkeit des »Wechsels zu einer effizienteren Technologie« (ebd.: 196) erklärt.
Das ursprüngliche Pfadabhängigkeitsmodell ist in der Folge dafür kritisiert worden, dass es hinsichtlich des Pfadbeginns »zu kontingent« und hinsichtlich der Pfadstabilisierung »zu deterministisch« sei (Thelen 1999: 385). Als Alternative wurde hierzu – zunächst innerhalb der Ökonomie – das Modell der institutionellen Pfadabhängigkeit ins Spiel gebracht. Mit dem Institutionenbegriff, der in dieser Version insbesondere »informelle Beschränkungen« und »formale Regeln« umfasst (North 1991: 97), kann nun deutlich gemacht werden, dass am Anfang eines Pfades keine unbegrenzte Kontingenz herrscht, sondern stets institutionelle Beschränkungen der Optionen für einen Pfad vorhanden sind: Es handelt sich hier um ein »institutionelles Erbe«, das eine »historisch gerahmte oder geprägte Kontingenz« impliziert, sodass es am Beginn eines zukünftigen Pfades weder zu einer »Determinierung« noch zu einer »völlig unbegrenzten Wahl« kommt (Sydow et al. 2009: 693). Die o. g. Punkte werden zusätzlich dadurch modifiziert, dass der »increasing return« sich hier vor allem durch »Koordinations- und Komplementaritätseffekte« (Duschek 2012: 207) ergibt, die daraus entstehen, dass neue formale oder informelle Regeln in ein Netz von komplementären Regeln eingebunden sind (vgl. ebd.: 209).
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Es ist nun charakteristisch, dass die ökonomische Theorie des institutionellen Pfades weiterhin mit der Vorstellung arbeitet, ein Pfad zeichne sich dadurch aus, dass er von einem (denkbaren, aber nicht realisierten) effizienteren Pfad zu unterscheiden ist. Letztlich dient auch hier die Erforschung von Pfadabhängigkeiten dazu zu erklären, warum sich nicht immer das Effizientere durchsetzt. Demgegenüber wird dieser Ansatz vom historischen Institutionalismus (Thelen 1999) und der historischen Soziologie (Mahoney 2000) auf eine Weise diskutiert, die die Frage nach der Effizienz unnötig macht und in der stattdessen gedankenexperimentell Alternativpfade, sog. »counterfactuals« (ebd.: 512), entwickelt werden. Dabei hat Mahoney auf die entscheidende Bedeutung der »critical juncture« (ebd.: 513) aufmerksam gemacht, wird doch hier die Kontingenz der Praktiken in einen Pfad eingespurt und damit verengt. Den Arbeiten zu technologischen und institutionellen Pfaden ist gemein, dass sie Einspurungen auf gesamtgesellschaftlicher und teilweise sogar globaler Ebene zu rekonstruieren versuchen. Die jeweils beobachtete Technologie oder Institution gilt deshalb als pfadkonstituierend, weil sie in einer Gesellschaft oder in transnationalem Zusammenhang dominant geworden ist. Demgegenüber gibt es aber auch Versuche, Pfade auf anderen sozialen Ebenen, insbesondere auf der Mesoebene zu analysieren. Hierzu zählen etwa die Arbeit von Bormann (2011), die sich auf Flecks Begriff des »Denkkollektivs« stützt, wie auch Untersuchungen zur organisationalen Pfadabhängigkeit (Sydow et al. 2009). Gemeinsam ist allen diesen unterschiedlichen Ansätzen der Pfadabhängigkeitsforschung, dass sie mit den Begriffen »Technologie«, »Institution«, »kollektive Denkstile« oder »Organisation« immer schon das in den Vordergrund stellen, was es mit dem Begriff des Pfades eigentlich erst zu erforschen gilt: Verfestigungen von Wissen und sozialen Beziehungen. Will man der Entstehung eines Pfades aber auf den Grund gehen, so versperren diese Begriffe u. U. den Blick auf die Flüchtigkeit der Ereignisse, mit denen ein Pfad beginnt (und die so nur aus der Retrospektive erkennbar sind). Zum Beispiel können einzelne Wissensbestände, die für die Entstehung einer Technologie bedeutsam sind, oder auch noch nicht reziprok typisierte habituelle Handlungen leicht aus dem Blick geraten, wenn man Pfade per se mit Technologien oder Institutionen verbindet. Ebenso werden mit dem kollektiven Denkstil und der organisatorischen Regel immer schon etablierte soziale Praxisformen gefasst, deren
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Vorläufer es aber eigentlich zu entdecken gilt, wenn man den Beginn der jeweiligen Pfade herausarbeiten will. An dieser Stelle soll der Begriff des Wissenspfades3 vorgeschlagen werden, der den Vorteil hat, dass Wissen sowohl flüchtig als auch verfestigt sein kann. Mit ihm lässt sich der Blick offenhalten für die noch sehr vorläufigen, kontingenten und diskontinuierlichen Wissensbruchstücke, die den Beginn eines (neuen) Pfades ausmachen, wie auch für die Vernetzung, reziproke Typisierung und Kontinuität von Wissen (in seinen unterschiedlichen Formen), wie sie für einen etablierten Pfad charakteristisch sind. Dabei schließt der Begriff des Wissenspfades nicht aus, dass sich Wissen auch in Form von Technologien oder Institutionen verfestigen kann. Neben diesen Formen lassen sich aber auch zunehmende Pfadabhängigkeiten auf der Ebene von Organisationen, Milieus, kollektiven Denkstilen und Biographien denken. Ein Wissenspfad bezeichnet nun einen Rahmen, innerhalb dessen Probleme und Aufgaben auf eine spezifische (und nicht eine andere) Weise wahrgenommen, bearbeitet und gelöst werden. Von einem Wissenspfad kann gesprochen werden, wenn ein Wissen (im Sinne eines Rahmens, in dem etwas gesehen wird) eine solche Dominanz erhalten hat, dass alternative Rahmen nicht mehr in Erwägung gezogen werden, wir es also mit einem rigiden Rahmen zu tun haben. Zu diesem Wissen hatte es zu einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt Alternativen gegeben (»Kontingenz«), denen es damals aber nicht per se überlegen war (»counterfactuals«). Dieses Wissen rückt aufgrund eines (damals) unscheinbaren Ereignisses (z. B. eines »small events«) in den Vordergrund (»critical juncture«), verstärkt sich selbst in seiner Reproduktion und breitet sich weiter aus (»increasing return«). Auf diese Weise verdrängt dieser Rahmen, in dem etwas gesehen wird, allmählich alternative Sichtweisen und erlangt so eine gewisse Ausschließlichkeit (»lock in«). Wir haben es bei einem Wissenspfad also mit einer zunehmenden Begrenzung der Varianz nachfolgender Ereignisse zu tun, die bis hin zu ihrer Determination gehen kann.4
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Dieser Begriff ist im Rahmen eines Forschungszusammenhanges unter Kolleg/innen an der Helmut-Schmidt-Universität entstanden. Insbesondere Carola Groppe und Martina Heßler gilt mein Dank für äußerst anregende Diskussionen.
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Von einem Wissenspfad zu sprechen stellt dabei schon eine gewisse Abstraktion von den unterschiedlichen Ebenen dar, auf denen sich ein Wissenspfad etablie-
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H AKAN S ALMAN Im Folgenden soll nun der Grundbegriff des Wissenspfades herangezogen werden, um die Interpretation der Biographie von Hakan Salman zu strukturieren. Auf diese Weise sollen – so ist zu hoffen – neue Aspekte seiner Lebensgeschichte in den Blick geraten, womit zugleich impliziert ist, dass andere Aspekte jenseits des Aufmerksamkeitsfokus bleiben. Hakan Salmans lebensgeschichtliche Erzählung oszilliert in gewisser Weise zwischen seiner Herkunftsfamilie und den Bildungsinstitutionen. Auch wenn dies durch die Eingangsfrage, die zwar zunächst auf den »Lebensweg« verweist, dies dann aber auf den »Bildungsweg« einengt (Transkript des Interviews in diesem Band, Z. 1), hervorgerufen sein könnte, wird letztlich deutlich, dass die Problematiken, die Hakan Salman bislang in seinem Leben bewältigen musste, hauptsächlich um die genannten Punkte kreisen. Dies beginnt mit dem Besuch des Kindergartens, in dem er erstmals mit der »deutschen Sprache« (Z. 8) konfrontiert ist, die er aber weitgehend informell – und auf eine für ihn heute nicht mehr erinnerbare Weise – lernt. Wichtig ist dabei – so dokumentiert sich im Duktus seiner Erzählung – der Kontrast des Deutschen, das ihm in der Bildungsinstitution vermittelt wurde, zur türkischen Sprache, die er – »strikt getrennt« – mit »Mutter und Vater« (Z. 14í15), nicht aber mit der Schwester gesprochen habe. Im Unterschied zu diesem beiläufigen und zugleich unproblematischen Lernen fing dann mit der Einschulung sein »größtes Problem an« (Z. 17): Angesichts der mangelnden Sprachkenntnisse seiner Eltern kann Hakan Salman bei der Bewältigung des Lernstoffes nicht auf deren Hilfe zurückgreifen. (Ohnehin fällt der Vater, der gegenüber der Mutter und den Kindern gewalttätig auftritt, nunmehr aus der Familie heraus, insofern die Mutter ins »Frauenhaus« (Z. 28) flüchtet und später, nachdem sie eine eigene Erwerbsarbeit gefunden hat, mit ihren Kindern eine eigene Wohnung bezieht. Auf die – für sich genommen sehr spannende – Ereignisverkettung dieses Familienkonflikts gehe ich hier jedoch nicht weiter ein.) An dieser Stelle hilft der Vergleich mit den lebensgeschichtlichen Erzählungen von einerseits anderen Kindern aus Migrationsfamilien und an-
ren kann. Denn ein Wissenspfad kann auch auf unterschiedlichen Sozialebenen gleichzeitig angesiedelt sein und seine Kraft aus deren Zusammenspiel entfalten.
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dererseits solchen aus einheimischen Familien weiter. Diese komparative Analyse macht deutlich, dass es keineswegs ein individuelles Schicksal ist, die Eltern als gegenüber der Schule völlig fremd und distant zu erfahren. Ähnliche Fallstrukturen finden sich auch in den Lebensgeschichten von anderen Migrantenjugendlichen (siehe z. B. Nohl 2001: 229 ff.) und können als Elemente der Genese einer »Sphärendifferenz« (ebd.) verstanden werden: Die Jugendlichen haben schon in der frühen Kindheit eine Differenz und bisweilen Diskrepanz zwischen der inneren Sphäre ihrer Familie (und z. T. der ethnischen Community) einerseits und der äußeren Sphäre der Gesellschaft, und hier insbesondere deren Institutionen der Bildung und sozialen Kontrolle, andererseits erfahren. Ein Vergleich mit Arbeiterkindern aus einheimischen Familien zeigt aber zugleich, dass Hakan Salmans Problem, bei schulischen Lernproblemen von den Eltern keine Hilfe zu bekommen, keineswegs alleine mit seiner »Migrationslagerung« (ebd.: 29) verknüpft ist, sondern auch in der sozialen Distanz von Arbeiterfamilien gegenüber den Institutionen der (insbesondere höheren) Bildung begründet ist (siehe hierzu grundlegend: Bourdieu / Passeron 1973).5 Die eher auf den ethnischsprachlichen Unterschied fokussierende Selbstdeutung Hakan Salmans muss in dieser Hinsicht um den Verweis auf die Differenz von Bildungsmilieus ergänzt werden.6 Im Unterschied zu den Eltern war seine Schwester eine Hilfe für Hakan Salman – wenn auch eine trügerische. Denn sie hat ihm »sehr viel geholfen«, aber »nich beigebracht« (Z. 72), sie hat also für ihn die Hausaufgaben erledigt. Erst als dies einer Lehrerin auffiel, hat er sich selbst darum bemüht zu lernen. In diesen Anstrengungen war er aber – zumindest jenseits des Unterrichts – zunächst auf sich alleine gestellt und konnte allenfalls auf die
5
Zu der Bedeutung der komparativen Analyse für die Rekonstruktion von Prozessen, die sich jenseits der Aufmerksamkeitsfoki der Interviewten, sozusagen hinter ihrem Rücken, abspielen, siehe Weiß/Nohl 2012.
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In einem späteren Segment des Interviews, in dem Hakan Salman von den Berufen der Väter seiner Klassenkamerad/innen spricht – »Anwalt«, »Arzt«, »Mathelehrer« (Z. 111í112) –, verweist er selbst auf diese bildungsmilieuspezifische Komponente seiner Schulprobleme. Zugleich soll dies aber nicht implizieren, Hakan Salmans Eltern seien per se ›bildungsfern‹ gewesen. Er selbst unterstreicht die »türkische Förderung« (Z. 94), die er von seiner Mutter in Sachen Rechtschreibung und Grammatik der türkischen Sprache erhalten habe.
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Hilfe anderer »türkischsprachiger Mitschüler« (Z. 123) zählen. Dass diese letztlich eine eigene soziale Gruppe innerhalb der Klasse bildeten, schreibt Hakan Salman nicht einer Diskriminierungspraxis, sondern der Attraktivität gemeinsamer Ausdrucksformen zu (»klönt denn auch auf derselben Sprache«, Z. 127í128). Diese Einsozialisation in die Gruppe türkischsprachiger Peers soll für Hakan Salman noch eine dauerhafte Bedeutung erhalten, ist bei der Bearbeitung des schulischen Lernstoffs jedoch – in seiner eigenen Perspektive – zunächst einmal nicht sehr förderlich. Bis zu dieser Stelle im Interview bleiben Hakan Salmans Bemühungen, mit den Anforderungen der Schule Schritt zu halten, noch recht diffus. Zwar erkennt er zunächst, wie wenig hilfreich es ist, die Hausaufgaben von der Schwester erledigen zu lassen, es werden in der erzählerischen Darstellung dann aber auch keine anderen Praktiken des Lernens deutlich, die erfolgreich gewesen wären. Dabei erscheint Salmans Schulerfahrung von einer solch hohen Kontinuität geprägt gewesen zu sein, dass er nicht einmal den Übergang von der Grund- in die Realschule erwähnt – hiervon erfahren wir nur beiläufig und erst in Z. 164. Ein Einschnitt – zumindest aus der Retrospektive des Interviews – in seiner Schulerfahrung ergibt sich dann aber, als ihn »Frau Kallenbach« (Z. 133), seine damalige Lehrerin in der siebten oder achten Klasse, auf sein großes »Potenzial« (Z. 135) anspricht und – neben einigen Ratschlägen – seinen Sitzplatz in der Klasse verändert. Angesichts der gravierenden Ereignisse, die Salmans Leben bis zu diesem Zeitpunkt bereits geprägt haben (Gewalt des Vaters, Trennung der Eltern), nimmt sich dieses »Schülergespräch« (Z. 135), wie es ja immer wieder im Schulalltag vorkommt, als ein geradezu unscheinbares Ereignis aus. Doch schon in der erzählerischen Darstellung dokumentiert sich der einschneidende Charakter dieses Ereignisses: Erst nach einer viersekündigen Pause und einer metakommunikativen Einleitung schildert es Hakan Salman, der dann später auch seine große Bedeutung explizit ausweist (Z. 147í149). Die biographische Bedeutung, die dieses Gespräch und der darauf folgende Sitzplatzwechsel für Hakan Salman haben sollte, wird für jenen damals nur rudimentär, aber selbst für die Lehrerin nicht in Gänze erfassbar gewesen sein. Denn als Hakan Salman nunmehr neben »Robert Lange« (Z. 142), dessen Eltern akademische Berufe haben, zu sitzen beginnt, nutzt er nicht nur seine Potenziale besser, sondern seine »komplette Einstellung gegenüber Schule (2) verändert« (Z. 148í149) sich. Robert Lange ist ihm
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zum einen – und zunächst – ein Vorbild und »Ansporn« (Z. 151), dann aber vor allem ein Klassenkamerad, an dessen Lernpraktiken er unmittelbar teilhat: Sie haben »echt alles gemeinsam gemacht« (Z. 155). Diese Teilhabe an der Art und Weise, wie Robert Lange unterschiedliche Herausforderungen des Schulalltags bewältigt (»Referate«, »Klausuren«, Z. 154), lässt Hakan Salman letztlich zu einem derart erfolgreichen Schüler werden, dass er einerseits zum populären Klassenkameraden wird (Z. 156í157) und andererseits ein Übergang in das Gymnasium (nach der 10. Klasse) in den Bereich des Möglichen rückt. Wir haben es bei diesem Popularitätszuwachs und den sehr guten Noten (Z. 167í170) mit »Selbstverstärkungseffekten« (Beyer 2006: 36) zu tun, die Hakan Salman dazu motivieren, sich nunmehr auch in Aspekten des Unterrichts zu engagieren, die bislang für ihn keine Bedeutung hatten: Er liest – auch dies begründet durch das Vorbild und den »Druck« (Z. 1055) von Robert Lange – »sehr viel Literatur« (Z. 175) und nimmt Nachhilfe in Englisch (Z. 181í184). Auf diese Weise vertieft sich der Pfad, den er nach dem Gespräch mit der Lehrerin und dem Sitzplatzwechsel eingeschlagen hat, weiter. Dieses Gespräch erweist sich mithin als eine »critical juncture« (Mahoney 2000: 513), mit der in der Biographie Hakan Salmans ein neuer Wissenspfad beginnt. Während dieser Moment noch durch eine hohe Kontingenz gekennzeichnet ist, gewinnt der neue Wissenspfad durch die positiven Verstärkungen allmählich an Dominanz in Hakan Salmans Leben. Dieser Wissenspfad wird dabei nicht alleine durch die neue »Einstellung gegenüber Schule« (Z. 148í149) und damit durch eine Motivation ausgemacht, sondern vor allem durch den – im Mitlernen mit Robert Lange – angeeigneten Rahmen, innerhalb dessen Hakan Salman Probleme und Aufgaben der Schule zu lösen beginnt. Die Frage, ob sich dieser Wissenspfad etablieren wird, kann nun innerhalb der lebensgeschichtlichen Erzählung des jungen Mannes weiter verfolgt werden. Mit seinen verbesserten Noten verfestigt sich sein Wunsch, nach dem Realschulabschluss auf das Gymnasium zu wechseln (Z. 170). Angesichts eines »Bombenrealschulabschlusses« (Z. 191), vor allem aber, weil er – unterstützt von seiner Schwester, die diesen Weg bereits vor ihm beschritten hat – sich gegen anderweitige Empfehlungen einer skeptischen Lehrerin durchsetzen konnte, gelingt es ihm, auf das Gymnasium zu kommen. Hier – wo ihm offenbar Robert Lange nicht mehr zur Seite stehen
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kann – muss er nunmehr alleine »neue Problemstellungen« (Z. 211) bewältigen, was ihm aber – mit bestimmten Ausnahmen – auch gelingt. Die Bedeutung des neuen Wissenspfades – der Art und Weise, wie Hakan Salman Lernaufgaben löst – wird nun gerade darin deutlich, dass er an ihm trotz einiger Schwierigkeiten festhält. Er berichtet zunächst von den Anforderungen im Fach Englisch, denen er nicht gerecht werden kann. Dann schildert er die für ihn dramatischen Wendungen der Abiturprüfung, in der er – aufgrund gescheiterter Mathe- und Biologie-Klausuren – diese Prüfungen mündlich nachholen muss (Z. 262í292), letztlich hieran aber scheitert. Obwohl für ihn in diesem Moment – wie er sich erinnert – eine »Welt zusammengebrochen« (Z. 293) ist (dies hat auch mit dem erschütterten Vertrauen in den Lehrer zu tun), sieht er nur zwei Möglichkeiten für sich: das Abitur zu wiederholen oder das »Fachabi zu machen« (Z. 338). Eine andere Möglichkeit – etwa ohne Abitur von der Schule abzugehen – findet in dem Interview nicht einmal Erwähnung. Darin, dass er gerade in diesem Moment des (vorläufigen) Scheiterns gleichwohl an diesem Wissenspfad festhält, dokumentiert sich, dass alternative Sichtweisen aus dem Blick geraten und der Wissenspfad irreversibel geworden ist (»lock-in«). Nach dem Fachabitur und dem Zivildienst beginnt er mit einem Studium der »Medizintechnik« (Z. 390), dessen Lernanforderungen für ihn zwar wieder nur mit großer Anstrengung zu bewältigen sind (»muss doppelt so viel lernen«, Z. 407), denen er sich aber gleichermaßen, d. h. mit den Mitteln desselben Wissenspfades, stellt. Hinsichtlich seines »Bildungswegs« (Z. 1) kann also von der zunehmenden Dominanz eines Wissenspfades gesprochen werden, der mit einem recht unscheinbaren, später aber – auch in Hakan Salmans Reflexion – als kritisch zu bezeichnenden Ereignisses begann, sich aufgrund des schulischen Erfolgs verstärkte und schließlich alternative Wege aus dem Blickfeld verbannte. Gleichwohl dokumentiert sich in Hakan Salmans Erzählung, dass seine Biographie keineswegs alleine durch diesen Wissenspfad dominiert wird: Wie er am Ende des Interviews berichtet, gibt es neben den »deutschen Schulfreunden«, die er im Gang durch die Bildungsinstitutionen kennengelernt hat, weiterhin die »türkischen« »Alltagsfreunde« (Z. 522í 523), die aus seinem Wohnviertel stammen. Diese beiden Freundeskreise müsse er »strikt trennen« (Z. 532), insofern sich die (Freizeit-)Praktiken, die er mit der jeweiligen Gruppe teilt, deutlich unterscheiden, wie dies exemplarisch im Döner-Essen mit den Freunden aus dem Viertel und dem
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gemeinsamen Kochen (Z. 588í600) mit den Schulfreunden deutlich wird.7 Der Wissenspfad, der Hakan Salmans Weg durch die Bildungsinstitutionen ausmacht, prägt seine Freizeitaktivitäten und freundschaftlichen Beziehungen mithin nur teilweise.
F AZIT : Z UM REFLEXIVEN V ERHÄLTNIS VON G RUNDBEGRIFFEN UND EMPIRISCHER F ORSCHUNG Wenn grundlagentheoretische Begrifflichkeiten wie »Wissenspfad« die empirische Forschung zu strukturieren vermögen, ohne ihr vorzugreifen, muss zum Ende dieses Beitrags die Frage danach gestellt werden, wie und inwieweit solche Grundbegriffe selbst der Kritik unterzogen werden können. Cicourel war in dieser Hinsicht sehr optimistisch und behauptete, dass »die Feldforschung einen ausgezeichneten Rahmen sowohl für die Anwendung als auch für die Prüfung grundlegender Theorie« liefere (1974: 109). Demgegenüber lässt sich dieser Optimismus aus einer wissenssoziologischen Perspektive, zumal wenn sie durch Wissenschaftsforschung in der Tradition von Fleck (2011) und Kuhn (1973) informiert ist, nicht teilen. Denn die Grundbegriffe, die in der rekonstruktiven Sozialforschung verwendet werden, sind »an spezifische Theorie-Traditionen und Paradigmen« (Bohnsack 2005: 70 f.) gebunden; diese »Aspekthaftigkeit« (ebd.) ist darin begründet, dass »die Art, wie einer eine Sache sieht, was er an ihr erfaßt und wie er sich einen Sachverhalt im Denken konstruiert«, mit dem sozialen »Standort« und dem »Sein« des/der Forschenden eng verknüpft ist (Mannheim 1985: 234). Es ist insofern nicht davon auszugehen, dass man die eigenen Grundbegriffe einer schonungslosen Kritik unterziehen kann. Denn – wie uns der Pragmatist Charles S. Peirce (1970: 448) lehrt – kann »echter Zweifel nicht durch eine bloße Willensanstrengung geschaffen werden«. Gleichwohl gibt es zwei Wege, wie Zweifel an den Grundbegriffen »durch die Erfahrung zustande gebracht« (ebd.) werden kann:
7
Auch diese Differenz von maßlosem Döneressen und gemeinsamem Kochen ist – ähnlich wie schon die elterliche Distanz zur Schule – nicht alleine migrationsbezogen, sondern offenbar auch bildungsmilieuspezifisch konnotiert.
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Erstens können Grundbegriffe in der Diskussion der scientific community – etwa in der Bildungsphilosophie oder der Sozialtheorie – in Frage gestellt werden. Dies erscheint insbesondere dort möglich, wo sich noch keine »normale Wissenschaft« (Kuhn 1974) etabliert hat, in der die Geschichtlichkeit und damit die Kontingenz der Paradigmen – etwa in Lehrbüchern – geleugnet wird. Schon die in den anderen Beiträgen dieses Bandes genutzten Grundbegriffe zeigen, welch unterschiedliche Aspekte des Interviews mit Hakan Salman auf diese Weise zu Tage kommen.8 Die Erziehungswissenschaft erscheint in dieser Hinsicht für eine solch diskursive Infragestellung grundlagentheoretischer Begriffe prädestiniert. Zweitens kann man versuchen, die empirische Forschung so anzulegen, dass ihre Ergebnisse gegenüber den theoretischen Grundbegriffen einen Kontrapunkt konstituieren. Während ein Einzelfall sehr leicht unter eine grundlagentheoretische Begrifflichkeit subsumierbar ist, können die – auf dem Wege komparativer Analysen – entwickelten Typiken und Typologien auf einem höheren Generalisierungsniveau ansetzen. Solche fallübergreifenden Ergebnisse, wie sie in der dokumentarischen Methode (siehe Bohnsack 2010 und Nohl 2013), aber auch in anderen typen- und theoriebildenden Ansätzen (Glaser / Strauss 1969, Kelle / Kluge 2010) erzielt werden, ermöglichen dann ein reflexives Verhältnis zwischen Empirie und Theorie.9 Hier dienen die empirischen Ergebnisse dann als Spiegel, mit dessen Hilfe Grundbegriffe der Forschung reflektiert und kritisiert werden können.
8
Ein narratives Interview alleine auf der Basis eines einzigen Grundbegriffes auszuwerten, erscheint in dieser Hinsicht völlig einseitig. Im vorliegenden Beitrag wurde dieses gleichwohl in Angriff genommen, um einen neuen Grundbegriff in seiner Prägnanz erst einmal einzuführen. Spätere empirische Analysen würden dem »Wissenspfad« sicherlich weitere Grundbegriffe hinzufügen.
9
Ein solches reflexives Verhältnis auf der Basis von Typenbildungen wurde in der Bildungsforschung von Nohl (2006) und Rosenberg (2011) angestrebt.
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»Da ist meine Welt zusammengebrochen.« Zur Krise und ihrer affektiven Dimension als Herausforderung für Bildungsprozesse G EREON W ULFTANGE
E INLEITUNG Die Ansätze, die sich trotz der je unterschiedlichen Akzentuierungen im Einzelnen dem Zugang der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung zurechnen lassen, erheben den Anspruch, die philosophisch orientierte Bildungstheorie und die qualitative Erforschung der Verlaufsformen und Bedingungen von Bildungsprozessen miteinander verbinden zu können (vgl. z. B. Koller 2006: 108 ff.). In diesem Zusammenhang stellt sich unter anderem die Frage, wie es im Rahmen dieser Ansätze gelingen kann, Theorie und Empirie so miteinander zu verknüpfen, dass empirisches Material nicht nur zur Illustration bereits vorliegender theoretischer Konzepte genutzt wird, sondern auch zu deren Weiterentwicklung beiträgt. In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, in interpretativer Auseinandersetzung mit dem narrativen Interview mit Herrn Salman eine Forschungshaltung zu erproben, um bildungstheoretisch herausfordernde Fragestellungen aus dem Interviewtext heraus zu entwickeln. Die Haltung, die im Folgenden in Bezug auf das Interview mit Herrn Salman eingenommen und erprobt wird, ist angeregt von einem Grundgedanken der Grounded Theory, der umreißt, in welcher Weise auf die lebensgeschichtliche Erzählung von Herrn Salman bildungstheoretisch sensibilisiert zugegangen wird:
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»Theoretische Sensibilität bezieht sich auf die Fähigkeit, Einsichten zu haben, den Daten Bedeutung zu verleihen, die Fähigkeit zu verstehen und das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. All dies wird eher durch konzeptuelle als durch konkrete Begriffe erreicht. Erst die theoretische Sensibilität erlaubt es, eine gegenstandsverankerte, konzeptuell dichte und gut integrierte Theorie zu entwickeln.« (Strauss / Corbin 1996: 25)
In Anlehnung an diese Überlegung von Strauss und Corbin kann Sensibilität als die Konzentration der Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung verstanden werden, sodass jene Perspektive eröffnet wird, aus der das empirische Material zum Sprechen und zur Sprache gebracht wird. Diese Perspektive begrenzt gleichzeitig das Erkenntnisinteresse. Es besteht bildungstheoretisch sensibilisiert darin, zu untersuchen, wie im Interview mit Herrn Salman grundlegende Figuren seines Welt- und Selbstentwurfs aufgebaut, aufrechterhalten und ggf. verändert werden. Anders formuliert: Das Interview bildungstheoretisch sensibilisiert zu lesen, heißt, die Frage nach der Herausforderung für Bildungsprozesse gleichwohl vortheoretisch, also auf der Grundlage dieses Interviews anzugehen und herauszuarbeiten. Wenn im Folgenden von ›erzähltem Ich‹, ›Herrn Salman‹, ›dem Interviewten‹ oder ›ihm‹ geschrieben wird, dann ist damit nicht die psychosoziale Entität oder Mannigfaltigkeit mit dem Namen Hakan Salman gemeint, sondern der Text des Erzählers, der diesen Namen trägt (vgl. zu der Frage, was es heißt, die Transkription der Erzählung als Text zu lesen, Kokemohrs Vorbemerkung in seinem Beitrag in diesem Band und seine Bezugnahme auf Ricœurs erzähltheoretische Unterscheidung zwischen impliziertem und empirischem Erzähler in Kokemohr 2007: 15).1
1
Im Folgenden sind Formulierungen aus meiner Dissertation enthalten, die im Mai 2014 an der Universität Hamburg unter dem Titel »Bildung: Angst und Begehren. Annäherungen an eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse« eingereicht wurde.
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…«
Im Interview mit Herrn Salman lässt sich zu Beginn lesen: »I: Dann ja, erzähl mir dein (.) Lebensweg, dein Bildungsweg.« (Z. 1) Die Erzählaufforderung des Interviewers wird aufgegriffen, indem zunächst Einverständnis signalisiert (»okay« Z. 2) und orientierend darauf hingewiesen wird, dass das erzählte ›Ich‹ in einer deutschen Großstadt geboren und aufgewachsen sei. Nach einigen einleitenden Bemerkungen gibt Herr Salman zu verstehen, dass mit dem Beginn seiner Schulzeit, im Alter von sechs oder sieben Jahren sein »größtes Problem« (Z. 17–18) angefangen habe. Mit eben diesem Schulbeginn hatte Herr Salman seine Erzählung eröffnen wollen, bevor er in einem kurzen Einschub einige Kindergartenerfahrungen und sein Aufwachsen in den zwei Sprachwelten Deutsch und Türkisch thematisiert hatte (vgl. Z. 9–11). »äm ich war sechs Jahre alt, da kam ich (2) kam ich in die erste Klasse (.), aber vorweg (.) Kindergartenbesuch [mh] äm mit zwei oder drei, so weit ich mich erinner« (Z. 3–4)
Diese Eröffnung zeigt, dass Herr Salman seine Lebensgeschichte zunächst mit den problematischen Erfahrungen der ersten Klasse hatte beginnen wollen. Dieser Zeit wird damit eine besondere Bedeutung für den Verlauf seiner Lebensgeschichte zugesprochen und der anschließende, kurze Einschub zur Kindergartenzeit und zum Aufwachsen in den beiden Sprachwelten Deutsch und Türkisch weist darauf hin, dass das, was »vorweg« gewesen ist, vor allem als Hintergrund relevant und hilfreich für das Verständnis des nun Folgenden ist, nicht aber im Zentrum des in der Erzählung verarbeiteten Themas steht. Der folgende Abschnitt leitet eine längere Redesequenz ein, in der vielfältige Facetten eines Problems in verschiedenen Zusammenhängen erzählend entfaltet werden. »So (.) äm irgendwann (.) sprich mit (.) sechs, (.) sechs / sieben das war (.) zweiundneunzig glaube ich, kam ich in die erste Klasse, (.) und (.) ja, da fing (.) mein größtes Problem an. [mh] (.) Mein Problem bestand darin, (.) äm (2) den Schulstoff (.) sich selber aneignen.« (Z. 15–18)
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Es fällt auf, dass Herr Salman seine Biographie explizit als Problemgeschichte anlegt. Der Vorstellungsraum, in dem die weitere Erzählung Gestalt annimmt, wird als Problemraum entworfen. Er wird zunächst mittels einer Figur der Zeitdeixis (»irgendwann«) eingeführt, also mittels einer Redefigur zeitlich bestimmter Unbestimmtheit, bevor der Problemraum mit dem Hinweis auf das Alter und das Jahr des Problembeginns an Kontur gewinnt. Die Formulierung »da fing mein größtes Problem an« markiert ebenso mittels eines Zeigwortes (»da«) den Ort einer lebensgeschichtlich bedeutsamen Entwicklung. Es wird, wie sich in Anlehnung an Karl Bühler sagen lässt, mithilfe einer Bestimmung der Ortsdeixis auf das Feld gezeigt, in dem die folgende Erzählung Gestalt annimmt (vgl. Bühler 1965, 1934: 107, 136, 149). Das sprachliche Zeigfeld, das Herr Salman entwirft, wird als »erste Klasse« konkret. Es geht damit um den Verweis auf den konkreten Klassen-Zeit-Raum erste Klasse, der den weiteren Kontext der Institution Schule implizit einschließt. Die Formulierung »da fing mein größtes Problem an« legt zudem nahe, dass hier ein länger andauerndes Problem thematisch wird. Es wird nicht in der Form der vollendeten Vergangenheit zu verstehen gegeben und reicht in diesem Sinne potenziell bis in die Erzählgegenwart des Interviews hinein. Es könnte also um ein noch nicht gelöstes, ein noch nicht abgeschlossenes Problem gehen. Anders formuliert: Das hier entworfene ›Ich‹ erscheint als Protagonist einer Problemgeschichte. Der Problemraum wird dadurch gekennzeichnet, dass ein »größtes Problem« markiert und isoliert wird, dem durch den Superlativ eine besondere Relevanz zugesprochen wird. Die Formulierung legt nahe, dass es neben dem größten Problem eine Reihe kleinerer Probleme gegeben hat. So wird an dieser Stelle ein Thema von lebensgeschichtlich hoher Bedeutsamkeit vorbereitet und eingeführt. Diese Einschätzung lässt sich nicht nur mit dem schulbiographischen Inhalt des Problems Schulstoffaneignung begründen, sondern auch damit, dass es zu Beginn des Interviews und damit an exponierter Stelle steht. Zudem leitet dieser Ausschnitt eine sehr ausführliche Erzählsequenz mit einer Reihe von Verwicklungen und Komplikationen ein. Aber inwiefern ist dieses Thema bedeutsam und worin besteht überhaupt das Problem? Im ›semantischen Kern‹2
2
Die implizite Behauptung der Existenz eines ›semantischen Kerns‹ erscheint mir voraussetzungsreich und erläuterungsbedürftig. Ich setze sie daher in einfache Anführungszeichen, um darauf hinzuweisen, dass sie hier nicht theoretisch ein-
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geht es darum, dass es Herrn Salman mit dem Beginn der Schulzeit nicht gelingt, sich den Unterrichtsstoff selbstständig zu erarbeiten. ›Aneignen‹ hieße insofern, sich den Schulstoff so zu eigen zu machen, dass er ihn beherrscht. Ebenso könnte es hier um ein Problem der Zugehörigkeit zur Institution Schule gehen, der eine Erwartung oder ein Anspruch an ihn, Herrn Salman, und alle anderen SchülerInnen zugeschrieben wird, sich den Schulstoff selbstständig zu erarbeiten. In dieser Hinsicht könnte sich hier ein zwar unausgesprochener, aber latent vorhandener Wunsch zeigen, zu eben jenen Schülern in der Klasse zu gehören, die solcher Erwartung entsprechen, und gleichzeitig zu erfahren, dass eben dies nicht gelingt. Herr Salman wiederholt, dass er schon zu Beginn seiner Schulzeit »ziemlich schwierige Probleme« (Z. 19) gehabt habe. Vor allem die deutsche Sprache sei sein »größtes Handicap« (Z. 21) gewesen, aber das Problem habe bei jeglichem Unterrichtsstoff darin bestanden, ihn sich »alleine anzueignen« (Z. 21). Das Problem besteht vor diesem Hintergrund im Kern darin, dass er keine oder nur sehr unzureichende Unterstützung hatte, sondern sich den Schulstoff selber, das heißt, alleine in dem Sinne anzueignen hatte, dass die Unterstützung anderer fehlt. Für diese Lesart spricht folgende Stelle: »bei einigen Sachen (.) hab ich natürlich meine ältere Schwester fragen können. [mh] Sie hat mir auch ä zur Seite gestanden, so weit sie konnte aber (.) äm (.) zu Mama rennen, zum Papa rennen, das ging natürlich nicht (.) äm zumal meine Mutter (.) kein bisschen Deutsch spricht [mh]« (Z. 21–25)
Das Problem gewinnt an Kontur. Es besteht offenbar darin, dass die Eltern als Ansprechpartner für schulstoffrelevante Fragen ausfallen, weil sie kein Deutsch sprechen und die Aufgaben, die in der Schule zu bewältigen sind, die Beherrschung der deutschen Sprache aus Herrn Salmans Perspektive notwendig voraussetzen. ›Sich den Schulstoff selber aneignen‹ heißt weiter, sich ihn alleine auch in dem Sinne aneignen zu müssen, dass die Hilfestellungen der Schwester an eine Grenze stoßen (»sie hat mir zur Seite gestanden, so weit sie konnte«) und die Eltern als Ansprechpartner, die potenziell
geführt wird, sondern im Sinne des vermuteten zentralen Bedeutungsgehalts des hier zu verstehen gegebenen Problems gemeint ist. Es geht aus dieser Perspektive lediglich um die lexikalische Ebene dieser Aussage und noch nicht um ihre Pragmatik.
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darüber hinaus unterstützen könnten, wegen ihrer fehlenden Deutschkenntnisse »natürlich« nicht zur Verfügung stehen. Zu diesem Problem kommen Faktoren hinzu, die es verschärfen: Denn die Eltern hätten sich zur Zeit seiner Einschulung getrennt, weil die extrem gewalttätigen Übergriffe des Vaters so sehr eskaliert seien, dass Herr Salman schließlich mit Schwester und Mutter ins Frauenhaus gezogen sei. Dort wiederum hätten aufgrund der beengten räumlichen Verhältnisse Bedingungen bestanden, die das Lernen einfach unmöglich gemacht hätten. Zwar habe sich seine Mutter nach Kräften bemüht, aber die gesamte Grundausstattung an Kleidung und Schulmaterial sei einfach nicht so vorhanden gewesen wie bei seinen Klassenkameraden. Und doch habe er »eine schöne Kindheit gehabt« (Z. 39), aber »das alles hat einen geprägt« (Z. 39) bilanziert der Erzähler diesen Lebensabschnitt. Allerdings verschärft sich die Problemlage durch die besagte Trennung der Eltern nicht nur, ebenso verschiebt sie sich im weiteren Verlauf der Erzählung.
D IE A NGST VORM V ATER ALS A NGST VOR DEM K ATZ - UND -M AUS - SPIEL »Äm nach der Trennung(.) bin ich halt im Frauenhaus eingeschult worden (.) und (.) dort Zeit zum Lernen (2) das Lernen allgemein dort [mmm] konnte man nicht- man, es gab keine Einrichtung zum Lernen das Zimmer (2) die Probleme, die (.) in einem schwirren und (.) Angst vorm Vater, der [mh] kommt jetzt und sucht er uns und (.) Katz-und-Maus-Spiel [mh] da is die Schulbildung in der Anfangsphase meines Lebens (2) echt auf der Strecke geblieben [mh].« (Z. 40–45)
Herr Salman schildert die Hintergründe für seine Schwierigkeiten in der Schule. Es werden auffällig viele raumzeitliche Figuren genutzt, um die Unmöglichkeit des Lernens zu beschreiben: Es gab keine Zeit, im Frauenhaus fehlte es an Einrichtung und das Zimmer sei mit sechs mal sechs Quadratmetern viel zu beengt gewesen. Auffällig an diesem Abschnitt ist zudem die stark nominalistische Erzählweise. Nomen, die wie abgehackt aneinandergereiht werden, beherrschen diese Passage: »keine Einrichtung zum Lernen«, »das Zimmer«, »die Probleme« usf. Auffällig ist ebenso der plötzliche und kurzzeitige Tempuswechsel vom Präteritum (»es gab keine Einrichtung«) zum Präsens (»die Probleme, die in einem schwirren, Angst
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vorm Vater, der kommt jetzt«). Während die äußere Enge in der Vergangenheitsform erzählt wird, bricht die innere Enge, die Probleme, die in ihm schwirren, als das Katz-und-Maus-Spiel plötzlich im historischen Präsens in die Erzählsituation des Interviews ein. Plötzlich dreht sich die Erzählung um die Angst vor dem Vater, die das Problem der Aneignung des Schulstoffs zu überlagern, möglicherweise zu ersetzen scheint. Mit der erzählten Angst vor dem Vater wird ein emotionales, affektives, gefühlsmäßiges, pathisches Moment der krisenhaften Zeit des Schulbeginns zur Sprache gebracht, das von Herrn Salman als Grund bzw. Hintergrund dafür eingeführt wird, dass seine Schulbildung auf der Strecke geblieben sei. Erzählend vergegenwärtigt Herr Salman die Angst vor dem Vater und gibt das Bedrohliche der erlebten Angstsituation in der Metapher des Katzund-Maus-Spiels zu verstehen. Es wird mit der stets gegenwärtigen Möglichkeit seines plötzlichen Auftauchens verbunden, das dieses Katz-undMaus-Spiel zu eröffnen droht. Obwohl diese Metapher das Element des Spiels enthält, geht es um ein Spiel auf Leben und Tod. Sein Vater sei ein bisschen der »Aggressive« (Z. 29) gewesen und Herr Salman gibt seine Angst vor den an späterer Stelle des Interviews ausführlich und beklemmend geschilderten Gewaltausbrüchen des Vaters im Anschluss an die Metapher des Katz-und-Maus-Spiels lediglich gestisch zu verstehen. Er zieht die Augenbrauen hoch und lässt die geöffneten Handflächen auf den Tisch knallen (vgl. die Transkriptionen der parasprachlichen und prosodischen Elemente in Z. 47–48). Der Interviewer wisse dann schon, was er meine, »ne?« (Z. 48). Dem Erzähler fehlen die Worte. Die physische Gewalt des Vaters wird ebenso physisch, gestisch zum Ausdruck gebracht. Das Katz-und-Maus-Spiel als Konstellation von Jäger und Gejagtem hat vor allem aus der Perspektive der Katze einen spielerischen Charakter. Für die Maus geht es in jedem Moment dieses Spiels um Leben und Tod, um ihre Existenz. Für die Katze ist die Maus lediglich das Spielobjekt, ein Spielzeug, das weder gefährlich werden, noch entkommen kann. Die Maus befindet sich angesichts der übermächtigen Katze in einer ausweglosen Spielsituation, deren Ausgang unvermeidlich und zweifelsfrei vorhersehbar zu sein scheint. Sie kann sich nicht in einer Weise zur Wehr setzen, die das Spiel zu einem Spiel mit offenem Ausgang machte.3 Sie nimmt zudem nur
3
Dass diese Lesart eine mögliche, aber keine notwendige Interpretation des Katzund-Maus-Spiels darstellt, lässt sich beispielsweise im Zeichentrickfilm Tom
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so lange am Spiel teil, wie es der Katze gefällt, nämlich so lange, wie sie ihr zur Befriedigung ihres Spieltriebs zweckdienlich ist. Dieser Spieltrieb hat für die Katze den Zweck, das Jagen zu lernen, und dient daher letztlich der eigenen Selbsterhaltung. Aber auch diesen Trainingszweck hat die Maus irgendwann erfüllt und sobald der Katze das Spiel langweilig wird, hat die Maus als Spielzeug ausgedient und wird mit schnellem Tatzenhieb getötet. Die Maus hat demgegenüber allem Anschein nach kaum eine andere Möglichkeit, als das Spiel angesichts ihres übermächtigen Gegners so lange und so gut wie möglich mitzuspielen. Sie kann flinke Haken schlagen, Täuschungsmanöver erfinden und der Katze immer wieder entwischen, sodass das Unvermeidliche so lange wie möglich hinausgezögert wird. Gleichwohl haben beide Mitspieler letztlich das gleiche Ziel oder präziser, den gleichen Beweggrund dafür, dieses Spiel überhaupt mitzuspielen: Es geht ums Überleben. Für die Katze ist das Spiel jedoch eine Art Überlebenstraining für die Zukunft. Sie ist im Moment des Spiels nicht existenziell gefährdet. Für die Maus ist jeder Haken, den sie schlägt, eine Frage des Überlebens. Der Ausgang des Spiels ist dabei für die Maus von bestechender Gewissheit: Am Ende stehen der Tod und das Gefressenwerden. Wenn nun Herr Salman die Angst vor dem Vater in einer solchen Metapher erzählt, dann erscheint unstrittig, dass er sich in diesem Spiel mit der Position der Maus identifiziert, die sich der übermächtigen Katzenfigur ›Vater‹ auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sieht. Das Bedrohliche besteht offenbar auch und nicht zuletzt darin, dass mit dem plötzlichen Auftauchen des ›Vaters‹ jederzeit zu rechnen ist (»kommt der jetzt und sucht er uns«) und so das Katz-und-Maus-Spiel in jedem Augenblick neu zu beginnen droht. Diese ständig virulente Gefahr rekonstruiert Herr Salman als Grund dafür, dass die »Schulbildung echt auf der Strecke« geblieben sei.
und Jerry bemerken, der davon lebt, dass dieses Spiel durch Rollentausch immer wieder von Neuem beginnt und eröffnet wird. Auch in dem HollywoodSpielfilm Jagd auf Roter Oktober kommt eine andere Figur zum Vorschein. Darin sucht ein U-Boot-Kommandant der Hetzjagd eines strategisch günstiger positionierten Jagd-U-Boots mit einem Trick zu entkommen, den er mit den Worten kommentiert: »Die Schwierigkeit beim Katz- und Mausspiel ist zu wissen, wer die Katze ist.« Der Trick funktioniert und das Jagd-U-Boot wird zum gejagten und schließlich versenkten Objekt.
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Die bislang rekonstruierte Sequenz lässt sich bildungstheoretisch sensibilisiert in etwa folgendermaßen reflektieren: Das zunächst unproblematische und die Weltanforderungen bewältigende Nebeneinander der zwei Sprachen, in denen Herr Salman aufwächst, stößt angesichts der neuen Institution Schule an eine Grenze. Denn im Kontext Schule erfährt Herr Salman sich als Adressat von Erwartungen und Anforderungen, denen er nicht begegnen kann, indem er auf seine eingelebten Ordnungsfiguren und Orientierungen zurückgreift. In der Schule geht es um mehr und anderes als darum, wie in der Kindergartenzeit, neue Freunde zu finden. Vielmehr geht es um einen »Schulstoff«, den er sich selbst aneignen muss, und bei den Schwierigkeiten und Fragen, die sich in diesem Zusammenhang ergeben, erweist sich der naheliegende und gewohnte Weg zu den Eltern als Sackgasse, weil diese kein Deutsch sprechen und sie aus Herrn Salmans Perspektive deshalb nichts zur Bewältigung seiner Problemlage beitragen können. Vor diesem Hintergrund konfrontiert das »größte Problem« Herrn Salman mit einer Grenze vorhandener und eingelebter Orientierungen, da diese zur Lösung dieses Problems ungeeignet zu sein scheinen. Er gibt sich als jemand zu verstehen, für den der Beginn seiner Schulzeit eine Problemlage markiert, für deren Lösung oder Bearbeitung die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht ausreichen. Einerseits verschärft sich dieses Problem noch durch die kontextuellen Bedingungen wie die krisenhaften Umbrüche in der Familie. Die neue Wohnsituation im Frauenhaus und die Angst vor dem existenziell bedrohlichen Vater bilden damit den Hintergrund, der eine Lösung des Problems offenbar erschwert. Andererseits verschiebt sich das Problem, weil der existentiell bedrohlichen Katz-undMaus-Situation Priorität zukommt und die Bearbeitung und Lösung des Schulproblems zweitrangig wird. Die von Herrn Salman thematisierte, affektive Dimension der Angst scheint in Bezug auf seine Schulbildung ein Hemmnis darzustellen und aus der Perspektive des Salmanschen Welt- und Selbstentwurfs destruktiv auf die Be- und Verarbeitung seiner Problemlage zu wirken.
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» ICH
ERINNER ’ MICH NOCH PEINLICHE S ITUATION «
(…)
DAS WAR SO EINE
Herr Salman erzählt im weiteren Verlauf des Interviews, dass es nach dem Aufenthalt im Frauenhaus und den schwerwiegenden innerfamiliären Konflikten mit dem Umzug in eine neue Wohnung insgesamt sehr »bergauf« (Z. 52) gegangen sei. Er habe die Hausaufgaben nun täglich erledigt, aber die Probleme seien nicht abgerissen, weil die Hausaufgaben wegen der fehlenden Förderung »natürlicherweise« (Z. 64) falsch waren und er den Schulstoff nach wie vor alleine zu bewältigen hatte. Diese Passage zeichnet sich insgesamt dadurch aus, dass der Erzähler sich detailgenau an erlebte Situationen zurückerinnert und vergangene Erlebnisse z. B. folgendermaßen einleitet: »ich erinner mich noch (3) es war halt in der zweiten (.) dritten Klasse …« (Z. 65). Die Verwendung der indirekten Rede nimmt zu, es werden Redeweisen anderer Personen zitiert und die Passage enthält insgesamt weniger argumentative und berichtende Fakten, sondern hat stärker erzählenden, narrativen Charakter. Herr Salman erzählt also, dass er in der zweiten, dritten Klasse die Schreibschrift lernen musste, und erwähnt in diesem Zusammenhang seine ältere Schwester, die diese schon sehr gut beherrscht habe, da sie damals bereits in der fünften oder sechsten Klasse gewesen sei. Er ergänzt, dass er die gleiche Grundschullehrerin wie seine Schwester gehabt habe und bei dieser Lehrerin auch als »Bruder von« (Z. 71) bekannt gewesen sei. Seine Schwester habe ihm damals sehr viel geholfen, allerdings nicht, indem sie ihm irgendetwas etwas beigebracht hätte, sondern indem sie »zack, zack, zack« (Z. 73) die Schreibschriftaufgaben für ihn erledigt habe. So sei es schließlich zu folgender Situation gekommen, in der der Schwindel von der Lehrerin entdeckt worden sei: »Meine Lehrerin hat’s damals gemerkt. [mh] (.) Und hat gesagt das ist die Schrift deiner Schwester. Und (.) das war so (.) eine peinliche Situation (.) [mh] für mich vor meinen Mitschülern (.) [mh] eine eine (.) Bloßstellung, Demütigung (.) [mh] (.) andererseits auch sehr lehrreich für mich [aha] (.) um einfach Ansporn – ich, ich muss es doch auch können; ich muss es doch auch schaffen können (3) ä Nach dem Erlebnis, es war (.) halt ein kleines Erlebnis, aber für mich ausschlaggebend. Danach habe ich selber wirklich (.) versucht (.) die Schreibschrift zu lernen [mh] konti-
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nuierlich jeden Tag, auch wenn ich’s ä falsch mache ob richtig mache Hauptsache ich versuche es. [mh] Es hat sich denn verbessert, sehr gut sogar (.)« (Z. 74–84)
Der subjektive Wert der Verbesserung, den diese Situation für Herrn Salman hat, wird in einer ambivalenten Figur vorbereitet: Das Erlebnis sei sowohl peinliche »Bloßstellung« als auch lehrreicher »Ansporn« gewesen. Anders als die zuvor thematisierte Angst vor dem Vater, die dazu geführt habe, dass die »Schulbildung echt auf der Strecke geblieben« sei, wird hier eine unangenehm empfundene Situation, ein peinliches, demütigendes, bloßstellendes Erlebnis als ausschlaggebend für eine Veränderung, eine Verbesserung im Umgang mit den Hausaufgaben zu verstehen gegeben. Das erzählte ›Ich‹ habe nun versucht, die Schreibschrift »selber« zu lernen, kontinuierlich jeden Tag zu üben, und auch wenn die Hausaufgaben fehlerhaft geblieben seien, wird der beharrliche Versuch nun zur Hauptsache, der zudem zu einer deutlichen Verbesserung geführt habe. Bloß gestellt zu werden, hat wörtlich verstanden etwas damit zu tun, sich entblößt und nackt vor anderen zu erfahren. Eine Bloßstellung kann ebenso bedeuten, bei etwas ertappt zu werden, das als unkonventionell gilt und insofern eine Norm verletzt. Herr Salman präzisiert sein Erlebnis, indem er ein weiteres Substantiv, nämlich »Demütigung« anschließt. Dieses Substantiv legt die Vorstellung nahe, dass der Selbstwert und Stolz, die Ehre und Würde des erzählten ›Ich‹ in dieser Situation verletzt wurden. Begriffe wie Erniedrigung und Scham stehen dem Wort Demütigung nahe. Auch ein Misserfolg, der als persönliches Scheitern oder persönliche Niederlage gedeutet wird, kann als Demütigung erfahren werden. Herr Salman stellt heraus, dass sich die Situation »vor« seinen Mitschülern abgespielt habe. Diese lokale Präposition wird betont und lauter gesprochen und damit in ihrer Bedeutsamkeit akzentuiert. So wird die Räumlichkeit der Szene als relevant für ihren peinlichen und demütigenden Charakter markiert. Wenn man sich die Szene vor Augen führt, heißt ›vor‹ den Mitschülern zu sein, sowohl dem Blick der gesamten Gruppe als auch den Blicken der je einzelnen Augenpaare ausgesetzt zu sein, die ihn mit der entlarvenden Ansprache der Lehrerin konfrontiert sehen. Diese Kombination führt offenbar zu der Situation als einer peinlichen und demütigenden. Sie wird als »kleines Erlebnis« gedeutet, das nichtsdestotrotz »ausschlaggebend« gewesen sei. Sie wird von Herrn Salman insofern als Auslöser oder Anlass für eine Veränderung und Verbesserung des Umgangs mit Hausaufgaben gedeutet.
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Der Charakter der Situation wird in einer Redefigur der zwei Seiten entworfen: Vor den Mitschülern bloßgestellt zu werden, sei sowohl peinlich gewesen, eine Demütigung, »andererseits auch sehr lehrreich«, ein »Ansporn«. Die Situation wird im Rahmen einer Figur interpretiert, in der peinliche Demütigung und lehrreicher Ansporn als die zwei Seiten der Situation zum Vorschein gebracht werden. Diese beiden Seiten gehören zunächst in dem Sinne zusammen, dass sie die Situation in ihrer Eigenart kennzeichnen. Die Bloßstellung und der lehrreiche Ansporn sind vor diesem Hintergrund in ihrer Zusammengehörigkeit ein situationskonstitutives Merkmal. Erst beide Aspekte in ihrer Verbundenheit führen zu jener gesagten Veränderung im Umgang mit Hausaufgaben, die als Verbesserung gedeutet wird. Herr Salman entwirft damit beide Seiten als ausschlaggebend für seinen anschließend veränderten Umgang mit den Hausaufgaben. Semantisch legt das Adverb andererseits eine unüberbrückbare Gegenüberstellung von Gegensätzlichem nahe, ähnlich wie bei einem Fluss, über den es keine Brücke gibt. Die peinliche Situation, die Bloßstellung und Demütigung steht aber nur auf den ersten Blick in einem semantischen Gegensatz zum lehrreichen Ansporn. Zwar dient das Adverb »andererseits« üblicherweise in Verbindung mit dem Adverb »einerseits« dazu, widersprüchliche Sachverhalte einander gegenüber zu stellen. Ebenso kann es aber bei Aufzählungen einander ergänzender Sachverhalte verwendet werden. Für diese zweite Variante spricht im vorliegenden Abschnitt die von Herrn Salman gewählte Verknüpfung »andererseits auch«. Denn das Adverb »auch« verweist darauf, dass die Situation ebenso und gleichfalls ein lehrreicher Ansporn war. Herr Salman kennzeichnet die Situation insofern durch zwei Aspekte, die als Ergänzungsverhältnis entworfen werden und in diesem Sinne zusammengehören. So wird eine Redefigur gewählt, in der die zwei Momente der Situation nicht als Gegensätze, sondern sowohl als auch zum Vorschein kommen. In Herrn Salmans Redefigur sind Demütigung und Ansporn nicht nur zugleich möglich, sondern in ihrer Verbundenheit geradezu der entscheidende Aspekt jenes Erlebnisses, das als ausschlaggebend für eine Veränderung gedeutet wird. Auch an dieser Stelle wird ein ›Ich‹ erzählt, das sich mit der peinlichen Demütigung auf einer emotionalen und gefühlsmäßigen, auf einer affektiven und pathischen Ebene getroffen entwirft und dieses Getroffensein als einen Ansporn deutet, der in eine Veränderung und Verbesserung mündet. Die Bloßstellung und Demütigung, das Peinliche der Situation besteht darin, dass er vor den Mitschülern als jemand erscheint,
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der etwas selber nicht schafft und kann. Es geht weniger darum, wie sich ebenso vermuten ließe, dass er bei einem Betrugsversuch ertappt wird, der unangenehme Konsequenzen für seine weitere Schullaufbahn haben könnte oder z. B. moralische Grenzen überschreitet. Dieser Aspekt ist deshalb bemerkenswert, weil er etwas über Herrn Salmans Welt- und Selbstentwurf verrät. Der hier rekonstruierbare Problembearbeitungsversuch von Herrn Salman besteht darin, bisher zwar nicht aktivierte, aber potenziell bereitliegende Problemlösungsmöglichkeiten auszuloten und in eine Verhaltensoption zu übersetzen, die dann realisiert wird. Das heißt, dass Herr Salman erfährt, dass er sich den Schulstoff gar nicht in dem Sinne alleine aneignen muss, wie es ihm zuvor erschien, damit sich sein Problem löst. Vielmehr entdeckt er in der Person der Schwester eine Ansprechpartnerin, die den Schulstoff bewältigen kann, sodass sein Problem zwar nicht von ihm, wohl aber für ihn gelöst ist. Er entdeckt ein Potenzial zur Lösung seines Problems, das zwar längst bereit lag, aber bislang nicht aktualisiert oder ausgeschöpft worden war. Herr Salman hatte bereits an früherer Stelle erzählt, dass er mit der Schwester auch zu Hause Deutsch spricht, und wichtiger noch: Seine Schwester hat die Grundschule bereits erfolgreich abgeschlossen und dieser Aspekt seiner Erzählung gehört damit zu seinem impliziten Welt- und Selbstentwurf. Die Aktivierung oder Realisierung dieses bereitliegenden Potenzials war zur Bewältigung jener sozialen Anforderungen, die ihm vor dem Schuleintritt gestellt worden waren, aber schlicht nicht nötig, sodass es zunächst nicht als eine Lösungsmöglichkeit für das Problem der Aneignung des Schulstoffs vergegenwärtigt wurde. Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage, wie sich die Be- und Verarbeitung der Problemlage beschreiben lässt. Es lässt sich vermuten, dass die hier vorliegende Bearbeitung als erneuter Aushandlungsprozess bislang nicht aktualisierter oder nicht realisierter Potenziale bereits bereitliegender Orientierungen des Welt- und Selbstentwurfs hinsichtlich ihrer Problemlösungskapazität stattfindet. Geht es angesichts neuer Problemlagen also darum, den Reichtum gegebener Welt- und Selbstentwürfe in Bezug auf ihr Problembearbeitungspotenzial allererst zu entdecken? Möglicherweise ähnlich wie der Wert ausländischer Münzen im eigenen Portemonnaie erst während des Auslandsaufenthalts realisiert und eingesetzt werden kann, und zwar dadurch, dass sich diese Münzen erst dort in ihrem Tauschwert erweisen können?
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Sich an die Schwester zu wenden und sie die Hausaufgaben erledigen zu lassen, kann vor dem bisherigen Hintergrund insofern als funktionale Problembearbeitung gelten, als das konkrete Problem für das erzählte ›Ich‹ damit gelöst ist. Herrn Salmans Strategie lässt sich damit theoretisch als Versuch beschreiben, das Problem zu bearbeiten, indem neue Verhaltensoptionen aus den bereitliegenden Welt- und Selbstentwürfen entdeckt, ausgelotet und realisiert werden. Die Problembearbeitung erfolgt in diesem Fall, indem Figuren des Welt- und Selbstentwurfs ausgelotet werden, die bereits vorliegen, aber bis zum Eintritt in die Schule nicht aktualisiert oder realisiert worden waren. Das Spannende ist, dass eben diese Strategie scheitert, der Schwindel fliegt auf, stößt an eine institutionelle Grenze und diese Erfahrung des Scheiterns wird im Interview verbunden mit Redefiguren des Getroffenseins auf einer emotionalen, gefühlsmäßigen, affektiven oder pathischen Ebene, die ihren Ausdruck in der Ambivalenz von peinlicher Demütigung und lehrreichem Ansporn findet. Das Bemerkenswerte daran ist, dass sich die Problematik hier erneut verschärft und verschiebt. Herr Salman ist möglicherweise damit konfrontiert, dass sein Problem nicht im Rahmen bereits vorhandener Lösungsstrategien bearbeitet werden kann. Wie geht dieses Getroffensein vor sich? Das erzählte ›Ich‹ verknüpft die erinnerte Bemerkung der Lehrerin »Das ist die Schrift deiner Schwester« (Z. 75–76) in einer spezifischen Art und Weise. Sie wird, wie in jeder kommunikativen Interaktion, aufgegriffen, indem bestimmte Deutungsangebote realisiert werden und andere nicht. So enthält die Bemerkung der Lehrerin unter anderem folgende Deutungsmöglichkeiten, die Herr Salman hätte aufgreifen können: 1. »Das ist die Schrift deiner Schwester«. Das heißt, du hast betrogen und dich im Rahmen der Institution Schule moralisch falsch verhalten. Mit dieser Aufnahme wäre also eine Art ›moralisches‹ Deutungsangebot aufgegriffen worden. 2. »Das ist die Schrift deiner Schwester«. Das heißt, dass dir die Erledigung der Hausaufgabe für deinen eigenen Lernfortschritt überhaupt nichts gebracht hat. Mit einem solchen Anschluss wäre ein klassisch pädagogisches, selbstreflexives Deutungsangebot aufgenommen worden. 3. »Das ist die Schrift deiner Schwester«. Das heißt, dass du dich beim nächsten Versuch, mich zu täuschen, einfach cleverer anstellen musst. Diese Variante ließe sich als Aufnahme eines pragmatisch-strategischen Deutungsangebots beschreiben. 4. »Das ist die Schrift deiner Schwester«. Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass die Lehrerin soeben behauptet
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hat, dass das deine Schwester geschrieben hat. Sie gibt also vor, ihre Schrift erkannt zu haben, sich an ihre Schrift zu erinnern etc. Diese Version ließe sich als Aufnahme eines deskriptiv-neutralen, Fakten feststellenden Deutungsangebots charakterisieren. In diesem Interviewausschnitt gibt es jedoch kaum Hinweise darauf, dass eines dieser Deutungsangebote realisiert würde. Herr Salman greift den erinnerten Satz der Lehrerin vielmehr auf, indem er in einer fünften Variante auf seine Position vor seinen Mitschülern abhebt. »Das ist die Schrift deiner Schwester« deutet er als: Du bist nicht fähig, deine Hausaufgaben alleine, also ohne die Hilfe der anderen zu erledigen. Du kannst das einfach nicht. Diese Unfähigkeit wird hier bloßgestellt und macht die Nacktheit vor seinen Mitschülern aus, darin besteht die Demütigung. Herr Salman entwirft hier ein ›Ich‹, das es nicht kann, aber können müsste. Das entworfene ›Ich‹ erscheint als unfähig, das heißt, als ein ›Ich‹, das vor der Klasse nicht potent erscheint. Das lässt ihn nicht unberührt, sondern spornt ihn an. Diese Interpretation erscheint gerechtfertigt, weil an die Bemerkung der Lehrerin und die Rede von Peinlichkeit und Ansporn der Hinweis geknüpft wird: »ich, ich muss es doch auch können; ich muss es doch auch schaffen können« (Z. 79). Dieser an das eigene ›Ich‹ gewendete Imperativ wird einem ›Ich‹ gestellt, das hier drei Mal, also auffallend häufig und ohne grammatikalische Notwendigkeit als jene Instanz artikuliert wird, der es doch auch gelingen müsse, die verlangte Schreibweise, die Schreibschrift wie die Schwester zu beherrschen. Damit verschiebt sich die Rolle der Schwester als einer Ansprechpartnerin, die seine Probleme für ihn löst, hin zu einer Vorbildfigur, der nachgeeifert werden kann, weil sie beherrscht, was Herr Salman ebenfalls anstrebt. Im Unterschied zur Erledigung des Problems durch seine Schwester kann und muss das Problem nun von ihm gelöst werden. Die Schwester spornt ihn an, weil sie bereits bewiesen hat, dass es zu schaffen ist, dass das Problem also auch von ihm alleine gelöst werden kann und gleichzeitig aber auch von diesem ›Ich‹ (ich, ich) gelöst werden muss. Denn die Schwester hat es ja auch alleine geschafft, auch sie hatte ja keine Hilfe seitens der Eltern. Hinzu kommt, dass die Situation vor den Mitschülern strukturell nur unter einer der zwei folgenden Voraussetzungen (oder Vorstellungen) zur peinlichen Demütigung und Bloßstellung wird: Erstens, wenn zumindest einem Teil von ihnen unterstellt wird, dass auch sie zur Erledigung der Schreibschrift alleine fähig sind und insofern den Erwartun-
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gen der Institution Schule entsprechen. Zweitens, wenn Herr Salman voraussetzt, dass die Mitschüler bemerkt haben müssen, dass seine Schwester es ja auch alleine geschafft hat und also auch er es schaffen können muss, weil er die gleichen familiären Bedingungen hat. Wenn jedoch vorausgesetzt würde, dass niemand das alleine schafft, könnte und müsste Herr Salman in ihrem Blick auch nicht als unfähig dastehen. Wenn seine Schwester es aber alleine geschafft hat, dann verlieren die von Herrn Salman genannten inneren und äußeren Umstände an legitimatorischer Begründungskraft für seine Schwierigkeit, sich den Schulstoff alleine anzueignen. Denn von den fehlenden Deutschkenntnissen der Eltern und dem gewalttätigen Vater war ja auch die Schwester betroffen. Es liegt dann aber ausschließlich an Herrn Salman selbst, an seiner eigenen Unzulänglichkeit als Individuum, dass er es nicht schafft. Nicht die Umstände sind die Ursache seines Versagens, er selbst versagt. Vor diesem Hintergrund geht es in dieser Szene um das demütigende Erlebnis, sich in seiner individuellen Unzulänglichkeit bloßgestellt zu sehen, und darum, sich ausgehend von den gesellschaftlichen Bedingungen als auf sich selbst zurückgeworfenes, selbstverantwortliches Individuum zu erfahren. Diese Verantwortung wiegt schwer, vielleicht zu schwer. Diese Struktur ist m. E. im Verlauf der Sequenz angelegt. Sie lässt sich jedoch nur interpretativ erschließen und diese Vorstellungen werden von Herrn Salman weder explizit thematisiert, noch bewusst reflektiert.4 Vor diesem Hintergrund geht es in dieser Sequenz um unterstellte Erwartungen anderer, mit denen Herr Salman sich identifiziert und denen er nicht entspricht. Das heißt, es geht hier um einen Abstand, der zwischen einem unterstellten Anspruch und erfahrener Wirklichkeit besteht. Dieser Abstand scheint auf einer emotionalen oder affektiven Ebene eindrucksvoll zu wirken. Das Bemerkenswerte an dieser Szene ist vor diesem Hintergrund erstens, dass Herr Salman sich bloßgestellt, gedemütigt und peinlich
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Es handelt sich hierbei um ›latente Sinnstrukturen‹. Dieser Begriff ist jedoch theoretisch, methodologisch und methodisch voraussetzungsreich. Daher hebe ich ihn hervor und setze ihn in einfache Anführungszeichen. Im Grundgedanken geht es darum, dass Interviewtexte nicht nur einen manifesten, textuellen Sinn enthalten, sondern ebenso eine darunter liegende, latente Bedeutungsschicht. Vgl. zur latenten Sinnstruktur z. B. aus Oevermanns objektiv hermeneutischer Perspektive einleitend und zusammenfassend Wernet 2000: 18–19.
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berührt fühlt. Es sind Gefühlsqualitäten, die dieser Situation ihre spezifische Färbung geben. Auch der motivierende Ansporn weist in diese Richtung, wenn man bedenkt, dass der Ansporn wörtlich verstanden jenen Impuls bezeichnet, den das Pferd verspürt, sobald der Reiter ihm die Sporen gibt (vgl.: Grimm / Grimm [1854] 1971, Bd. 1, Sp. 467)5. So erscheint die emotionale Qualität dieser Situation ausschlaggebend für seine Veränderung zu sein. Zweitens lässt sich festhalten, dass sich der Gehalt des bearbeiteten Problems um eine Ebene erweitert, die vorläufig als Ebene des Gefühls, der Emotion, des affektiven Getroffenseins beschrieben werden kann. Drittens lässt sich ausgehend von dieser Sequenz eine Vermutung darüber formulieren, wie Herr Salman seine Problemlage strukturell zu bearbeiten scheint: Ein Problem, das ihm auf einer emotionalen Ebene widerfährt, wird in ein Verhaltensproblem übersetzt, um dann auf dieser Ebene bearbeitet zu werden und in dieser Sequenz auch gelöst zu werden: »Es hat sich denn verbessert, sehr gut sogar.« (Z. 83) Herr Salman verändert nach diesem ausschlaggebenden Erlebnis seinen Umgang mit Hausaufgaben. Er versucht selber, »die Schreibschrift zu lernen«, kontinuierlich und jeden Tag. Dadurch verschiebt sich ein verhaltensleitendes Kriterium seines Welt- und Selbstentwurfs: Es sei nun egal gewesen, ob er die Aufgaben richtig oder falsch mache, die Hauptsache sei gewesen, es zu versuchen.
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ZUSAMMENGEBROCHEN «
In einer anschließenden Sequenz erzählt Herr Salman von seinem sehr erfolgreichen Realschulabschluss, den er nicht zuletzt durch die Mithilfe seiner Klassenkameraden erreicht habe (vgl. z. B. Z. 158). Diesem Abschluss folgt die Entscheidung, die gymnasiale Oberstufe zu besuchen, um das Abitur zu machen. Trotz aller Anstrengungen habe er jedoch die schriftlichen Abiturklausuren nicht bestanden, sodass er eine mündliche Nachprüfung habe ablegen müssen. Auch für diese Prüfung sei sehr intensiv gelernt worden, sodass er seiner Wahrnehmung nach schließlich jede Frage wie gefor-
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Dort formulieren die Grimms: »Anspornen, das Pferd anspornen, ihm die spornen geben; und davon oft figürlich, zur Eile, zur Rache, zur Tugend anspornen; durch die immer nahe gefahr des mangels angespornt. (Wieland 7, 229)« (ebd.)
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dert habe beantworten können. Allerdings scheitert die mündliche Prüfung. Er erzählt davon wie folgt: »Da ist meine Welt zusammengebrochen. [mh] (4) Also das war sogar schlimmer als (.) der Tod meines Vaters, [mm] (.) kann ich so sagen. (4) Ne, jegliches Vertrauen (.) in einen Menschen (.) ist in diesem Augenblick (.) [mh] von Winde verweht. Das (.) ist nicht zu beschreiben [mh] es (.) deine Freunde haben ihren Abitur (.) und du (3) hast deine letzte Chance (.) verspielt. [mm] (2) Das Gefühl kann ich nicht (.) ä [ne] weiß ich nicht, [ne] großartig beschreiben, es ist (3) ja. (.) Zu der Zeit war es halt ein sehr sehr großer Niederschlag für mich. [mm] (3) /atmet ein/ Ich bin natürlich nach Hause und (3) habe erstmal einige Stunden geweint [mh] (.)« (Z. 292–300)
Herr Salman deutet sein Scheitern als fundamentale Krisenerfahrung, als Zusammenbruch seiner Welt, sodass dem Zusammenhang dieser Passage ex negativo Hinweise auf den zusammengebrochenen Welt- und Selbstentwurf zu entnehmen sind. Für ihn steht wiederum eine affektive Dimension des Welt-Zusammenbruchs im Vordergrund, die hier in einer Redefigur gesagter Unsagbarkeit zum Ausdruck kommt: »Das Gefühl kann ich nicht großartig beschreiben«. Die Brisanz wird mit dem Tod seines Vaters verglichen und als »sogar noch schlimmer« bewertet. Bemerkenswert ist, dass der Verlust jeglichen Vertrauens in einen Menschen als das krisenhafte Moment der nicht bestandenen Prüfung zu verstehen gegeben wird und dass eben dieser Verlust die Besonderheit des Welt-Zusammenbruchs ausmacht. Mindestens vier Aspekte enttäuschten Vertrauens lassen sich aus dem Interview erschließen: Erstens hatte der Erzähler seiner Ansicht nach jede Aufgabe gelöst, sodass er darauf vertrauen konnte, dass er die Prüfung bestanden hat, sofern seine Leistung nur angemessen beurteilt würde. Aus dieser Perspektive geht es um das Vertrauen in die gerechte Beurteilung seiner Leistung, das verloren wurde, wodurch das Vertrauen in die Gerechtigkeit der Welt zusammenbricht. Zweitens hatte der ihm sympathische und wohlgesonnene Biologielehrer ihm eindeutig signalisiert (strahlendes Lächeln und Daumen hoch; Z. 288 ff.), dass die mündliche Prüfung erfolgreich absolviert worden war. Vor diesem Hintergrund wird das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Signale ihm sympathischer und zugeneigter Personen erschüttert, das somit in einen Verlust des Vertrauens in die Verlässlichkeit von Menschen umschlägt. Damit hängt drittens der Verlust des Vertrauens in seine Interpretation scheinbar eindeutiger Gesten zusammen
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(Daumen hoch, strahlendes Lächeln heißt: Die Prüfung ist bestanden). Es geht insofern auch um das erschütterte Vertrauen in die Verlässlichkeit der eigenen Welt- und Selbstdeutungen. Für diese Lesart spricht der Verweis auf die Freunde, die bezeugen könnten, was er gesehen habe, sodass seine Wahrnehmung zwar intersubjektiv abgesichert werden kann, aber eben auch muss. Der Verlust jeglichen Vertrauens in einen Menschen schließt viertens auch ihn selbst ein. Das Vertrauen in das erzählte ›Ich‹ selbst geht verlustig, das seine letzte Chance verspielt und insofern versagt hat und damit auch jedes Selbstvertrauen verliert. Eine Grundfigur, in der Herr Salman sich und die Welt gedeutet hatte, lässt sich damit folgendermaßen skizzieren: Letztlich lebe ich in einer Welt, in der es gerecht zugeht. Letztlich kann ich in dieser Welt zumindest jenen Menschen vertrauen, die ich selbst für vertrauenswürdig halte. Letztlich kann ich in dieser Welt auf meine eigene Wahrnehmung in dem Sinne bauen, dass sich daraus verlässliche Interpretationen ableiten lassen, die sich auch intersubjektiv absichern lassen. Und letztlich kann ich auf mich selbst und meine eigene Leistungsfähigkeit vertrauen. Mindestens diese vier Ebenen des gewohnten, vertrauten Welt- und Selbstentwurfs lassen sich aus dieser Passage als zusammengebrochene, als verlorene erschließen. Sie erscheinen als Zusammenbruch der selbstverständlichen Gewissheiten, als Zusammenbruch des Fundaments, auf dessen Grund Herrn Salmans Orientierungsmöglichkeiten beruhten. Dieser Zusammenbruch des Fundaments geht mit einer Grenze des Sagbaren einher, die stark affektiv gefärbt ist: Dieser Verlust sei nicht zu beschreiben, das Gefühl könne er nicht großartig beschreiben. Herr Salman erzählt diese Erfahrung in einer Redefigur gesagter Unsagbarkeit. Die Unsagbarkeit des Erfahrenen führt also nicht in ein Schweigen, in dem sie stumm verbliebe. Vielmehr drängt sie geradezu umgekehrt nach weiteren Symbolisierungen, die aber in Klammern stehen, da sie die Differenz zur unsagbaren Erlebnisqualität mitführen. Die Reden vom »Niederschlag«, vom »Weinen«, vom »gekränkt« und »deprimiert sein« (Z. 292 ff.) lassen sich vor diesem Hintergrund als symbolische Annäherungsversuche an Nicht-Symbolisierbares interpretieren. Diese Versuche lassen sich über die nächsten vierzig Zeilen der Erzählung nicht still stellen. Der Erzähler macht schließlich eine Art Schnitt und übersetzt die affektiv gefärbte Problemlage erneut in ein Verhaltensproblem, um es auf dieser
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Ebene anzugehen, Möglichkeiten auszuloten und so zu bearbeiten. Das erzählte ›Ich‹ verändert seine Zielperspektive und entscheidet sich gegen das Abitur und für das Fachabitur, für ein anschließendes Praktikum und beginnt schließlich ein Studium. Auch diese Veränderung nimmt also ihren Ausgang von einer krisenhaft erlebten Problemlage, die eine starke emotionale, gefühlsmäßige, affektive oder pathische Färbung aufweist.
T HEORETISCHE A NSCHLUSSFRAGEN Die bislang skizzierten Interpretationsspuren von Herrn Salmans transkribierter Erzählung seines Lebens- und Bildungswegs legen die Vermutung nahe, dass ein Zusammenhang zwischen krisenhaften Erfahrungen und Veränderungen von Welt- und Selbstentwürfen besteht. Die Krisenerfahrungen, die in diesem Interview zur Sprache kommen, ermöglichen die Präzisierung dieser Vermutung, denn sie weisen regelmäßig eine starke emotionale, gefühlsmäßige, pathische oder affektive Färbung auf. Diese Präzisierung ist jedoch begrifflich tastend und unscharf, sodass sie theoretischer Ausarbeitung bedarf. Kokemohrs Vorschlag, »Bildung als Prozess aufzufassen und als Prozess der Be- oder Verarbeitung solcher Erfahrungen zu untersuchen, die der Subsumtion unter Figuren eines gegebenen Welt- und Selbstentwurfs widerstehen« (Kokemohr 2007: 21), erscheint vor dem Hintergrund des Interviews mit Herrn Salman grundsätzlich aufschlussreich. Ausgehend von den bisherigen Interpretationen lässt sich die Hypothese formulieren, dass sich subsumtionsresistente Erfahrungen auch auf jener Ebene ausspielen, die zuvor als affektive, emotionale, gefühlsmäßige oder pathische Ebene angedeutet wurde. Entsprechend stellt sich die Frage, wie die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung, wie beispielsweise Kokemohr das hier zum Vorschein kommende Getroffensein in theoretischer Hinsicht berücksichtigt. Dass er es mit der bildungstheoretischen Wendung des Waldenfelsschen Begriffs des Fremden berücksichtigt, ist unstrittig (vgl. Kokemohr 2007: 27–32). Das im Interview erzählte ›Ich‹ entwirft sich immer wieder in seinem Getroffensein von Situationen, in die es nicht intentional hineingerät und in denen sich etwas »zeigt, indem es sich uns entzieht« (Waldenfels 1997: 42, Hervorhebung im Original). Und:
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»Eine Situation, in die die wir geraten oder in der wir uns befinden, läßt sich nicht auf kognitive und praktische Leistungen reduzieren.« (Waldenfels 1991: 122)
Dieser Satz trifft auch auf die bisherigen Interpretationen des Interviewtextes zu. Kokemohr wiederum beschreibt solche Situationen, indem er auf das »vor aller Figuration wirkende Reale unserer Existenz« (vgl. a.a.O.: 15) verweist, das zwar Unruhe stiften könne, nicht aber frei von aller Figuration als solches erscheinen könne (ebd.). Das reale Getroffensein von Herrn Salman kommt zum Beispiel als Demütigung, Ohnmacht gegen Gewalt, Vertrauensverlust, Angst, unbeschreibliches Gefühl und in Redefiguren gesagter Unsagbarkeit zur Sprache. Regelmäßig werden diese problematischen Erfahrungen in Verhaltensprobleme übersetzt, also umgearbeitet, umgedeutet, um dann auf dieser Ebene bearbeitet zu werden. Das Handlungsmuster (oder Handlungsschema) kraft dessen die Verhaltensprobleme bearbeitet werden, scheint stabil zu bleiben. Zudem bleibt aber die andere, die gefühlsmäßige oder affektive Dimension des Problems nicht nur virulent, sie bricht vielmehr immer wieder in den Verlauf der Erzählung ein und wird durch ihre Be- und Verarbeitung als Verhaltensproblem nicht nur nicht gelöst, sondern treibt wie eine Art beunruhigendes Potenzial weiteres Erzählen an. Einen gelungenen Bildungsprozess im Sinne einer Veränderung »Grund legender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses« zu behaupten, wäre gleichwohl verfrüht. Es sind vielmehr die Fragen, die sich stellen, die den Ertrag der bisherigen Interpretationen ausmachen. Wie lässt sich dieses krisenhafte Getroffensein in seiner nichtkognitiven und nicht auf praktische Leistungen zu reduzierenden Dimension begrifflich genauer fassen? Im Interview mit Herrn Salman kommt es zur Sprache und fordert Veränderungsprozesse zumindest heraus; vielleicht treibt es sie sogar an? Es war bislang begrifflich lediglich tastend die Rede von einer Ebene des Gefühls, der Emotion, des Affekts oder des Pathos, die in diesem krisenhaften Getroffensein und in den herausgeforderten Veränderungsprozessen eine wichtige Rolle spielt. Wie lässt sich diese Ebene begrifflich und theoretisch präzisieren? Wie lässt sich das Verhältnis von peinlich demütigender Bloßstellung und Ansporn, das hier zum Vorschein kommt, bildungstheoretisch begreifen? Und lassen sich aus theoretischer Perspektive möglicherweise einzelne Affekte präzisieren und eingrenzen, die in Bezug auf Veränderungen von Welt- und Selbstentwürfen eine besondere Rolle spielen und sich z. B. begünstigend
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beziehungsweise erschwerend auf Veränderungen von Welt- und Selbstentwürfen auswirken? Kommt der Affekt Angst in diesem Zusammenhang in besonderer Weise infrage? Diese Fragen sind weitreichend und sollen nicht vorschnell beantwortet werden. In Bezug auf die Frage nach der theoretischen Präzisierung der Herausforderung für Prozesse der Veränderung Grund legender Figuren des Weltund Selbstentwurfs liegen jedoch inzwischen eine Reihe ausgearbeiteter Vorschläge vor, die beispielsweise Bucks Konzept negativer Erfahrung, Waldenfels’ zumindest erwähntes Konzept der Erfahrung des Fremden oder Lyotards Philosophie des Widerstreits bildungstheoretisch fruchtbar machen (vgl. Koller 2012: 69–98; Kokemohr 2007: 27–32). Diese bildungstheoretischen Wendungen wären in Bezug auf die Frage zu untersuchen, ob und in welcher Weise jenes emotional, gefühlsmäßig, affektiv oder pathisch gefärbte Moment von Bildung je und je begrifflich gefasst wird und was jene begrifflichen Fassungen im Lichte des Interviews mit Herrn Salman besagen und mehr zu bemerken erlauben, als es eine mehr oder weniger theoretisch zurückhaltende empirische Analyse wie die Vorliegende leisten kann und will. Mit diesen theoretischen Überlegungen und ihren methodologischen und methodischen Konsequenzen wäre erneut an das Interview heranzutreten, um die Theorie einerseits empirisch gehaltvoll zu erproben und um andererseits die theoretischen Überlegungen zu modifizieren bzw. grundlegend zu verändern. Vielleicht ist ja auch der letzte Satz der Haupterzählung von Herrn Salman, kurz vor der Erzählkoda, in dem es um seine aktuelle Studiensituation geht, eine Anregung für weiteres Nachdenken: »Es ist wieder dasselbe Katz-und-Maus-Spiel [mh] (2) Aber da ich mich schon dran gewöhnt habe (4) Niederlagen einzustecken, auch Gutes zu erleben (4) macht es mir keine Sorgen, [mh] also ich weiß, ich habe mein Ziel vor Augen [mh] (2) ob, (2) wann ich nun dahin komme das (.) steht noch nicht fest, aber (.) dass ich dahin komme; das weiß ich /klopft sanft auf den Tisch/. (.) [mh] (.) Ja, das is’ (.) so (2) zu meine Lebensgeschichte (.) zu sagen.« (Z. 413–418)
Z UR K RISE
UND IHRER AFFEKTIVEN
D IMENSION
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L ITERATUR Bühler, Karl (1965, 1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart / New York: Fischer. Grimm, Jakob / Grimm, Wilhelm (1971, 1854): Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm. 16 Bd. in 32 Teilbänden. Leipzig / München 1854–1961, Bd.1, von Hirzel / DTV. Kokemohr, Rainer (2007): Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden. Eine theoretisch-empirische Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie. In: Koller, Hans-Christoph / Marotzki, Winfried / Sanders, Olaf (Hg.): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Bielefeld: transcript, S. 13–68. Koller, Hans-Christoph (2006): Das Mögliche identifizieren? In: Pongratz, Ludwig / Wimmer, Michael / Nieke, Wolfgang (Hg.): Bildungsphilosophie und Bildungsforschung. Bielefeld: Janus Presse, S. 37–65. Ders. (2012): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer. Marotzki, Winfried (2008): Qualitative Biographieforschung. In: Flick, Uwe / von Kardorff, Ernst / Steinke Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 175–186. Strauss, Anselm / Corbin, Juliet (1965): Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz. Waldenfels, Bernhard (1991): Der Stachel des Fremden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ders. (1997): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Wernet, Andreas (2000): Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. In: Bohnsack, Ralf / Lüders, Christian / Reichertz, Jo (Hg.): Reihe Qualitative Sozialforschung, Bd. 11. Opladen: Leske + Budrich.
Subjektivation und transformatorische Bildungsprozesse im Interview mit Hakan Salman1 H ANS -C HRISTOPH K OLLER
Das Interview mit Hakan Salman enthält eine Bildungsgeschichte in doppelter Hinsicht. Es berichtet zunächst von einer unerwartet erfolgreichen Bildungskarriere im Sinne formaler, schulischer Bildung, die den Protagonisten zum Fachabitur und zur Aufnahme eines Studiums führt, obwohl die Bedingungen dafür alles andere als günstig waren. Das wirft die Frage auf, wie der junge Mann aus einer Familie türkischer Migranten es trotz dieser widrigen Bedingungen zu jenem Bildungserfolg gebracht hat. Wie, so möchte man wissen, ist es ihm gelungen, die Schule erfolgreich abzuschließen und ein Studium aufzunehmen, obwohl er aus einem, wie es im PISADeutsch heißt, ›bildungsfernen‹ Elternhaus stammt, obwohl sein Vater Frau und Kinder so drangsalierte, dass diese zeitweilig im Frauenhaus Zuflucht suchten, obwohl er dann ohne Vater aufwachsen musste und obwohl seine Mutter bis heute kein Deutsch spricht? Darüber hinaus lässt sich Hakan Salmans Erzählung aber auch als die Geschichte eines Bildungsprozesses in einem umfassenderen Sinn des Wortes verstehen, nämlich als die Geschichte der Konstitution und Transformation eines Subjekts in seinem Verhältnis zur Welt, zu anderen und zu sich
1
Für kritische Anmerkungen zu einer früheren Fassung dieses Beitrags danke ich Bettina Kleiner.
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selber. Eine solche Deutung geht von der Vermutung aus, dass Gegenstand von Hakan Salmans Darstellung nicht nur seine Bildungskarriere im formalen, institutionellen Sinne ist, sondern auch die Geschichte seiner Entwicklung als Person und seines Gewordenseins von dem, der er (seiner Erzählung nach) einmal war, zu dem, als der er sich zum Zeitpunkt des Interviews entwirft. Zu fragen wäre dann, inwieweit es in der erzählten Geschichte zu Bildungsprozessen im Sinne einer Transformation von Hakan Salmans Welt- und Selbstverhältnis gekommen ist, wie sich diese Veränderung vollzogen hat und was die Bedingungen dafür waren, dass ein solcher Transformationsprozess zustande kam oder aber dass er be- oder gar verhindert wurde. Es ist diese zweite Frage, die im Zentrum des folgenden Beitrags stehen wird. Freilich kann sie nicht unabhängig von der ersten bearbeitet werden, da die Geschichte, die hier erzählt wird, entsprechend der Fragestellung des Interviewers und des Forschungsprojekts, innerhalb dessen das Interview stattfand, in erster Linie die Geschichte seiner schulischen Bildung ist. Doch wenn im Folgenden von Bildung die Rede ist, ist damit nicht nur oder nicht vorrangig der mehr oder weniger erfolgreiche Besuch von Bildungsinstitutionen gemeint, sondern vielmehr der Prozess des Werdens eines Subjekts in seinem Verhältnis zur Welt, zu anderen und zu sich selbst, wie es der Tradition der Bildungstheorie seit Humboldt entspricht. Der Beitrag ist so aufgebaut, dass in einem ersten, kürzeren Abschnitt etwas genauer davon die Rede sein wird, was in diesem Kontext unter Bildung bzw. Bildungsprozessen zu verstehen ist. Im zweiten Abschnitt wird der theoretische Zugang zugeschärft, indem ich Judith Butlers Konzeption der Subjektivation erläutere, die ich als einen begrifflichen Rahmen verstehe, der er es erlaubt, Subjektwerdung als die Konstitution von Welt- und Selbstverhältnissen zu begreifen und Bildungsprozesse als deren Transformation zu beschreiben. Im dritten und ausführlichsten Abschnitt werden dann ausgewählte Passagen aus dem Interview mit Hakan Salman einer Analyse und Interpretation unterzogen, die die Frage nach dem Zusammenhang von Subjektivation und Bildungsprozessen in den Mittelpunkt stellt.
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TRANSFORMATORISCHE
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D AS K ONZEPT TRANSFORMATORISCHER B ILDUNGSPROZESSE Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist das Konzept transformatorischer Bildungsprozesse, das ich im Anschluss an Rainer Kokemohr und Winfried Marotzki entwickelt und in verschiedenen Publikationen zur Diskussion gestellt habe (vgl. Koller 2011 und 2012).2 Bildung wird darin als Transformation der grundlegenden Figuren verstanden, kraft derer ein Subjekt sich zur Welt, zu anderen und zu sich selbst verhält. Ein solcher Transformationsprozess wird dieser Konzeption zufolge notwendig, wenn ein Subjekt Erfahrungen macht bzw. auf Probleme stößt, die sich mit den etablierten Figuren des bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses nicht mehr befriedigend bearbeiten lassen. Vor diesem Hintergrund müsste eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse drei Fragen beantworten, nämlich erstens: wie sich die Struktur von Welt- und Selbstverhältnissen theoretisch angemessen beschreiben (und empirisch rekonstruieren) lässt, zweitens: welche Erfahrungen bzw. Problemkonstellationen den Anlass bzw. die Herausforderung zur Infragestellung und Veränderung eines etablierten Weltund Selbstverhältnisses liefern, und drittens: wie sich die Transformation, als welche Bildung hier verstanden wird, konkret vollzieht, also welche Prozessstrukturen solche Transformationen aufweisen und welche Bedingungen maßgeblich dafür sind, ob die Konfrontation mit neuartigen Erfahrungen tatsächlich zur Entstehung neuer statt zur Verfestigung etablierter Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses führen. An anderer Stelle habe ich versucht herauszuarbeiten, welche soziologischen, psychologischen und philosophischen Theorien – von Bourdieus Habitustheorie über phänomenologische Konzepte der Erfahrung des Fremden bis zu Oevermanns Versuch einer sozialwissenschaftlichen Erklärung der Entstehung von Neuem – dazu beitragen könnten, Antworten auf diese Fragen zu finden, und zugleich anzudeuten, auf welche Weise eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse empirisch fundiert bzw. in der Auseinandersetzung mit empirischen Materialien weiterentwickelt werden könnte (vgl. Koller 2012). Der hier vorliegende Beitrag konzentriert sich auf eine dort vorgestellte Theorie, nämlich Judith Butlers Konzept der
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Zur Vorgeschichte des Konzepts vgl. den Beitrag von Rainer Kokemohr in diesem Band.
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Subjektivation, und versucht, dieses Konzept für die Analyse und Interpretation des biographischen Interviews mit Hakan Salman zu nutzen. Meine Wahl gilt diesem theoretischen Konzept zum einen, weil es – etwa im Unterschied zu Bourdieus Habitustheorie – in der Erziehungswissenschaft weder in der Bildungstheorie noch in der Biographieforschung bisher viel Beachtung gefunden hat.3 Zum andern scheint mir Butlers theoretischer Ansatz geeignet, einen Aspekt transformatorischer Bildungsprozesse genauer in Augenschein zu nehmen, der in den bisherigen Versuchen bildungstheoretischer Biographieforschung unterbelichtet geblieben ist, nämlich die gesellschaftliche Bedingtheit des Welt- und Selbstverhältnisses. Butlers Ansatz scheint mir also geeignet, dem Vorwurf der »Weltvergessenheit« der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung entgegenzutreten und nicht nur die Selbst-, sondern auch die Weltverhältnisse sich bildender Subjekte in den Blick zu bekommen.
J UDITH B UTLERS T HEORIE
DER
S UBJEKTIVATION
Butlers Theorie der Subjektivation, die am detailliertesten in ihrem Buch »Psyche der Macht« entwickelt wird (vgl. Butler 2001), aber auch wichtige Bezüge zu anderen Arbeiten aufweist (vgl. Butler 1998 und 2003), lässt sich als der Versuch verstehen, sozialphilosophische Theorien der Macht, wie sie von Louis Althusser und Michel Foucault entwickelt worden sind, mit psychoanalytischen Ansätzen zu verknüpfen, um so, wie Butler schreibt, den »Diskurs der Macht« mit dem »Diskurs der Psychoanalyse« zusammenzuführen (Butler 2001: 22) und sowohl die gesellschaftlichen bzw. diskursiven als auch die individuell-psychischen Mechanismen der Subjektkonstitution untersuchen zu können. Deshalb scheint der Versuch aussichtsreich, diese Theorie dafür zu nutzen, bei der Erforschung transformatorischer Bildungsprozesse sowohl die Welt- als auch die Selbstverhältnisse sich bildender Subjekte in den Blick zu nehmen, also keine Seite gegen die andere auszuspielen (vgl. zum Folgenden ausführlicher Koller 2012: 55–68 und 130–135). Der Grundgedanke von Butlers Konzept der Subjektivation lässt sich sehr holzschnittartig so zusammenfassen, dass es ihr darum geht, die grund-
3
Ausnahmen stellen Ricken / Balzer 2012 sowie Rose 2012 dar.
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legende Ambivalenz der Subjektkonstitution zu betonen, die ihr zufolge darin besteht, dass Subjektkonstitution zugleich das Unterworfensein durch die Macht und Subjektwerdung im Sinne der Entstehung von (potenziell widerständiger) Handlungsfähigkeit bedeutet. Paradigmatisch zugespitzt lässt sich diese Ambivalenz der Subjektkonstituion in der Erläuterung dessen nachvollziehen, was Butler im Anschluss an Althusser als »Anrufung« bezeichnet (vgl. Butler 2001: 101 ff.). Ein Individuum wird demzufolge zum Subjekt gemacht, indem es von einer Instanz der Macht als Subjekt angerufen wird. Althussers Beispiel dafür ist ein Mensch, der auf der Straße von einem Polizisten mit den Worten ›He, Sie da!‹ angerufen wird und zum Subjekt wird, indem er sich zu dem Polizisten umdreht (vgl. a.a.O.: 105 und Althusser 1977: 142). Butler erläutert den Vorgang am Ausruf der Hebamme ›Es ist ein Mädchen!‹ bei der Geburt eines Kindes, der das Kind zu einem weiblichen Wesen macht und so der herrschenden Geschlechterordnung unterwirft (vgl. Butler 1997: 29). Die Reaktion des Individuums auf diese Anrufung lässt sich dabei als Unterwerfung unter die Macht begreifen, die z. B. darin besteht, dass sich das Individuum nach dem Polizisten umdreht und damit dessen Macht anerkennt, oder darin, dass die mit der Feststellung des Geschlechts verbundene Position in der Geschlechterordnung übernommen wird. Diese Unterwerfung beruht für Butler auf einer grundlegenden Anfälligkeit des Individuums für die Macht, die sie psychoanalytisch durch die grundlegende Angewiesenheit des Kindes auf andere erklärt. Bildungstheoretisch gewendet könnte man daraus im Blick auf die Beschreibung von Welt- und Selbstverhältnissen den Schluss ziehen, dass diese grundlegend geprägt sind von der Angewiesenheit auf andere bzw. zugespitzter formuliert: von der Abhängigkeit von anderen. Die Gewinnung von Selbstständigkeit oder Autonomie ist dabei für Butler im Anschluss an Freud und Lacan nur möglich durch die Verdrängung dieser Abhängigkeit, wobei die unvermeidliche Wiederkehr des Verdrängten dazu führt, dass diese Abhängigkeit vom Subjekt in Form der Übertragung auf andere Personen oder Instanzen unbewusst reinszeniert wird. Die andere Seite der Ambivalenz des Subjektivationskonzepts besteht nun darin, dass die Reaktion des Individuums auf die subjektivierende Anrufung nicht nur in dessen Unterwerfung unter die Macht besteht, sondern auch in seiner Subjektwerdung, d. h. in der Entstehung der von Butler als »agency« bezeichneten Fähigkeit zum (potenziell widerständigen) Han-
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deln.4 Das macht dieses Konzept für bildungstheoretische Überlegungen interessant. Ohne Butlers Überlegungen hier im Einzelnen nachzuzeichnen, lässt sich deren Ertrag für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse so zusammenfassen: Den Anlass zu jener Gegenbewegung gegen die Unterwerfung unter die anrufende Macht und damit auch den Anlass zur Veränderung eines einmal etablierten Welt- und Selbstverhältnisses markiert Butler zufolge die Erfahrung, dass einem Subjekt in der Form, in der es von einer Machtinstanz angerufen wird, bestimmte Aspekte seines Begehrens versagt und deshalb die Anerkennung seiner sozialen Existenz verweigert werden. Butlers Beispiel dafür ist das homosexuelle Begehren, das sich auf gleichgeschlechtliche Liebesobjekte richtet, aber unter den Bedingungen der herrschenden diskursiven Ordnung negiert werden muss. Die Anrufung als Mädchen schließt unter diesen Bedingungen die Norm ein, nur männliche Objekte zu begehren bzw. ein Begehren, das sich auf ein weibliches Wesen richtet, zu verleugnen. Anlass für Bildungsprozesse wäre vor diesem Hintergrund also die Erfahrung eines eigenen Begehrens, das der herrschenden Ordnung zuwiderläuft bzw. von dieser sanktioniert wird. Damit es unter solchen Bedingungen zur Entstehung (widerständiger) Handlungsfähigkeit bzw. zur Transformation eines etablierten Welt- und Selbstverhältnisses kommt, bedarf es über den Anlass hinaus einer weiteren Voraussetzung. Das Potenzial zu einer solchen Veränderung entdeckt Butler in der iterativen Struktur der Macht bzw. der Sprache. Die Anrufung durch die Macht, der sich das Subjekt im Zuge seiner Subjektwerdung unterworfen hat, muss dabei von ihm wiederholt werden. Aber da schon allein die zeitliche Struktur der Wiederholung eine völlige Identität zwischen Wiederholung und Wiederholtem bzw. zwischen Kopie und Original verhindert, eröffnet sich Butler zufolge in jeder Wiederholung die Möglichkeit der Veränderung bzw. einer – und sei es nur minimalen – Verschiebung. Möglichkeitsbedingung transformatorischer Bildungsprozesse ist nach Butler also die iterative Struktur von Sprechakten, die mit der Möglichkeit der Resignifizierung, d. h. der verändernden Wiederholung einer Anrufung durch die Macht und damit auch eines (potenziell widerständigen) Handelns einhergeht. Ein klassisches Beispiel dafür stellt die Umwertung von
4
Zur differenzierteren Erläuterung der bei Butler angelegten Unterscheidung von Handlungsmacht und Widerständigkeit vgl. Balzer / Ludewig 2012.
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Bezeichnungen dar, durch die eine bestimmte Personengruppe von anderen herabsetzend angerufen wird – etwa die Aufwertung der ursprünglich abwertenden Bezeichnungen schwul und lesbisch durch die Schwulen- und Lesbenbewegung oder die Umbewertung von Schimpfwörtern wie Kanake durch jugendliche Migrantengruppen. Vor diesem Hintergrund wären resignifizierende Sprechakte in diesem Sinne als eine Form transformatorischer Bildungsprozesse zu verstehen. Die Frage wäre dann, unter welchen Bedingungen es zu solchen Resignifizierungen kommt und wovon es abhängig ist, ob sie gelingen oder aber erfolglos bleiben. Damit sind wir bei den Fragen, die vor dem Hintergrund der skizzierten Subjekttheorie Butlers an biographische Erzählungen, wie sie in narrativen Interviews erhoben werden, zu stellen wären. Zu diesen Fragen gehören u. a. folgende: 1.
2.
3.
Welche Hinweise lassen sich den sprachlichen Äußerungen Hakan Salmans im Blick auf das darin artikulierte Welt- und Selbstverhältnis (bzw. dessen grundlegende Figuren) entnehmen? Welche Rolle spielt dabei das Verhältnis zu anderen? In welcher Weise wird die Angewiesenheit auf andere artikuliert? Von welchen Anrufungen (und Anrufungen als was?) ist in dem Interview die Rede? Inwiefern werden darin bestimmte Formen des Begehrens bzw. der Anerkennung der sozialen Existenz des Subjekts versagt? Und inwiefern lassen sich solche Anrufungen als Infragestellungen oder Irritationen des bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses begreifen? Inwiefern kommt es zu Transformationen grundlegender Figuren von Hakan Salmans Welt- und Selbstverhältnis? Sind dabei Resignifizierungen im Sinne Butlers zu beobachten? Inwiefern werden die in den Anrufungen enthaltenen Bedeutungen aufgegriffen, wiederholt, verschoben, verändert?
D AS I NTERVIEW
MIT
H AKAN S ALMAN
Butlers Konzeption eröffnet prinzipiell einen Zugang zu Materialien, in denen sprachliche Praktiken dokumentiert sind, enthält aber selbst keine
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methodischen Verfahren zur empirischen Rekonstruktion von Prozessen der Anrufung bzw. des Umgangs damit. Die folgende Analyse versucht, einen solchen Zugang auszuarbeiten. Sie beschränkt sich dabei im Wesentlichen auf den Haupterzählteil, der in etwa das erste Drittel des Interviews ausmacht (Z. 1–420), und bezieht den Nachfrageteil nur insoweit ein, als er zur Ergänzung des Gesagten geeignet scheint. Drei Passagen erscheinen im Blick auf die Frage nach Bildungsprozessen als besonders interessant: (1) die Grundschulzeit und die Episode, in der erzählt wird, wie der Protagonist von einer Lehrerin dabei ertappt wird, dass seine Hausaufgaben von seiner älteren Schwester gemacht wurden, (2) die Veränderung von Hakans Einstellung zur Schule in der Sekundarstufe I und (3) die nicht bestandene Abiturprüfung und der Abi-Ball. Die Erzählung beginnt mit den Sätzen »okay, äm geboren und aufgewachsen bin ich in norddeutsche Großstadt [mh] äm ich war sechs Jahre alt, da kam ich (2) in die erste Klasse« (Z. 2 f.). Der Aufforderung, seinen »Lebensweg« bzw. seinen »Bildungsweg« zu erzählen (Z. 1), kommt der Erzähler also nach, indem er sich nach der Nennung seines Geburtsorts sofort auf den »Bildungsweg«, d. h. den Schulbesuch konzentriert. Bemerkenswert ist allerdings, dass Hakan Salman sich unterbricht und, bevor er tatsächlich auf die Schule zu sprechen kommt, erst einmal vom Besuch eines Kindergartens berichtet, den er als »sehr schönes Erlebnis« charakterisiert, da er dort »sehr viele neue Freunde kennengelernt« habe, mit denen er »bis jetzt« immer noch in Kontakt stehe (Z. 4–8). In einer weiteren Passage wird davon erzählt, dass der Protagonist »mit zwei Sprachen« aufgewachsen sei, da er im Kindergarten und mit seiner Schwester Deutsch, mit seinen Eltern aber Türkisch gesprochen habe, was als »gutes Training« beschrieben wird (Z. 9–15). Erst danach greift der Erzähler den Faden der bereits begonnenen Geschichte seiner Einschulung wieder auf und schildert, wie er in die erste Klasse kam und dass dort sein »größtes Problem« angefangen habe. Dieses Problem habe darin bestanden, »den Schulstoff (.) sich selber aneignen« zu müssen, da es ihm zwar möglich gewesen sei, seine ältere Schwester zu fragen, aber nicht zu »Mama« oder »zum Papa [zu] rennen«, zumal seine Mutter »kein bisschen Deutsch« spreche (Z. 16–25). Das Verhältnis des Protagonisten zur Schule – und wenn die Verallgemeinerung versuchsweise gestattet ist: sein Verhältnis zur Welt – wird hier als durch eine Mangelsituation geprägt zu verstehen gegeben. Das schulische Lernen, die Aneignung des Unterrichtsstoffs, so legt die Darstellung
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nahe, fiel ihm schwer, weil er sie »alleine« bewältigen musste (Z. 21), ohne die Hilfe oder Unterstützung der Eltern in Anspruch nehmen zu können. Von Anfang an scheint sein Verhältnis zur Welt vor allem durch die fehlende Unterstützung von Seiten der Eltern bestimmt zu sein. Vor diesem Hintergrund lässt sich die eingeschobene Erwähnung des Kindergartens und der dort gewonnenen Freunde als eine Art Gegengewicht zu diesem Mangel verstehen. Damit wird ein Welt- und Selbstverhältnis angedeutet, das primär über die Beziehung zu anderen definiert ist, wobei sich die fehlende Unterstützung durch die Eltern und die dauerhafte Beziehung zu Freunden polar gegenüberstehen. Die Betonung des Mangels als dominanter Figur des Welt- und Selbstverhältnisses setzt sich im folgenden Abschnitt der Erzählung fort, in dem der Erzähler berichtet, dass sich, als er sechs Jahre alt war, seine Eltern getrennt hätten und er »im Frauenhaus« eingeschult worden sei (Z. 28). Als Grund dafür erfahren wir, sein Vater sei »ein bisschen der Aggressive« gewesen und habe seine Mutter »ganz oft geschlagen«, bis »das denn nicht mehr« ging und die Eltern sich getrennt hätten (Z. 29–32).5 Entscheidend für die Frage nach der Struktur des Welt- und Selbstverhältnisses des Protagonisten scheint mir, dass die Beschreibung der Lebensund Lernbedingungen im Frauenhaus die bereits herausgearbeitete Figur des Mangels fortschreibt. Als bestimmend für die Situation Hakans wird geschildert, dass ihm sowohl in materiell-räumlicher als auch in psychosozialer Hinsicht die nötigen Voraussetzungen für ein erfolgreiches schulisches Lernen gefehlt hätten. Seine Mutter habe zwar versucht, ihm »die Klamotten, (.) das ganze Equipment« und »das alles zu geben«; im Vergleich zu seinen Klassenkameraden sei »es« aber »nie so richtig vorhanden« gewesen (Z. 34–37). Außerdem hätten ihm aufgrund der räumlichen Bedingungen – mit Mutter und Schwester zu dritt in einem Raum – »Zeit« und »Einrichtung zum Lernen« gefehlt (Z. 40 f.). Und schließlich habe auch die von Hakan Salman als »Katz-und-Maus-Spiel« bezeichnete Situation, in der beständigen »Angst vorm Vater« zu leben, d. h. in der Sorge, der Vater komme und suche sie, dazu beigetragen, dass »die Schulbildung
5
Während diese Formulierungen von dem Geschehen, das dem Aufenthalt im Frauenhaus vorausging, noch einen eher harmlosen Anschein vermitteln, wird das Ausmaß der Bedrohung durch den Vater im Nachfrageteil sehr viel deutlicher (vgl. Z. 601 ff.).
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in der Anfangsphase [s]eines Lebens (2) echt auf der Strecke geblieben« sei (Z. 42–45). Die Metapher des Katz-und-Maus-Spiels, die als Redensart auf die Naturbeobachtung zurückzuführen ist, dass Katzen mit einer gefangenen Maus spielen, bevor sie sie fressen (Röhrich 2004: 820), lässt sich so deuten, dass zu der Erfahrung eines grundlegenden Mangels auch noch das Gefühl der Ohnmacht bzw. des Ausgeliefertseins kam, das das Welt- und Selbstverhältnis des Protagonisten bestimmt zu haben scheint: Das erzählte Ich erscheint dabei in der Position der Maus, die ständig damit rechnen muss, von der übermächtigen Katze gefressen zu werden. Zu einer ersten Veränderung dieser Konstellation kam es der weiteren Erzählung zufolge, als Hakan mit Mutter und Schwester das Frauenhaus verlassen habe und »in eine schöne Wohnung gezogen« sei, wonach es »sehr bergauf« gegangen sei (Z. 51 f.). Im Folgenden wird berichtet, dass er unter dem Druck seiner Mutter angefangen habe, täglich seine Hausaufgaben zu machen, aber mangels »Förderung« nie gewusst habe, ob er diese nun richtig gemacht habe oder nicht (Z. 53–64). Während hier noch immer die Figur des Mangels dominiert, ist die nun folgende Beispielerzählung bemerkenswert, die im Blick auf die Frage nach einer Transformation des bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses als eine erste Schlüsselszene erscheint. Erzählt wird darin, wie Hakan – als in der zweiten Klasse die Schreibschrift eingeführt wurde – bei einer Hausaufgabe die Hilfe seiner älteren Schwester in Anspruch genommen habe und diese dann die Aufgabe kurzerhand selber »ausgefüllt« habe. Der Erzähler fährt fort: »Meine Lehrerin hat’s damals gemerkt. [mh] (.) Und hat gesagt das ist die Schrift deiner Schwester. (.) [mm] Und (.) das war so (.) eine peinliche Situation (.) [mh] für mich vor meinen Mitschülern (.) [mh] eine eine (.) Bloßstellung, Demütigung (.) [mh] (.) andererseits auch sehr lehrreich für mich [aha] (.) um einfach Ansporn – ich, ich muss es doch auch können, ich muss es doch auch schaffen können (3).« (Z. 74– 79)
Diese Erfahrung, die Hakan Salman als »kleines Erlebnis, aber für mich ausschlaggebend« charakterisiert (Z. 80), lässt sich als Beginn eines Transformationsprozesses verstehen. Ausgangspunkt dieser Veränderung des Welt- und Selbstverhältnisses des Protagonisten ist die Figur des Mangels an Unterstützung beim Erledigen der Hausaufgaben, genauer gesagt: die Unsicherheit, ob die eigenen Bearbeitungsversuche »richtig« sind und den
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Anforderungen der Lehrerin entsprechen. In dieser Not sucht Hakan die Hilfe der älteren Schwester, die – wenig pädagogisch – den einfachsten Weg wählt und – statt ihn zur eigenständigen Bearbeitung anzuleiten – die Aufgabe anstelle des Bruders selber löst. Hakans Bloßstellung durch die Lehrerin bestärkt dann die Figur des Mangels bzw. der Ohnmacht und lässt sich im Sinne Butlers als »Anrufung« durch eine Instanz der Macht deuten. »Das ist die Schrift deiner Schwester« ließe sich dann lesen als: ›Das hast du nicht selbst geschrieben, wie es eigentlich deine Aufgabe gewesen wäre‹ und ›Du hast versucht, mich zu täuschen‹. Die beschriebene Reaktion des Protagonisten ist nun eine doppelte: Einerseits unterwirft er sich der Macht der Lehrerin, indem er deren Anrufung akzeptiert und weder Protest einlegt (also z. B. nicht darauf beharrt, es selbst geschrieben zu haben) noch nach Rechtfertigungen sucht (etwa: ›Ich war mir so unsicher und habe deshalb meine Schwester gefragt, dann hat die es einfach hingeschrieben‹). Andererseits aber stellt Hakans Reaktion nicht einfach eine Wiederholung der Zuschreibung durch die Lehrerin dar, sondern verschiebt den Akzent vom Tadel auf den »Ansporn« und deutet die Feststellung »das ist die Schrift deiner Schwester«, die er zunächst als Bloßstellung und Demütigung interpretiert hatte, um in die (Selbst-)Aufforderung »Ich muss es doch auch schaffen können«. Insofern unterwirft sich Hakan nicht nur der Macht der Lehrerin, sondern gewinnt zugleich auch Handlungsfähigkeit, nämlich den Wunsch, die geforderte Leistung selbst zu erbringen. Dies lässt sich als Bildungsvorgang im Sinne der Entstehung einer neuen Figur des Welt- und Selbstverhältnisses deuten: An die Stelle der ausschließlichen Orientierung an anderen (bzw. am Mangel an Unterstützung durch andere) tritt eine Orientierung am Wunsch nach Selbstständigkeit bzw. danach, es selber »schaffen (zu) können«. Man könnte dies als beginnende Individuierung begreifen bzw. als Zuwachs an Autonomie, der dem werdenden Subjekt hilft, der Angewiesenheit auf elterliche Unterstützung zu entkommen. Aus Butlers Perspektive zu erwarten wäre nun allerdings, dass diese Angewiesenheit nicht einfach überwunden, sondern zumindest teilweise verleugnet wird, und deshalb in entstellter Form wiederkehrt. Sehen wir zu, wie sich das Welt- und Selbstverhältnis des Protagonisten im weiteren Verlauf der Erzählung darstellt. Die folgenden Passagen sind zunächst weiterhin von der Figur des Mangels geprägt. Der Erzähler berichtet darin von der Rückkehr des Vaters, der – als Hakan 14 oder 15 Jahre alt war – wieder auf der Bildfläche
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erschienen sei, um ihn und seine Schwester mitzunehmen. Nach einer dramatischen Zuspitzung, in deren Verlauf der Vater die Mutter mit einem Messer bedroht und Hakan versucht habe, »dazwischen zu gehen«, sei schließlich die Polizei erschienen, die (wie wir erst im Nachfrageteil erfahren) den Vater in Handschellen abführte (Z. 89–108 sowie 731). Der Erzähler fährt fort: »es war dann auch (.) das letzte Mal dass ich mein Vater (.) gesehen habe [mh] vor sein Tod (.) 2001 ist er verstorben« (Z. 107–109). Erst in der Folgezeit, die mit seiner Pubertät zusammenfiel, habe er, Hakan, den »Verlust [s]eines Vaters gespürt« (Z. 109 f.). Bestimmend für diese Zeit, die als »zweitschlimmste Zeit« seines Lebens charakterisiert wird (Z. 113 f.), ist seiner Darstellung zufolge weiterhin eine Mangelerfahrung, die darin bestand, dass einerseits seine Lehrerinnen für ihn keine »große[n] Chancen [...] für die Zukunft« gesehen hätten (Z. 115 f.) und andererseits sein altes »Defizit (.) nicht gefördert zu werden« weiter bestanden habe (Z. 118). »Es hat einfach gefehlt« (Z. 119) lautet sein durch Betonung und Klopfen unterstrichenes Resümee, das die Figur des Mangels gleichsam auf den Punkt bringt. Die nun folgende Passage (die als zweite Schlüsselszene gedeutet werden kann) lässt sich – ähnlich wie die zuvor analysierte Szene »Das ist die Schrift deiner Schwester« – als Fortführung des dort begonnenen Transformationsprozesses verstehen. Hauptakteurin ist eine Lehrerin, die ihm in einem »Schülergespräch« Folgendes gesagt habe: »Hakan, ich sehe sehr viel Potenzial in dir [mh] (3) ähm (2) versuch doch mal einige Dinge [...] in deinem Leben zu ändern [...] [mh] (2) fang doch erst mal an mit einer Sitz anderen Sitzordnung« (Z. 135–139).
Diese Intervention seiner Lehrerin, die ihm zunächst wenig einleuchtend erschienen sei, habe dazu geführt, dass sich seine »Aufmerksamkeit im Unterricht«, sein »Denken« und seine »komplette Einstellung gegenüber Schule« verändert hätten (Z. 148 f.). Die Erfahrung, dass sein neuer Nebensitzer, Sohn eines Professors und einer Ärztin, den Schulstoff beherrschte, habe Hakan dazu gebracht, sich zu fragen »warum kannst du es nicht auch?«, und ihn angespornt, »genau so gut zu werden« (Z. 151 f.). Wie in der zuvor analysierten Szene steht auch hier der Erfahrung des Mangels die an sich selbst gerichtete Aufforderung gegenüber, es »auch« zu können bzw. selber zu schaffen. Als entscheidend für die Akzentver-
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schiebung von der Orientierung am Defizit zum Wunsch nach Selbstständigkeit erscheint hier die Intervention der Lehrerin, die eine Anrufung, eine Aufforderung und eine konkrete Maßnahme umfasst. Die Anrufung besteht in der Zuschreibung eines großen Potenzials, die sich von der zuvor berichteten Aussage anderer (?) Lehrerinnen abhebt, keine großen Chancen für ihn zu sehen. Dazu kommt die Aufforderung, »einige Dinge« im Leben zu ändern; und als konkrete Maßnahme wird die neue Sitzordnung ins Werk gesetzt. Bemerkenswert ist dabei, dass die Veränderung zwar ebenfalls als Individuierung dargestellt wird, d. h. als Transformation der Defizitorientierung in den Wunsch, »es«, d. h. den Schulstoff auch zu ›beherrschen‹, aber dabei keineswegs als ausschließlich eigene Leistung zu verstehen gegeben wird. Im Gegenteil: Dass er sich so verändert habe, führt der Erzähler explizit auf die »Mithilfe« des neuen Nebensitzers und anderer Klassenkameraden zurück, die mit ihm gemeinsam gelernt oder Referate vorbereitet hätten: »aufgrund (.) deren Mithilfe habe ich mich hoch gerappelt, hochgezogen [...] das war das bedeutendste daran, dass ich mich (.) so verändert habe« (Z. 158–161), und dem Nebensitzer sei er »immer noch« dankbar für die Unterstützung (Z. 153). Insofern handelt es sich hier um einen Individuierungsprozess, der nicht mit der Verleugnung der Bedeutung einhergeht, die anderen dabei zukommt. Die wichtige Funktion, die der Erzähler dem Vorbild anderer im Blick auf die Entwicklung eigener Handlungsziele zuschreibt, zeigt sich auch in den folgenden Passagen, in denen von der nach dem erfolgreichen Realschulabschluss anstehenden Entscheidung berichtet wird, entweder von der Schule abzugehen und eine Berufsausbildung zu beginnen oder aber das Abitur anzustreben. Die Rolle des Vorbilds scheint nun Hakans Schwester übernommen zu haben, die selbst gerade dabei gewesen sei, ihr Abitur zu machen, und ihn dazu motiviert habe, denselben Weg einzuschlagen: »Meine Schwester tut es, also mache ich das auch.« (Z. 172 f.) Und bei einem Elternsprechtag, zu dem Hakan mit seiner Mutter und seiner Schwester gegangen sei, habe sich die Schwester sogar aktiv für ihn eingesetzt. Als eine Lehrerin ihm geraten habe, »lieber mit der Schule aufzuhören und eine Ausbildung anzufangen«, sei die Schwester sauer geworden, habe auf ihr eigenes Beispiel verwiesen und gefragt, warum ihr Bruder es nicht auch schaffen könne (Z. 201–206). Auf diesen »Ehrgeiz« führt der Erzähler es zurück, dass er selbst beschlossen habe »das durchzuziehen« (Z. 206 f.).
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In den nun folgenden Passagen berichtet Hakan Salman von der Zeit auf der Oberstufe, die er als anstrengend, weil mit vielen neuen Herausforderungen verbunden, darstellt. So scheint die Zeit auf der Oberstufe vor allem durch eine Reihe von Misserfolgserlebnissen geprägt worden zu sein, die damit begonnen habe, dass seine Bewerbung für einen Schüleraustauschaufenthalt in den USA aufgrund seiner mangelhaften Englischkenntnisse abgelehnt worden sei. Das Deutungsmuster des Mangels kommt dabei erneut zum Vorschein, wenn der Erzähler diese Erfahrung mit den Worten kommentiert: »da werde ich ein Leben lang daran hängen [mm] (2) dass mir das verweigert wurde« (Z. 230 f.). Auf diese Weise erscheint sein Misserfolg als Resultat einer Verweigerung, durch die ihm – ähnlich wie bei der fehlenden »Förderung« durch die Eltern – etwas vorenthalten wurde, worauf er eigentlich Anspruch gehabt hätte. Eine andere Figur des Mangels findet sich in der Schilderung von Hakans Erfahrungen in Erdkunde, einem der beiden Leistungskurse in der zwölften und dreizehnten Klasse, der als »die schlimmste Zeit in meinem Leben [mh] in meiner Schulzeit« beschrieben wird (Z. 239 f.). Verletzend scheint hier vor allem die Erfahrung der Nicht-Beachtung bzw. der Nicht-Anerkennung gewesen zu sein, die darin bestanden habe, dass die Blicke des Lehrers, obwohl er, Hakan, genau »vor seiner Nase« gesessen habe, immer in Richtung seiner Lieblingsschüler gegangen seien und dass der Lehrer nur das gelegentliche Fehlen von Hausaufgaben in sein Notenheft eingetragen habe, nicht aber, wenn Hakan die Aufgaben erledigt habe (Z. 244–262). Den Höhepunkt der Mangel- und Ohnmachtserfahrung markiert dann freilich das Nichtbestehen des Abiturs, von dem der Erzähler in detaillierter Weise berichtet. Die Erzählung hebt dabei vor allem das Gefühl des Ausgeliefertseins hervor, das darauf zurückzuführen ist, dass Hakan doppelten Grund zu der Annahme hatte, bestanden zu haben – einmal, weil er glaubte, alle Aufgaben gelöst zu haben (Z. 281 f.), und zum andern, weil nach der Prüfung einer der beiden Lehrer lächelnd »die Daumen hoch gezeigt« habe (Z. 290). Das Nichtbestehen der Prüfung und damit des Abiturs wird von Hakan Salman als »sehr sehr großer Niederschlag« beschrieben (Z. 299), bei dem »[s]eine Welt zusammengebrochen« (Z. 293) und »jegliches Vertrauen (.) in einen Menschen [...] vom Winde verweht« worden sei (Z. 294 f.). Entscheidend für seine Deutung und das darin artikulierte Weltund Selbstverhältnis ist wiederum die Orientierung an einem Defizit, einem Mangel an Unterstützung: »Du sitzt da und wirst beurteilt [mm] (2) Mein
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Fehler war (.) keine neutrale Person mit in di in diesem Klassenraum zu (.) nehmen« (Z. 315 f.). Hakan Salmans Sichtweise ist auch noch im Nachhinein von der Vorstellung geprägt, dass es ihm an Unterstützung durch eine neutrale Person fehlte, die möglicherweise den Ausgang der Prüfung hätte zu seinen Gunsten beeinflussen können. Entscheidend im Blick auf die Frage nach Bildungsprozessen scheint nun aber die Art und Weise, wie der Protagonist der Darstellung zufolge die Erfahrung des Scheiterns im Abitur verarbeitet hat. Bemerkenswert in dieser Hinsicht ist vor allem die Passage, in der Hakan Salman von seinem Auftritt auf dem Abi-Ball erzählt. Diese Passage kann als dritte Schlüsselszene verstanden werden: »Da war noch mein Abi-Ball [mh] Das war auch so was Bewegendes für mich (2) Der Buhmann, (.) der war ich. [mh] Der Buhmann des Abends, aber auch der Held des Abends [mh] (4) Ich bin tatsächlich hingegangen [mh] Ich war der einzigste, der nich bestanden hat [mh] im ganzen Jahrgang [mh] (5) Meine Mutter hat damals immer gesprochen: ich komm zu deiner (.) Zeugnisausgabe, ich werde sehr stolz auf dich sein (?) (.) Ich habe es nicht geschafft, aber ich bin trotzdem hin. Alle sie waren da [mh] (5) Und dann fiel mein Name (.) Hakan Salman [mh] (3) Alle dachten ich bin nicht da [mm] aber nein, ich bin nach vorne hin, (5) habe der Schulleiterin (3) die Hand gegeben (2) sie sagte, hat mir was in meine Ohr geflüstert (6) ä da bin ich, da habe ich angefangen zu weinen, nach der, nach dem Satz sie hat gesagt (3) Ich hab sehr großen Respekt, dass du (.) trotz allem [mh] hier erschienen bist. (4) Daneben stand mein Erdkundelehrer, mit einer Rose in der Hand, [mh] (3) Aus reiner (.) Humanität habe ich ihn trotzdem die Hand geschüttelt, [mh] weil ich (4) weiß nicht warum [...] Aber, (.) der hat schon gemerkt, was er für ein Fehler gemacht hat. [mh] (7) Ja , hab mein Zeugnis genommen (4) und hab den größten Applaus, den es überhaupt gibt, bekommen [mh] von der ganzen (.) Gesamtheit die in der Aula (.) [mm] war. (.) Also (.) alle standen hinter mir, es war das einerseits das (.) schlimmste Gefühl, [mh] andererseits auch das schönste Gefühl, [mm] dass so viele hinter mir stehen.« (Z. 348–367)
Die hier berichteten Ereignisse lassen sich so zusammenfassen: Obwohl Hakan der einzige Schüler des ganzen Jahrgangs ist, der nicht bestanden hat, geht er trotzdem zum Abi-Ball, wird aufgerufen, nimmt sein Zeugnis entgegen und erhält eine doppelte Anerkennung – zum einen leise und gleichsam privat von der Direktorin, die ihm ihren Respekt bekundet, zum
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anderen laut und öffentlich vom gesamten Publikum, das ihm in ganz besonderer Weise applaudiert. Entscheidend im Sinne von Butlers Konzept der Subjektivation ist auch hier zunächst die Anrufung durch eine Instanz der Macht – in diesem Fall durch die Schule bzw. die Schulleiterin –, wobei die Anrufung hier in Gestalt des namentlichen Aufrufens erfolgt (»und dann fiel mein Name (.) Hakan Salman«). Diese Anrufung hat durch den Umstand, dass er – und noch dazu als Einziger – durchgefallen ist, ähnlich wie der Satz »Das ist die Schrift deiner Schwester« den Charakter einer Bloßstellung oder Demütigung. Noch interessanter ist freilich die Art und Weise, wie der Protagonist auf diese Anrufung reagiert. Die dargestellte Szene lässt sich einerseits so interpretieren, dass er sich dieser Macht unterwirft, und zwar bereits dadurch, dass er überhaupt zum Abi-Ball erscheint, aber auch und vor allem, indem er dem Aufrufen seines Namens Folge leistet, nach vorn geht, der Schulleiterin und schließlich sogar dem Erdkundelehrer, den er für sein Scheitern verantwortlich macht, die Hand gibt und das Zeugnis entgegennimmt, das seinen Misserfolg dokumentiert. Diese Seite des Geschehens wird von ihm folgerichtig so beschrieben, dass er der »Buhmann des Abends« gewesen sei. Zugleich aber gewinnt Hakan dieser Darstellung zufolge aus dieser Unterwerfung und sie zugleich transzendierend nicht nur das »schlimmste«, sondern auch »das schönste Gefühl«, das darin besteht, »den größten Applaus« bekommen zu haben, »den es überhaupt gibt« (Präsens, nicht Präteritum!), und deshalb eben nicht nur Buhmann, sondern auch »Held des Abends« zu sein. Dem Protagonisten gelingt es also, im selben Moment, in dem er sich der schulischen Machtinstanz unterwirft, der er sich ohnmächtig ausgeliefert fühlt (»du sitzt da und wirst beurteilt«), auch ein Stück Handlungsfähigkeit zu gewinnen, die in der Unterstützung durch andere besteht (»alle standen hinter mir«) und ihm erlaubt, seine schlimmste Niederlage in eine Art Sieg zu verwandeln und erhobenen Hauptes die Stätte seines Misserfolgs zu verlassen. Dieser Triumph scheint es ihm dann auch erlaubt zu haben, das Scheitern am Abitur so zu verarbeiten, dass er darauf verzichtet, die dreizehnte Klasse zu wiederholen und sich der Prüfung ein zweites Mal zu unterziehen, und stattdessen beschließt, das Fachabitur zu machen, das ihm dann erlaubt, ein Fachhochschulstudium aufzunehmen. Ähnlich wie in der ersten zuvor analysierten Szene besteht die Transformation in der Umdeutung einer Situation, die zunächst demütigenden
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Charakter hat, aber durch die Umdeutung zu einem Ansporn bzw. einer Kraftquelle wird. Fragt man sich, worauf das Zustandekommen dieses Transformationsprozesses zurückzuführen ist bzw. welche Bedingungen dessen Gelingen begünstigt haben, so lässt sich der Darstellung eine ziemlich eindeutige Antwort entnehmen: Trotz seiner Selbst-Beschreibung als »Held des Abends« erscheint sein Triumph beim Abi-Ball keineswegs als Heldentat eines heroischen Einzelsubjekts, das sich selbst am Schopf aus dem Sumpf gezogen hätte. Eingeschoben zwischen die Erzählung von der nichtbestandenen Abiturprüfung und den Bericht vom Abi-Ball findet sich vielmehr eine Passage, in welcher der Erzähler die Ressourcen beschreibt, die ihm bei der Bewältigung der Niederlage geholfen haben: »Aber wer hat mich aufgebaut? Das war meine Mutter [mh] die gesagt hat ja und? (.) meinst du (.) das Leben ist zu Ende? [mm] Wirst noch so viel erreichen, macht doch nichts, (.) ich weiß, dass du es kannst und du wirst es auch irgendwann schaffen. (2) Na gut in dem Moment, (.) möchte man kann man so was nicht hören, [mm ja] weil der Schmerz einfach noch zu groß ist. (.) Aber es kamen zwei Freunde zu mir gerannt, nach Hause und haben mich getröstet ich... [mh] Freunde, Freunde das ist das größte was es auf dieser Welt gibt.« (Z. 300–307)
Der Mut, sich der Bloßstellung auf dem Abi-Ball auszusetzen, und damit zugleich die Chance, diese Bloßstellung in einen Triumph zu transformieren, lassen sich vor diesem Hintergrund als die Folge einer sozialen Verankerung interpretieren, über die der Protagonist dank der bedingungslosen Unterstützung und des Vertrauens seiner Mutter sowie aufgrund der Solidarität seiner Freunde verfügt. Insofern besteht die Transformation des Weltund Selbstverhältnisses, als die sich die erzählte Lebens- und Bildungsgeschichte deuten lässt, in der Ersetzung (oder vielleicht besser: in der Ergänzung) der Figur des Mangels (an schulischer Förderung) und des ohnmächtigen Ausgeliefertseins durch eine Figur der emotionalen Unterstützung durch andere. Emblematisch verdichtet findet sich diese Figur in der Szene des Abi-Balls, wo der Mangel bzw. die Niederlage kompensiert wird durch die Erfahrung des Rückhalts, »dass so viele hinter mir stehen«.
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B ILDUNGSTHEORETISCHE S CHLUSSFOLGERUNGEN Wie dargelegt, kann Hakan Salmans Erzählung als die Geschichte eines transformatorischen Bildungsprozesses verstanden werden, in dem die Orientierung an der Erfahrung des Mangels und der Ohnmacht als vorherrschende Figur des Welt- und Selbstverhältnisses sich verwandelt in eine neue, veränderte Orientierung, die durch eine doppelte Ausrichtung gekennzeichnet ist: Auf der einen Seite ist dieses neue Welt- und Selbstverhältnis gekennzeichnet durch das Streben nach Selbstständigkeit und den Wunsch, ›es doch auch selber schaffen zu können‹; auf der anderen Seite scheint der Protagonist die Energie dazu aus dem Rückhalt zu gewinnen, den er der emotionalen Unterstützung durch andere verdankt. An dieser Deutung der Erzählung als der Geschichte eines Bildungsprozesses halte ich aus den nachfolgend angeführten Gründen fest, obwohl in anderen Beiträgen dieses Bandes aus unterschiedlichen Gründen bezweifelt wird, dass es sich bei den Veränderungen, von denen in dem Interview die Rede ist bzw. die sich in Hakan Salmans Sprechen vollziehen, wirklich um einen Bildungsprozess handelt. Zunächst ist der These zuzustimmen, dass nicht jede Veränderung eines Welt- und Selbstverhältnisses schon als Bildung bezeichnet werden sollte (vgl. Fuchs in diesem Band). Des Weiteren sprechen gute Gründe dafür, dass zu den Kriterien für die Richtung von Transformationen, die erfüllt sein sollten, damit von Bildung die Rede sein kann, insbesondere die kritische Reflexion eigener Positionen sowie gesellschaftlicher Machtverhältnisse gehören sollten (für den ersten Aspekt vgl. Fuchs, von Felden und von Rosenberg, für den zweiten Rose, Zölch und Wischmann in diesem Band). Dieses Verständnis von Bildung misst der Frage nach Kritik und widerständigem Handeln eine zentrale Bedeutung zu. Was mich dennoch daran festhalten lässt, die Geschichte Hakan Salmans als Bildungsprozess zu deuten, ist der Eindruck, dass in der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung eine Tendenz besteht, die Messlatte für die Attestierung eines Bildungsprozesses so hoch zu hängen, dass sie nur ausgesprochen selten übersprungen werden kann. Das Beispiel Hakan Salmans scheint mir geeignet, dafür zu sensibilisieren, dass Bildungsprozesse möglicherweise einen weniger dramatischen und weniger fundamentalen Charakter haben, als die Rede von der grundlegenden Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen nahelegt.
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Ein wichtiger Befund der hier vorgelegten Analyse des Interviews mit Hakan Salman liegt in der Einsicht, dass der Bildungsprozess, der hier rekonstruiert wurde, sich nicht in der Weise vollzogen hat, dass ein bestimmbares Welt- und Selbstverhältnis, das zu einem bestimmten Zeitpunkt t1 vorherrschend war, durch eine einzelne, konkret benennbare Erfahrung infrage gestellt und im weiteren Verlauf im Zuge eines zeitlich genau zu verortenden Transformationsvorgangs durch ein neues Welt- und Selbstverhältnis abgelöst worden wäre, das sich dann zum Zeitpunkt t2 als wirksam erweist. Von dieser idealtypischen Vorstellung eines Bildungsprozesses, wie sie z. B. für dramatische Darstellungen spektakulärer Konversionserlebnisse in religiösen Kontexten charakteristisch ist, unterscheidet sich der hier rekonstruierte Bildungsprozess in mindestens zweifacher Hinsicht. Zum einen handelt es sich nicht um einen einmaligen Vorgang, der in der völligen Ersetzung eines Welt- und Selbstverhältnisses durch ein anderes bestünde, sondern vielmehr um ein allmähliches, wenngleich keineswegs kontinuierliches Werden in drei zeitlich weit auseinanderliegenden Anläufen, die jeweils eine ähnliche Prozessstruktur, aber auch charakteristische Besonderheiten aufweisen. So zeichnet sich der erste Transformationsschritt, der in der Szene »Das ist die Schrift deiner Schwester« verortet wurde, durch eine zwar nicht ganz eindeutige, aber doch jedenfalls negativ konnotierte Positionierung des Protagonisten von Seiten der Lehrerin aus, die dieser zunächst als Demütigung wahrnimmt, dann aber als Ansporn umdeutet. Diese negative Dimension fehlt in der zweiten Szene (»Ich sehe sehr viel Potenzial in dir«), die eher von positiven Zuschreibungen und der Aufforderung zur Veränderung gekennzeichnet ist. Die dritte Szene schließlich, die Erzählung vom Abi-Ball, geht von einem drastischen Scheitern, dem Nicht-Bestehen der Abiturprüfung, aus, das Hakan dank der Unterstützung seiner Mutter, seiner Freunde und des Publikums in ein Erfolgserlebnis umwandeln kann. Der zweite Unterschied zu jener Vorstellung von Bildungsprozessen im Sinne eines dramatischen Konversionserlebnisses besteht darin, dass die Veränderungen, um die es hier geht, viel unspektakulärer sind und eher den Charakter einer Akzentverlagerung oder einer Bedeutungsverschiebung haben. Die Geschichte Hakan Salmans als Bildungsprozess zu begreifen, würde bedeuten, dass Bildung sich nicht unbedingt als dramatische Wandlung eines Subjekts vom Saulus zum Paulus und auch nicht als Veränderung aller Dimensionen des jeweiligen Welt- und Selbstver-
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hältnisses vollziehen muss, sondern vielmehr in einer unscheinbaren, aber dennoch wirkungsvollen Perspektivenverschiebung bestehen kann, die jenen Vexierbildern gleicht, bei denen man durch eine bloß leichte Veränderung der Wahrnehmung plötzlich ein ganz anderes Bild erkennt. Das entspräche Butlers Konzept der Resignifizierung insofern, als dort eine Bedeutungsverschiebung auch nicht durch dramatische Umdeutungsversuche zustande kommt, sondern vielmehr durch das Ausnutzen der vielleicht nur minimalen, aber prinzipiell unvermeidlichen Differenz zwischen Wiederholung und Wiederholtem. Der Schluss, der daraus für die Analyse transformatorischer Bildungsprozesse zu ziehen wäre, ist der, dass es bei der empirischen Untersuchung solcher Prozesse nicht unbedingt darauf ankommt, nach dramatischen Veränderungen Ausschau zu halten, wie es durch die Rede von der grundlegenden Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses nahegelegt werden könnte. Wichtiger scheint vielmehr zu sein, in weiteren empirischen Vorhaben auch (und vielleicht sogar vorrangig) den minimalen Verschiebungen nachzugehen, die sich in der Art und Weise ergeben, wie sich ein Subjekt zur Welt, zu anderen und zu sich selber ins Verhältnis setzt.
L ITERATUR Althusser, Louis (1977): »Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung)«. In: ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg / Westberlin: VSA Verlag, S. 108–153. Balzer, Nicole / Ludewig, Katharina (2012): »Quellen des Subjekts. Judith Butlers Umdeutungen von Handlungsfähigkeit und Widerstand«. In: Ricken/Balzer 2012, S. 95–124. Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dies. (1998): Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin: BerlinVerlag. Dies. (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dies. (2003): Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Koller, Hans-Christoph (2012a): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer. Ders. (2011): »Anders werden. Zur Erforschung transformatorischer Bildungsprozesse«. In: Ines Maria Breinbauer / Gabriele Weiß (Hg.): Orte des Empirischen in der Bildungstheorie. Einsätze theoretischer Erziehungswissenschaft II. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 108í123 [auch erschienen in: Ingrid Miethe / Hans-Rüdiger Müller (Hg.): Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2012, S. 19í33.] Ricken, Nobert / Balzer, Nicole (Hg.) (2012): Judith Butler: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: Springer VS. Röhrich, Lutz (2004): Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 3 Bde., 7. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Rose, Nadine (2012): Migration als Bildungsherausforderung. Subjektivierung und Diskriminierung im Spiegel von Migrationsbiographien. Bielefeld: transcript.
»Es ist wieder dasselbe Katz-und-MausSpiel« í Die Frage nach Bildungswegen und die Suche nach Bildungsprozessen N ADINE R OSE
Dieser Beitrag, das wird schon am Titel deutlich, stellt eine Metapher aus dem zugrunde gelegten Interviewtranskript in sein Zentrum: »Es ist wieder dasselbe Katz-und-Maus-Spiel« (Transkript des Interviews in diesem Band, Z. 412 f.). Nun sind solche Metaphern in Interviewtexten – darauf haben Rainer Kokemohr und Hans-Christoph Koller in verschiedenen Publikationen bereits explizit hingewiesen (vgl. exemplarisch Kokemohr / Koller 1996) – für bildungstheoretische Interpretationen vor allem deswegen besonders interessant und fruchtbar, weil sie sich durch einen Bedeutungsüberschuss auszeichnen, der interpretativ ausbeutbar ist: Sie sind qua ihrer rhetorischen Funktion notwendig vieldeutig. So lassen sich mit der Metapher vom »Katz-und-Maus-Spiel« etwa Worte und Bilder wie »rennen«, »verstecken«, »Haken schlagen«, »jagen« und »fangen« assoziieren; ich stelle mir dabei ein Spiel zwischen ungleichen Gegner vor, bei dem Geschicklichkeit, Schnelligkeit und taktisches Vermögen eine wichtige Rolle spielen und denke schmunzelnd an die unendlichen Verfolgungsjagden von Tom & Jerry, in denen es in diesem ungleichen Kräfteverhältnis erstaunlicher Weise der Maus immer wieder gelingt, die Katze zu überlisten. Und tatsächlich werden solche und ähnliche Assoziationen und auf ihnen aufbauende Interpretationen für das hier vorgestellte Verständnis des Interviewtextes leitend sein. Der wesentliche – und dabei vielleicht eher als Akzentverschiebung zu verstehende – Unterschied ist aber der, dass in der hier
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vorgelegten Interpretation oder »Lesart« (vgl. Koller 1999b) diese Metapher (und die ihr zugehörende lebensgeschichtliche Erzählung, in die sie eingebettet ist) als Antwort zu verstehen gegeben wird: als sehr spezifische und interessante Antwort auf die – in der Erzählaufforderung formulierte – Frage nach dem »Bildungsweg« (Z. 1). Zu dieser Einschätzung komme ich – und das soll nachfolgend schrittweise erläutert werden –, weil ich einen anrufungstheoretischen Blick zugrunde lege, der meine Lesart dieses Textes maßgeblich bestimmt und der erst nach einer weiteren Wendung durch einen bildungstheoretischen Blick ergänzt wird, der dann auch zur im Zentrum des Bandes stehenden Frage nach Bildungsprozessen Stellung nimmt. In einem ersten Schritt wird es also darum gehen, diesen anrufungstheoretisch fundierten Zugang und seine bildungstheoretischen Implikationen grob theoretisch zu umreißen. Zunächst gilt es dafür ein an Judith Butler angelehntes Verständnis von Anrufungen und ihren subjektivierenden Effekten zu erläutern, um dann deren Bedeutung für eine spezifische Diskriminierbarkeit Einzelner unter Migrationsbedingungen herauszustellen und das bildungstheoretische Potenzial dieser Perspektive und das mit ihr verknüpfte Bildungsverständnis zu skizzieren. Erst im Anschluss an die Verständigung über diese für die Interpretation zentralen Begriffe und Vorstellungen wird die vorgeschlagene Perspektive für zwei Reflexionsschleifen auf den Interviewtext genutzt: In der anrufungstheoretischen Reflexion auf den Text wird dabei dem stiftenden Charakter der als Anrufung verstandenen Erzählaufforderung nachgegangen. Für diesen Teil lassen sich drei zentrale Fragen formulieren: 1. Als wer wird jemand in der bzw. durch die Ansprache (Anrufung) konstruiert? 2. Wie konstruiert sich das »Ich« in Übereinstimmung oder Abgrenzung dazu erzählend? 3. Welche Effekte zeitigen bestimmte Anrufungen bzw. Formen der Ansprache? In der daran anschließenden und darauf aufbauenden bildungstheoretischen Reflexion wird dann das resignifizierende, also Normalvorstellungen verschiebende Potenzial solchen Sprechens oder Erzählens beleuchtet, das sich auf die Frage verdichten lässt: Inwiefern werden erzählend etablierte Diskurse, und insbesondere solche, in denen »Migrationsanderen« ein spezifischer Subjektstatus zugeschreiben wird, befragt oder verschoben? Ein kurzes Fazit bündelt abschließend die offenen Fragen und die bisherigen Erkenntnisse.
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V ERSICHERUNG ÜBER DIE ZENTRALEN G RUNDBEGRIFFE DER ANRUFUNGSTHEORETISCHEN P ERSPEKTIVE : Z UM Z USAMMENHANG VON A NRUFUNG , S UBJEKTIVIERUNG , D ISKRIMINIERUNG UND R ESIGNIFIZIERUNG Wie bereits einleitend angekündigt dient dieser theoretische Einstieg dazu, in die für die nachfolgende Interpretation des Interviewtextes genutzte Perspektive einzuführen und sie zu erläutern. Wenn dafür auf Anrufungen und ihre subjektivierenden Effekte, auf die Diskriminierbarkeit von Migrationsanderen und potenzielle Bildungsprozesse abgehoben wird, dann ist damit eine Perspektive ausgewiesen, in der Subjekte als existenziell voneinander abhängig und dadurch auch verletzlich zu verstehen sind. a) Anrufungen und ihre subjektivierenden Effekte Die anrufungstheoretische Perspektive1, die hier vor(an)gestellt werden soll, ist als eine zu verstehen, die sich maßgeblich auf Judith Butlers Vorstellungen zur Subjektkonstitution bzw. Subjektivation2 stützt (vgl. Butler 1997, 2001, 2006). So verweist Butler im Rückgriff auf Foucaults Verständnis der Subjektivierung darauf, dass Subjekte nicht bereits als Subjekte in der Welt sind, sondern erst im Rückgriff auf bestehende Diskurse von anderen in ihre soziale Existenz hineingerufen werden. Diesem Verständnis folgend kommt
1
Vgl. zu dieser Perspektive auch die ausführlicheren und genaueren Darstellun-
2
In der deutschen Übersetzung von Psyche der Macht wird vorgeschlagen, But-
gen in: Rose 2012, Rose / Koller 2012. lers Begriff von »subjection« mit dem deutschen Neologismus »Subjektivation« zu bezeichnen (vgl. Butler 2001: 187). Ich folge dieser Praxis nicht, sondern nutze in der weiteren Diskussion den, von Foucault maßgeblich geprägten, Begriff der Subjektivierung, weil er die Referenz auf Foucaults Begriff des »assujettissement«, die Butler eindeutig mit ihrem Verständnis von subjection macht, besser präsent hält. Auch scheint mir der Begriff »Subjektivierung« grundsätzlich anschlussfähiger an andere Diskussionen, auch solche in der Bildungstheorie, die den Begriff – in der Regel im foucaultschen Sinne – verwenden (vgl. Schäfer 2009, Rieger-Ladich 2004).
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das Subjekt dann bereits notwendig als unterworfenes in die Welt: Es ist in grundlegender Weise abhängig von den durch andere Subjekte aufgerufenen Diskursen und den in ihnen transportierten Normen, die regulieren, was das Subjekt überhaupt erst sein und werden kann – bzw. implizit regulieren, was es nicht sein kann und darf. Der Vorgang der Subjektivierung, der sich über die soziale Anrufung als ›jemand‹ vollzieht, wird dabei von Butler als paradoxal machtvoll ausgewiesen: Er markiert die Gleichzeitigkeit der Restriktion und Ermöglichung von Subjekten im Rahmen von Normen transportierenden Diskursen, denen das Subjekt in seiner Existenz immer verpflichtet ist und auf die es verwiesen bleibt. Auch wenn diskursive Normen bereits regulieren, in welcher Form ein Subjekt als solches überhaupt anerkennbar und insofern sozial möglich ist bzw. wird, ist in diesem Modell die Handlungsmacht des Subjekts aber nicht durchgestrichen, sondern wird vielmehr als eine aus der Unterwerfung abgeleitete zu verstehen gegeben. Butlers Subjekt ist demnach ein »Subjekt der Macht (wobei der Genitiv sowohl das ›Zugehören‹ zur Macht wie die ›Ausübung‹ der Macht bezeichnet«) (Butler 2001: 18, Hervorh. i. O.). Die zentrale These des Subjektivierungsgedankens bei Butler ist dabei, dass im Moment der Anrufung, der das Hineingerufen-Werden des Subjekts in Sozialität und Sprache markiert, dem Subjekt eine bestimmte soziale Positionierung nahe gelegt wird, der gegenüber es dann aufgefordert ist, sich zu verhalten. Butler legt dabei nahe, dass Subjektivität in der Regel »durch identifikatorische Praktiken gesichert wird, die von regulierenden Schemata geleitet werden« (Butler 1997: 37), sodass Subjekte dazu neigen, sozialen Anrufungen zu folgen und ihnen in Form von Identifizierungen zu entsprechen, um sozial anerkennbare Identitäten hervorzubringen. Das Beispiel, an dem Butler diesen Mechanismus der Anrufung exemplarisch verdeutlicht, ist die Anrufung der Hebamme bei der Geburt eines Kindes, wenn diese fest-stellt: »Es ist ein Mädchen.« (vgl. Butler 1997: 29) Jene Anrufung der Hebamme wird von Butler als stiftende Anrufung zu verstehen gegeben, die fortan dem ›Mädchen‹ bedeutet, sich als ›Mädchen‹ zu identifizieren, sich als ›Mädchen‹ zu verstehen, sich als ›Mädchen‹ zu entwerfen und in körperlichen Akten als solches aufzuführen. Im Sinne Butlers lässt sich also sagen, die Anrufung der Hebamme weist ›dem Mädchen‹ einen spezifischen Platz in der symbolischen Ordnung zu und fordert es gleichzeitig zur Bestätigung der Ordnung auf, sofern ›sie‹ sich ›richtig‹ identifiziert und die Kategorisierung übernimmt (und performativ ausfüllt).
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Damit trägt ›sie‹ letztlich auch dazu bei, die sedimentierte Norm der Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität weiter zu verifizieren und zu stärken, sofern ›sie‹ sich geschlechternormenkonform inszeniert und identifiziert. Mit Butler und ihrem Verständnis von Anrufungen lässt sich demnach der stiftende und gleichermaßen unterwerfende Charakter des Aufrufens von normativen Diskursen und den in ihrem Rahmen möglichen Positionierungsangeboten gegenüber Subjekten recht anschaulich verständlich machen. Wo diese Positionierungsangebote identifizierend übernommen und ausgefüllt werden, tragen die Einzelnen dann performativ zur Aufrechterhaltung und Bestätigung von sozialen Norm(ierung)en bei. b) Spezifische Diskriminierbarkeit als ›Migrationsandere‹ In ähnlicher Weise wie Butler argumentiert auch Stuart Hall mit Blick auf den stiftenden und unterwerfenden Charakter von Diskursen, wobei ihn weniger die – von Butler fokussierte – (ver)geschlechtliche(nde) Herstellung als ›Mädchen‹ oder ›Junge‹, als ›Mann‹ oder ›Frau‹ interessiert, sondern vielmehr diejenige, die bestimmte Subjekte als ›Migrationsandere‹ entwirft. Der Begriff des/der Migrationsanderen – den ich vorzugsweise verwende in Bezug auf Menschen, die sonst vielfach als solche »mit Migrationshintergrund« gekennzeichnet werden – geht dabei allerdings nicht auf Hall selbst, sondern auf Paul Mecheril zurück. Er sagt: »›Migrationsandere‹ sind Ausdruck einer gesellschaftlichen […] Relation. ›Die Anderen‹ stellen eine Konkretisierung politischer und kultureller Differenz- und Dominanzverhältnisse dar, mit denen sich Pädagogik dann beschäftigt, wenn sie sich Migrationsphänomenen zuwendet. ›Migrationsandere‹ ist also ein Wort, das zum Ausdruck bringt, dass es ›Migranten‹ und ›AusländerInnen‹ und komplementär ›Nicht-Migranten‹ und ›Nicht-Ausländer‹ nicht an sich, sondern nur als relationale Phänomene gibt.« (Mecheril 2004: 24, Hervorh. i. O.) Mecheril macht mit diesem Neologismus also darauf aufmerksam, dass das Reden über ›die Anderen‹ sich immer als relationales verstehen lassen muss, das aber dazu neigt jene Relationalität durch die Distanzierung der ›Anderen‹ als solche zu verdecken. Wie andere Begriffe auch, in denen Menschen in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt und konstruiert werden, setzt der Begriff der/des Migrationsanderen komplementär die í meist unthematisierten – Nicht-Migrationsanderen voraus und macht nur in Bezug auf sie Sinn. Die so Bezeichneten können also nicht als essenziell ›an-
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ders‹ bzw. ›gleich‹ gelten, sondern es wird auf eine gesellschaftliche, relationierende Sprach- und Handlungspraxis aufmerksam gemacht, die es gewohnt ist, zwischen ›Eigenen‹ und ›Fremden‹ zu unterscheiden und den Menschen auf der Basis dieser Unterscheidungen unterschiedliche Positionen in der Gesellschaft zuzuerkennen. Mecheril weist zudem darauf hin, dass diese Positionen mit unterschiedlichen Privilegierungen und Ausschlüssen verknüpft sind, auch weil mit Hilfe der zitierten Kategorisierungen ein eher selbstverständlicher oder weniger selbstverständlicher Zugehörigkeitsstatus zur Gesellschaft verhandelt wird. Im Anschluss an Mecherils Überlegungen lässt sich also die Frage stellen, wie ›Migrationsandere‹ im Rahmen einer diskursiven Ordnung, die sie als ›Andere‹ erkennt, als solche hergestellt werden. In dieser Frage finden sich Überlegungen Stuart Halls adaptiert, der – wie Mecheril – davon ausgeht, dass nicht allein vergeschlechtlichende, sondern auch rassistische Diskurse (subjekt-)produktiv wirksam werden können. Stuart Hall gesteht dabei – ähnlich wie Butler – diesen Diskursen unmittelbar praktische Wirkungen in dem Sinne zu, dass sie bestimmte (in der Regel in irgendeiner Form als ›anders‹ markierte) Subjekte anrufen und zu einer (de-privilegierten) Positionierung als ›Andere‹ auffordern. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem »rassistischen Klassifikationssystem« (Hall 2001: 7), in das Menschen lernen sich einzuordnen. Für die Etablierung dieses Klassifikationssystems lässt sich auf der einen Seite in historischer Perspektive herleiten, wie bestimmte Bilder und Stereotype über ›fremde Andere‹ insbesondere im Kolonialismus genutzt wurden, um den zu unterwerfenden Völkern ihren Subjektstatus gerade abzuerkennen. Mit Hilfe dieser Bilder und Stereotype, die noch immer zwischen den Polen ›Barbar‹ und ›edler Wilder‹ changieren, werden fixierende, fest-stellende Vorstellungen über solche ›fremden Anderen‹ transportiert, die bis heute wirksam bleiben (vgl. Hall 1994, 2004). Dabei werden die ›Anderen‹ im europäischen und europäisch-normierten Blick nicht nur permanent als Abweichende fixiert, sondern auch systematisch verkannt. Auf der anderen Seite weist Hall darauf hin, dass es durchaus auch auf der Seite der als ›Andere‹ Eingeordneten zu einer Übernahme und Bestätigung eben dieser Bilder kommen kann; ein Vorgang, den bereits Fanon als »Internalisierung des Selbst als Anderes« (Hall 1994: 20) ausgewiesen hatte. So rücken die relativ stabilen Stereotype über die ›Anderen‹ diesen selbst auf den Leib und legen es nahe, ein Bild von sich zu entwickeln und
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zu zeigen, das die dominanten Annahmen über ›fremde Andere‹ abermals bestätigt. Im Rückgriff auf Stuart Hall und Paul Mecheril lässt sich also davon ausgehen, dass über Anrufungen, die Menschen in ein rassistisches Klassifikationsschema einordnen, ›Migrationsandere‹ (und komplementär auch ›Nicht-Migrationsandere‹) in spezifischer Weise hergestellt werden und dass die Positionierung als erstere mit Benachteiligungen und potenziellen Diskriminierungserfahrungen verbunden ist, die sie auf ihren Subjektstatus als ›Andere‹ verweisen. Diesen gesamten Vorgang meine ich, wenn ich von der spezifischen Diskriminierbarkeit als ›Migrationsandere‹ spreche, die sich nicht auf explizit herabsetzende Diskriminierungserfahrungen beschränken lässt. Nun soll aber angesichts der theoretisch ausgewiesenen Wirksamkeit von identitätszuschreibenden Anrufungen nicht der Eindruck entstehen, solchermaßen angerufene Subjekte gingen gleichsam in ihrer Unterwerfung auf. Sowohl Butler als auch Hall interessieren sich maßgeblich für subversive oder widerständige Praxen. Angesichts der nicht auszusetzenden Machtverhältnisse, in denen sich solche Praxen realisieren, verändert sich aber auch das Bild dieser Praxen, die im Sinne Butlers dann nur als nichtvollständige oder nicht-ordnungsgemäße Bestätigung und Wiederholung vorgängiger Normen verstanden werden können. Praxen lassen sich in dieser Perspektive als subversiv oder widerständig kennzeichnen, wenn sie verdeutlichen, dass es in der Kluft zwischen der Norm und ihrem Zitieren im Positionierungsprozess einen Spielraum für »Fehlaneignungen« gibt, der die Handlungsfähigkeit von Subjekten im Rahmen ihrer grundlegenden Abhängigkeit akzentuiert (vgl. Butler 2006: 226 ff.). In Halls Worten formuliert, wäre dieses Interesse an Spielräumen zu verstehen als die offene und letztlich empirische Frage danach, »wie die Einzelnen diese [ihnen nahegelegten, NR] Positionen formen, stilisieren, herstellen und ›verkörpern‹, warum sie dies nie ein für alle Mal vollständig umsetzen, warum manche dies gar nicht tun, oder warum manche in einem fortwährenden, agonistischen Prozess mit Normen und Regeln stehen« (Hall 2004: 183). Spätestens an diesem Punkt wird noch einmal deutlich – und das ist aus bildungstheoretischer Sicht entscheidend –, dass es keinen Automatismus der Anrufung gibt: Auf Anrufungen muss zwar (in der Regel qua Identifizierung) geantwortet werden und der Raum für die zugelassenen Antworten
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ist durch die Anrufung selbst gewissermaßen vorstrukturiert, aber er ist eben keineswegs determiniert. c) Resignifizierungs- und Bildungsprozesse Der prominente – und wie ich finde überzeugende – Begriff den Butler für diese Vorstellung von Handlungsfähigkeit unter den Bedingungen unterwerfender und hervorbringender diskursiver Ordnungen vorschlägt, ist dementsprechend der der Resignifizierungspraxis (vgl. Butler 2006: 158, Butler 2001: 94). Dieser Begriff macht sich die Derrida’sche Idee der Iteration zunutze und deutet sie – so würde ich es formulieren – politisch aus. Butler verbindet mit ihrem Verständnis von Resignifizierung den grundsätzlichen Hinweis, dass es – wie Derrida herausgearbeitet hat (vgl. Derrida 1999) – eben nicht möglich ist, innerhalb von Sprache bzw. Schrift Bedeutungen und Zeichen stillzustellen. Wenn es zum Charakteristikum von Sprache gehört, dass man sich der Bedeutungen des Gesprochenen/Geschriebenen nie sicher sein kann, und es insofern fraglich ist, ob diese in einem anderen Kontext, für einen anderen Hörer/Leser noch gleichbedeutend sind, dann ist davon auszugehen, dass auch normative Diskurse nie vollständig ›richtig‹, also im Sinne der Norm, wiederholt werden können. Resignifizierung, verstanden als Prozess von Bedeutungsverschiebungen im Grenzgebiet der Norm, verweist damit auf die Performativität sozialen Handelns zurück und darauf, dass Normen, um Wirksamkeit zu erlangen, immer auch auf ihre Wiederholung angewiesen sind. Bedeutungsverschiebungen, Resignifizierungen sind also immer möglich und es wäre gerade in der vorgeschlagenen Perspektive interessant, solche Verschiebungen – z. B. auch im Interviewtext – zu (unter)suchen. Damit ist nun der Punkt markiert, an dem es mir sinnvoll scheint, bildungstheoretisch mit Butler einzusetzen: Die zentrale These ist, dass das, was sie als Resignifizierungspraxis kennzeichnet, eine Praxis darstellt, die sich aus bildungstheoretischer Perspektive auch als Bildungsprozess untersuchen und beschreiben lassen könnte. Wenn man Bildungsprozesse allerdings als resignifizierende Praktiken versteht, dann wäre Bildung aber weniger als Transformation eines Subjekts im Hinblick auf seine persönlichen Selbst-, Anderen- und Weltverhältnisse zu denken – wie es bspw. Marotzki vorgeschlagen hat (vgl. Marotzki 1990) –, sondern vielmehr als diskursive Verschiebung. Weil in Diskursen die Bedingungen des eigenen Seins eingelagert und damit begrenzt sind, wäre Bildung mit Butler weniger als individuelles, sondern eher als politisches
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Projekt zu verstehen: den Diskurs durch seine nicht ordnungsgemäße Reproduktion in eine Richtung zu verschieben, die den subjektivierenden Zugriff dieses Diskurses selbst lockert, ohne ihn jemals auflösen zu können. So hatte Butler Resignifizierung vor allem als Möglichkeit beschrieben, in der Abweichung eines Zitats von der Norm diese selbst sichtbar werden zu lassen und damit als aktiven Eingriff in das, was gesellschaftlich als ›normal‹ betrachtet wird. Dabei kann sich Resignifizierung in einer bestimmten Spannweite realisieren: In ihrer minimalen Ausprägung gelingt es, die Begrenzungen der Norm überhaupt erst sichtbar zu machen (was eine Infragestellung der Bedingungen des eigenen Seins markiert), in ihrer maximalen Ausprägung gelingt es, die Grenzen der Norm durch Resignifizierung zu verschieben (was eine Verschiebung der Bedingungen des eigenen Seins markiert). Gleichwohl werden solche Bildungsprozesse mit Butler dann eher zu kollektiven und politischen Projekten, weil es nicht allein um die eigenen Seinsbedingungen, sondern um die Infragestellung und Verschiebung der kollektiven Bedingungen des Seins geht, auch wenn sich diese als ›individuelle‹ ausprägen. Bildung verstanden als Resignifizierung verändert dabei aber auch ihr Sujet, insofern es sich eher um einen sprachlich gefassten und/oder praktisch körperlich vollzogenen Prozess handelt, der zwar ein Subjekt voraussetzt, aber über es als individuelles gerade hinausweist. Die bisherigen theoretischen Überlegungen halten also dazu an, im nun folgenden Blick auf den Interviewtext auf mögliche Anrufungen und deren subjektivierende Effekte zu fokussieren, dabei die spezifische Diskriminierbarkeit der Hauptfigur Hakan Salman als ›Migrationsanderer‹ zu berücksichtigen und schließlich nach Resignifizierungs- bzw. Bildungsprozessen in diesem Interviewtext zu fragen. Bevor wir uns in dieser Perspektive dem Interviewtext zuwenden, sei aber noch die methodologische Vorbemerkung gestattet, dass diese Perspektive nicht ohne Konsequenzen für den Umgang mit dem ›Material‹, dem Interview bleiben kann. Angesichts der Performativität auch dieses Textes werde ich versuchen, ihn als Text und das darin Gesagte als Inszenierung (ähnlich wie in einem Theaterstück mit Haupt- und Nebendarstellern) zu lesen und zu behandeln (vgl. auch Rose 2012a, b). Insofern wird sich die Interpretation wesentlich auf die Sprache und das, was diese Sprache macht, konzentrieren und weniger auf die sprechenden Individuen (den Interviewten und den Interviewenden) abheben.
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A NRUFUNGSTHEORETISCHE R EFLEXION Einleitend war bereits angekündigt worden, dass in der vorgeschlagenen anrufungstheoretischen Perspektive die Erzählaufforderung als Anrufung verstanden und untersucht werden soll. Das leitende Interesse ist also darauf ausgerichtet, herauszuarbeiten, inwiefern diese Erzählaufforderung als Anrufung fungiert und was sie bewirkt. Was macht also die erzählauffordernde Anrufung »erzähl mir dein (.) dein Lebensweg, dein Bildungsweg« (Z. 1) mit der das Interviewtranskript beginnt? Abgesehen davon, dass in ihr ein generelles und spezifisches (Forschungs-) Interesse an Lebens- und Bildungswegen geäußert wird (»Lebenswege« und »Bildungswege« werden innerhalb des Forschungsprojektes, in dessen Rahmen das Interview erhoben wird, offenbar als wichtig erachtet), fällt folgendes auf: •
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Sie signalisiert das spezifische Interesse am besonderen, individuellen Lebens- und Bildungsweg der befragten Person, sie akzentuiert die Individualität der befragten Person und personifiziert dabei deren Erzählung (durch die mehrfache Wiederholung: »dein«, Hervoh. NR). Sie setzt in der schlichten Reihung Lebens- und Bildungsweg miteinander gleich, wenn es in einer ungebrochenen Aufzählung »dein Lebensweg, dein Bildungsweg« heißt, was suggeriert, dass letzteres eine Variation des ersteren darstellt. Durch diese Aufzählung fallen Bildungsund Lebensweg gewissermaßen in eins und gehen ineinander auf (der »Lebensweg« ist auch der »Bildungsweg« und umgekehrt). Sie unterstellt mit ihrer Metaphorik vom »Weg« einen Entwicklungsund Fortschrittsgedanken, bei dem die einzelnen Schritte des Weges mehr oder minder logisch aufeinander aufbauen, sodass auf einen Schritt der nächste folgt. Auf einem Weg bewegt sich eine Person in der Regel vorwärts und auf ein – noch unbestimmtes – Ziel zu, das für den zurückgelegten Weg als Orientierungspunkt dient und ihn – bisweilen erst retrospektiv – plausibilisiert. Von dieser Bewegung, vom Zurücklegen eines solchen Weges kann und soll gewissermaßen aus einer Beobachterperspektive berichtet werden (dies ist der Gang meines »Bildungsweg[es]«, Hervorh. NR).
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Die Erzählaufforderung erweist sich damit bereits als durchaus voraussetzungsvoll. Wenn man die Erzählaufforderung nun als Anrufung versteht, so könnte man – etwas vereinfachend formuliert – sagen, sie fordere dazu auf, als Individuum, als ›Ich‹, sprechend zum persönlichen Entwicklungsfortschritt im Leben in Form einer Bildungsgeschichte mit aufeinander aufbauenden Schritten und Etappen Stellung zu beziehen. Darauf aufbauend wäre dann nach den Effekten einer solchen Ansprache bzw. Anrufung zu fragen, also danach, wie auf diese Anrufung erzählend geantwortet wird. Die Antwort, in der mir fast das ganze Interview – wie in einer Nussschale – aufzugehen scheint, liegt in der Formulierung: »es ist wieder dasselbe Katz-und-Maus-Spiel.« (Z. 413) Diese Metapher wird zum Ende der Haupterzählung relativ kurz vor der abschließenden Coda verwendet und sie soll nachfolgend als doppelte Antwort aufgeschlüsselt werden. Dazu ist es allerdings notwendig, sie noch einmal in ihrem erzählerischen Kontext zu betrachten, hier heißt es: »Es kommt wieder aufs Gleiche hinaus, ich muss wieder ein Umweg machen [mh] (.) um etwas zu verstehen, also (.) ich, ich möcht nich sagen (2) ich bin kein, kein Genie [mm] überhaupt nich, ich muss mir ’ne Sache fünf Mal durchlesen, bis ich sie verstehe. [mh] (2) [mh] Ich habe Kommilitonen, die (.) lesen sich das einmal durch [mm] und speichern es ab [mh] (.) Es ist wieder dasselbe Katz-und-Maus-Spiel [mh] (2) Aber da ich mich schon dran gewöhnt habe (4) Niederlagen einzustecken, auch Gutes zu erleben (4) macht es mir keine Sorgen, [mh] also ich weiß, ich habe mein Ziel vor Augen [mh] (2) ob, (2) wann ich nun dahin komme das (.) steht noch nicht fest, aber (.) dass ich dahin komme; das weiß ich /klopft sanft auf den Tisch/.(.) [mh] (.) Ja, das is’ (.) so (2) zu meine Lebensgeschichte (.) zu sagen.« (Z. 408í418)
Bevor also die Coda »Ja, das is’ (.) so (2) zu meine Lebensgeschichte (.) zu sagen« (Z. 417 f.) genutzt wird, um die Haupterzählung zu beenden, wird diese Geschichte auf eine Metapher, auf die Figur von »wieder dasselbe Katz-und-Maus-Spiel« gebracht und verdichtet. Die zentrale These in Bezug auf diese Metapher vom »Katz-und-Maus-Spiel« lautet nun, dass diese sich als Antwort auf die in der Erzählaufforderung implizit aufgerufene Norm verstehen lässt, der Weg, der als Lebens- und Bildungsweg des Hauptdarstellers Hakan Salman beschrieben werden soll, möge ein gerader, sich aus logischen Schritten und Etappen zusammensetzender (Fortschritts-) Weg sein. In der Metapher liegt nicht nur eine Antwort darauf, insofern
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hier durchaus ein solcher – aus einzelnen Schritten bestehender und auf ein Ziel zulaufender – Weg des Fortschritts präsentiert wird, sondern vor allem, weil dieser Lebens- und Bildungsweg dabei gerade in der Abweichung zum Ideal des ›geradlinigen Weges‹ konturiert wird: als »Umweg«. So wird explizit deutlich gemacht, dass der Lebens- und Bildungsweg des Hauptdarstellers Hakan gerade nicht einfach und geradeaus verlaufen ist, sondern mit dem Aufrufen des Bildes vom »Umweg« wird mindestens auf zweierlei angespielt: Zum einen darauf, dass auf diesem Weg Unvorhergesehenes und Erschwerendes passiert sein kann, zum anderen, dass auch die Orientierung über die (Aus-) Richtung des Weges immer wieder neu hergestellt werden musste. In dieser Passage, die den infrage stehenden Weg eher als mühevollen entwirft und kennzeichnet, wird der Hauptdarsteller Hakan Salman zudem – wie auch schon vorher – als jemand entworfen, der sich zum einen mehr anstrengen muss als andere, um zum Ziel zu kommen, und zum anderen als jemand, der dafür länger braucht als andere. Diese Darstellung impliziert, dass sein persönlicher Weg sich aufwendiger, langwieriger und schwieriger gestaltet, als der von anderen Menschen seines Umfeldes. Nicht nur wird in dieser Form der Selbstthematisierung ein eher problematisierender Grundgestus im Erzählen deutlich, vielmehr erfolgt auch die Selbstthematisierung (im Rahmen der Metapher idealtypisch verdichtet im Bild der »Maus«) in einer eher problematisierenden Figur: Es wird die Assoziation als unterlegenes Opfer in einem fortwährenden »Spiel« geweckt, wodurch gleichsam auf sprachlicher Ebene die vorher inhaltlich markierte Norm-Abweichung des »Umweges« der Hauptfigur Hakan Salman gegenüber dem ›normalen‹, ›geraden‹ »Weg« noch einmal unterstrichen wird. Hakan Salmans (Bildungs-) Weg ist weder leicht noch gradlinig. Um die Norm-Abweichung Hakans zu verdeutlichen, wird über die gesamte Inszenierung hinweg ein zentrales Stilmittel genutzt, das sich auch hier angewendet findet und mit dessen Hilfe die Spezifität dieser Geschichte und ihres Hauptdarstellers immer wieder gezeigt und bestätigt wird: das Stilmittel der Kontrastierung. So wird die Abweichung vom ›normalen Weg‹ und die Inanspruchnahme eines »Umweges« für Hakan sprachlich plausibilisiert, indem verschiedene Nebendarsteller (im oben gewählten Ausschnitt: »Kommilitonen«) aufgerufen werden, deren Ausgangsbedingungen entweder besser als Hakans sind oder die es aus anderen Gründen z. B. mit den Lerninhalten leichter haben als er (vgl. bezogen auf die Schule
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auch die Ausgestaltung des Nebendarstellers Robert Lange: Z. 134 ff.). Der Vergleich mit diesen anderen Lernenden, die es insgesamt weniger schwer haben, dient dem Hauptdarsteller nicht nur als Ansporn und Orientierung, sondern erzeugt bisweilen auch »Druck« (Z. 890 ff.) – auch wenn dies erst im Nachfrageteil thematisiert wird. Auf der Basis dieses Vergleichshorizontes ergeben sich dann auch wiederholt defizitär gefasste Thematisierungen der Hauptfigur Hakan (z. B. in Bezug auf die beengten Wohnverhältnisse zur Zeit des Frauenhausaufenthaltes der Familie (Z. 33 f.), den fehlenden Vater (Z. 109 ff.), die fehlenden Deutschkenntnisse zu Schulbeginn (Z. 23 ff.), den fehlenden Habitus einer Leseratte (Z. 1040 ff.), etc.). Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass für den Hauptdarsteller Hakan der Vergleich mit und die Nähe zu solchen Menschen, denen das Lernen leichter fällt und/oder die bessere Ausgangsbedingungen haben, als Triebfeder und Unterstützung dienen, um sich »hochzurappeln« (Z. 157, grammat. Anpassung NR). Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen geht die Bedeutung von »dasselbe Katz-und-Maus-Spiel« also relativ gut auf im Begriff des Umwegs, der kurz zuvor für den Lebens- und Bildungsweg für Hakan Salmann vor allem als Lernender (als Schüler und als Student) in Anspruch genommen wurde. Wenn man – worüber sich durchaus streiten ließe – den Hauptdarsteller Hakan Salman in diesem Spiel als in der Rolle der »Maus« Befindlichen versteht, dann ist dieses »Katz-und-Maus-Spiel« vor allem als eines zu verstehen, das Hakan auf seinem Weg vor die eine oder andere Herausforderung (symbolisiert in der Figur der »Katz[e]«) stellt, der er sich durch den einen oder anderen geschlagenen Haken, den einen oder anderen eingeschlagenen Umweg zu erwehren sucht. Damit wird implizit nahegelegt, dass es an der »Katz[e]« und an der Natur des »Spieles« (verstanden als wiederkehrendes Muster, dessen Spielregeln Hakan Salman mit der Zeit gelernt hat) liegt, dass Hakans Lebens- und Bildungsweg kein gerader, der Norm entsprechender Weg sein kann. Allerdings wird die in der Metapher verdichtete Szenerie mit einem durchaus optimistischen Unterton in eine gelingende überführt, weil der Ausgang (bzw. das »Ziel«) dieses – vielleicht manchmal kraftraubenden und anstrengenden – Spiels für den Hauptdarsteller klar scheint und eindeutig als positiv entworfen wird: »aber (.) dass ich dahin komme; das weiß ich.« (Z. 416 f.) Bei diesem ersten Interpretations- und Analyseschritt im Hinblick auf die Metapher als Antwort könnte man es nun belassen, wäre da nicht noch
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ein unterbelichteter Punkt: Wenn das »Katz-und-Maus-Spiel« als »wieder dasselbe« qualifiziert wird, wird darauf verwiesen, dass wir es hier mit einem Phänomen zu tun haben, das sich entweder lebensgeschichtlich wiederholt hat oder auch bereits vorher erläutert und erzählt wurde und nun lediglich noch einmal aufgerufen wird. In der bisherigen Interpretation könnte man diesen Verweis so lesen, dass er sich direkt auf die vorherigen und nachfolgenden Ausführungen bezieht – was auch plausibel ist. Trotzdem fällt in einer zweiten Interpretationslinie, die auch noch einmal stärker auf den emotionalen Gehalt dieser Metaphorik eingeht, auf, dass diese Metapher selbst sich bereits als ein Zitat erweist – es ist die gleiche Metapher, die bereits zu Beginn des Interviews (Z. 44) schon einmal eingeführt und genutzt wurde (hier noch ohne den Zusatz »wieder dasselbe«). So wird die Metapher vom »Katz-und-Maus-Spiel« zum ersten Mal im Interviewtext dort verwendet, wo mit ihrer Hilfe die Situation des Versteckens vor dem Vater (»der kommt jetzt und sucht er uns«, Z. 43) im Zusammenhang mit der Flucht vor ihm ins Frauenhaus ausgestaltet wird. Hier liegt der Metapher eine stärkere emotionale Qualität von Bedrohung zugrunde, die geprägt ist von einem Gefühl des In-der-Falle-Sitzens und von Unsicherheit bezogen auf die eigene Unversehrtheit. Dieses Bedrohungsgefühl findet seinen Ausdruck in der hier artikulierten Befürchtung, gesucht und möglicherweise unvermittelt gefunden zu werden von jemandem, der vorher und auch später eindeutig als bedrohlich und handgreiflich charakterisiert wurde. Für diese Zeit, in der es existenziell wichtig für den Hauptdarsteller Hakan Salman und die anderen Familienmitglieder war, sich zu verstecken, und in der deutlich wird, dass der Hauptdarsteller Angst vor dem Vater hat, scheint das Bild vom »Katz-und-Maus-Spiel« direkt schlüssig: Hakan Salman steht einer bedrohlichen Person gegenüber, er fürchtet und versteckt sich vor ihr. In diesem Aufrufen der Metapher gibt es keine Unsicherheit darüber, wer in dieser Situation »Katz[e]« und wer »Maus« ist, und das »Spiel« zeigt sich hier eher klar als dasjenige (wenig amüsante), das Jäger und Gejagte miteinander ›spielen‹. Aus diesem Befund ergibt sich für mich nun aber die Frage, ob und wenn ja in welchem Maße diese emotionale Qualität von Bedrohlichkeit auch noch in dem emotional viel abgeschwächteren Aufrufen der Metapher als Muster, als »wieder dasselbe Katz-und-Maus-Spiel« zum Ende der Haupterzählung zum Tragen kommt í denn es leuchtet auf den ersten Blick nicht ein, diese Metapher für zwei
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doch sehr unterschiedlich charakterisierte und emotional besetzte Situationen gleichzeitig in Anspruch zu nehmen. Die bisherige Interpretation hatte nahegelegt, das »Katz-und-MausSpiel« in der bilanzierenden Passage zum Ende der Haupterzählung nun weniger mit einer gefahrvollen Situation, sondern eher mit einer anstrengenden Situation, im Sinne der Aussage »ich habe es schwerer als andere« und »bei mir dauert es länger bis ich ankomme« zu verstehen und mit dem Bild des »Umweges« (Z. 408) zu verkoppeln. Nicht eingefangen hatte diese Interpretation bisher aber eine Form des Ausgeliefertseins, die zwar in ihrer emotionalen Qualität nicht an die gegenüber dem Vater heranreicht, aber trotzdem als verstörend ausgewiesen wird: eine Diskriminierungserfahrung, die der Hauptdarsteller Hakan als ›Migrationsanderer‹ auf seinem Bildungsweg macht, wie sie explizit – nachträglich – für die Situation der Abiturnachprüfung ausgewiesen wird (vgl. Z. 269 ff., Z. 829 ff.). In der zugehörigen Sequenz wird nicht nur gezeigt, wie machtlos, traurig, wütend und enttäuscht der Hauptdarsteller Hakan Salman angesichts des verwehrten Abiturabschlusses ist (»Da ist meine Welt zusammengebrochen« Z. 292 f.), sie verdeutlicht vor allem, dass Hakan relativ schutzlos solcher weitreichenden Einflussnahme auf seinen Lebens-Bildungsweg ausgeliefert ist: Wenn ein Lehrer Hakan zwei Jahre lang – wie andere Schüler auch – in seinem Kurs weitgehend ignoriert (vgl. Z. 244 ff.) (vielleicht, weil er ihn als ›Türken‹ wahrnimmt, aber das wird nicht klar thematisiert) und ihm in der mündlichen Nachprüfung bescheinigt, seine Antworten seien qualitativ nicht gut genug, um die notwendige Punktezahl zu erreichen (vgl. Z. 322 f.), dann steht der Hauptdarsteller vor der Aufgabe, sich mit den Handlungen und Entscheidungen dieses Lehrers zu arrangieren. Der dargestellte Umgang von Hakan Salman lässt sich als doppelter kennzeichnen, der einerseits darin besteht, die aus Sicht des Erzählers ungerechte und diskriminierende Entscheidung zu akzeptieren und sich unter Tränen damit abzufinden sowie andererseits trotz des nicht bestandenem Abiturs zur Abiturfeier zu gehen (und dort eine andere Form der Anerkennung, jenseits von Leistungsbeurteilungen und Noten zu erfahren, vgl. Z. 348 ff.). Vor dem Hintergrund dieser Sequenz kann auch die spätere Metapher vom »Katzund-Maus-Spiel« als Verweis auf eine gewisse Bedrohung gelesen werden, der der Hauptdarsteller Hakan zumindest potenziell immer wieder ausgesetzt ist, nämlich der Gefahr als ›Migrationsanderer‹ diskriminiert und benachteiligend behandelt zu werden. Auch wenn es an dieser Stelle nicht ex-
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plizit wird, so lässt sich mit Rückgriff auf die Phase des verfehlten Abiturabschlusses durchaus sagen, dass Hakan dort sehr deutlich als jemand gezeigt wird, mit dem (gegen seinen Willen) »gespielt« wird, der zum »Spielball« zwischen den Lehrkräften wird, der den entscheidenden Lehrkräften weitestgehend ausgeliefert und von ihrer Gunst abhängig ist. Er wird als jemand gezeigt, der an diesem Punkt seines Lebens-Bildungsweges wenig Möglichkeiten hat, seinen Weg berechenbar zu gestalten (so ist er in der mündlichen Abiturnachprüfung von der Entscheidung eines Lehrers abhängig, von dem er weiß, dass dieser ihn nicht schätzt und eher missachtet). Meine These ist dementsprechend, dass genau diese Diskriminierungserfahrung – die erst im Nachfrageteil noch einmal deutlich als solche ausgewiesen wird (vgl. Z. 836 f.) – und die potenzielle Diskriminierbarkeit des Hauptdarstellers Hakan in dessen Lebens- und Bildungsweg eine Ebene von latenter Bedrohung einziehen, die vielleicht besser als partielle Verunsicherung charakterisiert werden kann, die es verständlicher macht, auch für einen weniger bedrohlichen Zusammenhang wieder die Metapher vom »Katz-und-Maus-Spiel« einzusetzen, die eben nicht allein – wie es für Bildungsaufsteiger durchaus typisch ist (vgl. den Beitrag von F. von Rosenberg in diesem Band) – die Figur eines »Umweges« und eines Sich-mehranstrengen-Müssens bemüht bzw. darin aufgeht. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Metapher »es ist wieder dasselbe Katz-und-Maus-Spiel« gemäß der bisherigen Interpretation durchaus als spezifische Antwort auf die Erzählaufforderung nach Rechenschaftslegung zum persönlichen (Fortschritts-) Weg zu verstehen ist. Wenn man die Metapher in diesem Sinne als Antwort liest, wird vor allem sichtbar, dass Hakans Lebens-Bildungsweg seine Kontur eher durch die Abweichung und Abgrenzung vom ›normalen‹, gradlinigen Weg erhält, wofür erstens seine persönliche Disposition (es fällt ihm nicht leicht), zweitens seine vergleichsweise schlechteren Ausgangsbedingungen (er hat bspw. keine Eltern, die Lehrer oder Ärzte sind und die deutsche Sprache perfekt beherrschen) und drittens seine Diskriminierbarkeit (er ist ablehnenden Lehrkräften ausgeliefert und von ihnen abhängig) ins Feld geführt werden können. Allerdings wird der Hauptdarsteller Hakan Salman durchaus als jemand charakterisiert, der das Katz-und-Maus-Spiel mittlerweile kompetent zu spielen weiß. Trotzdem bleibt er – so kann man am Ende bilanzieren – auch wenn er sich in der Rolle der »Maus« besser eingerichtet hat, als in diesem Spiel strukturell unterlegen Positionierter ausgewiesen.
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Lässt sich angesichts dieser Diagnose sinnvoll für diesen Fall nach Bildung oder Resignifizierungspraxen im Interviewtext fragen? Dieser Frage nimmt sich die abschließende bildungstheoretische Reflexion der »Katzund-Maus-Spiel«-Metaphorik an.
B ILDUNGSTHEORETISCHE R EFLEXION Im Hinblick auf die eben aufgeworfene Frage nach möglichen Bildungsprozessen im Interviewtext von Herrn Salman fällt meine Antwort eher verhalten aus: Ja, vielleicht. Vielleicht lässt sich am Interviewtext etwas rekonstruieren, was unter bildungstheoretischer Perspektive einer weiteren Betrachtung lohnt. Denn bereits der vergleichende Blick auf die Nutzung der Metapher »Katz-und-Maus-Spiel« an zwei verschiedenen Stellen des Interviewtextes zeigte, dass diese zwar als gleichlautend, aber eben nicht als gleichbedeutend zu verstehen sind. Die bisherige Interpretation liefert damit bereits den Hinweis, dass der Hauptdarsteller Hakan Salman in beiden Fällen in dem damit eröffneten Verhältnis zwischen Katze und Maus zwar die Position der Maus einnimmt, sich dabei aber das Bild, das von dieser Maus implizit gezeichnet wird, verändert. Deshalb spreche ich nachfolgend mit Bezug auf beide Textstellen von einer Differenz zwischen Maus und Maus’ – wobei sich Maus auf die erste Textstelle (Z. 43) und Maus’ auf die zweite Textstelle (Z. 413) bezieht. Gemäß der bisherigen Interpretation kann man also sagen, es gibt etwas, das sich zwischen dem ersten und zweiten Anführen der Metapher verändert hat, nämlich die Positionierung des Hauptdarstellers Hakan Salman als Maus. Angesichts dieses Befundes müsste dann diese Bedeutungsverschiebung daraufhin befragt werden, ob sie als Resignifizierungspraxis im Sinne Butlers zu verstehen ist und damit – und das wäre die letzte Frage – auch als Bildung (-sprozess). Lässt sich also der Unterschied zwischen Maus und Maus’ als Bedeutungsverschiebung näher bestimmen? Für die Maus des ersten Textausschnittes lässt sich auf jeden Fall festhalten, dass das von dieser Maus entworfene Bild eher das einer ängstlichen und eingeschüchterten Maus ist, die sich verstecken muss, die sich nicht sicher fühlen kann angesichts einer übermächtigen Bedrohung, die jederzeit hereinzubrechen droht und die diese Maus vor allem als schutzlose, verletzliche und der Katze ausgelieferte zeigt. In Bezug auf Maus’ lässt sich im Unterschied dazu festhalten, dass
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sie zu wissen scheint, wo und wann die Katze lauert, dass sie ihr gegebenenfalls aus dem Weg zu gehen weiß, dass sie mit einzelnen Niederlagen in diesem Spiel leben kann (was auch darauf hindeutet, dass es sich zu diesem Zeitpunkt explizit nicht mehr um ein Spiel auf Leben und Tod handelt), dass sie mit dem Spiel und seinen Regeln vertraut zu sein scheint und sich darin offenbar souverän zu bewegen weiß. Für diese Maus’ wird eher ein Bild entworfen, das sie als klug agierend und geübt zeigt, so als könne sie notfalls Haken schlagen, wissentlich Umwege in Kauf nehmen und am Ende in diesem Spiel sogar siegreich sein. Nun könnte man relativ leicht behaupten, zwischen diesen Figuren Maus und Maus’ liege ein Bildungs- oder Lernprozess – zumal die erste Maus den Hauptdarsteller Hakan Salman als Kind charakterisiert, während sich die zweite Maus’ auf den Hauptdarsteller Hakan Salman als jungen Erwachsenen bezieht. Der Veränderungsprozess zwischen beiden MausPositionierungen wäre dann vielleicht als einer zu kennzeichnen, in dem Beharrlichkeit, Ausdauer, Klugheit und Frustrationstoleranz angesichts eines aufgrund von ungünstigen Ausgangsbedingungen eher mit Herausforderungen gespickten Lebens- und Bildungsweges entwickelt wurden. Doch diese Antwort befriedigt nur bedingt, weil damit noch keineswegs geklärt ist, ob eine solche Verschiebung in der Positionierung Hakan Salmans als Maus, die mit dem Unterschied zwischen Maus und Maus’ etikettiert werden kann, sich im Rahmen des eingeführten Verständnisses von Resignifizierung überhaupt als resignifizierende Praxis lesen lässt. Relativ unstrittig scheint mir, dass von Maus zu Maus’ eine Verschiebung in der Bedeutung zwischen dem ersten und zweiten Aufrufen der Metapher stattfindet – dem hatte die bisherige Interpretation zugearbeitet. An dieser Stelle wird jedoch offensichtlich, dass das Kriterium Bedeutungsverschiebung allein kaum hinreichend sein kann, um einen Bildungsprozess im Anschluss an Butlers Resignifizierungsverständnis zu qualifizieren. Für einen solchen Bildungsprozess müssten mindestens noch zwei weitere Kriterien zutreffen, nämlich eine Bezugnahme auf einen als allgemein oder öffentlich zu qualifizierenden Diskurs und eine Irritation seiner Normalitätsannahmen. Während sich für eine stehende Metapher3 in der deutschen Sprache wie »Katzund-Maus-Spiel« durchaus plausibel argumentieren ließe, dass sie Teil eines allgemeineren und öffentlichen Diskurses ist, so wird spätestens mit
3
Vgl. exemplarisch die Novelle »Katz und Maus« von Günther Grass.
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DIE
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B ILDUNGSPROZESSEN
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Bezug auf den letzten Punkt deutlich, dass die Frage, inwieweit die Bedeutungsverschiebung zwischen Maus und Maus’ im Rahmen der allgemeinen Metapher vom »Katz-und-Maus-Spiel« irritierend in den Diskurs eingreift, ohne eine Diskursanalyse, die zuerst einmal darauf verwiesen wäre, zu klären, auf welchen Diskurs diese Metapher eigentlich Bezug nimmt, nicht zu leisten ist. Da mit diesem Befund eher der Anfang eines weiteren analytischen Projektes markiert wird, das im Rahmen dieses Artikels weder geleistet werden kann noch soll, bleibt die Frage also vorerst bestehen, ob sich die ausgewiesene Bedeutungsverschiebung als resignifizierende Praxis im Sinne Butlers verstehen lässt.
F AZIT Trotz dieser letztlich offen gelassen Antwort auf die Frage nach Bildungsprozessen im Interview mit ›Hakan Salman‹ hat sich der Versuch, den Interviewtext aus anrufungstheoretischer Perspektive als Antwort zu lesen, durchaus als fruchtbar erwiesen. Der Lebens- und Bildungsweg von Hakan Salman wurde dabei gerade in Abgrenzung zu einem ›normalen‹, gradlinigen Weg als »Katz-und-Maus-Spiel« konturiert, für das die Diskriminierbarkeit und die spezifischen Ausgangsbedingungen als ›Migrationsanderer‹ als bedeutsam markiert wurden. Hakan Salman bleibt als in diesem Spiel strukturell Unterlegener ausgewiesen, auch wenn er im Laufe des Lebensund Bildungsweges das Spiel selbst immer besser zu spielen weiß. Offen bleibt angesichts der durchaus unterschiedlichen Positionierung als Maus innerhalb des Interviewtextes aber die Frage nach Bildungsprozessen, insofern nicht abschließend geklärt werden konnte, ob die Bedeutungsverschiebung zwischen Maus und Maus’ auf einen solchen Bildungsprozess verweist.
L ITERATUR Butler, Judith P. (1997): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Dies. / Koller, Hans-Christoph (2012): Interpellation, Diskurs, Performativität. In: Ricken, Norbert / Balzer, Nicole (Hg.): Judith Butler. Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 75–94. Schäfer, Alfred (2009): Bildende Fremdheit. In: Wigger, Lothar (Hg.): Wie ist Bildung möglich? Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, S. 185–201.
Fremdheitszuschreibungen als Anstoß für transformatorische Bildungsprozesse? J ANINA Z ÖLCH
Hakan Salman ist 1985 in einer norddeutschen Großstadt als Sohn eines türkischen Arbeitsmigranten und dessen Frau geboren worden. Sein Bildungsweg bis zum heutigen Studium der Medizintechnik verlief mit Brüchen und Rückschlägen und bildet das Hauptthema seiner erzählten Lebensgeschichte. Dabei nehmen vor allem die »ziemlich schwierige[n] (.) Probleme« (Transkript des Interviews in diesem Band, Z. 19) während der Schulzeit großen Raum ein. In der gymnasialen Oberstufe habe Hakan zwei negative Erfahrungen mit Lehrkräften gemacht, die er als Vertrauenseinbrüche schildert, deren Grund er sich damals nicht habe erklären können. Retrospektiv benennt er diese Erfahrungen als Diskriminierung aufgrund seines Migrationshintergrundes. Ausgehend von dieser Konstellation möchte ich in diesem Beitrag der Frage nachgehen, ob Erfahrungen von Fremdheitszuschreibungen eine solche Problemlage darstellen können, dass sich das bestehende Welt- und Selbstverhältnis für die Bewältigung als nicht ausreichend erweist und daher verändert werden muss. Können Fremdheitszuschreibungen also zum Anstoß oder zur Herausforderung für transformatorische Bildungsprozesse werden? Um dies zu beantworten, werde ich zunächst ausführen, auf welche Weise Fremdheit konstruiert wird. Anschließend wird ausgehend von der Definition transformatorischer Bildungsprozesse theoretisch untersucht, ob Fremdheitszuschreibungen zum Anlass eines solchen werden können. In diesem Rahmen werden die »vier Akte der Bewusstmachung von Fremd-
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heit« von Terkessidis (2004) als möglicher Anknüpfungspunkt vorgestellt. Im Zuge der Fallrekonstruktion des Interviews mit Hakan Salman findet eine Auseinandersetzung mit der Frage »Bildungsprozess ja, nein – oder?« statt. Zum Schluss soll die Fruchtbarkeit der Betrachtung von Fremdheitszuschreibungen im Rahmen erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung für die Bildungstheorie reflektiert werden, wobei auch aufgetretene Grenzen zur Sprache kommen werden.
D IE K ONSTRUKTION
VON
F REMDHEIT
Als fremd wird bezeichnet, was als vom Vertrauten abweichend, als ›anders‹ wahrgenommen wird (vgl. Hahn 1997: 135). Dabei ist Fremdheit nicht objektiv und ›an sich‹ mit einer Sache verbunden, sie ist keine Eigenschaft von Personen, nichts, was ihnen wesentlich zu eigen wäre. Stattdessen handelt es sich um eine Konstruktion, die in sozialen Interaktionen vorgenommen wird und »Distanz und Differenz innerhalb sozialer Beziehungen markiert« (Neubauer 2001: 16). Waldenfels (1997) erklärt mit Bezug auf Husserl, dass es ein Fremdes »überhaupt« ebenso wenig geben könne wie ein »Links überhaupt« (ebd.: 23). Fremdheit lasse sich immer nur in Hinblick auf das »jeweilige Hier und Jetzt« (ebd.) bestimmen, stellt also einen relationalen Begriff dar. »Als fremd gilt das, was aus der jeweiligen kollektiven Eigenheitssphäre ausgeschlossen und von der kollektiven Existenz getrennt ist, was also nicht mit anderen geteilt wird. Fremdheit bedeutet in diesem Sinne Nichtzugehörigkeit zu einem Wir.« (ebd.: 22) Als Fremdheitsmarker, also Merkmale aufgrund derer Personen von einem ›Wir‹ exkludiert werden, können z. B. Sprache, Hautfarbe oder Gruppenzugehörigkeit fungieren. Dabei geht es nicht nur um die Konstatierung eines Merkmals, sondern um die »Operationen der Etikettierenden« (Hahn 1994: 140), die eine Bewertung darstellen. Konstruktionen von Fremdheit schließen zumeist eine asymmetrische Machtbalance ein. Elias und Scotson (1965) haben beschrieben, wie der Gruppenzusammenhalt der ›Etablierten‹ und deren Zuschreibungen negativer Eigenschaften auf Neuhinzugekommene, die ›Außenseiter‹, dazu beitragen, »dass einflussreiche Positionen vor allem für Angehörige der eigenen Gruppe reserviert bleiben« (Schramkowski 2007: 94).
F REMDHEITSZUSCHREIBUNGEN
ALS
A NSTOSS FÜR B IDLUNGSPROZESSE ?
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Als ›Prototyp‹ des Fremden in modernen Gesellschaften gilt der Migrant. Bereits in der ersten systematischen soziologischen Beschäftigung mit dem Konzept der Fremdheit, Georg Simmels »Exkurs über den Fremden« aus dem Jahr 1908, wird das Beispiel des (jüdischen) Migranten herangezogen. Simmel definiert den Fremden als den Wandernden, »der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potenziell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat« (ebd.: 685). Es geht demnach um eine Person, die sich niederlässt und somit zu einem Teil der ortsansässigen Gruppe wird und sich dennoch von dieser unterscheidet, eine Sonderstellung einnimmt, da sie nicht von Beginn an ›hier‹ gewesen ist, Anteile des ›dort‹ mitbringt, und die Möglichkeit besteht, dass sie wieder zurückgehen könnte. Gemeint ist also ein Migrant der ersten Generation, der selbst gewandert ist, ein Neuankömmling, der in eine einigermaßen fest gefügte Gesellschaft tritt. So geht es bei Simmel und in den anschließenden soziologischen Auseinandersetzungen (z. B. Schütz 1972) um das Verhältnis von Nähe und Ferne, den Blick der Einheimischen auf die und den Umgang mit den Hinzukommenden und deren Zurechtfinden in der neuen Umgebung, besonders die durch die Migration vermeintlich ausgelösten KrisisErfahrungen (vgl. ebd.). Ein Drittel der Menschen mit Migrationshintergrund, die heute in Deutschland leben, ist bereits in diesem Land geboren worden, gehört also der sogenannten zweiten oder dritten Generation an (vgl. BAMF 2011). Dies betrifft vor allem die Nachkommen der Arbeitsmigranten aus Ländern wie der Türkei oder Italien. Diese jungen Männer und Frauen sind in dem Land, in das die (Groß-)Eltern migriert sind, zur Welt gekommen, aufgewachsen und sozialisiert worden, beherrschen die deutsche Sprache zumeist perfekt, besitzen z. T. die einheimische Staatsangehörigkeit und haben zum Heimatland der (Groß-)Eltern oftmals nur noch einen touristischen Bezug (vgl. Neubauer 2001: 10). Somit sind sie keine Fremden im Sinne Simmels und dennoch werden auch sie vielfach von der Einwanderungsgesellschaft als fremd wahrgenommen, adressiert und diskriminiert. Dabei sieht sich besonders die Gruppe derjenigen mit türkischem Hintergrund im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche, in den Medien und alltäglichen Situationen in verstärkter Weise mit unterschiedlichen Facetten von Benachteiligung und Ausgrenzung konfrontiert. Auch die Angehörigen der zweiten und dritten Generation wachsen
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»vielfach mit diskriminierenden Praktiken, der Erfahrung, als ›Fremde‹ behandelt zu werden und öffentlichen Diskussionen über ›Ausländer‹ [auf], die sich nicht integrieren und zu Gewalt und Kriminalität neigen« (Schramkowski 2007: 54). Diese »Alltäglichkeit der Thematisierung als Andere« (Riegel/Geisen 2007: 8) lässt die Auseinandersetzung mit der eigenen Zugehörigkeit virulent werden, die in der Phase der Adoleszenz ihren Höhepunkt findet. Dabei stimmen die von außen vorgenommenen Zuschreibungen nur bedingt oder gar nicht mit den subjektiven Selbstverortungen der Heranwachsenden mit Migrationshintergrund überein, was zu Widersprüchen und Spannungen zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen führen kann (vgl. ebd.). Unter Adoleszenz wird dabei der Transformationsprozess eines Menschen von der Kindheit zum Erwachsensein und die »Herausbildung eines erwachsenen individuierten Lebensentwurfs« (King 2000: 42) verstanden. Heranwachsende mit Migrationshintergrund haben es mit einer »verdoppelten Transformationsanforderung« (King / Schwab 2000) zu tun, denn beide Prozesse – Adoleszenz und Migration – sind von Trennungs- und Fremdheitserfahrungen auf verschiedenen Ebenen sowie den Themen Abschied und Neugestaltung geprägt und können sich gegenseitig verstärken, blockieren oder befruchten. In der Phase der Adoleszenz besteht die Chance, dass eine kreativ-reflexive Auseinandersetzung mit bisherigen Denk- und Handlungsmustern stattfindet und lebensgeschichtliche Konflikte und / oder Defiziterfahrungen umgestaltet und bewältigt werden (vgl. King 1997: 33). Im günstigen Fall kann es zu einer »Transformation von Grundfiguren des Selbst- und Weltverhältnisses« (vgl. Koller 2007) kommen und Neues entstehen. Die Entfaltung dieses schöpferischen Potenzials kann aber auch ausbleiben und stattdessen können gerade durch diese Phase des Wandels Selbstwert- und Orientierungskrisen ausgelöst werden (vgl. Streeck-Fischer 1999: 13). Der positive Verlauf des adoleszenten Individuierungsprozesses im Kontext von Migration hängt von der Chancenstruktur des »adoleszenten Möglichkeitsraumes« (King 2002) ab, die von der generativen Haltung der Eltern ebenso bestimmt wird wie von geschlechts- und milieuspezifischen sowie gesellschaftlichen Bedingungen, wobei Fremdheitszuschreibungen eine große Rolle zukommt.
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F REMDHEITSZUSCHREIBUNGEN ALS A NSTOSS FÜR TRANSFORMATORISCHE B ILDUNGSPROZESSE ? Anlass für Transformationen grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses und damit Anstoß für Bildungsprozesse stellt die Konfrontation mit einer Problemsituation dar, für deren Bewältigung das bisherige Welt- und Selbstverhältnis nicht ausreicht. »Bildungsprozesse bestehen demzufolge also darin, dass Menschen in der Auseinandersetzung mit neuen Problemlagen neue Dispositionen der Wahrnehmung, Deutung und Bearbeitung von Problemen hervorbringen, die es ihnen erlauben, diesen Problemen besser als bisher gerecht zu werden.« (Koller 2012a: 16) Können Erfahrungen von Fremdheitszuschreibungen eine solche Problemsituation darstellen und somit zum Anlass oder zur Herausforderung für transformatorische Bildungsprozesse werden? Kokemohr (2007) verdeutlicht im Rekurs auf Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden (1997), dass Bildungsprozesse durch die Erfahrung von Fremdem, das sich der Deutung mit vertrauten Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses widersetzt, herausgefordert werden können (vgl. ebd.: 14). Koller (2007) unterstreicht zudem den Gewinn der Waldenfels’schen Gedanken für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, denn diese würden erstens zeigen, »dass der Anstoß für Transformationen stets von anderswoher kommt« (ebd.: 71). Bei Bildung handele es sich also um ein »›responsives‹ Geschehen, bei dem das Subjekt auf einen Anspruch antwortet« (ebd.). Zweitens zeige sich, dass »krisenartige Erfahrungen, die mit einer Beunruhigung, einer Störung, ja einem gewaltsamen Einbruch in die gewohnte Ordnung einhergehen« (ebd.), zum Auslöser von transformatorischen Bildungsprozessen werden können. Ich möchte die These stark machen, dass die Zuschreibung von Fremdheit bzw. das Gefühl, aufgrund eines Migrationshintergrundes als Fremder wahrgenommen, adressiert oder diskriminiert zu werden, eine solch »krisenartige Erfahrung« bedeuten kann, dass die gewohnte Ordnung gewaltsam aufgerüttelt und eine Antwort herausgefordert wird, und somit Anstoß zu Transformationen des Welt- und Selbstverhältnisses geben kann.1
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Dies soll nicht so verstanden werden, dass solche Zuschreibungen positiv oder wünschenswert seien, weil sie Bildungsprozesse anstoßen können.
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Mögliche Varianten krisenhafter Erlebnisse von Fremdheitszuschreibungen sehe ich bei Terkessidis (2004) beschrieben, der bildungserfolgreiche Angehörige der zweiten Migrantengeneration zu ihren Erfahrungen mit alltäglichen Rassismen befragt hat und mit den entwickelten vier idealtypischen »Akten der Bewusstmachung von Fremdheit« einen sehr fruchtbaren Ansatz vorgelegt hat. Am Beginn des Prozesses stehe eine »Urszene« (ebd.: 173) der Diskriminierung, eine »Situation, in der die Zugehörigkeit erstmals bewusst als prekär erfahren wird« (ebd.: 176). Die Erfahrung, die dadurch beim Subjekt ausgelöst werde, nennt Terkessidis »Entfremdung« (ebd.: 178). Badawia (2002) spricht für Situationen, in denen die Zugehörigkeit erstmals als unsicher erlebt wird, von dem »blitzartigen Verlust der Vertrautheit in einer bisher vertrauten Umgebung« (ebd.: 203). Terkessidis arbeitet heraus, dass seine InterviewpartnerInnen sich erst von diesem Moment an selbst als ›ausländisch‹ und ›nicht deutsch‹ identifizieren würden. Er konstatiert daher, dass es keine »vorgängige Differenz« gebe, »sondern einen anhaltenden Prozess der Differenzierung, den die Betreffenden auch selbst betreiben, wenn sie beginnen, auf die ›Entfremdung‹ zu antworten« (ebd.: 179). Unter dem zweiten Akt, der »Verweisung«, versteht Terkessidis Äußerungen, die die Betreffenden an andere Orte verweisen, wie die Frage eines Einheimischen »Woher kommst Du?«, die erst dann als befriedigend beantwortet betrachtet werde, wenn ein ausländischer Ort als Ursprung angegeben werde (vgl. ebd.: 180). Bei der »Entantwortung« handele es sich um einen Vorgang, bei dem die Migranten von den Autochthonen nicht als Individuen, sondern als Angehörige einer bestimmten Gruppe, verbunden mit Klischees und Vorurteilen, betrachtet und angesprochen würden (vgl. ebd.: 186). Zwei mögliche gegensätzliche Reaktionen darauf seien, sich dem ›Wir‹ der ›Ausländer‹ zu entziehen oder als Anwalt dieses ›Wir‹ aufzutreten (vgl. ebd.: 188). Viertens nennt Terkessidis den Akt der »Entgleichung«, der unmittelbar auf die »Entantwortung« folge, indem die Zuschreibungen und Klischees meist Defizitannahmen im Verhältnis zu den Einheimischen enthielten. »Die Entgleichung kommuniziert der Person, die sie erlebt, dass sie zur Konkurrenz überhaupt noch nicht zugelassen ist.« (ebd.: 195) Anders als Terkessidis würde ich die »Urszene« als eine Situation sehen, in der eine »Verweisung«, »Entantwortung« oder »Entgleichung« stattfindet, und den gesamten Prozess als »Entfremdung« bezeichnen. Ich
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denke, dass diese drei Akte eine solch krisenhafte Erfahrung darstellen können, dass die bisherigen Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses ins Wanken geraten und Wandlungsprozesse angestoßen werden können, vor allem in der »Urszene«, aber auch bei späteren Erfahrungen. Zugleich ist Terkessidis’ Modell der Gedanke der Responsivität inhärent. Die Fremdheitszuschreibungen durch andere fordern ›Antworten‹ heraus, die völlig unterschiedlich ausfallen können (im Sinne von Annahme, Widerstand, …). Terkessidis untersucht keine Bildungsprozesse und könnte es aus methodischen Gründen auch kaum, da er weniger Lebensgeschichten als einzelne Erlebnisse und Argumentationen erhoben hat und den Interviewtexten zudem durch die kategorisierende Auswertung mit der Grounded Theory die sequenzielle Aufschichtung verlorengegangen ist. Ich denke, dass im Gegensatz dazu die Auswertung eines biographisch-narrativen Interviews mithilfe eines sequenzanalytischen Verfahrens eine geeignete empirische Grundlage für die Herausarbeitung von Fremdheitszuschreibungen und potenziell angestoßenen Bildungsprozessen darstellt. Daher möchte ich im Folgenden die für dieses Thema wichtigen Teile der Fallrekonstruktion des Interviews mit Hakan Salman ausführen, wobei es nicht nur um eine Überprüfung oder Illustration gehen soll, sondern (bestenfalls) auch um Anregungen für die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse.
F ALLREKONSTRUKTION H AKAN S ALMAN 2 – B ILDUNGSPROZESS JA , NEIN – ODER ? Auf die Bitte des Interviewers an Hakan, von seinem Lebens- und Bildungsweg zu erzählen, folgt eine lange Stegreiferzählung, in der dieser seinen Bildungsweg überwiegend chronologisch vom Kindergarten bis zu den Zukunftsplänen nach dem aktuellen Studium darstellt. Hakan erzählt dabei von konkreten Erlebnissen, die jedoch immer wieder um argumentative Einlassungen ergänzt werden. In diesen geht es vor allem darum zu erklären, von welchen Schwierigkeiten sein Bildungsweg begleitet (gewesen) sei. In diesem Kontext – als Erschwerung von Bildungschancen – werden
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Die Auswertung erfolgte anhand der biographischen Fallrekonstruktion nach Rosenthal (1995).
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auch seine Eltern eingeführt. Diese hätten kaum Deutsch gesprochen und er selbst daher über Jahre große Probleme mit dieser Sprache gehabt. Auch hätten sie ihn nicht so fördern können, wie seine autochthon deutschen Mitschüler von ihren Eltern unterstützt worden seien. Die belastenden Situationen durch die Gewaltakte des Vaters und der dadurch verursachte Umzug ins Frauenhaus hätten seinen Bildungserfolg zusätzlich erschwert. In Bezug auf die Schule nennt Hakan jedoch nicht nur die Eltern als hinderlich, sondern setzt sich auch mit der Rolle der Lehrkräfte auseinander. Positiv hebt er seine ehemalige Schulleiterin hervor, die ihm in der siebten oder achten Klasse gesagt habe, dass sie durchaus Potenzial in ihm sehe, und ihm vorgeschlagen habe, einen Sitzplatz neben einem autochthonen deutschen Schüler zu wählen. Diesem Platzwechsel schreibt Hakan einen großen Einfluss auf seine Leistungsverbesserungen zu. Schließlich habe er es dann durch einen »Bombenrealschulabschluss« (Z. 191) geschafft, in die gymnasiale Oberstufe zu wechseln. Seinen Biologieleistungskurs dort bezeichnet er mit einem Superlativ als »die schönste Zeit meines Lebens« (Z. 237). Er habe aber auch negative Erfahrungen gemacht. So sei ihm der gewünschte Englischaustausch durch eine Lehrerin mit der Begründung von zu geringen Sprachkenntnissen verwehrt worden. Hakan betont die biographische Bedeutsamkeit: »da werde ich ein Leben lang daran hängen [mm] (2) dass mir das verweigert wurde« (Z. 229 f.) und zieht die Entscheidung im Folgenden in Zweifel. Als »die schlimmste Zeit in meinem Leben« (Z. 238 f.) benennt er den zweiten Leistungskurs, Erdkunde. Dafür gibt er keine inhaltlich-fachliche Begründung, sondern bezieht sich auf die Ebene der Interaktion zwischen ihm und der Lehrkraft, die ihm »das Leben (4) zur Hölle gemacht« (Z. 242 f.) habe. Seine Meldungen im Unterricht habe der Lehrer ignoriert und er habe gleich eine Sechs bekommen, wenn er seine Hausaufgaben einmal vergessen habe, wohingegen die guten Ausführungen nur selten anerkannt worden seien. Er habe sich bemüht, gut mitzumachen, doch es habe nichts geändert. Insgesamt habe sich bei Hakan das Gefühl verfestigt, in den Augen des Lehrers ein »Buh-Schüler« (Z. 248) zu sein, aber »[z]u der Zeit habe ich das (3) nicht verstanden warum, wieso?« (Z. 249 f.). Durch die Formulierung »zu der Zeit« ist ersichtlich, dass es einen Gegensatz, ein ›Später‹ oder ein ›zu heutiger Zeit‹ geben muss, bei dem es anders ist, an dieser Stelle im Interview bleibt es jedoch ungenannt.
F REMDHEITSZUSCHREIBUNGEN
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Hakan externalisiert die Gründe für seine schlechten Noten, wobei ihm dies keine Erleichterung schafft, sondern die Frage nach dem ›Warum?‹ aufwirft, die für ihn belastend und verletzend ist. Und dies von einer solchen Stärke, dass er von »Hölle« und »schlimmste[r] Zeit« spricht, was angesichts der erlebten Gewalttaten durch den Vater verwundert. Dabei geht es, mindestens ebenso sehr wie um die Noten, um die Beziehungsebene und das Gefühl, nicht anerkannt zu werden. Eine weitere zentrale Szene in diesem Kontext ist die der mündlichen Abiturnachprüfung. Für diese habe Hakan sehr viel gelernt und seiner Meinung nach alle Aufgaben gelöst. Außerdem habe sein Biologielehrer nach der Prüfung den Daumen hochgezeigt – doch Hakan habe nur sechs Punkte und damit einen zu wenig erhalten. »Da ist meine Welt zusammengebrochen. [mh] (4) Also das war sogar schlimmer als (.) der Tod meines Vaters, [mm] (.) kann ich so sagen. (4) Ne, jegliches Vertrauen (.) in einen Menschen (.) ist in diesem Augenblick (.) [mh] von Winde verweht. Das (.) ist nicht zu beschreiben [mh] es (.) deine Freunde haben ihren Abitur (.) und du (3) hast deine letzte Chance (.) verspielt. [mm] (2).« (Z 292 ff.)
Hakan schildert dieses Erlebnis äußert intensiv, wobei sich seine starke Betroffenheit auch sprachlich ausdrückt, etwa durch die zahlreichen Pausen, als müsse er immer wieder absetzen, um überhaupt darüber sprechen zu können. Dabei scheint seine Enttäuschung neben dem gescheiterten Abitur der Beziehungssituation mit dem Biologielehrer zu entspringen, die er sogar als ersten Grund des ›Zusammenbruchs‹ anführt. Aufgrund der Enttäuschung durch diesen, den er zuvor so mochte, habe er »jegliches Vertrauen« verloren, indem die Prüfung nicht fair bewertet worden sei und dieser ihm eine positive Rückmeldung gegeben habe, obgleich er hätte wissen müssen, dass Hakan damit durchgefallen war.3 »[…] ich weiß nicht was (3) was diese drei Menschen in diesem Moment gedacht haben [mm] ich würde es mir (3) so sehr wünschen, [mm] (.) ich weiß es immer noch nicht ob ob es die Wahrheit war ob es nicht die Wahrheit war (7) ich (.) es fällt
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Siehe auch den Beitrag von Gereon Wulftange in diesem Band, der sehr ausführlich beschreibt, auf welchen Ebenen Hakan in dieser Situation das Vertrauen verliert.
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mir schwer darüber noch jetzt zu reden [mh] auch in zehn Jahren (.) [mh] weil es einfach zu tief sitzt (.) diese Niederlage das war /klopft mit den Fingern auf den Tisch, etwa 3 Sekunden lang/ ich wurde noch nie so sehr enttäuscht [mm] (.) von (.) Menschen (3).« (326 ff.)
Auf Text- wie auf Inhaltsebene zeigt sich, dass Hakan die Ungewissheit über die »Wahrheit«, also darüber, ob die Beurteilung gerecht verlaufen ist, bis heute schwer belastet. Er ist unsicher, ob er auf die objektive Richtigkeit der Bewertung durch die drei Prüfer vertrauen kann. Vertrauen meint ja genau das, nämlich die sichere Erwartung, dass man sich auf die Handlungen und / oder Aussagen einer Person verlassen kann (vgl. Dudenredaktion 2002: 1000). Erneut wird offenbar, dass es bei der »Niederlage« nicht (nur) um das verpatzte Abitur geht, sondern um erschüttertes Vertrauen und das ungewisse Gefühl der ungerechten Behandlung. Die Szene der Nachprüfung (und ihrer unmittelbaren Folgen) stellt den erzählerischen Höhepunkt in Hakans Lebensgeschichte dar. An keiner Stelle spricht er so emotional bewegt wie an dieser; keinem anderen Erlebnis spricht er eine solch hohe biographische Bedeutsamkeit für seinen Weg zu. Daher, und weil ein »gewaltsame[r] Einbruch« auf der Ebene der Beziehungen und des Vertrauenkönnens sowie ganz praktisch in Hinblick auf die Fortsetzung des Bildungsweges stattgefunden hat, denke ich, dass von einer »krisenartigen Erfahrung« gesprochen werden kann. Ist dadurch auch eine Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses angestoßen worden? Ich würde dies bejahen, jedoch mit der deutlichen Einschränkung, dass diese noch nicht ganz vollzogen ist und es sich daher (bisher) nicht um einen abgeschlossenen Bildungsprozess handelt. Als Zeichen des stattgefundenen Anstoßes werte ich, dass Hakan in der Situation des Interviews eine retrospektive Sichtweise auf die beiden genannten Erfahrungen einnehmen kann. An dieser Stelle ist ein forschungstheoretischer Einschub vonnöten. Wenn man die »Homologiethese« Schützes ablehnt (vgl. zu dieser Diskussion z. B. Bude 1985), muss bei der Interpretation eines narrativen Interviews stets bedacht werden, dass in Interviews die Erfahrungen und Gefühle der Vergangenheit nicht exakt reproduziert werden, sondern vielmehr »die Gegenwart des Erzählens […] den Rückblick auf die Vergangenheit« bestimmt und »eine jeweils spezifische erinnerte Vergangenheit« (Rosenthal
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2010: 198) hervorbringt. Insofern handelt es sich bei dem gesamten Interviewtext um eine Retrospektive. Auch Rosenthal (2010) spricht sich entschieden gegen eine Deckungsgleichheit von Erzählung und Erlebtem aus, durch Narrationen finde jedoch »eine größere Annäherung an den Handlungsablauf in der damaligen Situation« (ebd.: 200) statt, als andere Formen der sprachlichen Darstellung (etwa Argumentationen) dies erlaubten. Auch sei es möglich, dass durch den Erinnerungsvorgang beim Erzählen »Eindrücke, Gefühle, Bilder, sinnliche und leibliche Empfindungen oder bisher zurückgedrängte Komponenten der erinnerten Situationen vorstellig werden, die mit der Gegenwartsperspektive nicht kompatibel sind« (ebd.). Diese theoretischen Annahmen sehe ich im Interview mit Hakan bestätigt. In der Stegreiferzählung spricht Hakan für die Erlebnisse im Unterricht von dem Gefühl der Ungewissheit und des Vertrauensverlustes und der Tatsache, dass er keine Erklärung für das Verhalten der Lehrer gehabt habe – und erzählt die Szene nicht aus der retrospektiven Deutungsweise, die er im Nachfrageteil explizit benennt. Vom Interviewer konkret nach Diskriminierungserfahrungen gefragt, bezeichnet er sowohl die Erfahrungen im Erdkundeleistungskurs als auch in der mündlichen Prüfung als Diskriminierung. Während er in der Erzählung davon spricht, dass er sich damals mit der Frage gequält habe, was der Grund für das Verhalten des Erdkundelehrers gewesen sei, folgt im eher argumentativen Nachfrageteil aus heutiger Sicht die vermeintliche ›Auflösung‹: »H: (2) Ich hatte schon einige Beispiele genannt gehabt äm im Unterricht [mh] Mein afghanischer Freund saß neben mir, links, ein türkischer saß ein weiter, also sprich (.) links neben dem Lehrer, der Lehrer st saß direkt vor mir. [mh] Hier und wir saßen hier /zeigt mit den Händen die ungefähre Position/ Aber der Blick ging immer in diese Richtung, rechts. [okay] (3) Das, das ist die reinste Diskriminierung (.) [okay, du meinst] wenn man das über zwei drei Jahre lang so mit ansehen muss, wie man im Unterricht nicht wahrgenommen wird vom Lehrer. (.) I: Aufgrund des ethnischen Hintergrunds? H: Hundert Prozent [gut okay] hundert Prozent Man wird einfach aufgrund seiner äußerlichen (.) Wahrnehmung, äußerlichen ä [Aussehen] [mh] Aussehens und der des Hintergrunds [mm] (.) so abgestempelt. (.)« (Z. 859 ff.)
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Heute führe er das Handeln des Lehrers auf dessen diskriminierende Haltung zurück. Hakan sei sich sicher, allein wegen seines »Aussehens« und ethnischen Hintergrunds ungerecht behandelt worden zu sein. Denn aufgrund dessen habe der Lehrer ihm bestimmte negative Eigenschaften zugeschrieben (z. B. sei er bei Problemen stets der »Übeltäter« (Z. 874)), deren Unwahrheit er direkt im Anschluss stark herauszustellen bemüht ist: »Und ich ich schwöre Ihnen, ich könnte Ihnen die ganze komplette Klasse herbringen [mm] und die würden bezeugen, was für ein Mensch ich bin. […] Ich habe noch nie mit der Polizei zu tun gehabt (.) ich habe nie ein Eintrag gehabt [mm] nie, nie, noch nie was mit Drogen gehabt. [mh]« (Z. 870 ff.)
Hakan spricht einen Schwur aus, der den Wahrheitsgehalt seiner Aussage bekräftigen soll. Als weiteren Beweis führt er eine große Anzahl an vermeintlichen Zeugen an, nämlich die »ganze« und »komplette Klasse«, wobei die Gesamtaussage durch dieses Hendiadyoin verstärkt wird. Des Weiteren spricht er davon, dass er nie einen ›Eintrag‹ in Polizeiakten gehabt habe, was ebenfalls überprüfbar sei. Hakan bezieht sich mit den Schlagworten »Polizei«, »Eintrag«, »Drogen« auf (mediale) Vorurteile gegenüber einer besonders hohen Kriminalität bei türkischen Jugendlichen und grenzt sich von diesen Vorurteilen ab. Dadurch wird zugleich offensichtlich, dass er sich vom Lehrer mit dem Fremdbild des türkischen Gewalttäters und Drogenabhängigen stigmatisiert sieht. Ebenso sei es ihm schon mit der Polizei ergangen, die in ihm aufgrund seines Äußeren einen mutmaßlichen Einbrecher vermutet habe. Einer Festnahme habe er nur dadurch entgehen können, dass seine Freunde bezeugt hätten, dass er zur Tatzeit mit ihnen zusammen gewesen sei. Diese Beispiele können so betrachtet als »Entantwortungen« im Sinne Terkessidis verstanden werden. Hakan wählt im Nachfrageteil des Interviews die Strategie, diese anzuklagen. Dabei wird er jedoch nicht zum Anwalt eines ›Wir‹ von Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund, sondern verteidigt sich als Einzelperson – ich entspreche nicht den negativen gesellschaftlichen Fremdzuschreibungen. Zum Ankläger wird er auch durch den drastischen Vergleich der Notenverkündung mit der Beurteilungssituation in einem Konzentrationslager:
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»[…] als ich in diesem Raum saß [mh] (.) und mir das Ergebnis von den drei Lehrern anhören musste (2) /schnalzt/ (5) [mh] ich vergleiche es, ich möchte, ich möchte nicht rassistisch klingen (?) [mm] das ist nicht meine Art [mm] also ein gewisses Niveau muss man noch beibehalten, aber ich vergleiche es mal (.) mit einem KZLager [mm] (3) Du sitzt da und wirst beurteilt [mm] (2).« (Z. 310 ff.)
Bei der ›Beurteilung‹ in einem KZ ging es um die Entscheidung über Leben und Tod, wodurch diese objektiv betrachtet eine völlig andere Dimension besitzt.4 Dass Hakan den Vergleich dennoch zieht, verdeutlicht, dass er ausdrücken möchte, dass er die Abiturnachprüfung als existenzielles Urteil empfunden hat, und vor allem, dass er sich ausgeliefert und ohnmächtig gegenüber mächtigeren Personen gefühlt hat, die ihn nach Kriterien bewerteten, die nicht objektiv nachprüfbar sind. Er habe zwar alle Fragen beantwortet, doch die Lehrer hätten diese »als qualitativ (.) nicht so gut« (Z. 322) beurteilt, wogegen er nicht angekommen sei. Der Vergleich bringt aber nicht nur seine Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit zum Ausdruck, die an den kleinen Jungen gegenüber dem unberechenbaren Vater erinnert. Im Gegenteil stellt gerade dieser Vergleich mit dem nationalsozialistischen Terrorsystem im Rahmen eines Interviews für ein deutsches Forschungsprojekt eine starke (öffentliche) Anklage dar. Es steckt darin der Vorwurf der Ungerechtigkeit und Verurteilung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Dabei wählt Hakan einen subtilen Weg, er sagt an dieser Stelle nicht explizit, dass die Lehrer in der Situation rassistisch oder diskriminierend gehandelt hätten, sondern wählt das KZ-Bild, dessen moralische Implikation für autochthone Deutsche aber evident ist. Ganz klar äußert Hakan sich hierzu wiederum, als er nach Diskriminierungserfahrungen gefragt wird: »H: Ja, d das beste Beispiel, meine Schulzeit. [mh] (2) Drei Lehrer sitzen in einem Raum, ich brauch sieben Punkte und sie geben mir sechs. [mh] I: äm Also du meinst, ä das lag daran, dass du H: /entschieden:/ Ich meine nicht, ich weiß es.« (Z. 836 ff.)
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Das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein entschied 2006, dass der »Vergleich von Verhältnissen in einem Betrieb mit einem Konzentrationslager […] eine fristlose Kündigung« (n-tv 2006) rechtfertige (Az.: 6 Sa 72/06), was die Brisanz solch einer Aussage aufzeigt.
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Möglicherweise stellte das Prüfungserlebnis für Hakan die »Urszene« der »Entfremdung« dar, die ihn heute auch die Erfahrungen im Erdkundeleistungskurs anders betrachten lässt. Auf der Ebene der ›erlebten Lebensgeschichte‹ wird deutlich, dass Hakan durch das für ihn unerklärliche Verhalten der Lehrer derart ›sprachlos‹ war, dass er nicht ›antworten‹ konnte. Durch die nachträgliche Deutung der Lehrerverhaltensweisen als Diskriminierung bekommt Hakan eine Erklärung für die als missachtend und ungerecht empfundene Behandlung, kann diese anklagen und infolgedessen eventuell verarbeiten. Diese ›Aufdeckung‹ (ob sie nun tatsächlich zutrifft oder nicht) erlaubt somit eine Aktivität (Anklage statt Handlungsunfähigkeit). Es handelt sich also um die von Koller (2012a) beschriebene neue Deutung von Problemen, durch die die Person diesen besser als bisher gerecht werden kann (vgl. ebd.: 16). In diesem Wandel von der Ohnmacht zur Anklage sehe ich einen begonnenen Bildungsprozess. Dass dieser aber noch nicht abgeschlossen ist, zeigt sich zum einen daran, dass Hakan, obgleich er dieses Verhalten mittlerweile als »hundertprozentige« Diskriminierung benennt, in eine starke Verteidigungshaltung gerät (ich bin nicht so!) und nicht souveräner mit den (abgelehnten) Fremdheitszuschreibungen umgehen kann. Zum anderen wird es durch seine Haltung gegenüber seinen Freunden und seiner eigenen Zugehörigkeitskonstruktion deutlich, die ich im Folgenden auffächern werde. Die ›kategorisierten‹ Freunde und die eigene Zugehörigkeitskonstruktion Bevor ich auf die ›Kategorisierung‹ der Freunde eingehe, möchte ich die Relevanz aufzeigen, die diesen im Interview zukommt. Bereits in der siebten Zeile taucht das Wort »Freunde« zum ersten Mal auf und somit werden diese sogar vor Hakans Eltern und Schwester eingeführt. Im Folgenden berichtet Hakan, wie ihn seine Freunde beim Lernen unterstützt oder ihm bei negativen Schulerfahrungen beigestanden hätten, so auch bei der gescheiterten Abiturprüfung. Als er nach dieser zuhause »einige Stunden geweint« (Z. 299 f.) habe, habe zunächst die Mutter versucht, ihn aufzubauen, doch »der Schmerz [sei] einfach noch zu groß« (Z. 304) gewesen.
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»Aber es kamen zwei Freunde zu mir gerannt, nach Hause und haben mich getröstet ich…[mh] Freunde, Freunde das ist das größte was es auf dieser Welt gibt. [mh] (.) Nicht nur in guten, sondern auch im schlechten Tagen /unterstreicht die Worte mit einem Klopfen mit den Fingern auf den Tisch/. Es hat mich einfach aufgebaut [mm].« (Z. 305 ff.)
Inhaltlich wird ausgesagt, dass zwei Freunde zu Hakan kamen und ihn trösteten, was ihn aufgebaut habe; textuell gibt es einige Auffälligkeiten. Die Freunde seien »gerannt«, was betont, dass sie sich sehr beeilt hätten, um ihm beizustehen, was wiederum die enge Verbindung zwischen ihnen unterstreicht. Durch die folgende Emphase, den betonten zweimaligen Ausruf des Wortes »Freunde«, werden die mit ihnen verbundenen positiven Gefühle nachdrücklich hervorgehoben. Bemerkenswert sind auch die beiden entlehnten und leicht abgewandelten Zitate. Im Lied »Ein Freund, ein guter Freund« wird deren Zueinanderstehen, »auch wenn die ganze Welt zusammenfällt« besungen. Die Formulierung »in guten wie in schlechten Tagen« wird für gewöhnlich bei Eheschließungen verwendet, um die enge, dauerhafte und bedingungslose Liebe der Brautleute zu betonen, und hebt so noch einmal die enge Verbindung Hakans zu seinen Freunden hervor. Zugleich handelt es sich um ein Versprechen, das im ursprünglichen Verständnis nur durch den Tod beendet wird. Durch das Klopfen auf den Tisch werden die Worte zusätzlich verstärkt. Auch scheint es, dass die Freunde ihn besser trösten konnten, als es seine Mutter vermochte. Während Hakan ihre Worte nicht habe aufnehmen können, da der Schmerz zu groß gewesen sei, hätten seine Freunde ihn »einfach aufgebaut«. Anhand dieser kleinen Sequenz lässt sich die Bedeutsamkeit der Freunde für Hakan aufzeigen, die durch weitere Stellen im Interview untermauert wird. Die Freunde sind es auch, die die ganze Erzählung über präsent sind und die Konstante zu liefern scheinen, die die Eltern nicht bieten konnten. (Ähnlich verhält es sich sonst nur noch mit der Schwester, doch sind die Stellen, an denen er von ihr spricht, nicht in dieser Weise positiv emotional aufgeladen.) Allerdings gibt es eine Besonderheit im Verhältnis von Hakan zu seinen Freunden, die er sogleich auf die Aufforderung des Interviewers im Nachfrageteil (»erzähl ein bisschen über deine Freunde« (Z. 423)) ausführt:
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»Ja, natürlich (.) ich habe (4) also ich grenze (3) Freunde aus [mh] (3) Freunde (.) ich habe Freunde in verschiedenen Kategorien [mh].« (Z. 424 f.)
Hakan beschreibt, dass er seine Freunde intendiert in unterschiedliche Kategorien einteile. Zu Schulzeiten habe es die »Alltagsfreunde« (Z. 432) und die »Schulfreunde« (Z. 426) gegeben, zwischen denen er einen starken Gegensatz konstruiert. Die so genannten »Alltagsfreunde« hätten einen türkischen Migrationshintergrund und er habe sich viel privat mit ihnen getroffen, bei den »Schulfreunden« hingegen handele es sich um autochthone Deutsche, die er überwiegend nur in dieser Institution gesehen habe. Heute habe sich die Kategorie der Schulfreunde durch die (deutschen) Kommilitonen erweitert, mit denen er sehr viel Zeit an der Universität verbringe. Im Folgenden spricht er aber meist in dichotomer Weise von den türkischen auf der einen und den deutschen Freunden auf der anderen Seite. In den Sozialwissenschaften (vgl. z. B. Breuer 2010) wird unter Kategorisierung verstanden, dass unterschiedliche Entitäten über die Charakterisierung von gemeinsamen Eigenschaften in Gruppen geordnet werden. Dabei differieren die unterschiedlichen Kategorien (mindestens) in einem entscheidenden Punkt. Hakan tut genau dies, wobei er als Differenzmerkmal die nationale Zugehörigkeit im Sinne des ius sanguinis, also des ›Abstammungsprinzips‹, heranzieht. Es gibt die Kategorien »deutsch« und »türkisch«. Die Entitäten in den jeweiligen Kategorien teilen sich neben der Zugehörigkeit auch bestimmte Eigenschaften, wie Hakan in stark vereinfachender und stereotypisierender Weise aufschlüsselt. Die deutschen Mitschüler hätten Bücher gelesen und ihre Hausaufgaben gemacht – halt »Sachen […], die ein Deutscher eher tut« (Z. 484 f.), wohingegen die türkischen »nie gelesen« (Z. 489) und die Hausaufgaben stets abgeschrieben hätten. Die deutschen besäßen »Mühe« und »Fleiß« (Z. 491), die türkischen wollten sich »das Leben einfach einfach machen« (Z. 493). Hakan führt dies zurück auf: »diese (3) andere Art und Weise Temperament [mh] (.) traditionell (.) es kommt alles mit da rein, (2) es sind verschiedene Verhaltensweisen [mm] dieser Freunde« (Z. 565 ff.). Und so seien die deutschen Freunde erfolgreich, die türkischen hingegen zum größten Teil »arbeitslos, [mh] sind (2) äm perspektivs-los« (Z. 550). Auch sei der Kontakt zu letzteren »gefährlich« (Z. 570), da in ihnen die potenzielle Bedrohung schlummere, durch sie »in Probleme verwickelt« (Z. 556 f.) zu werden.
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Hakan verwendet Stereotype, die stark vereinfachend und verengend sind. Er schreibt jeweils der gesamten Gruppe Eigenschaften und Verhaltensweisen zu, wobei jene, die Hakan für die Deutschen anführt, allgemeinhin positiver wahrgenommen werden. Durch die Darstellung von Vorurteilen und Klischees gegenüber Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, die er zudem noch ihrem Temperament, also vermeintlich gruppenspezifischen Wesensarten zuschreibt, und die Zuordnung von gesellschaftlich als wertvoller betrachteten Eigenschaften der deutschen Gruppe gegenüber, reproduziert Hakan vorherrschende Fremdbilder. Es selbst vollzieht somit Akte der »Entantwortung« und »Entgleichung«, wie sie bei Terkessidis beschrieben sind. Die vermeintliche Erfolgslosigkeit der türkischen Freunde scheint Hakan ihnen selbst zuzuschreiben, da sie faul seien und die Relevanz der Schulbildung nicht sehen würden. Auf sich bezogen hingegen führt er mehrfach an, dass er aufgrund der Umstände im Zusammenhang mit dem Migrationshintergrund (Eltern sprechen kein Deutsch, wenig ökonomisches Kapital, …) Nachteile gehabt habe, und stellt gegenüber, dass seine deutschen Schulfreunde es leichter gehabt hätten, da sie von ihren Eltern »vom Feinsten gefördert« (Z. 46) worden seien. In Bezug auf seine türkischen Freunde bringt er dergleichen Argumente jedoch nicht an. Er blendet den sozialen Hintergrund und die ungleichen Bildungschancen im Kontext von Migration komplett aus und übernimmt dadurch Vorurteile, wie sie oftmals in medialen Darstellungen und Alltagsdiskursen über die türkischen Jugendlichen zu finden sind, und manifestiert somit Ungleichheiten. Interessant ist seine Selbstpositionierung in Hinblick auf die eigene Zugehörigkeit: »Ich bin (.) ich bin halb deutsch [aha] aber wenn ich mit den alltäglichen Freunden bin, bin ich der Türke. (.) [mh] Also sei es von es klingt doof sei es von Schimpfwörtern [mh] bis zu meiner türkischen Blutader [mm] (3) bis zum (2) Döner essen von drei Stück hintereinander [mm] also (.) so (.) bin ich mit meinen Kommilitonen, mit meinen deutschen Freunden zusammen, bin ich der Brillenträger, der (3) Literaturkenner und [mh] (.) was weiß ich was, aber (.) ja, die beiden Seiten muss ich strikt trennen.« (Z. 525 ff.)
Hakan definiert sich als »halb deutsch«, doch wenn er mit den türkischen Freunden zusammen sei, sei er (ganz) »der Türke«. Als verbindend mit der
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türkischen Seite nennt er »Schimpfwörter«, womit er sich auf eine geteilte Sprache, gemeinsame Bedeutungszuschreibungen und geteilte Abgrenzungen (von den Beschimpften) bezieht. Durch das Döneressen rekurriert er auf gemeinsame Nahrungsvorlieben. Auffällig und irritierend ist der Ausdruck der »türkischen Blutader«. Vor dem Hintergrund bundesdeutscher Vergangenheit ist die Verwendung eines solchen Begriffes eher unüblich, da er an völkische Ideologien denken lässt. Der konkrete Begriff »Blutader« ist im Deutschen ein medizinischer Ausdruck und bezeichnet eine Vene, die das Blut zum Herzen führt. Es handelt sich dabei nicht um die Übersetzung eines türkischen Wortes, denn dort hat »kan damarõ« (kan = Blut, damar = Ader) dieselbe Bedeutung. In beiden Sprachen würde man eher davon sprechen, dass in den ›Adern dasselbe Blut‹ fließe, was Hakan zu einem Wort verschmolzen hat. In dieser Metaphorik verstanden, hebt Hakan die gemeinsame Abstammung im Sinne des ius sanguinis deutlich hervor. Zudem kann die Ader als ein verbindendes Band zwischen ihm und seinen türkischen Freunden interpretiert werden.5 Hakan scheint die Grundlagen seiner doppelten Zugehörigkeit unterschiedlich herzuleiten. Türke sei er qua Geburt durch seine türkischen Eltern und das geteilte Blut. Zudem habe er gewisse Verhaltensweisen, Vorlieben und Abgrenzungen mit dieser Gruppe gemeinsam. Den deutschen Teil hingegen trage er nicht von Beginn an in sich, sondern habe ihn im Laufe der (schulischen) Sozialisation erlernt und bemühe sich selbst darum, diesen noch stärker anzunehmen. Dadurch kommt es, dass er ganz Türke sein könne, in Bezug auf seinen deutschen Freundeskreis hingegen anführt, dass er ihnen »ebenbürtig« (Z. 900) werden wolle. Dabei handelt es sich um einen Begriff, den es näher zu ergründen lohnt. ›Ebenbürtigkeit‹ bezeichnet ursprünglich eine Standesgleichheit der Geburt nach. Im modernen Sprachgebrauch bedeutet der Ausdruck, »mit vergleichbaren oder gleichen Fähigkeiten, Gaben ausgestattet« (Dudenredaktion 2002: 285) zu sein; als Synonym wird das Adjektiv ›gleichwertig‹ verwendet. Als Hakan zu Schulzeiten so erfolgreich habe werden wollen wie sein deutscher Sitznachbar, habe er gedacht: »wenn ich dasselbe tue wie er, [mh] kann ich auch so werden wie er […] aber (.) ich wurde nie wie er.« (Z. 1055 ff.) Ha-
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Mein Dank geht an Elvin Subow, mit der ich aufgrund ihrer muttersprachlichen Türkischkenntnisse über diesen Ausdruck diskutieren konnte und die mir wertvolle Hinweise gegeben hat.
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kan definiert sich den Deutschen als nicht qua Geburt zugehörig oder ›standesgleich‹, wolle diesen aber nun immerhin ›gleichwertig‹ werden. Indem er es als ein Ziel formuliert, macht er die Unabgeschlossenheit des Prozesses deutlich. Noch betrachtet er die deutschen Freunde als höherwertig und empfindet sich als ›unter ihnen stehend‹. Dabei entstammen seine Konzepte nicht dem luftleerem Raum. Das ius sanguinis, auf das er zurückgreift, wurde bis zur Neufassung des Gesetzes im Jahr 2000 als Entscheidungskriterium für die Vergabe der deutschen Staatsangehörigkeit verwendet und dominiert auch heute noch (vor allem im gesellschaftlichen Selbstverständnis). Und im Sinne der oben beschriebenen ›Etablierten-Außenseiter-Figuration‹ (Elias / Scotson 1965) wird Personen mit Migrationshintergrund eine ›gleichwertige‹ Teilhabe in unterschiedlichsten Bereichen häufig nicht zugestanden. Fremdheitszuschreibungen verdeutlichen ihnen immer wieder, dass sie ›anders‹ und eben nicht ›ebenbürtig‹ seien. Hakan hat diese Konzepte unreflektiert übernommen, kann sie nicht kritisieren, sondern versucht ›mitzuspielen‹, um dadurch vermeintlich erfolgreich werden zu können. So beschreibt Hakan, dass es Phasen gegeben habe, in denen er sich von den türkischsprachigen Mitschülern zurückgezogen und stattdessen stärkeren Kontakt mit den deutschen gepflegt habe: »Hey, habe ich gesagt, es geht um meine Zukunft! [mm] (2) Ich muss da was dafür tun (.) um erfolgreich zu sein [mh] das geht nicht (.) dass ich einfach so vor mich hin lebe.« (Z. 502 ff.) Der Sinn des ›Deutschwerdens‹ wäre somit, dadurch auch schulisch und beruflich erfolgreich zu werden. Andersherum kann gedeutet werden, dass der Wunsch erfolgreich zu sein, dem Zwecke dient, ›ebenbürtig‹ und damit (stärker) zugehörig zu werden, wobei sich diese Sichtweisen nicht ausschließen, sondern einen Zirkel darstellen. Aufgrund seiner kategorisierenden Sichtweise infolge alltäglicher Fremdheitserfahrungen scheint es für Hakan nicht denkbar, dass er als (ganzer) Türke Erfolg haben und auch der deutschen Seite zugehörig sein kann. So resümiert er: »[…] ich kann beide Seiten nicht vermischen, das geht nicht. [mh] (.) Das passt auch nicht zusammen. […] die beiden Seiten muss ich strikt trennen, [mh] das, denke ich, mache ich auch sehr gut. [mh]« (Z. 523 ff.)6
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Und dies, obgleich die aufgebaute Dichotomie im Interview mehrfach Risse bekommt. Auf die Frage, was er mit seinen türkischen und seinen deutschen
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Die ausgeführte Haltung zu seinen kategorisierten Freunden macht deutlich, dass kein abgeschlossener Bildungsprozess vorliegt. Hakan nimmt selbst »Entantwortungen« und »Entgleichungen« vor, indem er negativ konnotierte Fremdheitszuschreibungen den türkischen Freunden gegenüber reproduziert, ohne dies zu reflektieren. Und dies über offensichtliche Widersprüche hinweg. So pauschalisiert er etwa, dass seine Freunde mit türkischem Migrationshintergrund sehr wenig erfolgreich seien, spricht dann aber von einem solchen, der sein Fachabitur abgelegt habe, nun Zivildienst leiste und darauf BWL studieren wolle – »hat so ein ähnlichen Lebenslauf, wie ich« (Z. 553). Er stellt also selbst die Übereinstimmungen fest, was ihn jedoch nicht von seinem dichotomen Gesamtkonzept abbringt, stattdessen klassifiziert er diesen Freund als einen der besseren unter den Alltagsfreunden. Zugleich nimmt Hakan eine Abgrenzung zu anderen Migranten vor í und eine distinguierte Haltung ein. Er sei zwar ein ›ganzer Türke‹, aber er präsentiert sich auch als eine Art ›Ausnahme‹, da er einen erfolgreichen Weg gehen wolle und im Gegensatz zu den türkischen Freunden eben auch der »Brillenträger« und »Literaturkenner« sei. Dennoch empfindet er sich den Deutschen gegenüber nicht als »ebenbürtig«. Besonders hervorstechend ist der Gedanke, beide Seiten »strikt trennen« zu müssen und in einem Moment immer nur entweder der Türke oder der Deutsche sein zu können. Diese als unüberwindbar empfundene Spaltung der Zugehörigkeit scheint den weiteren Vollzug des angestoßenen Transformationsprozesses zu verhindern. Wenn es Hakan jedoch – ausgehend von den retrospektiv möglichen Diskriminierungsvorwürfen – gelingt, auch die eigenen reproduzierten Fremdheitszuschreibungen zu reflektieren und soziale und gesellschaftliche Bedingungen in seine Betrachtungen einzubeziehen, könnte es zu einer Transformation der Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses kommen und infolgedessen auch zur Möglichkeit einer produktiven
Freunde mache, gibt er an: »Auf jeden Fall nicht dieselben Sachen. [aha] (3) Teilweise.« (Z. 535) Durch das nachgesetzte »Teilweise« deutet sich bereits eine Brüchigkeit an, auf genauere Nachfragen lenkt Hakan ein, dass die Dinge gar nicht so verschieden seien, z. B. würde er mit beiden Freundeskreisen Poker spielen oder mal etwas trinken gehen. Diese geteilte Schnittmenge in den Unterpunkten widerspricht sowohl der Dichotomie als auch der Kategorisierung, was er jedoch nicht reflektiert.
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Vereinigung der Zugehörigkeiten, was neue Potenziale eröffnen würde. Natürlich liegt das Gelingen nicht nur in seiner eigenen Verantwortung, sondern wird auch durch Hakans Möglichkeitsraum im Kontext von Adoleszenz und Migration mitbestimmt.
S CHLUSSBETRACHTUNG Anhand der Fallrekonstruktion des Interviews mit Hakan Salman konnte gezeigt werden, dass eine Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses angestoßen worden ist, auch wenn die bisherige Unabgeschlossenheit deutlich zutage tritt. Anhand der Betrachtung von Text- und Inhaltsebene ließen sich »krisenartige Erfahrungen« festmachen, die zum Anlass für Bildungsprozesse werden können. Im Zusammenhang mit Fremdheitszuschreibungen halte ich Terkessidis’ »Akte der Bewusstmachung von Fremdheit« für ein geeignetes Konzept, um diese Erfahrungen näher zu bestimmen. Der Ansatz der Fremdheitszuschreibungen, der davon ausgeht, dass Fremdheit eine Konstruktion von außen darstellt, die wiederum auf das Selbstbild wirkt, hat das besondere Potenzial, beide Seiten des Welt- und Selbstverhältnisses sowie deren Wechselwirkungen in den Fokus zu rücken. So wurde deutlich, dass Hakans Beschreibungen und Wertungen der Türken und der Deutschen in Zusammenhang mit gesellschaftlichen und medialen Bildern und Diskursen zu sehen sind, die wiederum Einfluss nehmen auf individuelle und psychische Dimensionen. Mein Resümee ist, dass die Betrachtung von Fremdheitszuschreibungen im Rahmen erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung für die Bildungstheorie sehr fruchtbar ist, da diese zu mannigfachen Problemsituationen und somit Anlässen für Transformationen des Welt- und Selbstverhältnis führen können, deren Untersuchung zu einer Weiterentwicklung von Theorien über Bildung beitragen können. Allerdings bin ich auch auf Grenzen gestoßen. So konnte zwar aufgezeigt werden, dass bei Hakan eine Wandlung angestoßen wurde und bereits Veränderungen geschehen sind, es kann aber nicht konkret festgemacht werden, wie seine neue Deutung der Situationen hervorgebracht worden ist. Auch Koller (2012a) hat bei seinen Interviewauswertungen erlebt, dass der Prozess an sich »(also die Frage, wie sich die Veränderung vollzog) im Dunkeln blieb« (ebd.: 169). Daher drängt sich die Frage auf, ob sich der
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Prozess bei Hakan nicht erfassen lässt, da es sich um eine unabgeschlossene Transformation handelt, oder ob in Betracht gezogen werden muss, dass das direkte Wie schlicht nicht erzählbar ist.
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»… desto eingedeutschter wurde ich.« Eine rassismuskritische Perspektive auf (Hakan Salmans) Bildung A NKE W ISCHMANN
E INLEITUNG Im Folgenden geht es um die Lebensgeschichte Hakan Salmans und um die Frage, ob man hier auch von einer Bildungsgeschichte sprechen kann. In der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung wird Bildung nicht reduziert auf den formalen Bildungsverlauf, sondern es wird allgemeiner verwiesen auf »Transformationen grundlegender Figuren von Weltund Selbstverhältnissen« (Marotzki 1990; Kokemohr 2007; Koller 2012). Damit ist das Subjekt in allen in seiner Biographie als relevant erlebten (und erzählten) Lebensbereichen und Kontexten betroffen. So wird auch immer die Frage nach den sozialen und diskursiven Bedingungen von Bildung angesprochen oder anders gesagt: Bildung ohne Weltbezug gibt es nicht. Nichtsdestotrotz wird der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung í wie der Bildungstheorie im Allgemeinen – unterstellt, dass sie bisweilen die Welt aus dem Blick verliert und sich zu sehr auf das Selbst konzentriert. Dieser Vorwurf ergibt sich aus der Annahme eines autonomen, der Welt gegenüber abgeschlossenen Subjekts, das sich diese aneignet – auch wenn dies nicht ohne Widerstände möglich ist – und als Entität (oder auch Essenz) existiert. Dieses Subjektverständnis korrespondiert mit hegemonialen Diskursen sowohl der quantitativ-empirischen Bildungsforschung als auch der (neo-)liberalen Bildungspolitik. Wenn man je-
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doch davon ausgeht, dass das Subjekt nicht nur immer schon in Weltbezügen existiert, sondern durch sie gleichsam hervorgebracht wird, nämlich durch soziale (Bourdieu 1999) und diskursive (Foucault 2012; Butler 2001) Praxen, dann erscheint mir dieser Vorwurf so nicht haltbar zu sein (vgl. auch Koller in diesem Band). Vielmehr würde ich sagen, dass die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung genötigt ist, ihren Subjektbegriff zu explizieren und die damit verbundene Relation Welt í Selbst immer wieder kritisch zu thematisieren. Sonst kann es tatsächlich passieren, dass sie sich zu sehr auf ein vermeintliches Individuum fokussiert, weil essentialistische Begrifflichkeiten vorausgesetzt und reproduziert werden. Diesem Anspruch gerecht zu werden, bedarf jedoch einiger Anstrengungen, denn in der Einladung zu der diesem Band vorausgegangenen Tagung wurde zu Recht die Frage gestellt, wie forschungsstrategisch soziale Strukturen und diskursive Praxen berücksichtigt werden können. Hierzu möchte ich in diesem Beitrag einen Vorstoß wagen, indem ich eine strukturalistische und eine poststrukturalistische Perspektive auf den Fall Hakan Salman verbinde. Ich folge hiermit neueren Überlegungen der rassismuskritischen erziehungswissenschaftlichen Forschung im englischsprachigen Raum (vgl. Ladson-Billings / Tate 1995; Gillborn / LadsonBillings 2004; Taylor et al. 2009; Youdell 2006; Chadderton 2012). Konkret geht es um eine Verbindung der Critical Race Theory (CRT) (Zamudio 2011) und den Arbeiten Judith Butlers zur Subjektivation und zur Performativität (Butler 1997, 2001, 2006; vgl. hierzu auch die Beiträge von Koller und Rose in diesem Band). Eine rassismuskritische Perspektive drängte sich während der Analyse der Fallgeschichte auf. Sie scheint mir allerdings im Hinblick auf die Rekonstruktion von Bildungsprozessen bzw. deren Verhinderung nicht hinreichend komplex zu sein, weil sie selbst dazu neigt, die Subjektposition im oben kritisierten Sinn festzustellen, sodass die butlersche Perspektive – die in das Feld der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung bereits Einzug gehalten hat (vgl. Koller 2012; Rose 2012) – eine angemessene Ergänzung zu sein scheint. Darüber hinaus erlaubt die CRT eine kritische Reflexion der Bildungstheorie, die möglicherweise ein Instrumentarium zur Verfügung stellt, das einem subsumtionslogischen Vorgehen in der empirischen Forschung vorbeugen oder es zumindest erschweren könnte. Damit ist der zweite Punkt angesprochen, nach dem in der Einladung gefragt worden ist – und ebenso der dritte: die Frage nach den normativen Implikationen der bildungstheoretisch orientierten
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Biographieforschung. Denn sie muss selbst kritisch im Hinblick auf ihre eigene rassistische Tradition befragt und dann ggf. modifiziert werden, insbesondere wenn es sich – wie im vorliegenden Fall – um ein aus einer rassistisch diskriminierten Position sprechendes Subjekt handelt, dessen Fall von lauter ›weißen‹ Wissenschaftler_innen verhandelt wird. Zuerst sollen die Ansätze der CRT und der Ansatz Butlers zur Subjektivation und Performativität und ihre bildungstheoretischen Implikationen vorgestellt werden. Im nächsten Schritt, in der Analyse ausgewählter Sequenzen des Falls, möchte ich einerseits verdeutlichen, warum diese Herangehensweise gewählt wurde und was eine in dieser Weise geprägte Sichtweise auf das Interview hervorbringt. Sodann soll der Frage nachgegangen werden, ob man im Fall Hakan Salmans von Bildung sprechen kann und unter welchen Bedingungen diese Frage gestellt und beantwortet wird. Dies führt dann zu den normativen Implikationen, die in der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung im Hinblick auf den Fall wirksam werden. Daraus ergeben sich grundsätzliche Herausforderungen für Bildungstheorie und Forschung, die zum Schluss diskutiert werden sollen.
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International haben Studien gezeigt, dass »Rasse« einen relevanten Aspekt schulischer Benachteiligung darstellt (vgl. Foster 2008; Gillborn / LadsonBillings 2004; Gomolla / Radtke 2007). In Deutschland wird der Begriff allerdings aufgrund historischer Dispositionen eher vermieden (vgl. Rommelspacher 2011; Messerschmidt 2011) und durch andere Konzepte ersetzt, wie Ethnizität, Kultur oder Migrationshintergrund. Erst seit Mitte der 1990er Jahre wird der Begriff »Rasse« und mit ihm Rassismus wissenschaftlich diskutiert (vgl. Kalpaka / Raethzel 1994) und bis heute bleibt eine breite Diskussion sowohl in den Sozialwissenschaften als auch in der Öffentlichkeit weitgehend aus (z. B. Broden / Mecheril 2010). Die Arbeiten, die zu dem Thema inzwischen erschienen sind (z. B. Rose 2012; Melter / Mecheril 2011; Eggers 2009; Hund 2006; Terkessidis 2004), machen jedoch sehr deutlich, wie wichtig eine solche Perspektive ist, um der Wirksamkeit rassistischer Diskurse in der deutschen Gesellschaft und eben auch im Bildungssystem nachzugehen sowie die Relevanz für subjektive Bil-
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dungsprozesse sichtbar werden zu lassen. Theoretisch verweisen die aufgeführten Arbeiten vor allem auf die Cultural Studies (bspw. Hall 2004) und postkoloniale Ansätze (vgl. zsf. Castro Varela / Dhawan 2005) sowie auf intersektionale Perspektiven (vgl. Klinger / Knapp 2005). Die Critical Race Theory wird bisher eher selten explizit zitiert, obwohl sich ihre Prämissen auch in der deutschsprachigen Diskussion wiederfinden. Critical Race Theory CRT geht davon aus, dass Rassismus grundsätzlich ein zentraler Aspekt sozialer Zusammenhänge ist, der strukturelle und diskursive Interaktionen aller Art formt. Es handelt sich somit also um eine Prämisse, die immer unterstellt wird, ohne dass sie in jedem Fall zunächst (empirisch) nachgewiesen werden muss1 (vgl. Taylor et al. 2009). Rassismus führt nicht nur dazu, dass soziale Minderheiten benachteiligt werden, sondern auf der anderen Seite ebenso zur Privilegierung der ›weißen‹ Mehrheit. Diese Effekte sind so sehr etabliert, dass sie í zumindest von den durch sie Privilegierten í gar nicht mehr wahrgenommen werden. Deshalb sind sie auch nicht mithilfe quantitativ festzulegender Items messbar. Rassismus wirkt subtil und wird oft verschleiert durch andere gesellschaftliche Ordnungsstrukturen und ist nur in den seltensten Fällen bewusster Bestandteil von Interaktionen und Handlungen (etwa bei rechtsextremistischen Gewalttaten). CRT beschränkt sich jedoch nicht auf die Analyse rassistischer Strukturen und diskursiver Praxen, sondern verschreibt sich immer auch dem politischen Handeln, also einer Gesellschaftskritik, die sie insbesondere auf vermeintlich neutrale (neo-)liberale Politiken richtet und die verschleierten Rassismus aufzudecken sucht (vgl. Chadderton 2012: 5). In Amerika und Großbritannien hat sich die CRT mittlerweile in den Erziehungswissenschaften etabliert (vgl. Gillborn / Ladson-Billings 2004), wobei sie vor allem im Bereich ethnografischer Schulforschung (z. B. Chadderton 2012; Youdell 2006) zum Einsatz kommt sowie zur Analyse von Bildungsinstitutionen (Parker 1998). Es wurde jedoch auch Kritik geäußert, die sich insbesondere auf die Tendenz der Essentialisierung und Festschreibung rassistischer Identitäten und Subjektpositionen bezieht (vgl. Chadderton 2012). Eine
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Auch wenn es sicherlich genügend Studien gibt, die hier herangezogen werden können.
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Reifizierung rassistischer Zuschreibungsmodi würde eine Dekonstruktion im Anschluss an die geäußerte Kritik gerade verhindern (vgl. ebd.). Und auch aus bildungstheoretischer Sicht kann eine Festschreibung mit einer Feststellung subjektiver Bildungspotenziale einhergehen, die die Erarbeitung neuer Perspektiven gerade nicht erlauben würde. Deshalb erscheint eine Ergänzung der CRT, die eine strukturalistische Herangehensweise darstellt, mit einer poststrukturalistischen Perspektive als sinnvoll und vielversprechend. Denn hier werden Identitäten und Subjektpositionen nicht als essenziell verstanden, sondern vielmehr als relational, komplex und veränderlich – wenn auch nicht in beliebiger Weise und vollständig. Prozesse der Subjektivation als performatives Geschehen nach Judith Butler Eine poststrukturalistische Perspektive ist kein Gegensatz struktureller Ansätze, sondern vielmehr eine Erweiterung, die der Komplexität subjektiver und sozialer Verhältnisse in ihrer Offenheit und Unabgeschlossenheit gerecht zu werden versucht. Vertreter_innen der CRT werfen poststrukturalistischen Autor_innen bisweilen einen gefährlichen Relativismus vor, der den Widerstand marginalisierter Gruppen und Individuen unterminiere (z. B. Giroux 1997). Hier lässt sich auf die Unterscheidung zwischen theoretischem und strategischem Essenzialismus hinweisen. So bietet letztere Perspektive die Möglichkeit, der Komplexität von Welt-Selbstverhältnissen gerecht zu werden und gleichzeitig rassistische Strukturen und Raster (frames, Butler 2010) in der Analyse zu berücksichtigen. In der Tat geht es Judith Butler genau darum, das Verhältnis von Subjekt und den das Subjekt hervorbringenden Strukturen zu untersuchen und zu theoretisieren (vgl. Butler 2001). Damit das Subjekt zum Subjekt werden kann, muss es sich bestehenden Strukturen unterwerfen. In paradoxer Weise ermöglicht eben diese Unterwerfung es dem Subjekt, sich performativ gegen eben jene Strukturen zu wenden (vgl. Butler 2006) – es wird gleichsam durch sie ermächtigt und damit handlungsfähig (vgl. ebd.; vgl. auch Koller und Rose in diesem Band). Damit das Subjekt jedoch zum Subjekt werden und damit handlungsfähig bzw. -mächtig sein kann, muss es als Subjekt anerkannt werden (vgl. Butler 2006). Es muss anerkennbar (recognizable) sein und die Bedingungen dafür sind nicht für alle Menschen gleichermaßen gegeben (vgl. Butler 2010). So fragt Butler etwa danach, was
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ein Leben als ein schützenswertes ausmacht: Warum trauern wir nicht um alle Menschen in gleicher Weise? (vgl. ebd.: 9 ff.). Sie bezieht sich in ihren Ausführungen auf die Raster des Krieges und die Bedingungen, unter denen das Töten von Menschen legitimiert werden kann. Es lässt sich jedoch im Anschluss an Butler auch fragen, wieso Menschen generell unterschiedlich behandelt und (auch in der Schule und in Bezug auf sich vollziehende oder verhinderte Bildungsprozesse) bewertet werden. Hier werden ebenso spezifische Raster oder Strukturen in Diskursen performativ wirksam. Und es stellt sich dann die Frage, unter welchen Bedingungen ein Mensch zum Subjekt wird und überhaupt erst widerständig handeln bzw. sprechen kann. Oder anders gefragt: Ist jeder Mensch in der Lage resignifizierend (im Sinne der Performativität) zu sprechen bzw. wann kann dieses Sprechen als solches wahrgenommen werden? Bedarf es hier erst diskursiver Voraussetzungen, die wiederum transformative Bildungsprozesse (wie Koller sie im Anschluss an Butler beschreibt) ermöglichen? Und was geschieht davor? Wenn wir also von einem Subjekt ausgehen können, dann bietet Butler – und hier schließe ich mich Hans-Christoph Koller und Nadine Rose an – einen hilfreichen Ansatz. Doch ich meine darüber hinaus, dass insbesondere ihre neueren Arbeiten (Raster des Krieges und Gefährdetes Leben) auch hilfreich sind zur Analyse von Bildungsprozessen unter Bedingungen eklatanter – etwa rassistischer – Diskriminierung, aber möglicherweise nicht im Sinne der »Transformation bestehender Figuren [subjektiver, AW] Weltund Selbstverhältnisse«.
H AKAN S ALMAN Das Interview mit Hakan Salman soll nun vor dem Hintergrund der formulierten theoretisch-heuristischen Vorannahmen gelesen werden. Aufgrund des begrenzten Umfangs des Artikels wird es nicht möglich sein, das Dokument in Gänze zu analysieren. Deshalb werde ich mich auf einige zentrale Aspekte konzentrieren, die in der Rekonstruktion2 auffällig waren, indem sie die Fallstrukturhypothese, die wiederum aus der Analyse des gesamten
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Die Analyse des Interviews wurde mithilfe des Verfahrens der Sequenzanalyse im Anschluss an Oevermann (vgl. Soeffner 2000) durchgeführt.
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Dokuments hervorging, entweder in besonders eindrücklicher Weise stützen oder dieser gerade widersprechen, und diese anhand ausgewählter Zitate veranschaulichen. Im Sinne der CRT wurde davon ausgegangen, dass erstens soziale Strukturen in Deutschland im Allgemeinen und im Bildungssystem im Besonderen rassistisch sind und dass zweitens Hakan Salman in diskriminierender Weise von ihnen betroffen ist und als Subjekt hervorgebracht bzw. in seiner Subjektivität eingeschränkt (entsubjektiviert) wird. Die Fallstrukturhypothese lässt sich vor diesem Hintergrund folgendermaßen formulieren: Hakan Salman verfolgt eine Anpassungsstrategie an das deutsche Gesellschafts- und Bildungssystem, indem er die vermeintlich meritokratischen Anforderungen anerkennt und sich ihnen unterwirft. Hierzu übernimmt er rassistische Figuren und Argumentationsmuster, die in Dichotomien münden (deutschítürkisch, GeborgenheitíGefahr, FleißíFaulheit), die in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen immer wieder mobilisiert werden. Allerdings ist diese Strategie einerseits mit immensen, auch psychosozialen Kosten verbunden und wird paradoxerweise gerade durch diese Diskurse gleichzeitig angegriffen (Meritokratie, bildungsbürgerlicher Habitus, Disziplin) bzw. durch Vertreter_innen (Agenten) dieser Diskurse, nämlich Lehrer_innen und Polizisten. Hakan Salman unterwirft sich also einerseits dem hegemonialen (rassistischen) Diskurs und kann in ihm auch bisweilen eine gewisse Handlungsfähigkeit erlangen. Andererseits verweigert dieser ihm die Anerkennung und damit – teil- und zeitweise – den Subjektstatus. Diese beiden paradoxen Praxen und das sich daraus ergebende ambivalente Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft, die ich beide als Reproduktion rassistischer Diskurse und Strukturen verstehe, sollen nun anhand des Interviews herausgearbeitet werden. Anschließend wird der Frage nachgegangen, ob und wie in diesem Fall von Bildung die Rede sein kann. Hakan Salmans Lebensgeschichte kann im Hinblick auf den erzählten formalen Bildungsverlauf insgesamt als eine Erfolgsgeschichte gelesen werden í und dies trotz widriger Bedingungen. Diese widrigen Bedingungen sind nicht nur sich überkreuzende Aspekte sozialer Benachteiligung (vgl. Klinger / Knapp 2005), sondern außerdem eine schwierige familiäre Situation, die mit der sozialen Lage interagiert und die psychosoziale Entwicklung in Kindheit und Adoleszenz in spezifischer Weise beeinflusst (vgl.
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King 2002; Wischmann 2010). Hakan Salman sei in einer großen deutschen Stadt geboren, in der er bis zum Interviewzeitpunkt lebe. Seine Eltern seien aus der Türkei eingewandert. Dieser Umstand, so Hakan, gehe gleichsam natürlich damit einher, dass er Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache gehabt und nur wenig Unterstützung für schulischen Erfolg erhalten habe. Erschwerend sei hinzugekommen, dass der Vater gegenüber der Mutter (und den Kindern) gewalttätig gewesen sei, sodass die Mutter sich in ein Frauenhaus habe flüchten müssen, in dem die Familie dann einige Zeit gelebt habe. In diese Zeit sei die Einschulung Hakans gefallen. Damit entsprach die damalige Lebenssituation überhaupt nicht einer als ›normal‹ angenommen familiären Situation. Dies habe auch die Wohnsituation betroffen, da die beengten Lebensverhältnisse ein »richtiges Lernen« kaum zugelassen hätten. Zum »richtigen Lernen« hätte es eines ruhigen Arbeitsortes bedurft, an den man sich zurückziehen kann. So bezeichnet Hakan Salman seinen Schuleintritt als das Ereignis, mit dem sein größtes Problem angefangen habe. »So (.) äm irgendwann (.)– sprich mit (.) sechs, (.) sechs / sieben das war (.) zweiundneunzig glaube ich, kam ich in die erste Klasse, (.) und (.) ja, da fing (.) mein größtes Problem an. [mh] (.) Mein Problem bestand darin, (.) äm (2) den Schulstoff (.) sich selber aneignen [mh] ich (.) habe (.) ziemlich schwierige (.) Probleme gehabt, in der Schulzeit (.) äm sei es in der deutschen Sprache [mh] das war mein größtes Handicap, Mathe, Politik jeglicher Unterrichtstoff ä alleine anzueignen […]« (Transkript des Interviews in diesem Band: Zeile 15í21)
Anhand der Chronologie der erlebten Lebensgeschichte (vgl. Rosenthal 1995) lässt sich interpretieren, dass Hakan sich bereits zuvor mit schwerwiegenden Problemen konfrontiert gesehen hat, nämlich der Gewalttätigkeit des Vaters, dem Zerbrechen der Familie und seiner eigenen Ohnmacht innerhalb dieses Geschehens. Dennoch markiert er in seiner Rede den Schuleintritt als den Auslöser seines größten Problems und dieses habe darin bestanden, dass er den Erwartungen, die an ihn gestellt worden sind, nicht gerecht habe werden können. Das Problem war die Schwierigkeit der Aneignung des Schulstoffs in allen Fächern. Das Erlernen der deutschen Sprache (im Fach Deutsch) ist nur ein (Aneignungs-)Problem unter vielen. Das Problem wird somit nicht auf den Migrantenstatus bezogen, sondern könnte auch über andere Diskurse erläutert bzw. begründet werden, deren
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rassistische Struktur nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist, wie z. B. den Begabungsdiskurs oder auch sozio-ökonomische Benachteiligungen. Tatsächlich verweist Hakan dann im Anschluss auf die mangelnde Förderung zuhause, insbesondere durch seine Mutter, die kein Deutsch spreche. Deswegen habe er »natürlich« (z. B. Z. 24) nicht zu seinen Eltern (der Vater war abwesend, weil die Familie zum Zeitpunkt der Einschulung im Frauenhaus lebte) gehen können, um Hilfe zu erbitten. Bereits hier wird die Ambivalenz des Welt-Selbstentwurfs Hakans deutlich: Er verweist auf Mechanismen der Benachteiligung allochthoner Schüler_innen durch das ihnen grundsätzlich unterstellte Sprachdefizit. Gleichzeitig relativiert er diese Rede, indem er das Sprachproblem als eines unter vielen klassifiziert. Doch in der Rede über die mangelnde Förderung durch die Mutter – aufgrund fehlender Deutschkenntnisse ihrerseits – werden machtvolle Diskurse über die Gründe für das schlechte Abschneiden von Schülern mit Migrationshintergrund in Deutschland aufgerufen. Unabhängig davon, ob es sich hier nun ›wirklich‹ so verhalten hat, wird deutlich, dass Hakan Salman unter den Bedingungen, unter denen er eingeschult wurde und dann zur Schule gegangen ist, gar nicht erfolgreich hat sein können. Egal, wie sehr er sich anstrengt, er muss scheitern. Darauf verweist auch die folgende Aussage, in der konstatiert wird, dass Hausaufgaben immer falsch gewesen seien: »(.) In den in dem Moment als ich in der Klasse war zur Korrektur natürlicher, natürlicherweise war es falsch [mh] (.) aufgrund keiner Förderung (.)« (Z. 62í64)
Ähnliche Argumentationen finden sich auch später, wenn Hakan über seinen Erdkundelehrer berichtet. Selbst wenn er einmal Aufgaben richtig bearbeitet habe, habe er hierfür – so seine Wahrnehmung í kaum Anerkennung erhalten. Mit Bourdieu (1999) lässt sich auf eine habituelle Differenz verweisen, die hier strukturell benachteiligend wirkt. In Hakans Fall ist sein Habitus dem Habitus der Schule in mehrfacher Weise fremd bzw. wird fremd gemacht: Die Wohn- und Lebenssituation entspricht nicht dem bürgerlichen Ideal der Kleinfamilie, in der »richtiges Lernen« ermöglicht wird, und die Zweisprachigkeit Hakans widerspricht dem monolingualen Habitus (vgl. Gogolin 1994) der Schule. Doch damit erschöpft sich die Wirkmächtigkeit der Ausschließungsdynamik rassistischer Diskurse und Praxen noch nicht. Dies wird zu einem späteren Zeitpunkt in Hakan Salmans Lebensgeschichte deutlich, nämlich in Auseinandersetzung mit dem Erdkundelehrer:
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»Auf der anderen Seite (.) Erdkunde. [mh] Erdkunde (5) war die schlimmste Zeit in meinem Leben [mh] in meiner Schulzeit. Ich hatte ein Lehrer, der ist jetzt gerade (.) sechsundsechzig-siebenundsechzig [mh], also geht auf die siebzig zu, das ist Herr Oelkers gewesen. [mh] (4) Der Mensch (2) Ich möchte ihn nicht urteilen, ich mag es auch nicht hinter (.) anderen Menschen herzufallen, aber er hat mir das Leben (4) zur Hölle gemacht [mh] (2) Äm (3) wie gut ich auch war, wie sehr ich auch meine Hausaufgaben gemacht habe, wie deutlich ich mich gemeldet habe, hatte dieser Mensch seine Lieblingsschüler [mh] (.) ich saß vor seiner Nase, genau einen Meter (.) [mh] vor ihm und seine Blicke gingen immer in dieselbe Richtung,(.) [mh] weit gewandt von (3) von einigen Schülern, [mh] die er in Anführungsstriche als BuhSchüler (.) [mh, okay] bezeichnet und seine Lieblingsschüler ansieht.« (Z. 238í249)
Sprache wird in diesem Zusammenhang nicht als Indikator für Benachteiligung aufgerufen. Auch wird explizit nicht die Herkunft der »Buh-Schüler« als Begründung angeführt. Vielmehr wird im Anschluss konstatiert, dass der Erzähler sich zu jenem Zeitpunkt der Gründe nicht bewusst gewesen sei. Es wird vielmehr indirekt an unterschiedlichen Stellen im Interview í zunächst implizit und dann im Nachfrageteil auch explizit3 í darauf verwiesen, dass dem Lehrer rassistische Motive unterstellt werden. Letztendlich führt dieser Rassismus zu einem dramatischen Ende der Schulzeit, durch die Hakan sich zuvor wider alle Erwartungen und Wahrheiten der hegemonialen Diskurse erfolgreich (»Bombenrealschulabschluss«, Z. 191) bewegt hatte: Er scheitert am Abitur, nämlich an einer mündlichen Nachprüfung, an der eben jener Erdkundelehrer beteiligt war. In dieser Szene wird die Ohnmachtserfahrung explizit, die hier im Sinne einer Entsubjektivierung verstanden werden kann, da sie Hakan jegliche Möglichkeit der Handlung in der Situation unmöglich erscheinen lässt: »Äm (4) aber als ich in diesem Raum saß [mh] (.) und mir das Ergebnis von den drei Lehrern anhören musste (2) /schnalzt/ (5) [mh] ich vergleiche es, ich möchte, ich möchte nicht rassistisch klingen (?) [mm] das ist nicht meine Art [mm] also ein gewisses Niveau muss man noch beibehalten, aber ich vergleiche es mal (.) mit einem KZ-Lager [mh] (3) Du sitzt da und wirst beurteilt.« (Z. 311í315)
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Die Explikation wird möglich, weil durch das Nachfragen durch einen allochthonen Interviewer ein diskursiver Raum eröffnet wird, in dem es möglich wird über Rassismus zu sprechen.
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Er, Hakan, sei nicht so niveaulos wie jene Lehrer, die ihn rassistisch behandelt haben, analog zur Situation in deutschen Konzentrationslagern während des Nationalsozialismus. Hier wird auch die Schwierigkeit deutlich, in Deutschland über Rassismus zu sprechen, geschweige denn, jemanden dessen zu bezichtigen. Denn auch dies erscheint niveaulos. Dennoch wagt Hakan hier diesen Schritt, um seine Ohnmacht dem Interviewer gegenüber zu unterstreichen. Man ist nicht länger ein Subjekt, das urteilt, sondern vielmehr beurteiltes Objekt. An dieser Stelle möchte ich die Strategie Hakan Salmans im Kontext rassistischer Diskurse und Praxen in der Schule reflektieren. Die ausgewählten Sequenzen aus dem Interview lassen sich in der Weise rekonstruieren, dass Hakan unter den ihn diskriminierenden Strukturen und Diskursen in der Schule leidet und dies auch – zumindest retrospektiv – reflektiert. Interessant ist nun, wie er damit umgeht. Er wählt nicht den Weg der offenen Opposition oder gar Rebellion (wenngleich er die Situation bei der Zeugnisvergabe nutzt, um den Erdkundelehrer öffentlich zu beschämen, vgl. Z. 352 ff.), sondern unterwirft sich eben diesen Strukturen, erkennt die hier wirksamen Prämissen der (den Rassismus verschleiernden) Meritokratie an und versucht sie für sich optimal zu nutzen. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass der Erzähler sich jenen »deutschen« Schülern annähert und versucht von dieser Nähe zu profitieren. »Äm (4) Ich hatte immer mehr Kontakt zu deutschsprachigen [mh] (.) Mitschülern, also habe auch mehr mit den unternommen, habe mehr, je mehr ich mit den gemacht habe, desto (4) desto eingedeutschter wurde ich [aha, okay]. (.) Es klingt komisch äm (3) desto mehr bin ich, habe ich Sachen getan, die ein Deutscher eher tut. (.) [mh] Ich, ich kann mal ein Beispiel geben. (6) Na ja, wie soll ich sagen? Bücher lesen [mm] (.) oder (3) die Hausaufgaben zusammen machen. [mh] (3) Auf der anderen Seite meine türkischsprachigen Mitschüler damals (.) einer hat seine Hausaufgaben gemacht (.) und der zweite hat sie ab- abgeschrieben. [mh] (4) Oder im Gegensatz dazu Bücher [mh] wurden nie gelesen.« (Z. 482í490)
Diese Strategie war ihm zuvor von einer Lehrerin nahe gelegt worden, die ihm empfohlen hatte, sich doch einmal woanders hinzusetzen, nämlich nicht mehr neben die anderen »türkischen« Schüler, sondern eben neben jene, die dem Ideal des (deutschen) fleißigen und erfolgreichen Schülers entsprechen. Diese Strategie erweist sich zunächst als überaus erfolgreich
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und Hakan spricht von einer großen Dankbarkeit gegenüber den Schülern, die ihm damals so sehr geholfen hätten. Nicht nur indem sie mit ihm gelernt hätten, sondern indem er sich ihnen gleichsam habituell annähern konnte, etwa durch die Übernahme der Praxis des Bücherlesens. An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass diese Annäherung einhergeht mit einer Abgrenzung von der »anderen Seite«, nämlich den »türkischen« Schülern bzw. Jugendlichen im Allgemeinen, und somit einer diskursiven Festschreibung der Dichotomie deutschítürkisch. Diese überträgt er dann auch auf den Bereich der Freundschaften, indem er betont, wie wohl er sich mit den deutschen Freunden fühlt (Z. 540 ff.) und dass er die türkischen als »gefährlich« (Z. 570 ff.) wahrnimmt. Und diese Dichotomie taucht nun wiederum in der Rede über die Eltern auf. Der Vater habe bis zu seinem Tod eine Gefahr dargestellt, die plötzlich (wieder) aus der Türkei zurückgekehrt sei und in das gerade wieder stabilisierte familiäre Umfeld einbrach. Vonseiten der deutschen Gesellschaft hingegen habe die Familie sehr viel Unterstützung erfahren, so hat etwa das Frauenhaus Mutter und Kindern Schutz und Geborgenheit geboten. »Sie war natürlich im Krankenhaus und wurde sehr gut unterstützt von ä Seiten Deutschlands, [mh] sag ich mal (.) sprich (.) für allein stehende Mutter die geschlagen wurden, [mh] wurde (.) kam eine Frau an, die meiner Mutter sehr geholfen hat, hat sie gleich ins Frauenhaus gebracht, [mh] hat ihr Gesetze (.) erklärt [mm] die Gedie Gesetze, die Rechte beigebracht, die sie hat, [mh] die sie aber nicht nutzt, [ja] weil sie es nicht weiß [mh] (2) Ne?« (Z. 638í643)
Nur leider, so wird hier ebenfalls deutlich, habe die Mutter die ihr gebotenen Möglichkeiten nicht optimal nutzen können, »weil sie es nicht weiß« bzw. weil sie es nicht verstehe. Diesen Fehler, so scheint es, versucht Hakan Salman nun zu vermeiden, indem er sich anpasst und sich die hegemonialen Vorstellungen von einem »guten Leben« zu eigen macht. Dies umfasst einerseits ein ehrgeiziges Streben nach (materiellem) Erfolg. So möchte er bspw. ein großes Auto besitzen. Und andererseits hat er die Idee, Gutes tun und anderen helfen zu wollen. Der Weg, den Hakan beruflich eingeschlagen hat, lässt ihn diese Ideale gut miteinander vereinbaren. Es macht den Eindruck, als habe sich seine Strategie der Anpassung bisher ›ausgezahlt‹. Aber dennoch bleibt die Bedrohung durch das Andere der Dichotomie bestehen, die er in seiner Rede auf die »türkischen« Freunde« proji-
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ziert. Dadurch, dass diese die meritokratischen Notwendigkeiten nicht anerkennen und übernehmen würden, müssten sie scheitern. Diese Bedrohung muss abgewehrt werden. Und genau diese Argumentation findet sich auch in Diskursen um kulturelle Differenz und die Angst vor dem Fremden bspw. der Islamisierung wieder (vgl. Sarrazin 2012; Attia 2011). Vor dem Hintergrund der CRT wird im Fall Hakan Salmans eindrücklich deutlich, wie rassistische Diskurse das diskriminierte Subjekt hervorbringen, seine Biographie gleichsam strukturieren, und dies in unterschiedlichen Lebensbereichen, die aufeinander bezogen werden. Dies führt dazu, dass dem Subjekt nur bestimmte Handlungsoptionen zur Verfügung stehen. (Wie restriktiv sich dies vollzieht wird durchaus unterschiedlich diskutiert, vgl. hierzu Fanon 1980; Bhabha et al. 2000). Wie genau dann jedoch gehandelt wird, ist nicht determiniert, und so kann Hakan für sich einen Weg erarbeiten, der ihn handlungsfähig sein lässt. Zweierlei muss jedoch angemerkt werden, denn zum einen werden die hegemonialen Diskurse nicht hinterfragt, sondern eben individuell nutzbar gemacht, und zum anderen erfordert diese Strategie enorme psychosoziale Kosten aufgrund der Abspaltung des unpassenden anderen – des Türkischen, des Gefährlichen, das aber nicht etwa etwas ganz anderes ist, sondern eigentlich ganz nah, nämlich ein Teil der Familie und des Freundeskreises im vertrauten Stadtteil. Im folgenden Abschnitt soll im Anschluss an die Analyse des Falls der Frage nachgegangen werden, ob und inwiefern hier von Bildung im Sinne einer Transformation bestehender Figuren von Welt- und Selbstverhältnissen die Rede sein kann.
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IM K ONTEXT RASSISTISCHER DISKURSIVER P RAXEN Können wir im Fall Hakan Salmans von Bildung sprechen? Die Annahme der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung ist, dass sich in Lebensverläufen Situationen ergeben, die Bildungsprozesse herausfordern können und damit die Art und Weise, wie das Subjekt sich erzählend in Bezug auf sich selbst und die Welt entwirft, grundlegend transformiert. Findet hier also eine solche Transformation statt? Im Anschluss an die Ergebnisse der Fallrekonstruktion lässt sich sagen, dass Hakan Salman als impliziter Erzähler seiner Lebensgeschichte einen
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Prozess durchlaufen hat, in dem er sich in spezifischer Art und Weise subjektiviert, sich nämlich einerseits unterwirft – und zwar explizit, indem er sich »eindeutscht«, wie er sagt í und andererseits probiert, gerade dadurch das rassistische (Schul-)System für sich zu nutzen. Gegen offenen Rassismus kann Hakan sich wehren, nicht aber gegen die subtil wirksamen rassistischen Mechanismen. Im Hinblick auf sein Durchfallen bei der Abiturprüfung klagt er es auch an, indem er seine Situation mit KZ-Häftlingen vergleicht und somit seine Ohnmacht in der Situation unterstreicht. Die Kritik bleibt jedoch auf die spezifische Situation beschränkt und auf die Person des Erdkundelehrers. Grundsätzlich werden die Wirkungsweisen nicht hinterfragt, sondern anerkannt und sich zu eigen gemacht. Hakans Strategie soll ihn in die Situation des handlungsfähigen Subjekts erheben, das er sich zu sein wünscht und das er als Kind, das dem gewalttätigen Vater ausgesetzt war, gerade nicht sein konnte. Erneute Ohnmachtserfahrungen lassen ihn zornig werden, aber er versucht nicht, die Mechanismen und Handlungen in ihrer Ungerechtigkeit und entsubjektivierenden Wirkung zu hinterfragen, sondern versucht sich selbst vielmehr als jemanden darzustellen, der nicht zu denen gehört, die es zu diskriminieren gilt. Und dass es die gibt, das wird in Hakans Äußerungen über die türkischen Mitschüler und Freunde deutlich; nicht weil sie verachtenswert sind, sondern weil sie sich die hegemonialen Prämissen der Meritokratie eben nicht zu eigen machen. In gewisser Weise lässt sich ein transformatives Geschehen vom ohnmächtigen Kind zum handlungsfähigen und (bildungs-)erfolgreichen jungen Erwachsenen rekonstruieren. Doch kann dieses transformative Geschehen im Sinne der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung als Transformation bestehender Figuren von Welt- und Selbstverhältnissen als Bildung gelten? Im Anschluss an die Ausführungen Kollers (2012) wird dies zumindest schwierig, weil es sich bei dem oben rekonstruierten Prozess um ein langwieriges und von vielen Kontinuitäten und Stabilisierungsprozessen durchzogenes Geschehen handelt. Und in diesem Prozess lässt sich das Subjekt nicht feststellen, sodass bestimmbar wäre, dass das Welt-Selbstverhältnis zu einem Zeitpunkt x eine bestimmte Struktur gehabt hat, die dann durch einen eindeutig zu identifizierenden Auslöser oder Anlass (Koller 2012) infrage gestellt und dann verändert wird. Dies lässt sich anhand der Sequenz, in der Hakan auf das KZ rekurriert (Z. 311í315) verdeutlichen. Hier sieht er sich mit einer rassistischen Degradierung
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konfrontiert, die ihn auch zum Interviewzeitpunkt noch empört und die er als schlimmstes Ereignis seines Lebens bezeichnet. Dennoch lässt sich nicht feststellen, dass Hakans Welt-Selbstverhältnis sich grundlegend verändert. Er verfolgt weiterhin dieselbe Strategie, die sich freilich bisher als sehr erfolgreich erwiesen hat. Was sie nicht ermöglicht, ist, die rassistischen Diskurse zu verändern. Doch die Frage ist, ob dies aus seiner Position heraus überhaupt möglich sein könnte. Was hier geschieht, ist etwas anderes. So subtil, wie Rassismen wirken, so subtil gelingt es Hakan, sich mit ihnen zu arrangieren – wenn auch mit hohem Aufwand. Er entwirft sich erzählend in einem Balanceakt, in der oben beschriebenen paradoxen Struktur, die sich aus seiner Sicht nicht verändern lässt. Dies kann als immense subjektive Leistung verstanden werden, aber schwerlich als transformativer Bildungsprozess, denn die eigentliche Arbeit der Subjektivation ist nicht die Transformation, sondern die Stabilisierung und damit die Kontinuität des Welt-Selbstverhältnisses in rassistischen Strukturen und Diskursen. Die Rahmen (vgl. Butler 2010) bleiben bestehen und auch schwer aus der Position Hakans heraus zu kritisieren – ohne auf ein unerträgliches Niveau abzusinken, wie er selbst sagt, denn dies sind die für Hakan wahrnehmbaren Optionen, die der alltagssprachliche Diskurs über Rassismus ihm zur Verfügung stellt: Es ist nicht nur niveaulos, rassistisch zu sprechen und zu handeln, sondern auch, dies jemandem vorzuwerfen. Es ergibt sich hier also die Schwierigkeit, Hakans Lebensgeschichte als Bildungsgeschichte zu lesen, wenn man den Annahmen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung folgt. Das Problem hängt m. E. mit dem Transformationsbegriff zusammen und der damit verbundenen Annahme, Transformationsprozesse in ihrem Verlauf auf textueller Ebene fassbar machen zu wollen (vgl. Kokemohr in diesem Band). Kokemohr bezweifelt, dass sich subjektive, sprachliche Bildungsprozesse auf ein logisches Geschehen reduzieren lassen. Des Weiteren ist zu fragen, ob die Annahmen zum Transformationsgeschehen nicht auch zu wenig in der Lage sind, soziale Heterogenität aufzunehmen und ihr gerecht zu werden. Im Falle Hakan Salmans meine ich damit seine statistisch benachteiligte Position als junger Mann mit türkischem Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem, die diskursiv (im Sinne der CRT und Butlers Rahmungen) permanent reifiziert und damit stabilisiert wird. Das Problem ergibt sich daraus, dass die Bildungstheorie und im Anschluss daran die bildungstheore-
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tisch orientierte Biographieforschung, die selbst in einer bestimmten europäischen, weißen, männlichen, christlichen und bürgerlichen Tradition steht, ihre Möglichkeiten und Grenzen bestimmt (vgl. z. B. Münte-Goussar et al. 2009). Es wird eine bestimmte Subjektposition implizit unterstellt und das ist eine privilegierte und keinesfalls eine marginalisierte. Außerdem reproduziert sich wiederum implizit diese Annahme in der jeweils forschenden (europäischen, weißen, männlichen usw.) Perspektive und lässt Bildung als Bildung erscheinen oder eben nicht. Damit wird deutlich, dass ob man von Bildung spricht oder nicht, immer auch an der Forscher_innenperspektive hängt und nicht nur an den theoretischen Vorannahmen, wenngleich beides sicherlich immer zusammenhängt. Hier bieten sowohl Butler als auch die CRT einen Rahmen, der es zukünftig ermöglichen kann, eben diese Mechanismen in den Blick zu nehmen und etwa die Implikationen bestimmter Begriffe zu dekonstruieren – wie etwa den Transformationsbegriff. Gleichzeitig muss eine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung, die sich dieser Schwierigkeiten bewusst ist, immer auch die eigene Position kritisch hinterfragen (vgl. Bourdieu / Wacquant 2006) und ihre Ergebnisse zur Disposition stellen.
L ITERATUR Attia, Iman (2011): Diskurse des Orientalismus und antimuslimischen Rassismus in Deutschland. In: Claus Melter / Paul Mecheril, S. 146–162. Bhabha, Homi K. / Schiffmann, Michael / Freudl, Jürgen / Bronfen, Elisabeth (2000): Die Verortung der Kultur (= Stauffenburg discussion, Band 5). Tübingen: Stauffenburg-Verlag. Bourdieu, Pierre (1999): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernuft. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag. Ders. / Wacquant, Loïc J. D. (2006): Reflexive Anthropologie. 1. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1793). Broden, Anne / Mecheril, Paul (Hg.) (2010): Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft. Bielefeld: transcript.
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Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Unter Mitarbeit von Karin Wördemann. 1. Aufl. (= Gender studies, 1737 = N.F., 737). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dies. (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. 1. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dies. (2006): Haß spricht. Zur Politik des Performativen. 1. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dies. (2010): Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt a. M., New York: Campus-Verlag. Castro Varela, María do Mar / Dhawan, Nikita (2005): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript. Chadderton, Charlotte (2012): Towards a research framework for race in education: critical race theory and Judith Butler. In: International Journal of Qualitative Studies in Education, S. 1–17. Dies. (2012): Problematising the role of the white researcher in social justice research. In: Ethnography and Education 7 (3), S. 363í380. Eggers, Maureen Maisha (Hg.) (2009): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. 2. Aufl. Münster: UnrastVerlag. Fanon, Frantz (1980): Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt a. M.: Syndikat. Foster, Douglas A. (2008): Transcending racism. Understanding and resisting white privilege. Audio-CD (ca. 59 min.). Foucault, Michel (2012): Die Ordnung des Diskurses. 12. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer. Gillborn, David / Ladson-Billings, Gloria (Hg.) (2004): The Routledge Falmer reader in multicultural education. London, New York: Routledge Falmer. Giroux, H. A. (1997): Postmodernism and the Discourse of Educational Criticism. In: Stanley Aronowitz / Henry A. Giroux (Hg.): Postmodern education. Politics, culture, and social criticism. [Repr.] Minneapolis: Univ. of Minnesota Press, S. 57–86. Gogolin, Ingrid (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster u.a: Waxmann. Gomolla, Mechthild / Radtke, Frank-Olaf (2007): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
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Parker, Laurence (1998): »Race is race ain't«: An exploration of the utility of critical race theory in qualitative research in education. In: International Journal of Qualitative Studies in Education 11 (1), S. 43–55. Rommelspacher, Birgit (2011): Was ist eigentlich Rassismus? In: Claus Melter / Paul Mecheril, S. 25–38. Rose, Nadine (2012): Migration als Bildungsherausforderung. Subjektivierung und Diskriminierung im Spiegel von Migrationsbiographien. 1. Aufl. Bielefeld: transcript. Rosenthal, Gabriele (1995): Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt a. M.: Campus. Sarrazin, Thilo (2012): Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. 1. Aufl. München: Dt. Verlags-Anstalt. Soeffner, Hans-Georg (2000): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. In: Uwe Flick / Ernst von Kardorff / Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek: Rowohlt. Taylor, Ed / Gillborn, David / Ladson-Billings, Gloria (2009): Foundations of critical race theory in education. New York: Routledge. Terkessidis, Mark (2004): Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive. Bielefeld: transcript. Wischmann, Anke (2010): Adoleszenz, Bildung, Anerkennung. Adoleszente Bildungsprozesse im Kontext sozialer Benachteiligung. 1. Aufl. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. Youdell, Deborah (2006): Subjectivation and performative politics í Butler thinking Althusser and Foucault: intelligibility, agency and the racednationed-religioned subjects of education. In: British Journal of Sociology of Education 27 (4), S. 511–528. Zamudio, Margaret M. (2011): Critical race theory matters. Education and ideology. New York: Routledge.
Autorinnen und Autoren
Felden, Heide von, Prof. Dr., Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Erwachsenenbildung an der Johannes-GutenbergUniversität Mainz. Arbeitsschwerpunkte: Biographieforschung, qualitativempirische und historische Bildungsforschung, Übergangsforschung, Genderforschung, Lernen über die Lebenszeit. Fuchs, Thorsten, Dr. phil, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeitsschwerpunkte: Theorien zum Bildungs-, Erziehungs- und Sozialisationsprozess, Methodologie und Forschungspraxis Qualitativer Biographie- und Bildungsforschung, Pädagogische Jugendforschung. Kokemohr, Rainer, Dr. phil., Prof. em. an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg, Chair Professor an der National Chengchi University Taipei / Taiwan, Gastprofessur in Hangzhou / VR China. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte und Theorie der Bildung, Interaktionsanalyse schulischer Lehr-Lern-Prozesse, erziehungswissenschaftliche Biographieforschung, langjährige interkulturelle Kooperation in Entwicklung und Aufbau eines lokalen Schul- und Universitätszentrums in Kamerun, Afrika. Koller, Hans-Christoph, Prof. Dr., Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Bildungstheorie und qualitative Bildungsforschung, bes. erziehungswissenschaftliche Biographieforschung.
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Müller, Hans-Rüdiger, Prof. Dr., Professor für Allgemeine Pädagogik am Fachbereich Erziehungs-und Kulturwissenschaften der Universität Osnabrück. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Erziehung und Bildung, Pädagogische Anthropologie, Pädagogische Ästhesiologie / Ästhetische Bildung, Generationenverhältnisse / Familienerziehung, Qualitative Erziehungs- und Bildungsforschung. Nohl, Arnd-Michael, Prof. Dr., Professor für Erziehungswissenschaft, insbesondere systematische Pädagogik, an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg. Allgemeine, interkulturelle und vergleichende Erziehungswissenschaft, Methodologie rekonstruktiver Sozialforschung. Rose, Nadine, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin in der allgemeinen Erziehungswissenschaft an der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Diskurs- und Gesellschaftstheorie, Bildungs- und Migrationsforschung, Subjektivations- und Bildungsprozesse, Methoden qualitativer Sozialforschung. Rosenberg, Florian von, Prof. Dr., Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt. Arbeitsschwerpunkte: historische, empirische und systematische Perspektiven der Bildungs- und Erziehungstheorie sowie der Schul- und Professionsforschung. Wigger, Lothar, Prof. Dr., Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Berufspädagogik der Technischen Universität Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Bildung und Erziehung, bildungstheoretische und biographische Jugendforschung, Argumentations- und Diskursanalyse. Wischmann, Anke, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Bildungswissenschaft der Leuphana-Universität Lüneburg. Arbeitsschwerpunkte: gesellschaftliche Bedingungen von Bildung, Lernen und Entwicklung in formellen und informellen Kontexten, Perspektiven einer Kritischen Erziehungswissenschaft, Methoden qualitativ-rekonstruktiver Sozialforschung, Konzepte kommunaler Bildung.
A UTORINNEN
UND
A UTOREN
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Wulftange, Gereon, Dipl. Päd., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Allgemeine, Interkulturelle und International Vergleichende Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Bildungstheorie, empirische Bildungsforschung, Psychoanalyse, Interkulturalität. Zölch, Janina, Dipl. Päd., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Kindheits- und Jugendforschung der Universität Flensburg. Arbeitsschwerpunkte: Adoleszenz junger Männer und Frauen, Migrationsforschung, Bildung und soziale Ungleichheit sowie qualitative Forschungsmethoden.
Anhang
I NTERVIEW
MIT
H AKAN S ALMAN 1
INTERVIEWER: JAVIER A. CARNICER
Daten zum Interview Datum und Zeit: 6. März 2008, ab 16:00 Uhr Ort: ein Café in der Gegend, wo Hakan wohnt, in einer deutschen Stadt Dauer: 2 Stunden, 4 Minuten Alter: 22 Jahre Geburtsort: deutsche Stadt Studium: Medizintechnik
Eltern Vater: geboren 1933 in der Türkei, Einreise nach Deutschland 1960, Bildungsweg: vermutlich kein oder nur sehr kurzer Schulbesuch, da er nicht schreiben könne; Arbeiter in einer Fabrik. Mutter: geboren ca. 1942 in der Türkei, Einreise nach Deutschland etwa 1980/1981, Beruf: ausgebildete Schneidermeisterin, als solche arbeite sie auch in Deutschland, zusätzlich arbeite sie in der Reinigung. Geschwister Eine Schwester, geboren 1981, abgeschlossenes BWL-Studium, aktuell verheiratet, arbeite in einem großen Unternehmen. Zustandekommen Über Prof. Dr. Renate Hoffmann bin ich mit Frau Yilmaz, Türkischlehrerin einer Gesamtschule, in Kontakt getreten, die mir die Telefonnummern von einigen ehemaligen Schülern vermittelt hat.
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Der Name wurde í wie alle anderen Eigen- und Ortsnamen im Interview í verändert.
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Mit Hakan Kontakt aufzunehmen erschien zunächst aussichtslos. Die Festnetztelefonnummer, die Frau Yilmaz uns geschickt hatte, entpuppte sich als die Nummer seines Schwagers. Nach mehreren Versuchen ging dieser ran; im Hintergrund hörte man Kinder. Er notierte sich meine Telefonnummer und versprach, sie an Hakan weiterzugeben und dass er sich melden würde. Mit nur zwei Sätzen erklärte ich ihm mein Anliegen. Entgegen meiner Erwartung meldete sich Hakan zwei Tage später (28. Februar 2008) und sagte ohne weitere Nachfragen zu. Er sagte, dass auch seine Mutter mitmachen würde, aber dass sie nicht so viel Deutsch könne. Sein Vater sei aber leider gestorben: „Er ist leider nicht mehr unter uns.“. In unserem ersten Telefonat macht Hakan einen sehr freundlichen, zuverlässigen und selbstsicheren Eindruck. Wir verabreden uns für den folgenden Mittwoch, den 5. März 2008, um 16 Uhr in einem Café in der Gegend, in der Hakan wohnt. Zusammentreffen Im verabredeten Café warte ich 25 Minuten lang auf Hakan, dann rufe ich ihn auf dem Handy an. Er entschuldigt sich nachdrücklich und sagt, dass er unseren Termin vergessen hätte, dass er es „völlig verplant“ habe und noch bei der Arbeit sei. Ich schlage ihm vor, uns am nächsten Tag zu treffen und sage ihm, dass wir uns auch zu einer späteren Uhrzeit treffen können, falls er auch am nächsten Tag länger arbeiten müsse. Er antwortet, dass ihm 16 Uhr am besten passe und wir verbleiben auch so. Als ich am nächsten Tag kurz vor der verabredeten Zeit im gleichen Café ankomme, sagt mir der Kellner, dass sie gleich wegen Renovierung schließen. Ich warte dann vor der Tür wieder 20 Minuten, bevor ich zum Telefon greife. Hakan entschuldigt sich wieder, sagt aber, dass er schon unterwegs und gleich da sei. Es dauert dann auch nur noch ein paar Minuten, bis er tatsächlich da ist. Als ich ihm erkläre, dass die Kneipe zu hat, sagt er, dass es einige nette Cafés in der Gegend gibt, dass wir gleich eins finden werden, und er schlägt vor erst einmal die Straße entlang zu laufen. Auf dem Weg erklärt er, dass er alle Lokale der Umgebung sehr gut kenne; er sei ja hier aufgewachsen und verbringe die meiste Zeit mit seinen Freunden in den Kneipen des Viertels. Das Viertel gehört in der Tat zu einem der bohemen Stadtteile des Ortes und ist voll von Cafés, Kneipen und Restaurants. Ehemals ein Arbeiterviertel, in dem sich viele Migranten (insbesondere aus der Türkei) niederließen,
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MIT
HAKAN S ALMAN
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ist es heute bei Studenten und Angestellten mit etwas höherem Einkommen sehr beliebt, was einerseits die Mieten in die Höhe getrieben hat, andererseits eine bunte Mischung aus verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Milieus hervorgebracht hat. Kaum zweihundert Meter weiter schlägt er ein Café an einem kleinen Platz vor, wo wir auch reingehen. Wir nehmen einen Tisch in der Nähe der Tür, er bestellt einen Latte Macchiato und ich einen Espresso. Ich berichte über unser Forschungsprojekt und erkläre ihm, dass es bei dem Interview um seine Lebens- und Bildungsgeschichte geht. Er sagt dann, dass er das Projekt sehr interessant findet, dass er aber doch eine Frage habe: Er sei etwas desorientiert und verstehe nicht, was er genau erzählen solle, denn er wisse nicht wie viel und was für uns wichtig zu wissen sei. Ich antworte, dass wir auch nicht wirklich wissen, was wichtig sei, sondern dass dies immer bei jedem unterschiedlich ist. Daher sei es das Beste, wenn er einfach all das erzähle, was ihm von Bedeutung für seine Lebensgeschichte erscheint, so ausführlich wie möglich. Dem „Wie viel“ und „Wie lange“ seien von mir aus keine Grenzen gesetzt. Als ich ihm erkläre, dass wir Namen von Personen und Orten so ändern, dass niemand auf seine Identität schließen kann, antwortet er, dass dies gar nicht nötig sei, dass er nichts zu verbergen habe. Während des Interviews Hakan erzählt zunächst 50 Minuten lang, mit lediglich zwei kurzen Unterbrechungen durch das Erscheinen eines Bekannten und einen Anruf seiner Mutter. Während des Nachfrageteils unterbrechen wir das Interview auf seinen Vorschlag hin, um eine Zigarette vor der Tür zu rauchen (siehe Z. 915í916). Er spricht sehr langsam und sehr deutlich, seine Aussprache ist präzise und lässt für mein Empfinden kaum Spuren eines Akzents hören. Immer wieder gestikuliert er mit den Händen in ruhigen Bewegungen, eher um seinen Worten mehr Ausdruck zu verleihen, als um zu verdeutlichen. Manchmal unterstreicht bzw. begleitet er einzelne Worte auch, indem er mit vier Fingerspitzen gleichzeitig auf den Tisch klopft. Aussehen Hakan ist schlank und nicht besonders groß. Er trägt blaue Jeans, einen schwarzen Pullover und eine graue, dick gefütterte Strickjacke. Seine Haare
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sind sorgfältig gekämmt und gegelt. Er trägt einen gepflegten Dreitagebart. Eine dünne Brille setzt er erst auf, als wir im Café sitzen. Insgesamt macht er einen gepflegten Eindruck.
Transkriptionsregeln nein betont/laut nein gedehnt nein schnell nein leise neiAbbruch eines Wortes nein? Stimme geht hoch (.) kurze Pause (3) Dauer längerer Pausen in Sek. (?) unverständlich /lacht/ Gestik, Mimik, non-verbale Äußerungen des Sprechenden [mh] kurze Äußerung des gerade nicht Sprechenden
Transkript 1 2
I: Dann ja, erzähl mir dein (.) dein Lebensweg, dein Bildungsweg
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sechs Jahre alt, da kam ich (2) kam ich in die erste Klasse (.), aber vorweg (.)
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Kindergartenbesuch [mh] äm mit zwei oder drei, so weit ich mich erinner, kam ich
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in Kindergarten, hier in deutsche Stadt, und (3) ja, es waren (.), soweit ich mich (.)
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daran erinner’ (.) war es ein sehr schönes Erlebnis. Sehr viele neue Freunde
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kennengelernt, die ich, bis jetzt, zu meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr
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immer noch kenn’ [mh] und sehen tue (.) Äm (2) wie ich die deutsche Sprache
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damals, äh, aufgenommen habe, weiß ich ehrlich gesagt nicht, also un- auf
H: okay, äm geboren und aufgewachsen bin ich in deutsche Stadt [mh] äm ich war
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unbewusster Weise (.) mit zwei Sprachen aufgewachsen [mh] zu Hause Türkisch
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[mh] im Gespräch mit den Eltern (.) äm und in dem- im Kindergarten (.) immer
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Deutsch gesprochen [mh] Äm aufgrund, dass ich noch ’ne Schwester habe, habe
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ich aber zu Hause immer wieder (.) beide Sprachen benutzt. [mh] Was, glaube ich,
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’n gutes Training war für mich, [aha] also, ich hab es strikt getrennt, Mutter und
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Papa Türkisch, (.) [mh] Schwester Deutsch. (.) So (.) äm irgendwann (.) sprich mit
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(.) sechs, (.) sechs / sieben das war (.) zweiundneunzig glaube ich, kam ich in die
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erste Klasse, (.) und (.) ja, da fing (.) mein größtes Problem an. [mh] (.) Mein
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Problem bestand darin, (.) äm (2) den Schulstoff (.) sich selber aneignen [mh] ich
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(.) habe (.) ziemlich schwierige (.) Probleme gehabt, in der Schulzeit (.) äm sei es
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in der deutschen Sprache [mh] das war mein größtes Handicap, Mathe, Politik
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jeglicher Unterrichtsstoff ä alleine anzueignen [mh] bei einigen Sachen (.) hab ich
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natürlich meine ältere Schwester fragen können. [mh] Sie hat mir auch ä zur Seite
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gestanden, so weit sie konnte aber (.) äm (.) zu Mama rennen, zum Papa rennen,
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das ging natürlich nicht (.) äm zumal meine Mutter (.) kein bisschen Deutsch
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spricht [mh] ä (.) meine Mutter ist jetzt seit neunzehhunderteinundachtzig (.) in
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Deutschland, mein Vater seit neunzehnhundertsechzig. [mh] (2) Äm (.) Mein Vater
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ist mittlerweile verstorben (.) [mh] Als ich sechs war haben sich meine Eltern
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getrennt. [mh] Äm eingeschult (.) wurde ich (.) äm im Frauenhaus. [mh] Es ist dazu
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is zu sagen mein Vater war ’n bisschen der Aggressive [mh] äm hat meine Mutter
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(.) ganz oft geschlagen [mh] als ich und meine Schwester noch ziemlich klein
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waren (.) und mit fünf äm ging das denn nicht mehr und da haben sich meine Eltern
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getrennt gehabt [mh] (2) und ja, ein Jahr und sieben Monate lebte ich dann (.) in
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einem sechs mal sechs Quadratmeter Zimmer [mh] im Frauenhaus mit meiner
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Schwester, meiner Mutter (.) und mich. [mh] (.) Ja es war so, die Einschulung, die
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Klamotten, (.) das ganze Equipment [mh] hat (.) es meine Mutter hat versucht (.)
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mir das alles zu geben, so gut es ginge [mh] aber es war nie so richtig vorhanden
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[mh] wie bei meinen Klassenkameraden. [mh] Äm ja, einerseits hat mir das gefehlt
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zu der Zeit (.) also ich hatte ne schöne Kindheit, aber (3) das das alles hat einen
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geprägt, [mh] sozusagen. Äm nach der Trennung(.) bin ich halt im Frauenhaus
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eingeschult worden (.) und (.) dort Zeit zum Lernen (2) das Lernen allgemein dort
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[mmm] konnte man nicht- man, es gab keine Einrichtung zum Lernen das Zimmer
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(2) die Probleme die (.) in einem schwirren und (.) Angst vorm Vater, der [mh]
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kommt jetzt und sucht er uns und (.) Katz-und-Maus-Spiel [mh] da is die
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Schulbildung in der Anfangsphase meines Lebens (2) echt auf der Strecke
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geblieben [mh] wie manch anderer, [mh] der von sein Eltern ää vom feinsten
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gefördert wird [mh] (.) „so mein Sohn, eins plus eins ist zwei“ [mmhh, ja] und ich
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hatte Angst dass mein Vater (2)/hebt die Augenbrauen nach oben, zeigt beide
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Handflächen, um sie sodann auf den Tisch fallen zu lassen/ ne? [ja] Äm (4) ja, nach
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zwei Jahren etwa (.) hat meine M- nach ei- einem Jahr hat meine Mutter ’n Job
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gefunden und wir sind (.) nach ein Jahr und sieben Monate aus dem Frauenhaus
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raus. (.) [mh] (2) Sind (2) dann in eine schöne Wohnung gezogen (.) [mh] (.) wir
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drei (.) und (2) dann ging es auch sehr bergauf ich habe angefangen (.) äm (.)
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täglich (.) meine Hausaufgaben zu machen [mh] also schrittweise meine
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Hausaufgaben das Lernen an sich noch nicht (.) [mh, okay] (.) Da habe ich noch
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andere (.) Gedanken, da hat, neues Umfeld neue [mh klar] Freunde finden n- in der
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Straße wo man wohnt [klar] dann (.) kam das Sport dazu, Fußball spielen,
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rausgehen [mh] (.) et cetera. (.) Äm meine Hausaufgaben (.) ja, die habe ich (.)
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nicht freiwillig gemacht sondern (.) [mh] da hat sich auch meine Mutter für
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eingesetzt erstmal. (.) [mh] Mich unter Druck gesetzt, so du machst deine
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Hausaufgaben, dann kannst du aber raus. (.) [mh] Ich habe natürlich weitestgehend
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versucht, sie richtig zu machen [mh, klar] ob ich nu- (2) ä was damit genommen
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habe ob ich’s nun richtig gemacht hab (.) [mh] wusste ich nich. (.) In den- in dem
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Moment als ich in der Klasse war zur Korrektur natürlich- natürlicherweise war es
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falsch [mh] (.) aufgrund keiner Förderung (.) [mh] (2) Äm (.) ich erinner mich noch
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(3) es war halt in der zweiten (.) dritten Klasse wo ich das Schrei- (.) äm (.) die
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Schreibweise, Schreibschrift gelernt habe [mh] da war meine M- meine Schwester
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schon in der fünften, sechsten Klasse, und [mh] hat das alles sehr gut beherrscht zu
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der Zeit. (4) /trinkt/ Ich war sehr hinterher mit den Hausaufgaben, [mh] die ich
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machen ’s- musste und ich weiß noch, dass(.) ich dieselben Lehr-
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Grundschullehrerin hatte wie meine Schwester damals [aha] und war auch bekannt
71
als der Bruder von /klopft mit den Fingern auf den Tisch/ Pinar [okay] in dem Fall. (.)
72
Meine Schwester hat mir sehr viel geholfen sprich (.) nich beigebracht sondern
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zack, zack, zack /begleitet jedes „Zack“ mit einer kurzen Handbewegung von oben
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nach unten/ ausgefüllt gehabt. Schreib- die Schreibweise [okay] (2) Meine Lehrerin
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hat’s damals gemerkt. [mh] (.) Und hat gesagt das ist die Schrift deiner Schwester.
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(.) [mm] Und (.) das war so (.) eine peinliche Situation (.) [mh] für mich vor
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meinen Mitschülern (.) [mh] eine eine (.) Bloßstellung, Demütigung (.) [mh] (.)
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andererseits auch sehr lehrreich für mich [aha] (.) um einfach Ansporn – ich, ich
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muss es doch auch können; ich muss es doch auch schaffen können (2) ä Nach dem
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Erlebnis, es war (.) halt ein kleines Erlebnis, aber für mich ausschlaggebend.
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Danach habe ich selber wirklich (.) versucht (.) die Schreibschrift zu lernen [mh]
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kontinuierlich jeden Tag, auch wenn ich’s ä falsch mache ob richtig mache
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Hauptsache ich versuch es. [mh] Es hat sich denn verbessert, sehr gut sogar (.) äm
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(.) zu der Zeit (.) kam denn-; Könnten wir kurz stopp machen?
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I: Ja, klar
86 Aufnahmepause Ein Bekannter von Hakan ist gerade in das Café reingekommen. Beide grüßen sich fröhlich, Hakan erklärt gleich, dass er gerade interviewt wird. Die Unterbrechung dauert nicht mal eine Minute.
87
H: Zu- zu der Zeit (.) äm war mein Vater noch in Deutschland und (.) sprich er is
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ausg- ausgereist und wieder eingereist [mh, okay] leben ha- gelebt hat er in der
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Türkei (.) [mh] Äm ich war in der ich war vierzehn/fünfzehn als mein Vater das
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letzte Mal nach Deutschland kam [mh] in der Absicht (.) meine Schwester und
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mich (.) [mh] (.) mitzunehmen [okay] (2) Meine Mutter hat uns ä (.) hat für uns
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sehr gut gesorgt [mh] (.) äm also uns hat (.) nichts außer diese Förderung im
93
Grunde gefehlt. [mh] Also von der türkischen Förderung, nein. [aha] Ich rede nur
94
von der deutschen Förderung, die türkische Förderung da is’ glaub ich meine
95
Mutter die die beste, [aha] denke [okay] ich (.) sei es (.) rechtschreibtechnisch, sei
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es Grammatik, sei es die Redensweise [aha] (.) ohne Probleme (.) Nur mit der
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deutschen Sprache hat’s bei ihr gehakt. [mh] äm (.) Ja irgendwann kam mein Vater
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und wollte uns mitnehm’ [mh] da hatten wir (3) auch ein sehr großen emotionalen
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und familiären Knick, [mh] zu der Zeit (.) da (.) na ja wenn ich’s detailliert erzähle
100
(.) kam zu uns nach Hause und (.) sehr aggressiv mit ’m Messer in der Hand (.)
101
[mh] bedrohend (.) meine Mutter (.) äm hat sie (.) geschlagen /lässt die Handkante
102
auf den Tisch fallen/ un- (.) ich natürlich (4) /klopft wiederholt mit den
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Fingerspitzen auf den Tisch, sanft aber hörbar/ ich hab natürlich versucht
104
dazwischen zu gehen [mh] (.) was zu der Zeit einfach unmöglich war [mh], weil
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mein Vater einfach da der Überlegenere war [mh] körperlich und (.) ne? /Das
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Klopfen auf dem Tisch wiederholt sich mehrmals während er erzählt/ äm (.) Meine
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Mutter hat es irgendwie geschafft die Polizei zu rufen, und (.) es war dann auch (.)
108
das letzte Mal dass ich mein Vater (.) gesehen habe [mh] (.) vor sei’m Tod. (.) 2001
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ist er verstorben und (.) ja (2) dann kam die Pubertät [mh] und erst dann habe ich
110
den Verlust meines Vaters gespürt [mh] (3) Es hieße immer in der Schule: ja mein
111
Vater tut dies mein Vater tut das [mh] mein Vater ist Arzt, mein Vater ist Anwalt,
112
mein Vater arbeitet an der Uni, is’ Mathelehrer [mh] (.) Mit der Pubertät fing es an,
113
(2) also achte, neunte, zehnte Klasse (.) Es war für mich die (.) zweitschlimmste
114
Zeit in meinem Leben [mh] (.) ä (3) zumal (3) meine damaligen Lehrer-rinnen mir
115
gesagt haben gesagt hatten, dass ich da- dass sie da nich so große Chancen sehen
116
für die Zukunft [mh] (2) Ich war (2) eigentlich ein sehr Braver zu der Zeit [mh]
117
also (.) sehr viel Sport gemacht, Schule und (.) also keine Dummheiten [mh] (3) äm
118
aber trotzdem hatte ich immer noch das Defizit (.) nicht gefördert zu werden.
119
[okay] Es hat einfach gefehlt /Die letzten vier Wörter begleitet er jeweils mit
120
einem Klopfen mit den Fingern auf dem Tisch/ und meine Hausaufgaben meine (2)
121
meine (.) Vorbereitung für ein- für eine Klausur damals [mh] (.) die musste ich mir
122
alleine gestalten [mh] und wenn ich mal mit Freunden gelernt habe war’n es (2)
123
nur türkischsprachige (.) [mh] Mitschüler [ja] also, ich möchte nicht sagen – ich
124
war sehr beliebt in der Klasse – ich möchte nicht sagen dass es da äm Ausgrenzung
125
gab [mh] überhaupt nicht. (3) Man ordnen- man ordnet sich automatisch [mh]
126
irgendwie [ja] es ist unbewusst [mh] aber man ordnet sich der gleichsprachigen ä
127
Person an [mh] und sitzt dann auch nebeneinander und klönt denn auch auf
128
derselben Sprache [mh] (.) unternimmt denn auch was mit den, und (.) dann bleibt
129
einfach das andere auf der Strecke [mh, ja] sprich schultechnisch [mh] (4) Ich weiß
130
nich mehr wie ich (.) dazu gekommen bin, aber ich habe (.) nach irgendein
131
Gespräch mit meiner damaligen Lehrerin (.) Soll ich ein Name nennen?
132
I: Kannst du machen, wird wie gesagt geändert
133
H: Frau Kallenbach [mh] in dem Fall, es ist jetzt die Schulleiterin [mh] meiner
134
ehemaligen Schule (.) äm die hat mit mir mal dar- darüber gesprochen dass (2) in
135
einem Schülergespräch da hat sie mir erzählt Hakan ich seh sehr viel Potenzial in
136
dir [mh] (3) äm (2) versuch doch mal einige Dinge /Gleichzeitig mit „Dinge“: ein
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sanftes Klopfen mit den Fingern auf dem Tisch/ in deinem Leben zu ändern
138
/Gleichzeitig mit „ändern“: Zwei mal sanftes Klopfen mit den Fingern auf dem
139
Tisch/ [mh] (2) fang doch erst mal an mit einer Sitz- anderen Sitzordnung. [mh] Ich
140
habe mir gedacht wa- was (.) kann (.) sich für mich verändern, wenn ich (.) neben
141
(.) jemanden anderen sitze? [mh] Und damit fing es an: sehr viel [ok] (.) ich saß
142
neben Robert Lange ich vergess es nicht. [mh] Robert Lange (.) studiert zur Zeit,
143
der (.), ok, nicht so viel von anderen erzählen, aber deren Eltern war’n (.) ä sind es
144
immer noch Lehrer, einer (.) der Vater ist Professor (.) [mh] und die Mutter ist (.)
145
Ärztin [mh] (3) So und durch das alleinige Umsetzen [mh] (.) in der siebten Kl-
146
(3) a- acht (.) achte Klasse, [mh] ich (.) weiß nicht mehr welcher Zeitraum das war
147
(.) äm allein (.) durch das Umsetzen (.) hat sich meine Aufmerksamkeit im
148
Unterricht (.) meine (.) mein Denken, meine (3) meine komplette Einstellung
149
gegenüber Schule (2) verändert. [mh] Grund auf (.) ich (.) ich hab gesehen, dass (.)
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der nebensitzende Mensch es beherrscht [mh] und habe mich immer gefragt,
151
warum kannst du es nich auch? [mh] (4) Es war ein Ansporn, [mh] (.) genau so gut
152
zu werden (2) trotz meine Defizite [mh] und das habe ich auch geschafft. [okay]
153
Der Freund, der neben mir saß (.) ich danke ihm immer noch (.) sei es
154
Gruppenarbeiten, sei es für Klausuren lernen, Referate (2) ich (.) eine Ausgrenzung
155
gab es nicht. Wir haben echt alles gemeinsam gemacht, [mh] Referate (.) und dann
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hieß es Hakan Hakan Hakan ich möchte gerne mit dir ein Referat machen, wollen
157
wir? [mh] (2) Warum? Weil ich’s auf einmal beherrscht habe [mh] (2) aber
158
aufgrund (.) deren Mithilfe habe ich mich hoch gerappelt, hochgezogen (4) das
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war das (.) Bed-deutendste /Ein Klopfen mit dem Finger auf dem Tisch zwischen
160
der ersten und der zweiten Silbe/ (4) das war das Bedeutendste daran, dass ich mich
161
(.) so verändert habe, [mh] also in die gute Richtung würde ich mal sagen [mh]
162
würde ich immer noch neben ein türkischsprachigen Schülern sitzen, wäre ich
163
glaube ich nie so weit gekommen [mh] (2) es klingt einfach a- ein bisschen labil,
164
aber es is’ einfach so. (.) Äm dann hatten wir die Zeit des (3) Realschulabschlusses
165
und der (3) und der Zulassung zur Oberstufe zur gymnasialen Oberstufe (2) meiner
166
Schule [mh] sprich naa, machst du Abi? [aha] Machst du kein Abi? wirst du’s
167
schaffen [mh] wirst du es nicht schaffen? (3) Ja (3) äm ich war (2) auf dem besten
168
Wege in allen (2) Fächern in Kurs eins zu sein [mh] (.) äm ich war im Mathematik,
169
Deutsch und Englisch in Kurs zwei. [mh] (.) So, die ander’n Fächer war’n alle
170
okay, [mh] Kurs eins, (2) und (.) ich wollte natürlich unbedingt mein Abi machen.
171
[mh] Zu der Zeit in der zehnten Klasse war meine Schwester gerade dabei ihren
172
Abi zu machen, [mh] das war auch ’ne Motivation für mich [mh, klar]. Meine
173
Schwester tut es, also mache ich das auch. [mh] Ich trete in ihre Fußstapfen [mh]
174
(2) Also (.) habe ich gekämpft, Mathe Kurs eins (2) [mh] Deutsch Kurs eins, (.)
175
[mh] sehr viel Literatur gelesen, Homo v- von Homo Faber, also (.) bis (.)/lacht/
176
Romeo und Julia [mh] und was ich sonst nie getan hab [mh] das Lesen, das hab ich
177
verabscheut (.) aber es war sehr literaturlastig dieser Unterricht Deutschunterricht
178
(2) Äm (4) ja, mit Englisch hat’s leider nicht mehr geklappt, was ich ja schade
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finde, weil ich gerne Englisch spreche und (.) sprechen wollte zu der Zeit [mh] aber
180
da, da ich Englisch nie so wirklich ä gehabt habe [mh] nie ’n Kontakt gehabt hat-
181
hatte zu der Sprache Englisch (.) ging es einfach gar nicht [mh] (.) äm obwohl ich
182
auch Nachhilf- ge- [mh] bekommen habe. Ich bin selber zu einem (.) ä
183
Nachhilfelehrer und hab den (.) fünfzehn Mark damals bezahlt [mh] für eine
184
Stunde aber viel gebracht hat es nicht [okay] nein. (2) Äm (2) ja, ich hatte ein
185
Realschulabschluss von eins Komma (2) ich weiß es nicht mehr [mh] eins also auf
186
jedem Fall hat ich fünf Einsen (.) [mh] im Zeugnis. (3) Also ein sehr gutes /Handy
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klingelt/ oh Gott, ’n ’tschuldigung
188
I: Kein Problem Aufnahmepause Hakan telefoniert auf Türkisch auf dem Handy. Als er auflegt, sagt er, dass das seine Mutter war, die fragte, ob er gegessen habe. „So ist meine Mutter eben“, fügt er als Erklärung hinzu.
189
H: Äm (2) Wo war ich stehen geblieben?
190
I: Ja, du hattest erzählt, ä, dass du fünf Einsen hattest
191
H: Ja! ä es hat mich selber damals überrascht ein se- Bombenrealschulabschluss
192
[mh] habe ich hinbekommen (.) äm (3) und eine Gymna- eine (.) eine Empfehlung
193
für die gymnasiale Oberstufe war gegeben. (.) [mh] So. (.) Zum letzten
194
Elternsprechtag bin ich, meine Schwester, also meine Schwester, meine Mutter und
195
ich äm zusammen hingegangen und saßen vor meinen Lehrerinnen. [mh] Die eine,
196
die mich sehr mochte und mir diese Tipps und Förderhilfen und et cetera
197
angeboten hat, (.) hat gesagt äm (.) du könntest die Oberstufe schaffen. [mh] (.)
198
Wenn du (.) natürlich willst, (.) ne? Die hat mir aber auch angeboten, bei X***1
199
ein- (.) damals ein Ausbildungsplatz zu besorgen. [mh] (.) Ich habe (.)
200
komischerweise weiß ich nicht (.) für mich war das nich von Bedeutung, ich hab
201
nur Abitur gesehen. [mh] Meine andere Lehrerin, (.) hat gesagt dass ich (3) also sie
202
hat mir empfohlen lieber aufzuhören mit der Schule [mh] und eine Ausbildung
203
anzufangen. [mh] Mit der Begründung, dass ich mit meinen Kenntnissen (.) das
204
nicht schaffe [mh, okay] und in den in der Situation wurde meine Schwester sehr
205
sauer [aha] wurde gekränkt: Hallo, ich kann’s, ich hab mein Abitur gerade
206
gemacht, [mm] warum kann’s nicht mein Bruder? (2) Und dieser Ehrgeiz hat mich
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dann auch ä dazu bewegt, das durchzuziehen. [mh] /atmet ein/ (3) Dann war ich in
208
der Oberstufe. [mh] (3) Die elfte Klasse (.) war ein, ein Probejahr, was nicht in die 1
Großes internationales Unternehmen, das einen der Hauptsitze in der deutschen Stadt hat.
209
Benotung des Abizeugnisses [mh, ja] ä eingeführt wird. Äm das Jahr war (4) sehr
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anstrengend. [mh] Ich bin (2) wieder auf Englisch getroffen. Ich bin auf neue
211
Themengebiete in Mathe getroffen, [mh] auf neue Problemstellungen, neue
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Aufgaben, neue (3) neue Team- (.) arbeiten und Referate [mh] also sehr viel
213
Neuland gewesen. (2) Größtenteils habe ich sehr gut (.) ä (.) das bewältigen können
214
(.) bis auf das Englisch. (.) [mh] (3) Bevor ich mit der Elften anfangen wollte hatte
215
ich vor nach Amerika zu fliegen, [mm] ein Schüleraustausch zu machen [mh] mit
216
der Organisation „Y***“ war das. (.) [mh] Äm ich wurde auch zum
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Vorstellungsgespräch gerufen (.) zu einer Lehrerin, mit der ich mich ’ne halbe
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Stunde lang auf Englisch unterhalten habe, [mh] (3) die mir dann zwei Tage später
219
eine Absage gegeben hat [aha] mit der Begründung mein Englisch sei zu schlecht
220
[mh] und äm ich hätte dort keine Chancen ä (.) in der Schule jetzt mitzukommen
221
[okay] (.) also es würde zu lange dauern mein Englisch so zu verbessern, dass ich
222
in der Schule auch erfolgreich werde. [mh] (.) Na gut, das habe ich so
223
hingenommen, musste ich ja [mh] und hab mit der Elften weitergemacht. (.) Wie
224
gesagt neue Themenbereich (4) meine erste Fünf hatte ich in der Elften [mh] (2)
225
das war Englisch (.) aber es hat (.) mich ehrlich gesagt nich äm (4) es hat mich (.)
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nich besonders berührt. [mh] (4) Ich war nur (.) enttäuscht, dass ich nich fliegen
227
konnte, /klopft wiederholt mit den Fingerspitzen auf den Tisch/ damals, weil ich
228
weiß w- wäre ich geflogen (.) würde ich jetzt perfekt Englisch sprechen. [mh] (.)
229
[sicher] (.) Diese Möglichkeit, [mm] /klopft wiederholt mit den Fingerspitzen auf
230
den Tisch/ da werde ich ein Leben lang daran hängen [mm] (2) dass mir das
231
verweigert wurde aber (3) äm (3) ja, dann fing (2) die richtige Oberstufe an (.)
232
Zwölfte und Dreizehnte (3) ä mit meinen Leistungsfächern, das war’n Bio und
233
Erdkunde [mh] ich hatte das Profil Umwelt (3) Mein Biolehrer war ganz recht
234
begeistert von der Klasse (.) und unserer Arbeitsstil und (3) wie wir gelernt haben,
235
wie wir gearbeitet haben, es war natürlich ganz (.) ganz gut, [mh] also wenn der
236
Lehrer (2) Engagement zeigt (2) bekommt er dasselbe von der Klasse zurück [mh]
237
(.) Wie viel der Lehrer auf uns zukommt, so kommen wir auch zum Lehrer. [mh] In
238
Biologie war es (.) die schönste Zeit meines Lebens [mh] (2) Auf der anderen Seite
239
(.) Erdkunde. [mh] Erdkunde (5) war die schlimmste Zeit in meinem Leben [mh] in
240
meiner Schulzeit. Ich hatte ein Lehrer, der is’ jetzt gerade (.) sechsundsechzig-
241
siebenundsechzig [mh], also geht auf die siebzig zu, das ist Herr Oelkers gewesen.
242
[mh] (4) Der Mensch (2) Ich möchte ihn nich urteilen, ich mag es auch nicht hinter
243
(.) anderen Menschen herzufallen, aber er hat mir das Leben (4) zur Hölle gemacht
244
[mh] (2) Äm (3) wie gut ich auch war, wie sehr ich auch meine Hausaufgaben
245
gemacht habe, wie deutlich ich mich gemeldet habe, hatte dieser Mensch seine
246
Lieblingsschüler [mh] (.) ich saß vor seiner Nase, genau einen Meter (.) [mh] vor
247
ihm und seine Blicke gingen immer in dieselbe Richtung,(.) [mh] weit gewandt
248
von (3) von einigen Schülern, [mh] die er in Anführungsstriche als Buh-Schüler (.)
249
[mh, okay] bezeichnet und seine Lieblingsschüler ansieht. [aha] (5) Zu der Zeit hab
250
ich das (3) nich verstanden warum, wieso? Ich habe ihn ehrlich gesagt (.) auch
251
nicht selber darauf angesprochen, wir ham es gemeinsam in der Klasse gemacht,
252
[mm] weil (3) ’ne gewisse Angst ist da (.) vorhanden [klar] dass man jetzt doch
253
vielleicht in seinen Augen tief sinkt [mh] und schlechte Noten vielleicht, ne? Na ja
254
dann haben wir mit der Klasse darüber gesprochen warum (2) wir nicht
255
angesprochen werden in der Stunde [mh] (.) warum wir so wenig (.) dran
256
genommen werden und warum wir immer die Buhmänner sind und wenn wir mal
257
unsere Hausaufgaben nicht gemacht haben ist immer eine sechs gibt für die schon
258
[mh] es war immer der Fall (.) sechs [mh] Hakan hast du Hausaufgaben gemacht?
259
Nein? heute gibt’s ’n sechs. Hakan hast du sie gemacht? Oh, gut (.) dann gab es
260
aber ganz selten mal ein Pluszeichen [mm] (3) Ich habe natürlich versucht jedes
261
Mal meine Hausaufgaben zu machen [mm] (.) so so gut es ging. (3) Um nich ä (.)
262
halt in seine Falle zu laufen. (5) Es kam (5) es kamen die Prüfungen, die
263
Abiturprüfungen und wir haben alle zusammen gelernt, bis es nich mehr ginge (.)
264
[mh] Äm einige Freunde (2) die gut in der Schule waren, haben sich auch bereit
265
erklärt, den Schülern zu helfen die einige Defizite haben [mh] sei es in Mathe, sei
266
es in Bio, etwas zu erklären (.) da hat man sich gegenseitig geholfen. Das is’ das
267
vergesse ich keinem Einzelnen. (3) Äm (.) ich habe (.) trotz der intensiven
268
Lernaktionen [mh] (3) beide LK-Klausuren (.) nicht bestanden gehabt. [mh] (3)
269
/Atmet ein/ Ich war denn gezwungen in eine mündliche Nachprüfung zu gehen.
270
[mh] (6) Äm (3) es war (4) ja es war schlimm aber ich habe gesagt (.) das schaffst
271
du [mh] das schaffst du. Habe mich nochmal eine Woche hingesetzt (.) bin nicht
272
aus’m Haus und habe nur gelernt (3) gebracht hat es trotzdem nichts [mh] Ich war
273
in der mündlichen Nachprüfung (4) mit mein Biologielehrer (.) mit mei’m
274
Erdkundelehrer (.) und noch einem (.) Lehrer in einem Klassenraum alleine (.)
275
Geprüft wurde ich in Biologie (.) [mh] weil ich Bio vorgezogen habe. [mh] (2)
276
Geprüft wurde ich natürlich von allen drei aber der Hauptprüfer war (.) äm mein
277
Biologielehrer, den ich auch sehr mochte [mh] (3) Ich habe (2) alle Fragen alle
278
seine Fragen (.) so kurz und knapp wie er es wollte (.) [mm] beantwortet [mh] (4)
279
ich wurde sogar unterbrochen [mh] bei meiner Antwort (.) konnte meine Sätze
280
nicht zu Ende sp- reden [mh] (.) und habe die nächste Aufgabe bekommen. [aha]
281
Ich weiß nicht mehr warum das so war [mh] aber, also jede Aufgabe die kam, (3)
282
die habe ich auch gelöst [mh] (.) meiner Ansicht nach [mh] (6) Nach der Prüfung
283
musste ich raus, weil die drei sich beraten wollten (.) Gebraucht habe ich (3) s-
284
sieben Punkte [mh] (.) und ich hätte ein (.) Abiturschnitt von 2,9 [mh] (3) sieben
285
Punkte [mm] das ist (.) nich viel, das ist machbar, das is’ (4) ja, und dann saß ich
286
vor der Tür. (.) Unterstützt mit einigen (.) ä Freunden, die (.) zu mir standen, bei
287
mir standen, besser gesagt. Ich erinner’ mich noch (4) fünf Minuten später kam
288
mein Biolehrer raus, mit einem strahlenden Lächeln [mh] (.) is in die andere
289
Richtung, also es war ’ne Glastür zwischen uns [mh] er is’ raus in die andere
290
Richtung, hat aber mich angeguckt, gelächelt (.) [mh] und die Daumen hochgezeigt
291
[mh] es (.) kann sogar (.) jeder Freund der neben mir stand bes- bezeugen (6) Aber
292
es hat nich gereicht, (.) [mh] ich habe sechs Punkte bekommen. [mm] (5) Da ist
293
meine Welt zusammengebrochen. [mh] (4) Also das war sogar schlimmer als (.) der
294
Tod meines Vaters, [mm] (.) kann ich so sagen. (4) Ne, jegliches Vertrauen (.) in ein
295
Menschen (.) ist in diesem Augenblick (.) [mh] von Winde verweht. Das (.) is’
296
nicht zu beschreiben [mh] es (.) deine Freunde haben ihr’n Abitur (.) und du (3)
297
hast deine letzte Chance (.) verspielt. [mm] (2) Das Gefühl kann ich nicht (.) ä [ne]
298
weiß nicht, [ne] großartig beschreiben, es ist (3) ja. (.) Zu der Zeit war’n es halt ein
299
sehr sehr großer Niederschlag für mich. [mm] (3) /atmet ein/ Ich bin natürlich nach
300
Hause und (3) habe erstmal einige Stunden geweint [mh] (.) Aber wer hat mich
301
aufgebaut? Das war meine Mutter [mh] die hat gesagt ja und? (.) meinst du (.) das
302
Leben ist zu ende? [mm] Wirst noch so viel erreichen, macht doch nichts, (.) ich weiß, dass
303
du es kannst und du wirst es auch irgendwann schaffen. (2) Na gut in dem Moment,
304
(.) möchte man kann man so was nicht hören, [mm ja] weil der Schmerz einfach
305
noch zu groß ist. (.) Aber es kamen zwei Freunde zu mir gerannt, nach Hause und
306
haben mich getröstet ich [mh] Freunde, Freunde das ist das größte was es auf
307
dieser Welt gibt. [mh] (.) Nicht nur in guten, sondern auch in schlechten Tagen
308
/Unterstreicht die Worte mit einem Klopfen mit den Fingern auf den Tisch/. Das
309
hat mich einfach aufgebaut [mm] (.) Es hat einige Stunden gedauert, ich war
310
natürlich (2) deprimiert [mm] gekränkt (.) Vertrauen an die Menschheit weg [mm]
311
ne? (2) Äm (4) aber als ich in diesem Raum saß [mh] (.) und mir das Ergebnis von
312
den drei Lehrern anhören musste (2) /schnalzt/ (5) [mh] ich vergleiche es, ich
313
möchte, ich möchte nicht rassistisch klingen (?) [mm] das ist nicht meine Art [mm]
314
also ein gewisses Niveau muss man noch beibehalten, aber ich vergleiche es mal (.)
315
mit einem KZ-Lager [mh] (3) Du sitzt da und wirst beurteilt [mh] (2) Mein Fehler
316
war (.) keine neutrale Person mit in d- in diesem Klassenraum zu (.) nehmen zu
317
bitten: hör dir einfach mein Vortrag, meine Au- meine Lösungen, mit an [mm] (3)
318
einfach diese Garantie (.) [mh] zu haben. Egal wie oft ich sage ich habe alle
319
Antworten gegeben, mehr als das (.) qualitativ, Quantität [mm] (.) es is’ (.) ich
320
komm gegen drei nich an [mm, klar] (2) das is ohne Frage [mm] (.) /lässt die Hand
321
auf den Tisch fallen/ Kann jeder sagen, ne? [mm] (.) Das war mein größter Fehler.
322
[mh] (7) Ja, die Antwort, die h- hieß einfach Hakan qualitativ (.) nicht so gut
323
gewesen (2) es tut uns leid, bei mir fließen denn (.) /zeigt mit dem Finger auf sein
324
Auge/ [mm, ja] dann schon die Tränen und /holt tief Luft/ äm (4) ja ich weiß nich
325
was (3) was diese drei Menschen in diesem Moment gedacht haben [mm] ich
326
würd’s mir (3) so sehr wünschen, [mm] (.) ich weiß es immer noch nicht ob, ob’s
327
die Wahrheit war ob’s nicht die Wahrheit war (7) ich (.) es fällt mir schwer darüber
328
noch jetzt zu reden [mh] auch in zehn Jahren (.) [mh] weil’s einfach zu tief sitzt (.)
329
diese Niederlage das war /Klopft mit den Fingern auf den Tisch, etwa 3 Sekunden
330
lang/ ich wurde noch nie so sehr enttäuscht [mm] (.) von (.) Menschen (3) aber es
331
ist halt passiert, und (.) ich (.) ’ne Zeit lang (.) später ging es auch eigentlich (.)
332
[mh] also ich bin mit dem Gedanken klar geworden, ich muss jetzt /unterstreicht
333
das „jetzt“ indem er mit dem Zeigefinger auf den Tisch klopft/ (4) entweder hab
334
ich zwei Möglichkeiten: Wiederholen [mh] die Dreizehnte, (2) den ganzen Stress
335
erneut [mh] (3) Schaffst du das? (.) Welche Lehrer bekommst du? (.) [mm] (3)
336
Weil ich Vertrauen hatte ich (.) kein bisschen mehr [mm] (3) Schaffst du es,
337
schaffst du es, schaffst du es? Ich hab gesagt, nein, ich kann das nicht (.) nein, nicht
338
ein zweites Mal (2) und habe denn (.) entschlossen (.) mein Fachabi zu machen
339
[mh] Ich hatte ja die schulische (2) ä Sache sozusagen hinter mich gebracht [mh,
340
okay] und bräuchte in dem Fall noch ein praktischen Teil, (.) in dem Fall habe ich
341
ein Jahr (.) in einem Anlage Unterbrechung Ein Zeitungsverkäufer bietet seine Ware an, wird von Interviewer mit einem kurzen „Nein, sorry“ abgewiesen.
342
H: äm habe in dem Fall in einem (.) bei einem Anlageberater [mh] im Bereich
343
Wirtschaft (.) mein Praktikum gemacht [mh] (.) und sehr gut bestanden, (2) mit
344
’ner zwei-null, [mh] glaube ich war das, stand in meinem Zeugnis, ja. /trinkt/ Habe
345
mein Fachabi mit zwei-drei bestanden, [mh] (.) und (3) ja, die Frage war dann (2)
346
bevor ich aber (.) bevor ich noch äm mein Praktikum begonnen (.) ha- hatte /Beide
347
gestotterte „ha“ werden jeweils mit einem Klopfen auf den Tisch begleitet/ [mh]
348
(2) Da war noch mein Abi-Ball[mh] Das war auch so was Bewegendes für mich (2)
349
Der Buhmann, (.) der war ich. [mh] Der Buhmann des abends, aber auch der Held
350
des Abends [mh] (4) Ich bin tatsächlich hingegangen [mh] Ich war der einzigste,
351
der nicht bestanden hat [mh] (.) im ganzen Jahrgang [mh] (5) Meine Mutter hat
352
damals immer gesprochen: ich komm zu deiner (.) Zeugnisausgabe, ich werd sehr
353
stolz auf dich sein (?) (.) Ich habe es nicht geschafft, aber ich bin trotzdem hin. Alle
354
s- waren da [mh] (5) Und dann fiel mein Name (.) Hakan Salman [mh] (3) Alle
355
dachten ich bin nicht da [mm] aber nein, ich bin nach vorne hin, (5) habe der
356
Schulleiterin (3) die Hand gegeben (2) sie sagte, hat mir was in mein Ohr geflüstert
357
(6) ä da bin ich- da hab ich angefangen zu weinen, nach der- nach dem Satz sie hat
358
gesagt: (3) Ich hab sehr großen Respekt, dass du (.) trotz allem [mh] hier
359
erschienen bist. (4) Daneben stand mein Erdkundelehrer [mh], mit einer Rose in
360
der Hand, [mh] (3) Aus reiner (.) Humanität habe ich ihm trotzdem die Hand
361
geschüttelt, [mh] weil ich (4) weiß nicht warum /Lässt die Hand auf den Tisch
362
fallen/ Aber, (.) der hat schon gemerkt, was er für ein Fehler gemacht hat. [mh] (7)
363
Ja, hab mein Zeugnis genommen (4) und hab den größten Applaus, den es
364
überhaupt gibt, bekommen [mh] von der ganzen (.) Gesamtheit die in der Aula (.)
365
[mm] war. (.) Also (.) alle standen hinter mir, es war das einerseits das (.)
366
schlimmste Gefühl, [mh] andererseits auch das schönste Gefühl,[mm] dass so viele
367
hinter mir stehen. [mh] (.) Na ja (4) dann habe, ich wie gesagt mein Praktikum (.)
368
bestanden (2) und wurde dann herangezogen zur zum Wehrdienst [mh] Ich hab
369
selbstverständlich ä verweigert, weil ich strikt dagegen bin [mh] (.) mit ’ner Waffe
370
umzugehen (.) und habe mein Zivildienst im Krankenhaus XY gemacht, [mh]
371
Hypokrates Klinikum XY [mm, ja] als Patiententransportpfleger [mh] (.) Was
372
auch eine sehr sehr sehr sehr große und bedeutende Erfahrung für mich war [mh]
373
die meine Zukunft mittlerweile sehr prägt. [mh] (2) Äm (2) dort hat ich sehr viel
374
mit Menschen zu tun, mit sehr viel kranken Menschen (.) hilfsbedürftige Menschen
375
(.) und (3) in der Zeit, in diesem Jahr habe ich erkannt, dass ich (.) Menschen helfen
376
möchte [mh] dass es mich befriedigt, [mh] wenn ich etwas Gutes tue für Menschen
377
(.) [mh] (3) Äm (.) Kurz vor Ende meines Zivildienstes (.) habe ich beschlossen zu
378
studieren. (.) [mh] (2) /atmet ein/ Die Frage war (.) was? [mh] (3) Eines Tages
379
habe ich äm mit einem Arzt aus der Medizitechnikabteilung im Krankenhaus
380
gesprochen. [mh] (.) Der hatte krebskranke ä Patienten dort vorhanden und die
381
waren an einer Maschine gebunden [mh] (.) die äm weiße Blutkörper (.) Zellen
382
selektiert [mh] aus dem normalen Blut [mh] das normale restliche Blut wird
383
zurück ins Körper (.) geführt. [aha, spannend, mh] Diese weißen Blutkörperchen
384
werden (2) als Krebstherapie benutzt, für die krea- Krebstherapie. [mh] Ich war
385
von der Technik so begeistert, [mh] dass ich mich halt im Internet schlau gemacht
386
hab [mh] über Medizin, Medizintechnik, welche Möglichkeiten habe ich zu
387
studieren [mh]– Mit der Ausgangssituation, die ich habe. [mh] (2) Ja, (3) ich hatte
388
viele, viele (4) viele Auswahlmöglichkeiten (.) eigentlich, also sprich von
389
Maschinenbau bis ä Multimediaproduktion und [mm] aber angesprochen hat mich
390
Medizintechnik [mh] also da bin ich einfach hängengeblieben (.) und habe mich (.)
391
beworben, [mh] wurde auch glatt sofort angenommen [mh] das war mein
392
Startschuss für meine neue Zukunft, sozusagen [mm] (5) Ja, trotz der ganzen (2)
393
trotz der ganzen Probleme, die es in meiner Zukunft gab, ä in meiner
394
Vergangenheit gab [mh] (3) kann ich sagen ich habe es (3) mit einem kleinen
395
Umweg, doch geschafft [mh] (2) Auch wenn es etwas länger dauert [mm, ja]
396
komm ich ans selbe Ziel an. [mm, genau] Einige früher, (2) so wie ich, ein
397
bisschen später, [mm] aber (.) man kommt an, wenn man’s möchte [mm, genau] (3)
398
Ja, (.) und jetzt bin ich halt dabei Medizintechnik zu studieren, und (3) eigentlich
399
fangen die Probleme wieder (.) von vorne an. [aha, okay] (3) S-, die Probleme sind
400
vergleichbar (2) wie in der Schulzeit [mh] ich erkenne sie, ich sehe sie früh
401
mittlerweile [mh], aufgrund der vielen Erfahrungen, die ich gesammelt habe, ich
402
sehe was für Probleme ich habe (.) kann gezielt dagegen arbeiten [mh] (2) äm (6)
403
sprich ä (.) Mathe, Physik [mh] wo hab ich da Defizite, wie kann ich da angehen
404
(3) Großartig, großartig Förderung bräuchte ich nicht, [mh] aber (.) klar kann kann
405
ein Ingenieur (.) nich ä ein Ingenieurstudent nich alles auf Anhieb, [mh] der muss
406
sich alles aneignen, es ist klar dass man in der Anfangsphase (2) sehr viel lernen
407
muss [mh] um etwas zu verstehen (.) also ich muss jetzt doppelt so viel lernen [mh]
408
um etwas zu verstehen [mh] (2) Es kommt wieder aufs Gleiche hinaus, ich muss
409
wieder ein Umweg machen [mh] (.) um etwas zu verstehen, also (.) ich, ich möcht
410
nich sagen (2) ich bin kein, kein Genie [mm] überhaupt nich, ich muss mir ’ne
411
Sache fünf Mal durchlesen, bis ich sie verstehe. [mh] (2) [mh] Ich habe
412
Kommilitonen, die (.) lesen sich das einmal durch [mm] und speichern es ab [mh]
413
(.) Es ist wieder dasselbe Katz-und-Maus-Spiel [mh] (2) Aber da ich mich schon
414
dran gewöhnt habe (4) Niederlagen einzustecken, auch Gutes zu erleben (4) macht
415
es mir keine Sorgen, [mh] also ich weiß, ich habe mein Ziel vor Augen [mh] (2) ob,
416
(2) wann ich nun dahin komme das (.) steht noch nicht fest, aber (.) dass ich dahin
417
komme; das weiß ich /klopft sanft auf den Tisch/. (.) [mh] (.) Ja, das is’ (.) so (2) zu
418
meine Lebensgeschichte (.) zu sagen.
419
I: okay (.) ä vielen Dank erstmal
420
H: Nicht dafür
421
I: Äm (6) du hast gesagt, ä du hast ä deine Freunde in den Kindergarten
422
kennengelernt und das sind immer noch deine Freunde [klar], du hast auch gesagt
423
Freunde sind das Größte, erzähl ein bisschen über deine Freunde.
424
H: Ja, natürlich (.) ich habe (4) also ich grenze (3) Freunde aus [mh] (3) Freunde (.)
425
ich habe Freunde in verschiedenen Kategorien [mh] es klingt ä ’n bisschen
426
komisch. (.) Ich habe meine Schulfreunde von damals, [mm] die (.) mit den habe
427
ich sehr guten Kontakt, pflege sie auch (.) [mh] den Kontakt, wir treffen uns, gehen
428
ab und zu was trinken, was unternehmen (.) also jeder geht zur Zeit sein eigenen
429
Weg, aber man verliert sich trotzdem nich aus den Augen [mh] das war mir
430
wichtig, ist mir immer noch wichtig [mh] und (4) man man schätzt (.) wenn man
431
jemanden schätzt (3) dann möchte man auch weiterhin di- den Kontakt beibehalten.
432
[mh] (2) Äm, das sind die Schulfreunde. Jetzt gibt es auch Alltagsfreunde [mh] die
433
aus (3) die aus meiner Gegend, mit den ich groß gewachsen bin [mh] groß
434
geworden bin. (2) Mit den Schulfreunden bin ich auch groß geworden, aber die
435
habe ich immer nur damals zur Schule gesehen. [mh] Also al- es ist a-acht Uhr
436
morgens, Oh! Hi Hazar, hi Markus, hi Jan! [mh] So, und nach der Schule gab es
437
nicht so ein intensiven Kontakt, wie meine Alltagsfreunde [okay] Meine
438
Alltagsfreunde, habe ich (.) fast jeden Tag gesehen [mh] zum Fußball spielen, als
439
ich achtzehn geworden bin Wochenende Party machen, was trinken gehen, und (3)
440
jegliches [mh] ins Kino, und, ne? (.) Oder am Wochenende mal Fußball gucken
441
Das mache ich mit meinen Alltagsfreunden. [mh] (4) Und jetzt habe ich meine
442
Kommilitonen, [mh] mit den ich (3) äm in der Unizeit sehr viel Zeit verbringe. Ich
443
möchte das aber unbedingt ändern, ich möchte (4) diese Freunde auch zu mein-
444
mei’m Alltag machen [mh] (.) also daran möchte ich (.) an mir persönlich arbeiten,
445
ich (3) grenze das immer so ein bisschen au- also ich vernachlässige manchmal
446
Freunde [mh] (.) unbewusst tue ich das, weil ich einfach (.) faul bin anzurufen,
447
[mh] faul bin etwas zu unternehmen, also ständig werde ich angerufen und [mh]
448
na? Komm, machen wir was? und ja und in der Zeit ruft jemand anders an und
449
möchte mich auch sehen und (.) ich kann mich nicht in zwei teilen [mh] (.) also
450
möglichst alle Freunde unter einen (.) Hut zu bringen [mh] also aus allem ein
451
Alltag machen. [mh] (3) Äm (4) die Freunde, die (2) selbstverständlich mir (.)
452
damals so viel Unter- (.) Unterstützung m- mitgegeben haben (.) ä (.) die schätze
453
ich am meisten. [mh] (.) Das ist (.) unbezahlbar, diese Freundschaft. [mh] (3) Und
454
ja, das wars.
455
I: Wie sah ihre Unterstützung aus?
456
H: Äm Kenan Rauschenberg, zum Beispiel (2) der war ein Mathegenie [mh] (.)
457
Wir hatten (.) äm (4) vor der Matheklausur, die wir (.) ich weiß nicht mehr welche
458
Klasse, aber vor fast jeder Matheklausur (.) hat er seine Freizeit geopfert, [mh] um
459
uns, den Schülern, die Defizite hatten, die Probleme hatten, die Fragen hatten
460
[mh] hat er seine freie Zeit geopfert, uns Nachmittag Nachhilfe zu geben. [aha] (4)
461
Welcher Mensch tut so was? [mh] Welcher Freund tut so was? [mm] (3) Deshalb
462
schätze ich (.) diese Freundschaft auch so [mh] das ist (2)
463
I: Das war ein Mitschüler von der gleichen Klasse
464
H: Das war (.) er saß neben mir [okay] also es is’ (.) unbeschreiblich. (.) Natürlich
465
Geben und Nehmen. [mh] Es gab ä in Biologie (.) zum Beispiel, da hatte ich (.)
466
Zeiten, wo ich echt der Genie war, [mh] in gewissen Themenbereichen, wo ich
467
denn natürlich (.) auch geholfen hab beim Lernen. Wir haben uns dann
468
zusammengesetzt in ’ner einer Gruppe (.) Lerngruppe gehabt und diskutiert,
469
ausgetauscht, [mm] was weißt du? was weißt du nicht? [mh] Kann ich dir das
470
erklären? (.) Es is’ ein Geben und Nehmen [mh] aber das (.) schätzt man an ein
471
Freund. [mm] (3) Ja (.) Das ist so ’n kleines Beispiel [mh] da, dafür.
472
I: Ja, äm du hast erzählt ä, du hast in der Schule am Anfang oder du warst am
473
Anfang in der Schule ä sehr viel mit türkischen Mitschülern, ä da kam das Erlebnis
474
da hat dich die Lehrerin mehr oder minder hingesetzt neben [ja] wie war der
475
Name? Roman?
476
H: Ä Robert
477
I: Robert, Robert
478
H: Robert Lange
479
I: Genau äm (3) Hat sich da für mich ä für dich ä die Beziehung zu deinen ä zu
480
deinen türkischen Mitschülern geändert? Hast du dich geöffnet zu anderen
481
Schülern? Äm.
482
H: Äm (4) Ich hatte immer mehr Kontakt zu deutschsprachigen [mh] (.)
483
Mitschülern, also habe auch mehr mit den unternommen, habe mehr, je mehr ich
484
mit den gemacht habe, desto (4) desto eingedeutschter wurde ich [aha, okay]. (.) Es
485
klingt komisch äm (3) desto mehr bin ich, hab ich Sachen getan, die ein Deutscher
486
eher tut. (.) [mh] Ich, ich kann mal ’n Beispiel geben. (6) Na ja, wie soll ich sagen?
487
Bücher lesen [mm] (.) oder (3) die Hausaufgaben zusammen machen. [mh] (3) Auf
488
der anderen Seite meine türkischsprachigen Mitschüler damals (.) einer hat seine
489
Hausaufgaben gemacht (.) und der zweite hat sie ab- abgeschrieben. [mh] (4) Oder
490
im Gegensatz dazu Bücher [mh] wurden nie gelesen [mh] (2) Nur es wurde ’n
491
Buchrezension aus dem Internet ausgedruckt [mh] und fertig war das Ding. Also
492
die Mühe, dieser Fleiß, der hat gefehlt. /„Mühe“, „Fleiß“, „hat gefehlt“ werden
493
jeweils mit zwei-drei Mal Fingerklopfen auf den Tisch begleitet/. [mh] Man wollte
494
sich das Leben einfach einfach machen. [mh] (4) Und dieses zu erkennen (.) [mm]
495
(2) das habe ich (.) das hab ich bekommen, das hab ich geschenkt bekommen, [mh]
496
von (.) den deutschsprachigen Mitschülern. [mm, okay] (3) Ich wurde (3) nach ’ner
497
Zeit lang ausgegrenzt, von den türkischsprachigen Mitschülern [aha] es wurde
498
gesagt, ja du hängst ja nur noch mit den (.) ä ich möchte jetzt nich öffentlich sagen
499
mit den deutschen (.)
500
I: Sag doch /lacht/
501
H: Nein es (.) es ist mir unangenehm [okay] aber (2) äm wir haben doch denn hieß
502
es wir haben noch so viel unternommen [mh] wir haben so viel gemeinsam wir
503
haben so viel gemacht, warum nich mehr? Hey, habe ich gesagt, es geht um meine
504
Zukunft! [mm] (2) Ich muss da was dafür tun (.) um erfolgreich zu sein [mh] das
505
geht nicht (.) dass ich einfach so vor mich hin lebe [mm] Was wollt ihr den später
506
ma machen? (5) Ja den ein’ Freund sehe ich seit sieben / acht Jahre nicht mehr
507
[okay] kein Kontakt. [mh] (.) Der hatte mich mal vor einem Jahr angerufen gehabt,
508
ich war auch sehr erfreut, ich möcht ihn gerne mal wieder sehen und wissen, was er
509
macht, erreicht hat. [mh] (4) Die andere Freundin, die hat irgendwie gerade so
510
ihren Haupt gemacht [mh] also beide, gerade so ihren Haupt, was ich sehr schade
511
finde. Ich würde auch gerne die mit-, die mitziehen wollen [mm, klar] ne? tut!
512
macht! (2) ä die eine hat ’n Friseurinausbildung gemacht irgendwie so, ich hab, ich
513
sehe sie auch nicht mehr schon seit (.) [mm] sieben acht Jahren, also kein Kontakt
514
mehr [okay] (4) Äm (.) aber (5) ja (.) hab gerade den Faden verloren
515
I: /schmunzelt/ Mh (.) ja, also (.) es klingt so danach dass ä dass du sagst ab dem
516
Moment habe ich also langsam aber immer mehr den den alltäglichen Kontakt mit
517
den türkischen Mitschüler ä verloren und habe ich mehr Sachen mit
518
H: Richtig
519
I: mit Deutschen gemacht
520
H: Richtig, richtig (.) richtig, was ich jetzt immer noch tu. [mh okay] (3) Ich habe
521
noch eine Kategorie von Freunden: [mh] ich habe die türkischen Freunde [mh] (.)
522
und ich habe die deutschen Schulfreunde. [okay] Die türkischen (2) Freunde sind
523
meine Alltagsfreunde, [aha] wie ich sie eben beschrieben habe. [okay] (4) Äm
524
mittlerweile versuche ich beides unter einem Hut zu kriegen, also (4) ich kann
525
beide Seiten nich vermischen, das geht nich. [mh] (.) Das passt auch nicht
526
zusammen. [mh] Ich bin s- (.) ich bin halb deutsch [aha] aber wenn ich mit den
527
alltäglichen Freunden bin, bin ich der Türke. (.) [mh] Also sei es von es klingt doof
528
sei es von Schimpfwörtern [mh] bis zu meiner türkischen Blutader [mm] (3) bis
529
zum (2) Döner essen von [mh] drei Stück hintereinander [mm] also (.) so (.) bin ich
530
mit meinen Kommilitonen, mit meinen deutschen Freunden zusammen, bin ich der
531
Brillenträger, der (3) Literaturkenner und [mh] (.) was weiß ich was, aber (.) ja, d-
532
die beiden Seiten muss ich strikt trennen, [mh] das, denk ich, mache ich auch sehr
533
gut. [mh]
534
I: mm Was machst du, was machst du mit deinen türkischen Freunden, was machst
535
du mit deinen deutschen Freunden?
536
H: ja /lacht/ (4) Auf jeden Fall nicht dieselben Sachen. [aha] (3) Teilweise.
537
I: Wie sieht es aus, also du triffst dich mit deinen türkischen Freunden
538
H: und wir pokern
539
I: Ihr pokert, okay,
540
H: Wir pokern, wir gehen feiern, [mh] wir gucken gemeinsam Fußball, also da
541
gibt's auch Überschneidungen [mm, klar] Ich habe auch Freunde, die sehr gerne
542
pokern, [mh] also aus der alten Schulzeit. Machen mal ’n Pokerabend [mh] oder
543
wir gehen feiern. Wir gehen in einer Bar was trinken, ohne Frage, das möcht ich
544
gar nich so vereinfachen [mm, klar] aber. (4) Äm (4) ich kann nich sagen, ich fühle
545
mich da wohler oder da wohler, [mh, ne, klar] ich fühle mich auf beiden Seiten
546
sehr wohl, [mh] sehr wohl (.) Ich bin mit beiden Seiten sehr gerne zusammen
547
/Begleitet seine Worte mit einem Klopfen auf dem Tisch/, unternehme sehr gerne
548
mit beiden Seiten was (3) aber mit der, mit den alltäglichen (.) Freunden (2) kann
549
ich jegliches machen, (.) außer mit meiner Schule (.) [mh] und da lass ich
550
niemanden ran [mh] also, das geht auch nich [mh] (3) Über neunzig Prozent dieser
551
alltäglichen Freunden sind (.) arbeitslos,[mh] sind (2) äm perspektivs-los [mm],
552
nenn ich’s mal (.) [mh] Einige sind berufstätig, (.) sei es bei (2) Transportfirmen,
553
oder (.) der eine, der eine hat jetzt sein Fachabi gemacht, möchte studieren, BWL
554
studieren, macht gerade sein Zivi, hat so’n ähnlichen Lebenslauf, wie ich. [mm]
555
Mit den könnten Sie sich auch unterhalten, wenn sie möchten. [gerne] ä (4) also im
556
(.) im mein’ alltäglichen Freundeskreis selektiere ich auch ehrlich gesagt noch mal
557
aus [mm] da habe ich auch so die richtigen Türken, [mh] mit den ich (4) nicht in
558
Probleme verwickelt werden kann. [mh] Denn das Leben auf der Straße sieht, (.)
559
ganz anders aus als (.) man draufguckt [mm] (.) Es gibt Menschen, die ein gerne in
560
Dreck ziehen möchten [mh] (.) die einem sein Glück, sein Leben nicht gönnen,
561
wenn sie sagen mir geht es Scheiße dann muss es dir auch Scheiße gehen. [mh] (.)
562
Also in- in diesem alltäglichen Freundeskreis selektiere ich auch noch mal meine
563
Freunde aus. [mh] (2) So wie aber auch (7) vielleicht nicht so (.) großartig [mh],
564
aber (4) in meinem deutschen Freundeskreis bin ich beruhigter, [mh] bin ich
565
lockerer, nich angespannt, uh, jetzt kann was passieren, jetzt (.) wenn wir was
566
unternehmen [mh] (4) Es is’ einfach diese (3) andere Art und Weise Temperament
567
[mh] (.) traditionell(.) es kommt alles mit da rein, (2) es sind verschiedene
568
Verhaltensweisen [mm] dieser Freunde und hier bin ich einfach der Ruhigere [mh]
569
(.) kann mich gehen lassen [mh] (3) und hier bin einfach noch ’n bisschen
570
wachsamer [mm, okay] weil es ist einfach (.) gefährlicher [aha] (.) ich beschreibe
571
es ma’ als gefährlich. (3) [mh] Deshalb, wie gesagt, selektiere ich meine Freunde
572
aus meinem Alltag sehr gut heraus, [mh] und (3) die Menschen (2) sind auch sehr
573
(2) sehr gute Menschen [mh] also (.) die, die ich für mich jetzt als gute Freunde
574
bezeichne, [mh] also Hut ab, die Freunde sind auch sehr enorm. [mh] (.) Seit
575
neuesten besteht da (.) dieser enge Kontakt mit einigen Freunden, die ich, seit
576
Neuestem! [mh] Ich kenne (.) Gott, jeden hier aus Z***2 [mh] aber erst nach (.)
2
Stadtteil, wo Hakan wohnt und zur Schule gegangen ist.
577
seit wann wohne ich hier? Seit (4) seit fünfundneunzig-vierundneunzig wohne ich
578
in Z*** [mh] seit vierundneunzig wohne ich hier, ich kenn alle [mh] aber erst seit
579
so vielen Jahren später habe ich die wahren Freunde gefunden [mh] (.) aus meinem
580
Alltag. [okay] Die Freunde, die ich kenne, die bezeichne ich nicht als Freunde,
581
sondern (.) sag immer hallo, wie geht es dir, [mm] alles klar schönen Tag noch,
582
tschüß! (6)
583
I: Äm was machst du dann mit den deutschen Freunden? Du triffst dich mit den
584
deutschen ä Was machst du? (.) oder was macht ihr?
585
H: Es ist nich großartig anders äm [mh, okay] das sind natürlich auch, ä junge
586
Männer, die ihren Spaß haben wollen [mm, klar]. Es ist Schwachsinn zu sagen,
587
wenn ich zu Hause sitze und Bücher lese mit denen, das ist nein [/lacht/ ] (.)
588
natürlich nicht. Wir (.) größten Teils (3) gehen wir auch feiern (3) wir kochen
589
gerne [mh] (.) wir kochen gerne. So was (.) kann ich mit den nicht [mh] (.) mit den
590
Anderen [okay] (.) nee, da würde der eine sagen oh, was machst du denn? Bist du
591
öö, ne? /schmunzelt/ aber mit den, mit den anderen, da haben wir erst letztens zum
592
Geburtstag gemeinsam gekocht [mh] gemeinsam Musik laut gedreht Cocktails
593
gemixt und (.) also es war eine viel (2) angenehmere Atmosphäre, [mh, okay] finde
594
ich, familiärer (.) [mh] Da umarmt man sich, da küsst man sich [mh] also hier
595
auch, selbstverständlich, aber es ist hier noch mal hier ein anderes Gefühl. Ich
596
find’s hier familiärer. (.)
597
I: Mh, also hier meinst du mit den Deutschen
598
H: Genau [aha] genau, also, auf jeden Fall. (2) Es ist aufgrund (4) des
599
gemeinsamen Lebensganges, [mh] was wir durchgestanden haben [mh] ich glaube,
600
das hat uns so zusammengeführt, so zusammengeschweißt (.) deshalb is es so.
601
I: Mh, okay /guckt in seine Notizen/ (6) Äm (4) Würdest du ein bisschen mehr
602
erzählen über dein Vater?
603
H: Gerne (2) äm (2) ich erinnere mich eigentlich recht gut an ihn ich war (6) äm
604
wie alt war ich? Fünf (6) fünf. Da habe ich noch gut mitbekommen, wie aggressiv
605
und (5) ä untolerant mein Vater war [mh] gegenüber mir, meiner Schwester und
606
meiner Mutter. [mh] Ich weiß noch meine Schwester (.) durfte an Klassenfahrten
607
nicht teilnehmen. (.) Ich weiß, dass meine Mutter ä arbeiten gehen musste und
608
mein Vater Arbeitslosengeld (.) [mh] (.) bezogen hat. (2) Obwohl mein Vater
609
neunzehnhundert von neunzehnhundertvierzig, weiß ich nicht, dreißig Jahre lang,
610
in einer Fabrik gearbeitet hat, [mm] so ist es nicht. (.) Äm aber zu der Zeit als ich
611
dann kam, in das Leben – ich bin fünfundneunzig ä fünfundachtzig geboren [mh] (.)
612
und, wie gesagt, neunzig, an die Zeit erinnere ich mich da (.) war eine gewisse (4)
613
gewisses Angstgefühl, gewisse Respektperson im Hause, wo man einfach auf jede
614
Handlung, die man gemacht hat, auch als Kleinkind [mh] ge- geachtet hat. [mh]
615
Oh, was sagt mein Vater, was macht der, schreit der wieder? Schimpft der?
616
Ohrfeigt er uns. [mm] Ne? (5) Aber wenn man nach seiner Pfeife getanzt hat [mm]
617
(.) es gab auch sehr schöne Zeiten, sehr liebevolle Zeiten, [mh] sehr angenehme
618
Zeiten, natürlich (3). Da hatten wir immer jede jede Woche ’n Eis essen, sind wir
619
Eis essen gegangen [mh] (.) das (.) für ’n Kleinkind etwas sehr Großes, damals
620
[mm] ä Überraschungseier wurden mir gekauft, (.) [mh] also so dass ich die
621
Figuren sammeln konnte, das war auch die ich jetzt immernoch habe [mh] ein sehr
622
großes Erlebnis damals für mich. (.) Äm (.) ja bis (3) zum Streit meiner Eltern [mh]
623
(.) Die haben sich so in die Haare bekommen. Ich war zu der Zeit in Kindergarten,
624
meine Schwester war Schule [mh] (.) Mein Vater hat meine Mutter so doll
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geschlagen, dass sie (.) fast (3) fast gestorben [mh] wäre. (2) Äm konnte, also sie
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konnte sich nochmal (.) aus dem Haus retten, soweit ich das noch [mh]
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mitbekommen habe [klar] durch Erzählung [mh] (.) ich sprech meine Mutter auch
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nich mehr darauf an [mh, ne] weil das (.) eigentlich vergangene Zeit ist. (.) Äm sie
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(.) konnte sich nach dieser (.) Schlägerei aus’m Haus retten. Unter uns war ’ne
630
Fahrschule [mh] (2) als die meine Mutter so gesehen hat- hatten, haben sie gleich
631
ein Krankenwagen gerufen (.) und sie wurde mitgenommen [mh] Mein Vater hat
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das alles nicht interessiert. [mm] Er dachte sich, bah, sie kommt wieder, (lass sie
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mal nur gehen ?), sie kommt wieder. [mh] (.) Das war für meine Mutter (.) das
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Limit [mh] also entweder ändert sich jetzt etwas, [mh] oder (5) [ja] oder ich (.)
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sterbe irgendwann [mm] dran [ja] oder es geht so weiter. (.) Genau zwei/drei
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Monate habe ich meine Mutter nich mehr gesehen, zu der Zeit. [mh] Jeden Tag
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hieß es; Papa, Papa, wo ist Mama? – ja, kommt noch. [mh] Kommt , kommt,
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irgendwann. Wusste auch nicht, wo sie ist. Sie war natürlich im Krankenhaus und
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wurde sehr gut unterstützt von ä Seiten Deutschlands, [mh] sag ich mal (.) sprich (.)
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für allein stehende Mutter die geschlagen wurden, [mh] wurde (.) kam ’ne Frau an,
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die meiner Mutter sehr geholfen hat, hat sie gleich ins Frauenhaus gebracht, [mh]
642
hat ihr Gesetze (.) erklärt [mm] die Ge- die Gesetze, die Rechte beigebracht, die
643
sie hat, [mh] die sie aber nicht nutzt, [ja] weil sie es nicht weiß [mh] (2) Ne? (3)
644
Und nach genau drei Monaten habe ich meine Mutter gesehen [mh, okay]. Kam (.)
645
’n Kindergarten (.) und es war- es is’ (.) wie ’n Engel [mh] wie ’n Engel vor mir –
646
Mama, Mama endlich wieder da [mh], und (.) So mein Sohn, jetzt kommst du mit, (.)
647
jetzt holen wir noch deine Schwester ab, hieß es, und dann gehen wir. [mh] (.)
648
Okay, bin ich mitgegangen (.) haben wir meine Schwester abgeholt und sind ins
649
Frauenhaus. [mh] (4) Mein Vater natürlich (.) nicht wissend, wo wir sind [mh]
650
durchsucht komplett (.) deutsche Stadt [mh] ab und ist am Durchdrehen [mh] bis ä
651
mein Vater benachrichtigt wird, dass wir bei der Mutter sind und im Frauenhaus
652
von nun an leben. (2) Äm Sorgerecht bekam irgendwann meine Mutter [mh] (4) Ich
653
erinner’ mich noch da waren wir, (.) im Kindergarten, da kam mein Vater und
654
meine Mutter (2) bei der Trennung [mh] (.) da kam das Jugendamt [mh] ins
655
Kindergarten [mh] (3) und da standen wir, meine Schwester mein- meine
656
Schwester und ich (.) in der Mitte des Raumes (.) in der ein’ Ecke saß mein Vater,
657
[mh] und in der anderen Ecke meine Mutter [mh] taub, stumm. [mm] (.) Das
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Jugendamt fragte meine Schwester ich erinner’ mich nur noch bildlich, ich hab so
659
ein Bild vor mir, wo wir da drinne stehen, ich weiß nicht mehr welches Gespräch
660
geführt wurde, aber ich weiß noch (.) meine Schwester wurde gefragt, wo möchtest
661
von nun an leben bleiben? /Begleitet seine Sätze mit einem Klopfen auf den Tisch/
662
(.) Meine Schwester is schnur-stracks zu meiner Mutter [mh] (.) und ich natürlich
663
(.) auf die Fußstapfen getreten. [mh] (.) Ich muss das tun, was meine Schwester tut.
664
[mh] (.) Äm (.) natürlich bin ich mitgegangen [mh] (.) und dann war die Situation
665
klar (.) [mh] mein Vater wurde rausgeschickt, sie bekommen nicht das Sorgerecht
666
und (.) die Kinder bleiben bei ihrer Mutter und dann verblieb es auch so. [mh] Mein
667
Vater kam (3) wir haben ihn dann natürlich ab und zu gesehen, ohne (Frage ?). Das
668
hat er denn auch so hingenommen, (.) [mh] hat uns immer von einigen hundert
669
Metern Entfernung vom Frauenhaus abgeholt [mh] sind hingegangen, waren (.) bei
670
McDonalds essen (.) also da gab’s ganz nette, gute Zeiten (6) Bis wir dann aus’m,
671
aus’m Frauenhaus raus sind, was ich vorhin erzählt hatte. [mm] Meine Mutter hat
672
’n Job gefunden (3) Da gab es zwei Aktionen: Mein Vater, bevor er in die Türkei
673
geflüchtet war, [mh] (.) kam er (.) zu uns, da war ich aber noch kleiner, ich glaub
674
zehn [mh] (2) glaube ich, (.) zehn, da wollte mein Vater Geld von meiner Mutter
675
[mh] Meine Mutter sagte, ich gib dir fünfhundert Eu- äh fünfhundert D-Mark, [mh]
676
aber bitte lass uns in Ruhe [mh] (.) und (5) er sagte (2) da haben an dem Tag auf
677
meine Schwester gewartet, dass sie von der Schule kommt [mh] und (2) meine
678
Mutter wusste, dass mein Vater vor der Tür steht [mh] (2) und ich kam nach Hause,
679
aber hab ihn nich gesehen (.) bin hoch und meine Mutter meinte (.) dein Vater steh-
680
ä sucht uns hier irgendwo. (.) Anscheinend wurde meine Mutter angerufen und
681
irgendjemand hat (.) mein Vater gesehen [mh] und meine Mutter benachrichtigt.
682
[mh, okay] Als meine Schwester geklingelt hat, (.) kam, ging ich an Hörer, sa-
683
fragte, ist Papa neben dir? [mh] (.) Und mein Vater steht neben meine Schwester
684
und bedroht sie [mm] und sagt pssscht /führt den Zeigefinger zu den Lippen/ (.) Ist
685
Papa neben dir? [mm] Nein, nein. Ich mache natürlich die Tür auf, und wer kommt
686
hoch? Mein Vater mit meiner Schwester [mm] (3) Und mit einem Tumult, und
687
Brüllen, und lautes Schreien und (.) meine Mutter natürlich selbstbewusst [mm] (.)
688
Was willst du? (3) Geld (2) Gut, wenn es da-, wenn es weiter nich- nichts ist (.)
689
Meine Mutter hatte gut verdient damals [mh] sie hat als Reinigungskraft im
690
Krankenhaus gearbeitet (4) ä ist mittlere- mittlerweile Rentnerin. [mm] äm (.)
691
Fünfhundert Mark kann ich dir jetzt sofort geben, aber bitte lass uns in Ruhe, sagte
692
meine Mutter. okay, er war einverstanden. Meine Mutter hat ihm natürlich das
693
Geld gegeben, um (2) auf einer Seite uns zu schützen, [mm] und sich zu schützen,
694
[klar] dass er einfach geht. [mh] (.) Na ja, dann is’ er gegangen. (3) Nach dem er
695
gegangen war hatte ich ihn sieben Jahre nich mehr gesehen. [mh] (3) Ne zehn, fünf
696
ich war fünfzehn, vierzehn / fünfzehn, bis er wiederkam (.) also keine Spur wo er
697
ist, was er macht. [aha, okay] Er hatte sich in die Türkei abgesetzt und (.) lebte dort
698
[mh] hatte ein Haus (2) und dann kam er irgendwann wieder. Wir waren von der
699
alten Wohnung in eine neue Wohnung gezogen,[mh] was nur eine Straße weiter
700
war. [mh] Die alte Wohnung kannte er, die neue aber nich [mh] (2) Gut. Wie findet
701
er uns? Schnappt sich irgend’n Junge auf der Straße und fragt, wo wohnt Hakan
702
Salman? [mh] Und zu der Zeit, mein, einer meiner besten Freunden [mm] was was
703
für ein Zufall [tja] Mein Freund ist an Klingeln und sagt ja, dein Papa steht vo- vor
704
der Tür. [mm] Ach, mach kein Scheiß! (.) Doch. Ich renn an Fenster [mm]
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Scheiße! (.) Mama, Mama, Papa steht vor der Tür. Und sie natürlich nein, wieder
706
dasselbe Spiel von vorne. [mm] (2) Geh nach unten, aber lass ihn nich hoch. Okay,
707
ich nach unten; hallo Papa und hier und da (.) und sagt er, ja, komm, lass mal rein. (3) Ich
708
soll dich nicht rein lassen. (.) Und dann habe ich die erste Schelle bekommen.
709
[mm] Au. (.) Ou ha (.) da- dann habe ich mir schon (.) ins Hemd gemacht,
710
sozusagen (.) Kam er mit’m Messer rein. [mh] (3) Is’ er immer wieder auf meine
711
Mutter los, immer wieder und ich dazwischen, und wieder weggeschlagen und
712
wieder zw- dazwischen, ich wusste nicht was ich mache, ich konn- konnt nichts
713
tun. (.) Meine Mutter hat sich eingeschlossen in Zimmer. Ich habe erstmal gesagt
714
Papa beruhig dich, setzt dich, ich bring dir was zu trinken, ja ’n Wasser und hat er
715
sich hingesetzt, Messer hingetan. (.) Ich töte deine Mutter und nimm euch mit. Das
716
war’n die Worte (8) Sie hat unsere Nachbarn angerufen gehabt und die Polizei (.)
717
[mh] oder die Nachbarn haben die Polizei benachrichtigt [mm] ich weiß nich mehr
718
genau, wie das war. (2) Auf jeden Fall, keine fünf Minuten (.) später kam meine
719
Schwester und sie wurde kreidebleich [mm] kreidebleich, das, (3) kniete nieder vor
720
meinem Vater und sagte (.) hallo. (.) Mein Vater (.) hatte ein Hass [mm] gegenüber
721
meine Schwester, weil sie die schlauere war [mh] die meine Mutter (3) in der Zeit
722
gefördert hat [mh] (.) mit sei es den Gesetzen, (.) [mh] die Rechte (.) äh jegliches,
723
jegliches. [mh] (4) Äm (.) keine fünf Minuten später nachdem meine Schwester da
724
war (2) ich weiß nich woher diese Menschenmenge kam, aber es waren über
725
fünfzig Menschen in der Wohnung [mh] (.) Nachbarn, Freunde, i- ich war selber (.)
726
geschockt. [mh] Dann kam auch die Polizei (.) und dann sagte die Polizei, ja, sie
727
sorgen für Unruhe hier und et cetera und da fragte mich ich erinner’ mich noch an
728
genau die Worte. Wer hat diese Menschen gerufen, mein Sohn? [mh] (.) Ich
729
natürlich, weiß ich nicht. (.) Man kann sich das nicht vorstellen, wie (.) man in dieser
730
Situation sich fühlt [mm] das ist nicht zu beschreiben, weiß ich nicht, hab ich
731
gesagt. Wurde er in Handschellen abgeführt, ich schaute noch durchs Fenster (.) er
732
hat sich aber nicht mehr umgedreht. [mm] Das war das Signal dafür, dass er hier
733
nichts mehr zu holen hatte, [mh] (.) nachdem habe ich ihn auch nie wieder mehr
734
gesehen.[mh, okay] (6)
735
I: Äm (.) Und deine Mutter äm wie sah die Unterstützung von deiner Mutter aus?
736
Also du hast du hast gesagt wegen der Sprache schwierig, allerdings ä
737
H: Zur Zeit
738
I: türkisch eine unglaubliche Förderung.
739
H: Ja, zur Zeit wohne ich selber noch bei meiner Mutter, [mh] meine Schwester ist
740
verheiratet, äm hat BWL studiert, [mh] (.) hat gerade vor zwei Wochen ihren
741
Diplom abgegeben [mh]. Äm (2) ja, jegliche Unterstützung, jegliche (.) sei es
742
materiellisch, [mh] in meiner Kindheit; ein Gameboy, [mh] sei es Schuhe, sei es (2)
743
Bücher, [mh] Stifte, Rucksack /begleitet jedes Wort mit einem Klopfen auf dem
744
Tisch/ (.) alles gab es. So gut wie möglich. [mh] Meine Mutter sagte immer, nein,
745
es geht nicht sofort [mm] (3) aber ’ne zeitlang später habe ich es trotzdem
746
bekommen [mh] (.) weil vielleicht das Geld nich da war. [mh] (2) Äm (3) es gleicht
747
sich irgendwo aus, die Liebe meiner Mutter is’ ä nicht zu vergleichen wie s- (5) mit
748
(.) einer anderen ä Liebe ich ich (3) mir hat das nicht geschadet, dass ich keine
749
Förderung (.) auf Deutsch bekommen habe [mh] ganz ehrlich, also, da is die Liebe,
750
die ich bekomme, [mh] (.) weitaus größer [mh] (.) als hätte ich nur diese einzige
751
Förderung bekommen, Deutsch oder in Mathe, also schulisch technisch. Ich (.) also
752
sind wie (.) nich wie Mutter und Sohn, sondern wie Freundin und Freund [mh] also
753
es is’ eine Beziehung, (3) Feuer und Flamme, so [mm] (.) sind (2) wie sehr dicke
754
Freunde. [mh] Und (.) meine Mutter ist jetzt ä fünfundsechzig, Rentnerin [mh] (.)
755
Ich meine ich, e- es könnte mir nie besser gehen, bin ich ehrlich. [mh] Ich bin zu
756
Hause, ich zahle in dem Fall keine Miete, unterstütze aber meine Mutter [mh] in
757
jeglicher Hinsicht, weil sie nich viel verdient. [mh] (.) Sie hat ä zwölf Jahre
758
gearbeitet hier und kriegt nicht wirklich viel [mm, ja] was (2) äm (.) von daher
759
versuche ich meine Mutter, so gut es geht zu unterstützen, also sei es miettechnisch
760
ä jeglicher Hinsicht, Einkäufe, [mh] auch nur das Müll rausbringen [mm] zu Hause
761
putzen, [mh] also, ein Geben und Nehmen, Zwecksgemeinschaft, [mm] oder nennt
762
man so was. Sie kocht für mich, [mh] ich mein, ich kann auch kochen, natürlich nicht
763
so gut, aber zum Beispiel Wäsche waschen oder saug-, den Haushalt machen. tut
764
Sie. Warum soll ich denn nicht andere Dinge tun, [mm] was ihr vielleicht schwer
765
fällt, [mm] in dem Alter? (.) Saugen, Müll rausbringen, Einkäufe machen. [mm]
766
Also (.) für mich ist es zur Zeit das ä Beste, was mir überhaupt passieren konnte.
767
[mh] (4) Ja.
768
I: Äm Du hast aber gesagt ä sie hat dich in im Türkischen unterstützt, wie sah die
769
Unterstützung aus?
770
H: Ich hatte (.) in der Schule türkischen Unterricht [aha] bei Frau Yilmaz. [mh] (.)
771
Äm natürlich kenne ich nicht die türkische Geschichte, türkischen Hintergrunde
772
von klein auf an. Und bei jeder Hausaufgabe, bei jedem kleinen Problem, die ich in
773
Türkischem hatte, war gleich mein Ansprechpartner meine Mutter [mh] also. Und
774
die Hilfe, die war (.) mehr als, mehr als nur eine Hilfe, das war Belehrung vom
775
feinsten [mm] (.) also (.) hätte mir keine Türkischlehrerin so was beige- beibr-
776
beibringen können. [mh] (3) Sei es über die Geschichte der Türkei, über die
777
Sprache, Kultur, [mh] Traditionelles (.) über jegliche Sachen, über das Essen, über
778
die Städte über (2) [mh] Sonstiges, also immer wieder Unterstützung bekommen,
779
von meiner Mutter, wo sie auch nur konnte [mm, ja] aber wo es nich (.) ging, habe
780
ich auch erst gar nicht gefragt, also, [mm] weil’s (2) weil ich wusste, (.) es bringt
781
sowieso nichts [mm] dann musste ich halt selber mein Ding (.) machen [mh]
782
I: Äm (2) erzähl ein bisschen von von deiner Schwester, wie hat sie dich
783
unterstützt, zum Beispiel?
784
H: Äm (3) wir gingen auf dieselbe Schule, [mh] sie is’ vier Jahre älter als ich [mh]
785
und da trifft es sich gut, dass ich ihre (.) bisherigen gemachten Unterlagen als
786
Unterstützung [aha] benutzt hatte. [mh] Sei es über Referate, sei es
787
Matheaufzeichnungen, Deutsch [mm] (.) die sie in der ä im Unterricht gelesen hat,
788
hät-, brauchte ich nicht mehr zu kaufen, [mm] weil ich denselben Stoff durchging.
789
[mh] Ihre Aufzeichnungen waren alles (.) wenn auch nich jetzt direkt, indirekte
790
Unterstützung [mh] (.) in jeglicher Form. Und wenn ich mal ’ne Frage (.) etwas
791
nich verstanden (6) ja teilweise auch äm (2) mit ihr alleine ä gelernt habe [mm]
792
über gewisse Sachen, über Referate haben wir auch schon oft zusammengestellt,
793
[mh] (.) äm hat sie mir Hilfestellung gegeben, (.) doch, aber sonst bin ich immer
794
nur für Kleinigkeiten zu meiner Schwester gegangen, [mh] also (2) ich hab mich
795
eher von ihren materiellischen Sachen (.) [mh] begnügt als von ihrem Wissen [mm,
796
okay] (2) also eher von der schriftliche als vom Geistigen (.) äm aber bei Fragen
797
hat sie mir immer zur Seite gestanden. Ich wollt’s, (.) ich weiß nicht, ich habғ ’s sehr
798
eher selber machen wollen [mh] als von ihr (.) die Hilfe anzunehmen, [mh] so (.)
799
aber der Gedanke, dass immer eine Person jederzeit für mich da is’ [mh] hat schon
800
gereicht [mh] (.) also bei jeder Frage bin ich jetzt nich rüber gelaufen zu meiner
801
Schwester sondern (.) wenn ich nicht weiß, weiter weiß, [mh] dann kann ich
802
rüberlaufen. [okay] (2) So war’s.
803
I: Mal gucken /Blättert in seinen Notizen/ (9) Ein Detail, du hast gesagt, du hattest
804
Probleme in Englisch und du hast ein Nachhilfelehrer gehabt
805
H: Ein Student
806
I: Hast Du selbst den Nachhilfelehrer gesucht und bezahlt? Oder wer hat das
807
gemacht?
808
H: Bezahlt äm habe ich ihn selber, ja, ich hab zu der Zeit gejobbt, seit meinen
809
sechzehnten Lebensjahr jobbe ich [aha] (.) nebenbei. (.) Ich habe bei AB***
810
gearbeitet ä habe da Müll entsorgt, sauber gemacht und die Pappen weggeräumt
811
und Material aufgefüllt und sieben fünfzig die Stunde verdient. [mh] Zwei Stunden
812
in der Woche gearbeitet und fünfzehn Euro an den Englischlehrer (.) [okay]
813
gegeben. (3) Äm wie bin ich auf ihn gekommen? (4) Ich weiß es nicht mehr. [mm,
814
gut] Ich weiß nur, dass (4) durch eine Empfehlung [mm] (4) ich glaube es war (3)
815
es war ein Lehrer (.) aber ich weiß nicht mehr welch-, ich glaub (2) der hat äm
816
unter Herrn Meyer und [mm] Sie kennen die Familie Meyer, Julia Meyer3
817
I: Ne
818
H: Grüne, GAL, vielleicht?
819
I: Ach, klar.
820
H: Der Sohn /schmunzelt/ ging mit mir in einer Klasse, [okay] und der Mann war
821
mein Mathelehrer. [okay] (.) Na ja äm (2) Ja durch ’ne Empfehlung bin ich auf ihn
822
gestoßen, hab ihn angerufen gehabt, und war gleich einverstanden [aha, okay]
823
spricht, spricht fließend Englisch [mh] und (.) es war nicht ’ne große Unterstützung
824
(.) aber na ja [mm] es hat mir nicht es hat mir nicht wirklich viel gebracht [okay] (.)
3
Name geändert; es handelt sich um eine wichtige Kommunalpolitikerin.
825
Ich hätte gerne von Anfang an so was gehabt, (.) aber das gab es nicht. [mm] Von
826
Anfang an ’ne gute Förderung, /Klopft mehrmals auf den Tisch/ das wär das
827
Richtige gewesen [mh] (.) oder das Jahr im Ausland. [mm] Also eins von beiden.
828
[mh] (.)
829
I: Okay (3) Äm (.) Hast du Diskriminierungserfahrungen gemacht?
830
H: In welcher Hinsicht?
831
I: In der Schule, ä oder woanders
832
H: Ja
833
I: Hast du dich diskriminiert gefühlt?
834
H: Sehr oft! [aha] (.)
835
I: Kannst du was darüber erzählen? Ein Beispiel vielleicht, oder?
836
H: Ja, d- das beste Beispiel, meine Schulzeit. [mh] (2) Drei Lehrer sitzen in einem
837
Raum, ich brauch sieben Punkte und sie geben mir sechs. [mh]
838
I: Äm Also du meinst, ä das lag daran, dass du
839
H: /entschieden:/ Ich meine nicht, ich weiß es. Und ich bereue immer noch, dass
840
ich keine neutrale Person dazu geholt habe. (4) Man glaubt es kaum, [mh] man
841
glaubt es kaum, aber auch davon abgesehen, gab es ganz viele Polizeiaktionen, äm
842
ich war im Rosengarten, dass ist an der F**4, Richtung F**. [mh] Da haben wir ein
843
zwei Bierchen getrunken gehabt mit ’nem Freund (.) und da kam ’ne Polizeistreife
844
(.) hin und sagte (.) Personal (.) Kontrolle, allgemeine Personalkontrolle und (.) wir
845
haben natürlich Personalausweis gezeigt gehabt. [mh] Ich hatte etwas Graues an,
846
eine schwarze Hose, [mh] Kapuzenjacke und sagte der Mann ja (.) sie passen (3)
847
sie passen (2) sehr gut zum Täter. [mh] So war die Aussage [aha] ä zu der
848
Beschreibung des Täters. [aha] Ne? Und ich ich ich hab den so angeguckt und
849
sagte (2) Zu was für ’nem Täter? Ja, hier in der Nähe wurde gerade eingebrochen,
850
[mh] der Jugendliche hatte ’ne graue Jacke an und ’ne schwarze Hose. [mh] Guckt
851
mich an, okay (.) ja (.) [das passt] passt. Und zum Glück waren meine Freunde da
4
Der Fluss, der durch die deutsche Stadt fließt.
852
und konnten bezeugen, [mm] (.) dass ich den ganzen Nachmittag und Abend mit
853
den zusammen war. [mm] (.) Ja, und dann sind die halt gegangen, [mh] also (.) So
854
etwas, (.) ohne Grund jemanden zu beschuldigen [mm] (2) äm. (.) Ganz, ganz (.)
855
ganz viele Aktionen könnte ich ihnen eigentlich erzählen (.) äm (8)
856
I: Äm (2) Also, okay du sagst: ganz klar diese Abiprüfung, das war die absolute
857
Diskrimination, ä (.) Wie sah ansonsten in den in den schulischen Alltag, ä wie sah,
858
was für Diskriminierungserfahrungen hast du gemacht?
859
H: (2) Ich hatte schon einige Beispiele genannt gehabt äm im Unterricht [mh] Mein
860
afghanischer Freund saß neben mir, links, ein türkischer saß ein’ weiter, also sprich
861
(.) links neben dem Lehrer, der Lehrer st- saß direkt vor mir. [mh] Hier und wir
862
saßen hier /Zeigt mit den Händen die ungefähre Position/ Aber der Blick ging
863
immer in diese Richtung, rechts. [okay] (3) Das, das ist die reinste
864
Diskriminierung (.) [okay, du meinst] wenn man das über zwei drei Jahre lang so
865
mit ansehen muss, wie man im Unterricht nicht wahrgenommen wird vom Lehrer.
866
(.)
867
I: Aufgrund des ethnischen Hintergrunds?
868
H: Hundert Prozent [gut okay] hundert Prozent Man wird einfach aufgrund
869
seiner äußerlichen (.) Wahrnehmung, äußerlichen ä [Aussehen] [mh] Aussehens
870
und der des Hintergrunds [mm] (.) so abgestempelt. (.) Und ich ich schwöre ihnen,
871
ich könnt Ihnen die ganze komplette Klasse herbringen [mm] und die würden
872
bezeugen, was für ein Mensch ich bin. [mh] (.) Ich-, der Lehrer meint, ich bin ein
873
(.) ein (4) er hat es zwar nich so gesagt, aber (.) er macht den Anschein danach als
874
ob ich (2) bei Streitigkeiten, bei Problemen, der Übeltäter bin. [mm] Ich ha- habe
875
noch nie mit der Polizei zu tun gehabt (.) ich habe nie ein Eintrag gehabt [mm] nie,
876
nie, noch nie was mit Drogen gehabt. [mh] Gut, ich rauche ä ve- verstehen Sie, was
877
ich meine?
878
I: Ja, ja
879
H: Es tut irgendwo sehr weh, dass es noch solche Menschen gibt. [mh] Ich verurteile
880
auch nicht die Deutschen [mh] (.) Das (.) man versteht das nicht. Man- es tut irgendwo,
881
irgendwann auch weh (.) [mm] (2)
882
I: Ist das jetzt auch ein Problem während deines Studiums?
883
H: (9) Nein
884
I: Nicht mehr
885
H: Nein, [okay] (.) kein- keineswegs, nein. (8)
886
I: Äm (2) könntest du mir erzählen, was für Erwartungen deine Mutter an dich hat?
887
H: Ou, ich glaube sie hatte sehr großer Erwartungen, sie hat immer gesagt (.) ich
888
möchte dein dein Abi sehen, ich möchte deine Diplom, ich möchte dein Diplom
889
sehen, ich möchte dich hier sehen, ich möchte dich ganz oben sehen (.) Ich wurd
890
natürlich gleichzeitig unter Druck gesetzt, Hakan du musst das machen, du kannst
891
nicht versagen, du kannst deine Umgebung nicht enttäuschen. Und das ist dieser
892
gesellschaftliche Druck. Ich (.) Ne Zeitlang, zur Abizeit, jetzt gerade jetzt merke
893
ich das (3) bekomme ich Depression [mh] (2) wegen diesem äu- (.) Druck, der auf
894
mir lastet. Zu versagen /Klopft auf den Tisch/ [mh] kurz vor dem Ende /Klopft auf
895
den Tisch/ [mm] Es ist nur noch ein Gang [mm] (.) zum Ziel. (4) Ja (2) dieser
896
gesellschaftlicher Druck, der auf einem herrscht, der ist ziemlich groß und (4) tut
897
weh [mh]
898
I: Und diese gesellschaftliche Druck äh kommt von deiner Mutter auch, oder?
899
H: Auch, auch , auch die Erwartungen der Freunde. [mh] (3) Man möchte seinem
900
Freundeskreis (3) ebenbürtig werden [mh] (.) man möchte den was bieten können.
901
[mh] (2) Wenn ich meine Freunde treffe (.) nach fünf Jahren und (.) man
902
unternimmt etwas [mh] und sagt ja, Hakan, was machst du? Hartz-IV-Empfänger
903
[mm] (.) möchte ich nich sagen, ich möchte sagen, ich bin Ingenieur, arbeite in der
904
Firma, fahre ’n dickes Auto und hab das erreicht. (2) Man (3) möchte, man möchte
905
erfolg- erfolgreich sein. (.) Ja. (3) Davor (.) vor- vorm Versagen hat man Angst
906
[mh] (2) Das is’ es. [mh] Man möchte seine (.) nahstehenden Menschen nicht
907
enttäuschen, [mh] so sieht’s aus. /schmunzelt/ (3) Das ist meine größte Sorge jetzt.
908
(.) [mh] (8)
909
I: Okay, Ich muss noch mal kurz meine Notizen (3)
910
H: Rauchen Sie eigentlich?
911
I: ä ja
912
H: Wollen wir eine rauchen?
913
I: Sollen wir eine Pause machen, eine rauchen gehen, und
914
H: Warum nicht?
915
I: Gut Aufnahmepause Wir gehen vor der Tür, um eine Zigarette zu rauchen. Währenddessen fragt Hakan über das Forschungsprojekt, was mit den Interviews nachher gemacht wird und ähnliches. Er fragt auch, wie man zu einem Job als Wissenschaftler kommt (er formuliert die Frage mit „man“, im Allgemeinen) und interessiert sich für den Alltag bei so einer Arbeit. Er fragt dann auch nach den Kriterien, nach denen wir die Leute interviewen, sagt, dass er ein paar Bekannte hat, die in das Profil passen würden und verspricht, diese zu fragen und sich wieder zu melden. Als wir wieder rein gehen, frage ich Hakan, ob er noch was trinken möchte, was er verneint. Ich bestelle dann noch ein Getränk für mich.
916
I: Äm also, du hast von deinem, von deinem Abi erzählt, von dieser schrecklichen
917
Abiprüfung, in der, in der Schule XY, war das?
918
H: Genau.
919
I: Und danach hast du Fachabitur gemacht.
920
H: Richtig.
921
I: Ä, kannst du ein bisschen über das Fachabitur erzählen? War’s für dich
922
schwierig, oder?
923
H: Äm insofern nicht schwierig, weil es im Betrieb meines Cousins war [mh] (.)
924
äm (4) also ein gewisses (4) ein gewisses Gefühl von von (.) Leichterkeit herrschte
925
[mh] auf mir. [mh] (.) Wäre ich jetzt in einem fremden Betrieb gewesen [mh] (.)
926
würde (.) auf mir noch eine (.) eine andere Art von Belastung herrschen. [mh] Ä da
927
es (.) ein Verwandter war (.) und (3) ich mir ä (.) kleinere Fehler erlauben durfte
928
[mh] (3) ware es- war es leichter die Zeit zu überstehen [mh] Es war
929 Unterbrechung Der Kellner kommt und räumt den Tisch auf
930
I: Okay.
931
H: Ja, da es in Betrieb war von von (.) einem Verwandten (4) war es insofern
932
leichter, dass man kleinere Fehler (.) [mh] ä machen durfte [mh] (.) die übersehen
933
wurden. (3) Äm (.) aber die Ausbildung, die ich dort bekommen habe, die war (2)
934
im weitesten viel umfangreicher, viel intensiver [mh] (2) als (.) wenn ich es in
935
einem fremden Betrieb machen würde. [mh] (.) Ich hätte auch, so, gut in ein in
936
einen fremden Betrieb gehen können. Eine ein- eine andere Branche wählen
937
können. [mh] (.) Pädagogik, äm Mechanik, oder etwas Technisches. (.) Wirtschaft.
938
(3) Ja ich war nie so ein Mathegenie, aber trotzdem hat mich
939 Unterbrechung Der Kellner bringt das Getränk.
940
H: trotzdem hat mich dieser Bereich gereizt [mh], viel gebracht an Erfahrung, im
941
Bereich Wirtschaft [mh] (.) ä (3) Also in der Thematik äm Anlageberatung,
942
Börsenmakler, (.) [mh] Börsenhandel (.) ist mein Horizont um das Dreifache
943
gewachsen. [mh] (.) Und (3) viele Freunde ha- von mir haben mir gesagt, warum
944
(.) bleibst du denn nich in dieser Branche, ist doch (.), die boomt doch gerade und
945
(.) ist doch sehr ä erfolgreich? [mm] (3) Trotzdem hab ich mir gesagt, nein, (3) so
946
schön sie auch ist, so gut und erfolgreich man sein kann, [mh] habe ich mir gesagt,
947
nein, das möchte ich nich (.) [mh] weil es war nicht das, was ich möch- wollte. Das
948
was ich möchte und wollte war (4) Menschenleben retten [mh] (5) Ich weiß nich
949
wie ich das beschreiben kann, Gutes tun, [mh] also (3) Wirtschaft ist immer so, so,
950
so ’ne Sache mit (2) Abzocke verbunden [mh] also für- nach der- nach den
951
Erfahrungen, die ich gemacht hab dort (4) Wirtschaft ist ’n sehr schwerer Bereich
952
[mh] also hat mich (.) mehr abgeschreckt [mh] (3) als mich angesprochen. [mh]
953
Also die Erfahrung, die möchte ich nicht missen, die (.) die ich gemacht hab,
954
gesammelt hab, aber für meine Zukunft, für mich war es nicht so ansprechend,
955
[mh] also nicht ausschlagegebend. Wollte eher was (3) in der Richtung tun
956
Menschen [mh] (.) mit Menschen, mit Menschen, Menschen. [mh]
957
I: Und diese Entscheidung hast du während des Fachabis getroffen, oder schon
958
vorher?
959
H: Während des Praktikums natürlich schon angefangen zu überlegen [mh]
960
machst du das jetzt, machst du das, machst du das? Äm erstmal selektiert, was
961
möchtest du gar nich machen? [mh] (.) Was bleibt über? (2) Möchtest du deine
962
Finger schmutzig machen? [mm] Möchtest du dein Geist, [mh] (.) dein Hirn
963
anstrengen, möchtest du ä körperlicher Arbeit machen? Also erstmal die Sachen
964
ausselektiert, die (.) ich auf kein Fall machen möchte [mh] die erst gar nicht in
965
Frage kommen [mm] dann hatte ich noch (3) dann hatte ich noch die Dinge stehen,
966
die (.) in Betracht (.) gezogen (.) wurden, aber die ich auch nicht (.) [mh] machen
967
wollte. Und diese Entscheidung (.) habe ich dann erst in meinem Zivildienst
968
getroffen. [okay] Und da wa-, da war mir klar irgendwas (2) irgendwas
969
medizinisches [mh] irgendwas, wo ich diesen hilflosen Menschen [mh] diesem
970
Elend (.) [mh] (2) unterstützen kann. [mh] (3) Und (4) ja diese Arbeit im, im
971
Krankenhaus (.) zu meiner Zivildienstzeit, die hat mich ä (.) so fasziniert, [mh] so
972
beeindruckt (.) diese Menschen da, die die dort echt großes leisten, sei es Ärzte, sei
973
es Medizintechniker, sei es, auch nur die Transportler. [mh] Auf denen herrscht so
974
eine große Verantwortung [mm] so (.) eine große Hilfe [mm] da da reicht ein
975
Danke von einem Patienten [mm] (.) echt mehr als [mm] (2) viel Geld. [mh] (2)
976
Das hat mich befriedigt, [mh] ein „Danke“ zu hören [mh] (.) und (.) seitdem war
977
war mir klar, dass ich irgendwas in krankenhaustechnisches (.) [mh] machen
978
möchte. Ich dachte eher an Pflegemanagement [mm] (.) zu studieren. (3) Das war
979
mir aber wiederum bisschen zu zu theorielastig, [mm] (.) äm (.) sprich Bürokram,
980
Papierkram, Papierkrieg und (5) Ich habe mich über den Studiengang informiert
981
und (.) da ist ’n kleiner Teil an Pflege, äm Praktikas, [mh] Pflegebereich drin, [mm]
982
aber es hat es hat nich gereicht [mm, okay] für die Entscheidung. [mm] (.) Und
983
Medizintechnik war da um weites besser, zumal es technisch basiert ist. Ich bin
984
auch selber ein technisch begabter Mensch [mm] und das Medizinische, [mh]
985
Menschen mit mein’ Geräten an Leben zu erhalten, helfen [mm] (.) unterstützen
986
[mh] (.) mein Traum is’ es irgendwann (.)– sollte ich erfolgreich sein und genügend
987
Geld haben – (.) für die dritte Welt Länder (.) in Massenden von Geräten zu
988
produzieren [mh] (.) Und für ’ne gute Sache (.) zu arbeiten. [mh] Also in der, in
989
den Glauben gehe ich meinen Ziel nach [mh] (3) ja.
990
I: Also, was Gutes zu tun aber gleichzeitig auch erfolgreich sein.
991
H: Unbedingt.
992
I: Dickes Auto haben…
993
H: Unbedingt, natürlich. Das wünscht sich, glaube ich, [mm] so gut wie jeder.
994
[mm] (.) Äm (.) natürlich da da im Vorfeld steht auch mei- meine Zukunft, meine
995
meine Familie, die ich vielleicht irgendwann haben werde [mh] ä für die gut sorgen
996
zu können (.) Träume hat man ja, vielleicht mal ’n Haus oder [mh] (2) vielleicht
997
mal schöne Urlaube machen, die Welt sehen, [mm] in die- in diesen verschiedenen
998
Träumen glauben, mein Ziel nachzugehen [mh] (.) das is’, (2) das war der Reiz.
999
(10)
1000
I: Mm, was denkst du, was war das Ziel ä deiner Eltern, als sie nach Deutschland
1001
kamen?
1002
H: Das ist ganz einfach. [mh] (5) Äm (3) in dem Fall spreche ich für die
1003
Allgemeinheit (.) also alle Ausländischen, die aus der Türkei kamen – mein Vater
1004
war (2) einer der ersten türkischen Mitbürger, die hier waren, [mh] die Migration
1005
fing erst neunzehnhundertsiebzig, neunzehnhundertfünfundsiebzig [mh] an, mein
1006
Vater war neunzehnhundertsechzig hier [mh] mein Vater ist dreiunddreißig
1007
geboren [mh] (3) äm (3) Ja, so gut wie alle (.) so gut wie alle türkischen Mitbürger,
1008
die hier zu der Zeit migriert sind, (4) sind (.) in der Hoffnung [mh] (.) etwas Geld
1009
zu verdienen [mh] (.) und nach höchstens ein Jahr zurück zu reisen [mh, okay]
1010
hergekommen. [mh] (2) Ich höre von vielen älteren Menschen, aus einem Jahr
1011
wurde zwei, aus zwei wurden drei, vier und dann zwanzig Jahren, [mh] die man
1012
hier verbracht hat, obwohl man nur Geld für ein Traktor sparen wollte, [mm] oder
1013
’n Haus, dass man sich dort kaufen wollte. Aber irgendwann blieben sie hier
1014
/Klopft mit den Fingern auf den Tisch/ und dann gab’s auch kein Weg mehr
1015
zurück. Jetzt, dreißig, vierzig Jahre später (.) ziehen viele, die damals
1016
neunzehnhundertsiebzig, fünfundsiebzig hergekommen sind, für immer wieder
1017
zurück. [mh] Sehr spät, aber sie tun es trotzdem. [mh] Ob sie nun ’n Haus haben,
1018
mehr oder weniger, ’n Traktor [mm] (.) mehr oder weniger aber (5) diese
1019
Menschen vermissen einfach noch ihr Land, [mm] (2) was verständlich ist, also (4)
1020
sie hatten einfach die (.) einfach eine Hoffnung, ein Traum [mh] (.) was für viele
1021
dieser Menschen einfach zerplatzt is’. [mm] (.) Viele haben dann Kinder
1022
bekommen [mm] (.) Viele haben Kinder bekommen und (.) waren dann nich mehr
1023
imstande zurück zu fliegen, oder zurück zu fahren, [mh] zurück zu kehren und (.)
1024
aus zwei Jahren wurden zwanzig Jahren, [mm] wie gesagt [mm] Und das war auch
1025
der Traum meiner Mutter, eigentlich (.) ä sprich vo- meines Vaters [mm] Geld ein
1026
bisschen zur Seite zu schieben, also zur Seite zu legen, und sich dort ’n Haus
1027
kaufen, ’n kleines Haus [mh] und dort sein Leben zu leben. [mh] (.) Aber (.) es
1028
wurd dann nicht, dann kam (.) halt meine Mutter, geheiratet und (.) dann blieb man
1029
immer noch hier und dann wurden Kinder draus und [mm] die gingen denn zur
1030
Schule und irgendwann war es /Lässt die Hand auf den Tisch fallen/ (.) unmöglich
1031
[mh] (.) zurückzukehren [mh, okay] (4)
1032
I: /Blättert in seinen Notizen/ Interessant fande ich, dass das
1033
H: /Handy klingelt/ Machst du mal stopp?
1034
I: Ja Aufnahmepause Hakan telefoniert mit seinem Handy.
1035
I: Ganz kurz nur, [mh] wahrscheinlich meine letzte Frage, äm du hast erzählt
1036
irgendwann hast du in der Schule neben Robert gesessen ä und dann, unter
1037
anderem, hast du angefangen viel Literatur zu lesen
1038
H: Ja.
1039
I: Ä kannst du ein bisschen mehr davon erzählen?
1040
H: Ja, das hat sich so ergeben (.) Robert Lange (.) hat seine freie Zeit in der Schule
1041
(2) genutzt (2) um (.) Bücher zu lesen [mh] (.) oder auch nur Zeitung. [mh] (3) Das
1042
Lesen hab ich selbstverständlich beherrscht, aber dieser Drang nach (.)
1043
Informationen von einem Stück Blatt zu nehmen, [mh] (.) es war mir nich bewusst
1044
(.) also, dass das dass das auch Spaß machen kann. [mh] (.) Und (3) fast (3) alle
1045
zwei drei Wochen kam er mit’m neuen Buch wieder [mh] immer wieder und hatte
1046
sein Buch in der Pause und blätterte und las denn (2) Irgendwann fragte ich, ja,
1047
bringt dir das eigentlich Spaß? [mh] Ja, sehr sogar. Meine Freizeit- in meiner
1048
Freizeit lese ich oft sehr gerne (.) und „Herr der Ringe“ erzählte er mir, wie schön
1049
die Bücher sind und andere Bücher. (2) Und da hat er mir mal angeboten, ’n paar
1050
Bücher auszuleihen [mh] lies doch auch mal! mm? Und (.) na ja ich (.) bin jetzt
1051
immer noch nicht, der [mh] Lesefreak, aber ich greif eher zum Buch [mh] (.)
1052
mittlerweile als früher. (.) Äm (3) aber ja nachdem ich (.) zwei Bücher bekommen
1053
hatte von ihm, die er nich mehr gelesen hat und nich mehr brauchte, die hat er mir
1054
auch geschenkt gehabt äm (.) habe ich (2) ja (.) nich großes Gefallen sol- sondern
1055
(.) ich hab mich auch ein bisschen unter Druck gesetzt, ich möchte genau denselben
1056
Weg gehen wie Robert Lange [mh] (.) So (3) Es hat sich komisch angefühlt, aber
1057
ich möchte – ich habe gedacht, wenn ich dasselbe tue wie er, [mh] kann ich auch so
1058
werden wie er. [mh] (7) Ja öfters habe ich, habe ich schon (.) dann gelesen [mh]
1059
aber (.) ich wurd nie wie er. [mh] (4) Mittlerweile mag ich sehr gerne (.) Büchern
1060
rumzuwälzen [mh] (.) vor allem /schwärmerisch/ Fremdwörterbücher [mh] (.) äm
1061
aber ich (.) kann nicht sagen, dass ich jetzt (2) jeden Monat ’n Buch lese oder so
1062
[mh] kontinuierlich, [mh] es sind immer phasenweise [mh] aber das war auch so’n
1063
Ansporn [mh]
1064
I: Aber damals hast du viel gelesen, sagtest du
1065
H: Ja
1066
I: von „Homo Faber“ bis sagtest du
1067
H: Das hatte wiederum äm mit meinem Deutschunterricht zu tun [mh] da gab es
1068
äm Buchrezensionen, die wir machen mussten, (.) äm Theaterstücke haben wir
1069
gelesen, ich habe auch sehr viel Theater gespielt, nur mal so /schmunzelt/ nebenbei
1070
äm Buchrezensionen, Büchervorstellungen (.) ä (.) also der Deutschunterricht, den
1071
wir dort hatten, [mh] hat uns auch (.) indirekt gezwungen, Bücher zu lesen. [mh] (.)
1072
Mit der mit diesen beiden Anspornen, habe ich demnach angefangen öfters zum
1073
Buch zu greifen [mh] als überhaupt. [mh] (.) Und (2) ja, gefallen hat es mir dann
1074
auch (.) je mehr ich (.) gelesen hatte. (2) [okay]
1075
I: Meinst du, das hat dir geholfen in deinem Weg?
1076
H: Sehr viel [mh] für mei- meine deutsche Sprache [mh] ungemein [mh] ich bin
1077
einer der ausdrucksstärksten Sprecher, [mh] (3) die es gab in meiner Klasse [okay]
1078
(4) Ja, das ist (.) dazu zu sagen.
1079
I: Gut, okay also.
352 | A NHANG
Nach dem Interview Ich frage ihn erst einmal nach den Daten zu Eltern und Geschwistern (siehe oben). Danach frage ich ihn, wie wir mit seiner Mutter einen Termin ausmachen können. Darauf antwortet er, dass das schwierig sei, da seine Mutter kaum Deutsch spreche. Ich erkläre ihm, dass das kein Problem sei, da wir eine Kollegin haben, die Türkisch spricht, und frage, ob es in Ordnung wäre, wenn sie seine Mutter anruft. Er gibt mir dann ihre Telefonnummer. Als ich mich für das Interview bedanke, sowie dafür, dass er seine Zeit geopfert hat, sagt er, dass es im Gegenteil ihm gut getan habe, so einen ausführlichen Rückblick auf sein Leben durchzuführen. Als ich ihm die zehn Euro Mehraufwandsentschädigung anbiete, erwidert er, dass es nicht nötig sei. Erst als ich ihm erkläre, dass ich sie nicht aus der eigenen Tasche zahle, steckt er das Geld doch ein. Subjektive Notizen Bei dem ersten Telefonat mit Hakan war ich sehr angenehm überrascht über seine schnelle Zusage. Ich hatte kaum einen Satz über das Projekt gesagt, bevor er mich mit seiner affirmativen Antwort unterbrach. Ich war etwas enttäuscht, als er zu unserem ersten Termin nicht kam, doch als ich ihn dann anrief, schien mir, dass ihm sein Versehen richtig unangenehm war. Ich hatte den Eindruck, dass er unser Forschungsprojekt sehr ernst nahm und als sehr wichtig empfand und dass seine Teilnahme für ihn eine Art bürgerliche Pflicht war, die er auch gewissenhaft erfüllen wollte.
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