Bildung und Biographie: Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung [1. Aufl.] 9783839417911

Die erziehungswissenschaftliche Diskussion um das Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung wird zwar ambitio

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Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
Einleitung
I. SKEPTISCH-DISKURSIVES
1 Bildungstheorie und Bildungsforschung in der Gegenwart – Konturen eines ambivalenten Verhältnisses
1.1 Bildungstheorie und Bildungsforschung als Diametralitätsverhältnis
1.1.1 Reaktionen auf pädagogische Versäumnisse
1.1.2 Konsolidierungsverluste
1.1.3 Abwege und Kontroversen
1.1.4 Dauerhafte Animositäten
1.2 Bildungstheorie und Bildungsforschung als Komplementaritätsverhältnis
1.2.1 Innerdisziplinäre Strukturierungsmaßnahmen
1.2.2 Bildungssemantische Neubelebungen
1.2.3 Annäherungsarenen im Kontext qualitativer Forschung
2 Vermittlung – Die Programmatik der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung
2.1 Die Auslegung lebensgeschichtlicher Bildungsprozesse in hochkomplexen Gesellschaften: Der Ansatz von Winfried Marotzki
2.2 Die rhetorische Analyse biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne: Der Ansatz von Hans-Christoph Koller
2.3 Die Erforschung geschlechtskonstruierender Bildungsprozesse zwischen Moderne und Postmoderne: Der Ansatz von Heide von Felden
2.4 Die empirische Rekonstruktion spontaner Bildungsprozesse in individuellen und kollektiven Handlungspraktiken: Der Ansatz von Arnd-Michael Nohl
2.5 Befunde zur Programmatik der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung – Einordnungen und Weiterführungen
II. QUALITATIV-EMPIRISCHES
3 Lebensgeschichtliche Erzählungen und ›Bildungsgestalten‹ – Biographie- und bildungstheoretische Markierungen
3.1 Biographietheoretische Annäherungen
3.1.1 Lebensgeschichten als artikulierte Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse
3.1.2 Biographische Bewusstheit und narrative Konstruktion
3.1.3 Topoi lebensgeschichtlicher Erzählungen
3.2 Bildungstheoretische Schärfungen
3.2.1 Aufgabenhafter Entwicklungsgang
3.2.2 Befragende Nachdenklichkeit
3.2.3 Problematisierender Vernunftgebrauch
3.3 Eine Synopsis der biographieund bildungstheoretischen Markierungen
4 Design und Methode – Zur biographie- und bildungstheoretischen Analyse von lebensgeschichtlichen Erzählungen Jugendlicher
5 Rekonstruktion und Interpretation – Lebensgeschichtliche Erzählungen Jugendlicher in biographie- und bildungstheoretischer Absicht
5.1 »Ich empfinde das nicht als Grund einen Glauben anzunehmen« – der 18-jährige Marc
5.1.1 ›Du-Bezogenheit‹ – die zentrale Bedeutung der Mutter im Leben Marcs
5.1.2 Der Versuch einer Wertsteigerung des eigenen Ich und die Erwägung, soziale Anerkennung durch eine religiöse Konversion zu erfahren
5.1.3 Das Bedürfnis nach Freundschaft und die Überwindung sozialer Exklusion als biographisches Projekt
5.1.4 Zusammenfassende Betrachtungen: Die Bedeutsamkeit der Selbstverhältnisse in der ›Bildungsgestalt‹ Marcs
5.2 »Hab ich auch mit meinen Eltern darüber geredet und gefragt warum sie nich ma irgendwie im Urlaub mit meiner Schwester geredet haben« – die 17-jährige Natalie
5.2.1 Das Erleben von Emotionalität und der Wunsch des Aufwachsens in ›intakten‹ Familienverhältnissen
5.2.2 Selbsttätigkeit und das ›Management‹ familialer Sozialbeziehungen
5.2.3 Das Erkennen von Zusammenhängen und die Suche nach ›Wahrheit‹
5.2.4 Zusammenfassende Betrachtungen: Die Bedeutsamkeit der Fremdverhältnisse in der ›Bildungsgestalt‹ Natalies
5.3 »Was ich eigentlich am liebsten machen möchte is eigentlich der Tierschutz« – die 19-jährige Sonja
5.3.1 Die Übernahme der Werte des gleichaltrigen Vorbildes und die Faszination des Außeralltäglichen im Rahmen szenespezifischer Aktivitäten
5.3.2 Momente des Transzendierens und die Verarbeitung von Verlusten
5.3.3 Die Formulierung von Sinnfragen und der Einsatz für den Tierschutz
5.3.4 Zusammenfassende Betrachtungen: Die Bedeutsamkeit der Weltverhältnisse in der ›Bildungsgestalt‹ Sonjas
6 Ich, Andere und Welt – Die vergleichende Analyse der ›Bildungsgestalten‹ und die Rückbindung an die Befunde zur Programmatik der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung
6.1 ›Bildung‹ und Biographie in dreifacher Verhältnisbestimmung
6.2 ›Bildung‹ in Biographischem jenseits von Wandlungsprozessen
Ausblick: Bildungstheorie, Bildungsforschung und die Programmatik der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung – neue Perspektiven und alte Probleme
Literaturverzeichnis
Namenverzeichnis
Anhang
Überblick über die Interviewpartnerinnen und -partner
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
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Bildung und Biographie: Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung [1. Aufl.]
 9783839417911

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Thorsten Fuchs Bildung und Biographie

Pädagogik

Thorsten Fuchs (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der JustusLiebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Bildungstheorie, Qualitative Biographie- und Bildungsforschung sowie pädagogische Jugendforschung.

Thorsten Fuchs

Bildung und Biographie Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung

Gießener Dissertation im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Thorsten Fuchs Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1791-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung | 9 Einleitung | 11

I. S KEPTISCH-DISKURSIVES 1

Bildungstheorie und Bildungsforschung in der Gegenwart – Konturen eines ambivalenten Verhältnisses | 31

1.1 Bildungstheorie und Bildungsforschung als Diametralitätsverhältnis | 36 1.1.1 Reaktionen auf pädagogische Versäumnisse | 37 1.1.2 Konsolidierungsverluste | 44 1.1.3 Abwege und Kontroversen | 47 1.1.4 Dauerhafte Animositäten | 52 1.2 Bildungstheorie und Bildungsforschung als Komplementaritätsverhältnis | 57 1.2.1 Innerdisziplinäre Strukturierungsmaßnahmen | 60 1.2.2 Bildungssemantische Neubelebungen | 70 1.2.3 Annäherungsarenen im Kontext qualitativer Forschung | 77 2

Vermittlung – Die Programmatik der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung | 85

2.1 Die Auslegung lebensgeschichtlicher Bildungsprozesse in hochkomplexen Gesellschaften: Der Ansatz von Winfried Marotzki | 93 2.2 Die rhetorische Analyse biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne: Der Ansatz von Hans-Christoph Koller | 114 2.3 Die Erforschung geschlechtskonstruierender Bildungsprozesse zwischen Moderne und Postmoderne: Der Ansatz von Heide von Felden | 138 2.4 Die empirische Rekonstruktion spontaner Bildungsprozesse in individuellen und kollektiven Handlungspraktiken: Der Ansatz von Arnd-Michael Nohl | 158 2.5 Befunde zur Programmatik der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung – Einordnungen und Weiterführungen | 180

II. QUALITATIV-EMPIRISCHES 3

Lebensgeschichtliche Erzählungen und ›Bildungsgestalten‹ – Biographie- und bildungstheoretische Markierungen | 191 3.1 Biographietheoretische Annäherungen | 194

3.1.1 Lebensgeschichten als artikulierte Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse | 195 3.1.2 Biographische Bewusstheit und narrative Konstruktion | 201 3.1.3 Topoi lebensgeschichtlicher Erzählungen | 205 3.2 Bildungstheoretische Schärfungen | 210 3.2.1 Aufgabenhafter Entwicklungsgang | 216 3.2.2 Befragende Nachdenklichkeit | 229 3.2.3 Problematisierender Vernunftgebrauch | 248 3.3 Eine Synopsis der biographieund bildungstheoretischen Markierungen | 254 4

Design und Methode – Zur biographie- und bildungstheoretischen Analyse von lebensgeschichtlichen Erzählungen Jugendlicher | 265

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Rekonstruktion und Interpretation – Lebensgeschichtliche Erzählungen Jugendlicher in biographie- und bildungstheoretischer Absicht | 279

5.1 »Ich empfinde das nicht als Grund einen Glauben anzunehmen« – der 18-jährige Marc | 280 5.1.1 ›Du-Bezogenheit‹ – die zentrale Bedeutung der Mutter im Leben Marcs | 284 5.1.2 Der Versuch einer Wertsteigerung des eigenen Ich und die Erwägung, soziale Anerkennung durch eine religiöse Konversion zu erfahren | 291 5.1.3 Das Bedürfnis nach Freundschaft und die Überwindung sozialer Exklusion als biographisches Projekt | 298 5.1.4 Zusammenfassende Betrachtungen: Die Bedeutsamkeit der Selbstverhältnisse in der ›Bildungsgestalt‹ Marcs | 307 5.2 »Hab ich auch mit meinen Eltern darüber geredet und gefragt warum sie nich ma irgendwie im Urlaub mit meiner Schwester geredet haben« – die 17-jährige Natalie | 312 5.2.1 Das Erleben von Emotionalität und der Wunsch des Aufwachsens in ›intakten‹ Familienverhältnissen | 315

5.2.2 Selbsttätigkeit und das ›Management‹ familialer Sozialbeziehungen | 321 5.2.3 Das Erkennen von Zusammenhängen und die Suche nach ›Wahrheit‹ | 329 5.2.4 Zusammenfassende Betrachtungen: Die Bedeutsamkeit der Fremdverhältnisse in der ›Bildungsgestalt‹ Natalies | 336 5.3 »Was ich eigentlich am liebsten machen möchte is eigentlich der Tierschutz« – die 19-jährige Sonja | 340 5.3.1 Die Übernahme der Werte des gleichaltrigen Vorbildes und die Faszination des Außeralltäglichen im Rahmen szenespezifischer Aktivitäten | 345 5.3.2 Momente des Transzendierens und die Verarbeitung von Verlusten | 352 5.3.3 Die Formulierung von Sinnfragen und der Einsatz für den Tierschutz | 361 5.3.4 Zusammenfassende Betrachtungen: Die Bedeutsamkeit der Weltverhältnisse in der ›Bildungsgestalt‹ Sonjas | 368 6

Ich, Andere und Welt – Die vergleichende Analyse der ›Bildungsgestalten‹ und die Rückbindung an die Befunde zur Programmatik der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung | 375 6.1 ›Bildung‹ und Biographie in dreifacher Verhältnisbestimmung | 376 6.2 ›Bildung‹ in Biographischem jenseits von Wandlungsprozessen | 384 Ausblick: Bildungstheorie, Bildungsforschung und die Programmatik der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung – neue Perspektiven und alte Probleme | 393 Literaturverzeichnis | 399 Namenverzeichnis | 433 Anhang | 439

Überblick über die Interviewpartnerinnen und -partner | 439 Abbildungsverzeichnis | 439 Tabellenverzeichnis | 440

Vorbemerkung »Die Überzeugung, daß wir die Probleme der Bildung des Menschen je lösen werden und daß es ausgerechnet die Wissenschaft sei, die die Lösung beschert, ist ziemlich naiv. Aber wir kommen nicht umhin, nach Lösungen zu suchen.« (FISCHER 1980: 10)

Die Anfertigung einer Dissertation stellt über weite Strecken ein Großprojekt dar, bei dem man auf sich allein gestellt ist und Entscheidungen mit sich selbst auszumachen hat. Der erforderliche hohe individuelle Einsatz bringt wohl gerade deshalb auch immer wieder Einsichten in die Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Könnens und Wollens hervor. Und obwohl die Anfertigung einer Dissertation zunächst und zumeist im Rahmen von solchen persönlichen Auseinandersetzungen erfolgt, ist sie doch auch eingebunden in die individuellen Fremd- und Weltverhältnisse, die förderlich oder auch erschwerend wirken können. In meinem Fall überwogen glücklicherweise die förderlichen Bedingungen. An dieser Stelle möchte ich daher denen danken, von denen ich in den letzten Jahren vielfältige Unterstützung erfahren habe. Mein besonderer Dank gilt Frau Prof. Dr. Jutta Ecarius, die mir als Betreuerin meiner Arbeit in Gießen jede akademische Freiheit ließ und mich in meinen wissenschaftlichen Bestrebungen immer unterstützte. Herrn apl. Prof. Dr. Andreas Poenitsch danke ich für das fortwährende Interesse und den inspirierenden Zugriff auf den von mir bearbeiteten pädagogischen Problemzusammenhang. Daneben möchte ich Frau Prof. Dr. Reinhilde Stöppler und Herrn Prof. Dr. Ludwig Stecher für die Mitwirkung in der Prüfungskommission und ihre Beiträge zu einem angenehmen Prüfungsverfahren danken.

10 | BILDUNG UND BIOGRAPHIE

Meinem Kollegen Dr. Nils Köbel bin ich für seine analytischen Kommentare zu meinen qualitativ-empirischen Analysen dankbar. Ich habe von den intensiven Gesprächen sehr profitiert und hoffe, in der weiteren Zusammenarbeit ein wenig von dem Empfangenen zurückgeben zu können. Alena Berg und Katja Franke haben mich in den regelmäßigen Treffen unserer Interpretationswerkstatt auf viele anregende Ideen gebracht. Ihnen wie auch allen anderen Kolleginnen und Kollegen der Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogik des Jugendalters danke ich zudem sehr herzlich für die erhaltene Anerkennung und die erfahrene Motivation. Ein förderliches Umfeld der kritisch-konstruktiven Auseinandersetzung und interdisziplinären Diskussion habe ich mit meiner Dissertation auch im Rahmen der Angebote und Strukturen des Gießener Graduiertenzentrums Kulturwissenschaften (GGK) gefunden. Dafür danke ich insbesondere den (Post-)Doktorandinnen und Doktoranden der Sektion „Bildung, Erziehung, Sozialisation“ und freue mich auf die Fortsetzung der gemeinsamen Arbeit. Meiner Schwester sowie Karola Dorn danke ich für ihr aufmerksames Lesen von Teilen des Manuskripts. Christophe Lerch gilt mein Dank für die Mithilfe bei der Erstellung der vorliegenden Druckfassung. Meinen Eltern danke ich für die uneingeschränkte Unterstützung über meine gesamte Ausbildung hinweg. Ohne sie wäre mehr als nur die vorliegende Arbeit nicht möglich gewesen. Schließlich danke ich meiner Frau. Ihre konstanten Ermutigungen, hilfreichen Anregungen und unterhaltenden Ablenkungen haben mir die Kraft gegeben, das Großprojekt zum Abschluss zu bringen.

Thorsten Fuchs Gießen, im Frühjahr 2011

Einleitung

Bildungsdebatten beschäftigen sich zumeist mit solchen Fragen, denen es um die Bestimmung und den Sinn von ›Bildung‹ geht. Das geschieht z.B. in Form der Frage: Was ist ›Bildung‹, und welche Bedeutung kommt ihr unter den vorherrschenden gesellschaftlichen Bedingungen zu? Als Antworten werden hierauf dann im weitesten Sinne kategoriale Erläuterungen vorgelegt, etwa wenn es heißt, dass ›Bildung‹ die Ausstattung eines Menschen zur erfolgreichen Bewältigung künftiger Lebenssituationen sei oder sie in einem rohstoffarmen Land diejenige Ressource darstelle, die die Wettbewerbsfähigkeit in einer Wissensgesellschaft sichere und der daher eine äußerst wichtige soziale Bedeutung beizumessen sei. Neben solchen inhaltlichen Charakterisierungen von ›Bildung‹ – seien sie nun in ihren Ausführungen als berechtigt anzusehen oder auch nicht – lässt sich in erziehungswissenschaftlichen Diskussionszusammenhängen seit einigen Jahren bereits eine Fragerichtung ausmachen, die nicht die ›Was-ist‹-Ebene fokussiert und zuvörderst sagt, was ›Bildung‹ ist oder sein soll, sondern in den Blick nimmt, wie ›Bildung‹ überhaupt möglich werden kann. Wenngleich eine solche Fragerichtung freilich auch an die inhaltliche Bestimmung von Bildung gebunden ist, plädiert sie für einen Perspektivenwechsel, der den Bildungsdiskurs vom Niveau hoher und gleichsam abstrakter ›Feierlichkeit‹ auf die Ebene des Konkreten holt und zu klären versucht, wie die Beschreibungen zum Bildungsbegriff wirklich werden können. Es geht dieser Fragerichtung also darum, die konkreten Bedingungen von Bildungsprozessen aufzuklären und empirische Anschlüsse des bildungstheoretischen Denkens herzustellen. Die hierbei im Mittelpunkt stehende Frage heißt dann: »Wie ist Bildung möglich?« (Miller-Kipp 1992; Tenorth 2003; Wigger 2009), und genau um eine solche Vergegenständlichung bzw. ›Empirisierung‹ des Bildungsdiskurses geht es, wenn beispielsweise angemahnt wird, dass die Erziehungswissenschaft nicht immer wieder zu beschwören habe, was Bildung sein solle, sondern auf Basis eines eigens generierten Forschungsprogramms zu untersuchen habe, auf welche Weise etwa Erzie-

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hungsprozesse konkret zur Möglichkeit von ›Bildung‹ beitragen können (vgl. Tenorth 1988: 242). Sie tritt auch dann hervor, wenn die Fokussierung auf sich faktisch vollziehende Bildungsprozesse für die Theorie der Bildung als unabdingbar ausgewiesen wird, sofern diese sich nicht mit der Propagierung einer bloßen »Postulatepädagogik« (Gruschka 1992: 357) begnügen will; die Formulierung wirklichkeitsfremder Ziele hat die Bildungstheorie demnach zu vermeiden (vgl. Koller 2002: 93). Schließlich leuchtet die ›Empirisierung‹ des Bildungsdiskurses auch dann auf, wenn darauf hingewiesen wird, dass es nicht sinnvoll sein könne, von einer ›Bildung‹ zu reden, sie zu fordern und fördern zu wollen, die man aber letztendlich für nicht fassbar und nicht messbar halte (vgl. Heid 2004: 460). So ist es die empirisch unaufgeklärte Genese von ›Bildung‹, die als dringliches Problem angesprochen und deren Bearbeitung über die Erzeugung eines auf sie gerichteten empirischen Forschungswissens eingefordert wird. In diesem Verständnis gilt es daher auch als zentrale und zeitgemäße Aufgabe der Erziehungswissenschaft, den Bildungsbegriff empirisch zu unterlegen und die bildungstheoretische Reflexion mit der Erforschung von Bildungsprozessen so zu verbinden, dass eine ›Verknüpfung‹ von Theorie und Empirie realisiert wird. Überlegungen, die eine solche Kombination aus bildungstheoretischem Räsonnement und empirisch-bildungsbezogenem Forschen mit Vehemenz stark machen und ihr Fehlen im Kernbestand der gegenwärtigen Ausrichtung der Erziehungswissenschaft monieren, mögen auf den ersten Blick vielleicht verwunderlich erscheinen. Gehören Theorie und Empirie in einer wissenschaftlichen Disziplin nicht zusammen? Ist es nicht gerade beim Thema ›Bildung‹ erforderlich, Theorie und Empirie in einen Verweisungszusammenhang zu bringen, damit einerseits Reflexionen zur ›Bildung‹ gesellschaftliche Relevanz erlangen und andererseits empirische Phänomene im Zusammenhang von ›Bildung‹ auch angemessen gedeutet werden können? Was aus dem Blickwinkel der Alltagswelt oder auch aus dem einiger anderer Disziplinen eine Selbstverständlichkeit darstellen mag, gestaltet sich in der Pädagogik zuweilen schwieriger – oder in anderen Worten: »Mit dem Verhältnis von Theorie und Erfahrung in der Pädagogik stimmt etwas nicht.« (Ruhloff 1983a: 419) Das wird schon bei einem kurzen Blick auf die jüngere Geschichte des Fachs augenscheinlich. Denn seit der Entstehung eines Forschungskonglomerats, das es sich unter dem Namen ›Bildungsforschung‹ zur Aufgabe gemacht hat, pädagogische Sachverhalte und Fragen konsequent mit empirischen Methoden zu bearbeiten, um so zu Fakten einer ›Bildungswirklichkeit‹ zu gelangen, gilt das Verhältnis von jenen empirisch basierten Zugängen und solchen, die Pädagogisches mit philosophisch-bildungstheoretischen Analysen verfolgen, als gespannt (vgl. Ingenkamp 1983). Beide

E INLEITUNG

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Bereiche treten als zwei unterschiedliche wissenschaftliche Zugänge mit je eigenen Verfahrensweisen und Rationalitäten in Erscheinung, die sich abgesehen vom gemeinsamen Bestimmungswort und einer im weitesten Sinne auf pädagogische Fragestellungen ausgerichteten Orientierung kaum durch Gemeinsamkeiten auszeichnen. Stattdessen ist es vielmehr die Verschiedenartigkeit beider Bereiche, die auffällt. Deutliche Abgrenzungsbedürfnisse prägen deshalb auch das Bild von Bildungstheorie und Bildungsforschung und finden ihren Niederschlag in der bildungstheoretischen Kritik an der Bildungsforschung sowie der Distanzierung der Bildungsforschung von bildungstheoretischen Reflexionen. Betrachtet man die disziplinäre Entwicklung der Erziehungswissenschaft in Deutschland seit den Nachkriegsjahren, dann treten diese Distanzierungen und Spannungen zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung bereits in den 1960er und 1970er Jahren klar hervor. Es ist die Zeit der Umbrüche in der wissenschaftlichen Pädagogik, die den Status bildungstheoretischen Denkens unsicher werden lässt und zugleich die Entthronung der Allgemeinen Pädagogik mitsamt der von ihr verwalteten Bildungstheorie nach sich zieht. Denn die bis dato zwar nicht unbedingt homogene, aber aus der Beschäftigung mit Bildungstheorie und Erziehungsphilosophie heraus gestaltete disziplinäre Identität der Pädagogik zerbricht in den Wirren des Positivismusstreits endgültig, nachdem sie seit der Wiederaufnahme der geisteswissenschaftlicher Theoriebestände ab 1945 bereits zunehmend fragil wurde (vgl. Vogel 1997a: 65). Es sind nun harte empirische Fakten und deren Aufspüren in der Bildungswirklichkeit, die in einer empirisch ausgerichteten Erziehungswissenschaft zählen und die die neue Deutungshoheit bilden. Auch anschließend unter den pädagogischen Adaptionen der Kritischen Theorie und der damit verbundenen Eindämmung der empirischen Erziehungswissenschaft kann das ›Proprium‹ der Pädagogik nicht wieder aus der Bildungstheorie heraus begründet werden, zumal der innerdisziplinäre Siegeszug der kritisch-emanzipatorischen Erziehungswissenschaft durch die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung vorangetrieben wurde (vgl. ebd.). Auf dem Rücken dieser Entwicklungen hat in den vergangenen vierzig bis fünfzig Jahren die Bildungsforschung einen rasanten Aufstieg errungen, indem sie über die bisherigen Aufgaben wissenschaftlicher Pädagogik hinaus Voraussetzungen und Möglichkeiten von Bildungs- und Erziehungsprozessen im institutionellen und gesellschaftlichen Kontext untersucht und damit dem steigenden Bedarf an wissenschaftlichen Informationen für eine rationale Begründung bildungspolitischer und bildungspraktischer Entscheidungen nachkommt. Als Systematisierung und Methodisierung der Beobachtung von Entwicklungen im Bildungswesen wurde Bildungsforschung damit Teil des »wissenschaftlichen Bemühens, das Werden des Menschen unter jeweiligen soziokulturellen Bedingun-

14 | BILDUNG UND BIOGRAPHIE

gen […] in seiner Faktizität zu untersuchen« (Fend 1990: 694). In diesem primär auf Beschreibung und Erklärung gesellschaftlicher Bedingungen und Zusammenhänge ausgerichteten Wissenschaftszweig hatten die bis dahin dominierenden pädagogischen Theorien und Begriffe jedoch keinen Platz, und »in dem neuen sozialwissenschaftlich konturierten Verständnis von Bildungsprozessen schienen Bildungstheorie und Bildungsbegriff zunächst keine Rolle mehr zu spielen« (Ehrenspeck 2004: 67). Mit ihren Erkenntnissen zur sozialen Ungleichheit im Bildungssystem, die in den 1960er Jahren mittels soziographischer Studien zur Bildungsbeteiligung erlangt und etwa von Hans-Günter Rolff (1967) aussagekräftig gebündelt wurden, widersprach die Bildungsforschung sogar der »Idee der formal gleichen Bildungschancen, also der allgemeinen Möglichkeit des Individuums, eine seiner individuellen Eignung und Neigung entsprechende Bildung zu erwerben« (Tippelt 1998: 242); einer Auffassung also, die seit der Blütezeit bildungstheoretischer Theoriebildung kaum in Frage gestellt wurde. Mit dem Einzug der zuerst außeruniversitär platzierten Bildungsforschung in die Universitäten ist auch die Fokussierung auf bildungstheoretische Reflexionen, die bis dahin durchaus als das Zentrum der Pädagogik angesehen wurden, bisweilen gänzlich aufgegeben und der Bildungsbegriff wegen seiner Herkunft und seiner mangelnden ›Empiriefähigkeit‹ durch so genannte »theoretische Äquivalente« (Hansmann 1988), d.h. durch psychologische und soziologische Begriffe wie Lernen, Identität, Qualifikation oder auch durch Personalisation und insbesondere Sozialisation zu ersetzen versucht worden. So beschreibt etwa Herwig Blankertz aus dieser Zeit heraus den schwierigen Stand, den der Begriff ›Bildung‹ im zeitgenössischen pädagogischen Diskurs der 1960er und vor allem 70er Jahre besaß: »Gegenwärtige Versuche, in der wissenschaftlichen Diskussion den Bildungsbegriff gänzlich zu vermeiden, sind doppelt motiviert: einerseits geht es Vertretern einer streng erfahrungswissenschaftlich-positivistischen Konzeption von Pädagogik darum, alle Begriffe mit Wertbezügen – und ›Bildung‹ gehört zweifellos dazu – auszuschließen und in den Bereich der Ideologie […] abzudrängen. Andererseits steht heute jeder auf Bildung bezogene Begründungszusammenhang unter dem Ideologieverdacht der kritischen Sozialwissenschaft […], das heißt unter dem Verdacht, durch Transzendierung der Wirklichkeit von den vorgegebenen Verhältnissen abzulenken und diese eben dadurch zu rechtfertigen, so daß der Verzicht auf den Bildungsbegriff auch für nichtpositivistische Positionen zumindest entlastend erscheinen kann.« (Blankertz 1974: 65)

Der Versuch, das Wort ›Bildung‹ in der pädagogischen Fachsprache zu vermeiden, blieb allerdings erfolglos, sodass es mit der stetigen Ausbreitung der empi-

E INLEITUNG

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rischen Erforschung des Bildungswesens nicht zur vollständigen Auflösung von Bildungsbegriff und -theorie gekommen ist, sondern diese gleichwohl ihren Platz im Gesamtgefüge erziehungswissenschaftlicher Themen finden und festmachen konnten. Allerdings hat seitdem ein nicht unerheblicher Gestaltwandel wissenschaftlicher Pädagogik stattgefunden, sodass es angesichts von disziplinären Neuvermessungen wohl auch als unstrittig angesehen werden dürfte, dass seit den 1960er Jahren die bildungstheoretische Perspektive insofern an Bedeutung verloren hat, als sie allmählich durch eine sozialwissenschaftliche Forschungsorientierung überlagert wurde. Dass das Thema ›Bildungsforschung‹ inzwischen in aller Munde ist, das Profil zahlreicher erziehungswissenschaftlicher Abteilungen prägt und schon längst nicht mehr nur mit den institutionellen Vorreitern dieses Forschungskonglomerats identifiziert wird, kann insofern auch als ein Syndrom dieser Veränderungen verstanden werden, die keineswegs die Erscheinungsweisen einer »stillen Revolution« (Baumert/Roeder 1994) haben. Ausweitungen der Bildungsforschung präsentieren sich nämlich nicht als eine auf leisen Sohlen daherkommende Expansion dieses Forschungsfeldes, sondern haben zu gleichsam unüberhörbaren Neuregulierungen der Erziehungswissenschaft geführt und hierbei eine Situation geschaffen, in der Bildungstheorie und Bildungsforschung gegenwärtig auch in nicht-sachlichen Belangen miteinander konkurrieren. Konkurriert wird auch um die disziplinäre Reputation, das finanzielle Budget und personale Ressourcen, wobei es die ›traditionelle Pädagogik‹ in Gestalt der Bildungstheorie ist, die hier ins Hintertreffen zu geraten scheint und die es bei aller Ubiquitätseuphorie in Sachen ›Bildungsforschung‹ sowohl in disziplinimmanenten als auch in öffentlichen Diskursen zunehmend schwerer hat, Anerkennung für ihre Leistungen zu finden. Etliche pädagogische Institute haben derweil – will man es drastisch ausdrücken und sich dem Wortlaut der einschlägigen Kritiker an dieser Entwicklung anschließen – gerade auch durch Umwidmungen von Hochschullehrerstellen den skizzierten Paradigmenwechsel zu ›spüren‹ bekommen (vgl. z.B. Ruhloff 2005: 382f.; Gruschka 2008 und 2006: 141; Poenitsch 2008: 54ff.). Bliebe es bei diesem skizzierten Bild, dann wäre zwar deutlich, warum sich die Pädagogik mit der Verbindung von Theorie und Empirie auf dem Gebiet der ›Bildung‹ schwer tut, ihre jüngere Geschichte würde allerdings nur einseitig gelesen und eine andere – dieser ersten Entwicklung zuwiderlaufende – Lesart verschwiegen werden. Es ist diese anders ausgerichtete Lesart, die eine Verbindung von Bildungstheorie und Bildungsforschung nun nämlich nicht in weite Ferne rückt, sondern in den Bereich des Möglichen ›katapultiert‹. Möglich ist eine solche Verbindung nun gerade deshalb, weil es trotz des Bedeutungsverlusts bildungstheoretischen Denkens nicht zu seiner Auflösung gekommen ist, sondern

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etwa seit dem Beginn der 1980er Jahre eine Renaissance der Bildungssemantik und eine Regeneration bildungstheoretischer Überlegungen zu verzeichnen sind. In diesem Zusammenhang lässt sich sogar von einer ›Rephilosophisierung‹ der erziehungswissenschaftlichen Kommunikation sprechen und verdeutlichen, wie neben dem Bildungsbegriff auch andere philosophisch fundierte Begriffe seit den 1980er Jahren eine Konjunktur erleben (vgl. Stroß/Thiel 1998). Nach der Phase der Deszendenz von Bildungsbegriff und Bildungstheorie, die mit dem Aufkommen der Bildungsforschung und der Ausbreitung empirisch-pädagogischer Forschung einsetzte, kann seitdem wieder eine stärkere Besinnung auf den einstmaligen pädagogischen Leitbegriff festgestellt und so ein Bedeutungsgewinn bildungstheoretischer Überlegungen in den erziehungswissenschaftlichen Diskussionen ausgemacht werden. ›Bildung‹, so wird diese Entwicklung zumeist gedeutet, scheint bei aller Verschiedenheit der jeweiligen Verwendungsweisen als zentrale Orientierungskategorie für die pädagogische Reflexion doch in bestimmter Hinsicht unverzichtbar zu sein und hat sich daher in erstaunlicher Weise auch im pädagogischen Milieu als leitender Begriff rehabilitiert (vgl. Tenorth 1997a: 970). Dabei macht gerade auch der Versuch einer Ersetzung des Bildungsbegriffs durch theoretische Äquivalente deutlich, dass mit ›Bildung‹ etwas bezeichnet ist, wovon das pädagogische Denken nicht ohne Weiteres ablassen kann, will es nicht einen Großteil seiner geschichtlich aufgebrachten Themenbereiche und seines vorhandenen Reflexionsniveaus verwerfen.1 Denn – so erneut

1

Umfassend mit der Renaissance der Bildung befasst sich die zweibändige Herausgeberschrift »Diskurs Bildungstheorie« (Hansmann/Marotzki 1988a und 1989). Als Indikatoren zur Untermauerung der These der wiedererlangten Bedeutung von Bildungsbegriff und Bildungstheorie sprechen aber auch die seit 1989 von Winfried Marotzki und Otto Hansmann betreute Publikationsreihe »Schriften zur Theorie und Philosophie der Bildung«, die von der DGfE-Kommission für Bildungs- und Erziehungsphilosophie herausgegebene gleichnamige Schriftenreihe sowie die Befunde von Ehrenspeck/Rustemeyer 1997, Rustemeyer 1997: 109ff. und Koller 1999a: 11ff. Eine »Unerlässlichkeit der Bildung« betont u.a. auch Theodor Ballauff (1993), und das auch und gerade zu Zeiten der Randständigkeit der Bildungssemantik. Denn so sinnvoll und wichtig Qualifikation und Sozialisation auch sind, läuft doch die Beschränkung auf diese auf die Gefahr hinaus, die Freigabe eines jeden Menschen zur ›Selbständigkeit im Denken‹ aus den Augen zu verlieren und damit das zu unterschlagen, was Einsicht und Umsicht in eine Welt ermöglicht, in der als Mensch gelebt, die gestaltet und die verantwortet wird (vgl. Ballauff 1993: 5). Dennoch gibt es bis heute immer wieder Ambitionen, die Verzicht- oder Substituierbarkeit des Bildungsbegriffs zu demonstrieren. Vgl. etwa die Versuche von Lenzen 1997 und Masschelein/Ricken

E INLEITUNG

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Herwig Blankertz (1974: 66) – »der Sachverhalt selber, wie unterschiedlich er auch immer gefaßt und bewertet wird, verlangt seine Beschreibung und mit ihr das Wort, in dem er begriffen ist«. Daher wird auch auf die Argumentationen klassischer und moderner Bildungstheorien häufig wieder positiv Bezug genommen, obgleich inhaltlich gesehen die Regeneration von Bildungsbegriff und Bildungstheorie keine bruchlose Aufnahme traditioneller Theoriebestände darstellt. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Transformationsprozessen in technologischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht ist vielmehr eine Novellierung und Neukonturierung im Bildungsdenken auszumachen, die einige der zentralen Momente der Kritik am Bildungsbegriff berücksichtigt. Neben den Versuchen, einen Begriff von ›Bildung‹ zu generieren, der zwar einerseits an traditionelle Bestimmungen anknüpft, sich aber andererseits von deren Normativität zu lösen versucht, gehört dazu im Wesentlichen die Anbindung des Bildungsdenkens an erfahrungswissenschaftliche Analysen und die Anerkennung methodisch kontrollierter Datengewinnung als rechtmäßiges Instrumentarium zur Bearbeitung aktueller pädagogischer, d.h. hier bildungstheoretischer Frageund Problemstellungen (vgl. Tenorth 1990).2 In dieser ambivalenten Situation, in der es auf der einen Seite eindeutige Hinweise für eine Marginalisierung traditioneller Pädagogik bildungstheoretischen Zuschnitts gibt, auf der anderen Seite aber zugleich eine – wenn auch mitunter modifizierte – Fortführung eben jenes geistigen Erbes der Pädagogik auszumachen ist, gewinnt die Frage einer angemessenen Relationierung von Bildungstheorie und Bildungsforschung an beachtenswerter Aktualität und steht auf der Agenda erziehungswissenschaftlicher Problemlagen. Wenn und insofern nämlich die für eine zeitgemäße Erziehungswissenschaft als so notwendig begriffenen empirischen Anschlüsse in bildungstheoretischen Betrachtungen bislang noch keineswegs hinreichend erfüllt sind und der Bildungsbegriff sich zugleich als so bedeutsam erwiesen hat, dass ohne ihn die wissenschaftliche Pädagogik als unvollkommen erlebt wird, dann bleibt in der Konsequenz kein anderer Weg übrig, als zu versuchen, Bildungstheorie und Bildungsforschung aufeinander zu beziehen und den möglichen Problematiken einer solchen Verbindung Herr zu werden – so wird es zumeist häufig gesehen und mit einigem Recht begründet.

2003, die aus einer system- bzw. intersubjektivitätstheoretischen Sichtweise heraus, Bildung ihre Geltung abzuerkennen bzw. sie als entbehrlich auszuweisen versuchen. 2

Zu diesen Versuchen siehe des Weiteren Marotzki 1996, Koch/Marotzki/Schäfer 1997 sowie Peukert 2000. In eine andere Richtung weisen hierbei die Überlegungen von Wigger 1996.

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Nun sind solche Sichtweisen allerdings keineswegs eine Neuentdeckung gegenwärtiger erziehungswissenschaftlicher Diskussionen, auch wenn sie derzeit eine neue Dringlichkeit zu erfahren scheinen. Versuche, die es sich zur Aufgabe machen, »Bildungstheorie empirisch anschlussfähig zu reformulieren, um damit eine Anbindung der Bildungstheorie an sozialwissenschaftliche Forschung zu garantieren« (Ehrenspeck 2002: 142), sind im erziehungswissenschaftlichen Diskurs nämlich bereits seit den 1980er Jahren vorhanden und werden seitdem auch immer wieder zum Thema gemacht.3 So ist eine »Einbeziehung empirischen

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Siehe hierzu exemplarisch: Tenorth 1988, Vogel 1991, Miller-Kipp 1992, Sünker 1996, Loeber 1996 und 1997, Tenorth 1997a, Tippelt 1998, Ehrenspeck 2002, Garz/ Blömer 2002, Zedler 2002, Gruschka 2004 und 2006, Sailer 2007, Benner 2008 und Schluß 2010. Überlegungen, die eine Kombination von Bildungstheorie und Bildungsforschung verfolgen, sind in den 1970er Jahren auch schon von dem Soziologen Ulrich Oevermann vorgelegt worden. Zu dessen »Theorie der Bildungsprozesse des Subjekts« siehe v.a. Oevermann 1973, 1974 und 1976. In den letzten Jahren ist die Frage des Zusammenhangs zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung auch verstärkt zum Anlass genommen worden, um auf Tagungen und Symposien darüber zu diskutieren. Hierzu zählen die interdisziplinäre Ringvorlesung »Wie ist Bildung möglich?« des Instituts für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Berufspädagogik (IAB) an der Universität Dortmund (vgl. Lünnemann 2001; von Prondczynsky 2006; Wigger 2009; Fuchs 2010a) sowie die 2004er Herbsttagung der DGfE-Kommission »Bildungs- und Erziehungsphilosophie« im Universitätskolleg Bommerholz (vgl. Pongratz/Wimmer/Nieke 2006). Auch das XXXIX. Salzburger Symposium widmete sich über Pfingsten 2004 diesem Thema (vgl. Bellmann 2004; Heid 2004; Poenitsch 2004a; Wigger 2004 sowie zusammenfassend den Diskussionsbericht von Kellner 2004). Und selbst das XL. Salzburger Symposion kann »als Fortführung des neununddreißigsten zum Thema ›Bildungstheorie und Bildungsforschung‹ verstanden werden« (Schönherr 2005: 421), weil es mehrfach auf diese Verhältnisbestimmung zu sprechen kommt und sie weiterdenkt. Das geschieht aber auch auf der 2005er DGfE-Tagung »Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung« – dokumentiert in Merkens 2006 – und auf der 2007er Jahrestagung der Sektion für Pädagogik der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft, die unter dem Rahmenthema »Wozu noch Bildung?« steht (vgl. Kunze 2007; Poenitsch 2008). Im Übrigen wird sich auch in erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen gegenwärtig mit der Verhältnisbestimmung von Theorie und Empirie beschäftigt und hierbei auf allgemeinpädagogische Positionen Bezug genommen – so etwa auf der Jahrestagung 2006 der DGfE-Sektion Erwachsenenbildung in Gießen. Vgl. hierzu Wiesner/Zeuner/Forneck 2007; darin v.a. auch den Aufsatz von Gruschka 2007.

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Wissens in den Diskurs der Allgemeinen Pädagogik« (Vogel 1998: 171) angesichts der »neu entdeckten Liebe zur Empirie« (ebd.) Teil der Bemühung, pädagogische Theorie an erziehungswissenschaftliche Forschung anzubinden und für ein verändertes Konzept Allgemeiner Pädagogik fruchtbar zu machen. Deren traditionelle Themen, die in der Erziehungs- und Bildungstheorie, der Geschichte der Pädagogik und den systematischen Grundlegungsfragen liegen, werden auf diese Weise erweitert und ergänzt durch die Verzahnung mit wissenschaftlicher Forschung empirischer Provenienz (vgl. Vogel 1990). Vor allen Dingen über den Anschluss an sozialwissenschaftliche Konzepte, »die pädagogische Gegenwartsdiagnosen ermöglichen und Ansatzpunkte für die Verknüpfung von theoretischen Diskussionen und die Ingangsetzung von empirischen Studien […] bieten« (Krüger 1994: 123), werden hierbei Möglichkeiten gesehen, die Wende zu einer sowohl grundlagen- als auch anwendungsbezogenen Allgemeinen Pädagogik zu bewerkstelligen. Aus dieser Perspektive heraus demonstriert die Absicht einer empirischen Unterlegung der Bildungstheorie die umfassenden Modernisierungsbemühungen der Erziehungswissenschaft nach dem – um einen griffigen Titel aufzugreifen – »Beginn einer neuen Epoche« (Krüger/Rauschenbach 1994). Blickt man auf die verschiedenen Schauplätze, auf denen in angesprochener Weise neue »Konturen Allgemeiner Pädagogik« (Marotzki 1996) zu entfalten versucht werden, dann dürfte einer besonders stark hervortreten, weil er die Bearbeitung des Verhältnisses von Bildungstheorie und Bildungsforschung wohl mit entschiedenstem Engagement betreibt: Es ist die so genannte »bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung« (Marotzki 1991a). Nicht zuletzt deshalb wird diese in den derzeit umlaufenden Debatten häufig auch als paradigmatische Vermittlungsinstanz – regelrecht i.S. einer Mediatorin – hervorgehoben. Sie greift nämlich den Diametralitätsbefund um Bildungstheorie und Bildungsforschung auf und versucht anhand biographischer Studien zu demonstrieren, wie beide ›Kontrahenten‹ dennoch wechselseitig aufeinander zu beziehen sind. Als spezifische Variante einer an Biographien interessierten Erziehungswissenschaft, wie sie in den letzten 30 Jahren vor allem durch Dieter Baacke und Theodor Schulze (1979), Werner Loch (1979), aber auch durch Jürgen Henningsen (1981) vorangetrieben wurde, verbindet die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung die autobiographische Erkenntnisabsicht mit der Erforschung von Bildungsprozessen. Sie kombiniert also gleichsam zwei Fragen miteinander; nämlich »Wie bin ich geworden, was ich heute bin?« und »Wie ist Bildung möglich?«. Dabei rekonstruiert die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung über die Erhebung und Analyse narrativ-autobiographischer Interviews, einer von dem Soziologen Fritz Schütze (1983 und 1987) aus der Kritik an standardisierten Befragungen ins Leben gerufenen offenen Interviewform, das Sub-

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jekt-Welt-Verhältnis und richtet ihren Blick auf biographische Selbstreflexionen, die Aufschluss über Bildungsprozesse geben können. Sie bedient sich also der unter Aspekten der Vergleichbarkeit und methodischen Kontrolle stehenden sozialwissenschaftlichen Verfahren, sodass man sagen kann, dass es ihr darum geht, »Bildungsprozesse in ihren lebensgeschichtlichen Zusammenhängen zu analysieren und der Untersuchung die methodologischen Standards der qualitativen Sozialforschung zugrunde zulegen« (Koller 1999a: 164). Gleichwohl fungieren auch hier Biographien als erzählerische Thematisierungen ›gelebten Lebens‹, die individuelle Erfahrungen auf Aspekte der Selbstkonstituierung und Momente der Weltkonstruktion hin deuten (vgl. Ecarius 2003: 535). Auf diese Weise richtet die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung – nicht zuletzt auch inspiriert von den Arbeiten Rainer Kokemohrs (1985 und 1989) zu einer »Theorie transformatorischer Bildungsprozesse«4 – ihren Blick auf den Aufbau, die Aufrechterhaltung und die Veränderung der Welt- und Selbstreferenzen von Menschen, wobei sie auf bildungstheoretische Theorien und Theoreme gestützt herausarbeitet, wie es zu biographischen Bildungsprozessen kommt. Mit einer solchen Vorgehensweise ergibt sich für sie die Möglichkeit, auf dem Gebiet der Erziehungswissenschaft »bildungstheoretisch elaboriert und zugleich empirisch differenziert zu arbeiten« (Marotzki 1991a: 129), um so die Konturen Allgemeiner Pädagogik neu abzustecken: Indem die Bearbeitung des pädagogischen Gegenstandsbereichs nämlich auf der Basis solider Analysen empirischer Phänomene erfolgt, wird – so lautet ihr Votum – die »Zweiteilung von Bildungstheorie als philosophisch bzw. theoretisch entwickelter Ansatz innerhalb der Allgemeinen Pädagogik sowie Bildungsforschung als empirischer […] Ansatz zur Erschließung von Wirklichkeit« (Garz/Blömer 2002: 442; Herv. i.O.) aufgehoben. Beide Bereiche könnten so in ein eigenständiges methodologisches Programm zusammengeführt werden. Daher wird auch das Konzept der »Biographie als vermittelnde Kategorie« (Marotzki 1996) verstanden. Den Grundstein für diese auf Bildungsprozesse fokussierte Forschungsrichtung der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung hat im Wesentlichen Winfried Marotzki durch den »Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie« (1990a) gelegt, in der er die Programmatik einer bildungstheoretisch gerahmten Biographieforschung nicht nur skizziert, sondern sie auch zur Grundlage einer Einzelfallanalyse macht und damit forschungspraktisch umsetzt. Eine aus der

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Die Bedeutung der Arbeiten Rainer Kokemohrs für die Hervorbringung einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung macht vor allen Dingen der Band »Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung« von Koller/Marotzki/Sanders 2007 deutlich. Siehe dazu auch Fuchs 2008 sowie das Kap. 1.2.3.

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Lerntheorie Gregory Batesons herausentwickelte strukturale Bildungskonzeption wird in enger Anbindung an die erzähl- und biographietheoretischen Grundlagen des narrativ-autobiographischen Interviews hierin so gewendet, dass die Eigenkonstitution subjektiver Orientierungen in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemlagen als Bildungsprozess vorgestellt wird. Es ist insbesondere die Verquickung von geisteswissenschaftlich-hermeneutischen mit sozialwissenschaftlichen Traditionslinien, aus welcher der – wie er von Arnd-Michael Nohl (2006a: 14) bezeichnet wird – »reflexionstheoretische Ansatz« Marotzkis seine innovative Kraft schöpft. Die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung wird dabei zum Schauplatz einer Verbindung von Bildungstheorie und Bildungsforschung gemacht (vgl. Marotzki 1991b; Appelsmeyer 1998: 115f.). Neben Winfried Marotzki hat sich auch Hans-Christoph Koller um eine solche Spielart erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung verdient gemacht. Ausgehend von Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie zeigt Koller in »Bildung und Widerstreit« (1999a) auf, inwiefern die philosophische Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff geeignet ist, um Verbindungen zur empirischen Erforschung tatsächlicher Bildungsprozesse herzustellen. Dazu löst er die Bildungstheorie Humboldts zuerst aus ihrem positiv teleologischen Geschichtszusammenhang heraus. Anschließend richtet er den Blick auf die in den sprachphilosophischen Schriften Humboldts thematisierten Aspekte der Pluralität von Sprachen. Auf diese Weise ergeben sich – ergänzt durch Überlegungen zu Adornos Negativer Dialektik – Übergänge zur Philosophie von Jean-François Lyotard, dessen Widerstreitmodell die Analysen biographischer Bildungsprozesse sprach- bzw. diskurstheoretisch rahmt und empirisch befruchtet. Mit einer solchen Interpretationsfolie geht es Koller – die postmoderne bzw. poststrukturalistische Subjektkritik aufgreifend – in der Auswertung zweier narrativ-autobiographischer Interviews daher auch um die Analyse von ›Bildung‹ als ein vom Subjekt dezentriertes Sprachgeschehen des Widerstreits (vgl. Koller 2001; Straub 2002). Schließlich haben Heide von Felden (2003) sowie Arnd-Michael Nohl (2006a) ebenfalls Arbeiten vorgelegt, die Bildungstheorie und Bildungsforschung zu verknüpfen versuchen. Von Felden bezieht in ihrer Studie »Bildung und Geschlecht zwischen Moderne und Postmoderne« (2003) im Kontext der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung die Kategorien ›Bildung‹ und ›Geschlecht‹ aufeinander. Auf diese Weise möchte sie zum einen die biographische Lern- und Bildungsforschung bereichern; zum anderen soll mit der Entwicklung von Bausteinen einer Bildungstheorie, die Biographie und Geschlecht integriert, auch die bildungstheoretische Diskussion vorangetrieben werden. Auf der Basis von Interviews mit Studentinnen eines weiterbildenden

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Studiengangs werden Lern- und Bildungsprozesse sowie Geschlechterkonstruktionen in biographischen Zusammenhängen analysiert und diese anhand von drei exemplarischen Fällen verdeutlicht (vgl. von Felden 2002a; Messerschmidt 2004). Nohl thematisiert den Zusammenhang von »Bildung und Spontaneität« (2006a), den er aus dem Zentrum einer bildungstheoretisch gerahmten qualitativen Bildungsforschung heraus über die pragmatistische wie auch biographietheoretische Kategorie der Wandlung empirisch rekonstruiert und handlungstheoretisch reflektiert. Dabei wird im Vergleich dreier Lebensalter und handlungsbezogener Gegenstandsbereiche eine empirisch fundierte Theorie zu den Phasen spontaner Bildungsprozesse und ihren jeweiligen lebensalterspezifischen Besonderheiten entwickelt. Das Ziel der Arbeit Nohls liegt in der Bestimmung der Potenziale spontaner Handlungspraktiken, aus denen heraus sich die Selbstund Weltbezüge von Menschen jenseits von Zwang, Gewohnheit und Planung transformieren und so eine neue biographische Sicht auf die eigene Vergangenheit herstellen (vgl. Nohl 2006b; Fuchs 2006). Insbesondere mit diesen vier Arbeiten hat die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung weithin Anerkennung für ihre Leistung finden können. Die hierin vorgenommenen Verfahrensweisen zur ›Vermittlung‹ von Bildungstheorie und Bildungsforschung finden breite Zustimmung und vielfältige Anwendungen.5 Dennoch sind gerade in jüngster Zeit einige Stellungnahmen vorgebracht worden, die die Möglichkeiten der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung kritischer sehen und auf eine gewisse Erweiterungs- bzw. Ergänzungsbedürftigkeit hinweisen. Diese Ausführungen stammen vorrangig aus dem Umfeld allgemeinpädagogischer bzw. bildungsphilosophischer Reflexion und konstatieren Theorie- und Begründungsdefizite in Bezug auf die konsultierten Referenztheorien und die hieraus gewonnenen bildungstheoretischen Argumentationen. Auch sehen sie Einschränkungen hinsichtlich der Möglichkeit, Ursachen und Potenziale biographischer Bildungsprozesse zu analysieren und angemessen zum Ausdruck zu bringen. So wird etwa sowohl die Überbestimmung von Selbst- und Unterbestimmung von Weltverhältnissen in den vorgelegten Analysen moniert als auch eine Stärkung des bildungstheoretischen Profils gefordert (vgl. Wigger 2004, 2006 und 2007). Plädiert wird für eine bildungstheoretische Auslegung der Biographien unter Einbeziehung sozialer Praktiken der Anerkennung (vgl. Stojanov 2006a und 2006b). Es wird eine Flexibilisierung der

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So etwa bei Egger 1995, Son 1997, Brüdigam 2001, Reinhartz 2001, Kilb 2006, Lüders 2007, Brandt-Herrmann 2008, Große 2008, z.T. auch Herzberg 2004, Menz 2007, Reinwand 2008.

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theoretischen Analysemittel als notwendig erachtet, welche die Hervorbringung von ›Neuem‹ nicht als alleinigen Bestimmungsgrund für das Vorliegen eines Bildungsprozesses deklariert (vgl. Müller 2009). Schließlich wird in rationalitätskritischer Absicht auch die Frage gestellt, woran man eigentlich festmachen kann, dass die feinsinnig herausgearbeiteten Veränderungen im Lebensvollzug tatsächlich bildungswirksame Kraft entfalten und nicht bloß wissenschaftliche Zuschreibungen i.S. von außen angelegte Identifikationsmerkmale an das Subjekt sind (vgl. Schäfer 2006a und 2007). Es sind die mit diesen kritischen Anmerkungen und Rückfragen angesprochenen Problematiken, die nun deutlich machen, dass die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung nicht nur keiner wissenschaftlichen Immunität unterliegt, sondern gar vor einer gewissen Herausforderung steht. Wenn und insofern nicht das Überhören und Schweigen als Weg des geringsten Widerstands gewählt wird, wird man sich vor dem Hintergrund solcher Stellungnahmen nämlich mit der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung intensiv auseinandersetzen müssen, um Erkenntnisse darüber zu erlangen, wie es um sie und ihren Forschungsansatz tatsächlich bestellt ist. Dass dabei dann auch und gerade ihr programmatisches Kernstück, also ihr Anspruch, Bildungstheorie und Bildungsforschung zu vermitteln, in den Blick gerät, versteht sich von selbst. Unter einer solchen Perspektive ist die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung bislang jedoch allenfalls in zögerlichen Ansätzen betrachtet worden – nicht aber in gründlicher und ›methodisch kontrollierter‹ Weise. Nur sehr vereinzelt existieren Studien, die auf die vorgetragenen Anmerkungen zu reagieren versuchen oder diese dezidiert zum Ausgangspunkt ihrer Reflexion machen. Und eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Hinweisen findet gerade mal am Rande statt. Auf den von Lothar Wigger formulierten Hinweis der stärkeren Beleuchtung von Weltverhältnissen im Rahmen bildungstheoretisch ausgerichteter Biographieanalysen reagiert so zwar Arnd-Michael Nohl (2006b) in einem Beitrag, in dem er die »Qualitative Bildungsforschung als theoretisches und empirisches Projekt« vorstellt. Hierin versteht er die Berücksichtigung kollektiver Dimensionen in der empirischen Analyse als einen – wenngleich auch nicht erschöpfenden – Beitrag zur Erhellung der ›Weltkomponente‹ in Bildungsprozessen (vgl. Nohl 2006b: 173 FN 55). Eine überzeugendere bildungstheoretische Anbindung sucht Nohl indes nicht. Die Hervorbringung von Neuem erhält eine zentrale Bedeutung für die Untersuchung spontaner Bildungsprozesse. Und auch der Vermittlungsanspruch der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung wird nicht in Frage gestellt.

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Wigger selbst, der sich sehr entschieden für die Kritik an der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung verantwortlich zeichnet, legt ›lediglich‹ knappe empirische Reanalysen zur Studie von Marotzki vor, in denen er habitusund bildungstheoretische Perspektiven verschränkt, um auf diese Weise Weltverhältnissen in biographischen Bildungsprozessen auf den Grund zu gehen (vgl. Wigger 2006 und 2007). Dass dieser Weg, der auf die Habitustheorie Bourdieus setzt, sich als ein probates Mittel erweist, um im Kontext einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung individuelle Weltverhältnisse umfassender als bislang ins Zentrum des Interesses zu rücken, ist allerdings als sehr fragwürdig zu bewerten. Will man nämlich dezidiert bildungstheoretische Einsichten gewinnen, so muss man – wie Koller (2009a: 32) feststellt – »nach den Spielräumen der Veränderung von Welt- und Selbstsichten« fragen. Das aber lässt die Theorie Bourdieus gar nicht zu, da sie sich ausschließlich auf die Beschreibung symbolischer Strategien zur Durchsetzung der je eigenen Sichtweisen im sozialen Raum beschränkt. Im Rahmen eines erweiterten Ökonomiebegriffs versteht sie politisch-symbolische Auseinandersetzungen als Kampf um Gewinne oder Verluste der eigenen Position im Verhältnis zu anderen Akteuren. ›Bildung‹ begreift sie lediglich als Ressource innerhalb dieses Kampfes um Gewinne und Verluste. Auch enthält Bourdieus Habitustheorie »keine systematischen Hinweise darauf, wie im Rahmen solcher symbolischer Auseinandersetzungen Bildungsprozesse präziser gefasst oder gar empirisch analysiert werden können« (ebd.). Diese Umstände sprechen dafür, dass die Betrachtung von ›Bildung als Habitustransformation‹ in eine Sackgasse führt. Überzeugende Perspektiven für den Umgang mit den aufgeworfenen Kritikpunkten hält sie nämlich nicht bereit. Die unter Betreuung von Wigger entstandene Dissertation von Gila BrandtHerrmann (2008: 69) richtet sich auf eine Stärkung des bildungstheoretischen Profils biographischer Forschung, indem sie »inhaltliche und damit normative Aspekte von Bildung für die Analyse von Bildungsprozessen« fruchtbar macht. Die Orientierung erfolgt dazu – wie in der Arbeit von Koller – an den bildungstheoretischen Schriften Wilhelm von Humboldts. Dabei wird davon ausgegangen, dass es unzureichend und verkürzt ist, Bildungsprozesse nur auf der formalen Ebene von Transformationen der Selbst- und Weltverhältnisse zu erklären, weshalb konkrete »Indikatoren zur Fokussierung auf bildungsintensive Phasen« (ebd.: 112) herangezogen werden, um »vergessene Differenzierungen und Reflexionshorizonte der klassischen Bildungstheorie« (ebd.: 74) zu betonen und hieran zu zeigen, dass häufig nicht Krisen, sondern Zufälle, günstige Gelegenheiten und Pro-Aktivität ›bildungsintensiv‹ wirken. Außerdem erfolgt ›Bildung‹ – so macht Brandt-Herrmann in Abgrenzung zu den Arbeiten von Marotzki und Koller deutlich – eher als Erweiterung bisheriger Orientierungsmuster und nicht

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als eine rigorose Transformation von Selbst- und Weltsichten. Auf den Vermittlungsanspruch der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung geht allerdings auch sie nicht ein. Ebenso wird das Augenmerk nur bedingt auf die Möglichkeit der intensiveren Betrachtung von Weltverhältnissen in biographischen Bildungsprozessen gerichtet. Weltverhältnisse sind letztlich nur »im Kontext von Persönlichkeitsentwicklung und Pro-Aktivität« (ebd.: 230) wichtig, sodass hier der Fokus auf den Selbstverhältnissen der Befragten liegt. In Anbetracht dieser Befunde können zwei Fragebereiche deshalb als weitestgehend ungeklärt gelten: Kann das erziehungswissenschaftliche Biographiekonzept zu Recht eine vermittelnde Kategorie genannt und die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung als Vermittlerin zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung bezeichnet werden? Oder stellt eine solche Bezeichnung vielmehr eine weitere »Pathosformel« (Rieger-Ladich 2002) im pädagogischen Kontext dar, d.h. ein zwar mit hehrem Anspruch verbundenes Diktum, das sich bei genauerem Betrachten jedoch lediglich als Geselle der »wohlklingenden Köder- und Lockvokabeln« (Schirlbauer 2006: 13) erweist? (ii) In welcher Hinsicht besteht innerhalb der konzeptionellen Ausprägung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung ›Entwicklungspotenzial‹? Was bedarf einer Konkretisierung oder Modifizierung? Inwiefern lässt sich mit den kritischen Hinweisen so umgehen, dass sie konstruktiv in das Programm der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung einfließen können? Worin liegen Herausforderungen und Perspektiven? (i)

Beiden Fragebereichen und dem hiermit zusammenhängenden Komplex von Problemstellungen widmet sich die vorliegende Arbeit, wozu sie sich – gewissermaßen korrespondierend zu den beiden skizzierten Fragebereichen – in zwei konzeptionelle Abschnitte gliedert. Unter der Rubrizierung »Skeptisch-Diskursives« versucht der aus zwei Kapiteln (siehe Kap. 1 und Kap. 2) bestehende erste Abschnitt die einzelnen ›Facetten‹ des Problemzusammenhangs im Hin- und Herlaufen – so die ursprüngliche und etwa von Nikolaus von Kues verwendete Bedeutung des Wortes ›diskursiv‹ (vgl. Gründer 1995: o.Sp.) – abzuschreiten und sie sukzessiv zusammenzusetzen. Hier wird nämlich aus der Diskussion um das Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung die Gestalt der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung prüfend in den Blick genommen und daraufhin untersucht, inwiefern es ihr gelingt, eine überzeugende Vermittlung zwischen den beiden Zugängen zum Themenbereich der ›Bildung‹ zu leisten. Dabei werden ihr spezifisches Anliegen sowie ihre vorliegenden An-

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sätze markiert und eingehend diskutiert. Im zweiten Abschnitt wird dann mit den Kapiteln 3 bis 6 eine qualitativ-empirische Studie vorgelegt, welche die im ersten Teil herausgearbeiteten Befunde zum Anlass nimmt, um sich aus biographieund bildungstheoretischen Überlegungen heraus der Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen von drei 17- bis 19-jährigen Jugendlichen anzunehmen. Dieser zweite Abschnitt, der mit »Qualitativ-Empirisches« überschrieben ist, verfolgt also einen ausdrücklich gegenstandsbezogenen Weg. Der genaue Aufbau der Arbeit verläuft wie folgt: Das erste Kapitel verdeutlicht den Konfliktcharakter, der zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung herrscht (siehe Kap 1.1) und beleuchtet die Ambitionen einer beiderseitigen Zusammenführung (siehe Kap. 1.2). Die Betrachtung der genealogischen Grundlagen des leitenden Problemzusammenhangs und die lagediagnostischen Analysen stellen damit eine Propädeutik für die nachfolgende Untersuchung dar und geben gleichsam ihren Weg frei. Die Anschauung von ›Vergangenem‹ und ihre diskursive Entfaltung sollen also – in effigie – so weit auf den vorliegenden Pfaden verfolgt werden, bis sie aus dem Tal der vergewissernden Ermittlungen herausführen und den Blick auf das Panorama bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung eröffnen, was im zweiten Kapitel geschieht. Dieses zweite Kapitel setzt sich nach den Herleitungen nämlich in extenso mit den einschlägigen Ansätzen bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung von Winfried Marotzki (siehe Kap. 2.1), Hans-Christoph Koller (siehe Kap. 2.2), Heide von Felden (siehe Kap. 2.3) und Arnd-Michael Nohl (siehe Kap. 2.4) auseinander, um zu untersuchen, wie Bildungstheorie und Bildungsforschung in der Beschäftigung mit biographischen Bildungsprozessen konkret zusammengeführt werden. Dazu werden die genannten Ansätze nach dem Entwurf eines ›Analyserasters‹ zuerst in einer Rekonstruktion des Argumentationszusammenhangs hinsichtlich ihrer Ausgangspunkte und Verfahren dargestellt. Anschließend werden sie einer skeptischen Prüfung unterzogen. Hierin richtet sich der Fokus auf die Qualität der jeweiligen Begründungs- und Vorgehensweisen, die Bildungstheorie und Bildungsforschung miteinander zu verknüpfen beanspruchen. Auf diese Weise lässt sich verdeutlichen, inwiefern der Vermittlungsanspruch der vier Ansätze erfüllt ist. Ebenso kann aufgezeigt werden, was in ihnen – im Großen und im Kleinen – unberücksichtigt geblieben, was als vermeintlich unproblematisch ausgeblendet oder in den Hintergrund geschoben worden ist. Abschließende Analysen zu den vier diskutierten Ansätzen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung zeigen in einer Gesamtbetrachtung dann, wie es um ihren Vermittlungsanspruch steht (siehe Kap. 2.5). Der zweite konzeptionelle Abschnitt der Arbeit, der mittels einer qualitativempirischen Studie neue Perspektiven der bildungstheoretisch orientierten Bio-

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graphieforschung aufzuzeigen versucht, greift die im ersten Teilabschnitt herausgearbeiteten Befunde auf und beginnt mit biographie- und bildungstheoretischen Markierungen. In Auseinandersetzung mit den Konzepten ›Biographie‹ und ›Bildung‹ wird hier die leitende theoretische Folie umrissen. Während die biographietheoretischen Annäherungen (siehe Kap. 3.1) jedoch lebensgeschichtliche Erzählungen im Allgemeinen zum Gegenstand haben, wird in den »bildungstheoretischen Schärfungen« (siehe Kap. 3.2) die Bildung des Subjekts auf das Jugendalter im Besonderen bezogen. Dabei wird in Auseinandersetzung mit bildungstheoretischen Schriften von Alfred Petzelt (siehe Kap. 3.2.1), Wolfgang Fischer (siehe Kap. 3.2.2) und Jörg Ruhloff (siehe Kap. 3.2.3), allesamt Vertreter einer transzendentalphilosophisch bzw. -kritischen Variante von Pädagogik, ein Verständnis von ›Bildung‹ erarbeitet, welches das Fragen, Zweifeln und Problematisieren in lebensgeschichtlichen Zusammenhängen betont. Auf diese Weise werden zugleich einige bildungstheoretische Bestimmungen der Jugend deutlich, die im gegenwärtig vor allen Dingen sozialisationstheoretisch und entwicklungspsychologisch geprägten Diskurs der Jugendforschung ausgeklammert werden. Das kurze Kap. 4 bringt daraufhin das für die empirische Studie verwendete Datenerhebungs- und Auswertungsverfahren zum Ausdruck. Hierin wird im Wesentlichen auf das Verfahren der Autobiographieforschung von Theodor Schulze (1997a und 2010a) rekurriert, das gewissermaßen als pädagogischer Gegenentwurf zur soziologisch motivierten Methode der Erschließung von »Prozeßstrukturen des Lebensablaufs« (Schütze 1981) Verwendung findet. Die in der Diskussion der behandelten bildungstheoretisch orientierten Ansätze der Biographieforschung aufgezeigten Problemlagen sowie die Markierungen aus biographie- und bildungstheoretischer Sicht führen im fünften Kapitel zu einer eigenständigen empirischen Untersuchung. Dabei werden lebensgeschichtliche Erzählungen dreier Jugendlicher unter der generierten biographie- und bildungstheoretischen Perspektive in den Blick genommen. Diese Erzählungen wurden als narrative Interviews im Zeitraum zwischen August 2006 und Juni 2009 erhoben. Sie entstammen einem ›Pool‹ aus insgesamt 24 Jugendlichen im Alter von 16 bis 19 Jahren – also einem Alter, das gängigen Klassifizierungen entsprechend ein Übergangsstadium von der frühen zur mittleren Jugendphase darstellt, sofern man die Post-Adoleszenz als späte Jugendphase betrachtet (vgl. Hurrelmann 2007: 41).6 Die interviewten Jugendlichen, männliche sowie weibliche, besitzen unterschiedliche Schulabschlüsse, manche von ihnen haben einen Migrationshintergrund, einige wachsen bei einem alleinerziehenden Elternteil auf, mehrere haben Geschwister, andere sind Einzelkinder. Der Fokus auf einen

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Vgl. die tabellarische Übersicht über die Interviewpartnerinnen/-partner im Anhang.

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bestimmten ›Jugendtyp‹, eine jugendliche ›Normalbiographie‹ oder gar »so etwas wie eine epochale Generationsgestalt der Jugend« (Fischer 1966a: 131; Herv. i.O.) erfolgt insofern nicht. Gleichwohl kann auch nicht die gesamte Heterogenität jugendlichen Lebens berücksichtigt werden. Die Empirie hat vielmehr insofern einen exemplarischen Status, als sie qua O-Ton die theoretischen Überlegungen inhaltlich füllt und konkretisiert. Dass sie für die Theorie ›funktionalisiert‹ wird, ist damit jedoch nicht gemeint. Was in den drei ausgewählten Einzelfällen, dem 18-jährigen Marc (siehe Kap. 5.1), der 17-jährigen Natalie (siehe Kap. 5.2) und der 19-jährigen Sonja (siehe Kap. 5.3), zur Sprache kommt, ist zwar – der theoriegeleiteten Fokussierung geschuldet – eine Auswahl. Diese vermag es allerdings, der Frage nach der Möglichkeit von ›Bildung‹ eine konkrete Anschauung zu verschaffen und das Profil der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung zu schärfen. Im sechsten Kapitel zeigt sich sodann auch, wie die biographischen Analysen unter der herangezogenen theoretischen Folie in einen übergeordneten, wechselseitigen Bezug zu bringen sind und damit das Programm der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung weitergedacht werden kann. Hier wird nämlich nochmals der Bezug auf die im Verlauf des Kap. 2 herausgearbeiteten Problemlagen hergestellt und der Ertrag der Untersuchung ausgewiesen. Der Ausblick versucht nach dem Durchschreiten der beiden Teilabschnitte der Arbeit – gleichsam metatheoretisch rückwärtsgewendet – die aufgeworfene Frage einer Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung durch die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung erneut zu prüfen. Trotz der im empirischen Teil der Arbeit entworfenen konstruktiven Perspektiven werden hier Überlegungen angestellt, die deutlich machen, dass das Spannungsverhältnis zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung gar nicht zwangsläufig als ein qualitativer Mangel zu verstehen ist. Es lässt sich nämlich durchaus auch als ein fruchtbares Konstituens der Erziehungswissenschaft darstellen. Insofern können diese Analysen schließlich auch skeptisch genannt werden.

I. Skeptisch-Diskursives

1 Bildungstheorie und Bildungsforschung in der Gegenwart – Konturen eines ambivalenten Verhältnisses

Auf welche Weise das Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung zu denken ist, hat in erziehungswissenschaftlichen Diskussionszusammenhängen gerade in jüngster Zeit häufiger Beachtung gefunden. Dies liegt wohl vor allen Dingen daran, dass sich die Bildungsforschung innerhalb weniger Jahrzehnte erfolgreich als ein außerordentlich vielschichtiger empirischer Forschungszweig etablieren konnte und heute ebenso wie die vermeintlich ›traditionelle Pädagogik‹1 den disziplinären Raum der Erziehungswissenschaft beansprucht. Beide Bereiche bearbeiten nämlich Fragen der ›Bildung‹ und rücken diese in den Mittelpunkt ihrer Analysen. Entgegen der ›traditionellen Pädagogik‹, die Bildungsprozesse zunächst und zumeist an ein Subjekt bindet und als dessen zentrale Kategorie Reflexivität ausmacht, richtet die empirisch arbeitende Bildungsforschung ihr Augenmerk allerdings auf Bildungsprozesse in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und dringt auf diese Weise zu anderen Problem- und Fragestel-

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Fungiert die Bezeichnung ›traditionelle Pädagogik‹ als Gegenbegriff zur modernen Erziehungswissenschaft, dann umschreibt sie üblicherweise das, was als antiquiert, überholt und überflüssig angesetzt werden soll. Neuansätze der Pädagogik positionieren sich deshalb häufig in Negation der Tradition, verkennen dabei aber selbstverständlich, dass auch sie sich nur aus der Tradition heraus verorten lassen können. In genereller und nicht-diffamierender Weise können unter der traditionellen Pädagogik insofern solche Ansätze subsumiert werden, die ihre Frage- und Problemstellungen aus der Kontinuität pädagogischen Denkens verstehen, selbst wenn sie sich hier und da von der Tradition abheben (vgl. Benner 1973: 9f., 119).

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lungen im pädagogischen Kontext vor.2 In einer hauptsächlich auf Institutionen gerichteten Makroforschung, die von pragmatischen Gestaltungsinteressen getragen wird, geht es dann – immer mit dem Begriffswort ›Bildung‹ versehen – etwa um die personenstatistische Erfassung der Laufbahnen durch das Bildungsund Ausbildungswesen, und in einer vornehmlich auf Lehr-Lern-Probleme zielenden Mikroforschung werden schulische Modellversuche evaluiert oder auch individuelle Entwicklungsprozesse entschlüsselt (vgl. Beck/Kell 1991: 5ff.). Mit dieser von der Bildungsforschung seit ihrer Entstehung in den 1960er Jahren realisierten Erweiterung des pädagogischen Themenspektrums hat so ein »Strukturwandel des pädagogischen Denkens« (Hornstein 1969) stattgefunden, der bis heute keineswegs abgeschlossen zu sein scheint, sondern dessen Wirkungen sich nach wie vor zeigen. Die jüngeren und derzeitigen Debatten zum Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung lassen sich daher auch als Versuche lesen, auf den virulenten Strukturwandel pädagogischen Denkens unter Berücksichtigung der eigenen wissenschaftlichen Verortung zu antworten – und diese ist häufig entweder theorieaffin oder vom wirklichkeitswissenschaftlichen ›Forschergeist‹ geprägt. Bildungstheorie und Bildungsforschung werden dann als zwei heteronome Thematisierungsformen von ›Bildung‹ ausgewiesen, die sich nicht zusammenführen lassen (vgl. Tenorth 1997a). Ebenso wird von einer Relation der Komplementarität bzw. der wechselseitigen Ergänzung von Bildungstheorie und Bildungsforschung gesprochen (vgl. Koller 2006: 108). Während die erste Position eine Diametralität feststellt und eine produktive Zusammenarbeit als unmöglich zurückweist, geht die zweite Position davon aus, dass Bildungstheorie und Bildungsforschung nur im Verbund Sinn machen und in einer modernen Konzeption von Erziehungswissenschaft gehaltvoll aufeinander bezogen werden können bzw. müssen. Unter dieser Perspektive bewegen sich die Aussagen zum Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung im Spannungsfeld von Diametralität und Komplementarität, und so ist es auch keineswegs als verwunderlich anzusehen, dass die Stellungnahmen zum Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung äußerst konträr ausfallen und unterschiedliche Befunde hervorgebracht werden. Bildungstheorie und Bildungsforschung lassen sich damit als zwei verschiedene erziehungswissenschaftliche »Wissensformen« (Vogel 1997b) auffassen, die je eigene Sachgesichtspunkte, Kommuni-

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Die thematische Reichhaltigkeit der Bildungsforschung demonstriert auf eindrückliche Weise das erstmals 2002 von Rudolf Tippelt herausgegebene »Handbuch Bildungsforschung« (Tippelt 2002), welches zugleich ein gewichtiges Zeugnis davon ablegt, dass es die empirische Erforschung der Bildung inzwischen zur Reife einer enzyklopädischen Präsentation geschafft hat (vgl. Schneider 2006: 23).

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kationsregeln und Begründungsmuster besitzen und um deren spannungsvolles Implikationsverhältnis heute – und vielleicht auch zukünftig – kein einhelliges Urteil gefällt werden kann. Will man es bei einer Betrachtung des Verhältnisses von Bildungstheorie und Bildungsforschung nun nicht bloß bei diesem offenen Befund belassen, sondern sich das Bedingungsgefüge für eine derart unklare Lage vergegenwärtigen, um es sich sodann gleichsam detaillierter anzuschauen, dann wird man andere Wege einschlagen müssen. Ein anderer Weg, der lagediagnostischen Frage nach dem Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung auf die Spur zu gehen, basiert auf einer historischen Auseinandersetzung als einer Untersuchungsform ex post, die einige der wesentlichen Konturen des Verhältnisses in den Blick zu nehmen und sich dieser zu vergewissern versucht. Gegenüber diesem Weg mag man jedoch möglicherweise Vorbehalte hegen. So könnte man z.B. fragen, was mit einem solchen eigentlich gewonnen sein soll, außer vielleicht der recht triviale Hinweis darauf, dass alle pädagogischen Fragen und alle erziehungswissenschaftlichen Probleme irgendwann einmal aufgekommen oder aufgeworfen worden sind. Oder man könnte auch zu bedenken geben, von welchem Standpunkt aus das Verhältnis eigentlich betrachtet werden soll. Kann hier überhaupt ein exteriorer, gleichsam archimedischer Punkt eingenommen werden, der das Verhältnis frei von Parteinahmen jedweder Art überblickt und damit eine gültige Lagediagnose hervorbringt? Gegen solche und ähnliche Annahmen, die historisch gefärbten Betrachtungen nichts Systematisches abgewinnen können, d.h., ihnen lediglich musealen Wert beimessen oder sie auch mit dem Vorwurf der begünstigenden Einflussnahme belasten, kann indes Stichhaltiges entgegengesetzt werden. Für jegliche pädagogische Untersuchung, die sich nicht ausschließlich aus dem Hier und Jetzt speisen will, ist nämlich der Rekurs auf historische Vorbedingungen deshalb nicht abdingbar, weil dadurch das behandelte Thema erst in seiner Breite und Problematik ersichtlich gemacht werden kann. So verdeutlichen historische Ausführungen zu heutigen pädagogischen Diskussionen – wie etwa auch zum Thema ›Bildungstheorie und Bildungsforschung‹ – dass diese nur dann hinreichend verstanden werden können, wenn ihre Entstehungsbedingungen und Entwicklungslinien geläufig sind und in das aktuelle Nachdenken miteinbezogen werden können (vgl. Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger 2006: 43). Erläuterungen, die sich einer solchen Sichtweise verschreiben, präsentieren die Auseinandersetzung mit Historischem daher nicht als historisierenden Selbstzweck, sondern demonstrieren, dass zwischen heutigen und früheren Problemlagen gedankliche Zusammenhänge bestehen und so das vermeintlich Alte möglicherweise sogar auch sinnvolle Alternativen zu heute selbstverständlich gewordenen Antworten bereithält.

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Dass auch »systematisches Denken gut beraten ist, der Geschichte nicht zu spotten« (Fischer 1997: 12), wird gerade dann plausibel, wenn man sich die ›Leistungen‹ einer solchen Anstrengung im Einzelnen vor Augen führt. So können historische Kenntnisse etablierte oder auch weithin akzeptierte pädagogische Annahmen als sachlich fragwürdig oder sogar als fehlerhaft überführen. Sie können auch davor bewahren, pädagogischen Prinzipien durch die Vernachlässigung ihrer geschichtlichen Herkunft und Bedingtheit das Ansehen fragloser Geltung zu verleihen oder sie in ihrem eigentümlichen pädagogischen Sinn zu verfehlen. Schließlich kann historisches Wissen auch der Aufklärung dienen und erläutern, wie und warum es zu bestimmten fundamentalen, sich noch immer durchhaltenden Mustern pädagogischen Denkens und Handelns gekommen ist (vgl. ebd.). Gerade diese Aufklärungsfunktion hat für die verstehende Durchdringung des Verhältnisses von Bildungstheorie und Bildungsforschung dabei eine besondere Bedeutung. Durch sie kann nämlich gezeigt werden, auf welchen Grundlagen das Verhältnis beruht, was seine Brisanz ausmacht und weshalb heute mitunter eine Vermittlung der beiden Wissensformen angestrebt wird. So wird deutlich, weshalb und inwiefern Bildungstheorie und Bildungsforschung auf eine bestimmte Weise zueinander relationiert werden. Die Berücksichtigung der geschichtlichen Dimension bietet also insofern auch »ein kritisches Potential, als sie […] Voreingenommenheiten bewußt werden läßt« (ebd.) oder auch die Reproduktion gängiger Klischees aufdecken kann. Der Auf- und Nachweis von historischen Aspekten besitzt deshalb, wenn und insofern er mit einem systematisch-pädagogischen Anliegen einhergeht, eine bereichernde, den eigenen Überzeugungsboden produktiv irritierende und für neue Fragen und Probleme inspirierende Funktion (vgl. ebd.: 15). Deshalb werden historische Erkundungen zu Bildungstheorie und Bildungsforschung für eine Analyse des gegenwärtigen Verhältnisses der beiden ›Wissensformen‹ auch nicht als museale Reminiszenz betrachtet, sondern als notwendigerweise vorbereitende und fundierende Überlegungen. Erst in der Auseinandersetzung mit geschichtlichen Entwicklungen und historischen Wegmarken wird nämlich in systematischen Zusammenhängen deutlich, wie sich das Verhältnis bislang gestaltet hat und wodurch es heute geprägt ist. Von einer Parteinahme bzw. begünstigenden Beeinflussung auf diese historische Herleitung des Verhältnisses – so ein möglicher Vorbehalt gegenüber diesem geschichtlichen Weg – kann gerade dann keine Rede sein, wenn man im obliquen Blick, in Gedanke und Argument ganz der inhaltlichen Ausweisung des Verhältnisses von Bildungstheorie und Bildungsforschung zugewandt ist und so nicht genötigt wird, seinen oder einen absoluten Maßstab zu befördern, der als »Kompensat unentdeckbarer Wahrheit mitgebracht und unangefochten appliziert« (Fischer

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1989e: 130) wird. Ein solches Vorgehen verhindert somit, dass man einfach dem folgt, was man a priori für richtig und wahr hält oder dem man in Ermangelung geschichtlichen Wissens dogmatisch beipflichtet. In ausgewiesener Standpunktfreiheit, aber durchaus im Bewusstsein der historischen Standortgebundenheit gelingt es so, der Relationierung von Bildungstheorie und Bildungsforschung auf die Spur zu gehen und einige Konturen des ambivalenten Verhältnisses zu markieren. Dass es dabei ›bloß‹ Konturen sind, die hier augenscheinlich werden, hängt dann schlicht mit dem Umstand zusammen, dass Konstellationen dieser Art rasch eine Multidimensionalität annehmen, die im abgesteckten Rahmen nicht mehr gänzlich überschaut, aber eben umrissen und damit gleichwohl in Ansätzen von Problemlösungsversuchen diskursiv bearbeitet werden können (vgl. Poenitsch 2004b: 10): »Konturenhafte Lagebeschreibungen im wörtlichen Sinne […] sind eben nur Präzisierungen einer Lage, aufklärende Problemschärfungen, Freilegungen und Markierungen« (ebd.: 121f.). Vor diesem Hintergrund und im Bewusstsein einer immer mitlaufenden Perspektivität erfolgt die Konturierung des Verhältnisses von Bildungstheorie und Bildungsforschung, indem sich auf das Gebiet des Historischen begeben wird. Als Analyseraster rücken die beiden grundlegenden Positionen in den gegenwärtigen erziehungswissenschaftlichen Debatten insofern zu dieser Konturierung hinzu, als Diametralität einerseits und Komplementarität andererseits die Spannbreite der Ausführungen bestimmen. In einem ersten Blick geht es nämlich um den Nachvollzug von Bildungstheorie und Bildungsforschung als ein Diametralitätsverhältnis, in welchem die Verschiedenheit und der Konfliktcharakter im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. In der Betrachtung der Beziehung zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung und deren Interpretation als ein Diametralitätsverhältnis gelten die beiden Bereiche als gegensätzlich, weil ihnen jeweils unterschiedliche Auffassungen von Wissenschaft im Allgemeinen und Pädagogik im Speziellen inhärent sind, die unter Berücksichtigung diverser Schriften, Quellen und der darin enthaltenen Aussagen seit den 1950er Jahren nachgezeichnet werden (siehe Kap. 1.1). Im zweiten Blick hingegen geht es um die Verdeutlichung von Bildungstheorie und Bildungsforschung als ein Komplementaritätsverhältnis, also ein Verhältnis, das die beiden Seiten weder als inkommensurabel ansieht, noch als wesensgleich, sondern im Moment der Zusammenführung Gemeinsamkeiten erkennt und ihr Ineinanderwirken nicht zuletzt mit Blick auf eine zeitgemäße Gestalt Allgemeiner Pädagogik als möglich und notwendig begreift (siehe Kap. 1.2). Hier geht es indes nicht um die Skizzierung von prozessualen Geschehnissen, die in den 1950er Jahren ihren Anfang nehmen und ein halbes Jahrhundert umfassen. Der Blick wird vielmehr auf Entwicklungen geworfen, die im Wesentlichen in den 1980er einsetzen und von hier

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aus ihre Wirkungskraft entfalten. Auch das erfolgt allerdings mit Bezug auf – so der Anspruch – ›einschlägige‹ Literatur und zentrale Positionen in den hierfür relevanten erziehungswissenschaftlichen Diskussionszusammenhängen.

1.1 B ILDUNGSTHEORIE UND B ILDUNGSFORSCHUNG ALS D IAMETRALITÄTSVERHÄLTNIS Dass es in alltäglichen Zusammenhängen keineswegs unüblich ist, dass verschiedene Positionen aufeinandertreffen und sich argumentativ herausfordern, gehört zur Grundeinsicht von Politik und Rhetorik. Über Dispute können Bestände gesichert und Traditionen bewahrt werden. Ebenso ist es aber auch möglich, durch sie herrschende Verhältnisse zu überwinden, neue Impulse zu setzen und Verbesserungen zu erzielen. Das Werben um Anerkennung für die eigenen Ansichten und das Abschwächen der Argumentationen anderer ist so gleichermaßen Bedingung für Tradition und Innovation, und auch in den Wissenschaften sind solche Kommunikationsformen keineswegs unüblich, wenn es darum geht, Beharrungstendenzen zu vermeiden und Denkstile zu verändern, um so neuen Erkenntnissen Raum und Gehör zu verschaffen (vgl. Fleck 1980). Alle Wissenschaften, ob sie sich nun in ihrer jeweiligen Ausprägung eher als Geistes-, als Sozial- oder als Naturwissenschaften verstehen, sind auf Argumentation und Kommunikation angewiesen, um ihren Aussagen einen Rechtsgrund zu verleihen bzw. »Beweise und Widerlegungen« (Lakatos 1979) vorzunehmen. Unterschiedliche Meinungen, divergierende Auffassungen sowie Positions- und Richtungsstreitigkeiten, von denen die Kontroverse zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung nur eine spezifische Form darstellt, sind auch der Pädagogik seit jeher zu eigen.3 Wenn und insofern es der Pädagogik als Wissenschaft näm-

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Berücksichtigt man, dass die Pädagogik nicht erst seit ihrem Einzug als akademische Disziplin in den Kanon wissenschaftlicher Fächer besteht, sondern die Anfänge des pädagogischen Denkens auf die zweite Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts zu datieren sind, dann lassen sich bereits im antiken Griechenland pädagogische Richtungsstreitigkeiten ausmachen, die im Wettstreit um die besseren Argumente zu lösen versucht wurden (vgl. Fischer 1998). Auch eine Konfliktlinie um das Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung lässt sich bis in die Anfänge des pädagogischen Denkens zurückverfolgen, wenn in Platons »Philebos« die Unterscheidung zwischen Messen an Zahlen als absolute Größen und topologischem Messen an Größenverhältnissen als zwei verschiedenartige Zugänge zur Wirklichkeit präsentiert werden (vgl. Poenitsch 2004a: 454).

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lich um Wahrheit oder auch – weniger pathetisch – um Richtigkeit und Sachangemessenheit geht, dann lässt dieses Ziel mehrere Wege offen, sodass verschiedene Standpunkte, Richtungen und Methoden nach der besten oder angemessensten Weise suchen, sie zu erreichen oder ihr zumindest nahe zu kommen. Kritische und zuweilen auch polemische Dispute sind deshalb bis heute »ein Teil der Geschichte der Pädagogik als Wissenschaft geblieben; sie setzen in verstärkter Form jeweils mit der Konstituierung neuer Positionen und Richtungen als Gegensätze im Selbstverständnis […] ein« (Röhrs 1989: 17). Zugleich sorgen sie damit auch für erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit für das Fach. Die gegenwärtigen und auf einen Konfrontationskurs befindlichen Debatten zum Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung sind also keineswegs ungewöhnlich, sondern erweisen sich vielmehr als mehr oder minder gewöhnliche ›Gebärden‹ einer Disziplin, in der unterschiedliche Auffassungen, Meinungen, Überzeugungen, Sichtweisen aufeinandertreffen. 1.1.1 Reaktionen auf pädagogische Versäumnisse So konturiert sich auch die Bildungsforschung ab den 1960er Jahren vor dem Hintergrund einer zuerst inner- und bald darauf auch außerdisziplinären Kritik an der überkommenen Gestalt wissenschaftlicher Pädagogik, indem sie den Blick darauf richtet, »wie das, was man im deutschen Kulturkreis als Bildung und Bildungswesen bezeichnet, Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und eines dazu notwendigen Apparates an Forschungsrichtungen werden soll« (Lemberg 1963: 21). Dass ›Bildung‹, bislang Leitbegriff eines bürgerlichen Ideals des ausgehenden 18. Jahrhunderts und seit der Epoche der Deutschen Klassik ein Grundwort wissenschaftlicher Pädagogik, mit Beginn der 1960er Jahre zum Objekt empirisch-pädagogischer Forschung wird, hängt zum einen zusammen mit Modernisierungsbemühungen der disziplinären Pädagogik, zum anderen aber auch mit dem wachsenden Unbehagen an der Struktur des deutschen Bildungswesens und der Bestrebung seiner grundlegenden Reform. Ein Anstoß von innen und von außen führt deshalb dazu, dass die Pädagogik sich sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen allmählich zu öffnen beginnt und empirische Fragestellungen deutlich an Gewicht gewinnen (vgl. Tenorth 1997b: 124).4

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Unter disziplingeschichtlichen Gesichtspunkten ist allerdings anzumerken, dass sowohl für die Pädagogik der Antike als παιδαγωγική τέχνη als auch für das unter cartesianischem Einfluss stehende neuzeitliche pädagogische Denken die Einbeziehung der Erfahrung konstitutiv ist und insofern Pädagogik immer schon als eine auch auf Er-

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Als nach 1945 von der disziplinären Pädagogik Überlegungen angestellt werden, wie der grundlegende Wiederaufbau nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes bewältigt werden könne, diskutiert man durchaus zentral auch die Frage, ob und inwiefern hierbei auf den Bildungsbegriff zu rekurrieren sei. Schließlich konnte die Bildungsidee dem Nationalsozialismus keinen Einhalt gebieten, und so ist es auch fraglich, ob etwa ›Bildung‹ in der geistigen Tradition des Deutschen Idealismus’ überhaupt einen demokratischen Neuanfang ermöglichen könne. Von den drei gegebenen Möglichkeiten – Wiederbelebung eines ›ursprünglichen‹ Bildungsbegriffs, Revision aller bisherigen Sinnauslegungen von Bildung und gänzlicher Abschied vom Bildungsbegriff – wird zuerst zögerlich an die philosophischen und geistesgeschichtlichen Sichtweisen vor 1933 angeknüpft, um sie dann erfolgreich wiederherzustellen. Auf differierende Denkweisen reagiert man dennoch tolerant, und auch Positionen, die sich zu Nachbardisziplinen stärker öffnen, werden keineswegs vehement bekämpft, nicht zuletzt deshalb, weil Lehrstühle mit Mehrfachwidmungen – etwa für Philosophie, Psychologie und Pädagogik – ohnehin einen Blick über das Gebiet der Pädagogik hinaus werfen (vgl. Scheuerl 1995: 111). Die Situation ändert sich allerdings, als um 1960 ein erster Schub im Stellenausbau im Bereich der Lehrerbildung einsetzt und hierbei »auch Nachwuchskräfte aus der ›reinen‹ Psychologie und Soziologie, die von Hause aus mit der Pädagogik wenig ›am Hut‹ hatten, mehr und mehr an pädagogische Hochschul-Institute berufen wurden« (ebd.). Denn die seit den 50er Jahren bereits vornehmlich politisch motivierte Rezeption USamerikanischer Pädagogik, die neben empirischen Beobachtungen im Erziehungsfeld mit einer Verbindung von Pädagogik und Psychologie operiert und damit andere Wege und Mittel verfolgt als die in Deutschland bis dahin gefestig-

fahrung angewiesene ›Disziplin‹ begriffen wurde. Die Bindung der Pädagogik an empirische Methoden in der Nachkriegszeit ist daher zu verstehen als eine besonders intensiv betriebene »Hinwendung der deutschen Pädagogik zu den Erfahrungswissenschaften vom Menschen« (Menze 1966). Neben der pädagogischen Tatsachenforschung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vollzieht sich eine erste und eher selten thematisierte Hinwendung bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter dem Philanthropismus, wo der Einfluss empirischer Psychologie als Erfahrungsseelenkunde, Experimentalseelenlehre oder auch praktische Seelenlehre »eine Unzahl von Beobachtungen körperlicher und seelischer Äußerungsweisen und ihre pädagogischen Ausdeutungen« (ebd.: 35) hervorbringt, denen es jedoch an systematischer Darstellungsweise ermangelt. Diese Periode erfahrungswissenschaftlicher Pädagogik endet erst mit der Bindung der Universitätspädagogik an die kritische Philosophie und den Deutschen Idealismus um 1800.

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te Liaison zwischen Pädagogik und Philosophie, zieht weitere Kreise (vgl. Hoffmann 1993: 36f.). Insbesondere von einigen Angehörigen der Generation, die während des nationalsozialistischen Regimes ihre wissenschaftliche Ausbildung abgeschlossen haben, wird das Bedürfnis der Neuorientierung über die Adaption gleichsam unbelasteter US-amerikanischer pädagogischer Theorien zu befriedigen gesucht. Diese kommt allerdings ohne Bildungsbegriff und ohne Bildungstheorie aus, da hier andere Fragen interessieren. So ist es auch plausibel, dass mit der Übernahme der Ansätze des Interaktionismusʼ sowie der Kommunikations-, der Curriculum- und der Unterrichtstheorie die Perspektive des Bildungsdenkens eine geringe Rolle spielt. Denn der gleichsam ›aufgeklärte‹ Funktionalismus, der mit diesen Theorien zur Wirkung kommt, lässt keinen Raum für dezidiert subjektbezogene Aussagen, wie sie von Bildungstheorien vorgelegt werden (vgl. Hoffmann 1999: 32).5 Teilweise als »Befreiung aus einem etwas muffig gewordenen Provinzialismus« (Scheuerl 1995: 111) gefeiert zieht diese Entwicklung sowie der Einzug empirischer Fragestellungen und Methoden in die Pädagogik jedoch den Argwohn einiger traditionalistisch gesinnter Hochschullehrer nach sich, da die neuen thematischen Felder und die neuen Redeweisen von diesen als »eine Art von Veräußerlichungs- und Verflachungsprozeß« (ebd.: 112; Herv. i.O.) erlebt werden. Hier beruft man sich weiterhin auf das Programm der traditionellen Pädagogik. Während die ›Traditionalisten‹ also die alten Ideen fortzuführen bestrebt sind und davon ausgehen, dass pädagogisches Denken und Handeln ohne eine Bildungstheorie sinnlos werde, richten die ›Progressiven‹ den Blick über die etablierten pädagogischen Theorien und Begrifflichkeiten hinaus, um neue Wege zu gehen (vgl. Hoffmann 1994). Entscheidend für die Umgestaltungen der Pädagogik und die Neuorientierungen zur Schaffung einer Bildungsforschung ist nun die Ansicht, dass die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen ebenso wie die veränderten Bildungsbedingungen nicht mit dem herkömmlichen Repertoire der Pädagogik zu erfassen seien, sondern stärker über empirische Zugänge erschlossen werden müssten. Die Veränderungen der Bildungsstruktur und die vielfältigen gesellschaftlichen Implikationen des Bildungswesens sollen durch eine solche Analyse nicht auf der Grundlage des klassischen deutschen Bildungsbegriffs in den Blick genommen werden, sondern im Rahmen einer soziologischen Fokussierung durchdrun-

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Eine Ausnahme in amerikanischen Theorien, in denen der Bildungsbegriff durchaus eine Rolle spielt, dürfte der Pragmatismus John Deweys sein. Die Verwendung des Wortes ›education‹ in dessen Schriften geht nämlich keineswegs im Erziehungsbegriff auf, sondern ist je nach Kontext mal besser mit Erziehung, mal mit Bildung zu übersetzen. Siehe dazu insbesondere Stojanov 2006a: 27ff.

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gen werden, bei der ›Bildung‹ als besondere Funktion der Gesellschaft gilt. Die zwischen 1770 und 1830 im Deutschen Idealismus hervorgebrachten traditionellen Ansätze der Pädagogik mit ihren – auch die Zeit danach im Wesentlichen dominierenden – Bildungskonzeptionen haben insofern keine Relevanz für die Analyse der Bildungsstruktur, als sie durch die rein kontemplativ-geistige Bestimmung von Bildung die neuen Aspirationen der breiten Bevölkerung an ›realer Bildung‹ per se ausschließen.6 Im Zuge der politischen Konsolidierung und des wirtschaftlichen Aufschwungs in der jungen Bundesrepublik kommt es jedoch gerade zu einer steigenden Nachfrage nach ›brauchbarer Bildung‹, sodass die klassische Bildungsidee auch auf Grund ihres immanenten Charakters sozialer Selektivität in besonderem Maße fragwürdig wird, ist doch Bildung als βíος θεωρητíκος bislang zumeist als eine Sache, die den πολλοί, den Vielen, nicht zur Verfügung steht. Stattdessen gerät nun das βíος πρακτικός in Form von Arbeit und Beruf in den Fokus, indem ›Bildung‹ als Berufsbildung gewendet für die arbeitsteilige Gesellschaft immens an Bedeutung gewinnt und dadurch auf breiter Front Zielgruppen erschließt. Dementsprechend werden auch die schulischen Bildungsgehalte von der Berufsstruktur der Gesellschaft und ›berechtigten Bildungsbedürfnissen‹ abhängig gemacht, wie der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen – konstituiert am 22. September 1953 – im »Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens« erklärt (vgl. Deutscher Ausschuß für das Erziehungsund Bildungswesen 1959). Ein solches Bildungsverständnis hat höchstens am Rande, eher aber kaum etwas mit dem Bildungsstreben zu tun, wie es »sich die Schöpfer des klassischen Bildungsideals dachten: vom Besonderen ins Allgemeine vorstoßend, dem Gedanken an Erwerb und praktischen Nutzen entsagend, auf denkende Erfassung, nicht auf praktische Gestaltung der Welt gerichtet« (Lemberg 1963: 32). Das Entstehen eines wesentlich verbreiterten und differenzierteren Bildungsbedürfnisses der ›neuen Gesellschaft‹ führt damit auch das Verlangen nach einem inhaltlichen Wandel des Bildungsbegriffs herbei, dessen Neufassung es erlauben soll, Bildungsstrukturen ebenso wie sozialstrukturelle Entwicklungen gegenwartsadäquat betrachten zu können. So lautet denn auch ein Diktum dieser Zeit: »Bildung kann heute nur mehr begriffen werden als eine der Grundfunktionen der menschlichen Gesellschaft, bestimmt, diese Gesell-

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Dazu passt es, wenn Dietrich Benner (1973: 128) formuliert: »So ist die Geschichte der traditionellen Pädagogik sowohl die Geschichte eines Instrumentes der Erhaltung und Verwaltung der jeweiligen gesellschaftlichen Situationen als auch die Geschichte von Ideen der Höherbildung der Menschheit, denen freilich wirklicher Einfluß auf die Erziehungswirklichkeit und die Gesellschaft versagt blieb.«

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schaft dadurch lebensfähig zu erhalten, daß sie die nachwachsende Generation befähigt, die vielfältigen, der modernen Industriegesellschaft notwendigen Rollen zu übernehmen.« (Ebd.: 34) Damit richtet sich die fundamentale Kritik, wie Eugen Lemberg, einer der Nestoren der Bildungsforschung in Deutschland, ausführt, darauf, dass Veränderungen der Bildungsstruktur, sofern man sie denn überhaupt zum Thema mache, von der Pädagogik zunächst und zumeist immer noch mit den alten Kategorien des Bildungsdenkens zu fassen versucht werden (vgl. ebd.: 40ff.). Da dies aber angesichts der wesentlichen strukturellen Wandlungen keine Angemessenheit mehr beanspruchen könne, habe eine Bildungsforschung ihr Augenmerk nicht mehr auf ›Bildung‹ im Sinne einer Höherentwicklung des Menschen oder eines geistigen Ideals zu richten, sondern auf ihre gesellschaftliche Funktion. Bildungsforschung habe also das Bildungswesen in seiner institutionellen Verfasstheit zum Thema zu machen. Der im klassischen Bildungsbegriff implizierte dialektische Doppelcharakter – als Mittel der sozialen Integration einerseits und als Voraussetzung für individuelle Emanzipation andererseits – wird damit allerdings um den emanzipatorischen Teil verkürzt. Die hier ansetzenden soziologistischen Bildungsentwürfe konzentrieren sich voll und ganz auf die soziale Komponente und stehen zugleich vehement für eine Neukonzeptualisierung der Erziehungswissenschaft auf der Basis von Bildungsstrukturanalysen ein: »Diese Analyse zu leisten, bedürfte es – da sich die deutsche Erziehungswissenschaft in bewußter Selbstbeschränkung immer noch auf der Plattform der klassischen Bildungskonzeptionen bewegt – einer neukonzipierten, auf die Wirklichkeit der Bildungsstruktur und des Bildungswesens gerichteten Forschung. Aber eben sie liegt in Deutschland erst in den Anfängen, muß erst durchdacht und institutionalisiert werden.« (Ebd.: 42)

So werden in den Anfangsjahren der Bildungsforschung gewichtige Gründe für eine strategische Weichenstellung der deutschen Erziehungswissenschaft gesehen, indem diese sich gegenüber den neu herandrängenden Fragen zu öffnen, sich in einer Arbeitsgemeinschaft mit anderen Disziplinen der Fülle und Vielschichtigkeit der Probleme im Bildungswesen anzunehmen und mit verschiedenen wissenschaftlichen Methoden zu erforschen habe. Modernere, beweglichere und die wissenschaftliche Arbeit stärker koordinierendere Organisationsformen sollen so die Erforschung der Bildungsstruktur ermöglichen, ohne dabei einen pädagogisch-philosophisch definierten und auf das Individuum gerichteten Bildungsbegriff in den Mittelpunkt zu rücken (vgl. ebd.: 50f.). Auf diese Weise wird in den 1960er Jahren eine Forschungsrichtung ins Leben gerufen, die vor dem Hintergrund einer gestiegenen Bedeutung von ›realer Bildung‹ sowohl für

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das Leben eines jeden Menschen als auch für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung eine systematische Erforschung des Bildungswesens verfolgt. Die Erfassung von Bedingungen, die für das Bildungswesen von Relevanz sind, führt damit zur Entwicklung der Bildungsforschung als – je nach Lesart – Gegen-, Teil- oder Nachbardisziplin der Erziehungswissenschaft. Und sie fordert die ›traditionelle Pädagogik‹ insofern heraus, als sie zur Umsetzung dieser Forschung ohne die Übernahme der klassischen Bildungsvorstellungen auskommt bzw. diese sogar als überholte Kategorien abweist. Als Reaktion auf diese Entwicklung formiert sich so im Jahre 1965 auch eine Arbeitsgruppe für empirischpädagogische Forschung (AEPF), die laufende, abgeschlossene und in der Planung befindliche Forschungsarbeiten in einem Kreis qualifizierter Gesprächspartner diskutieren und Forschungen durch Beratung über Projektplanung und -realisierung unterstützen will (vgl. Ingenkamp 1992: 110). Diese Arbeitsgruppe zeichnet sich darüber hinaus aber im Wesentlichen dadurch aus, dass sie empirische Forschung als die Anwendung ›angemessener‹ quantitativer Verfahren versteht und interdisziplinär orientiert, d.h. unter Mitarbeit von Psychologen, Soziologen und Vertretern anderer Wissenschaften, arbeitet. Gerade auf bildungspolitischer Ebene wird der Einsatz der Bildungsforschung dann vorangetrieben durch die vom Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen initiierte und mitgetragene Forderung nach einer grundlegenden Bildungsreform. Diese bekommt 1964 durch das Schlagwort der »deutschen Bildungskatastrophe« (Picht 1964) auch noch zusätzlichen legitimatorischen Antrieb, um dann ab 1965 im Deutschen Bildungsrat sowohl systematisch verfolgt als auch kontextuell gerahmt zu werden. So heißt es dort: »Man kann Bildungsforschung in einem weiteren und engeren Sinne auslegen. Im engeren Sinne hat es sie als Unterrichtsforschung schon immer gegeben. Im weiteren Sinne kann sie sich auf das gesamte Bildungswesen und seine Reform im Kontext von Staat und Gesellschaft beziehen, einschließlich der außerschulischen Bildungsprozesse. Wie weit oder eng aber auch die Grenzen gezogen werden, es sollte nur dann von Bildungsforschung gesprochen werden, wenn die zu lösende Aufgabe, die Gegenstand der Forschung ist, theoretisch oder empirisch auf Bildungsprozesse (Lehr-, Lern-, Sozialisations- und Erziehungsprozesse), deren organisatorische und ökonomische Voraussetzungen oder Reform 7

bezogen ist.« (Deutscher Bildungsrat 1974: 16)

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Andreas von Prondczynsky verdeutlicht anhand dieser Definition von Bildungsforschung durch den Deutschen Bildungsrat, dass Bildungsforschung ohne einen Bezug zur Bildungstheorie auskommt (vgl. von Prondczynsky 2006: 29ff.). Reinhard Uhle dagegen betont, dass trotz merkwürdiger Formulierungen zum Begriffswort ›Bildung‹

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Die Entstehung und Entfaltung der Bildungsforschung ist daher nicht bloß mit Entwicklungen innerhalb der Erziehungswissenschaft zu sehen, sondern auch auf das Engste verbunden mit der Infragestellung des öffentlichen Bildungswesens und dem Versuch, seine grundlegenden Probleme zu lösen. Einen zentralen Bezugspunkt für die Kritik am Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland stellt hierbei der Wendepunkt in der wirtschaftlichen Entwicklung zum Ende der 1950er Jahre dar, als für den Ausbau der deutschen Industrie und die Sicherung internationaler Konkurrenzfähigkeit eine ausreichende Zahl qualifizierter Arbeitskräfte benötigt werden (vgl. Friedrich 1972: 140). Der quantitative Ausbau und die qualitative Reorganisation des gesamten Bildungs- und Ausbildungswesens werden so zur zentralen Voraussetzung für die Sicherung des wirtschaftlichen Wachstums, wobei dem Staat die Aufgabe zufällt, »Bildungs- und Forschungspolitik als planmäßige Infrastrukturpolitik zu betreiben« (ebd.). Dadurch wird ein Prozess starker Institutionalisierung von Einrichtungen der Bildungsforschung in die Wege geleitet, der zuerst im außeruniversitären, später dann auch im universitären Bereich seinen Ausdruck findet. Es ist neben dem mit US-amerikanischer Unterstützung bereits 1950 gegründeten Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) hierbei das 1963 ins Leben gerufene Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, das – nicht zuletzt bis heute – die dominierende Rolle in der Bildungsforschung einnimmt.8 Die hier eingeschlagene sozialwissenschaftliche Orientierung widmet sich gänzlich Fragen des Ausbaus und der Struktur des Bildungswesens sowie der curricularen Gestaltung schulischer und beruflicher Ausbildung. Damit erfüllt dieses Institut das, was im

in den Empfehlungen des Deutschen Bildungsrats ein Anschluss an bildungstheoretische Traditionen vorliegt (vgl. Uhle 1995: 174ff.). 8

Als Anfang der 1960er Jahre die Vorarbeiten für die Gründung dieses Instituts Konturen annehmen und erste Gründungsschriften verfasst werden, spricht man zunächst von einem Plan des »Instituts für Forschungen auf dem Gebiet des Bildungswesens«. Das bei einer 1961 verfassten Denkschrift zur Institutsgründung erst aus Motiven der Vereinfachung nach dem Titel in Klammern gesetzte Wort ›Bildungsforschung‹ wird schließlich als offizielle Institutsbezeichnung übernommen und etabliert sich daraufhin als der allgemein übliche Begriff zur Kennzeichnung von Forschungen im Bereich des Bildungswesens (vgl. Becker 1979: 215f.). Inwiefern Hellmut Becker bei der Prägung des Begriffs ›Bildungsforschung‹ gewirkt hat, ist zwar fraglich; klar ist jedoch zumindest, dass der Begriff seit der Gründung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Eingang in die Öffentlichkeit gefunden hat und in den diversen pädagogischen Lexika zu finden ist. Vgl. hierzu auch Fend 1990: 687f. sowie den recht frühen Lexikoneintrag in Hehlmann 1967: 60f.

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Aufgabenspektrum ›traditioneller Pädagogik‹ nicht eingeschrieben ist. Die Entwicklungen retrospektiv betrachtend schlussfolgert Peter Zedler (1982: 271) daher auch: »Die Aufgabe, ein Bildungswesen zu konzipieren, das den aus der gesellschaftlichen Entwicklung resultierenden Anforderungen gerecht wurde, überforderte die bis dahin dominierenden geisteswissenschaftlichen, wertphilosophischen und transzendentalkritischen Theoriekonzepte. Sie erforderte Forschungsansätze, die sich weder auf eine hermeneutische Analyse vorfindbarer pädagogischer Praxis beschränkten, noch lediglich eine Aufdeckung von Denkvoraussetzungen pädagogischer Deutungs-, Orientierungs- und Handlungsmuster leistete oder unter weltanschaulich-theologischen Prämissen eine erzieherische Orientierung suggerierten, sondern die in der Lage waren, die aus den gesellschaftlichen Gegebenheiten und Entwicklungslinien resultierenden Anforderungen herauszufinden, auf ihren normativen Gehalt hin kritisch zu prüfen und ihre Realisierung zu sichern. Den forschungsstrategischen Anforderungen kamen die Sozialwissenschaften, die auf die ökonomische und sozialpolitische Dringlichkeit einer Bildungsreform allererst aufmerksam gemacht hatten, in doppelter Weise entgegen: Zum einen durch ihren Bestand an Folien zur Analyse gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge, zum anderen durch ihre empirisch-analytische Ausrichtung.«

1.1.2 Konsolidierungsverluste Was nun aber genau der Gegenstandsbereich der Bildungsforschung sein soll, das ist trotz aller Bestimmungsversuche zu Beginn ihres Einsatzes wenig fest umrissen. Auch in den diversen »Empfehlungen und Gutachten werden engere und weitere Definitionen von Bildungsforschung zugrunde gelegt« (Becker 1979: 215); so etwa, wenn der Deutsche Bildungsrat formuliert: »Die Aufgaben der Bildungsforschung sind vielfältig. Sie reichen von reinen Datenerhebungen über die Entwicklung von in der Schule verwendbaren Produkten und Verfahren bis zu Experimentalprogrammen für neue Schulformen und Modelle. Inhaltlich kann sie sich mit allen Themen befassen, deren Erforschung weiterführende Erkenntnisse für das Bildungssystem und die Bildungsprozesse versprechen« (Deutscher Bildungsrat 1974: 17).

Mit diesem offen gehaltenen begrifflich-definitorischen Zuschnitt droht allerdings das thematische Gebiet der Bildungsforschung schon hier grenzenlos zu werden, zumal ihr kein Bildungsbegriff zu Grunde liegt, der die Vielfalt der Untersuchungsgegenstände fokussieren und bündeln könnte (vgl. von Prond-

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czynsky 2006: 30). Man selbst verspricht sich allerdings, mit dieser Ausweitung ein spezifisches Problem zu lösen, das aus der im deutschen Sprachgebrauch üblichen Unterscheidung von Bildung, Erziehung und Unterricht resultiert: Da sich etwa das deutsche Wort ›Erziehung‹ lediglich auf »die Lenkung der inneren Entwicklung des Jugendlichen« (Becker 1979: 218; Herv. i.O.) richte und im Gegensatz zum englischen ›education‹ keine Unterrichtsprozesse bezeichne, plädiert man für eine großzügigere und gleichsam unprätentiösere Verwendung des pädagogischen Vokabulars. Zugleich erhofft man sich so, ansonsten nur schwer auszuschließende Missverständnisse zwischen den verschiedenen Disziplinen und im internationalen wissenschaftlichen Austausch vermeiden zu können. Unter Berücksichtigung einer Ausweitung des traditionellen Verständnisses von ›Bildung‹ findet in der Wortkreation ›Bildungsforschung‹ ein Zusammenschluss verschiedener, aber durchweg auf pädagogische Themenbereiche fokussierter Forschungsanstrengungen statt, nämlich die »Erforschung aller Erziehungs- und Lernprozesse, ihrer Organisation, ihrer Voraussetzungen, ihrer Folgen« (ebd.: 218). Dass eine solche Ausweitung und ›Entdifferenzierung‹ notgedrungen mit Reduktionen einhergeht, bleibt dabei unberücksichtigt. Stattdessen wird die daraus gewonnene Flexibilität und Vielfalt betont. Vielfältig sollen auch die im Rahmen der Bildungsforschung zu Rate gezogenen wissenschaftlichen Disziplinen sein. Der interdisziplinäre Forschungscharakter, bei dem die verschiedenen Disziplinen wie die Pädagogik, die Psychologie und die Soziologie, aber auch die Ökonomie, die Rechtswissenschaft und die naturwissenschaftlichen Fächer nicht bloß gemeinsam an einem Gegenstandsbereich arbeiten, sondern über die gemeinsame Bearbeitung auch zusammengeführt werden, ist von Anfang an ein konstitutiver Bestandteil der Bildungsforschung. »Das Bewußtsein von dieser Einheit und von der gegenseitigen Abhängigkeit der verschiedenen Einrichtungen und vielfältigen Prozesse in diesem Bereich immer wieder herzustellen, ist auch eine Aufgabe von Bildungsforschung« (ebd.: 216), um die Aufklärung des Bildungswesens sowie die Ermöglichung rationaler Bildungspolitik effizient und effektiv zu realisieren.9 Obgleich sich die Bildungsforschung in dieser Zeit nicht ausschließlich als Zulieferer für und Determinante von Bildungspolitik versteht, sondern auch theoretische Zielsetzungen verfolgt, geht ihr Plädoyer für Theoriearbeit nicht so weit, um eine von empirischen Forschungsfragen vollkommen unabhängige Theoriediskussion für gut zu heißen, da man glaubt, die Abgrenzung gegenüber

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Siehe zum Aufklärungsanspruch der Bildungsforschung den in loser Anlehnung an zwei bekannte Arbeiten von Max Weber herausgegebenen Sammelband »Aufklärung als Beruf« (Becker/Hager 1992).

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der ›traditionellen Pädagogik‹ so nicht hinreichend legitimieren zu können. Die Schaffung einer eigenen Abteilung für philosophisch-theoretische Fragen zur Pädagogik am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, für die etwa Theodor Litt und Georg Picht plädieren, lehnt man deshalb in der Planungsphase des Instituts mit dem argumentativen Hinweis ab, dass die ständige Theoriediskussion an der sachlichen Fragestellung in empirischen Projekten sich auf Dauer als wirksamer und ergiebiger erweise als die »abstrakte Theoriediskussion an sich« (ebd.). Der Bildungsforschung dieser Dekade geht es nämlich vielmehr um die Entwicklung von Theorieelementen, die in verschiedenen Forschungszusammenhängen verwendet werden können und gerade »nicht um die Entwicklung einer Bildungstheorie« (ebd.: 224; Herv. i.O.). Trotz dieser Absage an die Generierung einer bildungstheoretischen Konzeption ist die frühe Bildungsforschung allerdings mit der Pädagogik doch insofern verbunden, als sie sich für ihre empirischen Untersuchungen an grundlegenden pädagogischen Fragestellungen orientiert. Neben solchen Studien, »in denen im Sinne strenger Empirie gearbeitet oder im Sinne der Psychometrie ›gemessen‹ wird« (Becker 1971: 29), entstehen zu dieser Zeit daher etwa auch die wichtigen, auf die Schaffung von Grundlagen für eine internationale Bildungspolitik gerichteten Forschungen, die mit »Methoden hermeneutischer Pädagogik« (ebd.) arbeiten und so der propagierten »realistischen Wendung in der Pädagogischen Forschung« (Roth 1964) schärfere Konturen verleihen. Bereits 1962 hat Heinrich Roth mit seiner Antrittsvorlesung an der Göttinger Universität ein ›Empirischwerden‹ der Pädagogik eingefordert, ohne allerdings das philosophisch-pädagogische Programm gänzlich zu negieren. So heißt es bei Roth (1964: 182) ipsissima verba: »Die Pädagogik wird auch weiterhin ›more philosophorum‹ betrieben werden müssen, denn sie ist die Reflexion über eine Aufgabe, die den Kontrollbereich erfahrungswissenschaftlicher Methodik bei weitem übersteigt. Pädagogik bleibt imperativ auf Normen bezogen«. Empirisch-pädagogisches Forschen wird in dieser programmatischen Rede als eine kooperative Verbindung aus theoretischer und empirischer Arbeit entworfen, welche die empirischen Fakten hinsichtlich ihrer verborgenen pädagogischen Möglichkeiten reflektiert und so im Modus einer ›datenverarbeitenden Integrationswissenschaft‹ der Theorieperspektive ebenfalls bedeutenden Raum gibt (vgl. Roth 1964: 184; Hoffmann 1994: 149). Nicht zuletzt deshalb wird Roth auch gewürdigt als »der beste Diplomat, den die empirisch orientierte Pädagogik in den letzten Jahrzehnten hatte« (Ingenkamp 1983: 22).

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1.1.3 Abwege und Kontroversen Zunehmend radikalisiert sich allerdings innerhalb der Bildungsforschung die Ablehnung traditioneller Bildungsvorstellungen der Pädagogik. Auch die anfänglich noch feste Orientierung an pädagogischen Fragen löst sich allmählich auf. Mit der Marginalisierung der Pädagogik und der Stärkung anderer wissenschaftlicher Disziplinen innerhalb der Bildungsforschung – wie der Bildungssoziologie, der Bildungsökonomie und allen voran der Pädagogischen Psychologie10 – werden nun damit auch solche Forschungsbefunde bedeutsam, die nicht mit einem erziehungswissenschaftlichen Interesse verbunden sind (vgl. Zedler 2002: 23f.). Stattdessen gewinnt für die Bildungsforschung die Orientierung am Methodischen an Bedeutung.11 Der Bruch der Bildungsforschung mit der Pädagogik sowie ihren bildungstheoretischen Leitvorstellungen werden so mit dem Verlust des expliziten Bezugs auf die pädagogische Inhaltsebene und der erfolgten Ausrichtung am nomothetisch-werturteilsfreien Wissenschaftsideal besiegelt: Pädagogik werde entweder empirisch oder überhaupt nicht sein, so lässt sich die hier angekündigte Auffassung auf den Punkt bringen. Durch den empirisch-analytischen Zugriff auf Fragestellungen wird zudem nicht nur die Abwendung von der Pädagogik vollzogen, sondern auch die technologische Machbarkeitsvorstellung der Bildungsforschung ausgebaut, sodass

10 Kritisch dazu äußert sich beispielsweise Dietrich Benner (1973: 122): »Die heutige Redeweise von der sogenannten pädagogischen Psychologie […] abstrahiert von der eigentlichen Aufgabe, die mögliche Bedeutsamkeit erkenntniswissenschaftlicher Aussagen über die Erziehungswirklichkeit für deren sinnbestimmte Gestaltung zu klären, indem sie den psychologischen […] Aussagen über die Erziehungswirklichkeit ohne weiteres das Attribut, pädagogische Aussagen zu sein, zubilligt.« Siehe hierzu auch die aufschlussreiche Untersuchung von Elisabeth Gutjahr (1992), die im Zusammenhang mit der Frage, wie pädagogisch die Pädagogische Psychologie tatsächlich ist, die problematischen Prämissen ihrer Wirklichkeitsauffassung untersucht und eine uneingestandene Gegenstandskonstruktion am Beispiel der Lernpsychologie nachweisen kann. Am Ende ihrer Untersuchung kann Gutjahr deshalb auch zeigen, dass sich die Pädagogische Psychologie eines Begriffs der Pädagogik bedient, welcher ausschließlich das Verhalten und Möglichkeiten der Verhaltensänderung in den Mittelpunkt stellt. Dass dies allerdings schon genügt, um das Epitheton »Pädagogisch« zu verdienen, stellt sie mit Blick auf das vorhandene Problemniveau pädagogischen Denkens und Handelns und die Bildungsaufgabe zu Recht kritisch in Frage. 11 Auf ähnliche Weise wird zu dieser Zeit auch in der Schweiz die Bildungsforschung gestärkt. Siehe Criblez 2007.

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die Kritik an ihr seitens der Bildungstheorie ebenfalls deutlichere Züge annimmt. Denn noch so viele Daten erfahrungswissenschaftlicher Forschung besagen rein gar nichts darüber aus, ob einer Sache auch pädagogisch besehen beizupflichten ist.12 Auch wenn sich anfänglich die kritischen Äußerungen eher auf den praktizierten empirisch-positivistischen Ansatz und die Frage nach seiner pädagogischen Legitimität beziehen, ist das Spannungsverhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung durchaus etwa mit solchen Hinweisen angesprochen, die daran erinnern, dass es sich bei ›Bildung‹, Erziehung und Unterricht nicht bloß um erforschbare Tatsachen, sondern zugleich, wenn nicht sogar noch vielmehr, um pädagogische Aufgaben handle, denen zu entsprechen sei. Bildungstheoretiker legitimieren damit ihre Ausrichtung und weisen zum einen darauf hin, dass mit dem erkenntnistheoretischen und forschungsmethodischen Programm der Bildungsforschung die Gefahr einhergehe, nur noch danach zu fragen, was mit den verwendeten Methoden auch tatsächlich beantwortet werden könne, sodass zentrale Problembereiche der Pädagogik keine Aufmerksamkeit mehr erfahren können (vgl. Mollenhauer 1966: 59). Zum anderen stellen sie auch heraus, dass es ein immanenter Charakter der Bildungsforschung sei, das gesellschaftlich Gegebene zu affirmieren – und zwar gerade dort, wo Theorieprobleme gleichsam hinter dem Rücken des Forschungsbetriebs unaufgeklärt bleiben. Zugunsten der Verbesserung menschlicher Verhältnisse, der emendatio rerum humanarum, so wie sie im Werk von Johann Amos Comenius skizziert wird, sei eine Pädagogik allerdings unbedingt auf eine kritisch bestimmte Aufklärung und ›Bildung‹ angewiesen: »Pädagogische Theorie, die sich notwendig überempirisch versteht, nicht weil Empirie verachtet oder das empirische Argument gering geschätzt ist, sondern weil Empirie begründet werden soll, diese Theorie führt mit der Waffe der empirischen Forschung über das Faktum des Gegebenen hinaus, um das empirische Leben selbst auf eine andere Stufe zu heben« (Blankertz 1966: 75).

Angesichts dieser und weiterer unterschiedlicher Auffassungen zwischen denjenigen, die sich am traditionellen Programm der Pädagogik orientieren und denjenigen, die die Pädagogik zu einer empirisch forschenden Disziplin machen und Wirklichkeit in Kategorien von kausal-deduktiven Wenn-Dann-Hypothesen er-

12 Das verdeutlicht Wolfgang Fischer äußerst anschaulich anhand seiner Studie über die Wirkung von Strafen in der Pädagogik. Siehe Fischer 1968. Kritik an den von Fischer vorgenommenen Konklusionen übt aus empirisch-pädagogischer Sicht Ingenkamp 1983: insbes. 25ff.

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fassen wollen, entbrennt in den folgenden Jahren eine kontroverse Diskussion, die ihre Klimax in den 70er Jahren zu der Zeit des so genannten Positivismusstreits erlangt.13 Diese, über die Soziologie in die Erziehungswissenschaft hineingetragene, nicht selten ideologisch und polemisch geführte wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung spielt sich zwar keineswegs nur auf der Demarkationslinie zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung ab, sondern eröffnet vielmehr einen Richtungsstreit zwischen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik und der empirisch-analytischen Erziehungswissenschaft, bei dem auch noch andere Ansätze und Richtungen wie die praxeologische, die transzendentalkritische und die kritisch-emanzipatorische Pädagogik Stellung beziehen. Jedoch geht es in diesen Auseinandersetzungen sehr wohl auch um den Status von ›Bildung‹ und Bildungstheorie, und so wirken derlei Fragen aus den Debatten wiederum auf die Verhältnisbestimmung von Bildungstheorie und Bildungsforschung zurück. Kenntlich gemacht wird der Bruch der Bildungsforschung mit der ›traditionellen Pädagogik‹ immerhin auch durch die Abkehr vom Bildungsbegriff und den Versuch, ihn durch andere Begriffe zu ersetzen, sei es durch Lernen, durch Qualifikation oder auch durch Sozialisation. Denn Bildungsideen, die – neuhumanistisch gesprochen – die freieste und regeste Wechselwirkung von Mensch und Welt betonen, werden für die Neugestaltung einer empirisch forschenden Erziehungswissenschaft und die bildungsreformerischen Bemühungen als hinderlich wahrgenommen und sollen als träumerische Ideen längst vergangener Tage weggeräumt werden (vgl. Uhle 1995: 166). Ein Unbehagen an al-

13 So kann der Mitte der 1960er Jahre stattfindende, durchaus harsche Disput zwischen dem Würzburger Philosophen Heinrich Rombach und dem zuletzt in Konstanz lehrenden österreichischen Erziehungswissenschaftler Wolfgang Brezinka als anschauliches Beispiel für die Diskrepanz zwischen unterschiedlichen Anschauungen einer sich primär theoretisch-philosophisch verstehenden Pädagogik und einer empirisch konturierten Erziehungswissenschaft angeführt werden. Ausgehend von einer 1966 publizierten Rezension Brezinkas gilt diese Auseinandersetzung der Frage nach dem besseren wissenschaftstheoretischen Verständnis von Pädagogik resp. Erziehungswissenschaft, das zwischen strukturphänomenologischem Einsatz einerseits und empirischanalytischem Paradigma andererseits festzumachen versucht wurde. Als einschlägiges Zeugnis für das Differenzverhältnis zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung kann der Disput zwischen Brezinka und Rombach aber auf Grund der doch je besonderen und ›eigenwilligen‹ Konzeptionen beider Wissenschaftler nicht verstanden werden. Zum Verlauf dieser Diskussion zwischen Brezinka und Rombach siehe die Zusammenfassung von Stettner 1979. Zum Positivismusstreit in der Erziehungswissenschaft allgemein siehe Büttemeyer/Möller 1979 und Hoffmann 1991.

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lem, was nur im Hauch mit dem klassischen Bildungsdenken zu tun hat, ist daher kennzeichnend für die Phase zwischen 1965 und 1975. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Bildungstheorien weitestgehend ein randständiges Dasein fristen und der Bildungsbegriff auf Grund seiner Entwertung im Grunde genommen als nicht mehr verwendbar wahrgenommen wird (vgl. Hoffmann 1994: 153).14 Die angesprochenen Veränderungen des Verständnisses von Bildungsforschung und die sich hieraus ergebenden Entwicklungen verschärfen also sukzessiv den Ton im Umgang zwischen Bildungstheoretikern und Bildungsforschern, wozu womöglich auch die sich verschlechternde Konjunkturlage zur Mitte der 1970er Jahre nochmals beiträgt. Denn während zuvor beinahe alle erziehungswissenschaftlichen Bereiche ebenso wie das Bildungswesen eine immense Expansion erleben, werden mit dem Ende bildungsreformerischer Bemühungen und deren symbolträchtiger Unterstreichung durch den Beschluss zur Auflösung des Deutschen Bildungsrates im Jahr 1975 die vorhandenen öffentlichen Mittel enger kalkuliert. Damit scheint es nun nötig, den ›Nutzen‹ der jeweiligen pädagogischen Arbeit in besonderer Weise herauszustellen und zu begründen, warum sie es wert ist, durch die Zuführung von Geldern aus öffentlicher Hand unterstützt zu werden. Gerade die pädagogische Reflexion geisteswissenschaftlicher Provenienz, die die pädagogische Fachdiskussion bis in die 1960er Jahre hinein im Wesentlichen bestimmt, wird hierbei nun zum Angriffsziel der Bildungsforschung. Zum Vorwurf wird der hermeneutisch-pragmatischen Pädagogik nunmehr gemacht, dass sie sich mit der Deutung der Geschichte und der Auslegung pädagogischer Texte beschäftigt, viel Zeit und Mühe für das »Verstehen von Individualien, die Einfühlung in geistig-seelische Zustände […] sowie die Erzeugung normativen erzieherischen Engagements« (Heid 1977: 129) aufgebracht habe, ohne dabei jedoch einen tatsächlichen Bezug zur pädagogischen Wirklichkeit herzustellen. Die ›réflexion engagée‹, mit der Wilhelm Flitner das Programm der geisteswissenschaftlichen Pädagogik umschreibt, erfährt so eine schroffe Zurückweisung. Denn mit einer vom Engagement zwar getragenen, aber die pädagogische Wirklichkeit nicht ergreifenden Reflexion habe sie kein empirisches Wissen hervorbringen können, sodass von ihr auch keine Auskünfte

14 In zusammengesetzten Ausdrücken, also Kompositionen, wie Bildungssystem, Bildungsministerium, Bildungsorganisation oder Schulbildung, aber auch in Substantiven wie Ausbildung und Einbildung wird das Wort ›Bildung‹ nahezu durchgängig weiter verwendet. Allerdings fristet es doch »ein gleichsam rudimentäres semantisches Dasein neben den aus Verstandesgründen exakteren Termini wie Erziehungssystem, Erziehungswissenschaft, Sozialisationsprozeß, Qualifikationsprofil oder Unterrichtsplanung« (Hansmann 1988: 21 FN 1).

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darüber erwartet werden können, wie die Wirklichkeit von ›Bildung‹ ablaufe und wie sich die Wirksamkeit des Bildungswesens beeinflussen lasse. Bildungsforschung in dieser Ausrichtung versteht sich damit als Reflex auf die »versäumten Chancen« (Tenorth 1989) der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, sich tatsächlich der ›Bildungswirklichkeit‹ zuzuwenden. So sieht sie sich in konsequenter Fortführung jener pädagogischen Tatsachenforschung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.15 Auf diese Weise versucht sie – wie sie selbst betont – sich auch von den »traditionellen Belastungen der Bildungstheorie« (Heid 1977: 132) abzusetzen und sich als moderne Forschungsdisziplin zu profilieren, die das überkommene Bildungsverständnis an die realen sozioökonomischen Bedingungen des 20. Jahrhunderts anpasst und zugleich die Erziehungswissenschaft und deren Arbeitsweisen auf Evidenzbasierung umstellt. Denn Methoden und Standards sozialwissenschaftlicher Forschung müssen endlich auch in die Erziehungswissenschaft flächendeckend einkehren und »für eine systematische Vergewisserung der realen Grundlagen rationalen und verantwortbaren Planens und Handelns in Bildung und Bildungswesen dienstbar« (ebd.: 129) gemacht werden. Wie sehr sich die Bildungsforschung damit allerdings in den Glauben einer vollkommenen Einsicht in reale Abläufe verstrickt, wird deutlich, wenn es heißt, dass sie prädestiniert sei, »realitätsbezogene, informative, intersubjektiv überprüfbare, objektive, gültige und zuverlässige Beschreibung, Erklärung und Anleitung« (ebd.) bereitzustellen.16 Damit liefert die Bildungsforschung ihr Pro-

15 Ernst Meumann, Wilhelm August Lay, Aloys Fischer, Peter Petersen oder auch der weitgehend in Vergessenheit geratene F.E. Otto Schultze können in diesem Verständnis als Vorläufer der Bildungsforschung gelten. Siehe hierzu auch Ingenkamp 1987, Tippelt 2004 und 1998: 245f. 16 Heid (1977: 130) geht gar davon aus, dass die Frage, welche pädagogischen »Probleme unter Einsatz welcher Mittel und welchen Bedingungen und zu welchem Zweck gelöst werden sollen«, ebenfalls zum Gegenstand erfahrungswissenschaftlicher Erhebungen werde und sich darüber entscheiden lassen kann. Beispielsweise sei die Bildungsforschung imstande, Wesentliches zum immer wieder diskutierten Problem beizutragen, ob und inwiefern die Effektivitätsforderung eine pädagogisch adäquate Maßgabe darstellt (vgl. ebd.: 131). Wie aber über die Methoden der Bildungsforschung und den von ihr protegierten sozialwissenschaftlichen Standards, d.h. durch Objektivität, Reliabilität und Validität, Rationalität und Verantwortung pädagogischen Planens und Handelns bestimmt werden sollen, darüber trifft Heid keine Aussagen. Zwar ist er sich darüber im Klaren, dass die Lösung praktischer Probleme eine Normentscheidung impliziert. Das, was Rationalität und Verantwortung aber konkret bedeuten, wird nicht gleichsam durch die Methodik der angewandten Forschung mitge-

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gramm und Anliegen einem fatalen Tribut neuzeitlicher Rationalität aus, nämlich dem Schein reiner Objektivität. Obzwar an der Erforschung realer pädagogischer Gegebenheiten orientiert, verfällt sie im Gefolge euphorischen Verfügungsdenkens trügerischen Annahmen der Wirklichkeitskontrolle. Der Glaube an Rationalität, Effizienz und Effektivität wird gleichbedeutend mit dem Glauben an die Machbarkeit von ›Bildung‹. Radikale Steuerungs- und Optimierungsphantasmen sowie technokratisches Kontrollstreben charakterisieren damit das Selbstverständnis der Bildungsforschung zur Mitte der 70er Jahre, nicht ohne dass der hier vorhandende Hang zur radikalen Operationalisierung auf seine Problematiken hin angesprochen wird. Denn dort, wo Operationalisierung für die Definition eines Begriffs und der hierauf bezogenen Sache als absolut notwendig gilt, da »unterschlägt man, daß vorgängig immer bereits ein maßgebliches Verständnis des operational zu Definierenden vorliegt und daß die Prüfung der Angemessenheit des Operationalisierten mit den Operationen sich dem Operationalisieren entzieht« (Fischer 1980: 99). Keiner der im pädagogischen Positivismusstreit beteiligten Ansätze hat sich als einheitswissenschaftliches Paradigma durchgesetzt; auch nicht die empirische Erziehungswissenschaft.17 Und doch muss diese Phase so gedeutet werden, dass eine Pädagogik, die sich in ihrer Grundausrichtung auch und gerade bildungstheoretisch versteht, nachhaltige Verluste davonträgt. Denn sie kommt – metaphorisch gesprochen –, nachdem »der Schlachtenlärm verklungen und der zugehörige Rauch verflogen war, […] [m]it einem entwerteten Bildungsbegriff und einer zerredeten Bildungstheorie […] in der Gegenwart an« (Hoffmann 1999: 26). 1.1.4 Dauerhafte Animositäten Trotz zum Teil wieder stärkerer Anbindung der Bildungsforschung an pädagogische Fragestellungen seit den 1980er Jahren bleibt der »Zweifel an der Möglichkeit, Pädagogik als empirische Wissenschaft zu betreiben« (Heid 1996) in Kreisen der Allgemeinen Pädagogen und Bildungstheoretiker zumeist größer als die Ambitionen, den eigenen theoretischen Aussagen durch empirische Verweisungszusammenhänge und ›Operationalisierungen‹ ein besseres Anschauungs-

liefert, sondern beruht auf argumentativer Verständigung und normativer Entscheidung, sodass deren Bedeutung und Berechtigung deshalb immer wieder neu bedacht werden müssen. 17 Zum Ertrag der metatheoretischen Diskussion des Positivismusstreits siehe auch Benner 1993: insbes. 44f.

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potenzial zu verleihen. Daran kann auch nur in geringem Maße die Umschrift der Bildungsforschung und ihre Erweiterung hinsichtlich der Untersuchung von Alltags- und Erfahrungswelten in den 1980er und 90er Jahren etwas ändern. In der Bildungsforschung dieser Zeit werden auf Grund qualitativer Forschungsmethoden zwar Fragestellungen bedeutsam, die Pädagogisches wieder mehr ins Zentrum rücken (vgl. Fend 1990: 706). Auch »grenzstarke Unterscheidungen zwischen Bildungsforschung und Formen geisteswissenschaftlicher Theoriebildung« (Zedler 2002: 25) scheinen zu schwinden. Möglichkeiten einer grundsätzlichen Annäherung zwischen Bildungsforschung und Bildungstheorie werden aber nur vereinzelt wahrgenommen. Bestandsaufnehmende Darstellungen und Skizzierungen von Forschungsperspektiven der Bildungsforschung betonen vielmehr die Unterschiede zwischen einer empirischen Bildungsforschung einerseits und einer nicht-empirisch basierten Bildungsforschung andererseits. Häufig wird dies sogar auch mit dem Hinweis verbunden, »dass der Bereich der empirischen Bildungsforschung den Kern der Bildungsforschung ausmache« (ebd.: 26). Bildungstheoretische Überlegungen haben in diesem Verständnis allerhöchstens die Funktion einer Zulieferung. Ihre disziplinspezifische Verantwortlichkeit wird auf Begriffsklärungen oder wissenschaftstheoretische Grundlegungen begrenzt. Manche Bildungsforscher äußern hier explizit ihre Geringschätzung und Abwertung der theoretischen Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft, indem sie prominent kundtun, dass ihnen »ein bildungstheoretischer Segen« (Baumert/Stanat/Demmrich 2001: 30) gleichgültig sei, zumal er die ›harten‹ Ergebnisse der Bildungsforschung – konkret hier jene über schulisch erworbene Kompetenzen – keineswegs validiere. Einer Auseinandersetzung mit bildungstheoretischen Problemstellungen wird deshalb erst gar kein Raum gegeben und keine Zeit gewidmet.18 Wenn aber in diversen Studien der Bildungsforschung »das ›Subjekt‹ mit Hilfe eines operationalisierten Kompetenzbegriffs vermessen wird, dürften sich die Bildungstheoretiker darin einig sein, dass damit noch herzlich wenig über Bildung gesagt ist« (Schäfer 2007: 100). Zudem machen sie die ›Arbeit am Begriff‹ als einen wichtigen und eigenwertigen Bestandteil von wissenschaftlicher Pädagogik stark und erwehren sich gegen die Degradierung ihres Einsatzes zur Instrumentalfunktion für empirisch-pädagogische Forschung. Denn mit der Sachstruktur empirischer Forschung sei, »ohne daß dies etwas gegen sie besagte, unweigerlich die Stillegung der Arbeit an den sie leitenden Kategorien und Begriffen, […] mithin die Ruhigstellung einer als bekannt und anerkannt

18 Dies illustrieren etwa die Pläne zu einer bildungstheoretischen Rahmung von PISA, die nicht zur Umsetzung kamen. Siehe zum Verlauf dieser Pläne Benner 2006: insbes. 131ff.; die Konzeption selbst wird dargestellt in Benner 2002.

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supponierten begrifflichen Bedeutung von ›Bildung‹ verkoppelt« (Ruhloff 1998: 413). Auf immense bildungstheoretische Vorbehalte stößt dabei vor allem der reduktionistische Charakter des von der Bildungsforschung herangezogenen Bildungsbegriffs: »Gegen solche Forschungen ist, um es noch einmal zu betonen, nichts einzuwenden. Sie folgen einem der vom deutschen Wortspiel ›Bildung‹ bereitgestellten Bedeutungszüge und verhelfen diesem zu einer effektiven operationalen Verwendung. Mit anderen im Begriffswort ›Bildung‹ registrierten Bedeutungen, insbesondere mit ›Bildung‹ im Sinne einer pädagogisch begründeten und gedanklich bestimmt umrissenen Aufgabe, hat jene neutralisierte, mit großen Händen empirisch beim Schopfe gepackte oder auch feinsinnig biographie-hermeneutisch ertastete Bildung qua Lernen, Entwicklung, Veränderung, Erfahrung und (soziologisch gedeuteter) ›Reflexivität‹ in sozial regenerativer und identitätsaufbauender Funktion jedoch wenig oder gar nichts zu tun.« (Ebd.)

Das, was die Bildungsforschung heutzutage als ›Bildung‹ und ›Bildungswirklichkeit‹ untersuche – also etwa Schulabschlüsse, Kompetenzmodelle oder allen voran die so genannten Bildungsstandards –, unterscheide sich deshalb elementar von dem, was gemessen am bislang gedachten und erreichten Problemniveau bildungstheoretischen Denkens unter ›Bildung‹ verstanden werde. Aus der Sicht der meisten bildungstheoretischen Protagonistinnen und Protagonisten können im Zugriff der Bildungsforschung deshalb auch allenfalls Lernprozesse ausfindig gemacht werden. »Als Beglaubigungsinstanzen der Richtigkeit oder Unrichtigkeit von […] Bildungsprojekten kommen sie jedoch nicht in Betracht; denn diese gehen ja davon aus, daß die Wirklichkeit nicht das Richtige ist, daß eine Differenz zwischen Menschsein und Menschlichkeit besteht, die es in einem Bildungsprozeß zu überwinden oder wenigsten zu verringern gilt.« (Ruhloff 2000: 120)

Denn obwohl Bildungsforschung sich stets davon distanziert, in der Macht des Faktischen befangen zu sein und stattdessen versucht, pädagogische Wirklichkeit über detaillierte Analysen auch zu verändern, reichen Bildungstheoretikern diese Versicherungen zumeist nicht aus, da für sie nicht ersichtlich wird, wie es gelingen soll, aus der Normativität des Faktischen hinauszugelangen, wenn diese doch den Untersuchungsgegenstand bildet, an den man nolens volens in empirischer Forschung gebunden ist. Bildungstheoretiker überzeugen diese argumentativen Versuche vor allem aber auch deshalb nicht, weil Aussagen der Bildungsforschung über tatsächliche Bildungsprozesse keine bildungstheoretischen Be-

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zugnahmen aufweisen, die gerade Fragen nach der ›Menschlichkeit des Menschen‹ berücksichtigen oder die immerhin Bezüge zur Grundstruktur allgemeiner Bildung, wie sie modernen Bildungssystemen immanent ist, aufweisen (vgl. Ruhloff 1996a: 149f.; Benner 2002). Ihren Auffassungen nach verfehlt die Bildungsforschung deshalb mitunter sogar ihren Gegenstand, da sie ohne Rückgriff auf im Bildungsbegriff enthaltene Grundzüge auskommt und darum auch konsequent in Lern- oder Qualifikationsforschung umgetauft werden sollte (vgl. Gruschka 2004: 9). An diesem konfrontativen Kurs beider Wissensformen scheint sich kaum etwas geändert zu haben. Vielmehr spricht Einiges dafür, dass er zuletzt wieder deutlicher wurde. Insbesondere durch das PISA-Projekt sowie durch andere große Studien der Bildungsforschung mit ihren medial aufbereiteten sowie breit diskutierten Ergebnissen wird eine Situation geschaffen, in der die »neue Bildungsforschung […] gegenüber der alten Bildungstheorie die Oberhoheit über den erziehungswissenschaftlichen Diskurs erobert« (Gruschka 2006: 140). Mit der strukturellen Stärkung der Bildungsforschung, wie sie etwa auch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (2002) befürwortet wird, kommt so die nicht ganz unberechtigte Befürchtung auf, dass womöglich endgültig das verschwinden könnte, was man »als den genuinen Beitrag der Pädagogik, der bildenden Vermittlung und deren Erforschung, bezeichnen kann« (Gruschka 2004: 9). Diese und ähnliche Kassandrarufe von Bildungstheoretikern verfestigen allerdings auch die vorhandenen Differenzlinien und erschweren somit eine Annäherung. Wird diese historische Wegstrecke nun überblickt und nach den systematischen Ursachen für das Konfliktverhältnis gesucht, dann zeigt sich, dass das dualistische Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung in diesem Sinne der Vielfalt der Thematisierungen des Bildungsbegriffs geschuldet ist und sich auf die mangelnde »Eindeutigkeit einer klaren und distinktiven Bestimmung des Begriffs« (Tenorth 1997a: 970) zurückführen lässt. So ist es einerseits die Heteronomie der Betrachtungsweisen über ›Bildung‹, die den Streit zwischen Bildungstheoretikern und Bildungsforschern aufrechterhält, eben weil »kluge Menschen sich mit der Arbeit an einem Begriff mühen, dem andere kluge Menschen nicht mehr zubilligen als den Status der leeren, allein provinziell tradierten Worthülse« (ebd.). Gerade wenn der Bildungsbegriff für mehr gehalten wird als für eine »multidisziplinäre Substratkategorie« (ebd.: 975), stiftet er verfeindete Lager. Andererseits bestehen zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung aber auch Divergenzen jenseits der um ›Bildung‹ angesiedelten Problematik begrifflicher Art. Diese beziehen sich vielmehr auf unterschiedliche Einschätzungen der Beobachtung und Steuerung bildungsbezogener Abläufe, d.h. in Bezug auf die Frage, ob und inwiefern es möglich ist, ›Bildung‹ durch empirisch-wis-

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senschaftliche Beobachtung einzuholen und sie durch planmäßiges Handeln zu beeinflussen. Während die Bildungsforschung nach dem Kausalitätsprinzip die Bedingungen für ›Bildung‹ – den üblichen Jargon bemühend – zu identifizieren, zu optimieren und zu implementieren versucht und der Auffassung ist, dass jeder, der »Bildung empirisch erfassen, praktisch fördern oder kriterienbezogen beurteilen will, […] auf Beobachtbares oder auch Messbares« (Heid 2004: 461) angewiesen ist, weist die Bildungstheorie darauf hin, dass gerade konstitutive Momente der ›Bildung‹ in ihrer Unverfügbar- und Unabschließbarkeit liegen; etwa dann, wenn angeführt wird, dass ›Bildung‹ und ihre Prozesse gar nicht empirisch eingeholt werden könnten, ›Bildung‹ im gewissen Sinne ›ortlos‹ sei und der Bildungsbegriff in empirischer Erforschung einer identifikatorischen Logik unterworfen werde, womit man ihm seiner Möglichkeitskategorie, als utopisches Korrektiv gegenüber Erziehung und Sozialisation zu fungieren, beraube (vgl. Schäfer 2003: 61).19 Die häufige Verwendung von Metaphern des Vorübergehens, des Nichtgreifbaren und des Flüchtigen untermauert dies und verleiht ›Bildung‹ damit das »Signum des Außer-Ordentlichen« (Rustemeyer 1997: 114). Mit dieser Uneindeutigkeit und Metaphorizität belaste der bildungstheoretische Strang der wissenschaftlichen Pädagogik – so wird es häufiger herausgestellt – jedoch gerade die Selbstverständigung einer forschungsorientierten und praxisverpflichteten Disziplin. Und in der Tat scheint diese Kritik dahingehend berechtigt, dass sich die Bildungstheorie auf die Formulierung normativer Zielvorstellungen beschränkt, ohne sich für die empirischen Bedingungen ihrer Realisierung zu interessieren. Mit dem Vorwurf an die Bildungstheorie, in Auseinandersetzung mit der Arbeit am Bildungsbegriff einen »Platzhalter für das Unsagbare«

19 Schäfer soll hier keineswegs als ›Abgesandter‹ der Bildungstheorie präsentiert werden. Dies würde seinem Anliegen, das er in umfassender Weise in seiner Habilitationsschrift von 1989 dargelegt hat, nicht gerecht werden. In einem grundsätzlich rationalitätsskeptischen Relativismus kritisiert er geradezu das naive Wirklichkeitskonzept sowohl der Bildungsforschung als auch der Bildungstheorie und versucht, nicht zuletzt mit Rekurs auf Adornos Kritik am identifizierenden Denken die häufig übersehenen Problemfelder und Paradoxien zu markieren, die bei jeglichem Sprechen und Forschen über ›Bildung‹ auftreten (vgl. Schäfer 1989 und 2006a: 89). Gleichwohl machen seine dargelegten Argumente aber die Vorbehalte gegenüber einer wie auch immer gestalteten empirischen Erforschung von Bildungsprozessen deutlich, auch wenn er selbst einige Umrisse für eine bildungstheoretisch inspirierte empirische Forschung liefert, die aber auf Grund ihrer nicht mehr sozialwissenschaftlichen und in sich paradoxen Ausrichtung nur äußerst schwer in Forschungskontexte zu übersetzen sein dürften. Vgl. Schäfer 2006a und 2007.

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(Tenorth 1997a: 977) fortzuschreiben, mit dem man die pädagogische Wirklichkeit nicht beurteilen könne, kann sich die Bildungstheorie allerdings auch insofern auf eine gewisse Weise arrangieren, als sie der Fixierung des Bildungsbegriffs durch die konsequente Negation empirischer Bestimmtheit eine Offenheit entgegenhält und mit der modalen Differenzcodierung von Wirklichkeit und Möglichkeit eine paradoxe Funktionalität des Bildungsbegriffs sichert (vgl. Rustemeyer 1997: 106). Das meint anders ausgedrückt: Die spezifische Funktionalität der Bildungssemantik liegt gerade in ihrer ›bestimmten Unbestimmtheit‹, die eine zweite Welt hinter der empirisch vorfindbaren etabliert und mehr ist als ›wirkliche Wirklichkeit‹. »Als bestimmte Kommunikation über Unbestimmtes und als Evokation eines Abwesenden diskreditiert und transzendiert die Bildungssemantik jede Gegenwart und immunisiert gegen Enttäuschungen.« (Ebd.: 126) Vor diesem Hintergrund wird auch begründet, warum Empirie im Sinne des Gegebenen keine Instanz zur Identifizierung von ›Bildung‹ abgeben kann; nämlich weil die »jeweils qualifizierten Phänomene sich gegenüber empirischmethodischen Näherungsweisen als unzugänglich darstellen« (Schäfer 2006b: 283). Bildungstheorie und Bildungsforschung sind auf Grund dieser in den letzen 40 bis 50 Jahren verfestigten Differenzlinien insofern als zuwiderlaufend anzusehen, als sie sich auf je eigene Traditionen und Denkweisen gründen, die sich kaum durch Gemeinsames auszeichnen. Es lässt sich gar von einem »Grundkonflikt sich wechselseitig ausschließender paradigmatischer Kernannahmen« (Vogel 1990: 21; Herv. i.O.) sprechen. Zwar bemühen beide das Begriffswort ›Bildung‹, jedoch versuchen sie dieses Gegenstandsfeld auf unterschiedliche Weise zu bearbeiten und verbinden damit auch Verschiedenes. Weil das so ist, werden faktisch »die Rezeptionsschranken zwischen Bildungsforschung und Bildungstheorie auf recht hohem Niveau justiert« (von Prondczynsky 2006: 14) und diese beiden ›Wissensformen‹ als geradezu unversöhnlich konstituiert. Berücksichtigt man in Anbetracht des skizzierten geschichtlichen Weges diesen Befund, dann erscheint die Möglichkeit der Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung nicht nur äußerst schwierig, sondern gar als ein von Vornherein zum Scheitern verurteiltes Projekt.

1.2 B ILDUNGSTHEORIE UND B ILDUNGSFORSCHUNG ALS K OMPLEMENTARITÄTSVERHÄLTNIS Doch es ist gerade dieses Projekt einer Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung, das allerspätestens seit den 1990er Jahren im erziehungswis-

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senschaftlichen Diskurs an Bedeutung gewinnt, indem es als Forderung einer ›Empirisierung‹ der pädagogischen Grundlagendiskussion und Exponierung bildungstheoretischer Gegenstandsbereiche auf der Basis empirischer Analysen in Erscheinung tritt. Es knüpft damit an das weite Diskussionsfeld um Möglichkeiten und Grenzen einer erfahrungswissenschaftlichen Bestimmung von Pädagogik an und deutet zugleich auf die Gestalt neukonturierter Allgemeiner Pädagogik bzw. Allgemeiner Bildungs- und Erziehungswissenschaft hin, in deren Zentrum die Bildungssemantik steht (vgl. Marotzki 1996: 69). Es ist die Verheißung, dass über empirische Anschlüsse eine in den vergangenen Dekaden an Bedeutung und Ansehen stark rückläufige Allgemeine Pädagogik und die von ihr verwaltete Bildungstheorie erweitert und in neuer Form fortgeführt werden könnte, die die hohe Attraktivität dieses Projekts ausmacht. Gelinge es der Allgemeinen Pädagogik nämlich, neue Aufgaben zu erarbeiten und unter Rekurs auf sowohl sozialwissenschaftliche Erklärungsansätze als auch auf ein erweitertes Tableau wissenschaftlicher Theorien und Begriffe die veränderten institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen deutlich zu machen, dann – so das Versprechen – trete sie aus dem Nexus der Forschungsabstinenz heraus und demonstriere ihre Unerlässlichkeit (vgl. Krüger 1994: 122). So wird dann in diesem Rahmen auch für eine durch erziehungswissenschaftliche Forschung vorangetriebene Präzisierung des Bildungsbegriffs plädiert, der als Grundlagenbegriff der eigenen Arbeit einen systematischen Zusammenhang von Bildungsforschung und Bildungstheorie herstellen könne. Der Auseinandersetzungsprozess zwischen einer sich primär theoretisch-philosophisch verstehenden Pädagogik einerseits und einer empirisch-analytisch ausgerichteten Erziehungswissenschaft bzw. Bildungsforschung andererseits sei dadurch vor einer Extrapolierung in die Zukunft zu bewahren, und es werde den beiden ›Wissensformen‹ zugleich ermöglicht, in einen produktiven Lernprozess einzutreten (vgl. Tenorth 1997a: 980ff.). In jüngster Zeit werden aber nicht nur die Tendenzen deutlicher, die eine derartige ›lernende‹ Annäherung von Bildungstheorie an Bildungsforschung zum Ausdruck bringen, sondern auch die Stimmen lauter, die die Vernachlässigung explizit bildungstheoretischer Überlegungen in Untersuchungen der Bildungsforschung monieren, sodass das Bestreben einer Verbindung von Bildungstheorie und Bildungsforschung zusätzliche Dynamik erhält. Gerade die Bezüge der dem quantitativen Paradigma verpflichteten empirischen Bildungsforschung auf Bildungstheorie sind nämlich äußerst marginal. So verwundert es auch nicht, dass in Zeiten der empirischen Schulleistungsvergleichsforschung von PISA, TIMSS und IGLU sowie angesichts der Gefahr einer möglicherweise erneuten Überschätzung der Wirksamkeit und Reichweite solcher Verfahren, Daten und Prognosen von dem Erfordernis einer »bildungstheoretischen Rahmung von

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PISA« (Benner 2002), der Etablierung einer »bildungstheoretischen Bildungsforschung« (von Prondczynsky 2006: 30) oder auch dem Gebot »einer reflexiven und innovatorischen Bildungsforschung« (Benner 2008: 178) gesprochen wird. Denn gerade durch die zahlreichen Messvorgänge und die Abbildung komplexer Zusammenhänge in Zahlenwerten und Korrelationen stellen sich Reduktionen ein, die aus bildungstheoretischer Sicht diverse kritische Rückfragen herausfordern. So etwa: »Ist Bildung messbar?« (Dzierzbicka 2004), und wenn ja: »Ist das gemessen worden, was bildungstheoretisch begründet, das Wichtige ist?« (Helmer 2007: 305) In der Thematisierung dieser und ähnlicher Fragen artikuliert sich das Bewusstsein für die Vergeblichkeit, mittels Verfahren der Bildungsforschung Grundlegendes und die Pädagogik Konstituierendes hervorzubringen, und doch besteht auch hier das Verlangen, die uneffektiven ›Grabenkämpfe‹ hinter sich zu lassen und Platz zu schaffen für ein Projekt, das Bildungstheorie und Bildungsforschung einander annähert und sinnvoll aufeinander bezieht. So werden zwei Fragen konstruktiv zu bearbeiten versucht. »Die eine lautet: Wie können die Reflexionen […], die in der Tradition der theoretischen Erziehungswissenschaft ausgearbeitet worden sind, Relevanz auch in der empirischen Forschung gewinnen? Die andere: Wie kann die […] empirische Bildungsforschung so weiter entwickelt werden, dass sie an die pädagogische und erziehungswissenschaftliche Theoriediskussion anschlussfähig wird?« (Benner 2008: 7)

Möglich wird ein solches Projekt, das Bildungstheorie und Bildungsforschung miteinander verknüpft, durch mehrere Entwicklungen, die in den 1980er Jahren nahezu parallel auftreten und von hier aus ihren Verlauf nehmen. Zum Ersten sind dabei innerdisziplinäre Strukturierungsmaßnahmen der Erziehungswissenschaft ausschlaggebend, die angesichts von Prozessen der Segmentierung und Differenzierung daraufhin hinauslaufen, ein neues Aufgabenprofil der Allgemeinen Pädagogik mitsamt der von ihr verwalteten Bildungstheorie zu skizzieren, um sie so als eine spezifische und unabdingbare »Wissensform« (Vogel 1997b) im System erziehungswissenschaftlicher Teildisziplinen einzugruppieren (siehe Kap. 1.2.1). Zum Zweiten ist das Projekt deshalb möglich, weil es in den 1980er Jahren zu einer Renaissance der Bildungssemantik kommt und Bezüge zu bildungstheoretischem Denken – obgleich selbstverständlich nie gänzlich abhanden gekommen – wieder an Bedeutung gewinnen (siehe Kap. 1.2.2). Zum Dritten spielt schließlich der Rückgang des erkenntnistheoretischen Tatsachenpositivismus’ eine Rolle, der mit einer sachlich begründeten Kritik an quantitativen Verfahren und der Ausbreitung qualitativer Forschungsmethoden in der Erziehungs-

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wissenschaft einhergeht und Arenen im Bereich qualitativer Forschung etabliert, auf denen sich Bildungstheorie und Bildungsforschung annähern können (siehe Kap. 1.2.3). Vor diesen drei Hintergründen gewinnen »Bildungsforschung und Bildungstheorie […] je für sich neue Bedeutung und verweisen zunehmend aufeinander« (von Prondczynsky 2006: 31). 1.2.1 Innerdisziplinäre Strukturierungsmaßnahmen Die Auseinandersetzung mit Fragen wie »Was ist Pädagogik und welcher Wissenschaft bedarf sie?« (Paschen 1996) oder »Warum Erziehungswissenschaft als Disziplin?« (Ruhloff 2006a) fördert nicht nur Argumente hervor, die den Sinn und Zweck einer akademischen Disziplin zum Gegenstand haben oder die Fragen und Probleme der ›Bildung‹, der Erziehung und des Unterrichts in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen rücken. Auch tangiert sie Aspekte der disziplinären Gliederung und Ordnung, der systematischen Bestimmung ihrer Zentralkategorien und Leitbegriffe, der Strukturierung pädagogischen Wissens – kurz gesprochen: ihrer »Wissenschaftstypik« (Vogel 1990: 14). Mit der Aufgabe, diese Aspekte intensiv zu beleuchten, um so Zuschnitt und Gestalt wissenschaftlicher Pädagogik zu formieren, wird seit dem Eigenstand wissenschaftlicher Pädagogik die Allgemeine Pädagogik betraut, welche in den letzten Jahren häufiger auch als Allgemeine Bildungs- und Erziehungswissenschaft bezeichnet wird.20 Dabei ist das Allgemeine der Pädagogik immer einer Fragwürdigkeit unterworfen. Ob etwa Pädagogik sich an einer vorgängigen Anthropologie auszurichten habe oder gar aus einer Anthropologie heraus begründet werden könne, ob Religion einen fundamentalen Maßstab abgebe, ob die Lebenspanne einzelner als das zeitliche Grundmaß anzusetzen sei, von dem her und auf das hin Erziehung, ›Bildung‹ und Unterricht fokussiert werden oder ob etwa eine gerichtete Generationenfolge den ›Grundtakt‹ der Pädagogik angeben sollte, das sind Fragen und Probleme, denen sich die Allgemeine Pädagogik im Entwurf verschiedener Systematiken immer wieder und aufs Neue stellt (vgl. Ruhloff 1993a: 58). Man kann auch formulieren: »Klassisch sind solche Fragen, die ihre Antworten überleben; jene mit der die Pädagogik nach ihrer eigenen Bestimmung sucht, zählt wohl dazu« (Rösler 1988: 487) – was folglich dazu führt, dass Zuschnitt und Gestalt der Pädagogik ständig zur Disposition stehen. Unter den Vorzeichen, dass »die Klage über den desolaten Zustand der Disziplin […] zum festen Bestand des topischen Inventars jeder pädagogischen Grundlagenerörterung« (Vogel 1986: 475) gehört, wird zur Mitte der 1980er

20 So etwa bei Liebau 2002; Miller-Kipp 2004: insbes. 379; Wigger 2002: insbes. 264f.

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Jahre die wissenschaftliche Pädagogik abermals inspiziert und einer Durchleuchtung unterzogen. Diagnostiziert wird hier nunmehr eine kaum überschaubare Binnendifferenzierung der Pädagogik, die geradezu – wären damit nicht auch Symptome der Überforderung verbunden – imponierende Züge trägt: Es wird schul-, sonder-, sozial-, berufs-, medien-, freizeitpädagogisch usw. geforscht, gelehrt und studiert; Pädagogische Psychologie und Bildungssoziologie melden sich neben anderen Wissenschaften mit immer neuem Wissen, aber auch Okkupationsansprüchen zu Wort; die bearbeitete Themenvielfalt hat etwas Erdrückendes an sich; die zur Anwendung gelangenden Forschungsverfahren verwirren angesichts ihrer Variabilität und Fluktuation (vgl. Fischer 1984: 412). Die Fülle der Forschungsergebnisse und die Vielfalt der Forschungsrichtungen lassen ein die verschiedenen Aussagen verbindendes Regulativ vermissen. Es ist allerdings dieses Mal nicht das »Ganze der Pädagogik« (Blankertz 1982: 307), das zur Debatte steht, sondern auch und gerade der Ort, wo dieses ›Ganze‹ überschaut, aufbereitet und entworfen wird, nämlich jene Allgemeine Pädagogik. So sind es also nicht nur die diagnostizierte Diversität und Disparität, die zur Komplizierung der pädagogischen Disziplin zu Buche schlagen, sondern das Allgemeine der Pädagogik wird auch fraglich und problematisch durch die Kontinuität wissenschaftstheoretischer Kontroversen, durch den Verlust an Gewissheiten und die Auflösung Sinn garantierender Instanzen, durch die Schwierigkeit, alte Fragen rasch und einfach einer wissenschaftlichen Behandlung zu unterziehen, um so neue Allgemeinheiten zu stiften (vgl. Tenorth 1984: 56f.). Es ist diese Symptomatik, die zum grundlegenden Zweifel am Status Allgemeiner Pädagogik führt und ihre Zukunft ungewiss erscheinen lässt. »Kurz und das Ergebnis betonend: Mit der systematischen Pädagogik herkömmlicher Bedeutung, d.h. in ›theoretisch und praktisch allgemein »orientierender« Absicht‹, dürfte oder könnte es zu Ende sein. Die Entwicklung von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft hat ihr kaum mehr übriggelassen als das Bewußt- und Durchhalten der von ihr selber wissenschaftlich unbeantwortbaren Verständigungsfrage.« (Fischer 1984: 413)

Die Verwunderung und das Unbehagen an jener Prägung wissenschaftlicher Pädagogik, welche nach Maßgabe einer synthetisierenden Idee das pädagogische Denken, Forschen und Handeln als eine Architektonik entwirft, indem sie sie in Form eines Umrisses von Aufgaben, Kategorien, Begriffen und Relationen als ein aufeinander angewiesenes Ganzes bestimmt, tritt so in manifester Weise auf den Plan und artikuliert sich als ein Sondieren ihrer Möglichkeiten und Gren-

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zen.21 Das Repertoire an Bestimmungsversuchen Allgemeiner Pädagogik ist dabei durchaus facettenreich. Denn neben Abgesängen existieren phänomenologische Anregungen, die etwa der Allgemeinen Pädagogik eine neue Grundlage verschaffen möchten, indem sie die Pädagogik auf die Systematik des menschlichen Daseins in Form von Leiblichkeit, Sprachlichkeit, Zeitlichkeit, Räumlichkeit usw. beziehen (vgl. Schütz 1984). Es gibt auch transzendentalphilosophische Anstöße, die nach einer einheitsstiftenden Invariante suchen und dieses im Prinzip der Geltung selbst erblicken, wie sie dem Zweck der Vernunft entspricht (vgl. Heitger 1984). Und es gibt Absichten, die Allgemeine Pädagogik in Richtung der empirisch-pädagogischen Forschung zu öffnen, um so ihr ›Fortleben‹ sicherzustellen und auf diese Weise einen neuartigen Beitrag zur Verständigung über die res paedagogica zu leisten (vgl. Tenorth 1984). Erforderlich sei dazu allerdings – so der Befund – eine Gestalt- und Funktionsänderung des Allgemeinen in der Pädagogik, denn: »Es überrascht doch sehr, wie angesichts von sehr speziellen Fragen der Erziehung und angesichts realer Differenzen der pädagogischen Aufgaben die allgemeinen Überlegungen dominieren. Kinder wie Jugendliche, Institutionen wie Professionen werden in ihren Problemen keineswegs vor dem Hintergrund zeitgenössischer Situationen in ihrer Besonderheit analysiert, sondern begrifflich nivelliert und mit Kriterien wie Bildsamkeit und Gesinnung […], Erziehung und Unterricht auf scheinbar zeitlose Dimensionen der Erziehungstätigkeit rückbezogen.« (Ebd.: 52)

Die Allgemeine Pädagogik als eine bis dato zuvörderst theoretisch-philosophisch verselbstständigte Disziplin habe deshalb – so etwa die von Heinz-Elmar Tenorth mit Nachdruck versehene Aufforderung – von einer normativen Propagierung von »blassen Allgemeinheiten« (ebd.: 65) abzukommen. Sie müsse ihre »konservierende und utopie-erzeugende Funktion« (ebd.: 63) aufgeben. Und ihr sei gut daran gelegen, die zur Befestigung politisch-pädagogischer Optionen und zur Gruppenbildung innerhalb der pädagogischen Intelligenz zwar womöglich nützlichen, aber zur Klärung von Grundlegungsfragen wenig hilfreichen wissenschaftstheoretischen Kontroversen ad acta zu legen und sich nicht partout auf theoretisch-philosophische Denkformen zu beschränken (vgl. ebd.: 62). Andern-

21 So steht das XX. Salzburger Symposium, das im Jahr 1984 abgehalten wurde, unter dem Thema »Möglichkeit und Notwendigkeit einer systematischen Pädagogik heute«, und die Zeitschrift für Pädagogik widmet sich in ihrem ersten Heft desselben Jahres dem Thema »Allgemeine Pädagogik«. Siehe hierzu Ballauff 1984, Breinbauer 1984, Fischer 1984, Heitger 1984, Huschke-Rhein 1984, Schütz 1984, Tenorth 1984.

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falls werde sie – gleichsam als Drohung vorgetragen – »nicht einmal imstande sein, gegenüber der Vielfalt der pädagogisch bedeutsamen Erkenntnisse in anderen Wissenschaften eine theoretisch begründete und methodisch ausweisbare Position einzunehmen« (ebd.: 65).22 Die systematischen Möglichkeiten Allgemeiner Pädagogik seien demzufolge neu auszuloten, wobei hierbei gerade in Erwägung gezogen werden müsse, ob nicht die Distinktion von Wissensformen ein sinnvoller Weg der Präzisierung und Intensivierung des allgemeinpädagogischen Gegenstandsfelds sein könne (vgl. ebd.: 64). Die bislang zumeist durcheinanderlaufenden Diskurse Allgemeiner Pädagogik, die etwa im Entwurf einer ›Berufsethik‹, in der Forcierung einer Kategorialanalyse, in der Erarbeitung von Zeitdiagnosen, in der Begründung pädagogischer Standpunkte und der Darbietung von Methodenreflexionen liegen, könnten so nämlich separiert und für pädagogisches Denken einerseits und erziehungswissenschaftliche Forschung andererseits fruchtbar gemacht werden. Plädiert wird also gleichsam für eine ›Dekomposition‹ des Pädagogischen, d.h. eine Differenzierung von Problembereichen und ihnen entsprechenden Bearbeitungsverfahren und Wissensformen unter Aufrechterhaltung ihres Verweisungszusammenhangs, damit eine Allgemeine Pädagogik konstituiert wird, die nicht – weil sie einem unnötigen Traditionalismus huldigt – zur Restkategorie zu werden droht, sondern als pädagogisches Kernstück neben Handlungswissen vor allem Theoriewissen und empirisches Erfahrungswissen produziert (vgl. Lenzen 1980a und 1980b). Diese Überlegungen, die in den 1980er Jahre präsentiert werden und in programmatischer, allerdings noch nicht methodischer Art auch Ideen bereithalten, wie Bildungstheorie und Bildungsforschung aufeinander bezogen werden könnten, sind aufschlussreich, aber keineswegs neuartig. So hat Dietrich Benner bereits 1973 versucht, eine Verschränkung von Bildungstheorie und Bildungsforschung voranzutreiben, die in Reflexionen zu einer Neuausrichtung der erziehungswissenschaftlichen Disziplin gekleidet sind. Damit dürften seine Überlegungen zur Schaffung einer komplementären Relationierung zu den frühesten

22 Tenorth zielt damit also auf eine für die disziplinäre Identität der Erziehungswissenschaft ausschlaggebende strukturelle, ihre Autonomie tangierende Problematik: Dass nämlich – so fasst Andreas von Prondczynsky (2006: 21) die Position Tenorths zusammen – »eine Erziehungswissenschaft, die im modernen Wissenschaftssystem reputierlichen Bestand erwerben will, den bloß selbstreferentiellen Rahmen bildungstheoretischer Unbestimmtheitsreflexion aufbrechen und die Wirklichkeiten von Bildungs- und Erziehungsprozessen als Bildungsforschung selbst empirisch zu dem Gegenstand machen muss, der ihre Existenz im Wissenschaftssystem gegenüber Soziologie und Psychologie legitimiert.«

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Zeugnissen in dieser Angelegenheit gehören, zumal sie in eine Zeit fallen, in der – so hat es das vorangehende Kapitel demonstrieren können – das Bedürfnis nach Abgrenzung und die Markierung der Differenzlinien überwog. Insofern tragen Benners Betrachtungen zum komplementären Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung zeitgeistuntypische Züge. Im Entwurf einer Systematik, die sich sowohl an traditionellen Ansätzen der Pädagogik als auch an modernen erziehungswissenschaftlichen Theorien ausrichtet, verdeutlicht er nämlich, dass die Beschränktheit der traditionellen Ansätze im Fehlen einer spezifisch pädagogischen Forschungspraxis liege, das Problem der modernen, zumeist sozialwissenschaftlichen Theorien hingegen in ihrer Verkennung der pädagogischen Elementaria. In einer Retrospektive auf ›Fehlentwicklungen‹ der erziehungswissenschaftlichen Disziplin tritt Benners Kritik in der Formulierung zu Tage: »In den modernen Ansätzen der Erziehungswissenschaft rückte das Interesse an der Aufstellung kritischer Erziehungs- und Bildungstheorie in den Hintergrund. An die Stelle […] trat die Erziehungswirklichkeit, deren Erforschung nun zum eigentlichen Gegenstand der Erziehungswissenschaft wurde. Die Theorien der Erziehung und Bildung waren für die empirischen […] Analysen nur mehr insoweit von Interesse, als sie die Erziehungswirklichkeit in ihrem Selbstverständnis und in ihren empirisch faßbaren Determinationszusammenhang bestimmen.« (Benner 1973: 328)

Diese Signatur ist für Benner (1973) auch noch zum Zeitpunkt der Abfassung seiner Schrift »Hauptströmungen der Erziehungswissenschaft« gültig: Während die traditionellen Ansätze zur Begründung der Pädagogik als Forschungsdisziplin nach wie vor keinen Beitrag leisten, erheben die modernen Ansätze die Wirklichkeit zum alleinigen Fundament von Erziehungswissenschaft und bemessen den Wert erziehungs- und bildungstheoretischer Reflexion lediglich nach ihrem Gehalt an empirisch verifizierbaren Hypothesen (vgl. ebd.). Auf diese Weise stehen sie nebeneinander und versäumen es, sich zu ergänzen. Eines der wichtigsten Probleme der Erziehungswissenschaft liegt für Benner deshalb in der Erarbeitung eines Strukturmodells erziehungswissenschaftlicher Forschung, das den Zusammenhang der traditionellen und modernen Ansätze klärt, ohne dabei aber einer Seite eine höherwertige Position zuzusprechen. Entstehen soll also ein nicht-hierarchisches Ordnungsmodell. Um das zu realisieren, wählt Benner einen Bezugspunkt, auf den sowohl die traditionellen als auch die modernen empirischen Ansätze zu beziehen sind: Die Praxis. Pädagogik wird verstanden als Wissenschaft von der und für die Praxis, und an diesem Punkt gilt es für Benner auch das Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung zu justieren:

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»So wie ohne Bildungstheorie und ohne an dieser ausgerichteten Erziehungspraxis keine vernünftige Bildungsforschung möglich ist, so kann es ohne eine solche Bildungsforschung keine im Primat der Verwirklichung sinnbestimmter Erziehung stehende Bildungstheorie geben. Die Bildungstheorie als Theorie erzieherischer Sinnstiftung kann ihre Weiterentwicklung und damit ihre jeweils praxisrelevante Bedeutung nur dann gewinnen, wenn sie ihre Sinnorientierung der Erziehung an der Erziehungswirklichkeit überprüft und ihre kritische Analyse der faktischen Sinnbestimmtheit der Erziehung für die Weiterentwicklung ihrer wissenschaftlichen Sinnorientierung der Erziehung fruchtbar macht.« (Ebd.: 130)

Umgekehrt gilt aber ebenso, dass Bildungsforschung sich nur dann als eine pädagogisch respektable Forschungsrichtung erweisen kann, wenn sie in ihren empirischen Analysen immer auch Erziehung und ›Bildung‹ als konkrete pädagogische Praxen zu ihrem Gegenstand hat. »Handelte sie lediglich von der äußeren Organisation des Erziehungs- und Bildungswesens, von dessen Effektivität hinsichtlich der Herstellung gewünschter bzw. unerwünschter Verhaltensweisen und dessen Tauglichkeit für die Reproduktion oder Veränderung bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse, so verkürzte sie die Frage nach der vernünftigen Einrichtung des Bildungswesens um ihren eigentlichen pädagogischen Akzent.« (Ebd.: 135)

Nur dann, wenn Bildungstheorie ihren Orientierungspunkt am konkreten pädagogischen Geschehen hat und Bildungsforschung ihrerseits die Aufklärung der Erziehungswirklichkeit nicht in ihrer schlichten Gegebenheit, sondern in ihrer ›Aufgegebenheit‹ und dem pädagogischen Programm verschriebenen Zieldimension verfolge, erlangten beide praxisrelevante Bedeutung. Benner geht es also nicht darum, Erziehung und ›Bildung‹ den gesellschaftlichen Verhältnissen anzupassen oder empirische Methoden endlich in die Erziehungswissenschaft einzugliedern, also das, was das Programm der Bildungsforschung seit ihrer Entstehung in den 1960er Jahren charakterisiert. Stattdessen versucht er »der Verwiesenheit der Bildungstheorie auf eine Bildungsforschung Rechnung zu tragen« (ebd.: 130), indem er diese über den gemeinsamen Bezug auf die pädagogische Praxis kenntlich macht. Durch den Auf- und Nachweis eines strukturellen Verweisungszusammenhangs zwischen Theorie, Empirie und Praxis kreiert Benner auf diese Weise ein Modell erziehungswissenschaftlicher Forschung, das einerseits an die Traditionen der Pädagogik gebunden bleibt, indem sie den Begriff vernünftigen Menschseins überall dort zu realisieren versucht, wo die Erfahrung ihm nicht entspricht; das andererseits aber auch die Ambitionen der modernen

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empirischen Ansätze insofern aufgreift, als die empirische Konkretisierung als notwendiger Bestandteil einer praxisverpflichteten Pädagogik berücksichtigt wird. Empirisch-pädagogische Forschung, die bildungstheoretisch fundiert ist, bleibt somit an der Idee »einer theoretisch angeleiteten und orientierten Höherbildung der Menschheit« (ebd.) gebunden. Zugleich ist die von Benner entworfene erziehungswissenschaftliche Forschung damit sowohl an der Fortführung des »Daseinsexperiments der Menschheit« (ebd.: 133) interessiert als auch an einer empirischen Absicherung der Erziehungswissenschaft. Diese praxeologische Systematik, für die 1973 scheinbar noch nicht die nötigen Sensibilitäten und günstigen Umstände vorhanden waren, um Bildungstheorie und Bildungsforschung nachhaltig im Sinne eines Komplementaritätsverhältnisses zu interpretieren, wird von Benner 1987 – also in unmittelbarem Anschluss an die oben explizierte Diskussion um innerdisziplinäre Strukturierungsmaßnahmen der Erziehungswissenschaft und den darin vorgesehenen Stellenwert Allgemeiner Pädagogik – unter veränderten Vorzeichen und in neuer Fassung vorgelegt. Die argumentative Basis und das Resultat sind indes identisch. Denn es geht darum, die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns, die handlungstheoretischen Fragestellungen der Erziehungswissenschaft und den Vermittlungszusammenhang von pädagogischer Praxis, pädagogischer Handlungstheorie und erziehungswissenschaftlicher Forschung systematisch zu bestimmen, um so zu allgemeinen und verbindlichen »Aussagen über die Erziehungswissenschaft, über deren Gegenstand, das pädagogische Handeln, und über beider Stellung zu anderen Wissenschaften und Praxisformen« (Benner 1987: 13) zu gelangen. In Form einer Allgemeinen Pädagogik entwickelt Benner dazu einen pädagogischen Grundgedankengang, welcher die pädagogische Praxis und die Erziehungswissenschaft mit der Notwendigkeit konfrontiert, diesen nicht von außen an sich herantragen zu lassen, sondern einer, im menschlichen Denken und Handeln präreflexiv verankerten pädagogischen Grundstruktur zu entnehmen. Mit dieser Ambition trifft er nun einerseits den Zeitgeist, weil die Frage nach dem Allgemeinen der Pädagogik eine Konsequenz aus der in den 1980er Jahren vollzogenen Suche nach ihrer Bestimmung und ihren leitenden Begrifflichkeiten darstellt. Andererseits verfehlt er damit aber auch einen Anschluss an die aktuelle Ausprägung der Disziplin und leistet einer scheinbar obsoleten Auffassung Vorschub, ist doch die Rede von der Allgemeinen Pädagogik an die ›alte‹ Tradition und deren Ambition gebunden, wie sie etwa bei Johann Friedrich Herbart oder auch Wilhelm Flitner zum Ausdruck kommt. Die Rede von einer Allgemeinen Pädagogik impliziert nämlich, Pädagogik als etwas Ganzes und in sich Geschlossenes zu verstehen, das gegenüber speziellen Formen von Pädagogik abgegrenzt werden kann. Und das wiederum verwundert nicht nur etwa we-

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gen einer postmodernen Stilisierung von Pluralität23, sondern gerade auch auf Grund einer weitreichenden Ausdifferenzierung von Pädagogik in mehrere Bereichs- und Bindestrich-Pädagogiken, in pädagogische Praxen und pädagogische Forschungsfelder, die zuweilen bloß noch durch das lockere Band eines gemeinsamen Namens zusammengehalten werden (vgl. ebd.). Deshalb ist es unter diesen Bedingungen auch gleich in mehrfacher Hinsicht ein ebenso riskantes wie schwieriges Unternehmen, den Anspruch zu erheben, eine Allgemeine Pädagogik zu verfassen. Ein solcher Versuch kann nämlich misslingen, weil er keine Adressaten findet, weil er sich wegen der Pluralisierung gar nicht mehr überzeugend ausweisen lässt oder weil er letztlich in Folge konkurrierender Ansätze, Modelle und Paradigmen als nicht wahrheitsfähig angesehen wird. Darauf weist Benner selbst hin, und so nimmt er seinen Versuch, die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns herauszuarbeiten, skeptisch in Augenschein. Dabei markiert er auch die logischen Voraussetzungen dieses Vorhabens: »Der Versuch, die systematische Entwicklung eines pädagogischen Grundgedankens auf eine in der menschlichen Praxis selbst gegebene Notwendigkeit pädagogischen Denkens und Handelns zu gründen, steht unter mindestens drei Voraussetzungen: erstens unter der Voraussetzung, dass es überhaupt eine solche, pädagogisches Denken und Handeln fundierende, selbst aber nicht reflexiv fundierbare Notwendigkeit gibt, zweitens unter der Voraussetzung, dass dieser Notwendigkeit Bedeutung für die Prüfung des Wahrheitsgehalts pädagogischer Aussagen und die Beurteilung der Dignität pädagogischer Praxis zukommt, und drittens unter der Voraussetzung, dass sich die Notwendigkeit pädagogischen Denkens und Handelns im Hinblick auf jeweils geschichtlich vorgegebene Frage- und Problemstellungen in der Entwicklung eines pädagogischen Grundgedankens auslegen lässt.« (Ebd.: 17f.)

Die Möglichkeit und Notwendigkeit, heute einen pädagogischen Grundgedankengang zu formulieren, der Geltung beanspruchen und Anerkennung finden kann, lässt sich nach Benner also nicht anders als in Auseinandersetzung mit den geschichtlich vorgegebenen Fragen und der Eigenart pädagogischen Denkens und Handelns diskutieren. Eine zeitgemäße Allgemeine Pädagogik habe allerdings zu versuchen, den pädagogischen Grundgedankengang vor einem Rückfall in teleologische Bestimmungen der Pädagogik zu bewahren (vgl. ebd.: 19). Auf traditionelle Ansätze der Pädagogik müsse man dabei zwar rekurrieren, aber dürfe die von ihr normativ vorgetragene argumentative Basis nicht abermals zum

23 Dazu äußert sich Dietrich Benner in dem zusammen mit Karl-Franz Göstemeyer verfassten und ebenfalls 1987 erschienen Aufsatz. Siehe Benner/Göstemeyer 1987.

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Fundament der Pädagogik ernennen, weil andernfalls ein pädagogischer Grundgedanke, welcher auch von den modernen Ansätzen der Erziehungswissenschaft unterstützt wird, unmöglich wird. Benners Versuch einer Vergewisserung über die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns folgt daher über einen systematisch-problemgeschichtlichen Weg, welcher – wie auch schon in seiner 1973 publizierten Schrift – ein praxeologisches Verständnis von pädagogischer Praxis und Erziehungswissenschaft entwickelt, das traditionelle wie auch moderne Aufgabenbestimmungen umfasst. Benner formuliert: »In diesem Sinne bindet der hier vorgelegte Entwurf zu einer systematisch-problemgeschichtlichen Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns die Möglichkeit Allgemeiner Pädagogik an ein praxeologisches Verständnis von pädagogischer Praxis und Erziehungswissenschaft, welches die Vernünftigkeit einer Ordnung der menschlichen Gesamtpraxis in einer nicht-hierarchischen und nicht-teleologischen Verhältnisbestimmung oder Relation der Einzelpraxen zueinander zu begründen und den Logos der Gesamtpraxis auf einen Begriff praktischer Vernunft hin zu konzipieren sucht, der ausdrücklich auf eine metaphysisch unterstellte oder dezisionistisch behauptete Rangordnung der Einzelpraxen untereinander verzichtet.« (Ebd.: 19f.)

Der diesem Entwurf zu Grunde liegende allgemeine Begriff menschlichen Handelns begreift die menschliche Praxis als eine leibliche, freie, geschichtliche und sprachliche und unterscheidet zwischen Arbeit, Ethik, Pädagogik, Politik, Kunst und Religion als Formen ausdifferenzierter Humanität. Als Grundbegriffe pädagogischen Denkens und Handelns werden die unbestimmte Bildsamkeit, die Aufforderung zur Selbsttätigkeit, die Transformation gesellschaftlicher Einflüsse auf pädagogische Prozesse in pädagogisch legitime und die Nicht-Hierarchizität der ausdifferenzierten Formen der menschlichen Praxis ausgewiesen. Es sind die unbestimmte Bildsamkeit sowie die Aufforderung zur Selbsttätigkeit, die als konstitutive Prinzipien dabei helfen, theoretische und praktische Fragen pädagogischen Denkens und Handelns zu erörtern und an gemeinsame Problemstellungen einer Theorie der Erziehung, einer Theorie der Bildung und einer Theorie pädagogischer Institutionen zurückzubinden. Mit ihnen gelingt es allerdings nicht, Antworten auf die Frage zu finden, welche Theorien in der Erziehungswissenschaft aufgestellt werden sollen, welche Forschungen zu initiieren sind oder welche Wege man in der pädagogischen Praxis einzuschlagen hat. Das ist auch auf der Basis der beiden anderen von Benner eingeführten Prinzipien nicht möglich. Allerdings erlauben diese es, Grundaussagen über die gesellschaftliche Möglichkeit pädagogischer Interaktionen zu formulieren. Es sind dabei die Überführung gesellschaftlicher Determination in pädagogische Determination

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und der nicht-hierarchische Ordnungszusammenhang der menschlichen Gesamtpraxis, die als regulative Prinzipen zur Gesamtkomposition von Benners Allgemeiner Pädagogik hinzutreten und auf jene konstitutiven Prinzipien verweisen. Auf diese Weise lassen sich den vier Prinzipien pädagogischen Denkens und Handelns drei systematische Fragestellungen pädagogischer Handlungstheorie so zuordnen, dass das konstitutive Prinzip der Aufforderung zur Selbsttätigkeit und das regulative Prinzip der Überführung gesellschaftlicher in pädagogischer Determination Grundaussagen zum Problem pädagogischen Wirkens, also zur Erziehungstheorie, formulieren, das konstitutive Prinzip der unbestimmten Bildsamkeit und das regulative Prinzip der Ausrichtung der menschlichen Gesamtpraxis an der Idee einer nicht-hierarchischen und nicht-teleologischen Verhältnisbestimmung der Einzelpraxen Grundaussagen zum Problem der Aufgaben pädagogischen Handelns, d.h. zur Bildungstheorie, formulieren und die dritte Fragestellung dem Vermittlungszusammenhang pädagogischer Interaktion in Form einer Institutionentheorie zugeordnet wird. Beide von Benner aus einer allgemeinpädagogischen Position vorgelegten Entwürfe verstehen sich damit als Beitrag zur Klärung der Disziplinarität theoretischer Pädagogik und forschender Erziehungswissenschaft. Zugleich beanspruchen sie als systematische Gliederung der Pädagogik nach handlungstheoretischen Fragestellungen eine dreifache Bedeutung: »Sie erheben Anspruch, für die Verständigung im Handeln und für die Beratung in pädagogischen Entscheidungssituationen hilfreich zu sein; sie beanspruchen ferner, Perspektiven für eine historische Erforschung der Entstehungsgeschichte neuzeitlicher Pädagogik und für die empirische Erforschung gegenwärtiger Handlungsfelder zu formulieren, und sie versuchen schließlich, einen Beitrag zur Verständigung über die Einheit der Pädagogik in Theorie, Empirie und Praxis zu leisten.« (Benner 1993: 56)

Keine dieser drei möglichen Bedeutungen kann aber ohne die jeweils andere realisiert werden, was sich gerade und besonders deutlich an der anzustrebenden Einheit der Pädagogik in Theorie, Empirie und Praxis zeigt. Denn diese lässt sich nach Benner nur dann erreichen, wenn ein Weg gefunden wird, der es erlaubt, Bildungstheorie, historisch-hermeneutische Pädagogik und empirisch-analytische Erziehungswissenschaft bzw. Bildungsforschung auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, ohne sie dadurch sogleich in ein Kontinuum einzutragen. So ist es für Benner wichtig zu betonen, dass es zur erwünschten Offenheit der Diskurse gehört, diese Bereiche nicht in einem einzigen Ansatz zusammenzuführen. Der Beitrag, den eine Allgemeine Pädagogik zur Verständigung über die Fragestellungen und Paradigmen erziehungswissenschaftlicher Forschung

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leisten kann, bemisst Benner deshalb auch bescheiden. Es besteht womöglich nämlich bloß darin, der Frage nachzugehen, wie die unterschiedlichen wissenschaftlichen Wissensformen unter pädagogischen Fragestellungen so in Beziehung miteinander gesetzt werden können, dass sie eine kritische Selbst- und Fremdbezüglichkeit schaffen, die Anschlussmöglichkeiten zulässt. Benners Entwürfe versuchen durch den aufgezeigten Argumentationsgang also einen Beitrag zur Verständigung über die Einheit bzw. Grundstruktur der Pädagogik in Theorie, Praxis und Forschung zu leisten – und das durchaus im Bewusstsein der Begrenztheit solcher Versuche. Die avisierte Einheit zeichnet sich dann dadurch aus, dass pädagogische Theorie und erziehungswissenschaftliche Forschung offen sind für künftige Erfahrungen und insoweit der Praxis einen Primat zuerkennen, Praxis umgekehrt aber offen ist für wissenschaftliche Aufklärung und sich hierin einer historisch-systematisch und empirisch kontrollierten pädagogischen Handlungstheorie verpflichtet weiß. Parallel zur strukturellen ›Modernisierung‹ der Erziehungswissenschaft und der damit ebenfalls verbundenen Neukonturierung Allgemeiner Pädagogik tritt in den 1980er Jahren eine weitere Entwicklung auf den Plan, welche die Ambition, Bildungstheorie und Bildungsforschung aufeinander zu beziehen, befördert und bestärkt. Es ist eine Rehabilitation von ›Bildung‹, die angesichts des Bedeutungsverlusts von Bildungsbegriff und Bildungstheorie im Zuge der Ausbreitung empirisch-pädagogischer Forschung für dieses Anliegen geradezu notwendig ist. Denn nur durch ein Bewusstsein für die Notwendigkeit, ›Bildung‹ im erziehungswissenschaftlichen Diskurs einen exponierten Platz einzuräumen und mit einem gewissen Renommee auszustatten, kann das Projekt einer Verbindung von Bildungstheorie und Bildungsforschung auch genügend potenzielle Verfechter finden. Also erfordert dies bildungssemantische Neubelebungen. 1.2.2 Bildungssemantische Neubelebungen Etwa zur Mitte der 1980er Jahre kommt es zu ersten breiteren Neubelebungen von Bildungsbegriff und Bildungstheorie, wenngleich lediglich in Form semantischer Operationen und nicht schon gleich auf ›forschungsinduzierende‹ Weise. Nachdem die Erziehungswissenschaft auf die Erfahrungen mit den politischen, philosophischen und praktischen Hypotheken des Bildungsbegriffs seit den 1960er Jahren mit einer Umorientierung zu antworten versucht, die sich als ein Wechsel von zuvörderst bildungstheoretischen zu empirisch-pädagogischen Analysen mit verändertem begrifflichem Repertoire beschreiben lässt, erscheint eine solche Entwicklung überraschend. Sie ist es allerdings weniger, wenn die Tatsache berücksichtigt wird, dass die Rückkehr des Bildungsbegriffs in eine

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Zeit hineinfällt, in der die Erziehungswissenschaft auf eine Krise und Enttäuschung reagiert (vgl. Ehrenspeck/Rustemeyer 1997: 376). Die Krise liegt erneut in der Auffassung, dass der Anspruch der Erziehungswissenschaft auf wissenschaftliche Autonomie nicht ernst genug genommen werde und auch ein ihren Leistungen gebührendes Renommee nicht vorliege. So schreibt etwa Klaus Mollenhauer (1982: 258) zu Beginn der 80er Jahre in seinen »Marginalien zur Lage der Erziehungswissenschaft«: »Jedenfalls ist in der Rückschau auf die letzten 15 Jahre unserer Wissenschaft doch wohl bemerkenswert, daß die Frage nach der Autonomie der Pädagogik – und das soll hier heißen: die Frage nach einem eigentümlichen Paradigma zur theoretischen Erschließung dessen, was Bildungsund Erziehungsprozesse ausmacht – nur noch verschämt gestellt wurde.« Die als problematisch empfundene Identität der Disziplin und ihr – im Vergleich zu anderen Wissenschaften – defizitärer Status werden aber nun nicht allein der Disziplin selbst, sondern auch und gerade der Bildungsreformbewegung der 1960er und 70er Jahre zugeschrieben. Diese gerät deshalb in Kritik. Ihr Verlauf wird – ungeachtet des rapiden Endes – als äußerst enttäuschend bewertet, da die Hoffnungen, die darin gesetzt wurden, das Bildungswesen rasch und gravierend zu verbessern, sich nicht erfüllt haben. Mit dieser Erfahrung müssen fortan jedoch nicht nur die an diesen planerischen Aktivitäten beteiligten ›Macher‹ empirisch-analytischer Herkunft leben, sondern die gesamte Erziehungswissenschaft als wissenschaftliche Disziplin (vgl. ebd.: 262). Allerdings bleibt es nicht bei solchen Desillusionierungsbekundungen. Es werden auch Konsequenzen formuliert, um der ›Misere‹ Herr zu werden. Die nun angedachten Wege versuchen das »allmähliche Verblasen des Gegenstandes der Erziehungswissenschaft« (ebd.: 260) zu stoppen und unter Beachtung zeitdiagnostischer Tendenzen die Aufmerksamkeit auf Elementaria pädagogischen Denkens und Handelns zu richten: Weil innerhalb der Bildungsreformen sozialwissenschaftliches Wissen, bloße Planungsüberlegungen und einseitiges gesellschaftspolitisches Kalkül dominierten, sei es zu Fehlentwicklungen gekommen, und zwar derart, dass Fragen nach der Bedeutung von Orientierungswissen in einer sich wandelnden Welt ebenso vernachlässigt wurden wie solche nach traditionellen und übergreifenden Deutungsmustern. Orientierungswissen und welterschließende Deutungsmuster erwiesen sich aber gerade in einer Zeit als notwendig, die durch neue Herausforderungen geprägt sei. Deshalb habe man nicht nur der Geschichte der Pädagogik wieder mehr Aufmerksamkeit zu widmen, damit pädagogische Grundfragen nicht unhistorisch-naiv diskutiert werden (vgl. ebd.: 259). Auch ›Bildung‹ als »Orientierungskompetenz«24 bzw. als Instrument zum Umgang mit aktuellen

24 Dazu konkret etwa Marotzki/Nohl/Ortlepp 2006: 169.

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Schlüsselproblemen habe wieder ins Zentrum der pädagogischen Aufmerksamkeit zu treten. Das Interesse an ›Bildung‹ erwächst also aus systematischen Gründen und führt – da es die Bedingungen der Pädagogik zeitdiagnostisch zu erfassen gilt – zur schärferen Prüfung von Begriffen (vgl. ebd.).25 Verschiedene Reflexionsansätze der Pädagogik entdecken somit »erneut die metapolitischen Qualitäten des Bildungsbegriffs« (Ehrenspeck/Rustemeyer 1997: 376) und verdeutlichen die Notwendigkeit eines zeitgemäßen Konzepts allgemeiner Bildung, das auf den historischen Varianten aufbaut (vgl. Klafki 1986). In tendenziell durchaus ähnlicher Stoßrichtung trägt auch die PostmoderneDiskussion zur Erneuerung des Bildungsdenkens bei. Die Postmoderne, die zunächst in der nordamerikanischen Literatur und Architektur, anschließend in Malerei und Skulptur debattiert wird, bevor sie über die Soziologie und die Philosophie zu Beginn vornehmlich französischer Autoren des Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus wie Michel Foucault, Gilles Deleuze, Jacques Derrida und vor allem Jean-François Lyotard schließlich in die Grundlagendiskussionen zahlreicher Wissenschaften gerät, ist hier zu lesen vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass ein einheitliches System transparenten und legitimen Wissens unmöglich geworden ist. Modernes Wissen hatte noch die Form der Einheit, die durch den Rückgriff auf insbesondere drei große Meta-Erzählungen zustande kam. Als solche nennt Lyotard in »Das postmoderne Wissen« die Emanzipation der Menschheit in der Aufklärung, die Teleologie des Geistes im Idealismus und die Hermeneutik des Sinns im Historismus (vgl. Lyotard 1986: 13, 112). Diese zeichnen sich jeweils durch ihren dreifachen ›unitarischen Charakter‹ aus, der

25 So wiederum Mollenhauer (1986: 29f.), der in seinem Werk »Umwege« schreibt: »Es scheint mir gegenwärtig nützlich, das Nachdenken über Pädagogik stärker auf das zu lenken, was wir ›Bildung‹ nennen, als auf die planvoll absichtlichen Einwirkungen auf Kinder, die wir ›Erziehung‹ nennen. Ob diese Einwirkungen ihr Ziel, die beabsichtigten Effekte, wirklich erreichen, ist höchst zweifelhaft. Ein Zweck-Mittel-orientiertes, pädagogisch planvolles Handeln, das wegen dieser Orientierung erfolgreich ist, gibt es nicht. Wenn dieses Handeln erfolgreich ist, dann deshalb, weil die Kinder in einem verträglichen Milieu, in einer ›gebildeten‹ Lebensform aufwuchsen. […] Wenn ich also sage, daß mir ›Bildung‹ wichtiger als ›Erziehung‹, eine ›gebildete Lebensform‹ pädagogisch prognosefähiger als rational kalkulierte Zweck-Mittel-Handlungen sei, dann meine ich […] dies: ein Leben zu führen, das – in Kontakt und in Auseinandersetzung mit dem, was die Thematik meiner Kultur ist – von mir vor der Zukunft meiner Kinder, sofern ich welche habe oder sie mir anvertraut sind, verantwortet werden kann.« – Zur Hinwendung zum Bildungsbegriff in Mollenhauers Denken siehe Winkler 2002: 123ff.

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darin liegt, dass sie alles aus einem ursprünglichen Prinzip ableiten, alles einem Ideal zubilden und jenes Prinzip und dieses Ideal in einer Idee zu verknüpfen suchen (vgl. Meder 1987: 19). Mit dem Hinfälligwerden dieser Einheitsbande und dem Zerbrechen der »Totalitätsintention« (Welsch 1987: 32) erfährt das »Projekt der Moderne« (Habermas 1981) sowie das pädagogische Programm in Form der Maxime »Die Menschen stärken, die Sachen klären« (von Hentig 1985) unter Grundlegung eines emanzipationsorientierten Vernunftkonzepts, wie es im 18. Jahrhundert von den Philosophen der Aufklärung formuliert worden ist, eine radikale Erschütterung. Denn die Emanzipation des Subjekts im Namen der einen Wahrheit, im Namen der einen Norm der Freiheit und im Namen des einen Schönen, die systematisch zusammengreifen und eine rationale Kontinuität suggerieren, wird fragwürdig (vgl. Meder 1988: 68).26 Und wenn eine universell gültige ›Metapräskription‹ nicht mehr ausgemacht werden kann, dann sind auch jegliche Arten von Zielfragen problematisch und unterliegen einer eingeschränkten Gültigkeit. So verliert das Projekt der Moderne mit seinen universellen Ideen einer einzulösenden Zukunft und dem »Menschen als das Maß aller Dinge« (Platon Tht. 152a) – wie bereits Protagoras’ homo-mensura-These formuliert – deutlich an Legitimationskraft. Allerdings stellt diese Zerfallsdiagnose nur die conditio sine qua non für die Entstehung der Postmoderne dar. Als conditio per quam muss die Janusköpfigkeit der Einheitsauflösung erkannt und anstatt in Trauer über die verlorene Ganzheit zu verharren, sie positiv als Chance umgedeutet werden. Denn erst die »Zustimmung zur Multiplizität, ihre Verbuchung als Chance und Gewinn, macht das ›Postmoderne‹ am postmodernen Bewußtsein aus« (Welsch 1987: 33). Mit der Absage an Letztbegründung und der Verabschiedung der Einheitsträume wird unter der condition postmoderne somit dem Einzug der Pluralität, dem Schlüsselbegriff der Postmoderne, Tür und Tor geöffnet und einer Vielzahl heteromorpher Sprachspiele, Handlungsformen und Lebensweisen gleichzeitig Raum gegeben. Die Pädagogik kann in dieser Großwetterlage, in der Orientierung in der Welt und Umgang mit radikaler Pluralität zu elementaren Fähigkeiten werden, damit nicht der Überblick verloren oder alles der Beliebigkeit anheim gestellt wird, auf ihr Bildungsdenken verweisen, wenngleich sie dieses auch neu zu bestimmen und umzugestalten hat. So entstehen veränderte Konzeptionen der ›Bildung‹, die Abstand nehmen von den modernen Auffassungen einer »allseitig ent-

26 Es zeigt sich indes bei genauer Betrachtung, dass die Fragwürdigkeit des Emanzipationsgedankens mit Verweis auf eine ilussionär-verblenderische Wirkung auch schon zuvor diagnostiziert wurde. Siehe hierzu Ruhloff 2004: insbes. 285f.

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faltenden Persönlichkeit, die sich vermittels einer gewaltfreien erzieherischen Erschließung der physischen, der moralischen und der ästhetischen Sphäre ihrem individuellen Ideal und damit zugleich dem Menschheitsideal zubildet« (Ruhloff 1993c: 99f.). Idealistisch-neuhumanistische Bildungstheorien à la Schiller und Humboldt werden als ›Abarten‹ großer Meta-Erzählungen brüchig, und auch das Subjekt der ›Bildung‹ wird in seinem Status als Bewusstseinssubjekt fragwürdig. Aus der Dekonstruktion des modernen Subjekts, dem »Abschied vom Prinzipiellen« (Marquard 1981) und der Berücksichtigung neuer gesellschaftlicher Konstellationen entstehen auf diese Weise pädagogische Versionen, die ›Bildung‹ so bestimmen, dass sie den postmodernen Bedingungen gerecht wird. So hat beispielsweise Norbert Meder in seinem erstmals 1987 publizierten Buch »Der Sprachspieler« Überlegungen vorgestellt, die aus verschiedenen Blickwinkeln ausdrücklich eine postmoderne Umschrift der Pädagogik proponieren und ein neues Bildungsideal, nämlich das des Sprachspielers, hervorbringen.27 Mit solchen und ähnlichen Entwürfen wird der Bildungsgedanke angesichts der postmodernen Veränderungen gerade nicht ad acta gelegt, sondern versucht, ihn auf die Problematisierung der individuellen und sozialen Gestaltung des Menschen hin zu reformulieren. Pädagogisches wird auf diese Weise neu gedacht oder in veränderter Form zur Diskussion gestellt (vgl. Fischer 1989g).28 Um also die ›Identität‹ des Pädagogischen zu sichern, ihre Kontinuität sicherzustellen und zu klären, wie es – postmodern gesprochen – gelingt, sich in einer zunehmend unübersichtlichen Welt zu orientieren, greift die erziehungswissenschaftliche Disziplin auf den Bildungsbegriff zurück, der als ›einheimischer Begriff‹ das pädagogische Gehege markieren und abstecken soll. In diesem

27 Schlussendlich lässt Meder allerdings offen, was ›Bildungsideal‹ in diesem Zusammenhang bedeutet. Auch politisch-ethische Fragen werden in seinem Entwurf nahezu vollkommen ausgeblendet. Siehe zu dieser Kritik v.a. Koller 1999a: 154. 28 Darüber hinaus erfährt die Rückkehr des Bildungsbegriffs auch – so stellt es Hoffmann (1999: 27) heraus – Unterstützung durch die deutsche Wiedervereinigung und die Frage, wie die bundesrepublikanische und die DDR-Pädagogik verbunden werden könne. Bei den Integrationsüberlegungen wird nämlich neben dem Erziehungsbegriff auch dem Bildungsbegriff als ein in beiden ›Pädagogiken‹ verwendeter Terminus größere Beachtung geschenkt. Da die Angleichung der DDR-Pädagogik an die Ausprägungsformen und Theorieströmungen der bundesdeutschen Erziehungswissenschaft aber faktisch im Sinne einer Assimilation verläuft, erscheint es – auch unter Berücksichtigung des zeitlich deutlich späteren Eintritts – nicht gerade gerechtfertigt, diesen Aspekt als einen engen und dringlichen für die Renaissance der Bildungssemantik in Betracht zu ziehen.

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Sinne versucht sie also, den Bildungsbegriff »pädagogisch zurückzugewinnen, indem die durch sozialwissenschaftliche Forschung eröffneten subjektiven wie sachlichen Perspektiven im Hegelschen Sinn ›aufgehoben‹ und als Bewußtseinsgestaltung in den notwendigen Zusammenhang der Bildungstheorie integriert werden« (Hansmann 1988: 23). Eine Reaktualisierung des Bildungsbegriffs vollzieht sich damit keineswegs als simple Rückkehr zu den klassischen Bildungstheorien oder als gänzliche Negation der Errungenschaften der Bildungsforschung. Diese Errungenschaften sollen vielmehr und dialektisch gesprochen aufbewahrt, überwunden und erhöht werden, um sie mit bildungstheoretischen Analysen zu kombinieren. Ein solches Verfahren wird dann als »Bildung – in rekonstruktiver Absicht« (Hansmann 1985) bezeichnet. Gemeint ist damit ein Vorgehen, das grundlegende Deutungsfiguren des Bildungsdenkens in der Beschäftigung mit vorliegenden historischen Ansätzen auf einer problemgeschichtlichen Ebene erarbeitet und aufzeigt, wie diese nicht oder nur unzureichend in Gegenund Alternativbegriffen wie Lernen, Sozialisation und Identität zur Geltung kommen. Es geht also gewissermaßen darum – um den phänomenologischen Imperativ Edmund Husserls zu gebrauchen – »zu den Sachen selbst« zu gelangen, um dabei eine veritable und den gegenwärtigen Verhältnissen angemessene Konzeption von Bildung zu gewinnen, »in der sich sozial-, erziehungs- und philosophisch-wissenschaftliche Methoden bzw. Verfahren wechselseitig befruchten und eine disziplinäre Matrix konstituieren, der mit Blick auf eine schärfere Eigenrationalität paradigmatischer Charakter« (Hansmann 1988: 52) zukommt. Obwohl diese wiederbelebenden Bestrebungen des Bildungsdenkens mit dem Namen ›Rekonstruktion‹ bezeichnet werden, handelt es sich der Sache nach dabei also nicht – wie der Ausdruck nahe legen könnte – um eine Vorstellung, die versucht, eine ursprüngliche Bildungskonzeption wiederherzustellen oder einen verschütteten Bildungsbegriff wieder freizulegen (vgl. Ruhloff 1996a: 148). Systematisch werden die historischen Erkundungen zu Bildungsbegriff und Bildungstheorie nämlich immer auf die Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft bezogen, und nur vor der synchronen Perspektive, also dem Hier und Jetzt, macht die diachrone auch Sinn. Ansonsten läge kein innovatives Potenzial in diesem Anliegen; es hätte lediglich den Wert einer Klassikerpflege und Traditionswahrung. Davon unterscheidet sich diese Rückbesinnung auf ›Bildung‹ jedoch, weil die historischen Analysen der diachronen Perspektive Gesichtspunkte und Horizonte erschließen, »die den Bildungsbegriff zu einem neuen Leitbegriff der Erziehungswissenschaft bzw. der Pädagogik unter den Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft« (Hansmann/Marotzki 1988b: 12) hervortreten lassen möchten. Bei dieser Novellierung und Neukonturierung werden die diversen kritischen Stimmen zum Bildungsbegriff berücksichtigt und so Einsätze hervor-

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gebracht, die ›Bildung‹ gewissermaßen neu denken. Dabei wird zwar an traditionelle Bestimmungen angeknüpft, sich aber von deren Normativität gelöst und eine Anbindung des Bildungsdenkens an erfahrungswissenschaftliche Analysen vorangetrieben. Dass eine solche Rückkehr zum Bildungsbegriff und zu bildungstheoretischen Konzeptionen im großen Stil überhaupt in Erwägung gezogen und möglich wird, macht nun nicht nur deutlich, dass das Bildungsdenken offenbar selbst zu der Zeit insgeheim weiter wirkte, als man es in pädagogischen Diskussionszusammenhängen vernachlässigt und sich verstärkt anderen Denkweisen gewidmet hat (vgl. Hoffmann 1999: 26).29 Es zeigt auch, dass ›Bildung‹ in der wissenschaftlichen Pädagogik eine so lange und große Bedeutung hat, dass man auf sie sachlich begründet nicht verzichten kann; zumindest dann nicht, wenn man individuelle und gesellschaftliche Aufgabenbestimmungen der Pädagogik beurteilen will. Denn ›Bildung‹ erweist sich als unentbehrlich, wenn es darum geht, einen Bezugspunkt zu finden, mit dem über Aufgaben und Ziele der Pädagogik, über Begründung und Rechtfertigung pädagogischen Handelns diskutiert

29 So betont etwa Dirk Rustemeyer im Rahmen seiner Analysen zur Renaissance der Bildungssemantik, dass es zu gar keinem substanziellen Bruch mit der bildungstheoretischen Basis der Pädagogik gekommen sei, sondern diese Basis in der pädagogischen Weiterentwicklung der Kritischen Theorie beibehalten wurde und sie deshalb auch zu entsprechender Zeit aktualisiert werden konnte (vgl. Rustemeyer 1997: 111). Die kritisch-emanzipatorische Erziehungswissenschaft hat demzufolge den Bildungsbegriff weiterhin verwendet, und bildungstheoretisches Denken ist in ihren Analysen zur gesellschaftlichen Verfasstheit eingeflossen, wie vor allem an den Arbeiten von HeinzJoachim Heydorn deutlich wird. Unklar bleibt damit allerdings dennoch, warum sich das Begriffswort ›Bildung‹ gerade in weiten Teilen der Erziehungswissenschaft regeneriert hat und nicht bloß in den von der kritischen Erziehungswissenschaft beeinflussten Theorieströmungen. Anders als Rustemeyer spricht Marian Heitger in seinem publizierten Vortrag »Pädagogik ohne Bildung – Jugend ohne Perspektive?« vom »Verrat an Bildung durch die emanzipatorische Pädagogik« (Heitger 1979: 41) und begründet dies mit der dort von Adorno übernommenen These, die besagt, dass jede Bindung fatal sei, wenn es darum geht, das Subjekt zu Autonomie und Emanzipation zu führen. Das aber negiert Heitger unter pädagogischen Gesichtspunkten und befürchtet einen Verlust jeglicher Sinngebung und Orientierung, die für Erziehung und Bildung aber notwendig sind. So heißt es bei Heitger (1979: 33): »Sinngebung ist aber nur möglich, unter einer allgemeinen Grundorientierung, die der Mensch in seinem Bildungsprozeß, im ständigen Suchen, in der dialogischen Auseinandersetzung sowohl voraussetzt als auch immer wieder neu gewinnt.«

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werden kann. Dabei bringt die »Theorie der Bildung […] die Aufgaben und Zwecke pädagogischen Handelns nicht hervor, sondern bemüht sich um eine Analyse und Beurteilung der zunächst immer schon vorgegebenen Aufgabe und Zweckbestimmung pädagogischer Interaktion« (Benner 1987: 123); d.h., mit Bildungsidealen und Bildungstheorien steht ein Register zur Verfügung, mit dem zu Fragen nach pädagogischen Bemühungen Stellung bezogen werden kann und mit denen eine Unterscheidung in richtiges und falsches, gutes und schlechtes pädagogisches Handeln möglich wird. Damit ist ›Bildung‹ nicht bloß für die pädagogische Theorie bedeutsam, sondern geht ebenso die pädagogische Praxis an – etwa dann, wenn man als praktischer Pädagoge wissen möchte, was das pädagogische Handeln orientieren kann bzw. darüber nachdenkt, was pädagogisch legitim, sinnvoll, vernünftig geschehen sollte. ›Bildung‹ kann in dieser Hinsicht auch als Leitbegriff pädagogischen Denkens und Handelns bezeichnet werden und gerät daher wieder in den zentralen Ordnungskreis der Erziehungswissenschaft (vgl. Krüger/Helsper 2007).30 1.2.3 Annäherungsarenen im Kontext qualitativer Forschung Zusammen mit den Ambitionen einer Strukturierung der erziehungswissenschaftlichen Fachdisziplin und den bildungssemantischen Neubelebungen entstehen Schauplätze und Arenen, in denen versucht wird, Bildungstheorie und Bildungsforschung so anzunähern, dass sie in einen produktiven Zusammenhang gebracht werden. Damit wird im Wesentlichen konstruktiv auf den Kritikpunkt reagiert, dass Bildungstheorie ihre Aufmerksamkeit auf faktische Bildungsprozesse zu richten habe, wenn sie Aussagen darüber treffen möchte, wie ›Bildung‹ möglich werden kann. Und in erster Linie erfolgt diese Annäherung über qualitative Forschungsmethoden, d.h. solche Methoden, die dem interpretativen Paradigma, einer zusammenfassenden Bezeichnung für verschiedene Ansätze des Symbolischen Interaktionismusʼ, der Phänomenologie, der Ethnotheorie und -methodologie, folgen und Einsichten in die Originalität und Individualität des Untersuchungsgegenstandes erlangen möchten. Diese werden – konform zur Entwicklung in den gesamten Sozial- und Kulturwissenschaften – deshalb berücksichtigt, weil die am naturwissenschaftlichen Verständnis orientierten Methoden der Bildungsforschung, welche das Messen quantifizierbarer Merkmalsverteilungen und Wirkungszusammenhänge kultivieren, als unzulänglich betrachtet werden, um mit ihnen das pädagogische Feld in seiner Vielfalt und Sub-

30 Für Tenorth dagegen ist es unverständlich, ›Bildung‹ als Grundbegriff pädagogischen Denkens und Handelns zu bezeichnen. Siehe dazu Tenorth 1997: 979 FN 7.

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tilität zu erfassen. So sind es dann nicht-standardisierte, d.h. ›weiche‹ Erhebungsmethoden, die für eine Erforschung von Bildungsprozessen berücksichtigt werden. Obwohl diese Methoden – gerade im Zuschnitt handlungsorientierter Forschung – zuweilen ein »diffuses Gemenge aus politischen, ökonomischen, psychologischen und anthropologischen Annahmen und Leerformeln« (Mollenhauer 1982: 257) abgeben, steckt darin »insofern ein pädagogischer Grundgedanke, als in ihm der Versuch intendiert ist, den Bildungsprozeß von der Perspektive des sich bildenden Subjektes her […] theoretisch zu rekonstruieren« (ebd.). Dabei versucht die qualitative Forschung nämlich, den Untersuchungsgegenstand möglichst unverstellt in seiner ›natürlichen‹ Umgebung zu erfassen und versteht Wirklichkeit in dem Sinne als eine zu interpretierende, als sie erst in den Interpretationen der agierenden Menschen konstituiert und sinnhaft strukturiert wird. Gerade Bildungsprozesse ließen sich – wenn sie nicht auf Verhaltensänderung oder Wissensaneignung reduziert würden – nicht über standardisierte und quantifizierende Verfahren messen, sondern müssten zum einen mittels hermeneutischer Verfahren interpretativ erschlossen werden und zum anderen die Subjektivität, d.h. die Standortgebundenheit und Perspektive der jeweiligen Akteure in den Forschungsprozess strukturierend ›hineinwirken‹ lassen. Das auf diese Weise und vor diesem Hintergrund entstehende Gebilde wird demzufolge – nomen est omen – auch als »Qualitative Bildungsforschung« (Marotzki 1995 und 2006b; Garz/Blömer 2002) bezeichnet. Mit dieser Bezeichnung wird die konzeptionelle Gestalt einer Forschung auf den Begriff gebracht, welche die Prämissen der überwiegend quantitativ ausgerichteten Bildungsforschung nicht teilt und sich stattdessen auf andere Traditionen und Konturen beruft. Diese negieren die Auffassung, dass sich zentrale Bereiche menschlichen Lebens über ein Messen und Mathematisieren erfassen lassen und gehen vielmehr davon aus, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit durch sprachlich vermittelte Wissensbestände mitkonstituiert wird, soziales Handeln immer als Kommunikation abläuft, in welcher alltägliche Wissensbestände zur Anwendung gelangen und Forschungshandeln als kommunikative Feldforschung angesehen werden muss, bei der die Eigenperspektive der Mitglieder zu berücksichtigen ist (vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973: 433). Ein wesentliches Charakteristikum dieser Auffassung – für die sozialphilosophisch und grundlagentheoretisch u.a. Edmund Husserl und dessen Schüler Alfred Schütz Pate standen – liegt also darin, nicht von einer gleichsam höheren Warte aus die Wirklichkeit von Menschen zu untersuchen und sie ›objektiv‹ zu erfassen, sondern zu betrachten, wie Menschen selbst Wirklichkeit erleben und darin agieren. »Es geht um das möglichst weitgehende Hereinholen zu untersuchender Wirklichkeit in den Forschungsprozeß bei gleichzeitiger Bewahrung des in ihr sinn-

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haft gegebenen Konstitutionszusammenhangs.« (Heinze 1987: 8) Der zentrale Forschungsbereich qualitativer Forschung und damit auch ihre Abgrenzung von der quantitativ geprägten empirisch-pädagogischen Forschung liegt demnach in der Aufhellung personaler Prozesse, welche Abläufe in ihrem situativen Kontext so weit wie möglich zu erhalten versucht. In Form der »Qualitativen Bildungsforschung« – wenngleich auch nicht immer mit diesem Etikett versehen – wird jenes explizierte Verständnis auf die empirische Analyse von ›Bildung‹ zu übertragen versucht, wobei ›Bildung‹ hier jedoch nicht als Funktion der Gesellschaft oder als institutionelles Geflecht verstanden wird, also so, wie es im Rahmen der quantitativ ausgerichteten Bildungsforschung üblich ist, sondern – den traditionellen bildungsphilosophischen Begriffsinhalt aufgreifend – als eine vom Subjekt vollzogene Auseinandersetzung. Dabei ist es die Bestrebung, die von der qualitativen Forschung angebotenen Ansätze und das ihr zu Grunde liegende interpretative Paradigma auf die Eigenaktivität eines Subjekts hin zu beziehen, um so dessen spezifische Selbstund Weltsicht zu rekonstruieren; »und das heißt letztendlich, qualitative Forschung in eine Bildungstheorie zu integrieren« (König 1991: 60), um sie dann etwa unter der Forderung nach der Mündigkeit des Individuums zu betreiben. Diese Versuche werden in einem frühen Stadium vor allem von Ulrich Oevermann vorgenommen, wenngleich auch nicht ›pädagogikspezifisch‹, sondern aus der Perspektive eines ›subjektsensiblen‹ Soziologen. Oevermann versteht nämlich die von ihm vorgelegte »Theorie der Bildungsprozesse« im Sinne einer subjektzentrierten Theorie, die Spielräume und Restriktionen eines Bildungsprozesses zu bestimmen versucht (vgl. Oevermann 1976: 34f.). Dazu werden Ausstattungen und Strukturen des Subjekts in gesellschaftlich-historischer Ausprägung als nicht abtrennbare Problemkreise einer Theorie der Bildungsprozesse verstanden, allerdings nicht in dem Sinne, dass diese sich schlicht aus den spezifischen gesellschaftlich-historischen Ausformungen ableiten ließen. »Die bloße Generalisierung der historisch-spezifischen Erscheinung des ›normalen‹ sozialisierten Subjekts führt nicht zur Explikation des genannten Bezugpunktes einer Theorie der Bildungsprozesse. Sie bedeutet Normativität in einem naiv-unkritischen Sinne. Die adäquate Explikation muß in einem Kategorienentwurf entfaltet werden, der nicht gegen, aber über die empirische Erscheinungsweise hinausgehend entwickelt worden ist. Sie muß also auch im Anschluß an die Traditionen der philosophischen Reflexion betrieben werden.« (Ebd.: 36)

Dass dieses vielversprechende Theorie- und Forschungsprogramm, welches gar ambitioniert die Grenze zwischen »transzendentalphilosophischer Betrachtung

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einerseits und erfahrungswissenschaftlicher Analyse andererseits« (ebd.) aufzubrechen versucht, dann allerdings zu einer Metatheorie der Sozialisationsforschung führt, die auf grundlegenden Ansätzen von George Herbert Mead, Jean Piaget, Sigmund Freud, Noam Chomsky und Charles S. Peirce aufbaut und das »Problem der Bildung des Subjekts letztlich als Teil des Programms einer Theorie der Evolution« (ebd.: 35) betrachtet, verkürzt die verheißungsvollen Ankündigungen, da letztendlich nicht der Status des gebildeten, sondern der des »sozialisierten Subjekts« (ebd.: 36) in den Mittelpunkt der Ausführungen rückt. So heißt es bei Oevermann (1976: 46) dann auch gleichsam bilanzierend: »Der Gesichtspunkt der sozialen Konstitution des Subjektes sollte […] im Rahmen der Arbeit einer Theorie der Bildungsprozesse im Vordergrund stehen.« Weitergeführt wird die Bestrebung, qualitative Forschung auf Fragen und Probleme der ›Bildung‹ hin zu beziehen, auch von Heinze/Klusemann (1979) und Heinze/Klusemann/Soeffner (1980). Hier dient das »biographische Interview als Zugang zu einer Bildungsgeschichte« (Heinze/Klusemann 1979), welche auf Basis des vom Soziologen Fritz Schütze entwickelten narrativ-autobiographischen Interviews erhoben und mittels des Verfahrens einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik rekonstruiert wird. Dabei verorten sich Heinze/Klusemann im modernen autobiographischen Diskurs in der Erziehungswissenschaft, wie er u.a. von Dieter Baacke und Theodor Schulze im Band »Aus Geschichten lernen« (Baacke/Schulze 1979) in Form eines Überblicks narrativer Orientierungen in der Pädagogik präsentiert wird. In Anbindung an diesen Diskurs, der eine wissenschaftliche Erschließung autobiographischer und literarischer Quellen für pädagogische Erkenntnisabsichten verfolgt, aber unter Zugrundelegung des sozialwissenschaftlichen Erhebungs- und Auswertungsverfahrens nach Schütze geht es ihnen darum, Auskunft über selbst erlebte Erfahrungen und lebensgeschichtliche Prozessstrukturen eines Subjekts als »Geschichtenträger« (Schütze 1987: 71) zu erhalten. Geschichten werden in diesem Sinne zugleich als das »elementare Erfahrungsmaterial der Pädagogik« (Mollenhauer 1983: 102; ähnlich auch Baacke 1979: 19f.) verstanden, die ereignisnah die Bedingungsfaktoren und -konstellationen – etwa die familialen Lebensverhältnisse, die ›Schulkarriere‹, die Ausbildungs- und Arbeitssituation und die ökonomischen, sozialen sowie kulturellen Rahmenbedingungen – deutlich machen und sie in eine biographische Gesamtformung, d.h., eine »dominante Ordnungsgestalt, die der Lebensablauf im Verstreichen von Lebenszeit« (Schütze 1981: 104) annimmt, einrahmen. Bei der Analyse dieser Bildungsgeschichten lautet die interpretationsleitende Frage dann: »Wie begreifen die Interviewten sich selbst, wie begreifen sie sich im Verhältnis zu ihrer Familie, im Verhältnis zu ihren Freunden oder im Verhältnis zur sonstigen Umwelt?« (Heinze/Klusemann 1979: 186). Allerdings

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werden – obgleich es um die Rekonstruktion einer Bildungsgeschichte geht – hierbei keine Bildungstheorien als Analyseraster herangezogen. Stattdessen erfolgt der gleichsam fach- und disziplinfremde Rückgriff auf »interaktionistische und psychoanalytische Ansätze zur Identitätskonstruktion« (ebd.: 183). Und auch weitere qualitative Arbeiten aus diesem Umfeld richten ihre Aufmerksamkeit auf Bildungsgeschichten oder -schicksale, ohne jedoch Bildungstheorien für die Auswertung dieser biographischen Materialien heranzuziehen (vgl. Heinze et al. 1984 und 1985; Wolf 1985). Es geht zumeist um Aspekte der Identitätstransformation, die vor dem Hintergrund soziologischer und linguistischer Theorieimporte betrachtet werden; wohl auch und gerade deshalb, weil das begriffliche Repertoire, das Fritz Schütze im Rahmen seines narrativ-autobiographischen Interviews zur Verfügung stellt, für die Rekonstruktion solcher lebensgeschichtlicher Wandlungen deutlich naheliegender und ›evidenter‹ ist.31 Untersuchungen im Kontext von »Interaktion und Lebenslauf« – so der Titel einer Reihe, die von der Soziologin Christa Hoffmann-Riem, den Erziehungswissenschaftlern Rainer Kokemohr und Winfried Marotzki sowie den Linguisten Jochen Rehbein und Wolf-Dieter Stempel seit 1985 herausgegeben wird – fokussieren in erster Linie nachhaltige lebensbezogene Veränderungen, die kraft ›interaktioneller Evokationen‹ entstehen (vgl. Kokemohr/Marotzki 1985). In Lebensgeschichten als Interaktionen mit einem Gesprächspartner – so die hier unter Berufung auf den Symbolischen Interaktionismus vertretene Auffassung – werden diese Veränderungen zuweilen auch im Sinne biographischer Lernprozesse gedeutet (Kokemohr 1985; Marotzki 1985 und 1989). Gerade aber dort, wo in der Deutung biographischer Erzählungen einer so genannten tentativen Wirklichkeitsauslegung und Modalisierungsprozessen Beachtung geschenkt wird, ergeben sich Anknüpfungen an ›Bildung‹. Denn Modalisierungen im Sinne einer Lockerung sozial validierter oder auch lebensgeschichtlich eingespielter SelbstWelt-Verhältnisse seien nicht bloß für Identitätsentwicklungen, Unterrichtsszenarien und Lernprozesse, sondern auch und gerade »für die Ausbildung reflexiver Einstellungen in Bildungsprozessen« (Kokemohr 1985: 192 FN 1) relevant. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis formiert sich ein Forschungsprogramm, das Methoden qualitativer Forschung für die Untersuchung von Bildungsprozessen nutzbar machen möchte und hierzu die Denk- und Analysemittel der Biographieforschung berücksichtigt. Dabei werden dann die bildungstheoretischen Bezüge gestärkt und ausgebaut; etwa wenn »Wandlungsprozeß und Bildungsgeschichte« (Kokemohr/Prawda 1989) wechselseitig aufeinander bezogen werden, wenn es um eine »bildungstheoretische Mikrologie« (Marotzki 1990b) von Re-

31 Siehe dazu insbes. auch das Kap. 2.5.

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flexivität und Selbstorganisation geht oder wenn im Zusammenhang der Frage nach einer Aktualität von Wilhelm Flitners Bildungstheorie die Möglichkeit sondiert wird, »einige Impulse des Flitnerschen Denkens konzeptionell anders und empirisch gehaltvoll aufzunehmen« (Marotzki 1991d: 77), um so im Modus der Biographieforschung jene polyvalenten Muster der Sinnkonstitution zu studieren, mittels derer die Selbst- und Weltauslegung von Menschen in hochkomplexen Gesellschaften erfolgt. Besonders prägnant wird der bildungstheoretische Bezug in diesem Zusammenhang in einem Aufsatz von Rainer Kokemohr (1989) herausgearbeitet, indem mit der Bildungstheorie Erich Wenigers deutlich gemacht werden soll, wie es Menschen unter den mit der Moderne gegebenen Umständen gelingen kann, ein tragfähiges individuelles Selbst- und Weltreferenzsystem zu konstruieren. Dabei rekurriert Kokemohr auf die seit den 1980er Jahren in den Sozialwissenschaften diskutierte These vom Individualisierungsprozess und geht der Frage nach, was es für Menschen und deren Selbst- und Weltreferenzsystem bedeutet, wenn angesichts einer gewaltigen Kontingenzsteigerung der Erfahrungswelten, kollektive Sinnangebote immer weniger überzeugen und ›Wir-Identitäten‹ brüchig werden. Zur Beantwortung dieser Frage dient ihm dabei nicht nur ein auf Norbert Eliasʼ sozialgeschichtliche Ausführungen gestützter Interpretationsrahmen, sondern insbesondere auch Erich Wenigers Bildungstheorie, in welcher einerseits zentrale Motive klassischer Bildungsphilosophie wirksam werden, in der andererseits aber auch Elemente der Reformpädagogik eingeschlossen sind. Für die Analyse der Signatur individualisierter Erfahrungswelten eignet sich der Bezug auf die von Weniger erarbeitete Bildungstheorie in den Augen Kokemohrs insofern, als hier Bildung als ein kommunikativer Prozess der Strukturtransformation verstanden wird, in dem grundlegende Kategorien des Welt- und Selbstverhältnisses verändert werden (vgl. ebd.: 331ff.). Und genau darum muss es – so Kokemohr – unter den gesellschaftlichen Bedingungen am Ende des 20. Jahrhunderts gehen, wenn Menschen es vermeiden wollen, den sie umgebenden Umständen zu erliegen oder ihnen hoffnungslos ausgeliefert zu sein. Weniger versteht nämlich – konform mit der bildungsphilosophischen Tradition – ›Bildung‹ als ein im Subjekt verortetes Geschehen, das dazu führen soll, sich von vorherrschenden Verhältnissen zu emanzipieren und Freiheit zu erlangen. Dies geschieht durch Wandlungen. Allerdings nicht bloß durch Wandlungen, die einer Akkommodation entsprechen, sondern gerade auch durch solche, die auf eine Assimilation ausgerichtet sind – sprich: Wenigers Bildungskonzeption erhebt die Möglichkeit von geschichtlichem und individuellem Wandel zu ihrem zentralen Motiv und befördert »die Kritik solcher Strukturen der sozialen Welt […], die um der Bearbeitung geschichtlich neuer Problemlagen willen transformiert wer-

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den müssen« (ebd.: 333). Weil also im Rahmen von Wenigers Bildungstheorie »Bildung im Sinne struktureller Transformation sozialer Welt« (ebd.: 334) verstanden wird, besteht für Kokemohr die Option, diese Konzeption so handhabbar zu machen, dass mit ihr empirisch gehaltvoll die Frage diskutiert werden kann, wie Menschen sich in einer multi-optionalen Welt orientieren, ihren Lebensweg beschreiten und eine bildende Transformation ihres Selbst- und Weltverhältnisses vollziehen. Es sind biographische Erzähltexte als empirische Materialien, die hierbei zum Gegenstand einer bildungstheoretischen Analyse erhoben werden und aufzeigen, wie es vor sich geht, wenn »ein Erzähler im Modus kontextualisierender Informationsverarbeitung sein Selbst- und Weltverhältnis aufordnet« (ebd.: 347). Dies illustriert Kokemohr an zwei filigran interpretierten biographischen Interviews, die nicht nur jenen Akt der Konstruktionsleistung verdeutlichen wollen, sondern mittels der zuvor explizierten Bildungstheorie Wenigers und über sie hinaus auch die Wirksamkeit ›strukturtransformatorischer‹ Bildungsprozesse. Diese Art der Bezugnahme auf Bildungsbegriff und Bildungstheorie im Rahmen qualitativer Forschung begründet ein eigenes Forschungsprogramm der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung, welches in den folgenden Jahren ausgebaut wird und das Anliegen befördert, Bildungstheorie und Bildungsforschung konsequent aufeinander zu beziehen. Unter der Bezeichnung »bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung« bringt dieses Forschungsprogramm aber nicht bloß eine Annäherungsarena zur Vermittlung von Bildungstheorien und Bildungsforschung im Kontext qualitativer Forschung hervor, sondern integriert auch die Hinweise zur Strukturierung der disziplinären Pädagogik und zur Renaissance der Bildungssemantik, um in programmatischer Absicht, sein Profil kenntlich zu machen. So werden mit der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung dann auch neue »Konturen Allgemeiner Pädagogik« (Marotzki 1996a) markiert und der ›wiederentdeckte‹ Bildungsbegriff als semantische Analysefigur in den Mittelpunkt gestellt. Durch dieses Junktim soll die Befreiung des bildungstheoretischen Diskurses vom Stigma einer Realitätsfremdheit gelingen, und zwar so, dass er in einer nichtreduktionistischen und nichtaffirmativen Weise empirisch anschlussfähig wird. Biographie wird so zur vermittelnden Kategorie, da mit ihr das schwierige Unterfangen einer ›Verknüpfung‹ von Bildungstheorie und Bildungsforschung gelingen kann (vgl. ebd.: 80). Dabei ist es entscheidend, dass jener Forschungszugang es ermöglicht, die Beziehung zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung nicht als ein Diametralitäts-, sondern als ein Komplementaritätsverhältnis zu betrachten. In jener Lesart sind Bildungstheorie und Bildungsforschung dann miteinander verbunden, und zwar als Ergänzungsstücke, weil sie zusammen das gesamte Gebiet des

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Pädagogischen ausfüllen und bearbeiten können. Es spielt hier keine entscheidende Rolle, dass Bildungstheorie die Subjekt-Welt-Relation in seiner Möglichkeitsstruktur, Bildungsforschung aber in seiner Faktizität fokussiert. Auch ist es unwichtig, dass der bildungstheoretische Diskurs eigentlich die begriffliche Unbestimmtheit und Unverfügbarkeit von ›Bildung‹ betont, während sich die Bildungsforschung für die fortwährende Präzisierung, Gestaltung und Messung von ›Bildung‹ interessiert. Stattdessen ist es entscheidend, dass auf dem Gebiet qualitativer Forschung ein Feld bestellt wird, das theoretische und empirische Perspektiven auf ›Bildung‹ zusammenfügt und – statt primär die Differenzen zu betonen – gemeinsame Anschlüsse herzustellen versucht. Insofern verwundert es auch nicht, wenn die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung weithin als Beispiel eines Forschungsansatzes gilt, der sich der Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung als der Zusammenfügung von unrechtmäßigerweise Getrenntem verpflichtet fühlt. Doch wie zeigt sich dieses Interesse an einer Vermittlung? Und wie wird die Zusammenfügung zu vollziehen versucht? Nachdem der historische Weg nachgezeichnet und sich lagediagnostisch der Beziehung zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung zum einen als Diametralitäts- und zum anderen als Komplementaritätsverhältnis vergewissert wurde, scheint es an der Zeit, auf dieses Programm der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung nun einen genaueren Blick zu werfen und dabei zu prüfen, inwiefern hier eine Vermittlung vollbracht und bewerkstelligt wird. Schließlich konnten die letzten, in diesem Kapitel vorgenommenen Ausführungen zwar deutlich machen, dass aus bestimmten historischen Entwicklungen heraus eine Verknüpfung von Bildungstheorie und Bildungsforschung für angebracht gehalten wird und es hierbei die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung ist, die einen gleichsam besonders prominenten Platz in dem ›Vermittlungsverfahren‹ einnimmt. Wie von ihr aber im Konkreten die Vermittlung vollzogen wird, ist bislang allenfalls rhapsodisch angeklungen, nicht aber systematisch entfaltet und intensiv in Augenschein genommen worden. Das wird im Folgenden geändert, indem vier einschlägige Arbeiten bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung genauer unter die Lupe genommen werden.

2 Vermittlung – Die Programmatik der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung

Im Folgenden werden also nun – gleichsam als Tetralogie – vier einschlägige Arbeiten, die bislang zum Programm einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung vorgelegt wurden, daraufhin untersucht, auf welche Weise hier eine Vermittlung zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung erzielt werden soll und wie diese Arbeiten es anstellen, die Beziehung zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung so zu konzeptualisieren, dass ein Modell entsteht, welches beide ›Wissensformen‹ in einen produktiven Austausch miteinander bringt. Insofern verfolgt dieses Kapitel eine kritische Würdigung und Problematisierung der bisherigen einschlägigen Arbeiten zur bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. Bei den herangezogenen Arbeiten handelt es sich dabei ausnahmslos um Habilitationsschriften aus dem Zeitraum zwischen 1990 und 2006. Den Anfang hierbei macht der »Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie« von Winfried Marotzki (1990a), mit dem dieser – trotz der ›Vorarbeiten‹ von Rainer Kokemohr – das Programm der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung gewissermaßen sedimentiert. Denn ausnahmslos alle weiteren Arbeiten dieses Forschungszweiges beziehen sich auf die Studie von Marotzki, um ihre eigene Konzeption zur Darstellung zu bringen (siehe Kap. 2.1). So knüpft auch Hans-Christoph Koller (1999a) an Marotzkis Überlegungen an und versucht den Bildungsbegriff auf biographische Wandlungsprozesse zu beziehen, die sich in den alltagsweltlichen Erfahrungen der Akteure ereignen. Koller arbeitet jedoch anders als Marotzki mit einem subjektdezentrierten und diskursiven Bildungskonzept, das zwar an Wilhelm von Humboldts und Theodor W. Adornos Bildungstheorie anknüpft, aber vor allem mit Lyotards Widerstreitmodell auf sprachphilosophischer Ebene weitergeführt wird (siehe Kap. 2.2).

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Der Zusammenhang von Bildung und Geschlecht, der in Frauenbiographien zum Ausdruck kommt, steht im Zentrum der Arbeit von Heide von Felden (2003), die sich damit neben der empirischen Erforschung von Bildungsprozessen auch der empirischen Erforschung von Geschlechtskonstruktionen annimmt. Die Ergebnisse münden bei ihr in Bausteine einer Bildungstheorie, die Biographie und Geschlecht integrieren (siehe Kap. 2.3). Arnd-Michael Nohl (2006a) geht mit seiner Erforschung spontaner Bildungsprozesse über die Betrachtung von singulären Biographien hinaus, indem er diese nicht nur in einen Zusammenhang mit Lebensphasen bringt, sondern auch und gerade dem kollektiven Anteil von Bildungsprozessen nachgeht. Methodisch ist sein Ansatz zudem innovativ, da er die narrativ-autobiographischen Interviews in typologischer Absicht mit der dokumentarischen Methode auswertet und so zu einer allgemeinen und übergreifenden Phasenabfolge spontaner Bildungsprozesse gelangt (siehe Kap. 2.4). Die Frage, warum nun ausgerechnet diese vier Arbeiten der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung einer näheren Betrachtung unterzogen werden sollen, bedarf allerdings einer Begründung. Schließlich könnte womöglich auch an anderen Studien untersucht werden, wie Bildungstheorie und Bildungsforschung in ein reflexives und ihre Diskrepanzen überwindendes Verhältnis gebracht werden sollen, und der große Fundus an Arbeiten aus dem Umfeld der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung würde dabei wohl durchaus die Berücksichtigung weiterer oder auch anderer Arbeiten zulassen. Dessen keineswegs ungeachtet gibt es allerdings gute Gründe, die für die hier erfolgte Beschränkung auf die Arbeiten von Winfried Marotzki, Hans-Christoph Koller, Heide von Felden und Arnd-Michael Nohl sprechen. Es dürften derlei mindestens drei sein: (i)

1

Die in Betracht gezogenen Arbeiten treten explizit mit dem Anspruch auf, zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung vermitteln zu wollen, was andere Arbeiten nicht oder zumindest nicht in jener vorgetragenen Vehemenz tun.1 Selbst wenn der ursprüngliche Anlass ihres Einsatzes nicht primär dieses Ziel gehabt haben sollte, sondern stärker von dem Versuch geprägt war, am Ende der Moderne und ihrer großen Erzählungen einen – ge-

Prägnante Zitate, die diese Vermittlungsleistung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung in mal stärkerer, mal schwächerer Form betonen, sind den Kapiteln 2.1 bis 2.4 jeweils vorangestellt.

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rade auch postmodernem Denken2 Stand haltenden – nicht-normativen Bildungsbegriff zu entwickeln, kann ein solcher Geltungsanspruch nicht als ›strategische Werbemaßnahme‹ verstanden werden, die den Untersuchungen lediglich zusätzliche Attraktivität verleihen soll. Insofern hat der Vermittlungsanspruch der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung zu zeigen, dass er gemessen an Kriterien der Wissenschaftlichkeit – und ›strategische Werbemaßnahmen‹ unter Ausschluss einer auch die inhaltliche Ebene tangierenden Verbindlichkeit dürfen kaum zum allgemeinen Kernbestand einer solchen zählen – auch tatsächlich als ein rechtmäßiger Anspruch geltend gemacht werden kann. Auf das altgriechische λογον διδοναι, das zur Begründung auffordert, lässt sich deshalb hier verweisen, um zu prüfen, wie es um die Rechtmäßigkeit dieses Anspruches bestellt ist. (ii) Ein weiterer Grund für die Beschränkung auf die vier Arbeiten liegt aber auch in ihrer bildungstheoretischen Exponiertheit. Gemeint ist damit der Sachverhalt, dass die Arbeiten entgegen einigen anderen auch eine ›echte‹ Anbindung an Bildungstheorien suchen. Gemäß dem Diktum »Nicht überall wo ›Bildung‹ draufsteht, ist auch ›Bildung‹ drin« (Poenitsch 2004a: 447)

2

So führt Marotzki (1990a) seinen »Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie« vor dem Hintergrund postmoderner Begründungsfiguren ins Feld, und auch bei den Arbeiten von Hans-Christoph Koller (1999a) und von Heide von Felden (2003) ist der Ausgang von der Postmoderne Anlass und zentraler Bezugspunkt. Lediglich bei ArndMichael Nohl (2006a) finden sich keine expliziten Bezugnahmen auf die so genannte Postmoderne. Ausschlaggebend dafür, dass gleich drei Arbeiten die Nähe zu postmodernen ›Denkformen‹ suchen, dürfte dabei nicht nur die permanente Aktualität postmoderner Figurationen sein. Vielmehr lässt es sich mit dem Hinweis auf das von Kokemohr initiierte Hamburger Projekt erklären, in welchem – wenn denn unter der condition postmoderne jegliche Normen problematisch werden – der Versuch erfolgt, den Bildungsbegriff in nicht-normativen Dimensionen zu denken. Dass ein solches Vorhaben jedoch dem Bildungsgedanken zuwiderläuft, darauf macht Jörg Ruhloff aufmerksam, indem er darauf hinweist, dass eine solche, gleichsam ›neutrale‹ Bestimmung von ›Bildung‹ einen Verzicht auf jeden pädagogischen Aufgabengedanken bedeutet und das menschliche »Werden nach gedanklichen Maßgaben, die bestimmte Entwicklungen oder Verwicklungen gutheißen und andere als zu vermeidende auszuschließen bestrebt sind« (Ruhloff 2000: 119) der Beliebigkeit überlässt. Vgl. hierzu v.a. auch das Kap. 3.2 dieser Arbeit, in welchem Dimensionen von ›Bildung‹ in Auseinandersetzung mit den Konzeptionen von Alfred Petzelt, Wolfgang Fischer und Jörg Ruhloff ›normativ-theoretisch‹ entfaltet und für eine empirische Untersuchung ›fruchtbar‹ gemacht werden.

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stellt dieser Aspekt, der die Auswahl der vier Arbeiten zu legitimieren versucht, entsprechende Forderungen an einen respektablen Gebrauch von Bildungsbegriff und Bildungstheorie. Dem können die vier Arbeiten insofern entsprechen, als das entfaltete Bildungsverständnis unter Bezugnahme auf unterschiedliche bildungstheoretische Theorien bzw. Theoreme erfolgt. (iii) Ein dritter Grund, der die Beschränkung auf die Arbeiten von Marotzki, Koller, von Felden und Nohl plausibel zu machen versucht, konzentriert sich schließlich auf den wissenschaftlichen Status und das Niveau der in Betracht gezogenen Publikationen. Diese werden in allen vier Fällen durch die Habilitationsschrift als schriftliches Ergebnis der höchstrangigen akademischen Qualifizierung und der damit verbundenen Autorisierung, die eigene Disziplin vertreten und in ihrem Namen sprechen zu dürfen, auf eindrückliche Weise dokumentiert. Insofern können die Arbeiten als Nachweise der besonderen Befähigung zu selbstständiger wissenschaftlicher Forschung verstanden werden – und von diesen dürfte zweifelsohne Profundes zu erwarten sein. Die Beleuchtung der vier vorgelegten Konzeptionen einer Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung im Modus der Biographieforschung mit einem bildungstheoretischen Zuschnitt verfolgt dazu nun ein zweistufiges Analyseverfahren, das sich am skeptischen Einsatz3 in der Pädagogik und den hierin praktizierten Untersuchungen zur Geltungsprüfung topisch vorliegender pädagogischer Theorien, Konzepte, Praktiken, Systeme usw. orientiert. Um den Bezug auf die pädagogische Skepsis im Rahmen der hier vorgelegten Arbeit plausibel zu machen, d.h., zu verdeutlichen, warum die Untersuchung der vier Ansätze bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung mit den Analysemitteln pädagogischer Skepsis ›Sinn‹ macht, scheint eine wenigstens kurz gehaltene Be-

3

Der Begriff ›Einsatz‹ betont hier im Gegensatz zu ›Ansatz‹ nicht dasjenige, was in Theorien »begrifflich methodisch, einstellungsmäßig als Beweisunterlage und Geltungsgarant fungiert« (Fischer 1989d: 88f.) und in unumstößlichen Lehrsätzen vorgetragen wird. Vielmehr bezieht er sich – wie von Masschelein/Wimmer (1996: 7) in ihren Überlegungen zum Begriff ›Einsatz‹ vielleicht am treffendsten zum Ausdruck gebracht – auf einen Eingriff im »Feld bereits bestehender Elemente, Relationen und Regeln, in das etwas Neues hinein- bzw. dazukommt und dort Veränderungen, Unterbrechungen, Differenzen oder gar Störungen eingespielter Abläufe, Ordnungen und Grenzen bewirkt«. ›Einsatz‹ ist dabei also zu verstehen »im Sinne von anfangen, etwas beginnen in einem Geschehen, das bereits angefangen hat« (ebd.). Siehe zu dieser und der weiteren Bedeutung des Begriffs ›Einsatz‹ Masschelein/Wimmer 1996: 7f.

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trachtung der »skeptischen Methode« (Fischer 1989b), ihres Anliegens sowie ihrer Vorgehensweise angebracht und notwendig. Die pädagogische Skepsis4 – hier gleichsam verstanden als Gattungsbegriff, der die verschiedenen Einsätze, die sich an der skeptisch-transzendentalkritischen Pädagogik von Wolfgang Fischer und der Pädagogik des problematisierenden Vernunftgebrauchs von Jörg Ruhloff orientieren, zusammenfasst – fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erziehung, ›Bildung‹ und Unterricht, um bei allem, was beansprucht, mit der Sache der Pädagogik zu tun zu haben, die tragenden Fundamente offen zu legen und so eine möglicherweise nur beschränkte Gültigkeit der vorliegenden Behauptungen aufzuzeigen. Erziehungswissenschaftliche Theorien, Theoreme, Lehrsätze, aber auch pädagogische Handlungsmaximen und Praxiskonzepte gehen nämlich in aller Regel von fundamentalen Annahmen aus, die häufig nicht ausgewiesen werden, die aber für die Einlösung des jeweiligen Geltungsanspruchs von zentraler Bedeutung sind. Im gründlichen Aufspüren und in der intensiven Prüfung dieser besonderen Geltungsbedingungen verfolgt die pädagogische Skepsis eine Aufklärung, die auf eine Relativierung konkreter Wahrheitsansprüche sowie dem Nachweis einer uneingestandenen Voraussetzungsabhängigkeit gerichtet ist. Sie nimmt hierbei Beweisunterlagen und Begründungslogiken genaustens unter die Lupe und unterzieht sie – um im Bild zu bleiben – in detektivischer Spurenanalyse einer Prüfung ihres Aussagengehaltes. Kein pädagogisches Wissen, weder historisches, theoretisches noch empirisches, ist grundsätzlich davon ausgenommen, hinsichtlich seiner immanenten Begrifflichkeiten, Kategorien, Methoden und Einstellungen überprüft zu werden, um so eine verborgene Bedingtheit und Beschränktheit zur Sprache zu bringen. Ihrer Intention nach ist die pädagogische Skepsis also

4

Skepsis geht etymologisch auf das griechische σκέπτοµαι/σκέπτεσθαι bzw. σκοπεω zurück und steht zunächst für umherschauen und spähen, übertragen dann auch für sorgfältig betrachten, erwägen, untersuchen und bedenken. Skepsis bezeichnet ursprünglich also soviel wie spähendes Ausschauen und prüfende Untersuchung. »Im übertragenen Sinn, wie man ihn auf Sokrates und sein Vorgehen applizieren kann, meint ein ›skeptisches‹ Philosophieren dementsprechend, mit scharf hinblickender Aufmerksamkeit zu bedenken, ob in einer jeweils thematisierten Angelegenheit alles Wesentliche beachtet und prüfend erwogen worden ist.« (Schönherr 2003: 84) Skepsis ist insofern ein Relationsbegriff von Kritik (vgl. Ruhloff 1999a: insbes. 11, 27f.). Grundlegend zur pädagogischen Skepsis siehe Fischer 1989a, Fischer/Ruhloff 1993, Ruhloff 1979. Darüber hinaus auch Helmer et al. 2000, Löwisch/Ruhloff/Vogel 1988, Schönherr 2003 sowie überblicksartig Fischer 1996, Ruhloff 1999b, Schäfer/Thompson 2004.

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»zuvörderst analytisch, an Erkenntnissen von Begründungszusammenhängen interessiert, die nicht offen zutage liegen« (Fischer 1989c: 73). Ihr spezifischer ›Nutzen‹ erweist sich insbesondere dann, wenn die skeptische Pädagogik sich auf das Feld des kritisierten Gegenstandes begibt, um ihn – wie etwa bei ihren Analysen zur Kunsterziehung, zum Philosophieren als Unterrichtsprinzip und zum Prinzip fächerverbindenden Unterrichts – einer analytischkritischen Untersuchung zu unterziehen. Auf diese Weise leistet die pädagogische Skepsis einen spezifischen disziplinären Beitrag, indem sie als theoretische Erziehungswissenschaft, deren typische Argumentationsmuster »Analysen von problemgenerierenden Kategorien und konstituierenden Grundbegriffen, Aufdecken von Widersprüchen und nicht deklarierten Prämissen, Diskussion von theoretischen Folgelasten und des Begründungsaufwandes« (Vogel 1997b: 423) sind, das als pädagogisch vernünftig Ausgegebene mit Konsequenzen und Problemen konfrontiert, die vom Ansatz selbst verborgen, unterschlagen oder vorzeitig eliminiert worden sind. Dabei wendet der skeptische Einsatz ein zweistufiges Verfahren an. Erst einmal geht es in diesem Verfahren mit den Regeln der Hermeneutik um eine interpretative Rekonstruktion des Argumentationszusammenhangs, wobei dies einschließt, den Blick auf den Aufbau und den Argumentationsgang der Arbeiten zu schärfen oder eine Klärung dessen vorzunehmen, was sprachlich nicht verständlich genug zum Ausdruck gekommen ist. Eine solche sprachlich-logische Prüfung erfolgt, um damit etwa auf wechselnden Begriffsgebrauch, uneindeutige Phrasen, Inkonsistenzen im Argumentieren, zirkuläre Beweise sowie nicht zwingende oder unplausible Schlüsse aufmerksam zu machen (vgl. Fischer 1989c: 75f.). Hierbei ist jedoch nicht ein selbstzweckhafter furor linguisticus et logicus oder eine narzisstische Profilierung leitend, sondern der Versuch, »das in flotten Reden und vagen Ansichten, aber auch in anspruchsvollen Theorien Gemeinte in seinem Sinn und Begründungsgang klar und logisch stringent werden zu lassen« (ebd.: 76). Darauf umfasst die zweite Stufe des Verfahrens die eigentliche Analyse und Kritik5. Bei der Untersuchung geht es nämlich sodann um die Frage, auf welche

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Das Wort ›Kritik‹ entstammt den griechischen Wörtern κρίσις und κρινειν und bedeutet eingrenzen oder begrenzen von etwas. Es hat heute die Bedeutung der Unterscheidung im Bewusstsein von Gründen und die Problematisierung dessen, was als nicht problematisch gilt. »Kritik entspringt dem Befragen eines Sachverhaltes, der für selbstverständlich und absolut erst einmal genommen werden will. Dabei kann Kritik selber vielfältig sein, Kritik kann auch unter verschiedenen Zwecken stehen: Sie kann radikal sein und vernichten wollen, sie kann aber auch konstruktiv und pragmatisch

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Weise das Dargestellte als rechtmäßig begründet wird, auf welchen Beweis-, Wissens- und Forschungsunterlagen es beruht und inwiefern es in Anbetracht dieser Voraussetzungen Geltung beanspruchen und Anerkennung finden kann. Die Aufgabe liegt hier also darin, die in den verschiedenen Aussagen, Feststellungen und Behauptungen enthaltenen Voraussetzungen und Bedingungen intensiv zu prüfen »und damit dasjenige, was ihren pädagogischen Geltungs- und Verbindlichkeitsanspruch ausmacht – die für selbstverständlich genommenen begrifflich-kategorialen Bestimmungen, Verfahren, Einstellungen –, problematisch werden zu lassen« (ebd.: 71). Dies erfolgt im skeptischen Einsatz allerdings nicht von einer höheren Warte aus, mit einem übergeordneten Bewertungsmaßstab in der Hand oder im vermeintlichen Besitz der Wahrheit, sondern gemessen an der Stringenz und Plausibilität der Konzepte selbst. Skeptische Pädagogik hat insofern keine konstitutive Funktion, sondern bezieht sich auf Konstitutionen. »Man könnte auch sagen: Transzendentalkritische Pädagogik konstruiert nicht im Absoluten oder aus Absolutem. Sie ist selber keine Metaphysik der Bildung, keine Prinzipien-Lehre. Was Rechtens pädagogisch genannt zu werden verdient, das weiß sie nicht und sagt sie nicht« (ebd.; Herv. i.O.). Kritik der pädagogischen Skepsis kann daher als immanente Kritik verstanden werden, die die Möglichkeiten rationaler Verhandlung auszuschöpfen und nicht vorzeitig und unnötig Standpunkte zu beziehen versucht (vgl. Ruhloff 1979: 22). Obwohl also auch die pädagogische Skepsis nicht den Prüfstein der Wahrheit besitzt, so schließt dies »nicht aus, in einem vorfindlichen oder selbst aufgebrachten Konkurrenzkampf von Theorien oder Positionen mit vernünftigen Gründen dieser oder jener oder auch einer neuen, weiteren jetzt und vorübergehend den Vorzug zu geben« (Fischer 1989f: 190); m.a.W. pädagogische Skepsis erklärt zwar nicht eine Position zum Sieger des Widerstreits, ihr ist in schlechter skeptizistischer Manier aber auch die Feststellung zu wenig, dass vielleicht »A, vielleicht aber auch B oder gar Non-A zutrifft und man darum am besten alles so beläßt, wie es üblich ist« (ebd.). Welcher Theorie oder Position – bis auf Weiteres, d.h. mit einer vorläufigen Berechtigung – der Zuschlag gegeben wird, entscheidet sich gleichsam im Wettstreit um die besseren Argumente. Kritische Prü-

sein. Immer aber werden durch Kritik Erstarrungen verhindert. Wenn durch Kritik Erstarrung verhindert wird, dann wird durch sie im Umkehrgedanken Dynamik bewirkt. […] Kritik treibt immer über den kritisierten Zustand hinaus und sucht nach anderem oder nach Neuem, nach Besserem oder nach bisher Ungehörtem. […] Kritik äußert sich im Infragestellen: Warum ist etwas? Was ist? Muss das sein? Darf dies sein? Und sie äußert sich in den Konsequenzen aus den Fragen: nämlich in neuen Antworten« (Löwisch 1989: 5f.).

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fung und radikale Skepsis6 erfolgen insofern in einem argumentativen Disput »um die bestimmten Inhalte, um die einzelnen Gründe, um die besseren Argumente, die angemessene Begründung oder neue Alternativen« (Wigger 2003: 40). Vor diesem Hintergrund sprechen also gute Gründe dafür, die Untersuchung des Vermittlungsanspruchs der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung unter Zuhilfenahme des Repertoires pädagogischer Skepsis vorzunehmen, sind von ihr doch entsprechende Analysemittel entwickelt worden, die diese und ähnliche Fragen der Rechtmäßigkeitsproblematik bearbeiten können. Wenn die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung nämlich mit dem Anspruch auftritt, Vermittlerin zwischen den beiden ›Wissensformen‹ zu sein, dann unterliegt diesem Anspruch eine bestimmte Vorstellung davon, wie sich dieses Verhältnis zumeist gestaltet. Auch muss eine Idee darüber bestehen, wie es eigentlich auszusehen hat. Denn einen Geltungsanspruch wird man nur dann erheben, wenn es um eine Sache geht, die nicht eindeutig, sondern durchaus auf unterschiedliche Weise aufgefasst werden kann. Andernfalls wäre eine argumentative Absicherung der jeweiligen Auffassung auch gar nicht notwendig; »über das, was nicht anders sein, werden oder sich verhalten kann, beratschlagt niemand, sofern er annimmt, daß es sich so verhält; das bringt ja nichts mehr ein« (Aristoteles Rhet. 1357a). Die Anbindung an das Vorgehen der skeptischen Methode in diesem Kapitel führt nun dazu, dass der Fokus in der ersten Stufe auf der darstellenden Herausarbeitung des systematischen Kerns der vorliegenden Konzeptionen bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung liegt. Hier geht es um eine den reflexiven Anstrengungen der Ansätze gerecht werdende Skizzierung zentraler Bezugstheorien, begrifflicher Dreh- und Angelpunkte sowie konkreter Vermittlungsstrategien. Daraufhin umfasst die zweite Stufe des Verfahrens die analytische und kritische Begutachtung der Ansätze, die nicht zuletzt mittels Sekundärliteratur aus dem Umfeld allgemeinpädagogischer und bildungsphilosophischer Reflexion erfolgt und wichtige Argumentationshilfen zur Behandlung der Frage bietet, ob und inwiefern die jeweiligen Konzeptionen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung eine Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung erreichen. Mit dieser zweiten Stufe wird also der Geltungsanspruch der untersuchten Ansätze einer Prüfung unterzogen. Unter Zuhilfenahme

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Zur Unterscheidung von alltäglicher, positioneller und radikaler Skepsis und deren Verwendung in der Pädagogik siehe Fischer 1993. Diese Unterscheidung greift z.B. auch Westermann (2006) für seine Untersuchung von Prinzip und Skepsis als Grundbegriffe der Pädagogik auf.

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des Repertoires pädagogischer Skepsis werden die vier Ansätze der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung – der Ansatz Marotzkis (siehe Kap. 2.1), der Ansatz Kollers (siehe Kap. 2.2), der Ansatz von Feldens (siehe Kap. 2.3) und der Ansatz Nohls (siehe Kap. 2.4) – nun also durchdrungen und in ihren Möglichkeiten und Grenzen der Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung betrachtet.

2.1 D IE AUSLEGUNG LEBENSGESCHICHTLICHER B ILDUNGSPROZESSE IN HOCHKOMPLEXEN G ESELLSCHAFTEN : D ER ANSATZ VON W INFRIED M AROTZKI »Der traditionelle Hiatus zwischen theoretischphilosophischen Überlegungen zum Bildungsbegriff einerseits und empirisch meist quantitativ orientierter Bildungsforschung andererseits kann im Design einer mit qualitativen Methoden arbeitenden bildungstheoretischen Biographieforschung überwunden werden.« (MAROTZKI 1991A: 128)

Winfried Marotzki verfolgt bei seinem Entwurf einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung die Absicht, einen empirischen Zugang zum Gegenstand der ›Bildung‹ herzustellen, der in einer fruchtbaren Kooperation von Bildungstheorie und moderner Biographieforschung imstande ist, Möglichkeiten und Blockaden von Bildungsprozessen anschaulich zu demonstrieren. Dem Ansatz liegt dabei »die Überzeugung zugrunde, daß bildungstheoretische Überlegungen so weit getrieben werden müssen, daß sie empirisch anschlussfähig werden« (Marotzki 1990a: 18), um so deutlich zu machen, wie sich ›Bildung‹ unter den jeweils aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen konkret darstellt. Dies versucht Marotzki in seiner Habilitationsschrift von 1990 mit dem Titel »Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie« über eine extensive biographieanalytische Einzelfallauslegung zu erreichen. Sein Ansatz einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung zeichnet sich konkret dadurch aus, dass er – erstens – die Bearbeitung von erziehungswissenschaftlich relevanten Fragestellungen konsequent in lebensgeschichtlichen Horizonten anlegt, – zweitens – auf den Bildungsbegriff rekurriert, um diese Analysen voranzubringen und – drittens –

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der Methodologie und den Standards qualitativer Forschung folgt (vgl. ebd.: 15). Mit dieser bildungstheoretischen Konturierung der Biographieforschung, welche auch die Eigenständigkeit und die Abgrenzung gegenüber der soziologischen Variante herausstellt, wird sodann versucht, die sich hieraus ergebenden Anschlussmöglichkeiten für die Allgemeine Pädagogik und ihre Theoriebestände aufzuzeigen sowie die bildungstheoretischen Grundlagen für die empirische Untersuchung von Biographien als Lern- und Bildungsgeschichten zu explizieren (vgl. ebd.: 354). (a) Darstellung und Rekonstruktion Seine bildungstheoretischen Erörterungen verbindet Marotzki mit der Thematisierung zeitdiagnostischer Tendenzen, um damit das Wechselverhältnis von gesellschaftlich auferlegten Problembeständen und menschlicher Entwicklung deutlich zu machen.7 Zum Ausgangspunkt der Überlegungen werden insbesondere die Transformationsprozesse moderner Gesellschaften gemacht, die unter dem Individualisierungstheorem firmierend eine Pluralisierung von Lebensformen und -welten betonen (vgl. ebd.: 19ff.). Auch wenn sich in den sozialwissenschaftlichen Debatten durchaus Kritik an dieser These regt, so spricht der Auffassung Marotzkis nach Einiges dafür, dass sie die Grundtendenz gegenwärtiger Gesellschaftsentwicklungen nicht gänzlich verfehlt. Denn sie nehme mit dem Voranschreiten der Moderne einhergehende elementare Transformationsprozesse in den Bereichen Arbeit, Rationalität und Wissenschaft, Subjektivität und Wirklichkeitsverarbeitung sowie Wertorientierung und Ethik in den Blick, deren Stoßrichtung selbstevident sei. Diese Veränderungen, die sich in dem Auseinanderbruch oder gar Verlust fest umrissener, tradierter Sinn- und Wertehorizonte, der Entstehung einer Pluralität von Sinnwelten und dem kategorialen Wandel im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zeigen, stellen für Marotzki auch wesentliche Herausforderungen für Erziehung und ›Bildung‹ dar. Wenn nämlich »vorgegebene Weltbilder, konventionelle Normen- und Orientierungssysteme ihre Integrations- und Legitimationsfunktion für immer mehr Mitglieder der Gesellschaft verloren haben« (ebd.: 28f.) und der Einzelne zunehmend zum Planungsbüro seiner eigenen Biographie wird, dann trete die pädagogische und lebenspraktische Notwendigkeit deutlich hervor, sich Fähigkeiten anzueignen, um

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Mit diesem Vorgehen knüpft Marotzki nach eigenem Bekunden an eine lange Tradition in der Pädagogik an (vgl. Marotzki 1991a: 119). Dabei hat er sich vor allem von Wolfgang Klafkis Überlegungen zu einem zeitgemäßen Allgemeinbildungskonzept und dessen Beziehung zu epochaltypischen Schlüsselproblemen inspirieren lassen (vgl. Marotzki 1990a: 226).

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mit diesen offenen Sinnstrukturen und heteromorphen Lebensentwürfen so umgehen zu können, dass sie als Bereicherung und nicht als Bedrohung verstanden werden (vgl. ebd.: 48). Marotzki verdichtet diesen Aspekt eines angemessenen Umgangs mit den Herausforderungen individualisierter und kontingenter Lebensbedingungen vor allem auf die Frage nach der Flexibilisierungsmöglichkeit von Lern- und Bildungsprozessen »aus der Blickrichtung der Konstitutionsproblematik von Subjektivität« (ebd.: 30). Um die Struktur, die Beschaffenheit und die Voraussetzungen von Lern- und Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften zu untersuchen, verweist Marotzki auf das Konzept des »innovativen Lernens«, das der Club of Rome in seiner Schrift »Zukunftschancen Lernen« (Peccei 1979) zur Demonstration der Möglichkeiten einer wirksamen Begegnung mit gesellschaftlicher Unübersichtlichkeit entworfen hat. Für die Herleitung und Weiterführung dieses Anliegens ist dann in Marotzkis Ansatz vor allem Gregory Batesons Lernebenenmodell bedeutsam (vgl. Marotzki 1990a: 34ff.). Darin geht es um die Unterscheidung verschiedener Niveaus im Prozess des Aufbaus von Fähigkeiten der Problembearbeitung, die in einem reziproken Verhältnis zum jeweiligen Komplexitätsgrad der Gesellschaft stehen, d.h., je stärker Gesellschaften eine Komplexitätssteigerung erfahren, desto mehr sind höherstufige, neuen Problemstellungen entsprechende Lernmuster gefordert. Solche Lernprozesse, »die sich auf die Veränderung von Interpunktionsprinzipien von Erfahrung und damit auf die Konstruktionsprinzipien« (ebd.: 41) des elementaren Selbst- und Weltverhältnisses beziehen, werden von Marotzki als Bildungsprozesse bezeichnet. Die Unterscheidung von Lern- und Bildungsprozessen, die Bateson selbst zwar nicht terminologisch, aber der Sache nach vornimmt, wie Marotzki versichert, vollzieht sich somit um die Modalität der Lernvoraussetzungen herum.8 Wird auf der Basis bestehender

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Bateson beschreibt die von Marotzki in den Blick genommenen Formen des Lernens wie folgt: »Lernen null ist durch die spezifische Wirksamkeit der Reaktion charakterisiert, die – zu Recht oder zu Unrecht – keiner Korrektur unterliegt. Lernen I ist Veränderung in der spezifischen Wirksamkeit der Reaktion durch Korrektur von Irrtümern der Auswahl innerhalb einer Menge von Alternativen. Lernen II ist Veränderung im Prozeß des Lernens I, z.B. eine korrigierende Veränderung in der Menge von Alternativen, unter denen die Auswahl getroffen wird, oder es ist eine Veränderung in der Art und Weise, wie die Abfolge der Erfahrung interpunktiert wird. Lernen III ist Veränderung im Prozeß des Lernens II, z.B. eine korrigierende Veränderung im System der Mengen von Alternativen, unter denen die Auswahl getroffen wird. Lernen IV wäre Veränderung im Lernen III, kommt aber vermutlich bei keinem ausgewachsenen lebenden Organismus auf dieser Erde vor.« (Bateson 1985: 379; Herv. i.O.)

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Lernvoraussetzungen, also Lernschemata und -muster, Wissen vermehrt, dann handelt es sich um Lernprozesse.9 Werden allerdings bestehende Lernvoraussetzungen verändert, dann können diese als Bildungsprozesse angesprochen werden, und zwar – so die Begründung von Marotzki – deshalb, weil sich hierdurch die Transformation des Selbst- und Weltbezuges ergibt (vgl. ebd.: 52). Marotzki verortet auf den im Batesons Lernebenenmodell niedriger angesiedelten Niveaus die Entwicklung eines differenzierten Weltverhältnisses, wohingegen er auf den höheren Niveaus – also dort, wo er Bildungsprozesse platziert – die Arbeit an einem gesteigerten und reflektierten Selbstverhältnis sieht. Obgleich er zwar einschränkend anmerkt, dass auf allen Lernebenen eine Ausdifferenzierung des Selbst- und Weltverhältnisses erfolge, sei es insbesondere die Flexibilisierung des Selbstverhältnisses, die sich in Bildungsprozessen vollziehe. Die Veränderung von Weltverhältnissen bzw. Weltanschauungen stelle demnach für Bildungsprozesse lediglich eine conditio sine qua non dar. Damit von Bildungsprozessen gesprochen werden könne, sei gerade die Transformation des Selbstverhältnisses unabdingbar (vgl. ebd.: 43ff.). Es sind die in Batesons Lernebenenmodell höher angesiedelten Formen und Ebenen, die für Marotzki genau diese Veränderung des Selbstbezuges zum Ausdruck bringen. Ein gesteigerter Selbstbezug ermögliche es dem Subjekt, sich selbst als einen Akteur der Welt zu sehen und die Wirkungsweisen der Weltwahrnehmung zu erkennen. Durch die Infragestellung und Problematisierung der Prämissen der Weltaufordnung sowie dem kritischen Bedenken gewohnheitsmäßiger Weltanschauungen mit der Option der Veränderung wird die Überwindung einer selbstbezüglichen Haltung, »eine Souveränität des Subjekts erreicht […], die erst eine produktive und kreative Freiheit ermöglicht« (ebd.: 46). Das Batesonsche Lernebenenmodell und die daraus generierte Unterscheidung von Lern- und Bildungsprozessen dient so als Grundkonzept für die weitere Bearbeitung der Frage, wie es Menschen gelingt, mit pluralen Orientierungen und heteromorphen Lebens-, Wissens- und Handlungsentwürfen angemessen umgehen zu können. Für Marotzki ist die zeitdiagnostisch bedingte Notwendigkeit der Veränderung von Selbst- und Weltverhältnissen, um angesichts von Komplexitätssteigerung und Kontingenzzuwachs dennoch Orientierung zu finden und Selbstbehauptung zu erlangen, nun Anlass und Begründung für das Feld der Biographieforschung, was Heide von Felden (2003: 66) als den besonderen »Clou in der Argumentation Marotzkis« ansieht. Die Biographieforschung stellt für Marotzki nämlich einen geeigneten Analyserahmen dar, um die aufgeworfene Frage der

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Auf den engen Zusammenhang von Lernen und Biographie unter Verwendung der Differenzierungen von Bateson verweist auch Ecarius 1998 und 2006.

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subjektiven Umgangsweisen mit gesellschaftlicher Komplexität nicht nur grundlagentheoretisch zu bearbeiten, sondern auch empirisch als Lern- und Bildungsprozesse zu untersuchen. Den Zugang zu diesem Forschungsbereich entwickelt er dabei sowohl über die philosophischen Begründungsfiguren der Kategorie der Biographie bei Theodor W. Adorno und Jean Paul Sartre als auch über phänomenologisch-lebensweltliche und geisteswissenschaflich-hermeneutische Traditionslinien, die die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung beeinflusst haben (vgl. Marotzki 1990a: 55ff.).10 Für die Methodologie und Methode der Auslegung lebensgeschichtlicher Bildungsprozesse in hochkomplexen Gesellschaften sind diese Bezüge insofern bedeutsam, als sie die »Konfrontation mit dem Einzelfall« (ebd.: 58) hervorheben und den »Rückzug in immunisierende Strategien der Verallgemeinerung« (ebd.: 59) ablehnen. Es ist vor allen Dingen das Plädoyer für eine konsequente Einzelfallauslegung und die Fokussierung des Individuellen bei Sartre, die Marotzki als zusätzliches Argument dient, die Subjektivitätskonstitutionsproblematik in der Moderne in biographietheoretischen Kontexten anzusiedeln. Obgleich diese Theoriebestände der Philosophie und Pädagogik auf das ›Design‹ seiner bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung eingewirkt haben, so stellt Marotzki heraus, dass für die empirisch gehaltvolle Analyse subjektiver Verarbeitungsweisen von Erfahrung die eigentlichen Impulse aus der ›Kasseler Schule‹11 gekommen seien (vgl. ebd.: 76, 82ff.). In der ›Kasseler Schule‹ wird vom Mikrosoziologen Fritz Schütze und seinen Mitarbeitern versucht, gesellschaftliche Tatsachen über die Sinn- und Bedeutungszuschreibung der Handelnden zu erschließen. Dabei wird mit Bezug auf das interpretative Paradigma angenommen, dass Menschen sich immer schon in interpretativ selbst erzeugten Horizonten bewegen und anderen Menschen in interaktiven Zusammenhängen

10 Die Skizzierung der Wegmarken biographischer Reflexion in der Pädagogik und die Darstellung der Rezeption angloamerikanischer Sozialwissenschaften in der deutschsprachigen Biographieforschung, die zur Konsolidierung und Modernisierung eben dieser geführt hat, sind von Winfried Marotzki intensiv herausgearbeitet worden: Marotzki 1990a: insbes. 55ff., 1991a: insbes. 126ff., 1991c, 1999, 2002 2006a und 2006b: insbes. 129ff. Weitere fundierte Übersichten über die Genese der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung finden sich bei Schulze 2002a und 2006a sowie Krüger 2006. 11 Zur Kennzeichnung von Schützes Ansatz hat dieser Ausdruck eine gewisse Verbreitung erfahren. Zumindest verwendet ihn Marotzki zumeist. Er findet sich sogar in Marotzkis Schriften der 2000er Jahre, obwohl Schütze zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr in Kassel lehrte.

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über und durch solche Horizonte begegnen. Insofern besteht der bedeutsame Impuls der ›Kasseler Schule‹ darin, »Prozesse der Bedeutungs- und Sinnkonstitution als Prozesse der Konstruktion von Selbst- und Weltbildern zu untersuchen« (ebd.: 86). Dies geschieht bei Schütze über die starke Akzentuierung der Sprachlichkeit bzw. Textualität, die sprachlich manifeste Selbst- und Weltordnungen untersucht.12 »Sprache transformiert die Welt in eine kohärente Ordnung. Damit erzeugt sie die Welt, indem sie sie beschreibt und sie beschreibt Welt, indem sie sie erzeugt. […] Mittels Sprache kann der einzelne nicht nur Sichtweisen und Deutungshorizonte absichern und ständig aktualisieren […], sondern auch neue Sichtweisen und Deutungshorizonte hervorbringen.« (Ebd.: 162f.)

In mündlichen Stegreiferzählungen als der komplexesten Kommunikations- und Darstellungsstruktur nach Schütze wird die Präsentation autobiographischer Erfahrungsverarbeitung ermöglicht; auch und gerade, weil ein Kondensierungs-, Detaillierungs- und Gestaltschließungszwang, als ›Zugzwänge des Erzählens‹13 bezeichnet, eine Selbstläufigkeit des Erzählvorgangs initiieren. Marotzki richtet den Blick hierbei vor allem auf den Aspekt der Zusammenhangsbildung, um eine Präzisierung seiner These der Bedeutungszunahme biographischer Verarbeitungsformen für den Umgang mit der Unübersichtlichkeit gesellschaftlicher

12 Zu den erzähltheoretischen Grundlagen der ›Kasseler Schule‹ siehe umfassend Schütze 1987. Prägnante Zusammenfassungen liefern etwa Bohnsack 2007: 92ff.; Koller 1999a: 171ff.; Küsters 2006: 24ff.; Marotzki 1990a: 95ff. sowie Nohl 2006c: 23ff. 13 Bohnsack kritisiert die Bezeichnung der Elementaria kommunikativer Verständigung als Zwänge und vermutet, dass die Terminologie durch den Entstehungskontext des narrativen Interviews beeinflusst ist. Erprobt wurde es seinerzeit nämlich im Rahmen der Erforschung von Machtstrukturen in Gemeinden, die von der kommunalen Gebietsreform in den 1970er Jahren betroffen waren. Bohnsack schlägt deshalb die Überprüfung dieser an sehr spezifischen Situationen gewonnenen Kategorien vor, aus der dann möglicherweise eine Umbenennung folgen könnte. Zum anderen gibt er aber auch zu bedenken, dass der Begriff ›Zwang‹ doch eine gewisse Berechtigung erfährt, da die Interviewsituationen erhöhte Anforderungen an eine konsistente Darstellung stellen. Diese ›Konsistenzverpflichtung‹ macht es gegenüber alltäglichen Gesprächsabläufen schwieriger, aus der Kommunikationssituation auszusteigen und kann insofern einen Zwangscharakter annehmen. Die Verallgemeinerung, mit der Schütze von »Zugzwängen des Erzählens« spricht, scheint Bohnsack aber trotz dieses Zugeständnisses nicht gerechtfertigt (vgl. Bohnsack 2007: 101f.).

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Strukturen vorzunehmen (vgl. ebd.: 100). Mit Zusammenhangsbildung, ein Begriff, der bei Schütze selbst nicht explizit eingeführt wird, wird die Herstellung einer Beziehung zwischen einzelnen Teilen und einem Ganzen bezeichnet, die in neuen Situationen eine Überprüfung oder auch Modifikation erfährt. Wird diese Struktur auf die Verarbeitung lebensgeschichtlicher Erfahrungen bezogen, dann spricht Marotzki von Biographisierung. Die Bildung des Zusammenhangs erfolgt hierbei, indem – von der Gegenwart heraus – aus der Fülle vergangener Ereignisse bestimmte miteinander verbunden und mit einer Bedeutung für das eigene Leben belegt werden. Dabei geht Marotzki davon aus, dass die Erinnerungen, die eine Person in ihrem Leben noch aktualisieren kann, jene Erinnerungen sind, die ihr in einem Gesamtzusammenhang bedeutungsvoll erscheinen. Durch sie bringt die Person ihr Leben in eine Struktur: »Biographisierung ist also jene Form der bedeutungsordnenden, sinnherstellenden Leistung des Subjekts in der Besinnung auf das eigene gelebte Leben« (ebd.: 102). Es sind nach Schütze vier grundlegende »Prozeßstrukturen des Lebensablaufs« (Schütze 1981) – das biographische Handlungsschema, das institutionelle Ablaufmuster, die Verlaufskurve sowie der Wandlungsprozess – durch die eine Ordnungsstruktur des Lebens erreicht wird. Diese Prozessstrukturen greift Marotzki als Heuristik auf, um daran die Strukturen von Bildungsprozessen zu thematisieren (vgl. Marotzki 1990a: 110). Infolge der bildungstheoretischen Fragestellung von Marotzki und deren Einbettung in einen biographietheoretischen Kontext wird sich für die Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften aber im Wesentlichen dem Ordnungsschema des Wandlungsprozesses angenommen. Bildungsprozesse werden so als Wandlungsprozesse reformuliert »und zwar nicht nur, weil es hier um Transformationen des Selbst- und Weltbezuges geht, sondern vor allem deshalb, weil sie das für Subjektivität zentrale Moment der Emergenz am deutlichsten aufweisen« (ebd.: 116). Wandlungsprozesse können nach Marotzki also zeigen, wie es zu gänzlich neuartigen Entwicklungen kommt. Zugleich können sie seines Erachtens auch die Phänomene der Individualisierung und Kontingenzsteigerung am plausibelsten deutlich machen. Nach Schütze handelt es sich bei Wandlungsprozessen um gerichtete Änderungen, die sowohl die Deutungsstrukturen der Selbst- und der sozialen Wirklichkeitsauslegung als auch die biographischen Entwürfe betreffen können. Über Schütze hinausgehend besteht für Marotzki ein notwendiges Kriterium der Wandlung aber vor allem auch in der »Umstrukturierung der temporalen Matrix des biographischen Entwurfs« (ebd.: 130; Herv. i.O.).14 Diese Konstitution eines neuen Zeithorizontes, in der

14 »Indem sich die Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verändern, verändern sich die Welt- und Selbstreferenzen des Subjektes. Und umgekehrt: Die Ände-

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eine Restrukturierung des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erfolgt, zeige sich in einem qualitativen Sprung, der dem individuellen Selbst- und Weltverhältnis ein neues Modalitätsschema verschaffe. Das Modalitätsschema ist für Marotzki »jener Rahmen, innerhalb dessen sich ein nach Relevanz abgestuftes Gewißheitsschema ausgebildet hat, so daß Deutungsakte vorgenommen werden können« (ebd.: 133), die überhaupt erst die Befragung von Selbst- und Weltverhältnissen gestatten. Marotzki arbeitet u.a. in Auseinandersetzung mit Schriften von Rainer Kokemohr heraus, wie durch Modalisierungen, also Veränderungen der Selbst- und Weltreferenz, eine »Lockerung sozial vorgegebener und lebensgeschichtlicher Konventionen« (ebd.: 149) erfolgt und Raum gegeben wird für eine vieldeutige und tentative, d.h. versuchsweise Wirklichkeitsauslegung, die die gegenwärtige Faktizität transzendiert. Statt routinierte oder sozial vorgegebene Erfahrungsverarbeitungsweisen weiter zu verfolgen, generiert das Subjekt in einer tentativen Wirklichkeitsauslegung durch die experimentelle oder auch spielerische Haltung gegenüber sich selbst und der Welt verschiedene Möglichkeiten der Erfahrungsverarbeitung und gelangt dadurch zu neuen Einschätzungen. Gleichwohl besitzen Modalisierungen eine ambivalente Struktur, weil sie nämlich nicht nur den Rahmen von Selbst- und Weltreferenzen transformieren und eine Weiterentwicklung des Subjektes ermöglichen, sondern durchaus auch die Gefahr in sich bergen, das Subjekt aus seinem bisherigen Lebenszusammenhang herauszulösen und so zu verunsichern, dass es keine Ordnung mehr in sein Leben bringen kann (vgl. ebd.: 180).15 Indem Marotzki Bildungsprozesse als Modalisierungen im Sinne von Wandlungsprozessen fasst und den Fokus auf die Veränderung der Selbst- und Weltwahrnehmung legt, beansprucht er, Bildungsprozesse in lebensgeschichtlichen Stegreiferzählungen als sprachliche Dokumente von Biographisierungen empirisch untersuchen zu können. Mit hermeneutischen Textauslegungsmethoden, die sich der enormen Komplexität und Originalität der Einzelfälle annehmen, versucht er so zu prüfen, welche Lernmuster und Bildungsfiguren in bestimmten lebensgeschichtlichen Phasen vorgeherrscht und wie sie sich verändert haben. Dazu verweist er auf den von Fritz Schütze erarbeiteten doppelten Analyseansatz, der eine systematische Verzahnung von semantischer und formal-textueller

rung der Welt- und Selbstreferenzen des Subjektes beinhalten eine Änderung der Temporalitätsstruktur des biographischen Entwurfes.« (Marotzki 1990a: 138) 15 Diese ambivalente Struktur bringt Marotzki bildlich äußerst treffend zum Ausdruck: »Bildungsprozesse in hochkomplexen Gesellschaften müssen zwischen der Skylla der individuellen Erstarrung und der Charybdis des Selbstverlustes hindurch als Lernprozesse organisiert werden.« (Marotzki 1990a: 187)

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Analyse verfolgt.16 Die erzählten Darstellungen werden bei diesem Vorgehen bis zum Beweis des Gegenteils als realitätsadäquate Beschreibungen und Berichte aufgefasst, und dennoch wird die Erzählung daraufhin überprüft, ob Widersprüche oder Inkonsistenzen in den Aussagen der verschiedenen Interviewpassagen vorhanden sind. Diese rein semantische Analyse wird durch eine formaltextuelle Analyse komplettiert, die Segmentierungen sowie Binnendifferenzierungen von Erzähllinien indiziert und so die biographische Gesamtformung beschreibt (vgl. ebd.: 165). Ebenso wie Fritz Schütze geht Marotzki davon aus, dass durch die autobiographische Stegreiferzählung Narrationen erzeugt werden, die es erlauben, Analysen über Verarbeitungsformen vorzunehmen und damit Aufschluss geben über das orientierende Potenzial des Informanten und dessen Veränderung. Auf Grund der Orientierung an den methodologischen und methodischen Überlegungen der ›Kasseler Schule‹ treten daher bei Marotzki auch die sprachliche Präsentation der Biographie und ihre textuelle Ordnungsstruktur in den Analysefokus (vgl. ebd.: 171). Mit dem doppelten Analyseansatz wird hier versucht, die mikrostrukturelle Betrachtungsweise von Bildungsprozessen voranzutreiben und jene Übergangsbereiche zu bearbeiten, die dazu führen, dass von einem bestimmten Modalitätsschema der Selbst- und Weltreferenz zu einem höheren gelangt wird. Dadurch werden sich »tiefere Einsichten in die Gegebenheitsweise von Subjektivität« (ebd.: 189) versprochen. Für die Erforschung mikrostruktureller Bildungsprozesse geht Marotzki deshalb auch dem Stellenwert der so genannten mehrwertigen Logikkonzeption von Gotthard Günther, einem deutschen Philosophen und Logiker, nach, um eine theoretische Erklärungsweise für das Ereignen eines qualitativen Sprungs zu gewinnen, der von einem Orientierungssystem der Selbst- und Weltauslegung zu einem anderen führt. Anhand Günthers logisch-philosophischem Werk wird dieser Sprung als Kontexturtransformation kenntlich gemacht und plausibilisiert, dass einem Komplexitätszuwachs von Gesellschaft nicht durch die Optimierung innerhalb einer Kontextur begegnet werden könne, sondern nur durch eine Transformation von einer Kontextur zu einer anderen, gleichsam komplexeren Kontextur (vgl. ebd.: 216f.). Solche Übergänge erforderten »einen Wechsel des

16 Die von Schütze dem Verfahren des narrativen Interviews zu Grunde gelegte Homologie-Prämisse, die von einem Entsprechungsverhältnis von erlebter Ereignisabfolge und sprachlicher Präsentationsaktivität ausgeht, relativiert Marotzki auf Grund erkenntnistheoretischer Bedenken. Er formuliert dieses Verhältnis vorsichtiger, indem er die Beziehung zwischen Ereignishergang und Abfolge der Präsentationsaktivität als nicht zufällig ansieht, aber eben – das wird daraus ersichtlich – nicht unbedingt und unmittelbar aufeinander bezogen (vgl. Marotzki 1990a: 167f.).

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ontologischen Ortes, von dem aus das Subjekt sich der Welt und sich selbst auf neue Weise gewiß werden kann« (ebd.: 220). Deshalb schlussfolgert Marotzki auch, dass die Auslegung der Deutungsprozessstrukturen der Subjekte im Rahmen des Aufsuchens ihres ontologischen Ortes zu erfolgen habe, »innerhalb dessen sie in einmaliger und nicht zu verallgemeinernden Weise ihre Existenz sinnhaft vollziehen« (ebd.: 224). So dienen die Überlegungen in Auseinandersetzung mit der mehrwertigen Logikkonzeption Günthers vor allem der Bestätigung des im Vorfeld entwickelten Theorierahmens sowie der Rechtfertigung der methodischen und analytischen Vorgehensweise. Auch machen sie noch einmal deutlich, dass Marotzki zur empirischen Analyse lebensgeschichtlicher Bildungsprozesse die Aufmerksamkeit auf die Modalitäts- bzw. Kontexturtransformationen der Subjekte lenkt: »Die Frage, wie Subjekte diese qualitativen Übergänge vollziehen, ergibt Aufschluß über den Wechsel der Lernebenen, über den Wechsel der Erfahrungsmodalität sowie über den Wechsel der Zukunftsstruktur des biographischen Entwurfs, gibt also Aufschluß über die Mikrostrukturen von Bildungsprozessen.« (Ebd.: 246) Marotzki vollzieht seine Untersuchung lebensgeschichtlicher Bildungsprozesse anhand eines im Sommer 1984 geführten narrativen Videointerviews mit einer jungen Frau, die an der Universität Hamburg Lehramt an Gymnasien mit den Fächern Englisch, Deutsch und Erziehungswissenschaft studiert und abgeschlossen hat.17 Das Interview ist nicht von Marotzki selbst, sondern von einem Hochschullehrer, bei dem die junge Frau schätzungsweise vier bis fünf Jahre zuvor ihr Examen in Erziehungswissenschaft absolviert hat, geführt worden. Die Transkription wurde allerdings noch einmal neu von Marotzki vorgenommen, um zum einen eine Steigerung der Transkriptionsgenauigkeit vorzunehmen und zum anderen, um einige der nonverbalen Elemente der Videointerviews zu übernehmen und für die Auswertung zu berücksichtigen (vgl. ebd.: 239). Das insgesamt 1431 Zeilen umfassende Interview wird von Marotzki in zehn Segmente unterteilt, in die wiederum eine intrasegmentale Struktur hineingelegt wird. Nach der extensiven segmentalen Beschreibung und Analyse des Interviews greift Marotzki auf sein im Vorfeld der Arbeit entfaltetes theoretisches Rüstzeug zurück, um die Modalitäts- bzw. Kontexturtransformationen, d.h. die durch einen qualitativen Sprung gekennzeichneten »Orte des Übergangs« (ebd.: 312) intensiver zu studieren. Dabei lässt er sich nicht von Überlegungen zu lebensphasenspezifischen Kontexturtransformationen leiten, sondern ihm geht es um

17 Es handelt sich um den Fall »Cordula«, der schon bei Kokemohr (1989) einer bildungstheoretisch interessierten Untersuchung unterzogen wird. Zur Rekonstruktion dieses Falls unter sozialstrukturellen Gesichtspunkten siehe auch Wigger 2007: 178f.

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»Kontexturen des gelebten Lebens als Strukturen des biographischen Bildungsprozesses« (ebd.). In der erzählen Lebensgeschichte der jungen Frau sieht Marotzki drei Kontexturen: Einen auferlegten biographischen Entwurf, die Herausbildung eines Negationsstils und einen selbst gestalteten biographischen Entwurf. Die erste Kontextur ist für Marotzki von der Entscheidungssituation nach dem Schulabschluss geprägt, in der die Informantin nach fehlgeschlagenen Versuchen, die eigenen beruflichen Zukunftsvorstellungen gegenüber den Eltern überzeugend zu rechtfertigen, mit dem Ergreifen des Studiums in die Fußstapfen des Vaters tritt und sich nahezu resignativ den von den Eltern auferlegten schichtorientierten Kriterien für die Lebensentscheidung beugt (vgl. ebd.: 313f.). Die anschließende »Krise, die zu einer einjährigen Beurlaubung führt, ist eine Krise der Lebensplanung« (ebd.: 314), deren Möglichkeit der Besinnung auf die eigene Existenz aber nicht zur Herausbildung eines Negationsstils gegen die Fremdbestimmung der Eltern genutzt wird, sondern mit der Wahl des Lehramtsstudiums lediglich zu »einer kosmetischen Korrektur« (ebd.: 315) am Lebensentwurf führt, weil es weiterhin die sozialen Kriterien der Eltern sind, an denen sich dieser ausrichtet. Eine eigenständige Entscheidung bleibt nach wie vor außerhalb des Möglichkeitshorizontes der Informantin, weil die Dominanz dieser Kontextur zu stark ist, um sie von jetzt auf gleich zu transformieren. »Die sinnstiftende Kraft der Zukunft verläuft somit in konventionellen Erwartungsmustern einer schichtspezifischen Normalbiographie.« (Ebd.: 316; Herv. i.O.) Die zweite Kontextur liegt aus Sicht von Marotzki den Selbst- und Weltsichten der Phase zwischen dem schon begonnenen Lehramtsstudium bis hin zum Abbruch des Referendariats zu Grunde, die durch die Grundtönung eines Widerspruchs von Intellektualismus und Leben charakterisiert sind. Ein in dieser Kontextur vollzogener Wandlungsprozess, als dessen Beginn die Lektüre von Texten Alice Millers anzusehen ist, ermöglicht für die Informantin neue Orientierungen und kreative Impulse, die aber erst zum Zeitpunkt nach dem Abbruch des Referendariats ihr volles Potenzial entfalten können. Insofern sieht Marotzki hier die Herausbildung eines die dritte Kontextur vorbereitenden, aber noch nicht freisetzenden neuen Modaliätsschemas. Da der von den Eltern auferlegte Lebensentwurf in dieser Kontextur zunehmend fragwürdig wird, kommt es »zur Herausbildung und Erprobung von Negationen« (ebd.: 318). Diese bringen zwar ein Bewusstsein für eine Reihe von Problemen hervor, mit denen es die Informantin zu tun hat; eine produktive Bearbeitung der Probleme wird aber noch nicht vollzogen. Stattdessen kommt es – wie in enger terminologischer Nähe zu Fritz Schütze ausgedrückt wird – »zu einer dramatischen Aufschichtung des Verlaufskurvenpotentials« (ebd.), die ihre Klimax in der Lebens- und Sinnkrise nach der Be-

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endigung des Studiums erreicht. Es ist für Marotzki allerdings gerade dieses, in der Lebenskrise inhärente Moment des Leidens an sich selbst und der Welt, das jene negatorischen Gehalte freisetzt, die für die Überwindung dieser zweiten Kontextur notwendig sind. Die Informantin versucht im Lehramtsstudium einen eigenen Lernmodus zu konstituieren, etwa indem sie in Seminaren den Praxisbezug einfordert oder auf die vor der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Seminarthemen zu etablierende Interaktionsebene drängt. Das permanente Scheitern des Versuchs, einen eigenen Lernmodus zu finden und die Ablehnung ihres favorisierten Lernstils durch das Umfeld, führen zu der Krise, die in der Prüfungsphase zwar noch kontrolliert werden kann, die sich aber danach in ihrer ganzen Dramatik zeigt (vgl. ebd.: 323f.). In diesem Leidensprozess während eines Aufenthaltes in Irland erreicht die Informantin einen Punkt, »der ihr in prononcierter Form die ekstatische Erfahrung bei der Lektüre der Werke Alice Millers ermöglichte« (ebd.: 326) und diesen Zeitpunkt zum Wendepunkt werden lässt. Mit der Referendariatszeit wird dieser kreative Schub aber noch nicht als Organisationsimpuls wirksam, sondern erst noch einmal überdeckt. Der Abbruch des Referendariates bedeutet aber dann eine »Ablehnung institutionell organisierter Lernprozesse und die Eröffnung solcher Lernprozesse, deren Voraussetzungen und Bedingungen sie selbst stärker beeinflussen kann« (ebd.: 329). Indem sie sich negatorisch gegen die institutionellen, konventionellen und sozialen Räume wendet, kreiert sie einen Zukunftsentwurf, der sich durch eine experimentelle Haltung gegenüber sich selbst und der Welt auszeichnet. Die dritte Kontextur beschreibt nun den selbst gestalteten biographischen Entwurf, in dem sich die Protagonistin durch die Reorganisation der Wirklichkeitsauffassung fundamental anders auslegt und den Widerspruch zwischen Intellektualismus und Leben in die biographischen Zentren des kreativen Schöpfens und ihr Kind überführt. In dem künstlerisch-literarisch imprägnierten Entwurf, der durch ihr Projekt einen Roman zu schreiben, zum Ausdruck gebracht wird, nimmt ihre Selbst- und Welthaltung für Marotzki einen Experimentcharakter an, der zur neuen Signatur ihres Lebens wird. Besonders die im Laufe des Interviews immer wieder angesprochene und kontinuierlich bedeutsamer werdende biographische Linie der Kreativität bzw. des Schreibens verdeutlicht für Marotzki, wie die Informantin sich die Möglichkeit verschafft, eine tentative Wirklichkeitsauslegung zu erproben. Wegen einer Milchallergie ihrer Tochter hat die Informantin diesen Entwurf zwar noch nicht direkt realisieren können; er ist jedoch bloß zeitlich aufgehoben. Eine Kontexturtransformation liegt für Marotzki aber bereits zu diesem Zeitpunkt vor, weil »sich das zugrundeliegende Strukturprinzip, mittels dessen das Subjekt Selbst- und Weltauslegungen prozediert, qualitativ ändert« (ebd.: 336). Durch ihre Tochter, so berichtet die Informantin, habe sie

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grundlegende Prinzipien umgelernt und dadurch ihren Lebensstil verändert, d.h. die biographischen Relevanzstrukturen einer Modifikation unterworfen. Nicht aber bloß die Selbstaussage der Informantin illustriere die Kontexturtransformation; mehr noch die formal-textuelle Analyse in Auseinandersetzung mit dem Orts- und Sprachwechsel macht für Marotzki deutlich, dass sich die Problembearbeitungsmodi der Informantin verändert haben, obgleich dies ihr nicht in Gänze bewusst zu sein scheint. Im Sinne einer Konklusion beschreibt Marotzki die dritte Kontextur daher wie folgt: »Es handelt sich also um eine Situation, in der sich für sie zwar Bestimmtheiten abzeichnen, nicht alles ist für sie fragwürdig. Trotzdem ist nicht alles geregelt, sie hat in ihrem Entwurf ein beträchtliches Maß an Unbestimmtheiten zugelassen. Nur dadurch wird es ihr möglich, eine offene, tentative, erprobende Welt- und Selbsthaltung aufzubauen.« (Ebd.: 342)

Bildungstheoretisch – so Marotzki – sei von Bedeutung, wie der Übergang zu den der dritten Kontextur zu Grunde liegenden Selbst- und Weltreferenzen erreicht werde. Bei der Protagonistin führen die vorzeitige Beendigung des Referendariats und der anschließende geographische Wechsel nach Irland zur endgültigen Besiegelung des Bruchs mit der alten Welt; das Leseerlebnis der Schriften Alice Millers wird hierbei zum zentralen Konversionserlebnis. Anhand dieser Zentralstelle in ihrer autobiographischen Thematisierung geht Marotzki den bildungstheoretischen Implikationen der letzten Kontexturtransformation nach. In seinen Analysen deutet er die Lektüre der Schriften Millers als neue Zielstruktur des biographischen Entwurfs der Protagonistin, und diese Zielstruktur mache sich durch eine Veränderung der Temporalitätsstruktur bemerkbar (vgl. ebd.: 350). Die lebensgeschichtliche Vergangenheit erfahre eine inhaltliche und strukturelle Negation, die Zukunft stattdessen werde insofern positiv gedeutet, als sie durch die Formulierung neuer Lebensziele einen Sinn verliehen bekommt. Die Protagonistin gestalte somit einen »biographischen Entwurf, dessen Signaturen Kontingenz und situative Reorganisation im Sinne einer Zukunftsoffenheit bilden« (ebd.: 354) – und damit das verdeutliche, was als eine typische Biographie der reflexiven Moderne anzusehen sei. (b) Analyse und Kritik Obgleich Winfried Marotzki mit diesem – und gleichsam als ›Prototyp‹ bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung anzusehenden – Ansatz demonstriert, wie über die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung eine Verbindung von Bildungstheorie und Bildungsforschung bewerkstelligt

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werden kann, tun sich einige Rückfragen und Einwände auf, die nun als fundierte Analyse und Kritik im zweiten Teil der Auseinandersetzung mit der Konzeption Marotzkis zur Sprache kommen sollen. Denn trotz der weitgehend positiven Aufnahme von Marotzkis Ansatz in erziehungswissenschaftlichen Diskussionszusammenhängen – etwa auch in denen der Teildisziplinen18 – gibt es durchaus Positionen, die sich nicht ausschließlich auf eine affirmative Weise mit dem »Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie« beschäftigen. Sie denken ihn vielmehr auf die Möglichkeit einer stärker bildungstheoretischen Akzentuierung weiter. Profunde Hinweise hierzu finden sich vor allem bei verschiedenen Protagonisten des allgemeinpädagogischen bzw. bildungsphilosophischen Genres. So ist es Lothar Wigger (2004), der sich bei seiner Analyse des Ansatzes von Marotzki im Wesentlichen auf die dort vertretene These konzentriert, dass eine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung vermitteln könne. Er behandelt also genau jene Frage, um die es hier im ersten Teilabschnitt der Arbeit geht, sodass seinen Hinweisen und Ausführungen besondere Beachtung zu schenken ist. Aber auch Koller (1999a), Reinhartz (2001), Stojanov (2006a und 2006b) und Nohl (2006a) bieten Argumente, mit denen sich die Frage nach einer gelungenen Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung in der Konzeption Marotzkis bearbeiten lässt, da sie auf dessen Ansatz im Rahmen der Darstellung ihrer eigenen Studien eingehen und mitunter Anknüpfungs- und Abwendungspunkte sowie einige kritische Seiten thematisieren. Wigger nimmt den Ansatz Marotzkis vor dem Hintergrund einer Lagebeschreibung von Bildungstheorie und Bildungsforschung in den Blick. Dabei dient ihm Marotzkis Arbeit als mögliches Exempel einer bildungstheoretisch elaborierten und empirisch fundierten Biographieforschung, der es um die Überwindung des Hiatusʼ von Bildungstheorie und Bildungsforschung geht (vgl. Wigger 2004: 484). In der Betrachtung des spezifischen Vorschlags Marotzkis generiert er allerdings Argumente und Überlegungen, die Bedenken gegenüber dem Anspruch formulieren, dass ein solcher von Marotzki eingeschlagener Weg genuin empirische Anschlüsse des bildungstheoretischen Diskurses bereithält und die beanspruchte Vermittlung zur Realisierung bringt. Wigger richtet die Aufmerksamkeit dabei auf die Analyse- und Erklärungsreichweite des von Ma-

18 So ist die Arbeit von Marotzki nicht nur in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft als innovative Weiterentwicklung aufgefasst worden, sondern auch in anderen Teildisziplinen wie etwa der Erwachsenenbildung hat sie Anerkennung gefunden und war dort willkommener Anlass für ein neues Interesse an Lebensgeschichten. Siehe hierzu Hoerning et al. 1991 und Tietgens 1992.

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rotzki entwickelten Bildungsbegriffs. Mit dem erarbeiteten Bildungsbegriff, der wie im Darstellungsteil aufgezeigt u.a. in Auseinandersetzung mit Gregory Batesons Lernebenenmodell und Gotthard Günthers mehrwertiger Logikkonzeption entwickelt wird, verwende Marotzki nämlich einen »sehr allgemeinen, formalen Bildungsbegriff« (ebd.: 486), mit dem er zwar womöglich unfruchtbare bildungstheoretische Kontroversen vermeide, allerdings auch auf inhaltliche Differenzierungen der Bildungstheorie verzichte. Wigger vermisst also in den vorgelegten Analysen von Marotzki die Herausarbeitung inhaltlicher Relationen und gegenstandsspezifischer Topoi der jeweiligen Selbst- und Weltsichten. Dem Bildungsbegriff Marotzkis gelinge es dabei vor allem deshalb nicht, das bildungstheoretische Potenzial für die empirischen Analysen fruchtbar zu machen, da – so Wigger weiter – das Thema der Auseinandersetzung des Subjekts mit sich selbst und der Welt bei Marotzki eine nur einseitige Auslegung erfahre. Der Blick werde nämlich lediglich auf die Rekonstruktion der Subjektkonstitution gelegt (vgl. ebd.: 486). Die Bedeutsamkeit solcher Subjektentwicklungen wird zwar von Wigger nicht grundlegend in Frage gestellt. Aber jener Fokus sei eher identitäts- denn bildungstheoretisch ausgerichtet (vgl. ebd.: 487). So müssten in einer Biographieforschung, die sich zu Recht das Etikett ›bildungstheoretisch‹ zulegt, auch die sozialen Bedingungen und Institutionen analysiert werden. Dies versuche Marotzki zwar durch die Analyse biographischer Bildungsprozesse zu erreichen, indem er gesellschaftliche Tatsachen über die Sinn- und Bedeutungszuschreibungen der Subjekte erschließt. Da ›Bildung‹ aber dort ausgemacht wird, wo die Arbeit an einem gesteigerten und reflektierten Selbstverhältnis erfolgt, werden Aspekte des Weltverhältnisses unterminiert. Die bildungstheoretische Erklärungsreichweite bleibt dabei eine eingeschränkte, wenn und insofern man davon ausgeht, dass ›Bildung‹ nicht nur das Verhältnis zu sich selbst, sondern auch zur Welt bezeichnet (vgl. ebd.: 489). Dass die beiden von Wigger herausgestellten Problembereiche der Arbeit Marotzkis, die dominante Fokussierung von Selbstverhältnissen und der Primat formaler Prozesse, dabei in unmittelbarem Zusammenhang mit der spezifischen Herleitung und Modellierung von ›Bildung‹ zu betrachten sind, wird durch eine begriffliche Differenzierung von Nohl (2006a) deutlich, sodass es lohnenswert ist, an dieser Stelle hierauf zu verweisen. Zur Darstellung seiner Untersuchung, die in Kap. 2.4 näher betrachtet wird, unterscheidet Nohl auf idealtypische Weise nämlich zwei Verständnisweisen von ›Bildung‹ voneinander: »Bildung als Subjektivierung durch das Wechselverhältnis von Mensch und Welt« (Nohl 2006a: 9; Herv. i.O.) repräsentiert demnach die klassische Position der Bildungstheorie, in der »die Erschließung der dem einzelnen Menschen äußerlichen Gesellschaft oder Kultur« (ebd.: 8) in gleichsam freiester und regester Wechselwir-

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kung erfolgt. »Bildung als Subjektivierung durch die Transformation von Lebensorientierungen« (ebd.: 11; Herv. i.O.) betont dagegen die hohe Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen, welche aus der Lebensperspektive von Individuen aus gesehene immer wieder und aufs Neue Dekonstruktion, Rekonstruktion und Neukonstruktion von individuellen Selbst- und Weltsichten erfordert, damit Orientierung gewahrt wird. Nohl erblickt in dieser Version vordergründig eine »Extremform formaler Bildungstheorie« (ebd.: 12), während es das erstgenannte Verständnis sei, das einen Mittelweg zwischen formaler und materialer Bildungstheorie einschlage (vgl. ebd.). Wenn Nohl nun diagnostiziert, dass Marotzki mit seiner Bezugnahme auf das strikt formale Lernebenenmodell von Gregory Bateson eine formale Bildungstheorie zur Grundlage berufe, dann bestätigt er also Wiggers Befund. Allerdings könne man seines Erachtens – und hierin unterscheidet sich seine Sichtweise von derjenigen Wiggers – nicht sagen, dass die Arbeit Marotzkis, die ›Bildung‹ als Subjektivierung durch die Transformation von Lebensorientierungen versteht, die Problematik von Kultur und Gesellschaft gänzlich ignoriert, da sie deren Krisis zum Ausgangspunkt ihrer Theorie erhebt und dem Subjekt deshalb auch höhere ›Bildungsanforderungen‹ auferlegt. Insofern erfolgt für Nohl (2006a: 13) auch hier eine »Integration von empirisch rekonstruierter Materialität der Bildung«. Nun kann sicherlich darüber redlich gestritten werden, ob der entfaltete Bildungsbegriff von Marotzki eine eigene Kategorie darstellt und sich als strukturaler Bildungsbegriff jenseits eines formalen und materialen Bildungsbegriffs ansiedelt, oder ob er doch vielmehr den Maßstäben eines formalen Bildungsbegriffs entspricht. Für eine eigene Kategorie des entwickelten Bildungsbegriffs von Marotzki, dem – das sei am Rande erwähnt – durchaus auch ein nicht problematisierter emphatischer Subjektbegriff zu Grunde liegt und implizit mit Werten wie Freiheit, Mündigkeit und Verantwortung verbunden ist (vgl. Koller 1999a: 153 FN 2), spricht immerhin dessen Hinweis auf die Untersuchung von Prozessen der Subjektkonstitution im Rahmen konkreter gesellschaftlicher Zeitdiagnosen. Objektoption und Subjektoption werden bei Marotzki nämlich gleichermaßen als Bestandteile eines Bildungsbegriffs betont, damit man der latenten Gefahr der Objektoption, den Bildungsbegriff in Folge gesellschaftlicher Qualifikationsanforderungen zu unterminieren, ebenso entgehe, wie der latenten Gefahr der Subjektoption, den Bildungsbegriff subjektivistisch verkürzt darzustellen (vgl. Marotzki 1991a: 125). Dies ist dann auch der Grund, warum Marotzki weder formale noch materiale Bildungstheorien als befriedigende Grundlage für sein Anliegen ansieht und mit dem Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie die Defizite von formalen und materialen Bildungstheorien überwinden möchte. Denn in formalen Konzepten verschwinde mit der Betonung der Ent-

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wicklung aller menschlichen Kräfte und Fähigkeiten die Individualität des Subjekts, dessen besonderen Stellenwert Marotzki vor allem an Sartres Philosophie herausstellt. In materialen Konzepten hingegen werde einem Bereich menschlicher Praxis ein Primat zugesprochen, sodass ausschließlich bestimmte inhaltliche Anforderungen zum Indikator von ›Bildung‹ erhoben werden und anderen – derzeit gesellschaftlich weniger wertgeschätzten – Inhalten diese Leistung abgesprochen wird (vgl. Marotzki 1990a: 230ff.). Allerdings – so Wigger – erreiche Marotzki mit dem von ihm entwickelten Bildungsbegriff genau das nicht, was er eigentlich umzusetzen beansprucht; nämlich »über den Bildungsbegriff Subjektund Objektoption in ein ordnendes Verhältnis zu bringen, und […] über das Biographiekonzept eine Vermittlungsfigur zwischen subjektivistischen und objektivistischen Ansätzen zu finden« (Marotzki 1991a: 127). Für Wigger bestehen daher deutliche Zweifel an der Bezeichnung der Studie Marotzkis als bildungstheoretisch. Diese Etikettierung wäre für Wigger nur dann überzeugend, wenn hier »die Rekonstruktion eines mehr oder weniger differenzierten und prozessierenden Gefüges kategorial erschlossener Weltausschnitte als Kontexte des individuellen Selbstkonzeptes« (Wigger 2004: 487) im Mittelpunkt stünde und nicht die formalistisch anmutende Interpretation von ›Persönlichkeitsveränderungen‹ auf einer hohen Allgemeinheitsstufe. Beispielsweise, so führt Wigger zur Illustration dieser These aus, könnte der von der jungen Frau des Öfteren angesprochene Gegensatz einer entfremdeten, im schulischen Kontext institutionalisierten und einer Authentizität wahrenden, gleichsam natürlichen Pädagogik unter bildungstheoretischer Perspektive einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Dazu wäre es möglich, den Gegensatz einer autoritären und antiautoritären Erziehung aufzugreifen oder auch – unter der kantischen Frage, »wie cultivire ich die Freiheit bei dem Zwange« (Kant Päd 453.30-31) – die Gegenüberstellung von Konformität verlangenden Institutionen und natürlichem Leben zu behandeln (vgl. Wigger 2007: 180). Die von Marotzki vorgenommenen Betrachtungen schlagen diesen Weg aber nun nicht ein und ›begnügen‹ sich mit Rekonstruktionen, die grundlegende Wandlungen des Selbstverhältnisses im Übergang »von der Affirmation und Konformität zur Reflexivität und Distanziertheit bzw. von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung des eigenen Lebensentwurfes« (Wigger 2004: 487) erblicken, um so die in extensiver hermeneutischer Einzelfallauslegung diskutierte Lebensgeschichte der jungen Frau am Ende als eine typische Biographie der reflexiven Moderne zu präsentieren.19 Es sei deshalb

19 Das, was hier als die Bestätigung des Individualisierungstheorems bezeichnet werden kann, ist selbst wiederum auf eine zweifache Weise problematisch: Wie Wigger betont ist damit nämlich zum einen die gesellschaftstheoretische Relevanz erziehungs-

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äußerst lohnend, mitunter sogar dringend notwendig, biographisches Material, welches bildungstheoretisch ausgewertet werden soll, einer Analyseprozedur zu unterziehen, in der »deutlicher die individuellen Weltverhältnisse und deren Transformationen« (ebd.: 489; Herv. i.O.) herausgearbeitet werden. Der bildungstheoretische Akzent einer explizit auf Bildungsprozesse fokussierten Biographieforschung lasse sich auf diese Weise stärken. Mit dieser Kritik steht Wigger keineswegs alleine da. Dass Bildungsprozesse bei Marotzki nämlich im Wesentlichen vor dem Hintergrund einer permanenten Herstellung von Selbstkohärenz verstanden werden, wird auch von Krassimir Stojanov (2006b: 74) beanstandet, obgleich er den von Marotzki entwickelten Bildungsbegriff für eine »echte paradigmatische Neuerung in der Bildungstheorie« hält und mit seinen Überlegungen durchaus an das von Marotzki formulierte Programm der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung anschließt. Denn auch Stojanov spricht sich für einen Bildungsbegriff aus, der subjektive Sinnsetzungen und Erwartungen aus der Perspektive konkreter Akteure heraus rekonstruiert. Allerdings strebt er eine normative Erweiterung dieser qualitativempirischen Bildungsforschung an, indem er sie sozialtheoretisch akzentuiert. Denn Bildungsprozesse ereignen sich für Stojanov als »immanente Dimension sozialer Interaktionen und ihrer Dynamik« (Stojanov 2006a: 13), sodass Selbst-

wissenschaftlicher Bildungsprozessanalysen keineswegs ausgeschöpft. Zum anderen ist aber auch fraglich, auf welcher Grundlage Marotzki behaupten kann, dass die Lebensgeschichte der jungen Frau eine typische Biographie individualisierter Gesellschaften darstellt, wenn er doch keine auf Vergleichbarkeit ausgerichtete Studie anstrebt, sondern eine extensive Einzelfallauslegung vornimmt. Das Urteil einer typischen Biographie für die Moderne erscheint auf diese Weise wenig nachvollziehbar. Um das Typische zu erkennen, ist der Vergleich verschiedener Fälle nämlich notwendige Bedingung – so das allgemeine Plädoyer methodischer Ansätze, die sich der Typenbildung verschreiben. Nur im Fallvergleich lässt sich herausarbeiten, was den Fällen gemeinsam ist, worin sie sich unterscheiden, und nur so können Aussagen darüber getroffen werden, was als typisch anzusehen ist (vgl. Nohl 2006a: 23; Kelle/Kluge 2010). Mit dem von Marotzki eingeschlagenen Weg der Einzelfallanalyse wird ein solches Urteil aber nicht ermöglicht, und so bleibt es gerade auch methodisch ungeklärt, wie die Analyse des Interviews zum Urteil des Typischen postmoderner Signatur führen kann. Die interpretative Steigerung zum Typus bleibt daher wohl eine ausschließlich gesellschaftstheoretisch-spekulative, und der »vermeintliche, metaphorische Konsens von Sozialwissenschaftlern über das, was typisch modern bzw. postmodern sei, wird zur alleinigen interpretativen Legitimationsquelle« (Reinhartz 2001: 70), der sich Marotzki hier bedient.

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beziehungsformen des Subjekts und Momente der Welterschließung sich wechselseitig bedingen. Auch Stojanov geht damit also der Frage der notwendigen Erweiterung bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung nach und sieht bislang ungenutztes Potenzial vor allem darin, solche »alltäglich-sozialen Typen von Erfahrung zu rekonstruieren, welche die so spezifizierten Bildungsprozesse ermöglichen bzw. verhindern« (ebd.: 47). Dazu benötige die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung nach Stojanov jedoch eine Perspektive, die Bildungsprozesse als Selbst-Entwicklung durch Welt-Erschließung kenntlich macht. Das aber sei bei Marotzki nur eingeschränkt der Fall. Obwohl er unter Bildung zwar auch die Hervorbringung von Weltreferenzen verstehe, seien diese – so Stojanov (2006b: 78) – für ihn nur dann für Bildungsprozesse bedeutsam, wenn sie »so ›subjektiviert‹ werden, dass sie ein Moment der biographischen Kohärenz der Person werden und erst dadurch neue Selbst-Entwürfe dieser Person in die Welt ermöglichen«. Der Ausdruck ›Welt‹ diene Marotzki dabei eher als Synonym für Umwelt, Wirklichkeit oder auch Objektivität. Für die Analyse lebensgeschichtlicher Bildungsprozesse sei es aber – so Stojanov weiter – geradezu notwendig, die Artikulation von Selbstbeziehungsformen »komplementär zum Vorgang der intersubjektiven Herstellung eines Weltbezugs« (ebd.: 79) zu fassen, da die Selbstreferenzen ansonsten gar nicht adäquat analysiert werden könnten. Die gleichsam subjektivistisch-atomistische Fokussierung auf das einzelne Subjekt und sein »geliebtes Selbst« (Kant Anth 128.23), wie es sich mit einer Formulierung Immanuel Kants sagen lässt, verhindere bei Marotzki allerdings den Blick auf konkrete Inhalte des Weltbezugs.20 Mit der Erinnerung an den »normativen Bedeutungsgehalt des Weltbegriffs gerade in der bildungsphilosophischen Tradition« (Stojanov 2006b: 79) versucht Stojanov über diese subjektivistische Verkürzung hinauszugelangen und konzentriert sich auf das Moment der Intersubjektivität, das als soziale Voraussetzung konstitutiv für Weltreferenzen anzusehen sei. Zu diesem sozialen Fundament gehört für Stojanov vor allen Dingen der Umgang miteinander bzw. der Umgang ›zwischeneinander‹, sodass er sich auf intersubjektive Anerkennungsformen konzentriert. Stojanovs Erweiterungsvorschlag betrachtet insofern mehr als bloß die selbstbezüglichen biographischen Wandlungsprozesse, die bei Marotzki dominieren; er plädiert dafür, soziale Praktiken als Voraussetzungen für Bildungs-

20 Auch Peter Alheit hat diesen Aspekt herausgestellt; allerdings in Bezug auf Konsequenzen einer veritablen Biographieorientierung. Marotzkis Interesse an der »Binnensicht des ›Falles‹« (Alheit 1993: 389) vernachlässige die Strukturebene, was »konzeptionell zweifellos unbefriedigend« (ebd.) sei. Ähnlich trägt er diesen Kritikpunkt nochmals vor in Alheit 1996: insbes. 293.

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prozesse in den Blick zu nehmen (vgl. ebd.: 79).21 ›Bildung‹ ist dann, so zeigt es Stojanov auf, – gleichermaßen und als Parallelvorgang – Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung. Sie erfordert Anerkennung in Form von Empathie, moralischem Respekt und sozialer Wertschätzung, also das, was Axel Honneth (1992) als basale ›Grammatik‹ humaner Sozialität begreift (vgl. Stojanov 2006a: 223).22 Denn durch die universalisierende »Artikulation von ursprünglich privatpartikularistischen Wirklichkeitsansichten und Idealen« (Stojanov 2006b: 80), vor allem aber auch Sinnsetzungen, d.h. durch das ›Explizit-Machen‹ subjektiver Akte, werde deutlich, wie sehr die Herstellung eines Selbstbezugs im alltäglichen Miteinanderhandeln im höchsten Maße von einer Anerkennung durch die anderen abhängt. Erst durch diese Praxis intersubjektiven Anerkennens kommt also für Stojanov der Bezug zu sich selbst zustande, und die Fähigkeit zur Artikulation subjektiver Sinnsetzungen stellt für ihn ein Kriterium dar, mit dem sich Bildungsprozesse im Rahmen qualitativ-empirischer Bildungsforschung untersuchen lassen. Dem Nachweis, wie dies konkret gelingen kann und wie eine Verzahnung von theoretischen Überlegungen und empirischen Befunden erfolgt, bleibt Stojanov allerdings dabei schuldig. Denn er belässt es bei diesen theoretischen Analysen, was insofern ›bedauernswert‹ ist, als die aufwendig entworfenen Möglichkeiten einer Erweiterung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung steckenbleiben und empirische Anschlüsse nicht wahrgenommen werden. Nichtsdestotrotz gelingt es Stojanov aufzuzeigen, dass der von Marotzki vorlegte Ansatz einer Weiterentwicklung bedarf, und zwar in Bezug auf die Überwindung der subjektivistischen Verkürzung von Bildungsprozessen. Somit liegt auch bei ihm ein klarer Befund vor: Der Ansatz Marotzkis ist in seiner Anlage zu wenig bildungstheoretisch, wenn und insofern man mit ›Bildung‹ mehr als eine Persönlichkeitsentwicklung meint. Es sollte nicht übersehen werden, dass Marotzki (1990a) mit seinem »Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie« die erste umfassende Version einer bil-

21 Es dürfte Einiges dafür sprechen, dass Stojanov damit allerdings eher Fremd- denn Weltverhältnisse beschreibt; ein Umstand, der auch nochmals in Kap. 2.4, also im Rahmen der Auseinandersetzung mit Nohls Konzeption, eine Rolle spielt. 22 Einigermaßen auffallend ist die begriffliche Absetzung von Honneth, der von Liebe, Recht und Solidarität als Muster intersubjektiver Anerkennung spricht. Vgl. Honneth 1992: 148ff. Die Gründe für diese begriffliche Absetzung sind allerdings unklar; zumindest erläutert Stojanov sie nicht. Möglicherweise stehen sie im Zusammenhang mit den nicht ganz unproblematischen Bezeichnungen, auf die Roland Reichenbach in einer Auseinandersetzung mit Honneths »Kampf um Anerkennung« hinweist. Siehe hierzu Reichenbach 2001: 308ff.

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dungstheoretisch orientierten Biographieforschung vorgelegt hat. Deshalb sind Ungereimtheiten und Problemstellen wohl nahezu unvermeidbar. Weil aber das kritische Geschäft impliziert, solche ›neuralgischen‹ Punkte aufzuspüren und sie in ihren Konsequenzen zu problematisieren, darf – ungeachtet dessen, ob es nun der erste oder einer der späteren Anläufe ist – nach der Einlösung seines Geltungsanspruchs gefragt werden (vgl. Fischer 1989c: 80). Und vor diesem Hintergrund sowie in Anbetracht der besprochenen kritischen Auseinandersetzungen mit Marotzkis Ansatz einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung muss dessen propagierter Anspruch, den Hiatus zwischen theoretischphilosophischen Überlegungen zum Bildungsbegriff und empirisch meist quantitativ orientierter Bildungsforschung in überzeugender Weise zu überwinden, zumindest deutlich eingeschränkt werden. Folgende, gleichsam die letzten Betrachtungen bilanzierende Überlegungen führen zu diesem Urteil: Bei Marotzkis Analyse steht der Wandel einer Subjektkonstitution im Vordergrund. Dieser wird mittels der Abfolge von drei Kontexturen deutlich gemacht und im Kontext einer biographischen Organisation von Identität interpretiert. Die Analyse von Bedingungen und Themen der Welt bleiben bis auf wenige Ausnahmen randständig. Die Veränderung des individuellen Weltverhältnisses wird nicht thematisiert; als ›bildungsbedeutsam‹ gerät sie auf Grund der theoretischen Anlage nicht in den Blick. Insofern erscheint die Rede von Modalisierungen, also Veränderungen der Selbst- und Weltreferenz nicht gerechtfertigt. ›Bildung‹ erfolgt dementsprechend als Subjektivierung durch die Auseinandersetzung mit sich selbst. Deshalb bleiben Weltausschnitte im herausgearbeiteten biographischen Bildungsprozess außen vor, und es wird auf formaler Ebene deutlich gemacht, wie die junge Frau von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf gelangt. Damit wird das Potenzial, das der Bildungstheorie inhärent ist, allerdings nicht ausgeschöpft. Es erfolgen Analysen, die vielmehr und viel deutlicher unter identitätstheoretischen Gesichtspunkten relevant sind. Die von Marotzki gewählten Theoriebezüge, also Batesons Lernebenenmodell, Kokemohrs pädagogisch-linguistische Einsichten und Günthers mehrwertige Logikkonzeption, tragen dazu wesentlich bei. Es wird auf die jeweilige Anspruchshaltung ankommen, die darüber entscheidet, ob man den »Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie«, so wie er von Marotzki präsentiert wird, als einen überzeugenden Versuch der Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung ansieht. Die Problemstellen, die dieser Ansatz aufweist, sind allerdings wohl keineswegs auszublenden und dürften es von daher schwierig machen, eine solche Auffassung stichhaltig und ohne Ausflüchte auf ›seichtes Argumentationsterrain‹ zu begründen.

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2.2 D IE RHETORISCHE ANALYSE BIOGRAPHISCHER B ILDUNGSPROZESSE IN DER (P OST -)M ODERNE : D ER ANSATZ VON H ANS -C HRISTOPH K OLLER »Vor allem aber geht es mir ebenso wie Marotzki darum, die Kluft zwischen der vorwiegend philosophisch-systematisch ausgerichteten Bildungstheorie und der empirischen Bildungsforschung zu überbrücken, indem der Bildungsbegriff als theoretische Leitlinie einer empirischen Untersuchung von biographischen Dokumenten genutzt wird.« (KOLLER 1999A: 164)

Hans-Christoph Koller folgt neun Jahre nach der Veröffentlichung von Marotzkis Studie dem Programm der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung mit einer Arbeit, die durch zwei Begriffe geprägt ist; nämlich den der ›Bildung‹ und den des Widerstreits. Seine Arbeit trägt den Titel »Bildung und Widerstreit« (Koller 1999a) und hat die Absicht – um nach dem obigen Leitzitat ein weiteres zu nennen –, »systematisch-theoretische Erörterung und empirische Forschung in ein produktives Wechselverhältnis zu bringen, bei dem keiner der beiden Seiten eine Vorrangstellung zukommt« (ebd.: 165). Das erlaubt es, sie an dieser Stelle als zweiten Ansatz einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung zu berücksichtigen. (a) Darstellung und Rekonstruktion Kollers Studie gilt dem Versuch, in Auseinandersetzung mit der bildungstheoretischen Tradition und akuten gesellschaftlichen Problemlagen einen Bildungsbegriff zu entwickeln, der sowohl zeitgemäß als auch empirisch zugänglich ist (vgl. ebd.: 14). Dementsprechend folgt Koller in seiner Arbeit – gleichsam diesem doppelten Interesse an gegenwartsorientierter bildungstheoretischer Reflexion und empirischer Analyse von ›Bildung‹ geschuldet – einem Aufbau, der beide Interessen in zwei für sich abgeschlossenen, aber dennoch aufeinander bezogenen Teilen bearbeitet. Zuerst wird eine bildungstheoretische Perspektive in Auseinandersetzung mit der (post-)modernen23 Gegenwart erarbeitet und der Frage

23 Die Klammern um die Vorsilbe ›post‹ setzt Koller bewusst – jedoch auch nicht durchgängig in seiner Arbeit –, um deutlich zu machen, dass die so genannte Postmoderne

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nachgegangen, welche Konsequenzen aus dieser Signatur für den Versuch der Formulierung einer zeitgemäßen Bildungstheorie zu ziehen sind (vgl. ebd.). Anschließend erfolgt die Untersuchung manifester lebensgeschichtlicher Prozesse aus der Sicht eben jener generierten bildungstheoretischen Perspektive. Das Material dieser empirischen Untersuchung bilden zwei lebensgeschichtliche Erzählungen, die in Anlehnung an das Konzept des narrativ-autobiographischen Interviews nach Fritz Schütze erhoben wurden. »Dabei sollen auf der einen Seite die bildungstheoretischen Überlegungen des ersten Teils dazu genutzt werden, das empirische Material auf bestimmte Weise ›zum Sprechen zu bringen‹, während andererseits der interpretativen Auseinandersetzung mit dem Material die Aufgabe zukommt, die zuvor dargelegten Umrisse eines (post-)modernen Bildungsbegriffs im Sinne einer Präzisierung, Modifizierung und kritischen Revision weiterzuentwickeln.« (Ebd.: 18)

Weil aber Redeweisen über die, »postmoderne Architektur« (Welsch 1987: 87) der Gegenwart eine unübersichtliche Gestalt angenommen haben und unterschiedliche Auffassungen darüber kursieren, was sie im Einzelnen bezeichnen, sieht Koller es als unumgänglich an, sich auf lediglich eine Auffassung zu konzentrieren, um Umrisse eines (post-)modernen Bildungsbegriffs zu erarbeiten. Seine Wahl fällt rasch und ohne große Umschweife auf die Konzeption des französischen Philosophen Jean-François Lyotard, die eine der einflussreichsten und zugleich anspruchsvollsten Konzeptionen zur Postmoderne darstelle. Vor allem dessen 1983 in Frankreich und dann 1987 in Deutschland erschienenes Hauptwerk, »Der Widerstreit« (Lyotard 1987), könne als einer der ernsthaftesten und gründlichsten Versuche gelten, der postmodernen Signatur eine theoretische Grundlage zu verschaffen (vgl. Koller 1999a: 23). Deshalb tritt auch jenes und nicht so sehr das einige Jahre früher publizierte und eher wissenssoziologisch exponierte Werk Lyotards, die in anderem Zusammenhang schon erwähnte Schrift mit dem Titel »Das postmoderne Wissen« (Lyotard 1986), in den Fokus, da in diesem gerade eine »theoretisch fundierte Begründung fehlt, die die irreduzible Heterogenität der Wissensformen und die Unmöglichkeit einer universalen Legitimation überzeugend darlegen könnte« (ebd.: 30). Jenes sind – erinnert sei an die Ausführungen in Kap. 1.2.2 – die wesentlichen Indikatoren der condition postmoderne.

keinen absoluten Bruch mit der Moderne markiert, sondern vielmehr eine Zuspitzung bestimmter moderner Tendenzen darstellt. Vgl. Koller 1999a: 15 und generell zu dieser Auffassung Welsch 1987: 87ff.

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Die von Koller ins Auge gefasste Hauptschrift Lyotards nimmt diese Problematik auf, indem sie deutlich macht, dass dadurch insofern ein genereller Glaubwürdigkeitsverlust verbunden ist, als die mit dem Projekt der Moderne verbundenen großen Erzählungen zu ihrem Ende gekommen sind. Allerdings macht sie dies nicht mehr mit dem Hinweis auf die Grundlagenkrise der Wissenschaften deutlich, sondern »die These vom Ende der großen Erzählungen […] wird […] nun mit Hilfe eines eigens ausgearbeiteten begrifflichen Instrumentariums sprach- und diskurstheoretisch ausformuliert« (ebd.: 32). Dieses begriffliche Instrumentarium Lyotards lässt sich folgendermaßen skizzieren: Es muss von einer prinzipiell unbegrenzten Pluralität inkommensurabler, aber dennoch gleichzeitiger und gleichwertiger sprachlicher und argumentativer Strukturen ausgegangen werden. Durch diese Heterogenität und Unvereinbarkeit ist es in kritischen Fällen des Aufeinandertreffens zweier Positionen, die verschiedene Sprachspiele24 sprechen, nicht möglich, den Widerstreit so zu schlichten, dass beide Positionen mit ihren Argumenten gleichwertig behandelt werden. Das gelingt deshalb nicht, weil eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt und eine übergreifende Schlichtungsinstanz mit einem tertium comparationis, einem Meta-Kode, nicht vorhanden ist. Diese könnte wiederum selbst nur eines unter den zahlreichen Sprachspielen mit einer je spezifischen ›Eigenlogik‹ sein, und auch wenn sie in einem juristischen Verfahren den Widerstreit (différend) wie einen Rechtsstreit (litige) zu schlichten versuche, so würde die Entscheidung für mindestens eine, wenn nicht sogar für beide Positionen, unweigerlich die Saturierung von Unrecht (tort) nach sich ziehen. Dieses Unrecht entsteht, weil die jeweiligen Regeln des Sprachspiels, nach denen man urteilt, von denen des beurteilten Sprachspiels abweichen.25 »Das, was die (unterlegene) Partei geltend zu machen versucht, kommt in der (überlegenen) Diskursart, in der die Schlichtung erfolgt, nicht vor – es ›figuriert‹ dort nicht, wie es bei Lyotard heißt.« (Ebd.: 150)

24 In »Der Widerstreit« (Lyotard 1987) ist eigentlich nicht mehr von Sprachspielen, dem von Ludwig Wittgenstein geprägtem Terminus die Rede, sondern von Satz-Regelsystemen (Argumentieren, Erkennen, Beschreiben, Erzählen, Fragen, Zeigen) und Diskursarten (Dialog führen, Unterrichten, Recht sprechen, Werben). Diskursarten sind auf einen jeweiligen Zweck ausgerichtet und verbinden zum Erreichen des Zwecks intern die Sätze der unterschiedlichen Regelsysteme. 25 Während Konflikte zwischen verschiedenen Diskursarten (genres de discours) nicht lösbar sind, können Konflikte innerhalb einer Diskursart durch einen Rechtsstreit gelöst werden, indem der durch die Verletzung von Satz-Regelsystemen entstandene Schaden (dommage) behoben wird (vgl. Lyotard 1987: 9).

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Das von Lyotard dargelegte Modell des Widerstreits denkt also die im »Postmodernen Wissen« aufgestellte These weiter. Der Verlust von übergreifenden Legitimationsstrategien wird nämlich in eine Signatur gegossen, die das Vorhandensein von Dissensen konstatiert, welche aus prinzipiellen Gründen keiner Lösung zugeführt werden können. Damit entwirft Lyotard zwar ein eher pessimistisches Bild. Sein Ansatz zum Umgang mit diesem postmodernen Problem erweist sich aber als durchaus konstruktiv. Durch eine Theorie der Gerechtigkeit versucht Lyotard nämlich der Aporie des Widerstreits zu begegnen, indem der Akzent darauf gelegt wird, dass der Widerstreit bezeugt wird und das Unrecht so Ausdruck findet (vgl. Lyotard 1987: 12): Jedes Unrecht muss in Sätze gebracht werden, damit dem Widerstreit gerecht wird, »indem man ihm entsprechende Idiome verschafft« (ebd.: 32). Und Lyotard weiter: »Dem Widerstreit gerecht zu werden bedeutet: neue Empfänger, neue Sender, neue Bedeutungen, neue Referenten einsetzen, damit das Unrecht Ausdruck finden kann und der Kläger kein Opfer mehr ist. Dies erfordert neue Formations- und Verkettungsregeln für die Sätze.« (Ebd.) Auf diese Weise ist zwar der Widerstreit als Streit ohne Aussicht auf Schlichtung ebenfalls nicht aufzuheben. Es kann aber dafür gesorgt werden, mit ihm anders umzugehen. Zum einen nämlich dadurch, dass ein bereits artikulierter Widerstreit offen gehalten und Ungerechtigkeit verhindert wird; zum anderen dadurch, dass ein latenter Widerstreit vor stillschweigender Tilgung bewahrt wird. Den Gedanken, den Lyotard (1987) in »Der Widerstreit« entfaltet, beinhaltet somit eine ethische Dimension, welche zum Ausdruck bringt, dass mit ›abweichenden‹ Sprachspielen gleichwohl noch gerecht und förderlich umzugehen ist. Und weil nun in Lyotards Konzeption in besonderer Weise Sprachlichkeit fokussiert wird, kann sie mit Fug und Recht als »Moralia linguistica« (Welsch 1987: 239; Hervorh. durch T.F.) bezeichnet werden, nicht zuletzt deshalb, weil der »Kerngedanke dieser Ethik […] in nichts anderem als in der Anerkennung der radikalen Heterogenität der Diskursarten und in der Forderung nach einer entsprechenden diskursiven Praxis« (Koller 1999a: 39) besteht. Es ist für Koller vor allen Dingen diese Radikalität, die Lyotards sprachphilosophische Konzeption des Widerstreits zu einer Herausforderung für die Bildungstheorie macht. Denn die These vom Ende der großen Erzählungen und dem Widerstreit der Diskursarten hebe in rebus paedagogicis nicht nur in besonderer Weise das Problem hervor, wie fortan mit der Begründung von pädagogischen Werten und Normen umzugehen sei, sondern werfe vor allem auch die Frage auf, ob Bildungsbegriff und Bildungstheorie spezifisch pädagogische Varianten eben dieser großen Erzählungen darstellen und daher ebenfalls zu verab-

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schieden sind.26 Obwohl gewisse Tendenzen darauf hindeuten, will Koller diese Frage allerdings keineswegs schnell und pauschal beantworten: »Denn einerseits sind explizite Bezüge auf den Bildungsbegriff oder auf andere Elemente der pädagogischen Tradition in Lyotards Werk viel zu spärlich, um von einer konsistenten Stellung seines Denkens zu pädagogischen Fragen ausgehen zu können. Und andererseits stellt auch die Bildungstheorie keineswegs ein einheitliches Gebäude dar, das es erlauben würde, umstandslos Konsequenzen aus Lyotards Konzeption für ›den‹ Bildungsbegriff zu ziehen.« (Ebd.: 48)

So wählt er zur Bearbeitung der Frage, was die von Lyotard entfaltete Sicht für die Bildungstheorie bedeutet, den äußerst ausführlichen »Weg einer kritischen Auseinandersetzung mit der bildungstheoretischen Tradition aus der Perspektive Lyotards« (ebd.). Eine solche perspektivische Relektüre erfolgt auf exemplarische Weise, da Koller sich – ähnlich wie schon zuvor – vor das Problem gestellt sieht, angesichts der Fülle bildungstheoretischer Schriften eine Auswahl zu treffen. Seine Wahl fällt auf die klassische Bildungstheorie Humboldts und die bildungstheoretischen Schriften Adornos. Diese beiden Entwürfe werden berücksichtigt, weil sie von Lyotard selbst als unterschiedliche Versionen inzwischen überholter geschichtsphilosophischer Legitimationsversuche Erwähnung finden und zugleich wichtige Positionen innerhalb der bildungstheoretischen Tradition repräsentieren (vgl. ebd.). So ist die Relektüre einerseits auch eindeutig der philosophischen Sicht- und Denkweise Lyotards verpflichtet, da in deren Mittelpunkt die Frage steht, welche Bedeutung dem aufgeworfenen Problem der Heterogenität und Pluralität der Diskursarten zukommt. Andererseits wird entgegen der Position Lyotards in der Auseinandersetzung mit Humboldts und Adornos Bildungstheorie nach Referenzpunkten gesucht, die es erlauben, den Bildungsgedanken auch und gerade unter den Bedingungen der Postmoderne aufrechtzuerhalten. Hierzu ist aber nach Koller ein entscheidender Kniff notwendig:

26 In ähnliche Richtung interpretiert dies auch Andreas Poenitsch (1992) in seiner Arbeit »Bildung und Sprache zwischen Moderne und Postmoderne«, wenngleich auch mit anderen Konsequenzen als Koller. Von dieser Arbeit nimmt Koller jedoch nur am Rande Notiz und schenkt ihr gerade keine Aufmerksamkeit, wenn er die erziehungswissenschaftliche Rezeption von Lyotards »Der Widerstreit« skizziert, die im vierten Kapitel der Arbeit Poenitschs Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung ist. Vgl. hierzu Koller 1999a: 15 FN 1.

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»Um diese Momente freizulegen, müssen […] bei beiden Autoren Schriften in die Untersuchung einbezogen werden, die nicht zur Bildungstheorie im engeren Sinne zu rechnen sind. Im Falle Humboldts betrifft dies dessen umfangreiches sprachphilosophisches bzw. sprachwissenschaftliches Werk, bei Adorno insbesondere die Dialektik der Aufklärung und die Negative Dialektik.« (Ebd.: 16f.; Herv. i.O.)

In und mit der Relektüre der Bildungstheorie Humboldts unter Berücksichtigung seines sprachtheoretischen Œuvres entfaltet Koller auf diese Weise die These, dass Humboldts intensive Auseinandersetzung mit Sprache und seine Beschäftigung mit deren Verschiedenheit Einsichten liefert, seine Bildungstheorie in einem anderen Licht zu betrachten. Die umfangreichen sprachtheoretischen Schriften Humboldts erweitern und modifizieren die bildungstheoretischen Gedanken Humboldts nämlich insofern, als sie die konstitutive Bedeutung der Sprache für die bildende Wechselwirkung zwischen Mensch und Welt, aber auch zwischen einem Ich und einem Du betonen. Nur in der Sprache als Apriori menschlicher Existenz und Koexistenz sowie Vermittlerin zwischen Denken und Welttätigkeit kann sich bei Humboldt der Mensch die Welt entgegensetzen und sich seiner selbst bewusst werden. Sie ist als grundlegende Möglichkeitsbedingung unentbehrlich für das Denken und prägt es auf je besondere Weise. Zugleich führt sie damit zu einer spezifischen Weltansicht. »Sprache ist so gesehen konstitutiv für den Welt- und Selbstbezug des Menschen.« (ebd.: 72)27 Für Humboldt ist sie nicht nur ein Anthropinum, sondern zeigt sich bei jedem Menschen auf besondere Weise, sodass letztlich auch individuelle Sprechweisen unterschiedliche Weltansichten darstellen. Das wiederum hat entscheidende Konsequenzen. Nicht nur bringt jeder Spracherwerb die Einführung in eine neue Weltansicht mit sich. Es ist noch ein weiterer Aspekt mit dem individualisierenden Prinzip der Sprache verbunden: »Dadurch, daß die Sprache in demselben Akt, in dem sie Verständigung überhaupt erst ermöglicht, zugleich die Sprechenden individualisiert, ist das Verstehen zwischen ihnen von vornherein begrenzt und relativiert. In dieser Perspektive kann es kein umfassendes Verstehen, keine völlige Übereinstimmung geben, sondern nur eine Verständigung, der die Differenz immer schon eingeschrieben ist.« (Ebd.: 89)

Dass sich ein solcher Zustand auf das Miteinander von Menschen auswirkt und entsprechende Forderungen nach sich zieht, ist die von Koller gezogene Schluss-

27 Zum Verhältnis von Bildung und Sprache bei Wilhelm von Humboldt siehe ferner Borsche 1990: insbes. 136ff., Benner 1990 und Poenitsch 1992: insbes. 16ff.

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folgerung im Geiste Lyotards: Es geht nämlich um die Kultivierung und das Fruchtbarmachen dieser Differenz, um so neue Weltansichten hervorzubringen, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen.28 Wenngleich Koller aber diesen Aspekt als Moment herausstellt, der sich auch unter den Bedingungen der (Post-) Moderne aufrechterhalten lässt, so darf es nicht darüber hinwegtäuschen, dass Humboldts Bildungstheorie von der metaphysischen Vorstellung einer allumfassenden Einheit als Ursprung und Ziel der Verschiedenheit ausgeht und insofern »die Pluralität und Heterogenität der Individualitäten und der Sprache nur anerkennt, um sie auf eine ursprüngliche Einheit zurück- oder in eine höhere Ganzheit hinüberzuführen« (ebd.: 93). An postmodernes Denken können die Überlegungen Humboldts deshalb nur dann anschließen, wenn und insofern man diese im Gedankengut des Deutschen Idealismus’ fundierende Idee einer Höherentwicklung der Menschheit sowie die auf harmonische Einheit zielende Auseinandersetzung zwischen Mensch und Welt beiseitelasse und sie durch einen sprachund diskursanalytischen Indikator i.S. Lyotards ersetze. Auch die Beschäftigung mit der zweiten von Koller in Betracht gezogenen Bildungstheorie, nämlich diejenige Adornos, läuft auf eine solche zweigeteilte Antwort hinaus. Denn das Bildungsdenken Adornos schreibe sich einerseits insofern in die große Erzählung der Emanzipation ein, als die Autonomie des Einzelnen durch die Mitarbeit an einer Verbesserung der menschlichen Verhältnisse in einen Prozess der Emanzipation der Menschheit insgesamt einbezogen sei. Und andererseits befördere das Denken Adornos selbst eine skeptische Haltung an dieser emanzipatorischen Idee von Bildung, die sich unter dem Diktat der Kulturindustrie bloß noch in Form einer Anpassung an eine unkritische Geisteskultur zeige. Das ist es, was Adorno mit der bekannten Formel der Halbbildung zum Ausdruck bringt, die er als »eine globale, mit geschichtlich-gesellschaftlicher Notwendigkeit aus dem neuhumanistischen Bildungsverständnis selbst sich ergebende Erscheinung« (Ruhloff 1983b: 295) versteht. Für eine genaue Klärung der Frage, inwiefern Adornos Bildungstheorie als pädagogische Version der Emanzipationserzählung anzusehen ist, ist es für Koller deshalb erforderlich, zwei geschichtsphilosophisch geprägte Werke Adornos in den Blick zu nehmen, die genau diese unumstößliche Entwicklung zu plausibilisieren versuchen: Die »Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer/Adorno 1969) sowie die »Negative Dialektik« (Adorno 1966).

28 Vgl. als Weiterentwicklung dieser Gedanken dazu Koller 1999b sowie Koller 2003. Der erste Artikel erörtert das Geltendmachen von Differenzen im qualitativ-empirischen Forschungsprozess. Der zweite diskutiert den Beitrag von Humboldts Sprachtheorie für eine Theorie interkultureller Bildung.

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Für die »Dialektik der Aufklärung«, die von Adorno zusammen mit Max Horkheimer Anfang der 1940er Jahre im amerikanischen Exil als Gemeinschaftswerk entstand, scheint der Befund dazu eindeutig. Denn: »Horkheimers und Adornos Verständnis von Aufklärung als Programm der Naturbeherrschung durch Naturerkenntnis folgt […] ebenso wie ihre Darstellung der Bildungsgeschichte neuzeitlicher Subjektivität einem Leitgedanken der Emanzipation, der die fortschreitende Naturbeherrschung in den Dienst menschlicher Selbsterhaltung, Selbstbehauptung und Selbstbestimmung stellt.« (Koller 1999a: 114)

Ganz ähnlich wie bei Humboldt werde der Prozess der Emanzipation des Menschen dabei aus seiner Abhängigkeit von der Natur als Ausbildung einer inneren Einheit des Subjekts in der Auseinandersetzung mit der Mannigfaltigkeit der inneren und äußeren Natur verstanden (vgl. ebd.: 120). Das Resultat sei nur scheinbar ein anderes. Durch die These vom Umschlag der Aufklärung in ihr Gegenteil, d.h. in Barbarei, werde nämlich der Eindruck erweckt, dass der Emanzipationsgedanke verabschiedet werde. Koller betont aber, dass auch die »Dialektik der Aufklärung« trotz ihrer Abkehr vom Fortschrittsgedanken wesentliche Züge einer großen Erzählung im Sinne Lyotards aufweise (vgl. ebd.). Mit narrativen Mitteln stelle sie den Umschlag von Aufklärung in Barbarei als einheitliches Grundmuster aller Geschichte dar, die einen totalen Verblendungszusammenhang unausweichlich mache. Dieses fatalistisch-pessimistische Bild trübt so die Hoffnung auf einen positiven Begriff von Aufklärung und ihre Vollendung. Die »Negative Dialektik« (Adorno 1966), das zweite Hauptwerk Adornos, versucht vor dem Hintergrund dieser fatalistisch-pessimistischen Diagnose eines totalen Verblendungszusammenhangs dem Denken die Kraft der Kritik wieder zugänglich zu machen. Die Antwort, die Adorno in diesem Werk auf den zuvor geschilderten Sachverhalt hervorbringt, ist nun einfach und scheint doch weitreichende Folgen zu implizieren. Der Verblendungszusammenhang stellt nämlich für Adorno kein Argument dar, das Kritik plötzlich ganz und gar unmöglich macht. Kritik benötige seines Erachtens keinen exterioren Ort, sondern könne als immanente Kritik operieren und damit das zu Kritisierende gleichwohl transzendieren. Die »Negative Dialektik« veranschaulicht diese Art der Kritik vor allem in Form des Widerspruchs gegen das identifizierende Denken, d.i. die auf Eindeutigkeit abzielende Gleichsetzung von Gegenstand und Begriff. Dabei ist es das Anliegen immanenter Kritik über die Gleichsetzung von Gegenstand und Begriff hinauszugehen und in Betracht zu ziehen, dass ›etwas‹ im oder am Gegenstand dieser Bestimmung zuwiderläuft. In der Negation des synthetisch be-

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greifenden Denkens trachtet immanente Kritik deshalb nach dem, was dem identifizierenden Denken entgeht, und auf diese Weise versucht sie, »dem Gegenstand in seiner Andersheit, seiner Heterogenität gegenüber dem Denken gerecht zu werden« (Koller 1999a: 124). Sie offenbart so die Reduktion tatsächlicher Vielfalt und innerer Verschiedenheit des Gegenstandes, obwohl sie auf positive Resultate mit Wahrheitsanspruch verzichtet (vgl. ebd.: 129). Das macht sie zu einer negativen Dialektik, die »das konsequente Bewusstsein von Nichtidentität« (Adorno 1966: 17) vor sich trägt. Und genau das ist für Adorno auch die Aufgabe der Philosophie: Das zu denken, was der Subsumtion von Gegenständen unter Begriffe notwendigerweise entgeht. In der dialektisch verfahrenden Philosophie sieht Adorno daher »eine (wenn nicht sogar die einzige) Möglichkeit, innerhalb des begrifflich-rationalen Denkens und mit dessen eigenen Mitteln gegen die Beschränkungen der Rationalität anzudenken« (Koller 1999a: 125; Herv. i.O.). Weil das Ziel dieses Denkens von Adorno aber mit der moralischen Kategorie der Versöhnung beschrieben und »als eine Art säkularisierter Form messianischer Heilserwartung« (ebd.: 134f.) präsentiert wird, stelle der Versöhnungsgedanke die Schwundstufe jenes geschichtsphilosophischen Versuchs dar, den Lyotard als eine große Legitimationserzählung bezeichnet. So führt Koller aus: »Legitimiert wird das Wissen (bzw. das philosophische Denken) durch die Utopie seiner Versöhnung mit dem, wovon es sich als identifizierendes Denken […] getrennt hat: dem Nichtidentischen […]. Wie sehr auch dialektisch vermittelt und gebrochen, bildet diese Utopie doch noch immer das Ziel eines Prozesses, der zwar nicht mehr totalisierend und systematisch erfaßt, aber doch noch rhetorisch-figürlich umschrieben werden kann. Entzweiung und Schuld hier, Wiedergutmachung und Versöhnung dort – in diesem Spannungsverhältnis hält sich ein Rest von Narration oder zumindest ein Rest der Hoffnung, der Weg von hier nach da möge eines Tages erzählbar werden.« (Ebd.: 136)

Anders als in der »Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer/Adorno 1969) taucht Emanzipation hierbei aber nicht mehr als Telos, sondern nur noch als ein Moment des dialektischen Prozesses auf, der weder als Fortschritt, noch als Verfall, dafür aber als unabschließbare Bewegung des Widerspruchs gegen das identifizierende Denken verstanden und als entschiedenes Plädoyer für das Nichtidentische präsentiert wird. Gerade deshalb erlaubten es die Einsichten aus dieser Schrift, bildungstheoretisch relevante Schlüsse zu ziehen und den Bildungsprozess »als hartnäckigen Einspruch gegen die Verfestigung der Kategorien, mit denen die Subjekte ihr Verhältnis zur Welt und zu sich selbst zu fassen suchen, als Offenhalten dieser Ansichten für Neues, Anderes, dem bisher Gedachten Widersprechendes« (Koller 1999a: 145) zu verstehen.

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Die Relektüre von Humboldts und Adornos Bildungstheorie befördert für Koller also zweierlei Erkenntnisse: Zum einen ergibt sich daraus, dass das Fundament der beiden Ansätze in den großen Erzählungen von der Selbstverwirklichung des Geistes bzw. der Emanzipation des Menschen beruht. Zum anderen demonstriert die Relektüre unter Hinzunahme weiterer Schriften, dass beide Bildungstheorien Momente enthalten, die über die vereinheitlichende Struktur der großen Erzählungen hinausweisen (vgl. ebd.: 144). Die so freigelegten Momente aus der Relektüre von Humboldts und Adornos Bildungstheorie lassen für Koller daher auch erkennen, dass pädagogische Reflexionen angesichts der Signatur der (Post-)Moderne nicht völlig auf den Bildungsbegriff verzichten müssen. Zwar weisen beide bildungstheoretischen Entwürfe die genannte Einbettung in große Erzählungen auf. Es sind aber jene herausgearbeiteten Momente, die sich für eine (post-)moderne Reformulierung des Bildungsbegriffs insofern eignen, »als ›Bildung‹ offenbar nicht notwendigerweise die Vereinheitlichung differenter Sprachspiele oder Diskursarten unter einem normativen Dach bedeutet« (ebd.: 145). Das macht Bildungsbegriff und Bildungstheorie unter der condition postmoderne möglich. Für Koller ist dieses ›Bildungs-Double‹ aber nicht nur möglich, sondern auch nötig. Nötig erscheint es ihm nämlich insofern, als der Zerfall legitimatorischer Einheitserzählungen es gerade nicht überflüssig mache, sich mit Problemen der Begründung und Rechtfertigung pädagogischen Handelns zu beschäftigen. Die Frage sei aber, »wie eine den Bedingungen der (Post-) Moderne angemessene Fassung des Bildungsbegriffs diese Momente von Humboldts und Adornos Bildungsdenken aufgreifen, miteinander verbinden und weiterentwickeln könnte« (ebd.: 146). Und zur Beantwortung dieser Frage erscheint es ihm aussichtsreich, die Sprachphilosophie Lyotards und dessen Widerstreitmodell als theoretischen Rahmen von ›Bildung‹ zu berücksichtigen – auch wenn Lyotard selbst lediglich einmal im »Widerstreit« von ›Bildung‹ spricht: »Der theoriestrategische Vorteil einer solchen Fassung […] besteht zunächst einmal darin, daß er ›Bildung‹ konsequent als einen sprachlichen Vorgang aufaßt. Das Zentrum dieses Bildungsbegriffs stellt also nicht der Gedanke einer (wie immer auch gearteten) Formung von Subjekten dar, die sich letztlich außerhalb von Sprache vollziehen würde und durch sprachliche Akte nur repräsentiert werden könnte. ›Bildung‹ meint hier vielmehr einen Prozeß, der sich immer schon in Sprache und d.h. in der Verkettung von Sätzen ereignet. Die Subjekte, die traditionellerweise im Mittelpunkt des Bildungsgedankens stehen, sind aus diesem Prozeß keineswegs ausgeschlossen; sie werden dabei aber nicht als ursprüngliche Gegebenheiten verstanden, sondern eher als Effekte sprachlicher Vorgänge. […] Sub-

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jektivität wird in dieser Perspektive […] auf dem Weg der Verkettung von Sätzen allererst hervorgebracht und sprachlich immer wieder neu konstituiert.« (Ebd.: 150f.)

Ein solcher Begriff von ›Bildung‹ fokussiert also nicht in erster Linie das sich bildende Subjekt, sondern fasst ›Bildung‹ als einen Prozess auf, der Subjektivität als Effekt sprachlicher Vorgänge freilegt. Das unterscheidet Kollers Ansatz von demjenigen Marotzkis, in dem Bewusstseinsvorgänge des Subjekts im Zentrum stehen. Die Hervorbringung neuer sprachlicher Möglichkeiten hat dazu den Widerstreit sowie die Heterogenität der Diskursarten als eine unvermeidliche Gegebenheit anzuerkennen und dem bisher Nicht-Artikulierbaren zum Ausdruck zu verhelfen (vgl. ebd.: 151). Dementsprechend können Bildungsprozesse dann auch als solche sprachlichen Prozesse verstanden werden, die dem Widerstreit gerecht werden, indem sie seine Verwandlung in einen Rechtsstreit verhindern und neue Diskursarten hervorbringen, die das zu artikulieren erlauben, was bisher nicht gesagt werden konnte. Sie umfassen also zwei Dimensionen, die von Koller mit den Attributen ›skeptisch‹ und ›innovativ‹ belegt werden (vgl. ebd.: 152). Die skeptische Dimension von Bildungsprozessen betont die Anerkennung des Widerstreits und lässt sich an der Respektierung von Differenzen und Inkommensurabilitäten festmachen. In der innovativen Dimension von Bildungsprozessen wird diese skeptische Dimension überschritten, und zwar insofern, als sie mehr umfasst als die Respektierung von Differenzen. Sie betont darüber hinaus nämlich »die Notwendigkeit, […] nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten für das zu suchen, was in den jeweils vorherrschenden Diskursarten nicht gesagt werden kann« (ebd.: 152f.). Damit setzt sie zusätzlich auf sprachliche Erfindungen. Von entscheidender Bedeutung ist für Koller – und auch für den hier verhandelten Gesichtspunkt – aber, dass der innovativen Dimension eine empirischanalytische Funktion zukommt, die es erlaubt, »Bildung als Erfinden neuer Diskursarten zur Artikulation des bisher Nicht-Sagbaren« (ebd.: 155) in Transkripten autobiographischer Stegreiferzählungen zu untersuchen. Im empirischen Teil der Arbeit Kollers werden daher zwei Transkripte unter Zugrundelegung des erarbeiteten Bildungsbegriffs analysiert. Dabei wird zum einen nach Satzverkettungen Ausschau gehalten, die jene neuen Artikulationsmöglichkeiten enthalten, um etwas bislang Nichtsagbares in Sätze zu fassen. Zum anderen wird aber auch geklärt, »worin dieses Etwas besteht und inwiefern die bisher verfügbaren Diskursarten nicht ausreichten, es zur Sprache zu bringen« (ebd.: 162; Herv. i.O.). Mit diesem durch theoretische Vorüberlegungen präparierten Blick geht Koller die Analyse autobiographisch dokumentierter Lebensgeschichten an. Dazu beruft er sich methodisch und methodologisch auf das narrativ-autobio-

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graphische Interview nach Fritz Schütze. Anders als Marotzki (1990a) teilt er dieses allerdings nicht vorbehaltlos, sondern setzt sich kritisch mit dem Verfahren Schützes auseinander. Sein eigenes Untersuchungsverfahren unterscheidet sich zum einen von dem Schützes durch »den Versuch, die sprach- und diskurstheoretische Begrifflichkeit Lyotards für die Analyse biographischer Materialien fruchtbar zu machen« (Koller 1999a: 19). Und zum anderen konzentriert es sich auf sinnkonstituierende Dimension der autobiographischen Erzählungen, sodass auch die im jeweiligen aktuellen Erzählvorgang vollzogenen Konstruktions- und Deutungsprozesse stärker hervorgehoben werden. Dazu wird die These von der Strukturhomologie zwischen Erzählung und Erfahrung bzw. zwischen Lebensgeschichte und Lebensgeschehen, die bei Schützes Konzeption immerhin implizit enthalten ist, dahingehend von Koller problematisiert, »daß auch Erzählungen kein authentisches Abbild vergangener Erfahrungen zu liefern imstande sind, weil sie stets (Re-)Konstruktionen einer Lebensgeschichte aus der gegenwärtigen Perspektive« (ebd.: 175) darstellen.29 In der Suche nach alternativen Möglichkeiten, das Verhältnis von Erzählung und Erfahrung zu bestimmen, beruft sich Koller vielmehr auf die Erzähltheorie Paul Ricœurs. Im Blick auf das Verhältnis von Erzählung und Erfahrung wird dabei deutlich gemacht, dass es sprachliche Formen i.S. rhetorischer Figuren sind, durch die Lebensereignisse überhaupt erst strukturiert und erzählbar gemacht werden.30 Der Beachtung rhetorischer Figuren kommt für Koller in autobiographischen Darstellungen daher eine besondere Bedeutung zu. Anhand der beiden narrativ-autobiographischen Interviews mit Felix31, einem 30-jährigen ›Aussteiger‹, und Anna, einer 50-jährigen Gymnasiallehrerin, wird die empirische Erforschung von Bildungsprozessen nach diesen Bestimmungen dann auch in Gang und auf den Weg gebracht. Koller widmet sich den

29 Siehe dazu auch Kap. 3.1.2. 30 In sehr ähnlicher Form ist dieser Argumentationsgang beschrieben in Koller 1994. Auch hier münden die Ergebnisse in die empirische Analyse biographischer Bildungsprozesse, wobei allerdings nicht die Perspektive Lyotards leitend ist, sondern die Rekonstruktion solcher Erfahrungen, denen die Erzählenden selbst eine zentrale Bedeutung in ihrer Lebensgeschichte zuschreiben. 31 Das dazugehörige Transkript ist in Koller/Kokemohr 1994 abgedruckt und mit einigen Zusatzinformationen – etwa dem Entstehungshintergrund – versehen (vgl. ebd.: 146ff.). Alle Beiträge in Koller/Kokemohr (1994) widmen sich diesem Interview und interpretieren es aus unterschiedlichen Perspektiven. Weitere Hinweise finden sich bei Koller 1999a: 186f. Kritisch in Augenschein genommen wird es von Kochinka 2003.

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beiden Fällen, die einerseits aus Gründen thematischer ›Stimmigkeit‹32 und andererseits auf Grund des Prinzips der kollektiven Auswertung qualitativer Daten ausgewählt wurden, ebenso wie Marotzki ›extensiv‹, d.h., sie sind Gegenstand ausführlicher Beschäftigung zur Entschlüsselung fallspezifischer Strukturen. Bei Felix stellen diese sich folgendermaßen dar: Er lebt seit seinem abgebrochenen Mathematik- und Physik-Studium in einer Land-Wohngemeinschaft nahe dem damaligen DDR-Grenzgebiet und arbeitet unregelmäßig in der Zimmerei eines Freundes. Sein bisheriges Leben verlief konsequent im Kontrastfeld zweier Welten: Der eigenen Welt der Herkunftsfamilie, der vertrauten Sozialbeziehungen und der mit handwerklichen Tätigkeiten verbundenen anschaulichen Lernvorgänge auf der einen Seite sowie der schulisch-universitären Welt abstrakten Wissens und scheinbar inhaltsleerer Strukturen auf der anderen Seite (vgl. ebd.: 169). Wie Felix’ Auseinandersetzung mit dem Konflikt dieser beiden ›Welten‹ beschrieben werden kann, ist das erkenntnisleitende Interesse, das Koller in der detaillierten Biographieanalyse verfolgt. Dazu fasst er – was angesichts der umfassenden theoretischen Herleitungen kaum verwunderlich sein dürfte – diesen Gegensatz zweier Welten als Widerstreit von Diskursarten auf. Eine Bearbeitung des konstatierten Widerstreits i.S. des zuvor explizierten Verständnisses von ›Bildung‹ liegt bei Felix aber nicht vor: »Die ganze Lebensgeschichte hindurch […] bleibt der Widerstreit der Diskursarten als Bildungsproblem auf der Tagesordnung; ein Bildungsprozeß aber, so sehr es Felix danach zu drängen scheint, findet nicht statt« (ebd.: 228) – in der Lebensgeschichte ebenso wenig wie im sprachlichen Akt der Erzählung. Anders sieht es dagegen im Fall »Anna« aus.33 Denn hier liegt für Koller auf Grund der Art, wie die lebensgeschichtliche Erzählung von Anna in Szene gesetzt wird, eindeutig ein Bildungsprozess – zumindest in seiner skeptischen Dimension – vor. Annas Erzählung sei nämlich durch die Respektierung einer

32 Koller (1999a: 169) konkretisiert das durch den Satz: »Die beiden Interviews wurden vor allem unter dem Gesichtspunkt ausgewählt, daß in ihnen auf je spezifische Weise die Auseinandersetzung mit der oben skizzierten (post-)modernen Herausforderung im Mittelpunkt steht.« Insofern bestehen zwischen ihnen Gemeinsamkeiten. Unterschiedlich ist aber die Art und Weise ihrer ›Bewältigungsstrategie‹ (vgl. Koller 1999a: 267). 33 Straub (2002: 185) weist vollkommen zu Recht darauf hin, dass in diesem Interview eine ganz andere erzählgenerierende Frage gestellt wird. Zudem fällt auf, dass es zehn Jahre später durchgeführt wurde und deutlich weniger umfangreich ist als das Interview mit Felix. Darauf macht allerdings auch Koller selbst aufmerksam. Siehe Koller 1999a: 270 FN 2.

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Vielzahl von Perspektiven und Diskursarten gekennzeichnet, die sich als Anerkennung des Widerstreits verstehen lasse. Ob aber auch ein Bildungsprozess in jener explizierten innovativen Dimension stattfinde, ist für Koller nicht so ohne Weiteres eindeutig zu beurteilen. »Es scheint, als habe Anna mit der metonymisch-assoziativen Form ihrer Darstellung ein Idiom gefunden, das es ihr erlaubt, lebensgeschichtliche Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen, für die sie früher keine Artikulationsmöglichkeiten besaß. Ob dieses Idiom aber in dem Sinne ›neu‹ ist, daß solche Erfahrungen tatsächlich […] im Interview zum ersten Mal in Sätze gefaßt wurden, läßt sich auf der Grundlage des vorliegenden Materials nur schwer entscheiden.« (Ebd.: 266)

Somit unterscheiden sich die beiden Lebensgeschichten recht deutlich voneinander, denn auf biographische Problemlagen reagieren Felix und Anna sehr verschieden; »unterschiedlich ist […] vor allem die Art und Weise, in der beide mit den beschriebenen biographischen Herausforderungen umgehen und in der sie sich jeweils mit dem Widerstreit unvereinbarer Diskursarten auseinandersetzen« (ebd.: 268). Für seine Studie zieht Koller so ein positives Resümee. Denn die von ihm entwickelte bildungstheoretische Perspektive im Anschluss an das Widerstreitmodell Lyotards habe sich als geeignet erwiesen, um in individuellen Lebensgeschichten Konfliktpotenziale ausfindig zu machen, die als spezifisch (post-)moderne Bildungsprobleme verstanden werden können. Und in diesem Sinne konnte nicht nur gezeigt werden, dass ›Bildung‹ unter der condition postmoderne keineswegs als obsolet gelten kann, sondern auch, wie sie empirisch bearbeitbar ist. (b) Analyse und Kritik Dass mit »Bildung und Widerstreit« eine – so Hans-Rüdiger Müller (2003) als Rezensent der Schrift – außerordentlich sorgfältige Studie vorgelegt wurde, dürfte kaum ernsthaft in Frage zu stellen sein. Auch Jürgen Straub (2002: 154), der ein umfangreiches Rezensionsessay zu Kollers Habilitationsschrift verfasst hat und darauf hinweist, dass hier »Bildungstheorie und Bildungsforschung auf neuen Wegen« wandeln, zollt Bewunderung für den Mut und intellektuellen Ehrgeiz, welcher mit der lesenswerten Arbeit verbunden ist. Stojanov (2006b: 68) bezeichnet Kollers Arbeit gar als ein »beeindruckendes Zeugnis« bildungsphilosophischer Reflexion. Als ein solches kann sie in der Tat gelten. Weil es aber das Anliegen dieses Kapitels erfordert, genau zu prüfen, wie der Versuch einer Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung gestaltet und legitimiert wird, gilt es, die Würdigung mit einer kritischen Inspektion zu

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verbinden. Dazu wird nun erneut auf die Hinweise zurückgegriffen, die Lothar Wigger (2004) im Rahmen seiner Beschäftigung mit Arbeiten der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung hervorgebracht hat. Darüber hinaus sind aber auch Auseinandersetzungen unterschiedlicher Intensität mit der Schrift Kollers bei Straub (2002), Müller (2003), Sattler (2003), Kochinka (2003) sowie von Felden (2003) und Stojanov (2006a und 2006b) zu finden. Ihre Ausführungen, Stellungnahmen und Rückfragen sollen ebenfalls nicht unerhört bleiben, weil sie zur Geltungsprüfung von »Bildung und Widerstreit« (Koller 1999a) hilfreiche Argumente bieten und an der einen oder anderen Stelle zudem wichtige Impulse für ein Weiterdenken der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung liefern. Zunächst soll – wie schon zuvor – den kritischen Anregungen von Lothar Wigger nachgegangen werden. Denn Wigger hat sich nicht nur mit der Arbeit Marotzkis auseinandergesetzt und sie vor dem Hintergrund ihres Vermittlungsanspruchs in Augenschein genommen. Auch die Habilitationsschrift von HansChristoph Koller gilt ihm als wichtige Arbeit für eine bildungstheoretisch elaborierte und empirisch fundierte Biographieforschung (vgl. Wigger 2004: 484). Hier gliedern sich die kritischen Anmerkungen Wiggers in zwei Bereiche. Zum einen zielt die Kritik auf die Ausweitung der von Lyotard behandelten sprachphilosophischen Begriffe ›Widerstreit‹, ›Diskursart‹ und ›Sprachspiel‹ auf den pädagogischen Kontext. So fragt Wigger, ob es theoretisch abgesichert und analytisch fruchtbar sei, die Begrifflichkeiten Lyotards ungehemmt auszuweiten und ihre Erklärungsreichweite beliebig auszudehnen (vgl. ebd.: 489). Zum anderen stellt er die rhetorische Frage, ob durch den Bezug auf das Widerstreitmodell von Lyotard und die damit einhergehende normative Wendung des Bildungsbegriffs für eine Verengung der Interpretationen gesorgt werde. Rhetorisch ist die Frage Wiggers deshalb, weil er sie sogleich in eine feststehende Aussage wendet und im Modus unmittelbarer Kritik vorträgt. Demnach reduziere das Verständnis von ›Bildung‹ als subjektive Anerkennung des Widerstreits und Erfindung neuer Diskursarten zur Artikulation desselben die Potenziale der konsultierten Bildungstheorien und zeichne sich dafür verantwortlich, dass die Interpretationen der beiden narrativ-autobiographischen Interviews lediglich um die Frage kreisen, ob Pluralität und Heterogenität anerkannt werden und neue sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten zur Bezeugung des Widerstreits auftreten. Der in Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie enthaltene Aspekt der »Erschließung und Umgestaltung der Welt durch die freien Aktivitäten der vielen Subjekte« (ebd.) komme in Kollers Untersuchung dagegen etwa überhaupt nicht zur Sprache, obgleich doch gerade dieser Aspekt ein zentrales Moment jener Bildungstheorie darstelle. Mit der im Anschluss an das Widerstreitmodell Lyotards vorgenom-

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menen normativen Wendung werde der manifeste Weltbezug von ›Bildung‹ daher – wie auch schon bei Marotzki – versubjektiviert. Deshalb liegt für Wigger auch im Konzept Kollers eine Engführung des Bildungsbegriffs auf die Veränderung von Selbstdefinitionen vor.34 Wigger bestreitet dabei nicht, dass Lyotards Konzept des Widerstreits durchaus helfen kann, bildungsanregende Konflikte zu beschreiben. Was aber zu kurz komme, sei der Weltbezug, da lediglich darauf geachtet werde, in welcher Form im Verlauf der individuellen Lebensgeschichte und während des Sprechens mit einem Widerstreit verfahren wird. Auch die von Koller vorgenommene empirische Perspektive auf ›Bildung‹ unterminiere damit Weltverhältnisse und deren Transformation. An diesen beiden Kritikpunkten stößt sich neben Wigger auch ein ganzer Teil der übrigen Wortbeiträge zur Konzeption Kollers. Auf den ersten Punkt, die Problematik um die Ausweitung der Terminologie Lyotards auf pädagogische Kontexte, beziehen sich so etwa auch Müller (2003) und Straub (2003). Denn keineswegs seien mit der Aneignung von Lyotards Widerstreitmodell – wie Koller demonstrieren wolle – eindeutige Vorteile verbunden. Es müssten auch Nachteile in Kauf genommen werden. Nicht nur wende Koller das Vokabular Lyotards ohne Umschweife auf die empirische Untersuchung von Bildungsprozessen an, was bisweilen ›künstlich‹ wirke. Auch fehlten einigermaßen exakte Bestimmungen der konfligierenden Diskursarten und ihrer Zwecke; m.a.W. ihre konkreten ›Berührungspunkte‹, die letztendlich einen unüberwindbaren Konflikt herbeiführen (vgl. ebd.: 186). Kochinka (2003), der ebenfalls Schwierigkeiten in der von Koller vorgenommenen Übertragung des Widerstreitmodells feststellt, erblickt zudem nicht nur Inkonsistenzen in der Benennung der unterschiedlichen Diskursarten, sondern stellt auch in Frage, ob es sich bei den von Koller ins Visier genommenen Diskursarten tatsächlich um manifeste Formen von Widerstreit handelt (vgl. ebd.: 188ff.). Denn abgesehen von der Tatsache, dass Koller die Benennung der Diskursarten auf ganz unterschiedlichen Ebenen vornehme – etwa ›schulische‹ vs. ›familiäre‹ Diskursart sowie ›wissenschaftliche‹ vs. ›alltagsweltliche‹ Diskursart – und damit Unklarheiten hervorrufe, halte das empirische Material zuweilen gar nicht jene brisanten Stellen bereit, an denen Koller einen Ausdruck oder eine Negation von Widerstreit nachweisen will. Häufig ginge es nicht um fundamentale, sondern vielmehr um

34 Dabei ist allerdings irritierend, dass Wigger sich bei diesem Kritikpunkt nicht etwa auf die Schrift »Bildung und Widerstreit« bezieht, sondern auf einen drei Jahre später publizierten Aufsatz von Koller (2002), bei welchem zwar die theoretischen Bezüge beibehalten werden, die empirische Untersuchung jedoch vielmehr solche Fälle berücksichtigt, denen eine Migrationserfahrung inhärent ist.

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graduelle Unterschiede, die zwischen zwei Aussagen der interviewten Personen liegen, sodass es übertrieben sei, hierin einen Widerstreit prinzipieller Art zu sehen.35 Die im zweiten Punkt von Wigger geäußerten Schwierigkeiten mit dem in »Bildung und Widerstreit« generierten Bildungsbegriff stoßen im wissenschaftlichen Diskurs sogar noch auf größere Vorbehalte. Jürgen Straub (2002: 172) erachtet das Verständnis von »Bildung als ein vollständig entpersonalisiertes Sprachgeschehen, als ein nicht zuletzt von biographisch kontinuierlichen, jedenfalls zusammenhängenden und narrativ repräsentierbaren […] Lernprozessen entkoppeltes Ereignis« (Herv. i.O.) als deutlichen Malus der Arbeit Kollers. Auch Müller (2003) fragt, wie ein unabhängig vom Subjekt sich ereignendes Sprachgeschehen überhaupt noch systematisch auf ›Bildung‹ rückbezogen werden soll. Führt ein solches Verständnis, wie es von Koller im Rückgriff auf die Philosophie Lyotards entwickelt wird, ›Bildung‹ schlussendlich nicht ad absurdum (vgl. ebd.: 270) Die beiden Kritiker bejahen dies, wenngleich wohl festgehalten werden muss, dass sie die ›Subjektabstinenz‹ in der Arbeit Kollers etwas überzeichnen. Denn dort, wo Koller auf der Basis der autobiographischen Erzählungen mit Felix und Anna nach Ereignissen und Erfahrungen Ausschau hält, die mit der Perspektive Lyotards als Fälle von Widerstreit beschrieben werden können, stößt er unweigerlich auf ›Subjektives‹, was von ihm auch verdeutlicht wird.36 Allerdings bilden diese subjektiven Ereignisse und Erlebnisse nur den Rahmen, in welchem Koller zu ermitteln versucht, inwiefern Diskursarten aufeinanderstoßen und miteinander in Konflikt geraten. Deshalb spricht sich Müller auch dafür aus, in Untersuchungen, die mit Bildungsprozessen zu tun haben, doch solche Denkfiguren zu berücksichtigen, die das leibhafte Dasein von Menschen nicht ausklammern (vgl. ebd.: 270). Und Straub (2002: 187) meint, dass Subjektbezogenes, wie etwa »Mitleidsfähigkeit, Gemeinschaftssinn, Altruismus, Verantwortung oder Solidarität« ebenso wie Autonomie und Selbstbehauptung, nicht ersatz- und umstandslos aus dem Katalog legitimierbarer Bildungsziele gestrichen werden können. Zwar legt Straub selbst dann keinen unmittelbaren Alternativentwurf vor. Allerdings gibt er Ergänzungshinweise und betont nicht nur,

35 Das illustriert Kochinka überzeugend an zwei ausgefällten Text- und Interpretationspassagen. Siehe hierzu v.a. Kochinka 2003: 187 FN 6. 36 Wenn Hans-Christoph Koller sich der Analyse der beiden Interviews annimmt, spricht er so etwa von ›seiner‹ oder ›ihrer‹ Erzählung und von ›seinem‹ und ›ihrem‹ Leben. Es ist die Rede von »Felixʼ Verhalten« (Koller 1999a: 268) und seiner Schulzeit. Auf die unhintergehbare Stellung des Subjekts verweisen auch Sätze wie: »Anna dagegen empfindet ihre Familie als einen ›düsteren und verworrenen Ort‹« (ebd.: 271).

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dass für ihn die Entpersonalisierung des Bildungsbegriffs unplausibel ist, sondern weist auch darauf hin, dass die Vielfalt der Diskursarten und deren Aufeinandertreffen kein ausreichendes Kriterium abgibt, um daran spezifische postmoderne Zeichen der Zeit und den Umgang mit diesen festmachen zu können. Stattdessen müssten – wenn gehaltvoll von ›Bildung‹ die Rede sein soll – auch inhaltliche Kriterien genannt werden: »Man müßte zusätzlich zu den formalen (von Lyotard entlehnten) schon noch inhaltliche Kriterien anbieten, die die (genuin) postmodernen Momente in einem autobiographisch repräsentierten Leben verdeutlichen und untersuchenswert machen. Sonst bleibt das Bildungskonzept sehr unspezifisch, merkwürdig abstrakt und ›zeitlos‹. Felix etwa ist ja ein ›Aussteiger‹ – davon kriegt man aber nichts mit, wenn es nur um den Konflikt zwischen wissenschaftlicher und lebensweltlicher Diskursart geht« (ebd.: 186).

Gerade die empirischen Fallstudien würden daher zeigen, das Koller durch seine spezifische Rezeption von Lyotards Widerstreitmodell einen außerordentlich engen Bildungsbegriff protegiert, der viele Seiten von ›Bildung‹, die für pädagogisches Denken und Handeln von Bedeutung sein dürften, vollkommen vernachlässigt (vgl. ebd.: 187). Zwar könne man nicht sagen, dass dieser Zugriff sich als gänzlich untauglich erweise. Die Praktikabilität des Ansatzes werde von Koller nämlich durchaus stringent demonstriert. Bildungstheoretisch besehen würden dabei jedoch wichtige Aspekte auf der Strecke bleiben. Folglich lautet der Befund: »Koller setzt zu eng an und verleiht seinem neuen Bildungsbegriff vielleicht sogar ein etwas dogmatisches Profil. Was der Begriff nicht faßt, fällt nicht nur durch sein Raster, sondern wird auch mit normativen Argumenten disqualifiziert und aus dem Bereich eines Denkens, das legitimes pädagogisches Sprechen und Handeln anzuleiten vermag, ausgegrenzt.« (Ebd.)

Zu zahlreichen Gesichtspunkten, die auch heute als Bestandteile von ›Bildung‹ aufzufassen sind, finde Kollers Ansatz keinen Zugang. So bleibe mit dieser Konzeption von ›Bildung‹ als Geltendmachen des Widerstreits und Erfinden neuer Diskursarten, »der Zugang gegenüber den inhaltlichen, sachbezogenen Aspekten des Bildungsprozesses auffällig indifferent« (Müller 2003: 272). Auch Krassimir Stojanov nimmt (2006b: 76) Bezug auf das von Koller explizierte Verständnis von ›Bildung‹ und fragt die innovative Dimension von Bildungsprozessen betreffend:

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»[K]önnen wir wirklich jede innovative Artikulation von Diskurssträngen und -verkettungen als Bildung bezeichnen? Ist diese Artikulation also nicht nur als eine notwendige, sondern auch als hinreichende Bedingung für Bildungsprozesse zu verstehen? Können wir also immer dann, wenn wir diese Artikulation antreffen, ohne weiteres von Bildung sprechen?«

Da Stojanov diese Frage nicht positiv beantworten kann, spricht er sich für eine normative Erweiterung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung aus, die den Universalismus des klassischen Bildungsbegriffs aufnimmt und sich an die Idee der Menschlichkeit annähert, indem sie eine Praxis intersubjektiven Anerkennens in ihre Reflexionen einbezieht. Auch er fordert somit den Bezug auf den Menschen in seinem Dasein und Mit-sein. Von Kollers Entwurf einer am sprachphilosophischen Denken Lyotards geprägten ›Ethik‹ unterscheidet sich diese Version, die in der kritischen Auseinandersetzung mit Marotzkis Konzeption (siehe Kap. 2.1) bereits umfassender zur Sprache kam, deshalb dadurch, dass sie sich nicht lediglich für einen förderlichen Umgang mit andersartigen Sprachspielen ausspricht, sondern bestrebt ist, die konkreten Bedingungen und Erfahrungen nachzuzeichnen, die einen solchen förderlichen Umgang mit Andersartigem und Abweichendem ermöglichen. Und diese sind für Stojanov in sozialen Praktiken eingeschrieben, was für ihn die Annahme nahelegt, dass eine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung ohne den Begriff eines sozial situierten Subjekts letztlich gar nicht auskommen kann (vgl. Stojanov 2006a: 45). Die in der Diskussion besprochenen kritischen Wortbeiträge unterstützen also die beiden von Wigger vorgetragenen Einwände gegenüber der Konzeption Kollers wie folgt: Es werden von ihnen ebenfalls deutliche Schwierigkeiten in der Art und Weise der Rezeption von Lyotards Widerstreitmodell und seiner Übertragung auf die Untersuchung von Bildungsprozessen gesehen. Zudem erblicken die kritischen Wortbeiträge eine Verengung des möglichen Facettenreichtums von ›Bildung‹ dahingehend, dass ein eng begrenztes Verständnis, so wie es von Koller vorgelegt wird, nicht in der Lage ist, wichtige inhaltliche Indikatoren zur Spezifizierung von Bildungsprozessen in der (Post-)Moderne zu benennen. Sie monieren insofern wie auch Wigger die vollzogene Ausklammerung bildungstheoretischer Elementarbereiche und die Verengung der Analysen. In der Tat weisen die Schlussfolgerungen von Müller, Straub, Stojanov und Wigger dann auch in eine ähnliche Richtung, weil sie jeweils eine Öffnung gegenüber inhalts- und sachbezogenen Dimensionen von ›Bildung‹ vorgeschlagen, um auf diese Weise den bildungstheoretischen Akzent der Analysen zu stärken. Keine unmittelbaren Hinweise ergeben sich aus den diskutierten Wortbeiträgen von

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Müller, Straub und Stojanov jedoch auf die von Wigger kritisierte Dominanz von Selbstverhältnissen. Vielmehr vermissen Müller, Straub und Stojanov in den Analysen Kollers die zur plausiblen Betrachtung von ›Bildung‹ notwendige Dimension des Selbstverhältnisses, weil und insofern hier primär sprachliche Vorgänge Beachtung erhalten. Stojanov fordert darüber hinaus auch eine Konzentration auf soziale Praktiken, konkrete Bedingungen und Erfahrungen, die einen förderlichen Umgang und die Aufrechterhaltung von Differenzen ermöglichen. Dies kann als Plädoyer für eine Beachtung von Weltverhältnissen verstanden werden, sodass sich in dieser Hinsicht Parallelen zum Monitum Wiggers auftun. Bislang hat sich die Diskussion ausschließlich auf die beiden von Lothar Wigger vorgetragenen Einwände konzentriert und sie durch weitere Wortbeiträge ergänzt. Neben den genannten Kritikpunkten gibt es aber noch zwei weitere, die von Wigger nicht berücksichtigt werden, obwohl sie zur Beurteilung des Vermittlungsanspruchs von Kollers Konzeption ebenfalls wichtige Einsichten bereithalten. Diese beiden Kritikpunkte richten sich einerseits in methodologischer Hinsicht auf die Plausibilität des Gesamtkonzepts Kollers und andererseits auf methodische Problemstellen. Auf eine Einschränkung der Plausibilität der Gesamtstudie weisen vor allem Müller (2003) und Sattler (2003) hin. Sie beziehen sich dabei auf die Ambition Kollers, wie sie in dem Zitat zum Ausdruck kommt, das diesem Kapitel vorweggestellt ist. Sowohl für Müller als auch für Sattler ist die Intention, die Kluft zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung im Konzept einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung zu überbrücken, vor dem Hintergrund der eingeschlagenen Theorieperspektive nicht konsequent gedacht. Denn die am Denken Lyotards gewonnene Logik sei im eigenen Ansatz Kollers letztlich nicht aufgehoben, und das Plädoyer für Pluralität und Heterogenität finde gerade hier keine Beachtung. Stattdessen könne man viel eher von einer »Synthetisierung« (ebd.: 122) bzw. »Homogenisierung« (Müller 2003: 271) des Problemfeldes sprechen, die dem Denktypus des Widerstreits entgegenstehe und der Betonung des Nicht-Identischen zuwiderlaufe. Unter Zugrundelegung des von Koller formulierten Anspruchs lässt sich diesem Befund in der Tat zustimmen; nämlich aus einem einfachen Grund: Würde Koller die Perspektive Lyotards stringent auslegen, dann dürfte er nicht bestrebt sein, eine unterstellte Kluft zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung zu überbrücken. Vielmehr müsste es sein Ziel sein, diesem Widerstreit gerecht zu werden und ihm entsprechende Idiome zu verschaffen. Das aber macht Koller nicht, und so zeigt sich seine ›Synthetisierungsintention‹ etwa konkret auch in der Zusammenführung von ›Skepsis‹ und ›Innovation‹ als sich einander ergänzende Dimensionen von ›Bildung‹. Für Koller hat die innovative Dimension von ›Bildung‹ die skeptische zu ergänzen und

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deutlich zu machen, wie es möglich ist, den Widerstreit zu bezeugen, da Lyotards Widerstreitmodell dafür keine Angaben bereithalte. Müller formuliert an diesem Integrationsvorgang allerdings ernstzunehmende Kritik: »Skepsis […] ist nämlich nicht lediglich gegenüber allen Meta-Diskursen und Letztbegründungsversuchen angebracht, sondern auch gegenüber einem allzu dogmatisch formulierten Gebot der permanenten Innovation. Die Entstehung des Neuen in bildungstheoretischer Hinsicht darf nicht zu einer Norm der Originalität hypostasiert werden, die sich affirmativ allen Innovationsansprüchen unterwirft, denen wir gegenwärtig innerhalb und außerhalb unserer Bildungsmilieus begegnen. Könnten nicht Skepsis und Innovation, wenn man den anregenden Gedanken Kollers hier noch einmal weiterdenkt, selbst in einem produktiven Widerstreit geraten?« (Ebd.)

›Skepsis‹ und ›Innovation‹ könnten demnach also durchaus auch als widerstreitende Kräfte betrachtet werden; und vermutlich würde das viel eher der Lesart Lyotards entsprechen. Dass es nämlich – darauf macht Sattler (2003: 122) aufmerksam – konsequent gedacht sein könnte, der von Lyotard zurückgelassenen Leerstelle keine weitere Bestimmung und Präzisierung an die Seite zu stellen, »wenn und weil eben notwendigerweise diese Form der Unbestimmtheit als Möglichkeitsraum für kommende Offenheit gesetzt wird«, wird in den methodologischen Überlegungen Kollers nicht in Betracht gezogen. Aber auch aus anderer Blickrichtung und unter Berücksichtigung der schwächer formulierten Absicht Kollers, systematisch-theoretische Erörterung und empirische Forschung in ein wechselseitiges, nicht-hierarchisches Verhältnis zu bringen, dass ja durchaus mit den an Lyotard entwickelten Einsichten konform geht, lassen sich die formulierten Bedenken nicht ganz ausräumen. Das wird auch und gerade im Hinblick auf den empirischen Teil von »Bildung und Widerstreit« deutlich. Hier soll nach Koller der im ersten Teil seiner Studie konturierte Bildungsbegriff im Prozess der empirischen Untersuchung einerseits auf seine Tauglichkeit hin überprüft werden und andererseits jene Bereiche sichtbar machen, die sich der Erfindung neuer Diskursarten zum Bezeugen des Widerstreits verschreiben. So formuliert Koller (1999a: 156f.) im Zuge der Überleitung in seinen empirischen Untersuchungsteil: »Die Zielsetzung des zweiten Teils der Arbeit besteht deshalb nicht darin, den im ersten Teil entwickelten Bildungsbegriff mit empirischen Beispielen bloß zu unterfüttern. Die empirischen Analysen sollen vielmehr dazu beitragen, diesen Begriff von Bildung auf seine Tauglichkeit zur Beschreibung und Beurteilung tatsächlicher Lernprozesse zu prüfen und – wenn nötig – entsprechend zu modifizieren, zu präzisieren oder zu revidieren.«

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Diese Aussage Kollers macht in Anbetracht seiner Forderung, systematischtheoretische Erörterung und empirische Forschung in ein wechselseitiges, nichthierarchisches Verhältnis zu bringen, jedoch stutzig. Zwar liegt hier keine ›Synthetisierungsintention‹ zu Grunde, wohl aber werden auch hier Differenzen getilgt und Nicht-Identisches gleichgemacht. Indem der an Lyotards, Humboldts und Adornos Denken entfaltete Bildungsbegriff im zweiten Teil der Arbeit Kollers nun nämlich daran gemessen werden soll, ob er sich im Rahmen der Analyse zweier Fallgeschichten bewährt, erfährt er eine eindeutige empirische Überformung (vgl. Sattler 2003: 123). Ein beabsichtigter Ausgleich zwischen theoretischen Überlegungen und empirischen Untersuchungen kann dann nicht mehr erfolgen, da es das Empirische ist, das gleichsam den Ton angibt. Auf diese Weise werde das im ersten Teil kultivierte bildungstheoretische Nachdenken – wie es Elisabeth Sattler formuliert – dann »›overruled‹, durchwegs im Sinne eines Nicht-anerkannt-Werdens« (ebd.: 123). Denn jene Bestandteile der theoretischen Überlegungen, die sich empirisch nicht zeigen, werden in der konsequenten Anwendung der von Koller vorgeschlagenen Forschungspraxis dann entweder irrelevant oder müssen einer Korrektur unterzogen werden. So weit kommt es bei Koller dann aber doch nicht, sodass der Vorwurf von Sattler am Ende gewissermaßen ins Leere läuft. Denn obgleich Koller eine solche Modifikation, Präzision und Revidierung der theoretischen Überlegungen ankündigt, nimmt er diese de facto nicht vor. Schließlich habe sich – so Koller am Ende seiner Untersuchung – die entfaltete bildungstheoretische Perspektive in der empirischen Arbeit doch als tauglich erwiesen (vgl. Koller 1999a: 276). Genau mit diesem Umstand, dass nämlich die empirischen Untersuchungen die theoretischen Überlegungen bloß bestätigen, hat nun aber ein zweiter Kritikpunkt zu tun, den Wigger in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Konzeption Kollers ebenfalls nicht berücksichtigt. Dieser Kritikpunkt, der vor allem das methodische Vorgehen Kollers in den Blick nimmt, besagt, dass die vorgelegten Fallinterpretationen einen unübersehbar demonstrativen Zug aufweisen und eine Erweiterung der bildungstheoretischen Perspektive im Grunde genommen gar nicht im Vordergrund des Bemühens von Koller steht (vgl. Müller 2003: 272). Auf diesen Aspekt konzentriert sich nicht nur Müller, sondern im Wesentlichen geht Heide von Felden (2003) auf ihn in ihrer Kritik ein. Es ist einigermaßen auffällig, dass sich bei ihr die kritischen Bedenken gar nicht auf die theoretische Entfaltung des Themas beziehen. Hier sieht sie vielmehr interessante Anregungen für eine Neubestimmung des Bildungsbegriffs. Anstoß nimmt sie aber an Kollers Auswertung der narrativ-autobiographischen Interviews. Nach ihr laufe die von Koller praktizierte Auswertungsprozedur nämlich Gefahr, einem Zirkelschluss zu folgen. Das Verfahren überprüfe vor allem, ob das ›Den-

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ken‹ der interviewten Personen nach der an Humboldt, Adorno und Lyotard entwickelten theoretischen Folie als (post-)modern bezeichnet werden könne. Indem Koller die autobiographischen Stegreiferzählungen als transkribierte Texte behandelt »und versucht, in diesen Texten ›postmoderne Bildungsprozesse‹ nachzuweisen bzw. Denkstrukturen herauszuarbeiten, die seiner Bildungsauffassung, den Widerstreit geltend zu machen und neue Satzverbindungen zu (er)finden, nahe kommen« (ebd.: 73), werde jedoch nur überprüft, ob darin die entfalteten (post-)moderne Figuren vorkommen. Insofern demonstriere Kollers Auswertungsprozedere die Plausibilität des Verfahrens i.S. einer Exemplifikation, wozu die beiden von ihm gewählten Interviews sicherlich hilfreich seien. Was es aber beispielsweise bedeute, wenn keine (post-)modernen Figuren nachgewiesen werden können und das ›Denken‹ der Interviewpartner ganz andere Wege geht, erfahre durch Koller keinerlei Thematisierung (vgl. ebd.). Genau das müsste aber als Bestandteil einer biographischen Untersuchung mitgedacht werden. Deshalb lässt sich mit Heide von Felden nicht nur sagen, dass Koller das Konzept der Biographieforschung nicht ausreizt, sondern vor allem, dass das »Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsempirie […] in dieser Hinsicht bei Koller eine Leerstelle« (ebd.: 78) beinhaltet. Mit dieser Aussage gibt von Felden das Stichwort jener Intention vor, auf die die hier vorgelegte kritische Auseinandersetzung mit der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung Kollers bezogen ist. Nach der Beleuchtung der verschiedenen Problemstellen im Ansatz Kollers soll diese daher nun einen Abschluss finden und ein Urteil über die erstrebte Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung erfolgen. Dabei kann sogleich das Votum von Feldens aufgegriffen werden, die eine Leerstelle im entworfenen Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung dahingehend erblickt, dass das Moment der Bildungsforschung, d.h. die empirische Seite von ›Bildung‹, nicht ausreichend genug zur Geltung komme. Denn die bildungstheoretische Perspektive behalte letztendlich die Überhand. In der Tat trägt der von Koller eingeschlagene Weg eher demonstrative Züge und betrachtet die beiden Fallgeschichten ausschließlich aus dem Blickwinkel eines eng abgesteckten Bildungsbegriffs. ›Bildung‹ ist demnach die sprachlich zum Ausdruck gebrachte Anerkennung des Widerstreits und die Bezeugung desselben durch entsprechende Idiome. Mit dieser Ausrichtung gehen allerdings noch zusätzliche Schwierigkeiten einher. Kollers Ansatz einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung ist nämlich auf ein Begriffsverständnis von ›Bildung‹ gerichtet, welches eindeutig normativ-dogmatische Züge trägt. Normativ ist es insofern, als von ›Bildung‹ nur dann gesprochen wird, wenn ein Widerstreit anerkannt und neue sprachliche Möglichkeiten zur Artikulation desselben hervorgebracht werden.

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Und dogmatisch ist es, weil Koller andere Redeweisen über ›Bildung‹ als Modi idealistischer, historistischer oder aufklärerisch-emanzipatorischer Einheitserzählungen für obsolet und metaphysisch erklärt. Dabei schafft es auch Koller nicht, einen Ansatz vorzulegen, der – wie von ihm behauptet – »metaphysische Implikationen« (Koller 1999a: 155) vermeiden kann. Das gelingt ihm allein deshalb schon nicht, weil er Lyotards Beschreibungen zur (Post-)Moderne zum alles bestimmenden ›Ausgangsboden‹ ernennt oder auch weil er seinen Ausgang von der Pluralität und Heterogenität der Lebensformen und Wertorientierungen nicht durch eine Perspektive konterkariert, die danach Ausschau hält, wo bei aller Vielfalt doch noch Gleichheit und Einheit herrschen. Mit dem Philosophen Gerhard Funke (1968: 71) lässt sich daher sagen: »Eine ›Metaphysik‹ steht immer dahinter«. So ist auch Kollers Ansatz keineswegs ›anti-metaphysisch‹. Aber nicht nur das: Er ist auch ›anti-materiell‹. Eine inhaltsbezogene Spezifizierung von Bildungsprozessen in der (Post-)Moderne kann der Ansatz – das haben Müller, Straub und Stojanov deutlich gemacht – im eigentlichen Sinne nicht leisten. Auch ließen sich – so Wigger und Stojanov – Weltverhältnisse in einer genuin bildungstheoretisch interessierten Arbeit durchaus stärker berücksichtigen. Lothar Wigger geht dabei sogar noch weiter, weil er nicht nur Defizite im Erfassen inhaltlicher Dimensionen von ›Bildung‹ erblickt und für die analytische Einbeziehung von Weltverhältnissen plädiert, sondern auch eine »Engführung des Bildungsbegriffs […] auf die Veränderung von Selbstdefinitionen« (Wigger 2004: 489; Herv. i.O.) sieht. Da die Kraft der Überzeugung an die Güte der Argumente gebunden ist, lässt sich dem letztgenannten Kritikpunkt Wiggers vor dem Hintergrund einer intensiven Beschäftigung mit Kollers Konzeption allerdings nicht grundsätzlich annehmen. Denn Geltung beanspruchen und Anerkennung finden, kann Wiggers Kritik nur bezogen auf die Analyse der autobiographischen Erzählungen, bei der danach Ausschau gehalten wird, wie die Befragten im Lebensverlauf die Bearbeitung mit Fällen von Widerstreit vornehmen. Wenn so von Koller im Fall »Anna« verdeutlicht wird, dass sie im Verlauf ihres biographischen Prozesses »sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten findet, um bestimmte Erfahrungen, Gefühle und Wünsche zu formulieren, die sie in jenen frühen Phasen nicht artikulieren könnte« (Koller 1999a: 269), dann verweist dies auf ein verändertes Selbstverhältnis, das mit ›Bildung‹ als »die kreative Hervorbringung neuer sprachlicher Möglichkeiten, um ›etwas‹ anders oder besser als bisher in Sätze zu fassen« (ebd.: 185), in Verbindung gebracht wird. In dieser Hinsicht ist der Vorwurf von Wigger als gerechtfertigt zu erachten. In Bezug auf die zweite von Koller intendierte Analyseperspektive, derjenigen, die unter Bezug auf Theoriebestände der Rhetorik die sprachliche (Re-)Konstruktion der Lebensgeschichten in den Blick nimmt und untersucht, auf welche Weise während des Erzählvor-

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gangs »Worte, Sätze und Diskursarten ge- und erfunden werden, die die verschütteten Möglichkeiten, das Nicht-zum-Ausdruck-Gekommene« (ebd.: 277), zur Geltung bringen, macht Wiggers Kritik einer Engführung von ›Bildung‹ auf ein verändertes Selbstverhältnis dagegen keinerlei Sinn, was allerdings nicht heißt, dass damit gleichwohl arge Probleme verbunden sind, wenn und insofern man ›Bildung‹ als pädagogisch veritablen Begriff aufrechterhalten möchte. Vor diesem Hintergrund gilt es deshalb auch festzuhalten, dass der Anspruch der Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung in der Arbeit Kollers ebenfalls nicht zur Zufriedenheit eingelöst wird.

2.3 D IE E RFORSCHUNG G ESCHLECHTSKONSTRUIERENDER

B ILDUNGSPROZESSE ZWISCHEN M ODERNE UND P OSTMODERNE : D ER ANSATZ VON H EIDE VON F ELDEN »Biographieforschung stellt für die Erziehungswissenschaft die Möglichkeit her, empirische Anschlüsse an bildungstheoretische Diskurse zu erreichen.« (VON FELDEN 2004: 660)

Vier Jahre nachdem Koller seine Studie zu einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung veröffentlicht, erscheint wiederum eine Arbeit zu diesem Forschungsansatz der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung, der es explizit um die Verbindung von Bildungstheorie und Bildungsforschung geht. Diese wird nun von Heide von Felden vorgelegt, die die These stark macht, dass biographische Bildungsprozesse gerade auch durch geschlechtsspezifische Lebenserfahrungen geprägt sind. Deshalb hat sie das Forschungsprojekt »Bildungsbiographische Untersuchungen in Studienfeldern der Frauen- und Geschlechterstudien« ins Leben gerufen, das durch das niedersächsische Dorothea-ErxlebenProgramm zur Qualifizierung von Frauen für eine Professur an Universitäten und Fachhochschulen eine Förderung erfährt. Unter der Rubrizierung »Bildung und Geschlecht zwischen Moderne und Postmoderne« präsentiert Heide von Felden (2003) die Ergebnisse dieses Habilitationsprojekts.

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(a) Darstellung und Rekonstruktion In der »Verknüpfung von Bildungs-, Biographie- und Genderforschung« – so der Untertitel ihrer Qualifikationsarbeit – geht Heide von Felden der Frage nach, wie Studentinnen ein universitäres Studienangebot im Bereich der Frauen- und Geschlechterforschung vor dem Hintergrund ihrer biographischen Erfahrungen wahrnehmen und verarbeiten. Mit insgesamt 20 Studentinnen aus dem dritten und vierten Semester eines weiterbildenden Studienangebotes führt sie dazu an der Universität Oldenburg narrative Interviews durch, um auf dieser Datenbasis zum einen Erkenntnisse über jene biographischen Bildungsprozesse der Studentinnen zu erlangen und zum anderen Einsichten in Geschlechtskonstruktionen als Verarbeitung gesellschaftlicher Zuschreibungen zu gewinnen. Grundlegend geht es Heide von Felden in ihrer Arbeit dabei um zweierlei: Zum einen will sie die Geschlechterperspektive im bildungstheoretischen Diskurs zur Geltung bringen. Sie geht dazu davon aus, dass eine proklamierte Universalität von ›Bildung‹ »die hierarchischen Bestimmungen des Geschlechterverhältnisses im Rahmen des Systems der Zweigeschlechtlichkeit unterschwellig perpetuiert und damit Ungleichverhältnisse durch Nichtbenennung beibehält« (ebd.: 9). Zum anderen ist es ihr ein Anliegen, empirisch fruchtbar dem Zusammenwirken von ›Bildung‹ und Geschlecht in der Auseinandersetzung von Menschen mit ihrer gesellschaftlichen Umwelt nachzugehen, da der Fokus auf die Deutung der Welt durch Einzelne näheren Aufschluss darüber verspreche, wie ›Bildung‹ in einer bestimmten Gesellschaft ›funktioniere‹ (vgl. ebd.: 18). Theoretisch besehen geschieht dies durch eine historisch-systematische Auseinandersetzung mit dem Bildungs- und Geschlechtsbegriff sowie deren erkenntnistheoretischer Verortung als kulturelle Konstruktionen zwischen Moderne und Postmoderne. Empirisch besehen werden ›Bildung‹ und Geschlecht anhand der Wirklichkeitskonstruktionen von Menschen untersucht und dazu Methoden der Biographieforschung in Anspruch genommen. Die Verbindung von Bildungstheorie und Bildungsforschung sieht Heide von Felden dann in der Darlegung dessen, wie Geschlechtskonstruktionen und Bildungsprozesse als Veränderung von Selbst- und Weltreferenzen in individuellen Frauenbiographien wirken. Demnach versucht sie also, einen Ansatz bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung zu entwickeln, der ›Bildung‹ als gendered concept präsentiert. Auf diese Weise soll aufgezeigt werden, wie in bildungstheoretischen Diskursen, Differenzen zwischen den Geschlechtern bewusst gemacht und Hierarchien nivelliert werden können (vgl. Glaser/Klika/Prengel 2003: 243). Den Anfang dieser Untersuchung von Feldens bildet dabei eine summarische historische Bestimmung des Bildungsbegriffs, die ihren Startpunkt im Pietismus des 18. Jahrhunderts hat und über Stationen im Neuhumanismus bis ins späte 20.

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Jahrhundert fortgeführt wird. Wie im Titel der Arbeit angekündigt wird hier also versucht, das breite Spektrum an begrifflichen Deutungen zum Bildungsbegriff zwischen Moderne und Postmoderne zu erfassen und es als Theorie-Raster auf eine fundierte Grundlage zu stellen (vgl. von Felden 2003: 50). Im Zuge dieser Vergewisserungen zum Bildungsbegriff und seiner Verwendungsweisen arbeitet von Felden verschiedene Konnotationen von ›Bildung‹ heraus: Während der klassische Bildungsbegriff der Moderne »die geistig-seelische Formung des Individuums betrachtet, das sich durch die Aneignung der wesentlichen Kulturleistungen der Menschen in die Lage versetzt, Begriffe über die Welt, die Gesellschaft und sich selbst zu entwickeln« (ebd.: 29), fungiert der in Adornos Schriften zur Entfaltung gebrachte Begriff von ›Bildung‹, dem sich Heide von Felden anhand der »Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer/Adorno 1969), der »Theorie der Halbbildung« (Adorno 1972) sowie der »Negativen Dialektik« (Adorno 1966) ein wenig ausführlicher widmet, als Reflexionsmodus bestimmter Gesellschaftsstrukturen. Radikalisiert wird diese Perspektive, die im Rahmen der Darstellung von Kollers Ansatz einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung (siehe Kap. 2.2) bereits beleuchtet wurde, anhand der postmodernen Herausforderung von Pluralität und Heterogenität, wozu im Wesentlichen auf Lyotards Philosophie rekurriert wird, so wie dieser sie in seinen Schriften »Das postmoderne Wissen« (Lyotard 1986) und »Der Widerstreit« (Lyotard 1987) darlegt. Auch das stand bereits im Zentrum der Auseinandersetzung mit Kollers Arbeit, auf die Heide von Feldens in ihren Ausführungen hinweist.37 In diesem postmodernen Theoriediskurs, dem das autonome Subjekt suspekt ist, verortet von Felden auch ihre eigene Auffassung von ›Bildung‹, wenngleich sie es jedoch ablehnt – so wie Lyotard es tut – ›Bildung‹ als große Erzählung für ganz und gar obsolet zu erklären. Stattdessen hält sie am Bildungsbegriff fest; nicht aber etwa in jener Version der Aufklärung oder des Neuhumanismusʼ, sondern in einer, die das Subjekt konsequent als vergesellschaftetes, d.h. in gesellschaftliche Strukturen eingebettetes und durch sie situiertes, versteht. Deshalb bezieht sie sich auf die Kritische Theorie, deren Dialektik von Allgemeinem und Besonderem von

37 Allerdings auch nicht ohne Kritik an dieser zu äußern. Denn neben der im letzten Kapitel (siehe Kap. 2.2) angeführten Stellungnahme schreibt von Felden (2003: 245): »Untersuchungen auf der empirischen Ebene sind nach meiner Vorstellung nicht im Rahmen der Konstituierung von Subjekten durch Sprache durchführbar, weil damit ein Determinismus nahegelegt wird, der von Deutungen und Handlungen von Individuen absieht.« Das ist – ohne dass an jener Textstelle explizit darauf hingewiesen wird – auch als ein Vorwurf gegen die ›subjektdezentrierte‹ Konzeption Kollers zu verstehen.

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Felden überzeugt und es ihr zugleich ermöglicht, gesellschaftliche Strukturen und individuelle Wirklichkeitskonstruktionen aufeinander zu beziehen (vgl. von Felden 2003: 54). So schreibt sie die Ansichten des Bildungsdenkens der Kritischen Theorie und der Postmoderne abwägend: »Nach meiner Auffassung kann die Idee einer Dialektik von Allgemeinem und Besonderem solange nicht aufgegeben werden, wie historisch gewachsene und strukturell bedingte Hierarchien und Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft existieren, die ein parteiliches Eingreifen verlangen. Die Vermittlungsmöglichkeiten zwischen dem erkenntnistheoretischen Diskurs und bestimmten Handlungsnotwendigkeiten in der Praxis […] sind für mich in den Denkstrukturen der Kritischen Theorie eher zu denken, auch wenn ich die Idee der radikalen Heterogenität von Diskursarten auf der logischen Ebene nachvollziehen kann.« (Ebd.: 57)

Damit kommt von Felden zur Erkenntnis, dass auch postmodernes Denken, welches das zeitgleiche Existieren verschiedener Wahrheiten, Wissensformen, Diskursarten und Geschmackskulturen stark macht, nicht von einem Denken in der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem entbindet; vor allem deshalb nicht, »da das Besondere oder das Differente sich nur in Bezug auf eine Idee des Besonderen, die wiederum eine Idee des Allgemeinen einschließt, konturieren lässt« (ebd.). Heide von Felden gibt also den Gedanken an ein Übergeordnetes – dem Meta-Kode, wie er in der Diktion der Postmoderne bezeichnet wird – nicht auf. Aus dieser Präferenz für leitende Maßstäbe resultiert dann auch ihr Festhalten an ›Bildung‹, die sie nach dem Durchgang der verschiedenen Schriften als Denkform, als Kulturaneignung, als Vergesellschaftung sowie als Norm und Kritik versteht. Eine Denkform ist ›Bildung‹ nämlich insofern, als sie die ständige Reflexion in Auseinandersetzung mit den Widersprüchen und Heterogenitäten der Welt darstellt. Weil diese – an konkrete Inhalte gebunden – zu Veränderungen des Selbst- und Weltverhältnisses führen kann, stellt ›Bildung‹ auch immer die Aneignung von Kultur dar. Vergesellschaftend wirkt sie, da individuelle Bildungsprozesse gesellschaftlich verfasst sind. Insofern sind sie auch normbezogen. »Normbezogen bedeutet dabei, dass sie Erkenntnisse im Sinne normativer Werte wie Gerechtigkeit, Humanität, Lebenserhaltung und auch nichthierarchische, gleichberechtigte Geschlechterverhältnisse fördern.« (Ebd.: 121) Doch es ist durchaus auch möglich, sich diesen Normen zu widersetzen, sie in Frage zu stellen und Veränderungen zu intendieren. So stellt von Felden fest: »Bildung einerseits als Kulturaneignung und andererseits als Kritik zu betrachten, drückt die doppelte Funktion der Auseinandersetzung mit Gesellschaft aus. Teilweise geht es um

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die Übernahme von Nomen, um sich einen gesellschaftlichen Ort zu verschaffen, teilweise geht es um Umdeutungen und darum, Zuschreibungen, die subjektiv als Einengungen und Begrenzungen erfahren werden, zu verändern.« (Ebd.: 121f.)

So wie sich Heide von Felden dem Bildungsbegriff nähert und ihr Verständnis von ›Bildung‹ in der sukzessiven Beschäftigung mit historischen Entwicklungen und theoretischen Ansätzen als vierfache Ausprägung erarbeitet, widmet sie sich auch dem zweiten Begriff, der für ihre Konzeption einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung elementar ist: Dem Begriff ›Geschlecht‹. Hier folgt sie der Entwicklung von feministischen Theorien seit den 1970er Jahren, um so den darin auftretenden Denkhaltungen und erkenntnistheoretischen Fragestellungen nachzugehen und im Rahmen der Moderne-Postmoderne-Debatte ihre eigene Position zu verorten (vgl. ebd.: 80). Dazu geht sie in der Darstellung der Entwicklung von der Frauen- zur Geschlechterforschung auf drei verschiedene Perspektiven ein, die den Begriff ›Geschlecht‹ aufschlüsseln und in seiner semantischen Variabilität verdeutlichen. Die erste Perspektive stellt die frühe Frauenforschung vor, der es in den 1970er Jahren darum ging, Lebenszusammenhänge von Frauen »überhaupt in das Blickfeld wissenschaftlicher Forschung zu heben und gegen den ›neutralisierenden‹ Diskurs der herrschenden Wissenschaft einen anderen Fokus auf die Lebenszusammenhänge von Menschen zu werfen, der die Bedeutung von Geschlecht erst einmal auswies« (ebd.: 82). Die Entwicklungslinien von dieser Position, die Frauen auch als Opfer patriarchalischer Verhältnisse ansieht und Gleichheit der Geschlechter fordert, verfolgt Heide von Felden bis zu einem Punkt, an dem jene Position durch die Betonung des Weiblichen als Differentes konterkariert wird. Dies ist zugleich die zweite Perspektive, die von ihr auf den Begriff ›Geschlecht‹ geworfen wird. Hieran zeigt sie dann auf, wie Vertreterinnen dieser zweiten Position Kritik am Gleichheitsansatz üben und vor der Gefahr einer Anpassung an männliche Strukturen warnen, wenn man nicht auf die Eigenständigkeit und Besonderheit des Weiblichen abhebe. Neue erkenntnistheoretische Anregungen für die Frauenforschung brachten dann – so stellt es Heide von Felden in ihrer Reminiszenz an die Entwicklung der Frauenforschung dar – im Wesentlichen verschiedene Strömungen des Konstruktivismus, die auch eine Wende von der Frauen- zur Geschlechterforschung bewirkten. Das ist nun die dritte Perspektive auf den Begriff ›Geschlecht‹, der sich angenommen wird. Diese betont, dass Individuen im Alltag immerzu mit geschlechtstypischen Zuschreibungen konfrontiert sind und sie als sozial wirksame Maßstäbe während ihres gesamten Lebens aufnehmen (vgl. ebd.: 95). Die bipolare Struktur der Zweigeschlechtlichkeit wirkt dabei als grundlegende Ordnungsfunktion. Aber nicht nur das: Dem Gedanken der sozia-

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len Herstellung von Geschlecht stellt diese Perspektive einen Konstruktionscharakter von Geschlecht zur Seite. Geschlecht ist demnach nichts Statisches, sondern zeichnet sich neben einer biologisch-naturhaften Dimension vor allem durch eine kulturelle Verfasstheit aus, die dafür sorgt, »dass es sich bei allen Auslegungen von Geschlecht, um die es im Alltag geht, um diskursive Zuschreibungen, um zugefügte Bedeutungen und normative Setzungen handelt« (ebd.: 96). Damit ist allerdings nicht gemeint, dass es ins Belieben von Menschen gestellt ist, jederzeit alles neu zu konstruieren, sondern dass kulturell und historisch erzeugte Konstruktionen Menschen als ›objektiv‹ vorgegebene Wissensbestände gegenübertreten (vgl. ebd.: 103). Deshalb unterscheidet diese Perspektive zwischen dem biologischen Geschlecht, genannt sex, und dem kulturellen Geschlecht, bezeichnet als gender. Der Unterschied zwischen sex und gender wird dahingehend gedacht, dass körperlich-anatomisch unterscheidbare Merkmale mit bestimmten kulturellen Bedeutungen belegt werden. Auf diese Weise ist es möglich, Geschlecht als Konstruktion zu verstehen und zu untersuchen, wie sich Menschen als weiblich bzw. männlich präsentieren, welche Eigenschaften ihnen zu- oder abgesprochen werden und welche Voraussetzungen notwendig sind, sich als ›Frau‹ oder ›Mann‹ zu erkennen. So zeigen Arbeiten auf dem Gebiet des feministischen Konstruktivismus’, wie Menschen im Alltagshandeln sich selbst in ihrer Geschlechterrolle, aber auch das System der Zweigeschlechtlichkeit, immer wieder neu herstellen. Der Terminus technicus dieses Alltagshandelns lautet doing gender. Jenem Verständnis von Geschlecht schließt sich Heide von Felden nach ihrem Durchgang durch die Geschichte der Frauen- und Geschlechterforschung an. Auch sie versteht Geschlecht als soziale Kategorie und bezieht sich damit auf die gender-Funktion von Geschlecht, die einerseits normative Verhaltens- und Handlungserwartungen der Zweigeschlechtlichkeit an Frauen und Männer transportiert und stabilisierend wirkt, die aber andererseits auch Möglichkeiten bietet, geschlechtstypische Zuschreibungen zu modifizieren (vgl. ebd.: 102). Dabei lässt sie sich auch nicht von postmodernen bzw. -strukturalistischen Argumenten beirren, wie sie im Diskurs feministischer Theorien vor allem von Judith Butler vorgetragen werden. Das zeigt sich in einem von ihr initiierten Schlagabtausch zwischen Verfechtern der Kritischen Theorie und der Postmoderne, wozu sie die beiden Positionen gegenüberstellt und Aufsätze einschlägiger Vertreterinnen referiert. Die auf diese Weise kontrastierten Meinungen und Thesen kreisen – wie auch schon diejenigen zum Bildungsbegriff – um die Frage eines Allgemeinen sowie um den Status des Subjekts:

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»Die Kritische Theorie geht von der Dialektik von Subjekt und Welt aus und unterscheidet im Rahmen ihrer Gesellschaftsanalysen die Makro-, Meso- und Mikroebene. Individuen werden hier als vergesellschaftete und sich in einem ständigen Prozess der Vergesellschaftung befindliche Akteure gesehen, die gegenüber ›Vergesellschaftungszuschreibungen‹ eine relative Möglichkeit haben, ›selbst‹ zu denken, zu reagieren, zu performieren, zu handeln. Poststrukturalistische Positionen sind skeptisch gegenüber einer Möglichkeit, Subjekte als Gegenpol zur Gesellschaft aufzufassen. Sie gehen eher von Diskursen aus, die die Subjekte konstituieren oder situieren, so dass Umdeutungsprozesse nur im Rahmen der von Machtstrukturen durchzogenen Diskurse möglich sind. Erkenntnistheoretisch geht es um die Frage, ob ein ›view from outside the walls of the city‹ denkbar ist oder nicht.« (Ebd.: 119)

Deshalb verzichten poststrukturalistische Positionen auch auf Formulierungen, nach denen Subjekte sich selbst neu definieren und halten keine Aussagen darüber bereit, welche Bedeutung die Wirklichkeitskonstruktionen und Handlungen konkreter Personen für die gesellschaftliche Struktur haben. Genau das möchte von Felden aber untersuchen, und so führt sie die Einsichten aus der theoretischen Beschäftigung mit dem Bildungsbegriff einerseits und dem Geschlechtsbegriff andererseits zusammen, um der Frage nachzugehen, welche Beziehung zwischen Geschlechtskonstruktionen und Bildungsprozessen besteht. Konkret will sie wissen: »Wie setzen sich Menschen mit geschlechtstypischen und geschlechtsbedingten Zuschreibungen auseinander? Wie konstruieren sie sich als Frauen und Männer? Welche Rolle spielen diese Konstruktionen bei ihren Lernund Bildungsprozessen?«38 (Ebd.: 124) Dazu können die poststrukturalistischen Positionen ihr allerdings nicht verhelfen, Antworten zu finden, da diese weder die spezifische Sicht auf die Subjekte im Blick haben, noch über ein Repertoire verfügen, den drei aufgeworfenen Fragen empirisch gehaltvoll nachzugehen. Das vermag vielmehr mittels der Kritischen Theorie realisiert werden, da sie eine Verbindung von Theorie- und Empirieebene mitdenkt und Wirklichkeitskonstruktionen einzelner Akteure untersucht, um daraus Hinweise auf die gesellschaftlichen Strukturen zu gewinnen (vgl. ebd.: 119). So präsentiert Heide von Felden es an jener Stelle ihrer Arbeit, an der sie die theoretischen Zusammen-

38 An späterer Stelle formuliert von Felden andere Fragen: »Wie setzen sie [die Interviewpartnerinnen; T.F.] sich mit geschlechtstypischen und geschlechtsbedingten Zuschreibungen auseinander? Wie rezipieren sie das Studium? Welche Lern- und Bildungsprozesse liegen vor? Welche Zusammenhänge zwischen Geschlechterkonstruktionen und Lern- und Bildungsprozessen lassen sich ermitteln?« (von Felden 2003: 145)

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hänge zwischen Bildung und Geschlecht thematisiert. »Geschlecht in seiner kulturellen Konstruierbarkeit zu betrachten und Bildung als Form kultureller Konstruktionen« (ebd.: 121), bedeutet für sie dann der Frage nachzugehen, wie Menschen sich mit Inhalten und Formen kultureller Konstruktionen auseinandersetzen. Dabei wirkt Geschlecht »als strukturierendes Element bei der Wirklichkeitskonstruktion und kann nicht additiv hinzugefügt werden in dem Sinne, dass man erst Mensch und dann Mann oder Frau ist« (ebd.: 247). Auf diese Weise leitet sie auf die bevorstehende empirische Untersuchung hin. Dem Zusammenhang von Theorie und Empirie geht sie dann aber nicht anhand der Denk- und Analysemittel der Kritischen Theorie nach, was man angesichts der bislang vollzogenen Abwägungen womöglich erwarten könnte. Stattdessen richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf die Qualitative Forschung. Und hier ist es im Besonderen das Konzept der Biographieforschung, das ihr geeignet scheint, um ›Bildung‹ und Geschlecht auch auf empirischer Ebene zusammenzubringen. Dabei erlaubt ihr die Biographieforschung, Deutungshorizonte der Akteure und gesellschaftliche Strukturen zusammen zu denken sowie »die Interpretationen von Menschen mithilfe bestimmter Auswertungsprozeduren als Konstruktionen zu fassen und so gesellschaftlich wirkende Normen am individuellen Fall zu rekonstruieren« (ebd.: 119). Denn erst – so das Argument für diesen Zusammenhang zwischen Subjekt und Struktur – »in den Interpretationen der Akteure lassen sich Konstruktionen von Gesellschaft finden, die wiederum durch Analyse auf gesellschaftliche Strukturen schließen lassen« (ebd.: 126). Dazu arbeitet sie mit biographischem Material, stellt das Subjekt und seine Handlungen in den Mittelpunkt und interessiert sich dafür, wie Subjekte Wirklichkeit wahrnehmen und erleben. Nicht zuletzt deshalb plädiert Heide von Felden für eine biographische Bildungsforschung, in der die Perspektive auf Menschen und ihr Geschlechterverhältnis angelegt wird.39 Vorschläge von Fritz Schütze zur Auswertung narrativautobiographischer Interviews, Anregungen Winfried Marotzkis zur empirischen Untersuchung von Bildungsprozessen und Ideen Bettina Dausiens zur Analyse von Geschlechtskonstruktionen im Rahmen qualitativ-empirischer Studien bilden dabei die methodische Ausgangsbasis. Letztere sind für den Ansatz von Feldens insofern besonders bedeutsam, als sie eine Unterscheidung dahingehend ermöglichen, in welcher Weise die Interviewpartnerinnen Geschlecht selbst thematisieren und in welcher Weise Geschlecht als Verbindung zu geschlechtstypischen Zuschreibungen bzw. geschlechtsbedingten Normierungen aus dem Mate-

39 Siehe zum Programm einer solchen geschlechterbezogenen Biographieforschung insbesondere auch Kraul 2006: 493f.

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rial interpretierbar ist (vgl. ebd.: 147). Auf diese Weise kann von Felden im empirischen Material, den Interviewtranskripten, zwei Ebenen sondieren; nämliche jene, in der Geschlecht explizit angesprochen ist und eine andere, in der Geschlecht eher implizit aus dem Zusammenhang interpretiert werden kann. Dazu legt sie ausgewählte Kategorien, nämlich jene geschlechtstypische Zuschreibungen und geschlechtsbedingte Normierungen, an das empirische Material an und versucht, es auf diese Weise zu ›öffnen‹. Hier geht es ihr dann aber auch darum, Wandlungsprozesse i.S. der Aufstellung von lebensablaufsbezogenen Prozessstrukturen Schützes zu lokalisieren und zu prüfen, wie die Studentinnen neue Inhalte auf biographischer Ebene aufnehmen und in vorhandene Strukturen integrieren (vgl. ebd.: 150f.). Insofern kommt es – wie auch schon bei Marotzki – zu einer Differenzierung von Bildung und Lernen. Während ›Bildung‹ dann die Veränderung des Selbst- und Weltverhältnisses meint und als Reflexionsmodus wirkt, der binäre Strukturen überwindet, Möglichkeitsformen erprobt und das Nichtidentische wirksam werden lässt, geht es beim Lernen um die Frage, wie neue Inhalte in eine vorhandene Struktur aufgenommen werden und wie sich dieser Prozess im biographischen Material abzeichnet. Das versucht von Felden zu klären, indem sie drei Eckfälle darstellt, an denen sich exemplarisch die Verbindung von Geschlechtskonstruktion und Lernbzw. Bildungsprozessen auf empirischer Ebene zeigen soll. Diese drei Fälle stehen in einer aufsteigenden Linie, da zuerst eine Bildungsresistenz, dann eine ambivalente Haltung und schließlich eine Öffnung für Bildungsprozesse illustriert wird. Im ersten Fall, der die Überschrift »Dazu gehören« trägt, tritt bei der Protagonistin Christiane Reimann – freilich ein fiktiver Name – eine Resistenz gegenüber Bildungsprozessen auf. Sie spricht in ihrer autobiographischen Erzählung wiederholt an, dass sie sich in ihrem bisherigen Leben immer benachteiligt gefühlt habe. Das fängt schon in ihrer Kindheit an, die nicht nur von einer prekären finanziellen Situation der Familie geprägt war, sondern auch von einer Abwehr gegen ihre Brüder. So entwickelte Frau Reimann schon in ihren Kinder- und Jugendjahren eine Haltung, andere, insbesondere Jungen und Männer, grundsätzlich abzuwehren (vgl. von Felden 2003: 156). Diese Verteidigungshaltung konnotiert sie mit ihrem Geschlecht, indem sie darüber spricht, wie sie den Umgang mit Jungen vermieden habe, als älteste Tochter der Mutter im Haushalt helfen musste, kein Abitur machen durfte und beruflich keine Karriere machen konnte. In der Erzählung ihrer Lebensereignisse überwiegt so die Klage darüber, kaum Möglichkeiten für eine ungebundene Entwicklung erfahren zu haben. »Dabei entwickelt sie ein Selbstbild, das sie als allein dastehend und im Kampf gegen die anderen zeigt« (ebd.: 159). Zugleich konstruiert sie Gegensätze zwischen

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sich und den anderen, zwischen männlich und weiblich, und vor allem auch zwischen Familie und Beruf. Denn die strikte Trennung zweier Welten und das Gefühl des ›Abgeschnittenseins‹ tritt zu jener Lebensphase besonders stark hervor, in der sie den beruflichen Posten einer Direktionssekretärin, den sie in den Jahren nach ihrem Realschulabschluss erlangen konnte, zu Gunsten der Kindererziehung und ›Familienarbeit‹ aufgeben muss. Die Zeit, in der sie ihre Kinder bekommen hat und für die Familie als Mutter sorgte, schildert Frau Reimann daher als eine Zeit, in der sie eigentlich nicht bewusst gelebt habe. »Immer wieder konfrontiert sie Familie mit Beruf, indem sie entweder darstellt, wie sie langsam darauf kommt. Dass die Karriere ihres Mannes sie neidisch gemacht hat oder indem sie selbst versucht, berufstätig zu sein. Eigentlich wollte sie ihre eigene berufliche Karriere fortsetzen und fühlte sich durch die Verunmöglichung ›abgeschnitten‹, dann versuchte sie, an der ihres Mannes teilzunehmen, merkte aber, dass es nicht mit ihr zu tun habe. Durch die Gegenüberstellung von Familie und Beruf hatte sie das Gefühl, in einer Situation zu sein, die sie nicht wollte, die sie unzufrieden machte und in der sie zunehmend verrückt wurde.« (Ebd.: 164)

Ausgelöst durch eine Krankheit, in deren Folge sie eine Kur besucht und therapeutische Beratungen erhält, nimmt sie dann aber ihre Unzufriedenheit ernst und setzt sich mit ihren persönlichen Wünschen auseinander. Es setzen Lernprozesse und Veränderungen in ihrem Leben ein. So erfolgt die Kündigung ihrer Teilzeitstelle, der Umzug in eine neue Wohnung und das Verlassen des sozialen Raums, in dem sie bereits seit ihren Kindheitstagen wohnte. Auf einer Frauenmesse wird sie zudem auf das Studium für Frauen aufmerksam, welches sie entscheidungsfreudig zu ihrer Zukunftsperspektive wählt. Dieses Studium sieht sie als den Übergang zu ihrem ›wirklichen Leben‹, einer erfüllten hauptamtlichen Berufstätigkeit, und so liegt gemäß ihrer autobiographischen Thematisierung der Kern ihres Lebens noch vor ihr. Diese Auffassung sorgt bei Frau Reimann allerdings auch dafür, dass Lern- und Bildungsprozessen im Erzählvorgang wenig Raum gegeben wird. Häufig spricht sie davon, bestimmte Inhalte immer schon gewusst oder gekannt zu haben (vgl. ebd.: 181). Auch dem Studium räumt sie wenig Einfluss auf ihre Denkweise ein. Indem sie »sehr bemüht ist, alles bereits zu wissen, verbleibt sie nachhaltig in ihren Wirklichkeitskonstruktionen« (ebd.: 182). Ein Bildungsprozess kommt nicht in Gang. Im zweiten Fall – überschrieben mit »Innere Zerrissenheit« – sieht das bereits ein wenig anders aus. Hier zeichnet sich bei der Studentin Ute Brandes ein beginnender Bildungsprozess ab, sodass sie eingefahrene lebensgeschichtliche Erfahrungen z.T. revidieren kann. In ihrem Elternhaus ist sie nämlich mit der Er-

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fahrung groß geworden, dass ihr Vater im Haus für die existenzielle Sicherheit, den Zusammenhalt der Familie und die gesellschaftliche Anerkennung unentbehrlich ist. Die Mutter und die Großmutter hingegen konnten ihrerseits nicht für Sicherheit sorgen und den Kindern auch keinen Schutz bieten. Demzufolge konnte sie nur wenig Zutrauen in die Fähigkeiten ihrer weiblichen Bezugspersonen entwickeln (vgl. ebd.: 211). Diese Erfahrungen haben ihr Bild von Männern und Frauen mitgeprägt und waren lange auch in ihrer eignen Ehe wirksam, in der sie die Rolle der Hausfrau übernommen hat. Allmählich wird ihr hier die geringe gesellschaftliche Anerkennung der Familientätigkeit aber bewusst. Sie fühlt sich unterfordert und ist unzufrieden, da sie für sich keine Zukunftsperspektiven sieht. Zur Veränderung der Situation wählt sie Beratungs- und Bildungsangebote – so kommt sie zu den Frauenstudien. Die Beschäftigung mit den Inhalten der Frauenstudien führt – so Frau Brandes in ihrer Erzählung – sie dann zu einem spezifischen Erkenntnisprozess: Das Studium habe sie nämlich mit der Situation konfrontiert, nicht allein für die Familie da zu sein, sondern auch Ziele für das eigene Leben zu formulieren (vgl. ebd.: 190). Gegenwärtig stehe sie daher auch vor der Entscheidung, sich von ihrem Mann zu trennen, weil die unterschiedlichen Maßstäbe, die sie und ihr Mann nun an Formen des Zusammenlebens anlegen, nicht mehr zueinander passen. Diese Aussage interpretiert Heide von Felden als implizites Anzeichen für eine Veränderung der Weltsicht von Frau Brandes – und damit für einen beginnenden Bildungsprozess: »So wirft das Interview ein Schlaglicht auf einen Transformationsprozess, der durch die Veränderung des Weltbildes bei Ute Brandes in Gang gesetzt wurde und eigentlich die Veränderung ihres Selbstbildes nach sich ziehen müsste, wenn sie ihren Interessen und emotionalen Verortungen nachgeben würde. […] Erfolg im Studium und eine berufliche Tätigkeit würden ihre Selbstsicht in Richtung zunehmender Sicherheit und Selbstvertrauen vermutlich verändern. Insofern beeinflusst ihr Lebenszusammenhang, der mit geschlechtstypischen Zuschreibungen an sie zusammenhängt, wesentlich ihr Selbstbild und ihre Lernund Bildungsprozesse.« (Ebd.: 214)

Bei Petra Kuhn, dem dritten und letzten Fall, lässt sich – im Gegensatz zu Frau Reimann und Frau Brandes – ein eindeutiger Wandlungs- und Bildungsprozess herausarbeiten; Heide von Felden (2003: 153) spricht sogar von »nachweisen«. Dieser Prozess begann bei Frau Kuhn im Alter von 22 Jahren, nachdem ihre Beziehung zu einer verheirateten Frau scheiterte. Nach dieser Situation vertraute sie sich der älteren Schwester an und sprach über ihre Homosexualität, die sie – obwohl ihr bereits seit dem 18. Lebensjahr bewusst – bis dato immer verschwieg und verheimlichte. Weil Petra Kuhn nun in Bezug auf ihr ›Lesbisch-sein‹ offener

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wurde, erblickt Heide von Felden hier den Beginn eines Wandlungsprozesses, der über das Studium seinen Kulminationspunkt findet. Bis zum Ergreifen des Studiums sollte es aber noch mehrere Jahre dauern. Dazwischen liegen der Kauf des Elternhauses, der eine wichtige Auseinandersetzung mit ihren Eltern bewirkt, und Weiterbildungen, die zu einem beruflichen Aufstieg als Stations- und Pflegedienstleitung führen (vgl. ebd.: 220ff.). Der Beweggrund, sich den Frauenstudien zu widmen, lag für Frau Kuhn dann darin »andere lesbische Frauen zu treffen und sich über die Themen Frausein in dieser Gesellschaft« (ebd.: 225) auszutauschen. Zwar wird diese Erwartung nicht gänzlich erfüllt, weil die meisten Kommilitoninnen verheiratete Frauen mit Kindern waren und auch im Studium gewisse Tabuthemen bestanden; aber es gelingt ihr, über die Frauenstudien Kontakt zu Christopher-Street-Day-Gruppen und speziellen Bildungsvereinen für Lesben zu knüpfen. Auf diese Weise setzt sie den in ihrer biographischen Entwicklung begonnenen Bildungsprozess im Studium fort. So wird sie darin bestätigt, sich nicht zu verleugnen, als Frau selbstständig zu sein und sich etwas zuzutrauen; was sogar in dem Wunsch gipfelt, in einigen Jahren das Amt der ›Lesbenbeauftragten‹ ihrer Heimatstadt auszuüben. Für den Fall von Petra Kuhn liegt damit folgendes Resultat vor: »Ihr Bildungsprozess begann mit der Veränderung ihrer Selbst- und Weltsicht durch die berufliche Laufbahn und die Handlungserfahrungen als Hausbesitzerin und setzte sich durch positive Erfahrungen in verschiedenen anderen sozialen Räumen fort. Bildungszusammenhänge unterstützten sie also darin, zu sich zu stehen und ihr ›Anderssein‹ selbstbewusst zu zeigen.« (Ebd.: 237)

Anhand dieser drei Frauenbiographien demonstriert Heide von Felden also, wie Geschlechtskonstruktionen und Bildungsprozesse ineinander verwoben sind. Denn in allen Fällen zeigt sich – so ihr Votum in einer Schlussbetrachtung, in der sie Bausteine einer Bildungstheorie zu entwickeln versucht, die Biographie und Geschlecht integrieren – der Zusammenhang zwischen geschlechtsbedingten bzw. -typischen Zuschreibungen und Erfahrungsverkettungen, die je nach Situation und Struktur des Selbstbildes Lern- und/oder Bildungsprozesse beinhalten. Zugleich macht von Felden damit den engen Zusammenhang zwischen der Biographie und der Rezeption des Studiums deutlich.40 Im Mittelpunkt der generier-

40 Siehe dazu v.a. auch von Felden 2002b. Marotzki/Nohl/Ortlepp (2007: 120) schreiben auf die Studie von Feldens rekurrierend: Heide von Felden »kommt zu dem Resultat, dass das Studium für die Frauen in unterschiedlicher Weise Optionen eröffnet. Teils sind es gleichsam Therapieerwartungen. Das bedeutet, dass vom Studium eine grund-

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ten ›Bildungstheorie-Bausteine‹ stehen aber Bestimmungen, nach denen ›Bildung‹ elementare Bedürfnisse von Individuen nach Anerkennung in gesellschaftlichen Kontexten ermöglicht, Haltungen aufbaut bzw. unterstützt und Denkräume für Differenzierungen eröffnet. Das macht sie daran fest, dass alle Interviewpartnerinnen auf die Notwendigkeit gesellschaftlicher Anerkennung abheben, um ihr Selbstbild zu stärken und aktiv werden zu können. Geschlechtstypische Zuschreibungen und -bedingte Normierungen wirken dagegen in allen drei Fällen als Einengung von Autonomie- und Handlungspotenzial. In diesem Zusammenhang ist für Heide von Felden durch die empirischen Rekonstruktionen daher auch deutlich geworden, »dass der Aufbau handlungsschematischer Strukturen eine wichtige Voraussetzung für eine Veränderung von Selbst- und Weltbild darstellt und insofern Bildungsprozesse offenbar stark mit dieser Prozessstruktur verbunden sind« (ebd.: 241). Diese Einsicht ist nun im Vergleich zu Marotzkis Ansatz ein wichtiges ergänzendes Faktum. Denn zwar weist auch Heide von Felden darauf hin, dass biographische Wandlungsprozesse als Bildungsprozesse zu verstehen sind. In ihrem Ansatz werden Handlungsschemata aber nun als Bedingung der Möglichkeit dieser Wandlungs- bzw. Bildungsprozesse ausgewiesen – oder in ihren Worten: »Wenn gesellschaftliche, geschlechtstypische Zuschreibungen also mit elementaren Bedürfnissen gesellschaftlicher Anerkennung kollidieren, kommt es zu Auseinandersetzungen, die auf verschiedene Weise Veränderungen nach sich ziehen können. Dazu gehören Versuche, andere soziale Räume zu konstruieren oder zu finden, die eine Veränderung ermöglichen oder das eigene Selbstbild zu verändern, um anders mit den Konflikten umgehen zu können. Die Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung, z.B. im alternativen gesellschaftlichen Umfeld oder durch den Versuch, eine Berufstätigkeit aufzunehmen, um einem herrschenden gesellschaftlichen Maßstab zu entsprechen, kann als Motor von Veränderungsprozessen gelten. Gleichzeitig geht es in allen Interviews darum, eigene Kompetenzen zu erweitern und den Eigenwert zu stärken oder zu akzeptieren.« (Ebd.: 243f.)

Wie aber können nun Lern- und Bildungsprozesse initiiert werden, die diesen Einsichten gerecht werden und den Einfluss von Geschlecht mitreflektieren? Das

legende Neuorientierung erwartet wird, so dass dadurch die eigene Lebensgeschichte als zerrüttet empfundene Biographie wieder in Ordnung gebracht werden kann. Häufig sind es Erwartungen, die sich auf persönliche Weiterentwicklungsmöglichkeiten richten. Und teils sind es Professionalisierungserwartungen. Das bedeutet, dass die universitären Angebote nur insofern Einfluss auf die Biographisierungsprozesse gewinnen, als durch das Studium das fachliche Selbstverständnis gefestigt werden soll.«

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ist eine Frage, auf die Heide von Felden mit ihrer Arbeit keine Antwort zu geben vermag. Sie will vielmehr und viel deutlicher auf grundlagentheoretischer und empirischer Basis den Zusammenhang von geschlechtstypischen bzw. -bedingten Erwartungen und ›Bildung‹ aufgezeigt haben; nicht aber Interventionsmöglichkeiten auf dem Gebiet pädagogischer Praxis illustrieren. Auf diese Weise öffnet sie das Feld für weitere Bearbeitungen zum Themenbereich ›Bildung und Geschlecht‹. (b) Analyse und Kritik Die Arbeit Heide von Feldens hat im erziehungswissenschaftlichen Diskussionszusammenhang bleibenden Eindruck hinterlassen. Zu diesem Urteil muss man wohl kommen, wenn man die Anzahl ihrer Rezensionen41 und die Summe der Verweise auf sie in den Blick nimmt. Umso mehr verwundert es deshalb, dass Lothar Wigger ihr im Rahmen seiner Analysen zur Vermittlungsstrategie der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung keine Beachtung schenkt; zumal sie zu jenem Zeitpunkt, als er seinen ersten kritischen Beitrag verfasste, bereits seit einem Jahr publiziert war. Dass es dringend angebracht sein dürfte, die Arbeit Heide von Feldens bei einer Analyse der Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung durch die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung ebenfalls im Blick zu haben, wird jedoch schon durch deren Anlage und Gestalt, welche in den vorangehenden Ausführungen dargestellt und rekonstruiert wurden, deutlich. Augenscheinlich wird die Dringlichkeit, sie zu den bislang in Betracht gezogenen Ansätzen von Marotzki und Koller zu gesellen, dann auch durch einen 2006 publizierten Beitrag, in dem Heide von Felden die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung expressiv verbis als qualitative Bildungsforschung ausweisen möchte; also als eine Variante der Bildungsforschung, die mittels qualitativer Verfahren Bildungstheorie und Empirie miteinander vermittelt (vgl. von Felden 2006: insbes. 58f.).42 Insofern rechtfertigt dies es, die Arbeit »Bildung und Geschlecht zwischen Moderne und Postmoderne« (von Felden 2003) an dieser Stelle nun genauer zu betrachten und ihr der glei-

41 Vgl. Messerschmidt 2004, Schell-Kiel 2004, Große 2004, Bönold 2005. 42 Im Übrigen wird das auch durch Vorträge, die von Felden im Zeitraum zwischen 1998 und 2003 gehalten hat, sehr deutlich. Diese Vorträge tragen Titel wie »Bildung und Biographie. Zur Untersuchung von Lern- und Bildungsprozessen in biographischem Material« (Oldenburg 1998), »Zur Rekonstruktion biographischer Lern- und Bildungsprozesse« (Berlin 1999), »Biographische Lern- und Bildungsprozesse zwischen Moderne und Postmoderne« (Koblenz 1999) oder »Der Bildungsbegriff und seine empirische Untersuchung im Rahmen der Biographieforschung« (Bochum 2002).

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chen Prozedur auszusetzen, die sich zuvor schon die Arbeiten Marotzkis und Kollers ›gefallen‹ lassen mussten. Heide von Felden geht es in ihrer Arbeit um die Verknüpfung von Bildungs-, Biographie- und Genderforschung. Das geschieht nach dem theoretischen Abstecken der ihr wichtigen Begriffe, nämlich ›Bildung‹ einerseits und Geschlecht andererseits, in der empirischen Perspektive der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung, in welcher drei Frauenbiographien ausführlich dargestellt werden. Auf diese Weise versucht sie, Theorie und Empirie zusammenzubringen. Genau das ist ihr auch ein großes Anliegen, da sie davon ausgeht, dass – inzwischen womöglich noch mehr als früher – »die Verbindung von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung unverzichtbar« (ebd.: 54) ist. Traditionell müsse man das Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung nämlich als belastet ansehen, und die Bezüge von empirischen Analysen und bildungstheoretischen Untersuchungen seien demzufolge auch recht spärlich. Neuere Ansätze der qualitativ-empirischen Bildungsforschung zeigten dann allerdings doch deutliche Bemühungen – so schreibt es von Felden (2003: 18) in ihren kurzen Bemerkungen zum Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung – »Zusammenhänge zwischen Theorie und Empirie des Bildungsbegriffs fruchtbar zu machen«. Die beiden Ansätze bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung von Marotzki und Koller sind ihr für eine Vermittlung der beiden ›Wissensformen‹ ebenso eindrucksvolle Beispiele wie der grundsätzlich soziologische Ansatz Peter Alheits, der zwar keine Unterscheidung zwischen Lernen und ›Bildung‹ treffe, dafür aber den Zusammenhang von Struktur und Subjekt am deutlichsten herausarbeite (vgl. ebd.: 76ff.). In diese Riege will sie mit »Bildung und Geschlecht zwischen Moderne und Postmoderne« hinzustoßen und ebenfalls einen entschiedenen Beitrag zur Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung leisten. Mängel, Schwierigkeiten und Inkonsistenzen sind indes auch bei der Arbeit Heide von Feldens festzustellen.43 Das betonen nicht nur einige der genannten

43 Beim aufmerksamen Lesen fallen z.B. einige falsche Bezeichnungen und Namenschreibungen auf: So wird der Mainzer Pädagoge Theodor Ballauff auf Seite 31 der Arbeit »Ballauf«, also mit einem ›f‹, geschrieben. Heide von Felden spricht von »Leibnitz« (von Felden 2003: 26) und meint den Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz; sie zitiert den zuletzt an der Universität der Bundeswehr Hamburg lehrenden Alfred K. Treml, dessen zweiter Vorname – nach seinem Vater – Karl ist, schreibt im Literaturverzeichnis auf Seite 272 allerdings »Alfred A. Treml«. Darüber hinaus gibt es aber nicht nur falsche Schreiweisen dieser Art, sondern auch manche inhaltliche Fehler. Marotzkis Ansatz etwa wird als »soziologische Biographieforschung« (ebd.:

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Rezensionen, die im Folgenden zur Sprache kommen. Es zeigt sich auch bei einer werkimmanenten Überprüfung ihrer Vermittlungsambition. Auf diese Weise treten dann einige Problemstellen hervor, die letztlich dazu führen, dass auch ihr Anspruch, eine Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung zu realisieren, nicht unmittelbar überzeugt. Er überzeugt hier vor allem deshalb nicht, da Heide von Felden auf das Bildungsverständnis bezogen eine eindeutige Trennung einführt und diese auch durchweg aufrechterhält. Theoretisch betrachtet versteht sie ›Bildung‹ nämlich als vierfach ausgeprägtes Gebilde – als Denkform, als Kulturaneignung, als Vergesellschaftung sowie als Norm und Kritik. Empirisch betrachtet versteht sie ›Bildung‹ dagegen als spezifische Veränderung des Selbst- und Weltverhältnisses, womit sie sich explizit auf den Vorschlag Marotzkis bezieht: »Bildung auf der erkenntnistheoretischen Ebene thematisiert beispielsweise Denkformen der Moderne und Postmoderne, Denkformen der Identifizierung und der Differenz, fragt danach, wie Gesellschaft heute erkenntnistheoretisch erfasst werden könne, diskutiert über einen Utopiegehalt und antizipiert Neues. Bildung auf der empirischen Ebene analysiert vorliegende Bildungsprozesse, fragt nach Wirklichkeitswahrnehmungen konkreter Menschen und interpretiert die Veränderungen ihrer Welt- und Selbstsicht vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Verhältnisse.« (Ebd.: 79)

Die Einführung und Aufrechterhaltung einer solchen Differenz zwischen dem theoretischen und empirischen Verständnis von ›Bildung‹, die sich in den Fallanalysen auch und gerade daran zeigt, dass ›Denkform‹, ›Kulturaneignung‹, ›Vergesellschaftung‹, ›Norm und Kritik‹ bloß als implizite Kategorien zur Erschließung des Materials dienen, nicht aber systematisch als Raster fungieren, macht den Vermittlungsanspruch daher fragwürdig. Denn mittels dieser Vorgehensweise wird theoretisch ein Verständnis von ›Bildung‹ entwickelt, das in der empirischen Arbeit dann gar nicht mehr zentral zur Disposition steht. Wie aber soll dann berechtigterweise von einer Vermittlung die Rede sein? Auf einen solchen Bruch zwischen dem theoretischen und dem empirischen Teil der Arbeit wird auch in manchen der genannten Rezensionen verwiesen. So

18) bezeichnet, obwohl sich Marotzki mit seinem Ansatz – wie er in seinem Aufsatz »Bildungsprozesse in lebensgeschichtlichen Horizonten« (1991b) darlegt – explizit von einer soziologischen Variante der Biographieforschung unterschieden wissen will. Dietrich Benner, von Hause aus der pädagogischen Praxeologie verschrieben und ein Schüler von Josef Derbolav, wird in die Riege von Vertretern der Kritischen Erziehungswissenschaft eingereiht (vgl. von Felden 2003: 17).

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betont Astrid Messerschmidt (2004) beispielsweise, dass Heide von Felden in ihrem theoretischen Teil auf sehr nachvollziehbare Weise aufzeige, wie sie an referierte Positionen anknüpfe oder sich von ihnen unterscheide, wie sie deren Potenziale herausarbeite, sie vergleiche, sich selbst dazu in Beziehung setze, um auf diese Weise eine »Landschaft bildungstheoretischer Suchprozesse« (ebd.) hervortreten zu lassen. Auf den – mittels dieses sorgfältigen Prinzips der Positionierung – erarbeiteten Korpus greife der empirische Teil der Arbeit dann aber nur in begrenztem Maße zurück; er reduziere und konzentriere sich auf andere Aspekte. Insofern macht der empirische Teil für Astrid Messerschmidt einige der erarbeiteten Differenzierungen nicht mit. Das gelte für das entfaltete Bildungsverständnis ebenso wie auch für die Unterscheidung zwischen modernen und postmodernen Theoriediskursen, die Heide von Felden im ersten Teil gleichsam sorgsam und feinfühlig erarbeite, im zweiten, empirischen Teil jedoch nicht einfließen lasse. Fritjof Bönold (2005), der eine knappe Rezension im ersten Band des 2005er »Jahrbuchs der Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft« vorgelegt hat, stimmt diesem Kritikpunkt zu; und zwar insofern, als er feststellt, dass die Herausarbeitung einer vierfachen Dimensionierung von Bildung gegenüber den diskutierten Schriften recht unklar bleibe (vgl. ebd.: 174). Analysefiguren und ›Schablonen‹, die Heide von Felden an das empirische Material anlege oder unter denen sie es untersuche, diskutiere sie nicht explizit. Genau darin läge aber die erste zu klärende Schwierigkeit eines Verfahrens, das Bildungstheorie und Bildungsforschung miteinander verbinden möchte (vgl. ebd.: 175). Fragwürdig wird die proklamierte Verbindung von Bildungstheorie und Bildungsforschung aber auch dann, wenn relativ unerwartet eine Unterscheidung ins Spiel gebracht wird, die in dem bis dahin verfolgten Argumentationsgang um ›Bildung‹ und Geschlecht an keiner Stelle behandelt wird, nämlich diejenige zwischen ›Bildung‹ und Lernen. Für die empirische Arbeit an den Interviews ist diese Differenzierung dann – eben da sie grundlagenbezogen kaum bearbeitet wird – auch wenig hilfreich. Das stellt v.a. Große (2004) fest, wenn sie aussagt, dass »die Unterscheidung zwischen Lern- und Bildungsprozessen […] auf einer zu abstrakten Ebene« bleibe, vor allen Dingen deshalb, weil keine Kategorien angegeben werden, an denen die Unterscheidung zwischen Lern- und Bildungsprozessen tatsächlich festgemacht und nachvollzogen werden könne. ›Bildung‹ wird gemäß dem allgemeinen Verständnis fundamentaler und tiefgreifender verstanden; das wird zwar deutlich. So schreibt von Felden die Befunde aus den empirischen Analysen retrospektiv betrachtend, dass ›Bildung‹ »als Entwicklung von Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung, Kompetenzerweiterung und Handlungsfähigkeit« (von Felden 2003: 250) zu verstehen sei. Mit dieser Umschrei-

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bung knüpft sie gewissermaßen nahtlos an Marotzkis Verständnis von ›Bildung‹ an, wenngleich sie es nicht wie dieser über eine ausführliche Besprechung der Batesonschen Gedanken entwickelt. Auch beim Lernen rekurriert sie auf Marotzkis Verständnis und dessen Differenzierung; faktisch schlägt sie allerdings einen anderen Weg ein. Marotzki spricht nämlich davon, dass bei Lernprozessen gerade die Weltreferenz eine Veränderung erfahre. Von Felden aber geht davon aus, dass es beim Lernen »nicht um Veränderungen von Weltanschauungen, sondern um die Verknüpfung von neuen mit vorhandenen Inhalten und einer teilweisen Veränderung oder Modifikation« (ebd.: 148) gehe. Damit gibt sie dem Lernen eindeutig eine andere Bedeutung als Marotzki. Eine ›greifbare‹ Unterscheidung zwischen Lern- und Bildungsprozessen kann durch sie allerdings nicht erfolgen. Denn die Beantwortung der Frage, ob es sich in einem konkreten Fall um einen Lern- oder vielmehr um einen Bildungsprozess handelt, könnte über die Angabe inhaltsbezogener Kategorien deutlich nachvollziehbarer werden. Solche inhaltsbezogenen Kategorien werden aber von Heide von Felden nicht vorgelegt. Stattdessen konzentriert sie sich auf den formalen Wandel einer Subjektkonstitution, so wie er – und hier treffen die Wege wieder aufeinander – auch bei Marotzki im Vordergrund des analytischen Interesses steht. Dort, also in der Arbeit Marotzkis, befreit sich die Interviewte von einem auferlegten biographischen Entwurf, der von ihren Eltern ›vorgelebt‹ wird, und gestaltet ihr Leben – über die biographischen Zentren ›Kreativität/Schreiben‹ und ›Tochter‹ – zunehmend in Eigenregie. Hier, d.h. in der Arbeit von Feldens, gelingt es jener Frau, die einen Bildungsprozess durchläuft, auf ähnliche Weise von Abhängigkeiten loszukommen und sich selbst als lesbische Frau zu finden. Deshalb lässt sich sagen, dass auch in diesem Ansatz einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung inhaltliche Dimensionen und gegenstandsspezifische Topoi – also das, was Lothar Wigger in den Ansätzen von Marotzki und Koller vermisst – zu kurz kommen. Dass Heide von Felden es aber nicht nur versäumt, inhaltliche Kriterien anzugeben, wenn es um ›Bildung‹, Lernen und die Unterscheidung von Lern- und Bildungsprozessen geht, sondern auch in der empirischen Analyse der Geschlechtskonstruktionen nicht kategorienbezogen arbeitet, ist eine zusätzliche Schwierigkeit, die ihrem Ansatz immanent ist und zudem den Nachvollzug ihrer Fallstudien nicht immer ganz leicht macht. Denn was etwa jene angekündigten geschlechtstypischen Zuschreibungen und geschlechtsbedingten Normierungen sind, die sie als Kategorien an das Material ›anlegt‹, wird nicht expliziert. Weil also sowohl in Bezug auf die empirische Rekonstruktion von Bildungsprozessen als auch in Bezug auf Geschlechtskonstruktionen ein Mangel an expliziten inhaltlichen Kategorien festzustellen ist bzw. diese vom theoretischen

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Teil der Arbeit nicht in den empirischen Teil ›hinübergenommen‹ werden, bleiben die Interpretationen der empirischen Fallstudien hinter ihren Möglichkeiten zurück. Das zeigt sich relativ deutlich im Abschlusskapitel der Arbeit, in dem Heide von Felden – so schreibt es wiederum Bönold (2005: 175) in seiner Rezension – »eher Allgemeinplätze« anböte denn theoretisch fruchtbar die Ergebnisse der anschaulich geschilderten Fälle für die Bildungstheorie darstelle. Die Erkenntnisse zu Bausteinen einer Bildungstheorie, die Biographie und Geschlecht integrieren, enttäuschen ihn daher sogar, obgleich sie – und das kann als besondere Leistung der Arbeit von Feldens gelten – doch deutlich machen, welche Bedeutung die Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung bei den Frauen für die Konstitution eines Bildungsprozesses haben kann. Mit diesem Befund erfüllt Heide von Felden sogar auch die von Stojanov (2006a und 2006b) unterbreitete Forderung, durch die Fokussierung auf die Praxis intersubjektiven Anerkennens die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung zu ergänzen. Insofern ist Stojanovs Forderung im Grunde genommen gar nicht so neu, sondern hat in der Konzeption von Feldens einen einschlägigen Vorläufer, wenngleich sie dazu nicht die anerkennungstheoretischen Schriften Axel Honneths konsultiert und über einen allgemeineren Begriff von Anerkennung verfügt. Indem sie aber aufzeigt, inwiefern in den Biographien der drei Frauen Formen gesellschaftlicher Anerkennung als Initiatoren und Stabilisatoren von Bildungsprozessen fungieren, macht sie genau das, was Krassimir Stojanov von einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung erwartet; nämlich den Blick darauf zu lenken, was Bildungsprozesse befördert und hemmt und inwiefern hierbei normative Setzungen und Erwartungen, die im Sozialen eingeschrieben sind und als kulturelle ›Prägungen‹ das Denken und Handeln von Menschen beeinflussen, Wirkungen zeigen. So heißt es bei ihr hierzu etwa: »Als einengend und einschränkend wirkten gesellschaftliche Zuschreibungen vor allem dann, wenn die Interviewpartnerinnen den Eindruck hatten, zu geringe gesellschaftliche Anerkennung zu bekommen, sich aus gesellschaftlichen Prozessen ausgeschlossen zu fühlen oder gesellschaftliche Normen nur unter massiven persönlichen Einbußen erfüllen zu können.« (von Felden 2003: 243)

Wenn Heide von Felden angesichts dieser und ähnlicher Befunde ihrer empirischen Studie also schlussfolgert, dass das Selbstbild der Frauen eng mit der Anhäufung verschiedener geschlechtsbedingter Erfahrungen verbunden ist und entscheidend von der Anerkennung durch andere Menschen sowie der Eingebundenheit in soziale Ordnungen abhängt, dann markiert sie eben solche Praktiken intersubjektiver Anerkennung.

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Fragt man nun danach, inwiefern die beiden Aspekte, die von Lothar Wigger im Zentrum seiner Kritik an den Konzeptionen bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung stehen, nämlich derjenige, der Defizite im Erfassen inhaltlicher Dimensionen von ›Bildung‹ erblickt und derjenige der eine mangelnde Berücksichtigung von Weltverhältnissen konstatiert, sich im Ansatz von Feldens verhalten, dann wird man in Anbetracht der vorgetragenen Ausführungen wohl zu folgenden Einschätzungen kommen: Auch in dieser Arbeit liegen kaum ausgearbeitete inhaltliche Indikatoren zur Spezifizierung von Bildungsprozessen im biographischen Kontext vor. Zwar werden zahlreiche Bestimmungen zu dem vorgelegt, was als ›Bildung‹ gelten kann – etwa wenn gesagt wird, ›Bildung‹ sei Denkform, Kulturaneignung, Vergesellschaftung, Norm und Kritik, Entwicklung von Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung, Kompetenzerweiterung, Zugewinn von Handlungsfähigkeit, Veränderung des Selbst- und Weltverhältnisses, Widerstand gegen Bestehendes, Entwicklung von Neuem usw. usf. –, aber diese Umschreibungen neigen in ihrer empirischen Arbeit insgesamt besehen eher dazu, nicht inhaltlich, sondern formal ausgelegt zu werden. Das zeigt sich in den empirischen Analysen der drei Frauenbiographien sehr deutlich. Denn hier liegt für Heide von Felden eben dann ein Bildungsprozess vor, wenn es zu elementaren Veränderungen des Selbst- und Weltverhältnisses kommt. Gerade am Fall ›Petra Kuhn‹, der im Rahmen der drei vorgestellten Biographien einen gleichsam ›makellosen‹ Bildungsprozess repräsentiert, wird diese Gleichsetzung von Wandlung und ›Bildung‹ offensichtlich. Transformationen sorgen dafür, dass ihr Selbstvertrauen gestärkt wird, sie zu mehr Selbstbestimmung gelangt und ihre Kompetenzen eine Erweiterung erfahren. Dabei scheint es in der Interpretation ihrer ›Bildungsgeschichte‹ nahezu egal zu sein, worauf sich die Veränderungen im Konkreten beziehen. Selbst der geäußerte Wunsch, Lesbenbeauftragte der Heimatstadt zu werden, wird zum spezifischen Modus des Bildungsprozesses von Frau Kuhn erklärt, wobei dieser ebenso gut als eine gleichsam ›utopisch-absurde‹ Überschätzung der eigenen Fähigkeiten deklariert werden könnte, die den Bildungsprozess prekär werden lässt. In Anbetracht dieses Befundes kann man daher sagen: Lag bei Kollers Ansatz die Problematik darin, dass auf Grund der an Lyotards Philosophie gewonnenen Kategorien Bildungsprozesse in den empirischen Analysen zu eng abgesteckt wurden, so liegt sie bei Heide von Feldens Konzeption darin, dass Bildungsprozesse in der empirischen Rekonstruktion zu weit und zu offen verstanden werden; eben weil die im ersten Teil entwickelten ›Bildungsfiguren‹ im empirischen Teil kaum zum Tragen kommen. Insofern liegen hier Probleme vor, die in ähnlicher Weise auch schon die Arbeit von Marotzki kennzeichneten. Es erfolgen Analysen, die demonstrieren, wie Frauen ›zu sich selbst‹ finden, in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt werden, ihre Identität

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entwickeln und ihre ›Persönlichkeit‹ verändern. Auf diese Weise präsentieren auch sie zuvörderst Aspekte, die das Selbstverhältnis der befragten Frauen betreffen. Gleichwohl lässt sich nicht sagen, dass sie ausschließlich Selbstverhältnisse bereithalten. Etwa wenn die Frauen deutlich machen, inwiefern sie mit Benachteiligungen auf Grund ihres Geschlechts konfrontiert waren oder beschreiben, welche Vorstellungen sie von einer erfüllten Partnerschaft haben, in der die Frau in keiner Abhängigkeitsrelation zum Mann steht und als gleichberechtigte Partnerin anerkannt wird, so lassen sich diese als ihre individuellen Weltverhältnisse verstehen. Und dennoch: Weil ›Bildung‹ letztlich dort ausgemacht wird, wo es im Kontext einer biographischen Organisation von Identität zu mehr Selbstbewusstsein, Kompetenz und Handlungsspielraum kommt, bleibt die Rekonstruktion individueller Weltverhältnisse bloß peripher. Ohne größere Probleme hätte Lothar Wigger daher auch anhand der Arbeit von Feldens seine Kritik am Zuschnitt der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung deutlich machen können.

2.4 D IE EMPIRISCHE R EKONSTRUKTION SPONTANER B ILDUNGSPROZESSE IN INDIVIDUELLEN UND KOLLEKTIVEN H ANDLUNGSPRAKTIKEN : DER ANSATZ VON ARND -M ICHAEL N OHL »Die vorliegende Habilitationsschrift knüpft an die erziehungswissenschaftliche Debatte um den Begriff der Bildung an. Sie ordnet sich dabei in die qualitative Bildungsforschung ein, die die empirische Rekonstruktion von Bildungsprozessen und deren theoretische Reflexion zueinander in ein reflexives Verhältnis zu bringen versucht.« (NOHL 2006D)

Auch Arnd-Michael Nohl möchte mit seiner biographisch ausgerichteten empirischen Untersuchung zu »Bildung und Spontaneität« (2006a), die 2004 in Magdeburg als Habilitationsschrift entstanden ist, bildungstheoretische Anknüpfungen erreichen und damit Bildungstheorie und Bildungsforschung aufeinander beziehen. Insofern schließt er mit seiner Studie unmittelbar an die von Marotzki, Koller und von Felden vorgelegten Arbeiten an. Anders als es jene mit ihren Arbei-

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ten zur bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung versuchen, möchte Nohl die wechselseitige Durchdringung von Bildungstheorie und Bildungsforschung jedoch auf der Basis einer pragmatistisch-rekonstruktiven Perspektive deutlich machen, die Bildungsprozesse in Auseinandersetzung mit der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung und dem Pragmatismus philosophischer Provenienz betrachtet (vgl. Nohl 2001 und 2003). Denn für Nohl ist der Pragmatismus für die methodologische Reflexion qualitativer Bildungsforschung bislang nur selektiv und implizit herangezogen worden, obwohl die ›Entdeckung‹ der biographietheoretisch relevanten Kategorie der Wandlung gewissermaßen durch John Deweys Pragmatismus beeinflusst sei. (a) Darstellung und Rekonstruktion Seine Untersuchung beginnt Arnd-Michael Nohl jedoch nicht mit diesem Votum. Stattdessen eröffnet er sie mit der These, dass aus spontanem Handeln ›Bildung‹ werden könne (vgl. Nohl 2006a: 7). Und genau genommen ist dem ›Beweis‹ dieser These auch die gesamte Arbeit Nohls gewidmet. Dabei spielt der Bezug auf den Pragmatismus Deweys allerdings eine wesentliche Rolle. Denn anhand von Deweys Pragmatismus könne – so Nohl – sowohl theoretisch als auch empirisch beschrieben werden, wie es aus einem spontanen Handeln heraus zu nachhaltigen und tiefgreifenden Wandlungen der Lebensgeschichte komme, die sich als Bildungsprozesse beschreiben ließen. Um zu demonstrieren, wie ›Bildung‹ und spontanes Handeln im Konkreten zusammenhängen und sich gegenseitig bedingen, knüpft Nohl zu Beginn seiner Arbeit an das Verständnis von transformatorischen44 Bildungsprozessen an, da er dieses Konzept als eine grundlagentheoretisch klare und empirisch fruchtbare Basis für die Rekonstruktion von Bildungsprozessen im Allgemeinen betrachtet. Schließlich werde hierbei einerseits mit der Thematisierung der Subjektwerdung an die bildungstheoretische Diskussion angeknüpft und andererseits ›Bildung‹ als eine empirisch bearbeitbare Kategorie verstanden, die in anderen Zusammenhängen qualitativer Bildungsforschung bereits breite Anwendung gefunden habe; vor allem etwa in den – wie sie von Nohl bezeichnet werden – reflexionstheoretisch argumentierenden Arbeiten von Marotzki und von Felden sowie der sprach- bzw. diskurstheoretisch verfahrenden Studie Kollers (vgl. ebd.: 13f.). Um die Frage zu beantworten, wie Subjektivierung durch die Transformation

44 Nohl spricht allerdings durchweg von transformativen Bildungsprozessen. Das von Kokemohr initiierte Programm, aus dessen Kontext die Arbeiten Marotzkis und Kollers entstanden sind, bezeichnet sich selbst als Theorie transformatorischer Bildungsprozesse (vgl. Koller/Marotzki/Sanders 2007; Koller 2010).

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von Lebensorientierungen theoretisch-begrifflich zu klären ist, verfolgt Nohl in seiner Arbeit jedoch einen handlungstheoretischen Zugang, der »biographische Sinngebung und Reflexion als integrale Bestandteile lebensgeschichtlichen Handelns« (ebd.: 16) rekonstruierbar zu machen beansprucht. Damit grenzt er sich von den genannten Arbeiten ab und rekurriert auf den Pragmatismus John Deweys, in dem Handeln tripolar beschrieben wird: Als Handlungsgewohnheit, als reflektiertes Handeln und als spontanes Handeln. Wenn Mensch und Welt sich in einer Passung befinden, dann liegt nach Dewey ein gewohnheitsmäßiges Handeln vor. Gerät nun aber diese Passung – wie auch immer – ›aus den Fugen‹, dann kann es entweder zu einem reflektierten Handeln kommen oder aber zu einem Handeln, das durch Spontaneität gekennzeichnet ist. Es ist innerhalb der pragmatistischen Handlungstheorie Deweys das spontane Handeln, auf das Nohl seine ganze Aufmerksamkeit richtet und das er durch eine intensive Auseinandersetzung mit John Deweys Schriften genauer zu erfassen versucht, um so jene gewünschten Referenzen zu generieren, mit denen Bildungsprozesse handlungstheoretisch erfasst und empirisch beschrieben werden können. Allerdings zögert Nohl die Erschließung der Schriften Deweys noch heraus. Denn zuerst gilt es ihm, das empirische Terrain, auf dem er sich bewegt, näher abzustecken und mit der avisierten Ausrichtung erste Orientierungen im Forschungsfeld zu gewinnen. Zur empirischen Untersuchung spontaner Bildungsprozesse – das sind für Nohl in Anbetracht des Gesagten Bildungsprozesse, die sich jenseits von Gewohnheit und Reflexion aus Handlungsvollzügen entfalten – betrachtet er narrativ-autobiographische Interviews, deren Fokus auf die Genese individueller sowie kollektiver Handlungspraktiken gerichtet ist. Dazu befragt er drei Jugendliche, drei ca. 35-jährige Erwachsene und drei Seniorinnen. Ausgewertet werden diese Interviews über die dokumentarische Methode nach Ralf Bohnsack (vgl. Nohl 2005 und 2006c). Deren komparatives Analyseverfahren soll dazu verhelfen, eine mehrdimensionale Typologie zu entwickeln, die eine Phasenabfolge spontaner Bildungsprozesse, eine lebensalterspezifische Dimension dieser Bildungsprozesse und – in Ansätzen – eine schulabschlussspezifische Dimension umfasst (vgl. Nohl 2006a: 23). Mit einer solchen Typik kann Nohl zufolge »eine bildungstheoretisch orientierte qualitative Forschung potentiell auf ein empirisches Generalisierungsniveau gelangen, das demjenigen der Bildungstheorien entspricht, ohne jedoch abstrakt (d.h. abgehoben von empirischer Erfahrung) zu werden« (ebd.: 24). Abstraktheit, die der Bildungstheorie notgedrungen inhärent sei, will Nohl tunlichst vermeiden. So entwickelt er seine »empirisch fundierte Theorie spontaner Bildungsprozesse« (ebd.: 30) daher auch durch ein wechselseitiges ›Festschnüren‹ von Theorie und Empirie. Ganz im Sinne der Vorgehensweise des »bootstrapping«, wie es Garz/Blömer (2002: 443) als

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grundlegend für Studien qualitativer Bildungsforschung ansehen, werden nämlich Schritt für Schritt empirische Rekonstruktionen und pragmatistische Reflexionen aufeinander bezogen, um so dem Zusammenhang von ›Bildung‹ und Spontaneität systematisch auf die Spur zu kommen. Dieses Prozedere beginnt mit empirischen Rekonstruktionen dreier Erwachsenenbiographien, die erst im Anschluss mit den an Deweys Schriften entwickelten Kategorien genauer erfasst werden. An den Lebensgeschichten von Bettina Scharte, die mit einer Partnerin eine Graphikdesignagentur betreibt, von Hubert Schlosser, der eine Percussion-Schule zur wirtschaftlichen Selbstständigkeit führt und von Sabine Hintzer, die als Puppenbauerin tätig ist, wird dem Zusammenhang von ›Bildung‹ und Spontaneität so eine erste empirische Anschauung verliehen. In den untersuchten Biographien der Erwachsenen, die durch eine Existenzgründung eine Transformation berufsbiographischer Orientierungen erlebt haben, macht Nohl dann auch deutlich, dass Wandlungsprozesse, welche von ihm als Bildungsprozesse interpretiert werden, bereits in der spontanen Entdeckung einer neuen Praxis – sei es Percussion, Graphik oder Puppenbauen – beginnen. Aber nicht nur das zeigt Nohl hier auf; er arbeitet auch heraus, dass sich vor dem eigentlichen Bildungsprozess in allen drei Fällen eine »biographische Orientierungsproblematik bis hin zum Punkt entfaltet, an dem die Unangemessenheit und Ausweglosigkeit alter Lösungsangebote überaus deutlich wird« (ebd.: 64). So etwa wird Sabine Hintzer bereits lange vor der Existenzgründung auf Grund ihrer Mitwirkungsverweigerung an DDR-typischen Jugendaktivitäten mit dem Ausschluss an Möglichkeiten höherer Bildung konfrontiert, die sie nach der Beendigung der 10. Klasse regelrecht in eine Verkettung von Orientierungsproblemen hineinwirft (vgl. Nohl 2006a: 62). Eine solche Entwicklung ist gleichsam symptomatisch für den Werdegang der drei Erwachsenen. Denn die Vorgeschichte der Bildungsprozesse ist über die lebensgeschichtlichen Unterschiede hinweg bei allen drei Erwachsenen neben der Aus- und Abgrenzung von institutionalisierten Ablaufmustern durch Sozialisationserfahrungen bestimmt, die die Existenzgründungen jeweils positiv beeinflussen und begünstigen. Doch nicht nur die Vorgeschichten weisen Strukturanalogien auf. Auch der eigentliche Bildungsprozess kann bei den drei Erwachsenen trotz aller Verschiedenheit in eine übereinstimmende zeitliche Abfolge gebracht werden, was Nohl über komparative Fallvergleiche gelingt. Auf diese Weise ergibt sich ein siebenphasiger Bildungsprozess. Dieser beginnt Nohl zufolge bei allen Erwachsenen mit einer Phase des ersten spontanen Handelns. Charakteristisch für die erste Phase spontanen Handelns ist ihre Beiläufigkeit und die nicht vorhandene »biographische Wertigkeit« (ebd.: 267). Gleichwohl muss eine gewisse »biographisch begründete spezifische Feinfühligkeit« (ebd.: 269; Herv. i.O.) für das jeweilige Feld

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vorhanden sein, in dem das spontane Handeln beginnt. Verdeutlichen lässt sich dies »etwa anhand der Puppenbauerin, die eine solche Sensibilität für kreative Handarbeiten hatte, als sie zufällig einen Mann beim Filzen beobachtete« (ebd.: 268). Die Feinfühligkeit muss aber gleichermaßen auch durch eine Offenheit und Lust für Neues gekennzeichnet sein, weil ein Festhalten an Bekanntem oder gar Traditionellem spontanes Handeln verhindert. Erst so kann es zur zweiten Phase kommen, in der eine unspezifische Reflexion auf das spontane Handeln erfolgt. Zwar wird der spontanen Handlungspraxis hier eine Bedeutung zugesprochen, weil und insofern der Wunsch besteht, sie weiter zu verfolgen, aber es ist unklar, welchen Verlauf die Fortführung der Handlungspraxis haben wird. Kennzeichnend für diese Phase der unspezifischen Reflexion ist daher auch, dass der spontanen Handlungspraxis hier (noch) keine biographisch situierte Relevanz zugesprochen wird. Dennoch heißt das nicht, dass diese Phase von marginalem Einfluss ist. Die Phase der unspezifischen Reflexion ist zwar auch kurz, aber in ihrer Anlage ausgesprochen wichtig, da sich in ihr entscheidet, ob eine der vermutlich unzähligen spontanen Handlungen, auf die sich Menschen einlassen, überhaupt weitergeführt wird. Ist das der Fall, dann folgt eine Phase des Erkundens und Lernens. Dieser Lernprozess bewegt sich z.T. in unbekanntem Gefilde. Außerdem ist den Lernenden ihr Lernen nicht gänzlich bewusst. Es fehlt ihnen an einem klaren Rahmen für ihr Tun. Auf diese Lernphase folgt eine Phase erster gesellschaftlicher Bewährung, die ebenfalls von hoher Bedeutung ist, denn »es kommt zu einer Bekräftigung und Intensivierung des zunächst noch spontanen und dann nur ganz allgemein reflektierten Handelns« (ebd.; 69; Herv. i.O.). In dieser vierten Phase werden die neu gewonnenen Fähigkeiten vor Freunden, Bekannten und Verwandten vorgestellt. Anschließend erfolgt eine »Phase des zweiten spontanen Handelns, die auch mit einer existenziellen Bedrängnis verknüpft ist« (ebd.: 72; Herv. i.O.). Auch hier zeichnet sich das Handeln dadurch aus, dass es ungeplant ist und in keinen biographischen Rahmen eingebunden wird. Dieses setzt nun aber zu einem Zeitpunkt ein, an dem die Relevanz der neuen Handlungspraxis den Handelnden bereits bewusst geworden ist. Die spontane Handlungspraxis affiziert die Personen deshalb auch stärker. Die erneute Spontaneität des Handelns knüpft damit an die Phase des ersten spontanen Handelns an, vertieft und erweitert sie aber. Frau Hintzer etwa überlegt hier auf Grund von finanziellen Engpässen, wie sie das durch das Zusehen eines Filzers entwickelte Interesse am Filzen zu einem Zusatzverdienst nutzen könnte. Dazu entwickelt sie eine eigene Produktionstechnik des Filzpuppenbauens. Schon bald darauf beginnt sie – nach knappen Probegängen – mit dem Verkauf erster Puppen. Sie wie auch die anderen beiden Befragten geraten so nach der Phase dieses zweiten spontanen Han-

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delns in eine Phase der zweiten gesellschaftlichen Bewährung, die sechste Phase des spontanen Bildungsprozesses, den Nohl herausarbeitet. In dieser Phase wird die Handlungspraxis abermals durch Anerkennung verfestigt. Es sind nun aber nicht mehr Verwandte und Bekannte, denen die Handlungspraktiken präsentiert und einer Begutachtung ausgesetzt werden, sondern diese werden einem größeren und z.T. unbekannten Publikum vorgestellt. Dort, wo sich die spontane Handlungspraxis vor anderen bewähren kann, kommt es zu einer Konsolidierung des mit der spontanen Handlungspraxis eingeleiteten Bildungsprozesses. Eine biographische Selbstreflexion nimmt schließlich den Wandlungs- bzw. spontanen Bildungsprozess in den Blick und rekonstruiert dessen Notwendigkeiten und Kontingenzen. In dieser siebten Phase kommt damit auch eine neue ›IchIdentität‹ zustande: »Ex posteriori wird die Sinnhaftigkeit des einst spontan begonnenen Handelns reflektiert und damit das eigene, aktuale Selbst, das eine neue Passung zur Welt gefunden hat, stabilisiert. Zu dieser Stabilisierung gehört auch eine Reformulierung der eigenen Lebensgeschichte« (ebd.: 120). Getreu seiner Ambition, Theorie und Empirie permanent aufeinander zu beziehen, fügt Nohl diesem empirisch rekonstruierten Phasenverlauf von spontanen Bildungsprozessen eine theoretische Systematisierung an, indem er die schon angekündigte Erschließung von Deweys Schriften vornimmt, die nun nicht nur einen Bezug der qualitativen Bildungsforschung zur Philosophie John Deweys herstellt, sondern auch den Zusammenhang von ›Bildung‹ und Spontaneität näher und umfassender erläutern soll. Allerdings will Nohl dann nicht so ohne Weiteres einer Erarbeitung von ›Deweys Bildungstheorie‹ das Wort reden, weil damit eine unmittelbare Engführung auf den deutschen Denkkontext mitsamt seinen Begrifflichkeiten erfolge, die die tiefere Bedeutung des Pragmatismus verkenne (vgl. ebd.: 82 FN 5). Deshalb gebraucht Nohl auch überall dort, wo es ihm in der Erschließung der Schriften geboten erscheint, die amerikanischen Begriffe, die in die Skizzierung von Umrissen einer ›pragmatistischen Bildungstheorie‹ einmünden. In dieser verfolgt Nohl nicht nur die von Dewey gelegte Spur der experience, die sich aus der Interaktion eines Organismus’ mit seiner Umwelt ergibt und in einer sinnhaften Kette vorangegangener und nachfolgender experiences steht. Er widmet sich auch so genannten habits, vorreflexiven, auf Situationen bezogenen Handlungsrepertoires, welche sich aus der Korrespondenz von Organismus und Umwelt bilden (vgl. ebd.: 84). Vor allem aber steht in der Erschließung von John Deweys Philosophie der education – auch hier wird der amerikanische Ausdruck verwendet – die adjustment. Diese führt eine umfassende Transformation von Selbst und Welt herbei und entspricht damit dem Konzept der Wandlung, das von Fritz Schütze als eine Prozessstruktur des Lebensablaufs entwickelt und von Winfried Marotzki bildungstheoretisch ausgear-

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beitet worden ist: »Allerdings – und dies birgt eine wichtige Erweiterung des Wandlungsbegriffes in sich – beschränkt sich der Begriff der adjustment nicht auf die handelnde Person, sondern umfasst auch deren Welt« (ebd.: 102; Hervorh. durch T.F.) i.S. eines Rearrangements der Weltverhältnisse. Adjustments können durch spontane Handlungspraktiken initiiert werden und gehen auf milieuspezifische Erfahrungen der Akteure zurück. Sie sind aber gerade nicht willentlich herbeiführbar, sondern können entstehen, wenn es zu einem allmählichen ›Auseinanderdriften‹ von Selbst und Umwelt kommt und hierbei Handlungshindernisse auftreten: »In dem Moment des Hindernisses im gesamten Handeln des Menschen können spontane Impulsionen das aktuelle, empirische Selbst mit der Gesamtheit seiner Bedingungen, mit seinem qualitativen Hintergrund in Verbindung bringen. Diese Entfaltung hin zum idealisierten Selbst eröffnet neue Potentiale des Handelns und kann Selbst und Umwelt transformieren.« (Ebd.: 110)

Trotz einer umfassenden Transformation von Selbst und Welt sind in der adjustment aber Elemente der Kontinuität zu identifizieren. Denn die Art und der Bereich der Transformation stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang zur Sozialisation des handelnden Selbst: »Auch im adjustment kommt es also nicht zur Loslösung von der Sozialisationsgeschichte; vielmehr wird deren Potenzial hier erst voll zur Entfaltung gebracht.« (Ebd.: 115; Hervorh. durch T.F.) Für Nohl lässt sich mit dem Begriff der adjustment deshalb eine wegweisende bildungstheoretische Perspektive im Pragmatismus John Deweys entwickeln, die auch die zuvor entwickelten empirischen Rekonstruktionen zu spontanen Bildungsprozessen in der Lebensmitte theoretisch-begrifflich komplettieren können. Die Einsichten aus den empirischen Rekonstruktionen dienen aber auch dazu, die pragmatistische Bildungstheorie in einigen Punkten zu revidieren. Denn nach Dewey muss es zu einer Krise kommen, damit spontanes Handeln freigesetzt wird und eine adjustment einsetzt. Die empirischen Befunde zeigen aber etwas anderes: »Nicht nur dort, wo eine Krise des Handelns auftritt und alte habits obsolet werden, treten Impulse zu Tage, die neue Handlungspraktiken etablieren; auch ohne eine Krise des Handelns können Impulse neue Handlungspraktiken zeitigen. Dies geschieht dort, wo die Betroffenen in für sie neue Situationen geraten, die sie zum Neuen anregen (Samba, Filzen, Begegnung mit Fotografin). In den empirischen Fällen dieser Arbeit wird also deutlich, dass spontanes Handeln auch ohne Handlungskrise aufzutreten und das Handlungsrepertoire zu vergrößern vermag.« (Ebd.: 118; Hervorh. durch T.F.)

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Mit dem begrifflichen Potenzial des Pragmatismus ausgestattet folgt Nohl einer erneuten empirischen Konkretisierung seiner Überlegungen zum Zusammenhang von ›Bildung‹ und Spontaneität. Untersucht werden nun Jugendliche, die ihr Leben durch spontane Handlungspraktiken umgestalten: Deniz widmet sich dem Breakdance, Bahri nimmt an den Aktionen einer muslimischen Glaubensgemeinschaft teil und Benni musiziert. Mit dem Jugendsample der Studie wird von Nohl zugleich die Frage nach einer möglichen kollektiven Strukturierung spontaner Bildungsprozesse gestellt, d.h., er verfolgt die Bedeutung des Kollektiven in spontanen Handlungspraktiken, die bei der Rekonstruktion der Bildungsprozesse der Erwachsenen im mittleren Lebensalter nicht zum Ausdruck kam. Stattdessen war hier die Individualität der Handlungen ausschlaggebend. Allerdings sind die Befunde im Großen und Ganzen doch sehr ähnlich. Wie auch schon in den Biographien der Erwachsenen in der Lebensmitte sind bei den Jugendbiographien die Vorgeschichten nämlich elementare Bedingungen für die Hervorbringung eines siebenphasigen Bildungsverlaufs. So stellt Nohl bei den Jugendlichen ebenfalls frühe milieuspezifische Desintegrationserfahrungen heraus, die in mittelbarem Zusammenhang mit der Phase des ersten spontanen Handelns stehen. Es sind bei den interviewten Jugendlichen indes nicht nur die Umstände der Migration bzw. der Umsiedlung für Desintegrationserfahrungen verantwortlich, sondern auch und gerade mit Adoleszenzkrisen verbundene Phänomene, die als politische Diskriminierung und familiale Generationenkonflikte in Erscheinung treten; wie etwa bei dem Jugendlichen Bernd, bei dem über einen langen Zeitraum Erfahrungen der Desintegration innerhalb der Familie und des schulischen Milieus vorliegen, die nach einer Ausreise aus der DDR keineswegs ein Ende haben. Stattdessen wird er auf Grund seiner Herkunft an der neuen Schule stigmatisiert und hat immense Schwierigkeiten überhaupt soziale Kontakte aufzubauen. In solchen und ähnlichen prekären Lebenslagen erfolgt bei den Jugendlichen die Phase des ersten spontanen Handelns, wenngleich diese keineswegs im Zeichnen einer Krise oder problematischen Situation steht. Die spontan initiierte Handlungspraxis ergibt sich eher beiläufig. Ungeplant tritt sie als Aktionismus in Erscheinung, die die Lebensorientierungen der befragten Jugendlichen strukturiert Diese »Aktionismen bewegen sich zunächst noch vor allem im Sinnhorizont einer eigenen, jugendspezifischen Rationalität« (ebd.: 135), was Nohl als einen der Gründe dafür ansieht, dass ihnen noch »keine Langfristigkeit biographischer Orientierungen« (ebd.) zukommt. Eine tiefer greifende biographische Bedeutung erlangt die Handlungspraxis erst in der zweite Phase spontanen Handelns. Beispielsweise gewinnt bei Bernd in den Wirren adoleszenzspezifischer Probleme die Bedeutung des musikalischen Aktionismus eine neue Qualität, weil er hier eine Band findet, mit der sich der entscheidende Wendepunkt

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seines musikalischen Werdeganges ereignet. So gelangt er – wie auch Deniz und Bahri – schließlich in die Phase der zweiten gesellschaftlichen Bewährung, in der er eine positive Reaktion des Umfeldes erhält und so seinen Wandlungsprozess fortsetzen kann. »Insgesamt hat die Phase zweiter gesellschaftlicher Bewährung für den Bildungsprozess der Jugendlichen eine zentrale Bedeutung. Noch mehr als in der Phase erster gesellschaftlicher Bewährung geht es hier darum, die neu gewonnene Handlungspraxis im Lichte einer Öffentlichkeit zu sehen, die sich nicht nur aus der Jugendszene konstituiert. Die gesellschaftliche Reaktion stellt hier mithin in noch stärkerem Maße den ›generalisierten anderen‹ der jugendlichen Handlungspraxis dar. Es ist die Reaktion der Öffentlichkeit, die den jugendlichen Aktionismen eine biographische Signifikanz über die Jugendphase hinaus verleiht.« (Ebd.: 154)

Am Ende steht bei den drei Jugendlichen – wie auch schon bei den untersuchten Erwachsenen in der Lebensmitte – die Reflexion dieses Wandlungs- bzw. Bildungsprozesses. Dabei zeigen sich dann aber doch lebensalterspezifische Unterschiede zu den Erwachsenen in der Lebensmitte: »Während deren Bildungsprozesse zwar innerhalb kollektiver Zusammenhänge vonstatten gehen, aber vornehmlich auf individuellem Handeln beruhen, ist die spontane Handlungspraxis der Jugendlichen in […] zunehmendem Maße kollektiv strukturiert. Es deutet sich hier an, dass die Jugendlichen da sie aus tradierten Milieus herausgefallen sind, innerhalb ihres Bildungsprozesses nach neuen kollektiven Zusammenhängen suchen und im kollektiven spontanen Handeln, im Aktionismus neue Milieus konstituieren.« (Ebd.: 28)

Was sich empirisch andeutet, soll theoretisch genauer erfasst werden: Die Einsichten in den Verlauf des spontanen Bildungsprozesses, die sich durch die empirischen Rekonstruktionen der Lebensgeschichten Jugendlicher ergeben, werden in Anlehnung an die Darstellung der Bildungsprozesse im mittleren Lebensalter einer grundlagentheoretischen Durchdringung unterzogen, indem nun aber nicht mehr der Pragmatismus Deweys, sondern der Interaktionismus George Herbert Meads sowie die Wissenssoziologie Karl Mannheims berücksichtigt werden. Diese stehen unter der Intention, den Zusammenhang von ›Bildung‹ und Spontaneität interaktions- und kollektivitätstheoretisch aufzuklären und das Phasenmodell spontaner Bildungsprozesse in seinen lebensalterspezifischen Differenzierung noch weiter zu durchdringen. Meads Schriften dienen dabei vor allem dazu, interaktionstheoretische Komponenten von Bildungsprozessen herauszuarbeiten und Wandlungen in der Persönlichkeit bzw. Identität eines Individuums

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durch die Interaktion mit anderen Individuen zu erklären. Ein ›bildungsrelevanter Identitätswandel‹ ereignet sich demzufolge dann, wenn homolog reagierende Individuen in unmittelbarer Erfahrung zusammentreffen und »eine gemeinsame wiewohl vorreflexive und spontane Praxis« (ebd.: 195) hervorbringen. Hier führt Nohl dann auch der theoretische Ansatz Karl Mannheims weiter, »der sowohl den bei Dewey und Mead vermissten Aspekt der Kollektivität von Bildungsprozessen zu beleuchten vermag als auch an die Arbeit dieser beiden Pragmatisten anschlussfähig ist« (ebd.). Mannheim stimmt nämlich weitgehend mit der pragmatistischen Handlungstheorie überein, sieht allerdings den Ursprung der Entstehung spontaner Handlungspraktiken auf kollektiver Ebene angesiedelt. In der Frage nach dem Wesen der sozialen Beziehung »nimmt Karl Mannheim das Konzept der konjunktiven Erfahrung zum Ausgangspunkt einer kultursoziologischen Theorie, in deren Zentrum der Begriff des ›konjunktiven Erfahrungsraums‹ steht« (ebd.: 202). Mit diesem Konzept, das auf gegenwärtige soziale Phänomene vor allem von Ralf Bohnsack angewendet wird, ist ein kollektiver Rahmen bezeichnet, der gleichsam einen gemeinsamen Sinn- und Erlebniszusammenhang konstituiert und für eine Gruppe von Individuen die gemeinsame Basis ihrer Lebensorientierung bildet. Insofern können diese Überlegungen gerade die Befunde zu spontanen Bildungsprozessen im Jugendalter ergänzen. So zeigt sich etwa für die Phase des ersten spontanen Handelns, dass dieses bei den Jugendlichen vornehmlich interaktiv durch ›pädagogische‹ Settings angestoßen wird, während die Erwachsenen im Rahmen ihrer impliziten milieuspezifischen Kollektivvorstellungen handeln. Auch in der Phase des zweiten spontanen Handelns ergeben sich nun auffallende Unterschiede zwischen den Erwachsenen und den Jugendlichen. Bei den Erwachsenen dokumentiert sich vor allem eine existenzielle Bedrängnis der Individuen. Auf ihre Milieubindung aber können sie sich stützen. Anders die Jugendlichen; denn diese verlieren – so zeigen es die empirischen Rekonstruktionen – gerade ihre Milieuanbindung. »Der Verlust von Milieubindungen tritt ein, insofern diese Jugendlichen am Ende ihrer Adoleszenz mit dem Problem konfrontiert werden, die von ihren Eltern tradierten Handlungsgewohnheiten ihres Herkunftsmilieus nicht in ihr eigenen Erwachsenenleben überführen zu können. Es überlagern sich hier also adoleszenzspezifische Probleme einerseits sowie Erfahrungen der Milieudesintegration andererseits« (ebd.: 214).

Besonders drastisch gestaltet sich das Herausfallen der Akteure aus ihren Herkunftsmilieus demnach dort, wo keine kollektiven Zusammenhänge vorhanden sind – dies ist augenscheinlich gerade bei den Jugendlichen der Fall. Nohl stößt in seiner Spurensuche nach lebensalterspezifischen Unterschieden aber auch auf

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eine weitere, »mithin wichtige bildungstheoretische Differenzierung« (ebd.: 218), die dann sowohl für die Erwachsenen- als auch für die Jugendbiographien Geltung beansprucht. Die Entstehung einer neuen Ich-Identität, zu der es in der siebten und letzten Phase komme, lasse sich nämlich unterscheiden von dem Bewusstsein für diese. Während die Entstehung einer neuen Ich-Identität mit dem Konzept der Wandlung bzw. des adjustment auch dann adäquat erfasst werden könne, wenn dem jeweiligen Individuum sein Identitätswandel nicht bewusst sei, lasse »sich Bildung in ihrer Vollendung erst dort erreichen, wo […] auch ein Bewusstsein für diesen Wandlungsprozess und für die neu entstandene Ich-Identität« (ebd.) vorliege. Demnach benötigt der Abschluss des spontanen Bildungsprozesses nicht die Transformation allein, sondern gerade deren reflexive Vergegenwärtigung. Die bislang erarbeitete Phasenabfolge spontaner Bildungsprozesse gilt in ihrer grundsätzlichen Struktur auch für die bislang noch ausstehende Altersgruppe der etwa 65-jährigen Seniorinnen. Aber auch hier heißt es für Nohl, auf die ›feinen Unterschiede‹ Wert zu legen und in den empirischen Rekonstruktionen nach lebensalterspezifischen Besonderheiten des spontanen Bildungsprozesses Ausschau zu halten. Und natürlich stellt Nohl solche Unterschiede auch fest. Anders als im Jugendalter, wo die Adoleszenzkrisen vorgängige Erfahrungen der Milieudesintegration überdecken und auch anders als im mittleren Lebensalter, wo Krisen die Aus- und Abgrenzung von berufsbiographischen Erfahrungen institutionalisierten Ablaufmustern verschärfen, »kommen bei den Seniorinnen bereits in der ersten Phase Erfahrungen der Auflösung des familialen Erfahrungsraums und der Beendigung beruflicher Ablaufmuster zusammen« (ebd.: 224). Krisenhafte Erfahrungen sind in diesen Fällen des höheren Lebensalters unmittelbar zu Beginn des Bildungsprozesses zu verzeichnen. Alle drei interviewten Seniorinnen, so zeigt Arnd-Michael Nohl auf, durchlaufen eine akute Umbruchsituation, in der sich die familiale Struktur ändert und der berufliche Rahmen auflöst. Die Biographien der drei Frauen unterscheiden sich allerdings z.T. doch sehr voneinander. Während Frau Brandt nach einer Ausbildung ein Studium ergreift und im Laufe ihrer beruflichen Karriere von der Abteilungsleiterin bis zur kaufmännischen Direktorin aufsteigt, wächst Frau Kiepert vornehmlich im Waisenhaus auf, macht eine Ausbildung als Verkäuferin und arbeitet später in einem Krankenhaus. Frau Schwehn wiederum wird nach einer Heimatvertreibung ihrer Eltern im dörflichen Umfeld groß, welches ihre Familie mit Argwohn betrachtet. In ihrem späteren Leben ermöglicht ihr diese »frühere Außenseiterposition und ihr Selbst als eine, die sich ›durchkämpft‹« (ebd.: 223) jedoch auch den vom DDR-System vorgenommenen Ausschluss als Leiterin einer Zentralbibliothek gut zu meistern. Gemeinsam ist den drei Seniorinnen – und das ist für die Unter-

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suchung spontaner Bildungsprozesse wichtig – die Begeisterung für die Informationstechnologie des Computers und die Erkundung des Internets. Über eine Mail-Bekanntschaft im Internet werden alle auch zueinander geführt. Eine Offenheit für Neues tritt bei den Seniorinnen dabei besonders deutlich hervor, da die Erfahrung existenzieller Bedrängnis in Form der Verrentung und Auflösung der Zweigenerationenfamilie einen Freiraum schafft, der mit spontanem Handeln im Rahmen von Internetaktivitäten gefüllt wird. Bei Frau Brandt »wird aus ihrer Internetbegeisterung eine spontane, weil ungeplante und ungerichtete Einfindung in einen neuen konjunktiven Erfahrungsraum, während der Erfahrungsraum ihrer Familie seine hohe Relevanz verliert« (ebd.: 241). Frau Kiepert findet in einem zuerst nur online stattfindenden Frauenkreis eine bislang unbekannte Möglichkeit des Treffens. Frau Schwehn entdeckt durch Mail-Bekanntschaften die Möglichkeit, sich auszutauschen und zu debattieren. Interessant ist nun, wie Nohl auch hier wieder lebensalterspezifische Unterschiede im spontanen Bildungsprozess herausarbeitet. Dabei stehen nun – nachdem auch die letzte Altersgruppe eingeführt und vorgestellt wurde – drei ›Vergleichskohorten‹ zur Verfügung, die über komparative Analysen in Beziehung miteinander gesetzt werden: Die Jugendlichen und die Senioren gewinnen durch die spontanen Handlungspraktiken soziale Kontakte und Anschluss an Gruppen, wohingegen die Erwachsenen in der Lebensmitte zumeist individuell handeln. Die Jugendlichen unterscheiden sich allerdings von den Senioren durch ihre Ausrichtung auf ein genuin kollektiv strukturiertes Handeln, das durchaus zu Übersteigerungen und Phänomenen des Rausches führt. Demgegenüber finden die Seniorinnen ihre Gruppen und kollektiven Zusammenhänge weitgehend individuell. Die Seniorinnen, die im Internet surfen und dort nach kollektiven Zusammenhängen suchen, können zwar nicht angeben, welche Art von kollektiven Zusammenhängen sie genau suchen. Bewusst ist ihnen jedoch, so Nohl, dass sie bestimmte konjunktiven Erfahrungsräume nicht suchen. Den Jugendlichen fehlt auf Grund der existenziellen Bedrängnis gerade diese Kompetenz zur Selektion. Daher sind sie auch darauf angewiesen, sich zunächst einmal probeweise auf die kollektive Handlungspraxis einzulassen. Auch die Phase der ersten gesellschaftlichen Bewährung verläuft bei den drei Lebensaltern äußerst unterschiedlich. Ist sie für die Bildungsprozesse der Jugendlichen und der Erwachsenen im mittleren Lebensalter von großer Bedeutung, da die eigenen Tätigkeiten bei ihnen durch die Bestätigung eines öffentlichen oder semi-öffentlichen Publikums an Relevanz gewinnen, so ist sie für die Seniorinnen nicht sonderlich wichtig, da die »spontan gefundene neue Handlungspraxis ohnehin stark interaktiv eingebettet ist« (ebd.: 273) und keine explizite Bestärkung von außen erfordert.

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Am »vorläufigen Endpunkt des spiralförmigen Aufschaukelungsprozesses von theoretischer Reflexion und empirischer Rekonstruktion« (ebd.: 261) werden die gesamten begrifflichen Möglichkeiten der an Dewey, Mead und Mannheim entlang geführten Argumentation aufgegriffen und zu einer empirisch fundierten Theorie spontaner Bildungsprozesse verdichtet. Dabei verweist Nohl sowohl auf die Leistungen seiner Studie als auch auf Desiderata, die weiteren Forschungsbedarf aufzeigen. Zu den Leistungen der Arbeit zählt so etwa die subtilere Erfassung des Zusammenhangs von Bildungsprozessen und Krisenerfahrungen. Entgegen einigen anderen Untersuchungen, die eine Krise als Beginn des Bildungsprozesses ansehen – hiermit dürfte insbesondere die Studie von Marotzki bezeichnet sein –, zeigt Nohl dem eigenen Dafürhalten nach in seiner Untersuchung auf, dass eine Krise bei den befragten Personen nicht am Beginn des Bildungsprozesses stehen muss, sondern sich im Verlauf ereignen kann und »zudem keine unmittelbare Bedeutung für die Bildung« (ebd.: 267) hat.45 Auch auf einen weiteren Befund hebt Nohl besonders ab; nämlich auf den, dass der Schulabschluss für den spontanen Bildungsprozess weitgehend irrelevant sei.46 Nur in Bezug auf die Phase der zweiten gesellschaftlichen Bewährung sei das Kriterium, über welchen Schulabschluss die untersuchten Personen verfügen, von Belang: »Diejenigen Personen, die nur gering in die schulischen Institutionen integriert waren und lediglich über Haupt- und Realschulabschlüsse verfügten, haben die öffentlichen Institutionen (Sozialamt, Schule, staatlicher Ausbildungsbetrieb), bei denen sich ihre spontanen Handlungspraktiken bewähren mussten, als distant und exterior erfahren. […] Demgegenüber dokumentiert sich bei jenen Personen, die über hohe schulische Abschlüsse verfügen, ein enger Kommunikationszusammenhang mit den Vertretern öffentlicher Instanzen (etwa dem Staatsanwalt oder Lehrer).« (Ebd.: 279)

Dieser Umstand ist für Nohl ein wichtiges empirisches Ergebnis, da nur so gezeigt werden kann, dass sich transformative Bildungsprozesse auch bei Menschen ereignen können, »die gemeinhin als ›bildungsfern‹ bezeichnet werden, obwohl sie lediglich wenig in die schulischen Institutionen der Bildung integriert

45 Dazu auch Brandt-Herrmann 2008: insbes. 209ff. 46 Zu dieser Erkenntnis kann im Rahmen der Untersuchung nur erlangt werden – das betont Nohl ausdrücklich –, da gerade ein besonderer Wert darauf gelegt wird, nicht nur Personen aus dem akademischen Milieu zu befragen. Genau diese Einschränkung kritisiert Nohl deshalb auch an den Arbeiten von Marotzki, Koller und von Felden (vgl. Nohl 2006a: 263).

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sind« (ebd. 263). Doch nicht nur solche Leistungen und besondere Befunde betont Arnd-Michael Nohl hier. Er verweist auch auf zukünftigen Forschungsbedarf. Eine Möglichkeit, seinen Aussagen eine weitere Fundierung zu verschaffen, sieht er in der Untersuchung unterschiedlicher Bildungsthemen in jedem Lebensalter. Auch für eine geschlechterdifferenzierte Untersuchung der Phasenabfolge des Bildungsprozesses spricht er sich aus, da diese noch tiefere Einsichten in spontane Bildungsprozesse bescheren könnte. So verschafft er »bildungstheoretisch ambitionierten Arbeiten innerhalb der qualitativen Bildungsforschung« (ebd.: 265) zugleich also eine Basis für die Zukunft. (b) Analyse und Kritik Die vielschichtige Studie Nohls kann – das zeigen die Rezensionen, die bislang zu dieser Arbeit entstanden sind – zusammengefasst als eine ambitionierte und innovative Erweiterung des qualitativ-empirischen Paradigmas verstanden werden (vgl. Fuchs 2006; Grotlüschen 2007). Auf der Basis einer empirisch generierten Typik der Phasenabfolge spontaner Bildungsprozesse gelingt es ihr nämlich, den Blick auf einige bislang vernachlässigte zeitliche Abläufe im Bildungsgeschehen zu lenken und spontane Bildungsprozesse verschiedener Lebensalter vergleichend in Beziehung zu setzen. Im Rahmen qualitativer Bildungsforschung ist genau das bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht realisiert worden, sodass diese Leistung den besonderen Verdienst der Arbeit Nohls ausmacht (vgl. ebd.: 262). Demzufolge wird das von Nohl generierte Phasenmodell spontaner Bildungsprozesse auch auf andere Untersuchungen übertragen und in anderen thematischen Zusammenhängen fruchtbar gemacht. So hat etwa Stauber (2007) jugendkulturelle Selbstinszenierungen mit Hilfe des Modells der Bildungsphasen erforscht und hierbei die These stark gemacht, dass dieses »die empirische Operationalisierung von Bildungsprozessen« (ebd.: 231) gleichsam par excellence ermögliche. Und in der Tat zeigt sich für sie dann im kurzen Durchgang durch ihr Material und konsequenten Verweisen auf die Typologie Nohls, wie gut diese zur Analyse des jugendkulturellen Erfahrungsraums der Techno-Szene geeignet ist (vgl. ebd.: 237). Wie auch schon zuvor gilt es nun aber bei aller Wertschätzung und Anerkennung für die Arbeit, Ausschau danach zu halten, wie die Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung hier konzeptualisiert wird. Dabei kann die kritische Auseinandersetzung – wie schon zuvor bei der Arbeit von Feldens – jedoch nur mittelbar auf die Analysen von Lothar Wigger (2004) rekurrieren. Denn Wigger hat in seiner erstmaligen Prüfung des Vermittlungsanspruchs bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung im Jahr 2004 die Arbeit Nohls auf Grund ihres späteren Erscheinungstermins freilich nicht berücksichti-

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gen können. Aber auch in Wiggers hierauf folgenden Untersuchungen aus den Jahren 2006 und 2007: die über eine Verschränkung bildungs- und habitustheoretischer Betrachtungen insbesondere die individuellen Weltverhältnisse der befragten Personen stärker ins Visier nehmen möchten, erfolgt keine Beachtung der Studie Nohls als Variante einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. Insofern müssen im Folgenden die wenigen, bislang vorgelegten Auseinandersetzungen mit »Bildung und Spontaneität« (Nohl 2006a) um umfassendere werkimmanent-kritische Betrachtungen ergänzt werden. Wird Letzteres getan und auf das von Arnd-Michael Nohl zum Ausdruck gebrachte Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung geblickt, dann ist dabei sogleich auffallend, dass er zuweilen behutsamer argumentiert als Winfried Marotzki, Hans-Christoph Koller und Heide von Felden, mit denen er sich – wie nicht nur in der Einleitung, sondern auch nochmals im Abschlusskapitel seiner Arbeit deutlich wird – durchaus in einer Kontinuitätslinie sieht.47 Behutsamer als Marotzki, Koller und von Felden argumentiert Nohl nämlich insofern, als er nicht davon spricht, dass er mit seinem Ansatz versuche, den Hiatus zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung zu überwinden. Vielmehr will er beide Zugänge zur ›Bildung‹ in ein reflexives Verhältnis bringen, um so Empirie zur Schärfung von Theorie und Theorie zur Sichtbarmachung von Empirie zu nutzen (vgl. ebd.: 25). Auf diese Weise könne die abstrakte Bildungstheorie auf ein erfahrungsbezogenes Fundament gestellt und die konkrete Bildungs- und Biographieforschung theoretisch untermauert werden. Nur durch einen solchen wechselseitigen Bezug komme der spontane Bildungsprozess dann auch empirisch und theoretisch zum Vorschein (vgl. ebd.: 7, 24). Doch mit dieser Beschreibung belässt es Arnd-Micheal Nohl nicht. An anderer Stelle, genauer gesagt in dem Beitrag eines Sammelbands, der sich aus unterschiedlichen Richtungen der Verhältnisbestimmung von Bildungstheorie/-philosophie und Bildungsforschung nähert und einen Dialog zwischen den scheinbar disparaten ›Wissensformen‹ kultivieren möchte, geht er nämlich noch weiter und bringt den Zusammenhang in anderen Worten und – was gewissermaßen das Entscheidende ist – mit anderen Konsequenzen verbunden zum Ausdruck. Zum einen dürfe man nämlich – so Nohl (2006b) hier – keinen unüberwindbaren Ge-

47 So stellt Nohl fest, dass der von ihm vorgenommene komparative Vergleich unterschiedlicher Einzelfälle die qualitativ-empirischen Analysen zu transformativen Bildungsprozessen fortsetze, »in denen etwa die ›Herausbildung von Negationsstilen‹ […], der ›Widerstreit‹ unterschiedlicher Diskursarten und Wertorientierungen […] bzw. ›Bausteine‹ einer Bildungstheorie […] als Elemente von Bildungsprozessen herausgearbeitet wurden« (Nohl 2006a: 261f.).

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gensatz zwischen empirischer Forschung und theoretischer Reflexion hypostasieren oder gar Empirie und Theorie zwei unterschiedlichen Subdisziplinen zur ausschließlichen Beschäftigung zuweisen, da dies in die Sackgassen theorieloser Empirie und empirieloser Theorie führe (vgl. ebd.: 157). Zum anderen betont er in diesem Beitrag vor allen Dingen aber auch, dass neue Denkhorizonte dann entstehen bzw. erweitert werden, wenn man Bildungstheorie und Bildungsforschung zusammenbringe, ohne dabei jedoch ihre Grenzen zu tilgen (vgl. ebd.: 169). Demnach stehen Theorie und Empirie bei ihm nicht nur in einem Verweisungszusammenhang, bei dem grundlagentheoretische Reflexionen von der empirischen Forschung profitieren und empirische Befunde in einem neuen Licht erscheinen können. Er räumt auch ein, dass eine wechselseitige Bezugnahme von Bildungstheorie und Bildungsforschung insbesondere dann gewinnbringend ist, wenn ihre unterschiedlichen Ansichten und Aufgabengebiete – wie sie etwa auch in Kap. 1.1.4 vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen skizziert wurden – nicht vermischt, sondern bewusst gemacht und aufrechterhalten werden. Es bedarf für Nohl also gleichsam einer Sensibilität für Differenzen, damit »empirische Rekonstruktionen und grundlagentheoretische Reflexionen einander ergänzen, wechselseitig Denkhorizonte erweitern und sich gegenseitig befruchten« (ebd.: 176). Nohl argumentiert aber nun nicht nur hinsichtlich der Relationierung von Bildungstheorie und Bildungsforschung zuweilen behutsamer als Marotzki, Koller und von Felden. Er sichert seine Befunde auch stärker als jene genannten Protagonisten der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung ab, indem er die Erklärungsreichweite und den Geltungsanspruch seiner Aussagen eingrenzt. So will er mit seinen Befunden nämlich ausschließlich in Bezug auf spontane Bildungsprozesse und nur hinsichtlich auf ›Bildung‹ als Subjektivierung durch die Transformation von Lebensorientierungen Geltung beanspruchen und Anerkennung finden. Seine Untersuchung sei deshalb – darauf insistiert Nohl – gerade auch nicht dazu geeignet, »die empirische Validität und theoretische Aussagekraft anderer Bildungstheorien, die sich auf Bildung als Subjektivierung durch das Wechselverhältnis von Mensch und Welt und/oder auf nichtspontane Bildungsprozesse konzentrieren, in Frage zu stellen« (Nohl 2006a: 265; Herv. i.O.). Diese Anmerkungen stimmen nachdenklich. Es scheint nämlich eventuell so, als ob jene zwei genannten Aspekte, die behutsame Argumentation einerseits und die Einschränkung des Geltungsbereichs andererseits, die in diesem Kapitel beabsichtigte Analyse und Kritik nun erschweren und einschränken könnten. Ist es – so lässt sich unter Berücksichtigung der getroffenen Aussagen zur behutsamen Argumentation durchaus fragen – denn überhaupt zweckmäßig, Nohls ›Ver-

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mittlungsstrategie‹ in intentio obliqua zu befragen? Schließlich verweist er doch gerade auf die Vorsicht und Sensibilität, die man bei dem Versuch der wechselseitigen Bezugnahme von Bildungstheorie und Bildungsforschung walten lassen müsse und spricht lediglich davon, beide ›Wissensformen‹ in ein reflexives Verhältnis zueinander zu bringen, was zweifellos als Zeichen dafür angesehen werden kann, dass er keineswegs von einer selbstverständlichen oder unproblematischen Beziehung ausgeht. Und ist es – die Einschränkung des Geltungsanspruchs in Rechnung stellend – denn überhaupt legitim, Nohls Ansatz einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung an dieser Stelle mit den von Wigger aufgestellten Kritikpunkten am bildungstheoretischen Status dieser Forschungsrichtung zu konfrontieren und zu fragen, inwiefern – erstens – durch die von ihm vorgelegte Konzeption neben Selbst- gerade auch Weltverhältnisse der befragten Personen erfasst werden und – zweitens – die konsultierten Referenztheorien genuin bildungstheoretische Biographieanalysen im Spektrum von Selbst und Welt und unter Einbeziehung inhaltsbezogener Differenzierungen produzieren? Denn schließlich scheint es Nohl, wenn er sich lediglich auf ›Bildung‹ als Subjektivierung durch die Transformation von Lebensorientierungen bezieht, mit seiner Arbeit gar nicht oder zumindest nicht primär darum zu gehen, Weltverhältnisse der Informanten zu erfassen. Vielmehr intendiert er wohl – dafür sprechen die dargebotenen Bemerkungen und die Abgrenzungsversuche zu Beginn seiner Arbeit –, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie sich das Selbstverhältnis von Menschen vom spontanen Handeln ausgehend wandelt und zu neuen Lebensorientierungen führt. Eine kritische Begutachtung der Arbeit Nohls, welche den Argumenten Wiggers folgt, wäre dann vollkommen unangebracht. Wenngleich auf den ersten, unspezifizierten Blick womöglich gute Gründe für die zum Ausdruck gebrachten ›Befürchtungen‹ bestehen, so können sie – wie die folgenden, detaillierteren Ausführungen aufzeigen wollen – bei Seite geschoben oder sogar als unhaltbar angesehen werden. Denn gegen die erste Besorgnis spricht etwa allein schon der Umstand, dass auch in der Arbeit Nohls, die vermeintlich in ausreichender Weise ihren Standpunkt und ihr Begriffsverständnis deutlich macht sowie Sinn für Differenzen zeigt, eine Sicht auf den verhandelten Gegenstand – eben das Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung – protegiert wird, die beleuchtet und befragt werden kann. Schließlich ist auch eine behutsame Argumentation kein Garant dafür, dass dem Gesagten vorbehaltlos beizupflichten ist. Vielmehr können etwa rhetorischen bzw. argumentationstheoretischen Einsichten folgend neuralgische Aspekte durch eine versierte Urteilsführung kaschiert werden, sodass ein genauerer Blick auch und gerade in diesen Fällen lohnenswert ist.

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Aber nicht nur diese, sondern auch die zweite Besorgnis erweist sich bei näherer Betrachtung als unangebracht. Denn zwar lässt sich sagen, dass Nohl für seine Untersuchung das Verständnis von ›Bildung‹ als Subjektivierung durch die Transformation von Lebensorientierungen stark macht und keine Aussagen über ›Bildung‹ als Subjektivierung durch das Wechselverhältnis von Mensch und Welt treffen möchte. Kurioserweise betrachtet er im Durchgang durch den erarbeiteten Bildungsprozess, der durch ein spontanes Handeln in Gang und auf den Weg gebracht wird, dann aber gerade doch solche Momente, in denen mit Dewey gesprochen die Passung zwischen Selbst und Welt ›aus den Fugen‹ gerät. Diese haben im spontanen Bildungsprozess der verschiedenen Lebensalter auch ihre je eigene Relevanz. Denn bei den Erwachsenen in der Lebensmitte führt in der Phase des zweiten spontanen Handelns eine existenzielle Krise dazu, dass sich die Passung von Selbst und Welt ›entzweit‹, einige alte Handlungspraktiken beendet werden und der Freiraum zur Schaffung der neuen Handlungspraxis entsteht (vgl. ebd.: 119). Auch die Jugendlichen geraten in der Phase des zweiten spontanen Handelns in existenzielle Bedrängnis, wobei diese zuvörderst mit einer Adoleszenzkrise zusammenhängt. Sie führt aber ebenfalls dazu, dass die Passung zwischen Selbst und Welt ›aus den Fugen‹ gerät und die bereits eingespurte spontane Handlungspraxis eine besondere Bedeutung und Intensität erhält (vgl. ebd.: 172f.). Bei den Seniorinnen wiederum ereignet sich eine existenzielle Krise unmittelbar zu Beginn des spontanen Bildungsprozesses, da sie hier einerseits die Einbindung in eine berufliche Tätigkeit auf Grund der Verrentung aufgeben und andererseits tradierte Milieubindungen verlieren. So kommt es auch bei ihnen zum Auseinanderbrechen der alten Passung von Selbst und Welt. Genau dieser Umstand schafft bei den Seniorinnen aber einen Freiraum, der weder familial noch beruflich, sondern durch spontanes Handeln gerahmt ist (vgl. ebd.: 257f.). Insofern zeigt der Blick auf die lebensalterspezifischen Dimensionen im spontanen Bildungsprozess, dass das Subjekt-Welt-Verhältnis in Nohls Konzeption doch eine sehr elementare Rolle spielt, und so verwundert es angesichts dieser Aussagen auch, dass für ihn selbst das Verständnis von ›Bildung‹ als Subjektivierung durch das Wechselverhältnis von Mensch und Welt marginal ist. Vermutlich wäre dieser Umstand deshalb bereits auch ein Grund dafür, einer Zurückweisung der zweiten zum Ausdruck gebrachten Befürchtung das Wort zu reden. Noch entscheidender für eine Zurückweisung der artikulierten Besorgnis ist dann aber sicherlich die Tatsache, dass sich Arnd-Michael Nohl sogar ganz konkret auf die kritischen Hinweise von Lothar Wigger bezieht – zwar nicht in seiner Habilitationsschrift, aber in jenem, schon zuvor genannten Beitrag, der die qualitative Bildungsforschung als theoretisches und empirisches Projekt markiert (vgl. Nohl 2006b). In diesem Beitrag versucht Nohl nämlich, seine Untersu-

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chung an jene Forderung Wiggers anzubinden, die für eine stärkere Beachtung der individuellen Weltverhältnisse und deren Transformationen plädiert. Zwar präsentiert Nohl hier keine Aussagen, die eindeutig nahe legen, dass er diese Kritik uneingeschränkt teilt. Er reagiert auf die Kritik an der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, also jene, die erklärt, »dass sie das Subjekt bzw. das Selbstverhältnis der Subjekte zu sehr in den Vordergrund rücke, während sie die Weltverhältnisse (und deren Transformation) vernachlässige« (ebd.: 173), aber dennoch, indem er in nuce herausstellt, dass die von ihm vorgenommene Betonung der kollektiven Komponenten im spontanen Bildungsprozess »ein (wenn auch nicht erschöpfender) Beitrag dazu [ist], die ›Weltkomponente‹ zu erhellen« (ebd.). Einer genauen Begründung bleibt er dabei allerdings schuldig, d.h., er erläutert nicht, worin sein Beitrag zur Erhellung von individuellen Weltverhältnissen liegt und inwiefern dieser letztlich dann doch nicht erschöpfend ist. Das aber kann, nachdem die beiden ›Befürchtungen‹ nun ausgeräumt wurden, im Folgenden geschehen. Dabei wird zum einen geschaut, auf welche Weise Nohl genau versucht, nicht nur Selbst-, sondern auch Weltverhältnisse der befragten Personen zu erfassen. Zum anderen wird ein Blick auf die Referenztheorien geworfen, die in seinem Ansatz bildungstheoretische Analysen ermöglichen sollen, und diese in intentio obliqua auf ihre Möglichkeiten und Grenzen hin geprüft. Folgt man den knappen Hinweisen, die Arnd-Michael Nohl im Zusammenhang mit der von Wigger vorgetragenen Kritik am Status der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung gibt, dann muss der Schlüssel zur Erfassung der individuellen Weltverhältnisse und ihren Transformationen in den kollektiven Bestandteilen des spontanen Bildungsprozesses liegen. Und diese werden bei Nohl vor allem im Zusammenhang der Untersuchung von »Bildung in der Adoleszenz« (Nohl 2006a: 121ff.), also im Jugendsample der Studie, empirisch aufgefunden und daraufhin durch den Verweis auf die Wissenssoziologie Karl Mannheims theoretisch erfasst. Auf diese empirischen und theoretischen Schilderungen, die unter Berufung Mannheims erfolgen, hat sich demzufolge die Aufmerksamkeit zu richten, wenn man klären will, welchen Status den Weltverhältnissen in der Konzeption Nohls eingeräumt wird. Dabei fällt der Blick in Nohls Mannheim-Rezeption vor allen Dingen auf den so genannten ›konjunktiven Erfahrungsraum‹ und dessen Fundamente, die Mannheim zum Ausgangspunkt einer ganzen kultursoziologischen Theorie erkoren hat. Dieser konjunktive Erfahrungsraum konstituiert sich durch ein soziales Handeln, dessen Gestalt nicht auf die Handlungen der einzelnen Individuen reduziert werden kann. Dabei wird das soziale Handeln zwar durch einzelne Individuen aktualisiert, fügt jedoch gleichsam ›übersubjektiv‹ Sinn- und Erlebniszusammenhänge – etwa jenen

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des Geschlechts, der Generation oder der Migration – zusammen. Auf diese Weise konstituiert sich eine Ebene des Kollektiven. Deshalb liegt für Nohl das »Wesen der konjunktiven Erfahrung« (ebd.: 203) auch »in der Gleichartigkeit dessen, was erfahren wird, und der strukturellen Identität der Verarbeitungsweisen, d.h. der Homologie der Orientierungsrahmen« (ebd.). Insbesondere Weltanschauungen verkörpern nach Nohl solche Orientierungsrahmen. Diese sind keineswegs starr, sondern dynamisch. Deshalb können sie sich etwa auch beim Eintritt eines Individuums in eine Gruppe – oder ein Milieu, wie Nohl des Öfteren sagt – ändern und sie neu formieren. Da Mannheim die Transformation dieser Orientierungsrahmen nun in sachlicher Übereinstimmung mit Deweys Konzept der adjustment bzw. der biographietheoretischen Kategorie der Wandlung beschreibt, integriert Nohl sie reibungslos in die empirisch rekonstruierten und typifizierten Phasen des spontanen Bildungsprozesses (vgl. ebd.: 204, 208). Hier ist es ihm dann ein Anliegen, Angaben darüber zu machen, wo im spontanen Bildungsprozess konjunktive Erfahrungen entstehen, die die Orientierungsrahmen der befragten Personen ändern. Das sei – nicht bei den Seniorinnen, aber bei den Jugendlichen und den Erwachsenen in der Lebensmitte – keineswegs schon am Ausgangspunkt des spontanen Bildungsprozesses der Fall, denn hier bestehe noch eine Passung von Selbst und Welt (vgl. ebd.: 209). Zur allmählichen Inkompatibilität zwischen Selbst und Welt komme es dann aber schon in der Phase der unspezifischen Reflexion, in der Gewohnheiten aufgebrochen werden, was dem bzw. der Handelnden allerdings noch nicht bewusst ist: »Jene/r reflektiert vielmehr auf das Handeln, ohne eine Verbindung zur eigenen Identität und zum eigenen Milieu zu ziehen.« (Ebd.: 211) Endgültig breche die Passung von Selbst und Welt – wie bereits beschrieben wurde – dann in der Phase des zweiten spontanen Handelns auseinander, und zwar mit der Theorie Mannheims erläutert aus folgenden Gründen: »Hier gehen nicht nur die (selbst-)bewussten Elemente der Identität verloren, sondern das Milieu mit seinen konjunktiven Erfahrungen selbst gerät in eine Krise bzw. löst sich in großen Teilen auf. Diese Milieudesintegration impliziert den Verlust kollektiver Handlungsgewohnheiten auf der Ebene der impliziten, konjunktiven Erfahrung.« (Ebd.: 213)

Deshalb lasse sich die Passung von Selbst und Welt auch nicht wieder zusammenfügen, indem ein individuelles Handeln erfolgt. Vielmehr habe zur deren Neuformation eine kollektive Handlungspraxis einzusetzen, da es das Milieu selbst ist, das sich auflöst (vgl. ebd.). Diese kollektive Handlungspraxis werde hier über den Wechsel von Gruppen oder deren Neuaufstellung im Rahmen eines Kollektivimpulses vollzogen und in situativen Erlebnissen – etwa dem Erproben

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von Breakdance-Elementen oder musikalischen Melodien – verstetigt (vgl. ebd.: 278). So forme es neue soziale Beziehungen, die auch die Identität des Einzelnen nicht unberührt lasse. Denn am Ende des spontanen Bildungsprozesses stehe in der selbstreflexiven Retrospektive der befragten Personen die Erkenntnis, dass sich ihr Leben auf Grund bestimmter Entwicklungen und Gegebenheiten gewandelt habe, sie biographische Brüche durchlebt hätten und nun auf eine neue IchIdentität blicken könnten. Eben das interpretiert Nohl als den Gewinn einer neuen Weltreferenz, da ab jenem Moment wieder eine Passung von Selbst und Welt besteht. Die ›Readjustierung‹ des Selbst zur Welt erfolgt in der Lesart Nohls also durch den Aufbau bzw. den Wandel von Interaktionsbezügen und diese führen – wenn sie in der letzten Phase dann auch reflexiv vergegenwärtigt werden – zum »Bewusstsein für den Wandlungsprozess und für das neu entstandene Selbst« (ebd.: 281). Das aber ist, wie Nohl selbst verlautet, nicht nur keine erschöpfende Durchdringung der für bildungstheoretisch orientierte Biographieanalysen eingeforderten individuellen Weltverhältnisse und ihrer Transformationen. Vielmehr kann eine solche Konklusion als nicht ausreichend differenziert aufgefasst werden, wenn und insofern man im bildungstheoretischen Verständnis von ›Bildung‹ als dem Verhältnis zu sich selbst, zu anderen Menschen und zu den Dingen und Themen der Welt spricht (vgl. Poenitsch 2004b: 18f.; Dörpinghaus/Poenitsch/ Wigger 2006: 10). Denn es handelt sich bei dem Dargestellten um gewandelte Interaktionserfahrungen, die Nohl – unter Rekurs auf Mead – neben Dingerfahrungen als Teil des Weltverhältnisses von Menschen verstehen will (vgl. Nohl 2006a: 212). So erfolgt allerdings eine Vermischung von Fremd- und Weltverhältnissen, die bildungstheoretisch besehen insofern unproduktiv ist, als sie das in der konsultierten Theorie Meads Angelegte, nämlich die Unterscheidung von Interaktionserfahrungen und Dingerfahrungen, nicht aufgreift und einer differenzierten Erfassung von Fremd- und Weltverhältnissen zugänglich macht. Dabei ist festzustellen, dass die Bezugnahme auf Meads Interaktionstheorie hier zwar die Unterscheidung zwischen Fremd- und Weltverhältnissen offerieren könnte, von sich aus aber keinesfalls in der Lage wäre, auch noch spezifische inhaltliche Dimensionen von ›Bildung‹ zu benennen. Und auch die kollektivitätstheoretischen Überlegungen, die unter Bezugnahme auf Mannheim erfolgen, können das nicht leisten, denn ihr Anliegen ist es schließlich, Prozesse der Vergemeinschaftung zu erklären. Insofern kann man das allenfalls von Deweys Pragmatismus erwarten, der in Nohls Konzeption einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung die Position eines Zentralbausteins einnimmt. Wird aber auf Nohls Rezeption der Schriften Deweys geblickt und danach gefragt, inwiefern diese der vor allen Dingen von Lothar Wigger für notwendig erachteten Maßga-

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be einer nicht nur formalen, sondern auch materialen ›Identifizierung‹ von Bildungsprozessen hinreichend gerecht werden, dann fällt der Befund ernüchternd aus. Denn allesamt sind die ›bildungsbezogenen‹ Kriterien, die anhand der Schriften Deweys herausgearbeitet werden, formaler Natur. Das trifft zweifelsfrei und ganz besonders auf die adjustment zu, die eine – nicht weiter festgelegte – Umorientierung im Leben des Subjekts und eine Veränderung der Welt beschreibt. Aber auch experiences, habits und Impulse geben keine inhaltlichen Auskünfte über das, was ›Bildung‹ heißt und wie sie möglich ist. Stattdessen werden diese Kategorien über den empirischen Weg mit konkreten Inhalten gefüllt. So wird das spontane Handeln – etwa das ungeplante und weitgehend unstrukturierte ›Musizieren‹ mit der Gitarre auf einem Zeltlager oder der Umgang mit dem Computer – als Konkretion der experience verstanden, in der ein neuer Impuls, nämlich die Fortsetzung dieses ›Musizierens‹ bzw. die interessierte Beschäftigung mit dem PC, auftritt (vgl. ebd.: 117, 268); kontinuierliche Handlungspraktiken bzw. routinisierte Handlungsabläufe, wie etwa migrationsbezogene Erfahrungen, stellen dabei habits dar, die überwunden und durch neue sedimentierte Einstellungs- und Wahrnehmungsmuster abgelöst werden müssen, damit es überhaupt zu einem spontanen Bildungsprozess kommt. Auf diese Weise lassen sich die an Deweys Schriften entwickelten Kategorien mit vielfältigen, wenngleich vielleicht auch nicht beliebigen, Inhalten füllen. Sie sollen dann auch aufzeigen, wie aus spontanem Handeln Bildung werden kann, wenn die in den Blick genommenen Protagonistinnen und Protagonisten ›Neues‹ erleben und tun. So werden zwar Einsichten in Transformationen von Lebensorientierungen erlangt: »Doch wird mit dem Merkmal des ›Neuen‹ als Bestimmungsgrund für das Vorliegen eines Bildungsschrittes unter der Hand ein normatives Kriterium eingeführt, das die biografische Analyse vor aller Empirie in eine Richtung lenkt, die nicht zwingend erscheint. Denn warum sollte nicht als Bildungsschritt ebenso gelten, wenn biografische Herausforderungen dazu führen, dass ein bisheriger Orientierungsrahmen gegen widerstrebende Umstände durchgehalten und gefestigt wird? Und lässt sich tatsächlich aus der bildungstheoretisch interessierten Biographieforschung die Frage ausklammern, inwieweit das ›Neue‹ auch das in einer konkreten historischen oder biografischen Situation Bessere ist?« (Müller 2009: 254)

Dieses ›Neue‹, das in der Konzeption Nohls (2006a: 77) die »adjustment/Wandlung/Bildung« ausmacht, ist also – folgt man der Kritik von Hans-Rüdiger Müller – weder selbstverständlich noch zwingend. Es müsste vielmehr bedacht und –

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das zeigt Müller mit dem Verweis auf die Frage nach dem Besseren an – mittels inhaltlicher ›Fixpunkte‹ sachlich begründet werden. Es lässt sich angesichts der vollzogenen Analysen deshalb nun im Sinne einer zusammenfassenden Betrachtung auch sagen: Nicht nur inhaltsbezogene Differenzierungen von ›Bildung‹ bleiben bei der handlungstheoretischen Konzeptualisierung einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung unterbestimmt. Auch die bildungstheoretische Analyse von Weltverhältnissen und die Veränderung derselben kommen in der Konzeption Nohls zu kurz; und das weniger weil er – so ein knapper kritischer Verweis, den Christiane Thompson (2006) bereithält – »an exponierten Stellen instrumentell und strategisch Elemente u.a. aus dem Pragmatismus Deweys heran zieht«, deren Status und Implikationen bei einer ›äußerlichen‹ Bezugnahme ungeklärt bleiben, sondern deshalb, weil die vorgelegten Analysen gerade dort, wo sie die schon klassische Unterscheidung Meads zwischen ›I‹ und ›me‹ aufgreifen, letztlich viel mehr und viel deutlicher so genannte Identitätsentwicklungen beschreiben, was sogar in Schaubildern verdeutlicht wird (vgl. Nohl 2006a: 208f., 257). Dass diese Identitätsentwicklungen durch gewandelte Interaktionserfahrungen zustande kommen, ist zwar eine spannende Einsicht. Sie verhilft aber weder der bildungstheoretischen Erfassung individueller Weltverhältnisse noch kann sie auf überzeugende Weise Bildungstheorie und Bildungsforschung verbinden.

2.5 B EFUNDE

ZUR P ROGRAMMATIK DER BILDUNGSTHEORETISCH ORIENTIERTEN B IOGRAPHIEFORSCHUNG – E INORDNUNGEN UND W EITERFÜHRUNGEN

Wie anhand der vorangehenden vier Ansätze rekonstruiert und analysiert wurde, versucht der Forschungsansatz der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung eine Schnittstelle zwischen jener Tradition, die der Bildungsbegriff in der wissenschaftlichen Pädagogik aufweist, und der (sozial-)wissenschaftlich motivierten Erforschung konkreter Bildungsprozesse über die Kategorie der Biographie herzustellen. Biographie fungiert in dem Sinne also als eine »vermittelnde Kategorie«, wie es Winfried Marotzki (1996) in dem schon mehrfach erwähnten progressiven Beitrag zum Ausdruck bringt, der nicht nur neue Konturen Allgemeiner Pädagogik benennt, sondern auch deutliche Bestrebungen artikuliert, Fragen der Subjektivitätskonstitution empirisch nachzugehen. Um genau das zu tun, wertet die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung narrative Interviews im Horizont von bildungstheoretischen Theorien bzw. Thoremen aus

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und unterbreitet auf diese Weise ein spezifisches Angebot, welches das ›ambivalente‹ Verhältnis zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung produktiv zu bearbeiten beansprucht. Konsequenterweise fehlt daher auch in keinem der berücksichtigten Ansätze der Hinweis darauf, dass Bildungstheorie und Bildungsforschung durch eine bildungstheoretisch elaborierte und empirisch fundierte Biographieforschung in ein reflexives Verhältnis gebracht und der zwischen ihnen liegende Hiatus bewältigt werden könne; man dürfe eben nur keine Unüberwindbarkeit prinzipieller Art proklamieren und damit das tun, was jene Positionen auszeichnet, die ein Diametralitätsverhältnis stark machen. Doch wie steht es nun um diesen Anspruch der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung? Inwiefern kann er als ein rechtmäßiger und überzeugend vorgetragener aufgefasst werden? Der ausführliche Durchgang durch vier ausgewählte Arbeiten der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung und die dabei erlangte Einsicht sollte nun eine Antwort auf diese Frage erlauben. Dabei dürfte es hilfreich bzw. angebracht erscheinen, sich nochmals einer Gemeinsamkeit der vier Ansätze zu vergewissern, um sodann auf die Erträge der kritischen Auseinandersetzungen zu blicken. Auf diese Weise werden Einordnungen vorgenommen und Weiterführungen deutlich. Die vier Arbeiten finden ihren Ausgangspunkt in dem Gedanken, dass die Analyse von Bildungsprozessen aus biographietheoretischer Perspektive die Möglichkeit bietet, die Verfasstheit von ›Bildung‹ in und aus der Sicht konkreter Individuen zu bestimmen. Auf diese Weise könne man ›Bildung‹ – so die Position, die Marotzki (1990a), Koller (1999a), von Felden (2003) und Nohl (2006a) in ihren Arbeiten der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung vertreten – gerade erfahrungswissenschaftlich ›anreichern‹. Als Anlass von Bildungsprozessen werden dabei Krisenerfahrungen, die Konfrontation mit bis dato unbekannten Problemlagen oder auch neuartige Ereignisse angesehen, für deren Bewältigung die bisher ausgebildeten Selbst- und Weltsichten der betreffenden Individuen nicht genügen und insofern verändert, d.h. transformiert werden müssen. In Marotzkis Konzeption geschieht dies als Modalitäts- bzw. Kontexturtransformationen über die Herausbildung eines Negationsstils, der einen selbst gestalteten biographischen Entwurf ermöglicht. Dabei ist der Anlass der Transformation, also die Notwendigkeit der Veränderung von Selbst- und Weltverhältnissen nicht nur individuell, sondern gleichsam zeitdiagnostisch bedingt, weil es angesichts eines Kontingenzzuwachses in hochkomplexen Gesellschaften darum geht, Orientierung in der Welt zu finden und Selbstbehauptung zu erlangen. In Kollers Ansatz werden persönliche Veränderungen vollzogen, indem neue Ausdrucksmöglichkeiten für das gefunden werden, was in den bisher verfügbaren Diskursarten nicht gesagt werden kann. Als hartnäckiger Einspruch ge-

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gen die Verfestigung der Kategorien, mit denen Menschen ihr Verhältnis zur Welt und zu sich selbst zu fassen suchen, vollzieht sich das Erfinden neuer Diskursarten zur Artikulation des bisher Nicht-Sagbaren als Reflex auf biographische Problemlagen. In der Studie Heide von Feldens ereignet sich die Veränderung von Selbst- und Weltsichten durch den Aufbau handlungsschematischer Strukturen und dem gleichzeitigen Abbau von Abhängigkeiten. Auf diese Weise wird individuelle Handlungsfähigkeit erreicht und Selbstbestimmung gewonnen, wobei die Bedeutung gesellschaftlicher Anerkennung und die Eingebundenheit in soziale Ordnungen bei diesem Prozess der Wandlung nicht zu unterschätzen ist. Ausgelöst wird die Transformation des Selbst-Welt-Verhältnisses dabei z.B. durch Inhalte des Studiums, die bislang selbstverständliche Strukturen, wie solche der geschlechtsbedingten Normierung, fragwürdig und bedenkenswert machen. In Nohls Arbeit erfolgt die Konzentration auf das spontane Handeln als den Beginn eines Wandlungsprozesses, der phasenhaft erfolgt und den Befragten schließlich eine neue Sicht auf sich selbst sowie ihre Vergangenheit ›zusichert‹. Spontanes Handeln geschieht dabei aber nicht als unmittelbare Reaktion auf eine Krise oder biographische Problemlage, sondern es vollzieht sich gleichsam zufällig und jenseits von Zwang, Gewohnheit und Reflexion. Dennoch ereignet sich auch hier eine Entzweiung der Selbst-Welt-Relation. Im Wandlungsprozess wird diese Entzweiung dann aber durch spontanes Handeln abgefangen, und im Modus biographischer Reflexion erfolgt schließlich die Herstellung einer neuen Passung von Selbst und Welt. Damit erfährt ›Bildung‹ in den vier untersuchten Ansätzen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung die Bedeutung einer »Transformation von Lebensorientierungen« (Nohl 2006a: 13) bzw. die eines Wandlungsprozesses, wie es unter unmittelbarem Bezug auf eine der von Fritz Schütze erarbeiteten »Prozeßstrukturen des Lebensablaufs« (Schütze 1981) zumeist heißt. Mit diesem Verständnis von ›Bildung‹ etabliert der Forschungsansatz der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung einen Verweisungszusammenhang von Bildungstheorie und Bildungsforschung im Kontext der qualitativen Forschung (siehe Kap. 1.2.3). Indem hier nämlich bildungstheoretische Theorien und Theoreme in ein produktives Verhältnis mit qualitativer Forschung gebracht werden, erfolgt ein Ausgleich entgegenstehender Meinungen zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung und damit eine Vermeidung der rigorosen Entgegensetzung dieser beiden ›Wissensformen‹. Rechtfertigt dieser Umstand jedoch schon, den Vermittlungsanspruch der Arbeiten anzunehmen? In Anbetracht der vorliegenden Analysen ist dem nicht zuzustimmen. Die Behauptung nämlich, dass es »diesen Rekonstruktionen von Bildungsprozessen aus erzählten Biographien gelingt, […] zwischen empirischer Bildungsforschung und klassi-

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scher Bildungstheorie zu vermitteln« (Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger 2006: 134)48, könnte vorbehaltlos nur unter ganz bestimmten Umständen Geltung beanspruchen und Anerkennung finden. Zum einen müsste man davon ausgehen, dass durch den Akt der ›Vermittlung‹ und den Einschub eines Mittelstücks, hier die Kategorie der Biographie, nicht nur – frei nach dem Philosophen Fichte gesprochen – in der Mitte alles richtig vereint und verknüpft wird und die beiden äußeren Enden auf diese Weise zusammengebracht werden.49 Das aber ist nicht nur keineswegs der Fall. Es unterliegt auch einer äußerst problematischen Annahme, weshalb sich fragen lässt: »Was sind denn die gesuchten Vermittlungsprinzipien und -instanzen? Sind sie […] etwas Außer-, Vor- oder Übertheoretisches? Erweisen sie sich nicht etwa, wenn man sie analysiert, als Theorie-abhängig?« (Ruhloff 1979: 177) Folgt man der in diesen Fragen angelegten Linie, dann sind alle Vermittlungskonzepte – also auch jenes, das die vier Arbeiten der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung vorlegen – zurückzuweisen, da sie ein und dieselbe Schwierigkeit besitzen: Sie versuchen nämlich unter Angabe bestimmter Kriterien, Theorie und Empirie zu vermitteln, verkennen dabei aber, dass die Kriterien der Vermittlung selbst wiederum in den Sätzen einer Theorie gefasst sind (vgl. ebd.).50 Damit widerlegen die Vermittlungskonzepte genau besehen das, was sie als Lösung der Differenz zwischen Theorie und Empirie präsentieren.

48 Diese Äußerung, die in dem Lehrbuch »Einführung in die Theorie der Bildung« (Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger 2006) getroffen wird, ist deutlich weniger differenziert hergeleitet und begründet als jene Aussagen, die sowohl Wigger als auch Poenitsch an anderen Stellen treffen (vgl. Wigger 2004; Poenitsch 2004a und 2008). 49 Zu dieser Position Fichtes und weiteren philosophiegeschichtlichen Stationen zum Gedanken der ›Vermittlung‹ siehe den Eintrag von Arndt (2001) im 11. Band des Historischen Wörterbuchs der Philosophie. Vermittlung, im Griechischen µεσιτεία, hat ursprünglich die Bedeutung des Einschubs eines Mittelstücks zwischen unvermittelten Dingen, was sowohl eine Trennung der so Vermittelten als auch eine Verbindung zwischen ihnen bedeuten kann. Im alltäglichen Sprachgebrauch hat sich aber ausschließlich die zweite Bedeutung durchgesetzt, und zwar im Sinne des Zusammenführens und Vereinens (vgl. Arndt 2001: 722). 50 Ähnlich auch Poenitsch (2008), der in skeptischer Manier die Frage aufwirft, ob das Problem des Verhältnisses von Theorie und Empirie, in welchem jenes von Bildungstheorie und Bildungsforschung gleichsam aufgehoben ist, überhaupt theoretisch, d.h. z.B. durch den Auf- und Nachweis einer logischen Vermittlung, zu lösen ist (vgl. Poenitsch 2008: 63).

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Eine Vermittlung ist auf diesem Weg also gar nicht möglich. Sie ist aber – wie Ruhloff meint – auch nicht nötig. ǽWesentlich erscheint hingegen, daß zwischen […] Theorie und ›Empirie‹ kein notwendiger Sprung und keine grundsätzliche Differenz mit hinreichenden Gründen anzusetzen ist. Solche ›Sprünge‹ oder ›Differenzen‹ sind bezweifelbare Voraussetzungen besonderer Theorien, denen die Frage entgegenzuhalten ist: Wo und wie sind eigentlich […] die nicht irgendwie theoretisch angeleitete ›Empirie‹ und ihre Ergebnisse?« (Ebd.: 178; Herv. i.O.)

Ebenso wie es Empirie ›an und für sich‹, d.h. ohne irgendeine theoretische Beimischung nicht gibt, so ist auch die Vorstellung von Theorien, die ausschließlich dem Reich der Ideen verpflichtet sind und »gleichsam nur für die Archive der Menschheitsgeschichte arbeiteten, […] ein von den Polemikern gegen Theorie und Wissenschaft ausgedachter Nonsens« (ebd.). Deshalb formuliert Ruhloff (1983a: 434) an anderer Stelle an diese Einsicht anknüpfend: »Eine prinzipielle Kontroverse über das Verhältnis von Theorie und Erfahrung, wie sie in der Pädagogik […] wissenschafts- und theorieunangemessene standpunkthafte Fixierungen hervorgetrieben hat, scheint […] heute obsolet geworden zu sein. Im Ansatz veraltet und verfehlt wären dann möglicherweise auch alle Versuche, die mit neuen methodischen und methodologischen Überlegungen im Geleise der alten Dichotomien weiterzufahren versuchen.«

Zum anderen müssen bei dem o.a. Urteil, das sich für eine überzeugende Vermittlung zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung ausspricht, entscheidende Problemstellen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, die die kritisch motivierte Analyse hat ausfindig machen können, eskamotiert werden. Dass diese nämlich keineswegs von marginaler Gestalt sind, sondern ins Zentrum des Vermittlungsanspruchs verweisen, zeigen die eingehenden Auseinandersetzungen in den Kap 2.1 bis 2.4 auf. Dabei ist aus bildungstheoretischer Perspektive am Zuschnitt jener in den Blick genommenen Ansätze vor allem zu monieren, dass der Wandel von Selbstverhältnissen stark gemacht und sich in den Analysen demzufolge auf Persönlichkeits- bzw. Identitätsentwicklungen gerichtet wird. Wie es die kritischen Stimmen zum Forschungsansatz der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung nahelegen, sollte allerdings, wenn der Dreh- und Angelpunkt der Analysen auf ›Bildung‹ in totum gerichtet ist, nicht nur eine Rekonstruktion der Subjektkonstitution erfolgen. Es müsste zudem eine Analyseprozedur eingeschlagen werden, die die individuellen Weltverhältnisse und deren – wie sich mit Verweis auf eine aktuelle pädagogische Be-

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grifflichkeit formulieren lässt – ›Bildungsbedeutsamkeit‹51 deutlicher herausarbeitet. Und schließlich wäre es – in Erweiterung zu der von Wigger vorgetragenen Kritik und als Replik auf Nohls Vorgehen – erforderlich, Weltverhältnisse nicht mit Fremdverhältnissen gleichzusetzen, da ansonsten wichtige Differenzierungen zur Analyse von ›Bildung‹ verloren gehen. Einer solchen feinsinnig-sensiblen Unterscheidung von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen und ihrer ›Bildungsbedeutsamkeit‹ bleiben die vier untersuchten Arbeiten jedoch schuldig. Zwar ist damit nicht gesagt, dass sie in den biographischen Analysen nicht doch auf das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst, zu anderen und zur Welt zu sprechen kommen. Für die Identifizierung von Bildungsprozessen spielt jedoch die Wandlung von Selbstverhältnissen eine Rolle. Auch erfahren inhaltliche Differenzierungen sowie gegenstandsspezifische Topoi in den ausgewiesenen Bildungsprozessen kaum Berücksichtigung. Stattdessen erfolgen die Analysen auf formaler Ebene. Wird dieser und jener Umstand berücksichtigt, dann kann der erfolgreichen Vermittlung zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung im Rahmen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung also nicht das Wort geredet werden. Interessant ist dabei vor allem auch, dass die Gründe für die Zurückweisung des Vermittlungsanspruchs auf Grund der Verkürzung von biographischen Bildungsprozessen auf Selbstverhältnisse sowie der zuvörderst formalen Bestimmung von ›Bildung‹ alle vier untersuchten Arbeiten betreffen. Dies ist eine Auffälligkeit, die nach einer Erklärung verlangt. Mit den je spezifischen Modellierungen innerhalb der Arbeiten von Marotzki, Koller, von Felden und Nohl lässt sich eine fundierte Erklärung jedoch wohl nicht hervorbringen. Vielmehr ist nach einem übergreifenden Zusammenhang zu suchen. Und zu finden ist dieser in der Anlehnung an die von Fritz Schütze erarbeitete Figur des Wandlungsprozesses (vgl. Fuchs 2010b). In den vier untersuchten Arbeiten wird ›Bildung‹ nämlich stets im Kontext von Wandlungsprozessen betrachtet. Wand-

51 Der Begriff ›Bildungsbedeutsamkeit‹ wird häufig im Kontext von Arbeiten verwendet, die die Familie als ›Bildungsort‹ untersuchen und nach deren Leistungen für die ›Bildung‹ des Subjekts fragen. Siehe hierzu bspw. Büchner/Krah 2006 oder auch Ecarius/Wahl 2009. Allerdings findet der Ausdruck ›Bildungsbedeutsamkeit‹ auch im Rahmen der ästhetischen Bildung hin und wieder Verwendung. Etwa bei Klaus Mollenhauer (1996: 29, 32, 36) oder Karin-Sophie Richter-Reichenbach (1983: VIII, 5, 19). Und auch im bildungsphilosophischem Diskurs ist die Rede von der ›Bildungsbedeutsamkeit‹ nicht ganz und gar unüblich; u.a. bei Schönherr (2003: 15). Nach Hermann Röhrs (1968: XI) ist es sogar »das wesentliche Ziel der Bildungsphilosophie […] die Frage nach der Bildungsbedeutsamkeit zu stellen«.

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lungsprozesse bilden dabei zusammen mit den institutionellen Ablaufmustern, den biographischen Handlungsschemata und den Verlaufskurven die biographietheoretischen Grundlagenkategorien, mit deren Hilfe der Strukturverlauf einer Biographie deutlich werden soll.52 In der Diktion Schützes sollen diese vier Grundlagenkategorien »die biographische Gesamtformung, d.h. die lebensgeschichtliche Abfolge der erfahrungsdominanten Prozeßstrukturen in den einzelnen Lebensabschnitten bis hin zur gegenwärtig dominanten Prozeßstruktur« (Schütze 1983: 286) aufzeigen. Wandlungsprozesse richten sich dabei auf Transformationen, die in der ›Innenwelt‹ des Biographieträgers vor sich gehen. Diese können entweder auf eine langfristige Veränderung persönlicher Eigenschaften ausgerichtet sein oder aber relativ abrupt erfolgen und hier eine »Umschichtung

52 Das institutionelle Ablaufmuster der Lebensgeschichte bezieht sich dabei auf »eine Gesamterwartung regelmäßiger sequenzieller Zusammenhänge des Lebenszyklus mit normativer Geltung« (Schütze 1981: 68), die entweder vom Biographieträger selbst, seiner Interaktionspartner oder auch Dritter formuliert wird und seine Lebensgestaltung steuert. Bezogen auf familiale Lebensplanungen besagt ein solches institutionelles Ablaufmuster etwa, dass eine Eheschließung nicht vor dem Abschluss einer Berufsausbildung erfolgen sollte. Solche und ähnliche normative Vorstellungen steuern aber nicht nur Lebensverläufe, sondern sie nehmen auch Einfluss auf biographische Deutungen. Das biographische Handlungsschema, das für Schütze nicht minder relevant ist, bezieht sich auf Planungen des Biographieträgers, seine Orientierungsorganisationen und Verwirklichungsstrategien. Es umfasst »eine ganz Reihe von Unterphänomenen mit intentionalem Aktivitätscharakter« (ebd.: 70). Diese werden vor allem in Lebensplänen jeglicher Couleur präsent, also sowohl in solchen, die etwa elterlichen Vorgaben folgen oder bestimmten Erwartungen entsprechen als auch in solchen, die mit familialen Traditionen brechen und z.B. die Auswanderung in ein fremdes Land verwirklichen, um dort ein ›neues Leben‹ zu beginnen (vgl. ebd.: 77). Der Blick auf biographische Handlungsschemata kann in einer Biographieanalyse deutlich machen, wie der Biographieträger mit notorischen Diskrepanzen zwischen seinen Handlungsvorstellungen und den dazugehörigen Realisierungsschritten umgeht. Unter der Prozessstruktur der Verlaufskurve – vermutlich das prominenteste Konzept von Schütze – werden biographische Prozesse verstanden, in denen der Biographieträger gleichsam schicksalhaft von äußeren Bedingungen getrieben wird. Es sind »Ereigniskaskaden des Erleidens« (ebd.: 97), in welchen der Biographieträger die Kontrolle über sein Leben verliert. Nicht selten bricht seine vermeintlich stabile Identitätsorientierung im Zuge solcher Erleidensprozesse zusammen. Die Fokussierung auf Verlaufskurven im Rahmen von Biographieanalysen bringt deren genaue Ablaufdynamik und sequenzielle Organisation hervor.

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der lebensgeschichtlich-gegenwärtig dominanten Ordnungsstruktur des Lebensablaufs« (Schütze 1981: 103) evozieren. Gerade in dieser zweiten Verständnisweise erfährt der Biographieträger bestimmte lebensgeschichtliche Ereignisse als plötzlich eintretende, systematische Veränderungen seiner Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten, weshalb er ein neues Lebensgefühl entwickelt, sein bisher gelebtes Leben umdeutet und eine neue Identität hervorbringt: »Die bisherige biographische Gesamtformung wird dann in einer totalisierenden intentionalen Gesamtgestalt oppositiv formuliert und zur nunmehr überwundenen Teilfigur einer thematischen bzw. ›autobiographischen‹ Gesamtsicht umgegossen. Zugleich wird in der entstehenden thematischen Gesamtsicht die neue steuerungsdominante biographische Ordnungsstruktur zumindest aspektuell und vage als Zukunftsentwurf formuliert.« (Ebd.: 107)

Wandlungsprozesse zeichnen sich deshalb durch einen »qualitativen Sprung« (ebd.: 110) aus, der von einer wohlumrissenen Grundkategorie der Lebensführung zu einer anderen hinführt. Eine neue Sicht auf das vergangene Leben und eine veränderte Einstellung zu sich selbst werden dabei hervorgebracht. Weil nun aber gerade jene Ansätze der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung derartige Wandlungsprozesse mit Bildungsprozessen gleichsetzen, verwundert es nicht, dass die unter einer solchen Primärperspektive generierten Analysen in ihrer bildungstheoretischen Reichweite ›defizitär‹ bleiben: Weil der Wandlungsprozess als eine spezifische Prozessstruktur des Lebensablaufs zum Vorbild für einen Bildungsprozess genommen wird, dieser aber nur bedingt über die Art der Wandlung informiert und im Wesentlichen die Veränderungen selbstbezüglicher Aspekte des Biographieträgers, wie etwa seine Identitätsformation, seine Interessenskonstellation, seine Lebensstimmungen und seine persönlichen Relevanzstrukturen fokussiert, wird – erstens – einer Fokussierung auf Selbstverhältnisse Vorschub geleistet und – zweitens – die inhaltsbezogene Differenzierung biographischer Bildungsprozesse randständig. Der erste Aspekt dieser Konklusion verweist damit also auf das Problem, dass die »Vereinseitigung des Blicks auf die Entwicklung des Selbstverhältnisses« (Wigger 2004: 490) sowohl die Perspektive auf individuelle Welt- als auch auf Fremdverhältnisse überlagert. Die Auffassung einer bislang noch zu geringen bildungstheoretischen Ausrichtung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung wird im zweiten Aspekt der Konklusion auf den Begriff gebracht, indem hier zum Ausdruck kommt, dass die Potenziale klassischer Bildungstheorien ebenso wie auch die An- und Einsätze der ›Gegenwartspädagogik‹ wesentlich stärker berücksichtigt und fruchtbar gemacht werden könnten. Eine Vergewisserung der

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bildungstheoretischen Grundlagen und deren inhaltlicher Differenzierungen scheint daher weder ganz und gar abwegig noch das Schlechteste zu sein, um das Profil der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung zu schärfen (vgl. ebd.). Insofern würde sich gerade auch eine Reminiszenz an – wie in Kap. 1.2.3 dargestellt – jene frühen, jedoch nicht sonderlich umfangreich ausgearbeiteten Überlegungen zu einer Biographieforschung, die explizit auf ausgearbeitete Bildungstheorien rekurriert, als opportun erweisen (vgl. Kokemohr 1989; Marotzki 1991d). Vor einem solchen Hintergrund könnte eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung initiiert und das Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung unter anderen als auf ›Vermittlung‹ ausgerichteten Vorzeichen bestimmt werden.

II. Qualitativ-Empirisches

3 Lebensgeschichtliche Erzählungen und ›Bildungsgestalten‹ – Biographie- und bildungstheoretische Markierungen

Der erste Teil dieser Arbeit hat das Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung in zwei Zugriffen thematisiert. Ausgehend von einer historischsystematischen Betrachtung ging es zuerst darum, die Modi der Ineinanderwirkung beider ›Wissensformen‹ herauszuarbeiten. Auf diese Weise wurden die Konturen des ambivalenten Verhältnisses kenntlich gemacht und zentrale Momente angesprochen, die es erlauben, die Relationierung sowohl als Diametralitätsverhältnis (siehe Kap. 1.1) als auch als Komplementaritätsverhältnis (siehe Kap. 1.2) vorzunehmen. In Sinne eines Komplementaritätsverhältnisses wird die Beziehung zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung auch und gerade von der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung verstanden. Sie möchte nämlich eine Vermittlung zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung erreichen und gilt in erziehungswissenschaftlichen Diskussionszusammenhängen daher auch als prominente Figur, die beide Seiten der ›Bildung‹, die theoretische und empirische, zusammenfügt. Dazu knüpft sie gewissermaßen an eine abgeschwächte Version des Diametralitäsbefundes an und demonstriert, dass zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung sehr wohl Differenzen bestehen. Sie belässt es allerdings nicht bei diesem Problembefund und behauptet, dass diese Differenzen unüberbrückbar seien, sondern geht über sie hinaus, indem sie deutlich macht, wie beide ›Wissensformen‹ durch ein besonderes Arrangement zu einer Verbindung finden können. Auf sie und ihren Anspruch, Bildungstheorie und Bildungsforschung miteinander zu ›verknüpfen‹, erfolgte daraufhin der Blick (siehe Kap. 2). Anhand der Entwürfe von Winfried Marotzki, Hans-Christoph Koller, Heide von Felden und Arnd-Michael Nohl wurde aufgezeigt, wie eine Vermittlung zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung konkret arrangiert wird. Dazu wurden in einem rekonstruktiv-analytischen Nachvollzug der

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Entwürfe zuerst die jeweilige Gestalt und das favorisierte Vermittlungsverfahren skizziert, um sodann in kritischer Absicht die Tragfähigkeit dieser Konzeption zu prüfen. Dabei hat sich ergeben, dass die vier Arbeiten zur bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung zwar sehr wohl zeigen, wie ein in lebensgeschichtlichen Horizonten angesiedelter Bildungsbegriff imstande ist, empirische ›Übersetzungen‹ zu finden. Dass dies allein es aber schon rechtfertigt, die beanspruchte Vermittlung zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung vorbehaltlos anzuerkennen und als voll und ganz ›gelungen‹ zu bezeichnen, konnte durch eine intensive Prüfung der vier Arbeiten sowie der Markierung von Problemstellen in der konzeptionellen Gestalt in Frage gestellt werden. So haben die »Befunde zur Programmatik bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung – Einordnungen und Weiterführungen« (siehe Kap. 2.5) die Bedenken an der uneingeschränkten Zustimmung zur reklamierten Vermittlungsfunktion prägnant bündeln und das v.a. von Lothar Wigger vorgetragene Votum bestärken können, dass die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung zu wenig bildungstheoretisch ausgeprägt ist. In diesem Sinne leistet die vorgelegte Untersuchung im ersten Teil folglich einen Beitrag zum Versuch, »die kategoriale Ordnung zu schärfen, derer wir uns in den Wissenschaftsdiskursen über das Subjekt und seine Bildung bedienen« (Müller 2004: 88). Zugleich ist dieser Versuch darauf gerichtet, »die Ausblendungen zu hinterfragen, die wir […] dabei vornehmen« (ebd.). Denn die im Rahmen dieser Arbeiten entfalteten Analysen weisen Defizite in der Erfassung individueller Weltverhältnisse auf, subsumieren Fremd- unter Weltverhältnisse und lassen inhaltsbezogene Differenzierungen der biographischen Bildungsprozesse vermissen. Das ist – wie ebenfalls in Kap. 2.5 begründet – der engen Anlehnung an den Wandlungsprozess als eine spezifische Prozessstruktur des Lebensablaufs und seiner Gleichsetzung mit einem Bildungsprozess geschuldet. Es blieb allerdings nicht bei rein ›Destruktiv-Aufklärerischem‹. Trotz dieser kritischen Hinweise wurde bei der Prüfung der vier Ansätze nämlich deutlich, dass es nicht gerechtfertigt ist, würde man behaupten, dass die auf Bildungsprozesse ausgerichtete Biographieforschung keinerlei bildungstheoretische Referenzen besitzt. Ihrem Namen als bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung trägt sie also vollkommen zu recht. Allerdings – und das gilt gleichsam für alle vier berücksichtigten Ansätze, jedoch durchaus in unterschiedlicher Intensität – sind diese Orientierungen ausbaufähig. Die von den Protagonistinnen und Protagonisten der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung gewählten Leittheorien und deren – mal stärker, mal schwächer vorgenommene – Einbettung in den biographietheoretischen Zusammenhang von Schützes Prozessstrukturen des Lebensablaufs erweisen sich nämlich insofern als ergiebig, als

3 L EBENSGESCHICHTLICHE E RZÄHLUNGEN

UND

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mit ihnen Wandlungsprozesse bzw. Transformationen von Lebensorientierungen jedweder Couleur theoretisch erfasst werden können. Ihre bildungstheoretische Erklärungsreichweite bleibt jedoch eine eingeschränkte, wenn und insofern es bei der Demonstration von Änderungen im Selbstverhältnis bzw. dem Aufweis von Identitätsanstrengungen bleibt. Es folgte deshalb hieraus die Überlegung, ob sich für eine an bildungstheoretischen Frage- und Problemstellungen interessierte Biographieforschung nicht eine Anbindung an solche Theorien als weiterführend erweist, welche explizit die Idee der ›Bildung‹ in den Mittelpunkt rücken. Auf diese Weise könnten »Bildungsgestalten« (Wigger 2006: 111; Marotzki 1997: 84) markiert werden, die als »ein Koordinatensystem für die existenzielle Verankerung des Menschen« (ebd.) bestimmte Muster des Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisses deutlich machen und somit »einen in sich differenzierten Zusammenhang einer historischen Lage der Welt und einer subjektiven Verfasstheit und Stellung zu den objektiven Bedingungen, zu anderen und sich« (Wigger 2006: 111) zur Darstellung bringen. Mit diesem ersten Argumentationsschritt im Rücken werden nun im zweiten Teilabschnitt der Arbeit Perspektiven vorgestellt, die zur Bearbeitung der markierten Problemstellen hilfreich sein und sie einer Lösung zuführen können, um auf diese Weise das Forschungsgebiet der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung bildungstheoretisch zu reformulieren bzw. weiterzudenken. Die dazu präsentierten Überlegungen sind also als auf die beiden Problembereiche hinführende und sie bereichernde Reflexionen zu verstehen: Sie konzentrieren sich zum einen auf den Befund, dass mit den bislang praktizierten Wegen Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse nicht gleichermaßen in ihrer ›Bildungsbedeutsamkeit‹ berücksichtigt werden. Zum anderen richten sie das Augenmerk auf bildungstheoretische Konzeptionen, die es ermöglichen, ›Bildung‹ im Rahmen biographischer Forschung nicht einzig und allein unter formalen Gesichtspunkten zu bestimmen. Folgerichtig unterscheidet sich der hier unternommene Versuch damit von den im ersten Teil diskutierten Arbeiten, insofern er bestrebt ist, sich in seinen Analysen auf Bildungstheorien zu beziehen, mit denen Differenzierungen, inhaltliche Relationen und gegenstandsspezifische Auslegungen von ›Bildung‹ möglich werden (vgl. Wigger 2004: 486f.). Bildungstheoretisch soll dieser Versuch des Weiteren heißen, weil er über die Darstellung von Wandlungen des Selbstverhältnisses hinausgeht und zur Rekonstruktion individueller Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse hervorzudringen sucht, um somit ›Bildungsgestalten‹ zu rekonstruieren. Damit thematisiert er also das, was in den bisherigen Ansätzen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung als Problembereiche identifiziert und als erweiterungsbedürftig markiert wurde.

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Wie jede ›konstruktive‹ bzw. gegenstandsbezogene Untersuchung muss der nachstehende Versuch einer bildungstheoretisch fundierten Auslegung lebensgeschichtlicher Erzählungen nun – getreu der Formel »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (Kant KrV B 75) – Inhalte und Begriffe ansetzen, die als maßgeblich und fest keiner radikalen Infragestellung ausgesetzt werden können. Insofern unterscheidet sich dieser zweite Teil der Arbeit vom ersten, welcher gerade den freien und ungebundenen Blick in intentio obliqua kultivieren und Forschungspraxis als transzendentale Reflexion gestalten konnte. Das ist nun im zweiten Teil der Arbeit nicht mehr – zumindest nicht in jener Intensität – möglich, was nicht heißt, dass nun eine rein dogmatische ›Denkungsart‹ eingeschlagen wird. Die Generierung eines Vorverständnisses und der Entwurf leitender Aspekte geschehen im Folgenden jedoch durch Festlegungen in intentio recta. Dazu wird sich zuerst biographietheoretischen Bestimmungs- und Begründungsfiguren angenähert (siehe Kap. 3.1), um anschließend bildungstheoretische Schärfungen vorzunehmen (siehe Kap. 3.2). Beide Zugänge verfolgen dabei die Absicht, ein Gerüst aufzubauen, das auf massiven Pfeilern aufbauend für Halt sorgt. Denn nur dann, wenn solche festen Verankerungen existieren, lässt sich überhaupt eine fundierte Analyse auf den Weg bringen, die nicht von Anfang an und immerzu davon bedroht ist, einzustürzen oder in seichten Gebieten unterzugehen. Das aber gelingt nur, wenn die Pfeiler selbst nicht ständig demontiert, sondern als unumstößlich zementiert werden. Die Entscheidung für bestimmte Pfeiler, die dann nicht mehr ausgetauscht oder umplatziert werden können, ohne die Fundamente zum Einsturz zu bringen, ist die Krux und die »Hypothek, die das Forschen unweigerlich belastet« (Fischer 1966b: 27) – sie aber auch überhaupt möglich macht.

3.1 B IOGRAPHIETHEORETISCHE ANNÄHERUNGEN Der Aufbau eines Gerüstes, das dabei hilft, eine bildungstheoretisch fundierte Studie im Kontext und mit den Mitteln der Biographieforschung auf den Weg zu bringen, setzt an dieser Stelle mit einer Reflexion ein, welche einige Aspekte und Implikationen lebensgeschichtlichen Erzählens in den Mittelpunkt rückt. Zum einen geht es um den Auf- und Nachweis von Lebensgeschichten als artikulierte Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse (siehe Kap. 3.1.1). Die anderen Unterkapitel der »biographietheoretischen Annäherungen« setzen hieran an und führen den entwickelten Gedankengang weiter. So halten sie vor dem Hintergrund der Einsicht, dass die im Wesentlichen auf Selbstverhältnisse ausgerichtete Konzeption des Wandlungsprozesse kein probates Mittel darstellt, um eine

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differenzierte Erfassung biographischer Bildungsprozesse in den Dimensionen von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen zu ermöglichen, Ausschau nach Alternativen. Fündig werden sie nach einem Zwischenschritt in Kap. 3.1.2, bei dem biographische Bewusstheit und lebensgeschichtliche Konstruktion im Zentrum stehen, bei einem Modell erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung, das nicht biographische Gesamtformungen im Allgemeinen und Wandlungsprozesse im Besonderen betrachtet. Es bedient sich stattdessen einer biographischen Toposforschung und spürt auf dieser Grundlage signifikanten Ereignissen der Lebensgeschichte nach, die für das Verständnis einer Biographie von aufschlussreicher Bedeutung sind und somit auf ein individuelles Allgemeine verweisen (siehe Kap. 3.1.3). 3.1.1 Lebensgeschichten als artikulierte Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse Dass nun Aspekte und Implikationen lebensgeschichtlicher Erzählungen den Anfang machen, dürfte wohl keineswegs verwunderlich sein und ist dem Umstand geschuldet, dass eine bildungstheoretisch motivierte Arbeit der Biographieforschung sich zwangsläufig um Lebensgeschichten dreht. Und hierbei gilt es Folgendes zu konstatieren. Das Leben, das ein Mensch lebt, lebt er selbst. So ist es unmöglich, sich beim Leben vertreten zu lassen oder statt des eigenen, das eines anderes zu führen. Das klingt trivial und ist vielleicht sogar tautologisch. Zumindest aber dürfte es evident sein, denn jeder hat ex termini sein eigenes Leben zu führen und zu ›meistern‹. Die im Leben gemachten Erfahrungen sind selbst zu verarbeiten. So ist das Leben eine »persönliche Gestaltungsaufgabe des Subjekts« (Weber 1994: 367), weil es an niemanden abgegeben oder übertragen werden kann. In diesem Sinne ist das Subjekt folglich gekennzeichnet »durch alle Aktivitäten und Bewusstseinszustände, die sich auf die […] Gestaltung seines Lebens beziehen« (Schulze 2006a: 41). Eine solche Gestaltungsaufgabe kann das Subjekt nur auf der Basis seiner Lebenserfahrungen vornehmen, die sich – so Theodor Schulze, der »Nestor der neueren erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung« (Garz/Blömer 2002: 447), auf dessen Ausführungen im Folgenden verstärkt Bezug genommen wird – als eine Art von Erkenntnis begreifen. Sie nehmen ihren Ausgang von subjektiven Erlebnissen und sind damit zugleich das Resultat einer Auseinandersetzung des Subjekts mit der Welt, in der es lebt (vgl. Schulze 2006a: 40). Sie begleiten seine Bewegungen in Raum und Zeit und werden ihm im Reflektieren und Erinnern sowohl zugänglich als auch bedeutsam:

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»In dem Augenblick, in dem das Subjekt mit der Welt zusammenstößt, ist es ganz auf die Welt, auf den Gegenstand oder das Gegenüber, auf das Ereignis und auf seine Reaktion, seine Entscheidung, seine Handlung gerichtet. Erst in der nachträglichen Besinnung kommt ihm zum Bewußtsein, was geschehen ist, wird der Inhalt einer Erfahrung erkennbar. Dabei ist die Erinnerung selber ein produktiver Teil der Erfahrung. Sie ruft nicht einfach eine ausformulierte Information aus einem Datenspeicher ab. Sie arbeitet die Information erst heraus, indem sie sie herbeiruft und formuliert. Und das immer wieder neu. Das bedeutet: Nur über die Rekonstruktion von Erinnerungen lassen sich Lebenserfahrungen erfassen.« (Schulze 1997a: 325)

Es ist – folgt man Schulzes Gedankengang an dieser Stelle – also ein komplexes Wechselspiel, das zwischen Erlebnis, Erfahrung und Erinnerung vonstattengeht und das dazu führt, dass im Leben zwar durchaus viel erlebt, aber nur ein Bruchteil davon erinnert wird und zu Lebenserfahrungen gerinnt. Was Lebenserfahrungen besonders auszeichnet, ist darin zu sehen, dass aus der unübersehbaren Menge der individuellen Erlebnisse einige auswählt und mit Bedeutung versehen werden, die für das Subjekt – auf welche Weise auch immer – gehaltvoll und gewissermaßen ›nachhaltig‹ sind (vgl. ebd.: 326). Solche Lebenserfahrungen ›konfigurieren‹ dann nicht nur das Sosein des Subjekts und nehmen auf sein Denken und Handeln Einfluss, sie werden von ihm auch ihm Gedächtnis behalten, sodass über sie immer wieder und aufs Neue nachgedacht werden kann. Dabei bleiben die Lebenserfahrungen jedoch immerzu »dem Anlaß, der sie hervorruft, und dem Prozeß, in dem sie sich herausbilden, verhaftet« (ebd.). Wird sich also einer Lebenserfahrung vergegenwärtigt, so erfolgt das in Form der Erinnerung von Situationen und Szenen, von bildhaften Eindrücken und sprachlichen Wendungen, von Gefühlen, Geräuschen, Gerüchen usw. usf. (vgl. ebd.). Andere Menschen können daran zwar insofern beteiligt sein, als sie mit diesen Lebenserfahrungen in einen Zusammenhang gebracht werden, aber was bestimmte Lebenserfahrungen letztendlich für das Subjekt bedeuten, das unterliegt einzig und allein ihm selbst. Dieser Vorgang lässt sich deshalb nicht normativ bestimmen; es lässt sich also nicht vorschreiben, was das Subjekt als wichtige Lebenserfahrung aufzufassen hat. Noch ist es möglich, ihn zu messen oder von außen zu beobachten. Wohl aber kann das Subjekt andere darüber unterrichten, was seine schönsten oder auch schlimmsten Lebenserfahrungen sind. Es kann auch sagen, was es von bestimmten Erlebnissen noch weiß oder erzählen, auf welche Weise es einen Lebensabschnitt wahrgenommen hat. Es kann schildern, welche persönlichen Erfahrungen es in diesen Abschnitten gemacht hat und begründen, warum es bestimmte Entscheidungen im Leben getroffen hat.

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Wenn das Subjekt von seinen Lebenserfahrungen erzählt, dann findet deren Bedeutung ihren Ausdruck »in einer narrativen und zugleich symbolisierenden Form der sprachlichen Äußerung« (ebd.). Es ist dabei die narrative Gestalt der Äußerung, die den Prozesscharakter der Lebenserfahrung fokussiert und ihr symbolisierender Charakter, der die Vielfalt ihrer Verweisungen offenhält. Das Erzählen ermöglicht es also, Lebenserfahrungen sowohl in ihren Ursprüngen und Verläufen zu umreißen, als auch in ihren flexiblen Wechselbezüglichkeiten zu präsentieren. Lebenserfahrungen werden auf diese Weise narrativ artikuliert und zu Geschichten verwoben. So formuliert Schulze (2002a: 138) auch: »Es ist das Ich, das erzählt, aber auch das Ich, das erlebt hat, was es erzählt. Es ist das Ich, das sich erinnert und das seine Erinnerungen reflektiert. Es ist das Ich, das lebt und das sich zu seinem Leben verhält, entwerfend und erinnernd, das etwas von seinem Leben erwartet und sich in ihm zurechtzufinden und zu behaupten sucht«. Die narrative Artikulation von Lebenserfahrungen und ihre flexible Bündelung zu Geschichten ist demzufolge auch als ein Vorgang zu verstehen, bei welchem das Subjekt sich auf bestimmte Weise positioniert und die damit einhergehende Option auf individuelle Selbstgestaltung der eigenen Lebensgeschichte wahrnimmt. So ist das Subjekt gleichzeitig Produzent und Produkt seiner Lebensgeschichte. Denn im »Verlauf seines Lebens erfährt das Individuum […] viel über […] sich selbst: wie die anderen es sehen und wie es selbst sich sieht, was es sein möchte oder könnte und was tatsächlich aus ihm geworden ist« (Schulze 2006a: 45). Diese Selbstbilder und -wahrnehmungen fließen in den Zusammenhang der Lebenserfahrungen ein und bewirken eine Haltung, die das Subjekt gegenüber seinem Leben einnimmt: Das Selbstverhältnis. Im Erzählen spiegelt sich diese Haltung gegenüber sich selbst wider, denn hier »tritt das Subjekt sich selbst gegenüber, indem es das gelebte Leben erinnernd betrachtet und beurteilt, erzählend ordnet, deutet und rechtfertigt« (Schulze 2002b: 31). So bringt das Subjekt sich in seiner Lebensgeschichte selbst hervor (vgl. ebd.). Es bleibt beim Erzählen der eigenen Lebensgeschichte aber nicht bei einer Betonung des Selbstverhältnisses: »Das autobiographische Ich ist kein autonomes, unabhängiges, isoliertes und selbstherrliches Individuum, und in einer autobiographischen Erzählung geht es auch nicht allein oder vorwiegend um das Selbst, um Selbstvergewisserung, und Selbstdarstellung, um Persönlichkeitsbildung und Identitätsfindung« (Schulze 2010b: 34). Lebensgeschichtliche Erzählungen sind also nicht nur und nicht ausschließlich narrative Formen der Selbstthematisierung, wie es zuweilen heißt. Denn zugleich werden Positionierungen gegenüber Mitmenschen in den lebensgeschichtlichen Erzählungen deutlich. So richtet sich der Blick in solchen Narrationen

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auch auf Fremdverhältnisse, wodurch beispielsweise deutlich wird, auf welche Weise Menschen »Bindungen mit anderen oder einer Gemeinschaft eingehen, wie sie die Relation von Nähe und Distanz, von Verpflichtung und Freiheit balancieren« (Marotzki 2006c: 64; Herv. i.O.). Dabei ist auch von Bedeutung, dass in der lebensgeschichtlichen Erzählung die Mitteilung über innere Zustände und Vorgänge in der Regel verknüpft ist mit sozialen Umständen und Begebenheiten. Lebensgeschichtliche Erzählungen sagen daher immer etwas über die Person des Erzählers und auch über die Mitmenschen aus, mit denen dieser zusammenlebt und in Kontakt tritt. »Beziehungsnetze werden wahrnehmbar – die Konstellation in einer Familie oder in einer Betriebsgruppe und die in ihnen vorherrschenden Interaktionsmuster, die Stellung in der Geschwisterreihe, die signifikanten Anderen im näheren und weiteren Umfeld, das Netz der sozialen Kontakte, der Freunde und Anreger […]. Und zugleich treten deren mentale und ideologische Ausrichtungen in Erscheinung […]. Vielleicht ist der Vater der katholischen Arbeitertochter auch Alkoholiker, vielleicht stirbt ihre Mutter früh und sie kommt zu den Großeltern, oder sie hat eine ältere Schwester, die sich um sie kümmert; vielleicht zieht der Vater auch in die nahe Stadt, weil er dort Arbeit findet, vielleicht begegnet sie in der Schule einer verständnisvollen Lehrerin, die ihre Phantasie anregt und ihre Fähigkeit, sich auszudrücken, fördert, oder vielleicht findet sie den Anschluss an eine Jugendgruppe, die ihr Mut macht, mehr zu wollen.« (Schulze 2002b: 39)

Es ist dabei etwa in besonderer Weise das Generationenverhältnis, das einflussreich für die Herstellung und Weiterentwicklung der eigenen Lebensgeschichte in Auseinandersetzung mit anderen Menschen ist. Nicht selten geht es im lebensgeschichtlichen Erzählen um die Aufrechterhaltung einer Familien- und Generationensage, die spezielle Themen fortschreiben: Es wird etwa die Erfolgsgeschichte des Großvaters geschildert und als Abschreckung oder Faszinosum das schwarze Schaf der Familie vorgestellt. Solche Generationen- bzw. Familienthemen, also Themen, die spezifische familiale bzw. generationale Erfahrungen zum Ausdruck bringen und als allgemeine Orientierungstypen Routinen schaffen sowie im Bewusstsein der eingeweihten Mitglieder verankert sind, beinhalten Sinnstrukturen, welche als Erfahrungsrepertoire an die nächste Generation weitergegeben und von dieser genutzt werden können (vgl. Ecarius 2003: 537f. und 2007: 147f.). Im Erzählen werden Generationen- und Familiengeschichten so immer neu zur Darstellung gebracht, wodurch sie auch einem Wandel unterworfen sind. Auf diese Weise vollzieht sich im lebensgeschichtlichen Erzählen zwischen den Generationen ein grundlegender Erfahrungs- und Sinnbildungsprozess, durch den überhaupt erst Gemeinsamkeit und Differenz, Kontinuität und

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Diskontinuität erlebt werden. Generationen sind aber nicht nur über Lebensgeschichte in der familialen Generationenfolge, sondern auch über Gesellschaftsgeschichte in der historischen Generationenfolge miteinander verbunden (vgl. von Engelhardt 1997: 53). Deshalb halten lebensgeschichtliche Erzählungen neben Selbst- und Fremdverhältnissen auch noch eine dritte Dimension bereit: Es zeigen sich in ihnen nämlich ebenso die Verhältnisse der Welt. Über Weltverhältnisse erfahren Menschen von der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dabei zeigt sich in einer lebensgeschichtlichen Erzählung nicht nur, wie die Welt, in der ein Mensch lebt, beschaffen ist. Auch macht sie deutlich, wie dieser die Welt erlebt und was sie ihm bedeutet (vgl. Schulze 2002a: 142). Dementsprechend ausgewiesen ist die Rolle, die Weltverhältnisse in lebensgeschichtlichen Erzählungen spielen: »Mit seinem Geburtsdatum ist jeder Mensch einem bestimmten Jahrgang, einer Kohorte, einer Generation und einem Zeitalter zugeordnet und zugewiesen, und in jeder autobiographischen Erzählung spiegelt sich auch der Geist der Epoche. Zeittypische Lebensverhältnisse und Lebensformen, Sozialisationsbedingungen und Erziehungseinrichtungen werden beschrieben. Nähere und entferntere historische Ereignisse werden erwähnt und kommentiert oder auch aus unmittelbarer Anschauung vergegenwärtigt.« (Schulze 2002b: 41)

So treten beim autobiographischen Erzählen Strukturen der Welt hervor. Hierzu gehören etwa Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, Regeln und Gesetze, Gratifikationen und Sanktionen, Mechanismen sozialer Diskriminierung und Tabuisierung; also jegliche Arten von formalisierten Regelungen und informellen Praktiken. Sie bieten Vorgaben, an denen sich Menschen ausrichten und orientieren können – aber nicht unbedingt müssen (vgl. Schulze 2006a: 46). Strukturen der Welt sorgen in der Regel auch für eine Verortung in die gesellschaftliche Generationenfolge. »Die gesellschaftliche Generationenfolge wird erfahren als Zugehörigkeit zu den sozialen Altersklassen der Kinder, Jugendlichen, Erwachsenen und Alten, die mit einer unterschiedlichen Einbindung in die zentralen Institutionen der Gesellschaft (Bildungssystem, Beschäftigungssystem, soziale Versorgungssysteme), mit unterschiedlichen Lebensaufgaben und Lebenssituationen, mit unterschiedlichen sozialen Funktionen und Verhaltenserwartungen sowie mit unterschiedlichen Macht- und Einflußchancen verbunden sind.« (von Engelhardt 1997: 56)

Diese Erfahrung der Generationenzugehörigkeit ist immer eine relationale, welche die eigene Verortung mit der Beziehung zu anderen Generationen verbindet.

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In den verschiedenen Phasen des Lebenslaufs – Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und höheres Lebensalter – werden deshalb auch jeweils spezifische Beziehungen zu den anderen Generationen eingegangen. Die Erfahrung des Generationenverhältnisses als Zugehörigkeit zu einer Generation und als Beziehung zu den anderen Generationen beeinflusst die Verarbeitung und Deutung der eigenen Lebensgeschichte und wird in lebensgeschichtlichen Erzählungen artikuliert. Lebensgeschichten – so lässt sich daher sagen – werden durch Strukturen der Welt strukturiert: »Das beginnt mit dem Eintritt in das Leben (Geburt, Taufe), setzt sich bei den verschiedenen Übergängen im Lebenslauf (Schuleintritt, Firmung, Konfirmation, Beendigung der Ausbildung, Eintritt ins Berufsleben, Heirat, Austritt aus dem Berufsleben, ›runde‹ Geburtstage, Jubiläen) fort, kommt zu einem Abschluss mit dem Austritt aus dem irdischen Leben (Tod, Beerdigung), wird aber darüber hinaus in den verschiedenen Formen des narrativen Erinnerns und Gedenkens weitergeführt, über die die Verstorbenen (mit ihrer Geschichte) im sozialen Gedächtnis der Nachwelt lebendig bleiben.« (von Engelhardt 2006: 100)

Auf der Grundlage des bislang Gesagten vollzieht sich das lebensgeschichtliche Erzählen also gewissermaßen als eine ›Interaktion‹ in drei Dimensionen: Nämlich der Beziehung des Menschen zu sich selbst (Selbstverhältnis), zu anderen Menschen (Fremdverhältnis) und zur Welt (Weltverhältnis). Das mag keine sonderlich beachtliche Erkenntnis sein. Sie ist aber – gerade vor dem Hintergrund der in Kap. 2 vollzogenen kritischen Analysen und des Befunds, dass die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung Selbstverhältnisse überbestimmt – insofern bedeutsam, als sie eines nochmals deutlich macht: Lebensgeschichtliches Erzählen ist, obgleich auf das eigene Subjekt bezogen, nicht bloß eine Angelegenheit, in der ausschließlich Selbstverhältnisse zum Besten gegeben werden. Vielmehr beinhalten autobiographische Erzählungen auch und gerade Aspekte des Fremd- und Weltverhältnisses. Und nur durch eine Berücksichtigung und entsprechende Differenzierung dieser drei Dimensionen scheint man der Aussage von Theodor Schulze (2002b: 27) zustimmen zu können, dass lebensgeschichtliche Äußerungen Aufschluss geben über individuelle Vorgänge, Zustände und Prozesse, »die als solche nicht ohne weiteres beobachtbar sind«, die aber doch immer in Beziehung auf das Außen einer sozialen Welt stehen, »die es anderen ermöglicht, den Gehalt der Äußerung zu verstehen und nachzuvollziehen« (ebd.).

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3.1.2 Biographische Bewusstheit und narrative Konstruktion Ein solches Verstehen und Nachvollziehen lebensgeschichtlicher Äußerungen wird im Rahmen erziehungswissenschaftlicher Forschung auf der Basis des Biographiekonzeptes verfolgt, welches das ehrgeizige Ziel hat, die Schrift des Lebens – das bezeichnet der Ausdruck βιογραφία im ursprünglichen Sinne – zu entziffern. Der Ausdruck ›entziffern‹ verweist hierbei zudem darauf, dass Biographien, also Geschichten über das gelebte Leben, nicht einfach als problemlos verstehbare Dokumente vorliegen. Sie sind nicht schlicht vorhanden und unmittelbar zugänglich, sondern müssen erst aufgefunden und hervorgebracht werden. Biographien erweisen sich insofern zwar als durchaus vielversprechend; dabei sind sie auch widerspenstig. Denn sie sind erst verstehbar zu machen. Es gibt keine Biographien »›an sich‹ oder unabhängig von ihrer jeweiligen sprachlichen Artikulation, sondern es gibt sie immer nur als sprachlich artikulierte Geschichten« (Apitzsch et al. 2006: 49). Egal wie kreativ und souverän jemand daher seine eigene Lebensgeschichte vorträgt, es ist immer sprachliches Material, auf das er in der Wahl seiner Mittel eingeschränkt ist, will er sich und anderen das Gesagte verständlich machen. Aber nicht nur das Subjekt, das von seinem Leben erzählt, ist dabei auf Sprachliches verwiesen; auch und gerade die Dechiffrierung von Biographien folgt sprachlichen Mustern.1 Damit Menschen von ihrer Lebensgeschichte erzählen können, muss bei ihnen neben einer Sprachfähigkeit aber auch ein biographisches Bewusstsein ausgeprägt sein. Folgt man gängigen Befunden, so entwickelt sich das biographische Bewusstsein erst im Lauf der Zeit und ist daher eben nicht mit der Sprachfähigkeit identisch (vgl. Schulze 2006b: insbes. 36ff.). Daher wird man wohl auch sagen können, dass Menschen erst durch die sukzessive Teilhabe an der Praxis lebensgeschichtlichen Erzählens ein eigenes biographisches Bewusstsein ausprägen. Die Vorstellung vom eigenen Leben gestaltet sich so als »ein Prozess allmählich wachsender Bewusstheit, die sich nur langsam und in kleinen Ausschnitten […] aus einer selbstverständlich hingenommenen Umweltzugehörigkeit und Wachstumsbewegung herauszulösen scheint« (ebd.: 39). Im Verlauf des Heranwachsens erfährt das biographische Bewusstsein dann eine Ausweitung,

1

Es kommt deshalb nicht von ungefähr, dass Fritz Schütze, Rainer Kokemohr und Hans-Christoph Koller im Rahmen ihrer biographietheoretischen Überlegungen gerade Erzähltheorie bzw. Rhetorik zum Gegenstand tiefgründiger Ausführungen erheben. Siehe Schütze 1987, Koller 1994, Kokemohr/Koller 1996, aber auch Kokemohr/Prawda (1989: 239), die feststellen: »Erst die texttheoretische Anerkennung einer Biographie erlaubt deren […] Deutung.«

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wobei auch die Geschichten der Familie und die der Gesellschaft – etwa in Form von historischen Großereignissen, Kriegen, Wirtschaftskrisen, politisch-kulturellen Umbrüchen usw. – über Erzählungen angeeignet werden. Auf diese Weise werden in der Kindheit die entscheidenden Grundlagen für die retro- und prospektive Vergegenwärtigung des Lebens gelegt (vgl. von Engelhardt 2006: 102). Und während der Jugendzeit kommt das biographische Bewusstsein zur vollen Entfaltung, sodass sich dieser Lebensabschnitt aus biographietheoretischer Perspektive als äußerst interessant erweist: »Interessen werden erweckt; Wunschvorstellungen über eine erstrebenswerte Zukunft stellen sich ein; Perspektiven bilden sich aus; Rollen und Haltungen werden angenommen und durchgespielt, neue Umwelten und Situationen erkundet, Kompetenzen erworben; unterschiedliche Möglichkeiten einer gesellschaftlichen Existenz werden erwogen, Karrieren entworfen, Chancen und Risiken, mögliche Erfolge und Aufwendungen abgeschätzt, Pläne geschmiedet und wieder verworfen. Biographisch relevante Lernfelder und Lebenslinien konstituieren sich« (Schulze 2006b: 40).

Auch haben im Jugendalter »die Heranwachsenden den übergreifenden Lebenszyklus mit dem Beginn der Geburt und dem Ende des Todes und den Lebensphasen Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und Alter als eine selbstverständliche zeitliche Strukturierung ihrer Lebenswelt internalisiert« (von Engelhardt 2006: 103). Die Fähigkeit, das eigene Leben in Form einer Erzählung zu präsentieren, erfährt im weiteren Lebenslauf dann keine wesentliche Veränderung mehr. Wohl aber wandelt sich die Ausgestaltung des biographischen Erzählens mit dem fortschreitenden Lebensalter. Dass sich im Zusammenhang des Wechsels der Lebensphasen, der Veränderung des Lebensverlaufs und der Lebenssituationen die narrative Ausgestaltung und Darstellung des Lebens gewandelt hat, zeigt sich jedoch immer erst in der Rückschau. »Besonders deutlich tritt eine solche Veränderung bei einschneidenden Zäsuren und Wendepunkten im Leben hervor, bei Krisen und neuen Entwicklungschancen, beim plötzlichen Wechsel des Lebensortes und der kulturellen Zugehörigkeit, bei politisch-weltanschaulichen und religiösen Konversionen, bei beruflichen Einbrüchen und Neuorientierungen, bei der Aufnahme neuer Liebens- und Lebensbeziehungen, beim Problematischwerden und Zerbrechen von Liebes- und Lebensgemeinschaften, beim Verlust nahe stehender Personen, bei schwerer Krankheit und beim Bewusstwerden des baldigen Todes, immer dann also, wenn die Kontinuität des Lebens mit seiner Einbettung in die Vergangenheit und Zukunft auf einschneidende Weise unterbrochen und deshalb eine neue narrative Verarbeitung notwendig wird.« (Ebd.: 106f.)

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Aber nicht nur solche und ähnliche Ereignisse führen zu einer veränderten Stellung im Lebenslauf und damit zum Um- und Neuerzählen des Lebens. Die biographische Gestaltung des Menschen ist stattdessen ständig vom rück- und vorausblickenden Um- und Neuerzählen des Lebens begleitet – und das auch ohne gravierende äußere Anlässe. Es bedarf also keineswegs »kritischer Lebensereignisse« (Filipp 1995), damit das gelebte Leben anders gesehen und erzählt wird. Die bewusste Anstrengung, biographische Perspektiven auf Vergangenheit und Zukunft sich und anderen gegenüber zur Darstellung zu bringen und »über die Bedingungen, Voraussetzungen, Ansprüche und Probleme der biographischen Gestaltung des Lebens aufzuklären« (Schulze 2006a: 49), ist eine immerwährende sowie mitlaufende Herausforderung und kann zu jeder Zeit eine neue Sicht auf sich, seine Mitmenschen und auf Verhältnisse der Welt hervorbringen. Biographien sind – so gelesen – Konstruktionen, die immer dann, wenn jemand über sein eigenes Leben nachdenkt oder von ihm erzählt, modifiziert und neu arrangiert werden. Betrachtungsweisen zum lebensgeschichtlichen Erzählen gehen allerdings – trotz der Annahme, dass es sich bei Biographien um narrative Konstruktionen handle – nicht selten von einer unhinterfragten Annahme über den autobiographischen Diskurs aus. Im Zentrum dieser Annahme steht die unmittelbare Beziehung von Leben und Erzählung, um die eine umfangreiche und intensive Diskussion geführt wird und deshalb nach wie vor nicht abschließend beantwortet ist.2 Dass aber eine Differenz zwischen Leben und Erzählen besteht, die immer

2

Leben und Erzählung scheinen keineswegs zwangsläufig eng miteinander verbunden zu sein. Gerade die so genannte Homologie-Annahme von Fritz Schütze wird in Wissenschaftskreisen an verschiedenen Stellen immer wieder bezweifelt und gerät unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten in Misskredit. Diese Annahme betont ein Entsprechungsverhältnis zwischen Erzählgestalt und Erfahrungsaufschichtung, und Schütze und andere Vertreter des biographietheoretischen Ansatzes haben gelegentlich durch uneindeutige Formulierungen die Vehemenz, mit der gegen diese Annahme vorgegangen wird, bestärkt. Denn zuweilen scheint es so, als ob der von Schütze entwickelte biographietheoretische Ansatz davon ausgeht, dass man zu schlichten und nicht interpretationsbedürftigen Fakten des biographischen Verlaufs gelangen könne (vgl. Bohnsack 2007: 102). Aber auch schwächer gestimmte Einwände, die die Rede von der Entsprechung zwischen Erzählgestalt und Erfahrungsaufschichtung nicht in jener Radikalität verstehen, monieren das nahegelegte Faktum, dass die Struktur der Erzählung der Abfolge des vergangenen Prozessgeschehens entsprechen soll. Etliche Verfechter der Biographieforschung machen allerdings darauf aufmerksam, dass die Homologie-Annahme nicht so verstanden werden dürfe, dass sie eine einfache Ent-

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dann deutlich hervortritt, wenn der Realitätsgehalt der erzählten Vergangenheit und die Wahrscheinlichkeit der erzählten Zukunft problematisiert und in Frage gestellt wird, dafür gibt es allemal einige gute Anzeichen (vgl. von Engelhardt 2006: 98f.). Zwar ist es durchaus möglich, dass man durch die lebensgeschichtliche Erzählung erfahren kann, wie man zu dem, der man heute ist, wurde. Die ›Tücken‹ der Erzählung des eigenen Lebens sind aber nicht zu unterschätzen. Denn das Leben ist in weiten Teilen eine terra incognita. So leidet die Erkundung des eigenen Lebens durchaus unter einem Materialmangel, der berechtigterweise die Frage aufkommen lässt, ob das, was da erzählt wird, tatsächlich das ganze Leben ist: »Auf der einen Seite bin ich in der Lage, mich über meine Situation zu verständigen und im Zuge dieser Verständigung eine Geschichte hervorzubringen; auf der anderen Seite bin ich auf eine bestimmte Weise geworden, ohne daß meine Retrospektive einen verläßlichen Zugriff auf diese Entwicklung hätte. Es bleibt unabwägbar, wie das Vergangene einwirkt auf das, was das eigene Gehabe, Getue – warum nicht: ›Gelebe‹ – ausmacht. Was meinem Gedächtnis entglitten ist, geht der Erzählung verloren: was ich verdränge, wirkt sich auf unkontrollierte Weise in ihr aus; ich bin nicht davor gefeit, Informationen verloren zu geben, über die ich vorerst noch verfüge. Da meine narrative Beschreibung dessen, was ich erfahren zu haben meine, nicht schon prästabilisiert ist durch eine narrative Vorlage des Gegebenen, kann ich nicht für mich in Anspruch nehmen, meine Situation ›up to the point‹ zu erfassen.« (Thomä 1998: 95f.; Herv. i.O.)

Der vordergründig privilegierte Zugang zum eigenen Leben erweist sich insofern als deutliche Einschränkung. Mit dem Zugriff auf eigene Erinnerungen ist also keine Garantie über die Sicherheit ihrer Gehalte verbunden, vielmehr ist er gerade wegen seiner Exklusivität trügerisch. Jene Erzählungen sind daher nicht in derselben Weise wahrheitsfähig wie Geltungsansprüche, da »die Einrede ›So stimmt das aber gar nicht!‹ eben wieder nur von mir selbst kommen« (Thomä 1993: 290) kann. Wenn man als Erzähler nur mit sich selbst zu tun hat, so fehlt bei der Prüfung, ob das stimmt, was erzählt wird, gerade die äußere Instanz; und »es ist nicht sicher, ob ich überhaupt darauf erpicht bin, mich selbst zu überprüfen oder gar zu überführen« (ebd.). So bleiben lebensgeschichtliche Betrachtungen, aber auch die Rekonstruktion derselben, Ermessenssache. »Ermessenssache – das heißt, daß man ein starkes Interesse daran haben kann, sich selbst nicht auf

sprechung von objektiv Erlebtem und subjektiv Erzähltem propagiere, sondern eine Korrespondenz zwischen den Strukturen der Erfahrungsaufschichtung und denen des Erzählaufbaus aufzeige (vgl. Rosenthal 1995: 17).

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einen Holzweg zu führen, nichts vorsätzlich zu verhehlen oder zu entstellen; das heißt aber auch, daß man es darauf anlegen kann, sich sein Leben erzählerisch zurechtzumachen.« (Thomä 1998: 14) Beim lebensgeschichtlichen Erzählen ist man also mit sich als Gegenstand beschäftigt und charakterisiert sich als bestimmte Figur, mit Haltungen und Eigenschaften, die man ihr zuschreibt und die leitend für ihr Denken und Handeln sein sollen. Man verhält sich zu sich selbst, zu anderen Menschen, zur Welt und auch zu diesen Verhältnissen. So entsteht ein Spielraum, in dessen Zentrum die Macht des Subjekts steht, mit lebensgeschichtlichen Einzelheiten und Zusammenhängen wie in einer Manege zu jonglieren. Die lebensgeschichtliche Erzählung zeichnet sich dann jedoch gerade nicht durch einen totalisierenden Ausgriff auf das Leben aus. »Niemand kann dafür einstehen, die Erzählung seines vergangenen Lebens zu liefern; man kann aber auch nicht davon ausgehen, daß das Leben überhaupt in einer biographisch festgelegten Erzählung seinen Platz findet, daß die Art, wie Eigenschaften sich durchhalten und wie Erfahrungen und Handlungen ineinanderwirken, einem narrativen Muster folgt.« (Ebd.; Herv. i.O.)

Weil das Subjekt als Erzähler sich nicht dem gelebten Leben ausgeliefert sieht, ist ihm freigestellt, die Lebensgeschichte nach ausgewählten Kriterien zu gestalten. So kann die Erzählung der Lebensgeschichte etwa auf der Überlegung beruhen: »Wenn das, was ich erzähle, mich nicht allein schon fesseln kann, dann muß es auch auf die Art ankommen, wie ich es erzähle, es kann nicht nur um die ›histoire‹ gehen, sondern auch um den ›discours‹« (Thomä 1993: 289; Herv. i.O.). 3.1.3 Topoi lebensgeschichtlicher Erzählungen Die Reflexion des skizzierten Umstands, genauer gesagt, des Phänomens, dass der Erfahrungsvorrat von Menschen viel zu groß und diesen selbst viel zu undurchsichtig ist, um lebensgeschichtliche Erzählungen in ein konstantes Gefüge von Erfahrungsaufschichtungen zu bringen, bei dem dasselbe immer wieder in derselben Weise erzählt wird, sodass mit einiger sachlicher Überzeugungskraft von einer unmittelbaren Beziehung zwischen Leben und Erzählung ausgegangen werden könnte, hat u.a. Theodor Schulze dazu gebracht, ein Modell erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung zu entwickeln, dem es gerade nicht um die Herausarbeitung von biographieumfassenden und -übergreifenden Zusammenhängen geht. Schulze will also keine »Prozeßstrukturen des Lebensablaufs«

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(Schütze 1981) ausfindig machen. Demzufolge werden von ihm auch keine Wandlungsprozesse als spezifische Form dieser Prozessstrukturen betrachtet – und schon gar nicht mit Bildungsprozessen in Verbindung gebracht. Stattdessen richtet Schulze in seinen Analysen lebensgeschichtlicher Erzählungen die Konzentration auf biographisch bedeutsame Erfahrungen und wiederkehrende Topoi des Erzählens, womit er nicht nur jenem genannten ›discours‹ Beachtung schenkt, sondern auch – ohne allerdings gezielt darauf hinzuweisen – auf die Toposforschung rekurriert, die weniger in der wissenschaftlichen Pädagogik als vielmehr in der Volkskunde und der Kulturanthropologie angewandt wird.3 Eben jenes Modell von Schulze ist nun einerseits offener und andererseits spezieller gehalten als auf Gesamtbiographien gerichtete Verfahren, wie etwa dasjenige von Fritz Schütze, das nicht nur bei den Protagonisten der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung Berücksichtigung findet, sondern das sich – trotz einiger Kritik – gewissermaßen als Standard in der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung etabliert hat: Offener ist es insofern, als es gerade die vielseitige Anschlussfähigkeit und Mehrdeutigkeit betont, die einzelne Erlebnisse in erzählten Lebensgeschichten haben. Spezieller dagegen ist es insofern, als es in besonderer Weise an den signifikanten Ereignissen einer Lebensgeschichte interessiert ist. Schulze selbst beschreibt seine Fokussierung folgendermaßen: »Die meisten Untersuchungen beschäftigen sich mit dem gesamten Biographieverlauf eines einzelnen Menschen oder mit der Zusammenfassung, Gruppierung oder Kontrastierung mehrerer Biographieverläufe. Meine Aufmerksamkeit gilt bevorzugt den Elementen innerhalb eines Biographieverlaufs. Also: was sind die tragenden Elemente im Biographieverlauf? In welchen elementaren Einheiten artikuliert sich der biographische Prozess?« (Schulze 2006c: 97)

Diese ›Perspektivverlagerung‹ biographischer Forschung wird vorgenommen, da Schulze gerade die elementaren Einheiten im Biographieverlauf in den Blick bekommen möchte und davon ausgeht, dass diese lebensgeschichtlich bedeutsame Erfahrungen ausdrücken, in denen die »Begegnung und Auseinandersetzung des Individuums mit der Welt eine besondere Rolle spielt« (ebd.: 102). Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist also hierbei die Feststellung, »daß das, was bio-

3

Zur Toposforschung siehe bspw. Jehn 1972; Baeumer 1973; Bornscheuer 1976; Schirren/Ueding 2000. In der wissenschaftlichen Pädagogik thematisieren Topos und Topik v.a. die Vertreter theoretischer Rhetorik Duisburger Provenienz. Siehe hierzu Dörpinghaus/Helmer 2004.

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graphische Erzählungen oft erst interessant macht […] in der typisierenden Zusammenfassung untergeht oder als illustrierende Anschauung zwar aufbewahrt wird, aber in ihrem spezifischen Erfahrungsgehalt nicht zur Geltung kommt« (Schulze 1997b: 179). In jeder lebensgeschichtlichen Erzählung gibt es ihm zufolge mehrere Details, Episoden oder Formulierungen, die auf einen umfassenden Zusammenhang hinweisen und es Wert sind, gesondert betrachtet zu werden. Diese bezeichnet Schulze – eben konform zur Toposforschung der Volkskunde und Kulturanthropologie – als Topoi i.S. markanter Orte im Gelände (vgl. ebd.: 181ff.; Schulze 2006c: 102ff.).4 Biographische Topoi, das sind also Stellen, in denen sich der biographische Prozess verdichtet. Meistens kommen diese Stellen in lebensgeschichtlichen Erzählungen in besonders anschaulichen Passagen, szenischen Darstellungen oder wiederkehrenden Formulierungen zum Ausdruck. Um solche markanten Orte in lebensgeschichtlichen Erzählungen – seien es autobiographische Stegreiferzählungen, thematische Interviews narrativer Prägung oder auch literarische Darstellungen von Lebensgeschichten – ausfindig zu machen, wendet Schulze ein bestimmtes Verfahren an: Die Toposanalyse, die nun seine Handschrift trägt und mit der Variante der Volkskunde und Kulturanthropologie nicht mehr ganz so viel zu tun hat. Diese beruht auch nicht auf einer Topik bzw. Topologie, da nicht anhand eines vorab verfügbaren Rasters geprüft wird, ob bestimmte Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen auftreten. Insofern besteht durchaus eine Gemeinsamkeit mit den etablierten Verfahren qualitativer Bildungs- und Biographieforschung festzustellen, die Offenheit als Grundprinzip von Forschung deklarieren und das empirische Material ›sprechen‹ lassen wollen. In anderer Hinsicht verstößt das Verfahren der Toposanalyse aber gegen methodologische Prinzipien sozial- und erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung – und das recht deutlich. Denn es schöpft den Textkorpus der lebensgeschichtlichen Erzählung nicht vollends aus und folgt auch keiner systematischen Schritt-für-Schritt-Analyse (vgl. ebd.: 103). Stattdessen richtet es den Blick direkt – Schulze spricht von »zentrierend« (ebd.) – auf tragende Elemente der Biographie, die daraufhin umkreist werden. Schulze legt nämlich jene Stel-

4

Siehe hierzu Schröder 2005. Darin werden Topoi als Sinndeutungsformen autobiographischer Erzählungen vorgestellt. Als Topoi der Beglaubigung gelten etwa Formulierungen wie »Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern«, »Das habe ich mit eigenen Augen gesehen« oder »Das weiß ich bis heute« (vgl. ebd.: 21ff.). Topoi zur Schwierigkeit der Versprachlichung sind etwa »Das kann man sich nicht vorstellen« und »Das kann man nicht beschreiben« (vgl. ebd.: 27ff.). Topoi der Lebensbilanzierung werde ausgedrückt durch Sätze wie »Ich hatte eine schöne Kindheit« und »Mein Leben enthält nichts Besonderes« (vgl. ebd.: 33ff.).

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len der lebensgeschichtlichen Erzählung, die ihm vor dem Hintergrund seines ausgeprägten Interesses an Biographien besonders aufschlussreich oder allgemein bedeutsam erscheinen, genauer aus, indem er den Zusammenhang, den sie umreißen, detailliert aufschlüsselt. Er unterscheidet dabei verschiedene Momente, die in der betreffenden Textstelle enthalten sind. Vor allen Dingen versucht er deren Bedeutung zu erfassen; zum einen in Bezug auf die Momente selbst und zum anderen in Bezug auf den Textzusammenhang, wozu er auch einen Anschluss an vorliegende pädagogische Theoriebestände herstellt. So markiert er dann etwa den Topos »Prügeln« (Schulze 1983), den Topos »unheimlicher Vater« (Schulze 2006c: 105ff.), den Topos »Abhauen« (Schulze 2008: 18 und 2010a: 432) oder auch den Topos »Plattsitzen« (Schulze 2008: 20). Hat er dann verschiedene Momente einer Textstelle aufschlüsseln und erfassen können, sucht er innerhalb der lebensgeschichtlichen Erzählung nach Bezugspunkten und Belegen, die die Überlegungen bestätigen und ergänzen bzw. nach Stellen, die ihnen widersprechen und neue Gesichtspunkte für die Interpretation anbieten (vgl. Schulze 2010a: 433). Dieser Weg führt ihn so »in das weitere soziokulturelle Umfeld, in dem die in der Hinweisstelle enthaltenen Momente angesiedelt sind« (ebd.). Zudem rekurriert Schulze in der Toposanalyse auch auf ähnliche oder kontrastierende Momente in anderen Autobiographien, wozu mitunter sogar seine eigene gehört, um den biographischen Topos genauer zu bestimmen. Der Wechsel in einen anderen autobiographischen Erzählzusammenhang ist für die Toposanalyse Schulzes also konstitutiv, und so erfolgt »die Auslegung der Geschichte […] über die Versammlung und den Vergleich ähnlicher Figurationen, Szenen und Geschichten« (Schulze 2006c: 110). Obwohl das Verfahren der biographischen Toposanalyse, das Theodor Schulze als alternative Interpretations- und Auswertungsmethode vorstellt, mit assoziativen Verkettungen und ›frei flottierenden‹ Imaginationen arbeitet, die aus der Warte einer methodologisch und methodisch ›sauber‹ arbeitenden qualitativen Biographie- und Bildungsforschung womöglich fraglich erscheinen mögen, so lassen sich durch sein Modell verschiedene Möglichkeiten eröffnen. Durch dieses kann nämlich nicht nur der Einsicht in den Konstruktionscharakter von erzählten Lebensgeschichten auf angemessene Weise Rechnung getragen und somit jenen Auffassungen Paroli geboten werden, die annehmen, dass man der lebensgeschichtlichen Erzählung eine generelle Struktur entnehmen könne, die das gelebte Leben gleichsam abbilde. Das von Schulze vorgelegte Modell bietet auch Anhaltspunkte, wie man Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse in Biographien gezielter in den Blick nehmen kann. Der Blick auf die markanten Orte der Biographie und deren Aufschlüsselung in verschiedene Momente ermöglicht nämlich geradezu eine dezidierte Fokussierung der ›Materialität‹ le-

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bensgeschichtlicher Erzählungen. Wenngleich die Toposanalyse nach Auffälligem Ausschau hält und dabei auch auf sprachliche Besonderheiten stößt, so machen Verfahrensbeschreibung und exemplarische Interpretationen Schulzes deutlich, dass hier die Bemühung im Zentrum steht, nicht nur und nicht ausschließlich formale Abläufe festzustellen, sondern das Verhältnis von Menschen zu sich, zu Mitmenschen und zu Themen der Welt in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung sowie pädagogischen Bedeutung zu verstehen: »Die einzelne autobiographische Äußerung bewahrt jeweils ein inhaltliches Moment, das erst im Zusammenhang des biographischen Erzählens seine spezifische Bedeutung gewinnt.« (Schulze 1997: 176) Insofern verspricht dieses Verfahren wohl nicht zu Unrecht, mehr Offenheit und Vielseitigkeit bieten zu können als eine auf biographische Gesamtstrukturen fokussierte Forschung, wenngleich dabei eine gewisse Unsicherheit in der Ergebnissicherung nicht von der Hand zu weisen ist (vgl. ebd.: 184). Zieht man in Erwägung, ein solches bzw. ähnlich gelagertes Verfahren nun aber – und damit wird erneut auf die Herausforderung rekurriert, Mittel und Wege zu finden, wie auf die Problembereiche bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung angemessen reagiert werden kann – für die Analyse von ›Bildung‹ im Kontext der Biographieforschung fruchtbar zu machen, dann gilt es zu bedenken, dass es weder sinnvoll, noch im eigentlichen Sinne möglich ist, auf die Suche nach bildungsbezogenen biographischen Topoi zu gehen, ohne über einen Begriff von ›Bildung‹ zu verfügen. Genau das mahnt auch Theodor Schulze (2006b: 29) an, wenn er sagt: »Der Bildungsbegriff hat sich zu einer vielseitig verwendbaren Hohlform entwickelt, in der man ganz verschiedene Bedeutungen transportieren kann. […] Man kann diesen Begriff in vielerlei Bedeutungen und unterschiedlichen Zusammenhängen einsetzen. Aber, wenn man das tut, muss man sogleich ansagen, wofür er im jeweiligen Fall stehen soll. Ohne eine genauere Bestimmung stiftet man nur Verwirrung.«

Was das bedeutet, scheint klar zu sein: Es müssen noch begriffliche Präzisierungen und theoretische Bestimmungen getroffen werden, wenn ›Bildung‹ im Rahmen und mit den Mitteln der Biographieforschung erforscht werden soll. Und erst im Anschluss daran, wird man beschreiben können, wie eine veritable bildungstheoretische Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen konkret auszusehen hat.

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3.2 B ILDUNGSTHEORETISCHE S CHÄRFUNGEN Mit der Wahl der Bildungskonzeption steht und fällt die Aussagekraft bildungstheoretischer Analysen – auch und gerade solcher, die ›Bildung‹ in Biographischem betrachten möchten. Dies hat das Kap. 2 konkret aufzeigen können. Insofern gilt es nun eine gute Wahl zu treffen, wenn – wie avisiert – der Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen bildungstheoretische Bestimmungen zu Grunde gelegt werden sollen. Das aber erscheint angesichts der breiten Palette in Sachen »Bildung und Bildungsgerede« (Ruhloff 2006b) gar nicht so leicht. Zusammen mit den bislang in dieser Arbeit hervorgebrachten Befunden sind jedoch Anforderungen zu Tage getreten, die erfüllt sein müssen, wenn auf respektable Weise über ›Bildung‹ im Kontext der Biographieforschung gesprochen werden soll. Diese sind bei der Wahl einer geeigneten bildungstheoretischen Perspektive in Rechnung zu stellen: So muss das Bildungsverständnis erstens eine Differenzierung in Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse beinhalten und darf keineswegs nur Modi der Identitätsentwicklung präsentieren. Zweitens hat das Bildungsverständnis nicht nur über einen formalen Charakter zu verfügen, sondern es muss gerade inhaltliche Relationen und gegenstandsspezifische Topoi bereithalten, sodass mit ›Bildung‹ mehr bezeichnet ist als ein Wandlungsprozess bzw. eine Transformation von Lebensorientierungen. Darüber hinaus scheint es – drittens – geboten, das Subjekt der ›Bildung‹ nicht auszuklammern, sondern gerade von ihm aus zu denken, um auf diese Weise sowohl die Differenzierung in Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse zu bewerkstelligen, als auch zu schauen, wie die markierten inhaltlichen Relationen und gegenstandsspezifischen Topoi ›bildungswirksame‹ Kraft entfalten. Diesen drei Anforderungen entsprechen am besten ausgearbeitete Bildungstheorien, weshalb Lothar Wigger auch den expliziten Rekurs auf solche für eine Vergewisserung der bildungstheoretischen Grundlagen jener auf Bildungsprozesse ausgerichteten Biographieforschung empfiehlt (vgl. Wigger 2004: 490). Das verfügbare Angebot wird bei Berücksichtigung dieser Anforderungen allerdings keineswegs eng begrenzt, sodass sich auch die Suche nach einer geeigneten Bildungstheorie damit lediglich in marginaler Weise einfacher gestalten dürfte.5 Auch nach der Prüfung aller Umstände wird man daher wohl kaum überzeugend begründen können, dass es letztlich lediglich eine einzige Konzeption gibt,

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Die vielfältigen Offerten bildungstheoretischer Konzeptionen werden bspw. demonstriert in Menze 1970; Blankertz 1974; Hansmann 1985; Hansmann/Marotzki 1988a und 1989; Tenorth 1994 und 1997a; Ehrenspeck 2002 und 2004; Ballauff 2004; Benner/Brüggen 2004; Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger 2006; Hörster 2007; Borst 2009.

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die diesen Anforderungen umfassend gerecht wird. Vielmehr dürfte hier dem Argument beizupflichten sein, dass gleich mehrere Bildungstheorien in Frage kommen und die getroffene Wahl deshalb nicht zwingend, doch auch nicht zufällig ist, sondern sich zwischen Eindeutigkeit und Beliebigkeit bzw. Notwendigkeit und Willkür bewegt. Für eine bildungstheoretische Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen werden vor dem Hintergrund dieser Einsicht dann auch insgesamt drei ausgearbeitete Bildungstheorien ›herangezogen‹, die insofern in einem systematischen Zusammenhang zueinander stehen, als sie nicht nur eine akademische Generationenfolge abgeben, sondern auch gemeinsam das Programm einer Kritik der pädagogischen Vernunft formulieren. Das ist die Bildungskonzeption Alfred Petzelts, diejenige Wolfgang Fischers und der Ansatz einer ›Bildung‹ im problematisierenden Vernunftgebrauch von Jörg Ruhloff. Diese drei Theorien gilt es – wenn auf der Basis von lebensgeschichtlichen Erzählungen eine Rekonstruktion von ›Bildungsgestalten‹ erfolgen soll – im Folgenden einer näheren Betrachtung zu unterziehen, wobei das keineswegs mit der Absicht geschieht, das gesamte Œuvre von Petzelt, Fischer und Ruhloff zu durchdringen und in ihren vielfältigen Facetten zur Schau zu stellen.6 Stattdessen soll es darum gehen, diese drei Konzeptionen so zu ›erarbeiten‹, dass die hierin entwickelten bildungstheoretischen Perspektiven bei der Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen als Orientierungsrahmen dienen und dabei den in Kap. 2.5 gebündelt dargestellten Herausforderungen angemessen begegnen können. Insofern bezwecken die folgenden Darstellungen also eine Sensibilisierung für das, wonach ge-

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Insofern wird nicht davon ausgegangen, dass man gleich den gesamten Theorieapparat ›einkaufen‹ muss, wenn man einzelne Aspekte nutzen möchte. So geht es etwa bei der Skizzierung der Theorie Petzelts nicht um die Herausarbeitung ihrer fundamentalen christlich-religiösen Bezüge, ihrer Gleichsetzung von Wahrheit mit Gott oder um die Darstellung des Übergangs von der transzendentalen Erkenntnisbemühung zur christlich bestimmten ›Gläubigkeit‹. Bei den Ausführungen zu Fischers Einsatz wird die antike Skepsis des Sokrates bloß gestreift, und bei Ruhloffs problematisierenden Vernunftgebrauch werden die im postmodernen Denken fundierten Bestandteile zwar genannt, aber keineswegs umfassend behandelt. Auch wird nicht beabsichtigt, die Genealogie der drei pädagogischen Einsätze zu durchschreiten, um so Anknüpfungen einerseits, Abwendungen andererseits akribisch genau herauszustellen. Das machen andere Arbeiten: Für Petzelts prinzipienwissenschaftliche Pädagogik Kauder 1997 und Westermann 2005, für Fischer etwa Dangl 2001 und 2002, Vogel 1994 sowie Schönherr 2003. Einen geschichtlichen Pfad bei der Vorstellung von Ruhloffs pädagogischem Einsatz verfolgt beispielsweise Vogel 2000.

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sucht und worauf geachtet werden muss, wenn man den Plan hegt, bildungstheoretische Biographieanalysen zu betreiben, die sowohl Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse eines Subjekts als auch inhaltliche Differenzierungen von ›Bildung‹ berücksichtigen. Die Rekonstruktion der drei genannten Bildungstheorien erfolgt dabei primär und weitestgehend werkimmanent, in Form einer gleichsam hermeneutisch-exegetischen Analyse. Eine solche Ausrichtung bringt notwendigerweise gewisse Fokussierungen mit sich, zu der sich eine weitere, bislang lediglich am Rande erwähnte, gesellt. Sie ergibt sich – ebenfalls nicht vollkommen zufällig, aber ebenso wenig absolut zwingend – aus den drei gewählten Bildungstheorien. Denn der Fokus liegt hic et nunc auf der Jugend und der ihr zugeordneten Lebensphase, womit nicht nur Bezug genommen wird, auf das, was in Kap. 3.1.2 zur Relevanz dieser Lebensphase aus biographietheoretischer Sicht vorgetragen wurde, sondern zugleich die anstehende Frage beantwortet ist, wessen lebensgeschichtliche Erzählungen eigentlich in den Blick genommen und in bildungstheoretischer Absicht analysiert werden sollen. Dabei lässt sich keineswegs behaupten, dass der Bezug auf Jugend für die Konzeptionen von Petzelt, Fischer und Ruhloff geradezu konstitutiv ist und kein Weg an ihm vorbeiführt. Der spezielle Blick auf Jugend kommt – statt notgedrungen – vielmehr durch die Konstellation der Schriften zustande, mittels derer die drei Bildungstheorien hier dargestellt und beschrieben werden. Petzelt, Fischer und – vermittelt durch diese beiden – auch Ruhloff bringen in diesen Schriften nämlich ein bildungstheoretisch akzentuiertes Verständnis von Jugend hervor, welches für eine notwendige Konkretisierung der hier anstehenden qualitativ-empirischen Studie sorgen kann. Ihr explizierter Jugendbegriff unterscheidet sich dabei von demjenigen, welcher zunächst und zumeist in gegenwärtigen Diskussionszusammenhängen der Erziehungswissenschaft und Jugendforschung vorherrscht. Denn es sind bei Petzelt, Fischer und Ruhloff gerade nicht sozialisationstheoretisch, entwicklungspsychologisch oder eine Melange aus beiden Zugängen geprägte Sichtweisen, die den Ton angeben und aus denen heraus ein Modell zur Beschreibung von Jugend generiert wird.7 Sie präferieren vielmehr einen Zugang, der die Idee der ›Bildung‹ – und

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Im »Handbuch Kindheits- und Jugendforschung« (Krüger/Grunert 2010) gibt es etwa keinen Eintrag zum Thema »bildungstheoretische Ansätze«. Sehr wohl aber finden sich darin solche Einträge zu psychologischen Entwicklungstheorien sowie zu sozialisations- und gesellschaftstheoretischen Ansätzen. Siehe Flammer 2010, Geulen 2010 und Mierendorf/Olk 2010. So wird Jugend in einer an Talcott Parsons anschließenden strukturfunktionalistischen Sicht als eine gesellschaftlich organisierte Statuspassage verstanden, die dazu dient, die spannungsreiche Beziehung der Ansprüche der Jugend-

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nicht etwa den Begriff der Identität, des Moratoriums oder den der Transition, die seit den 1950er Jahren den »Kanon in der pädagogischen Jugendforschung« (Ecarius 2009a: 53) bilden – in das Zentrum rückt.

lichen und der Erwachsenen in der Konstitution von Jugendkulturen mit eigenen Werthaltungen, Zielsetzungen und Verhaltensmustern gleichsam zu überbrücken. Das auf Karl Mannheim zurückgehende Konzept der Generationsgestalt betont, dass in einem bestimmten geschichtlichen Zeitabschnitt eine übergreifende Strukturspezifik die Mehrheit der Jugendlichen umfasst und sie trotz aller individuellen Unterschiede unter ein und dieselbe Erscheinungsform vereint. In einer an der Identitätstheorie von Mead ansetzenden Konzeption werden Jugendliche als schöpferische Interpreten und Konstrukteure der eigenen Entwicklung in den Blick genommen und daraufhin untersucht, wie sie sich und ihre soziale Umwelt in interaktiven Prozessen jeweils beeinflussen und gestalten. Eine ganz ähnliche Stoßrichtung verfolgt auch die Interpretation und Analyse der modernen Jugendphase als ein so genanntes Bildungsmoratorium. Jugend wird hier als eine Zeit der Entpflichtung verstanden, die zahlreiche Entfaltungsmöglichkeiten – etwa in Form jugendkultureller Aktivitäten – eröffnet. In Verbindung mit dem gesamtgesellschaftlichen Faktum, dass der Zeitpunkt des Beginns beruflicher Erwerbsarbeit sich deutlich nach hinten verlagert und demgegenüber die Phase der schulischen Laufbahngestaltung einen zeitlichen Ausbau erfährt, liegt das Hauptthema des Moratoriums jedoch im »Erwerb von Bildung und Bildungsabschlüssen […], die eine möglichst günstige Ausgangsposition für den späteren beruflichen Erfolg schaffen sollen« (Stecher 2003: 201). Insofern kommt es zu einer Verknüpfung von Moratoriums- und Transitionsgedanken (dazu v.a. Reinders 2003). Andere Modelle wiederum betrachten Jugend als Reproduktionseinheit des Sozialen: An der Nahtstelle zwischen psychologischem und soziologischem Erkenntnisinteresse richtet dieser Ansatz seinen Blick darauf, wie Jugendliche die Phänomene der Individualisierung verarbeiten, welche Konsequenzen und Veränderungen sich für sie daraus ergeben und von welchen Bedingungen oder Ressourcen es abhängig ist, ob es gelingt, die mit der Individualisierung verbundenen Herausforderungen so aufzugreifen, dass die Herausbildung und Sicherung einer eigenständigen Identität erreicht wird (vgl. z.B. Heitmeyer/Olk 1990). Aktuelle entwicklungspsychologische Konzeptionen der Jugendforschung wiederum untersuchen, auf welche Weise Jugendliche in der Konfrontation mit gesellschaftlich definierten Entwicklungsaufgaben reagieren und wie sie die Bearbeitung dieser Aufgaben konkret vornehmen. Dass bei genauerem Hinschauen einige dieser zentralen Modelle und Erklärungsansätze bildungstheoretische Leitideen in sich tragen bzw. nur vor dem Hintergrund dieser überhaupt Plausibilität erlangen können, bleibt zumeist unerwähnt (vgl. von Prondczynsky 2006: 29 FN 11).

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Die Bildungstheorie Petzelts, die im Folgenden vor allen Dingen anhand der Schrift »Kindheit – Jugend – Reifezeit« (Petzelt 1965) entwickelt wird, stellt dabei einen Grundriss von Entwicklungsphasen vor, der sich vom Säuglingsalter bis hin zum Übergang ins Erwachsenenalter erstreckt. Zwar ist darin die Rede von Phasen psychischer Entwicklung insofern terminologisch äußerst unglücklich und verwirrend, als sich eine große Nähe zur Entwicklungspsychologie aufdrängt (vgl. Fischer 1982: 26f.). Selbst ein nur rascher Blick auf diese Ausführungen lässt allerdings schon erkennen, dass Petzelt mit Annahmen der Entwicklungspsychologie inhaltlich gesehen wenig zu schaffen hat und seine Betrachtungen stattdessen in eine Richtung laufen, die als genuin bildungstheoretisch zu bezeichnen ist. Psychische Entwicklung wird hier nämlich nicht den Leitvorstellungen der Entwicklungspsychologie entsprechend als die Funktion eines Ursache-Wirkungszusammenhangs begriffen, sondern bei Petzelt »ist Psychisches – unbeschadet der Abhängigkeit der Erlebnisinhalte von empirischen Gegebenheiten – durch vorauszusetzende Aktivität und ›Geltungsbindung‹ eines menschlichen Subjekts ausgezeichnet« (Fischer 1976: 41; Herv. i.O.). Dabei betont Petzelt Aktivität in besonderem Maße und geht von einem sich selbst entwickelnden Subjekt aus. Dieses – so sagt Petzelt – ist gerade pädagogisch besehen als ein sinngebendes Wesen vorauszusetzen. Petzelts Grundriss der Phasen psychischer Entwicklung macht deshalb deutlich, wie Jugendliche in einem Entwicklungsgang sich selbst zu Erwachsenen machen und über eine phasenspezifische »Aufgabenhaftigkeit« (Petzelt 1965: 23) ›Bildung‹ erlangen. Von Wolfgang Fischer (1966b und 1967) sind Aspekte dieses ›Phasenentwicklungsmodells‹ aufgegriffen und unter stärkerem Einbezug jugendlicher Selbstzeugnisse weitergeführt worden. Auch wenn Fischer dabei gewiss nicht die konzeptionelle Abgeschlossenheit erreicht, die sein akademischer Lehrer mit dem Grundriss einer Phasenlehre hervorgebracht hat, weil und insofern er nur das Jugendalter betrachtet, liegt mit dieser Konzeption dennoch eine Bildungstheorie vor, die Petzelts Modell in mehreren Punkten weiterdenkt und veranschaulicht. Dies rechtfertigt auch, es nicht bei der ausschließlichen Berücksichtigung von Petzelts Bildungstheorie zu belassen, sondern Fischers Weiterführungen für eine Analyse der lebensgeschichtlichen Erzählungen Jugendlicher ebenfalls – und an exponierten Stellen sogar noch intensiver – einzubeziehen. Denn in Fischers »Theorie der Reifezeit« (1966b) erhalten gerade auch Aspekte des individuellen Fremd- und Weltverhältnisses – etwa Freundschaft, Vorbild, Sexualität und Religiosität – verstärkt Aufmerksamkeit. Doch neue Wege werden von Fischer nicht nur in diesen Werken der 1960er Jahre eingeschlagen. Auch in seinen Arbeiten, die »Jugend als pädagogische Kategorie« (Fischer 1982 und 1983) betrachten und knapp 15 Jahre danach vorgelegt wurden, erfolgt eine Weiterent-

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wicklung der Bestimmungen zum Jugendalter, die an die Charakterisierungen Petzelts anschließen. Allerdings vermeidet es Fischer hier nun, anders als in seinem früheren Entwurf und anders als Petzelt selbst, das Bildungsproblem vor dem Hintergrund der Suche nach allgemeingültigen Bestimmungen des Pädagogischen, d.h. nach zeitlosen und invarianten Prinzipien zu entfalten. Der Ansatzpunkt bei diesen jüngeren Betrachtungen ist für Fischer derweil der gleiche; nämlich die Auffassung, dass Jugend primär etwas anderes ist als ein durch die gesellschaftlichen Bedingungen hervorgebrachtes ›Produkt‹. Maßgeblich wird es nämlich – so Fischer auch in diesem Entwurf – durch den Gedanken der ›Bildung‹; und das heißt für ihn hier, der Anstrengung, Normen als formulierte Sollensforderungen skeptisch auf den Grund zu gehen (vgl. Fischer 1982: 33). Durch das Bildungsdenken, wie es im Rahmen der »Pädagogik des problematisierenden Vernunftgebrauchs« von Jörg Ruhloff (1996a) Verwendung findet, lässt sich dieser vorgezeichnete Weg fortsetzen, wenngleich darin der Jugend bei Weitem nicht eine so zentrale Bedeutung zukommt wie in den anderen beiden Konzeptionen. Die weniger explizite Berücksichtigung der jugendlichen Lebensphase erweist sich jedoch nicht als Schwachstelle dieser Konzeption, sondern hat für das explizierte Anliegen des zweiten Abschnitts der vorliegenden Arbeit insofern einen entscheidenden Vorteil, als die bei Petzelt und Fischer angestellten Überlegungen gleichsam gebündelt und in einem allgemeineren Theorierahmen aufgehoben werden. Während nämlich Petzelt und Fischer in Form von phasenspezifischen Aufgabenhaltungen in ihren Konzeptionen stärker die einzelnen Facetten von Bildung betonen und damit gerade den ›phänomenalen‹ Bereich deutlich machen, zeigt Ruhloff in seiner Konzeption der Pädagogik des problematisierenden Vernunftgebrauch das Grundmuster einer solchen ›Bildung‹ auf, indem er es von anderen Formen und Varianten abgrenzt. Wie jene beiden Konzeptionen zielt Ruhloffs Pädagogik des problematisierenden Vernunftgebrauchs dabei ebenfalls darauf, ein »selber ermessendes und insofern freies, nämlich nicht an absolut geltende Vorstellungen, Bedürfnisse, Interessen oder Selbstverständlichkeiten gebundenes Dasein« (Ruhloff 1979: 188) auf den Weg zu bringen. Weil die Bildungsfrage hierin also generalisiert behandelt und in Form eines problematisierenden Vernunftgebrauchs thematisiert wird, lässt sie sich diese Konzeption auch auf eine ›Bildung‹ im Jugendalter beziehen, wenn und insofern es dieser um eine ›Lebensführung aus rückhaltloser Gedanklichkeit‹ geht, das in die Lage versetzt, ermessend-erwägend zu handeln, anstatt sich bloß fremdgesteuert zu verhalten (vgl. Schönherr 2003: 169). Es ist dieser unübersehbare Verweisungszusammenhang, der es rechtfertigt, die Konzeptionen von Petzelt, Fischer und Ruhloff für eine bildungstheoretische Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen zu berücksichtigen und es nicht bei

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einer Theorie zu belassen.8 Im Durchgang durch die drei Konzeptionen lässt sich ›Bildung‹ dann nämlich als ein Phänomen konturieren, welches durch einen aufgabenhaften Entwicklungsgang (siehe Kap. 3.2.1), das ist die Perspektive Petzelts, eine befragende Nachdenklichkeit (siehe Kap. 3.2.2), die Stoßrichtung Fischers, sowie einen problematisierenden Vernunftgebrauch (siehe Kap. 3.2.3), der pädagogische Einsatz Ruhloffs, hervorgebracht, aufrechterhalten und artikuliert wird. So erfolgt nun also zuerst die Betrachtung der drei ausgearbeiteten Bildungstheorien im Einzelnen, um sie sodann zusammenzufügen und gemeinsam mit den biographietheoretischen Ausführungen in einen Entwurf zu integrieren, der als Grundlage für eine bildungstheoretischen Analyse von lebensgeschichtlichen Erzählungen Jugendlicher dient (siehe Kap. 3.3). 3.2.1 Aufgabenhafter Entwicklungsgang Den Anfang der Darstellung von Konzeptionen, die für eine bildungstheoretisch fundierte Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen von Jugendlichen berücksichtigt wird, macht hier die Theorie Petzelts. Diese verschreibt sich thematisch der »Bildung der Person« (Heitger/Fischer 1961), wie der Titel einer Festschrift anlässlich seines 75. Geburtstags treffend formuliert.9 ›Bildung‹ und Person bilden auch den Rahmen der Schrift »Kindheit – Jugend – Reifezeit« (Petzelt 1965), die – wie im Untertitel der 1951 erstmals erschienenen Arbeit verdeut-

8

Im Rahmen eines Aufsatzes wurde das in Fuchs (2010b) zwar getan. Allein auf die Bildungstheorie Ruhloffs gestützt zeigen sich hier aber gewisse Grenzen der Analysen.

9

Damit wird hier eine Lesart vorgelegt, die einer Einschätzung Dietrich Benners widerspricht. Benner behauptet nämlich, dass die transzendentalphilosophische Pädagogik bzw. die »Petzelt-Schule« (Benner 1973: 232) erziehungstheoretische Fragestellungen bevorzugt und sich kaum der Entfaltung des Bildungsbegriffs verschrieben habe (vgl. ebd.: 232ff.). Vollkommen zutreffend ist zwar, dass sich Petzelt in seinem Hauptwerk »Grundzüge systematischer Pädagogik« (Petzelt 1964) auf Erziehung und Unterricht konzentriert, die er in enger Verbundenheit sieht, und dass auch Wolfgang Fischer zuweilen Erziehungsfragen bearbeitet (vgl. Fischer 1954 und 1966a). Im Begriff der ›Bildung‹ indes laufen diese Fäden zusammen (vgl. Dangl 2002: 32, 57). Die zentrale Bedeutung des Bildungsbegriffs innerhalb der transzendentalphilosophischen Pädagogik wird bei Durchsicht der Publikationen Petzelts und seiner ›Schüler‹ auch recht deutlich: Siehe etwa Petzelt 1955, 1957 und 1960, Petzelt/Fischer/Heitger 1961, Fischer 1961, Petzelt et al. 1963.

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licht wird – einen systematischen »Grundriß der Phasen psychischer Entwicklung« liefert. (a) Die phasenhafte Gestaltung eines Ich zum Erwachsensein Im Zentrum der Betrachtungen Petzelts steht ein Subjekt, ein Ich, wie es bei ihm zumeist heißt. Dieses Ich hat in seinem Verständnis einen Entwicklungsgang zu beschreiten, dessen Ziel das Erwachsensein ist. Petzelt selbst schreibt: »Anfang, Fortgang und Ende der Entwicklung bleiben an Akte des sich Entwickelnden gebunden. Diese richten sich grundsätzlich auf einen und denselben Brennpunkt, das zu erreichende Ende, das zur Aufgabe der Entwicklung wird, das Erwachsensein.« (Ebd.: 16; Herv. i.O.) Das Erwachsensein ist nun zwar das Ziel der Entwicklung, allerdings stellt es sich nicht automatisch ein. Es ist kein bloßes Werden, das sich allmählich und nebenbei ereignet. Vielmehr ist auf das Ziel in so genannten Akten, also auf das Erwachsensein ausgerichteten Handlungen des Erkennens, Urteilens, Entscheidens oder auch Wollens, hinzuarbeiten. Das Erwachsensein ist dem Ich dabei aufgegeben, und Aufgabenhaftigkeit – so Petzelt in einer anthropologischen Charakterisierung – zeichnet das Ich insgesamt auch aus (vgl. Petzelt 1961: 108). Die Aufgabe, sich zum Erwachsenen zu machen, kann nur vom Subjekt selbst wahrgenommen werden und ist nicht delegierbar. Sie ist Bildungsaufgabe: »Heranwachsen […] ist ohne den Bildungsgedanken, der in ihm stecken muß, nicht denkbar.« (Petzelt 1965: 26) In seiner Entwicklung bezieht das Ich alles, was es erlebt, auf sich und bestimmt sich angesichts der Fülle von einzelnen Erlebnissen: »Die Zusammengehörigkeit der Erlebnisse für das Ich, dem sie angehören, ist angesetzt. Wir sprechen angesichts dieser Forderung, nach welcher alle Erlebnisse in deutlichem Possessivverhältnis zum erlebenden Ich stehen, vom Bewußtsein und meinen ein Sein sui generis, nach welchem das Ich nicht bloß von Erlebnissen begleitet wird, als sei es ihr neutraler Behälter, sondern nach welchem es selbst als Sinnträger seiner Erlebnisse im Überschauen anzusehen ist. Alle Erlebnisse definieren sich durch ihre Zugehörigkeit zum Ich, sie gehören als Bewußtheiten dem Bewußtsein an.« (Ebd.: 31; Herv. i.O.)

In Petzelts Betrachtungen zur psychischen Entwicklung nimmt das Subjekt demzufolge eine selbstgestalterische Position ein und durchschreitet die Phasen zum Erwachsensein, indem es seine Erlebnisse überschaut, sie mit Sinn und Bedeutung versieht und sich auf diese Weise selbst eindeutig zu machen versucht.10 Dies erfolgt nicht nebenbei, gleichsam reflex- oder instinkthaft, sondern wird

10 Ähnliche Passagen finden sich auch in Petzelts Hauptwerk: Siehe Petzelt 1964: 57.

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aktiv und in eigener Leistung vollzogen (vgl. ebd.: 38). Petzelt schreibt anderenorts auch: »Wir haben immer wieder über die Zusammengehörigkeit unserer Aufgaben, welcher Art sie auch sein möchten, zu befinden. Mit dieser Aufgabe, alle anderen Einzelaufgaben zu einer einzigen zu machen, suchen und finden wir uns eigentlich selbst.« (Petzelt 1961: 108) Nun belässt es Petzelt aber nicht bloß bei diesen subjektbezogenen Aussagen, sondern versucht en detail zu klären, wie es dem Ich gelingt, seinen Bildungs- und Entwicklungsgang zu gestalten. Dazu klärt er die Voraussetzungen, die für jeglichen Akt eines Subjekts in seiner Entwicklung notwendig sind und gelangt dadurch zu einer Unterscheidung von sieben Phasen, die vom Säugling über das Klein- und Schulkind, dem ›Vorpubertierenden‹ bis hin zum ›Pubertierenden‹, also dem nahezu Erwachsenen, reicht. Innerhalb dieser Phasen werden je vorherrschende Grundstrukturen markiert, die von Petzelt als invariante »Momente der Aufgabenhaltung« (Petzelt 1965: 110) verstanden und um der ›Bildung‹ des Menschen willen postuliert werden (vgl. Fischer 1982: 27). Invarianten oder auch Prinzipien, die das Spezifikum der Pädagogik Petzelts darstellen, sind als theoretisch leitende Gesichtspunkte zu verstehen, die logisch bzw. gedanklich angesetzt werden müssen, um pädagogische Prozesse überhaupt als solche verständlich machen zu können (vgl. Ruhloff 2003: 24). Dass Pädagogik nämlich wirklich ist, daran besteht auch für Petzelt keinen Zweifel. Aber wie sie rechtmäßigerweise möglich ist, da es die pädagogische Wirklichkeit niemals an sich gibt und leitende Begriffe, Grundsätze, Normen nicht schon in der Erfahrung gegeben sind, dies gilt es für Petzelt zu fragen (vgl. Kauder 1987: 435). Wenn Petzelt in seiner Schrift »Kindheit – Jugend – Reifezeit« (Petzelt 1965) Grundstrukturen benennt, die für den Entwicklungsgang eines Ich denknotwendig sind, dann trägt er damit der Auffassung Rechnung, dass sich diese nicht aus Empirischem, so genannten Tatsachen, heraus entnehmen lassen. Stattdessen sind sie durch eine transzendentallogische Reflexion ›aufzufinden‹. Diese strikte Trennung von »Tatsache und Prinzip« (Petzelt 1982), so auch der Titel eines Nachlasswerkes von Petzelt, geht auf die Transzendentalphilosophie Kants zurück. Unter Berufung auf diese weist Petzelt solche Aussagen zurück, die aus Empirischem gültige Aussagen für die Pädagogik ableiten möchten (vgl. Dangl 2002: 62f.).11 Für Petzelt können Tatsachen nicht den Grund einer Pädagogik als

11 Stellvertretend dafür dienen etwa Aussprüche wie: »Vor lauter ›Empirie‹, die man unkritisch in gutem Glaube ansetzt, auf die man noch stolz sein zu können glaubt, geht die Natur des Psychischen verloren« (Petzelt 1965: 29) oder »Die Pädagogik, in der bloßen Empirie gesehen, muß als Abweg bezeichnet werden. Wird der Versuch, sie bloß empirisch zu fassen, unternommen, dann müßte man berechtigte Fragen weg-

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Wissenschaft abgeben. Erst der Begriff der Pädagogik macht Tatsachen überhaupt zu pädagogischen Tatsachen, und nur vom Begriff können Fehlformen der Pädagogik erkannt und zurückgewiesen werden (vgl. ebd.: 70). Wenn es darum geht, allein mit empirischen Mitteln pädagogische Fragestellungen kennzeichnen und Menschen bestimmen zu wollen, dann stößt dies bei Petzelt deshalb auf die größten Vorbehalte. Dabei wird einer »neukantianischen Sorge um die Konstitution des Subjekts« (Dangl 2001: 201) Ausdruck verliehen, und es kommt zu dem – argumentativ durchaus nicht stringenten und Kritik nach sich ziehenden – Resultat, dass Pädagogik notwendigerweise philosophisch sein müsse, damit das Ich nicht zum bloßen Naturobjekt werde (vgl. Benner 1973: 245).12 Gleichwohl bleibt Empirisches in der Konzeption Petzelts nicht vollkommen unberücksichtigt. Denn das Ich, das im Zentrum seiner Pädagogik steht, ist nicht ohne dessen Wahrnehmen und Bestimmen von konkreten, d.h. empirischen Objekten zu denken. Wenn das Ich seine Aktivität zur Entfaltung bringen soll, so benötigt es nämlich einen Anlass, den nur das ›Erfahrungshafte‹ bietet.13 Das Ich ist auch bei Petzelt insofern nicht nur transzendentales Subjekt, sondern ebenso Subjekt der Wirklichkeit und damit Bürger zweier Welten, um es mit Immanuel Kants Worten zu formulieren (vgl. Kant GMS 453.17-25). Deshalb gehört Empirisches zum Ich notwendigerweise dazu. »Wir folgern: Das konkrete Ich bleibt

lassen, und das wäre nicht zu verantworten« (Petzelt 1997: 39). Siehe dazu auch Kauder 1987; Dangl 2001: 197ff. 12 Gerade auch Benner (1973: 248) kritisiert vor dem Hintergrund seiner pädagogischen Praxeologie diese von Petzelt so vehement vorgetragene These und kommentiert sie mit den Worten: »So steht Petzelts Forderung einer philosophischen Erziehungswissenschaft durchaus in der Kontinuität des Selbstverständnisses der traditionellen Erziehungsphilosophie. Die Annahme, daß die Pädagogik philosophisch werden müsse, damit das Ich nicht zum Naturobjekt werde, hat indirekt dazu beigetragen, daß die erkenntniswissenschaftliche Empirie sich als anscheinend einzig mögliche Forschungsstrategie etablieren konnte, daß das Ich tatsächlich zum Naturobjekt reduziert wurde und daß die philosophische Pädagogik immer mehr an Einfluß verlor.« Siehe zu diesem Postulat Petzelts ebenso Kauder 1997: 65ff. 13 In Petzelts Ausführungen zeigen sich dementsprechend zwei unterschiedliche Verwendungsweisen des Erfahrungsbegriffs. Einerseits spricht er nämlich mit kritischem Verweis auf einen naturwissenschaftlich-positivistischen Erfahrungsbegriffs von Erfahrung in Bezug auf die grundsätzliche Nicht-Erfahrbarkeit des Ich. Und andererseits verwendet er den Begriff im Sinne der Erfahrenheit des Ich, wobei Erfahrenheit dabei die Art bezeichnet, wie jemand seine Erfahrungen gemacht hat (vgl. Vogel 1989: 153; Bollmann 2001: 229).

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Tatsache; zugleich ist es Möglichkeit von Tatsachen. Es urteilt und fragt, es weiß sich, sich zu wissen, es hat ein Gedächtnis und ist zugleich Gedächtnis.« (Petzelt 1997: 23; Herv. i.O.) Das Ich ist also – wenngleich auch nicht rein ontologisch betrachtet – Prinzip und Tatsache zugleich (vgl. Kauder 1987: 446; Ruhloff 2002a: 454 FN 20); m.a.W. es ist Koinzidenz von Prinzip und Tatsache. Es ist nämlich Tatsache, insofern es die Akte vollzieht. Es ist Prinzip, insofern es diesen Akten vorgeordnet bleibt und Möglichkeit aller Tatsachen ist. Bei seinen transzendentallogischen, d.h. ohne empirische Beimischung ablaufenden Analysen zur Phasenentwicklung des Psychischen betrachtet Petzelt – das haben diese gleichsam methodologischen Ausführungen deutlich machen wollen –, »welche Ordnung seiner Inhalte der Erlebende selbst als Sinngeber vollzieht« (Petzelt 1965: 256: Herv. i.O.). Die Leistung dieser Analysen besteht damit darin, Aussagen zu treffen, die aufzeigen können, was Haltungen des Ich im Hinblick auf den aufgabenhaften Entwicklungsgang bedeuten. Petzelt selbst bringt das folgendermaßen zum Ausdruck, wenn er den Gang seiner Untersuchung beschreibt: »In jeder Phase der Entwicklung wird also die Fülle der Akte in ihrer Eigenart zu untersuchen sein müssen, damit man die Art der Ordnung sehen kann, die der Erlebende selbst hineingelegt hat, damit man dann nach den Invarianten suchen kann, die ihnen zugrunde liegen, wenn sie der Erlebende vollzogen hat. Auf solche Weise ist mit Hilfe eines einheimischen Prinzips, das die Norm der Psyche liefert, zu hoffen, daß die gesamte Entwicklungsstrecke einheitlich gefaßt, daß die Phasen systematisch in ihrer Beziehung zueinander gesehen werden können.« (Ebd.: 41; Herv. i.O.)

Obwohl nun die Phasen ein Ziel haben und sich in dieser Weise als Einheit präsentieren, unterscheiden sie sich durchaus voneinander.14 Jede Phase zeichnet

14 Die Phase des Säuglings ist so etwa charakterisiert durch die Aktivität des Unterscheidens. Die frühe Kleinkindphase zeichnet sich ebenfalls durch bestimmte Phasenhaltungen und eine Invariante aus, nämlich durch das Verhältnis des Ich zu Gegenständlichem. Gegenstände sind hier Anlass für das Kleinkind, sich in immer neuen Verhältnissen zu ihnen zu sehen (vgl. Petzelt 1965: 55). Auch in der darauf folgenden Phase, wenn das Kleinkind versucht, Verhältnisse und Sinnzusammenhänge zwischen verschiedenen Dingen zu klären, ist die Verknüpfung des Ich mit den Gegenständen wesentlich. Begleitet wird diese Suche nach Zusammenhängen von einem Wollen des Kindes, das von Petzelt – gemäß einer dominanten Ichzentrierung – als »Wille zu sich selbst« (ebd.: 100) verstanden wird. Anschließend tritt gemäß Petzelts prinzipienwissenschaftlich-systematischer Erörterung eine Phase ein, die durch das Wissen um eine

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sich nämlich durch eine bestimmte Haltung mit vorherrschenden Invarianten aus, die die notwendige Bedingung für die nächste Phase darstellt. Trotzdem ist keine Phase als defizitäre Form der anschließenden zu sehen, sondern jede ist im Phasenablauf gleich wichtig, und auch die Vorstellung eines Fehlens und Hinzukommens von notwendigen Fähigkeiten oder Eigenschaften findet bei Petzelt keinen Anklang, um die Entwicklung vom Säugling bis zum ›Pubertierenden‹ zu beschreiben. Die Phasenabfolge darf deshalb nicht so verstanden werden, »als gäbe es Psychisches niederen Grades, so daß das sich entwickelnde Ich von einer Stufe zur anderen schreiten müßte« (ebd.: 69). Vielmehr geht es Petzelt darum, zu schauen, was haltungswesentlich bzw. -bestimmend wird und inwiefern die verschiedenen Akte in den Dienst jeweils vorherrschender Invarianten gestellt werden. Das ist es dann, was den modus procedendi seiner Untersuchung ausmacht, die den Entwicklungsgang bis zum Erwachsensein verstehbar machen möchte (vgl. ebd.: 75). Somit sind es »Ordnungsmomente des Theoretikers« (ebd.: 255), die Petzelt in seiner Konzeption hervorbringt; sie besagen nicht, dass sie dem erlebenden Ich auch bewusst werden müssten.

Aufgabengestaltung charakterisiert ist. Ein echtes Aufgabenwissen, beim dem Anfang und Ende einer Aufgabe aufeinander bezogen werden, ermöglicht es dem etwa sechsjährigen Kind hier, die Gestaltung einer Aufgabe zu planen und sie abzuschließen. Diese Sensibilität für eine Aufgabengestaltung definiert in engerem Sinn auch Schulfähigkeit, da Unterricht ohne gefestigte Aufgabenhaltung unmöglich ist (vgl. ebd.: 119f.). Mit der Phase der vollen Kindheit, d.h. ungefähr ab einem Alter von neun Jahren, kommt es dann insofern zu einer entscheidenden Veränderung, als nun versucht wird, die Welt ohne den eigenen Bezug zu erfassen. Die Zentrierung zum Ich hin wird abgelöst durch eine Hinwendung zu den Objekten. Der Vollzug dieser Phase lässt damit zugleich eine Fragehaltung entstehen, mit der es darum geht, alles unabhängig vom eigenen Ich zu begreifen und so in Erfahrung zu bringen, wie es tatsächlich ist. Petzelt bezeichnet die Phase der vollen Kindheit deshalb auch als Phase der Objekthinwendung. Der Wendung zu den Objekten entspricht zugleich die Wendung des Ich. Petzelt schreibt: »Das Ich muß sich also selbst wenden, muß eine neue Haltung haben wollen, muß selbst einen Standort suchen wollen. Sein wirkliches Verhältnis zu den Dingen, das es durchläuft, gibt ihm selbst auch einen Sonderwert seines Daseins, gibt ihm selbst als Moment seiner Eindeutigkeit ein Verhältnis zu den Dingen […]. Auf diese Weise bestimmt sich das Kind dieser Phase selbst zugleich in dem Maße, in welchem es sein Verhältnis zu den Dingen in ihrer Wirklichkeit bestimmt.« (Ebd.: 147; Herv. i.O.) Angesichts dieses Zitats verwundert es nicht, dass ein zentraler Aufsatz Petzelts von Peter Kauder (1986) in der Neuauflage mit der Überschrift »Bildung als Standortbestimmung des Ich« versehen wurde.

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(b) Zum Entwicklungsgang im Jugendalter Wie steht es in diesem Entwicklungsgang nun um das Jugendalter, um das es im weiteren Verlauf gehen soll? Mit welchen Akten wird vom Jugendlichen die Aufgabe, sich zum Erwachsenen zu machen, konkret vollzogen? Um diese Fragen, die hier vor dem Hintergrund einer bildungstheoretischen Analyse von lebensgeschichtlichen Erzählungen Jugendlicher im Mittelpunkt des Interesses stehen, zu beantworten, muss man mit Petzelt das Jugendalter in zwei Phasen unterscheiden: Sie werden ›Vorpubertät‹ und ›Pubertät‹ genannt (vgl. ebd.: 159). Auch wenn die beiden Phasen auf den ersten Blick dabei als zusammengehörig erscheinen mögen, so macht Petzelt deutlich, dass sie sich bei genauerer Betrachtung außerordentlich scharf voneinander abgrenzen. Keineswegs darf deshalb die ›Vorpubertät‹ als bloß schwächer ausgeprägte Form der ›Pubertät‹ verstanden werden (vgl. ebd.). Die anders gearteten und gelagerten Akte machen nämlich eine strenge Unterscheidung notwendig. In der ›Vorpubertät‹, die entgegen der üblichen biologischen Klassifikation von Petzelt im Alter von etwa 14 Jahren angesetzt wird, wollen Jugendliche wissen, wie sie sich, andere und die Welt zu werten haben. Dazu versuchen sie, Werte unabhängig und losgelöst von bestimmten ›Autoritätspersonen‹, wie etwa den Eltern oder Lehrern, in ihrer Allgemeingültigkeit zu erfassen. Für den Bildungsgang ist dies von eminenter Bedeutung. Denn würde es – wie Fischer in einer Zusammenfassung der Theorie Petzelts verlautet – »zu dieser ersten Jugendphase nicht kommen, so verharrte der Mensch in der Fremdbestimmtheit kollektiver Halte- und Lenkungssysteme« (Fischer 1982: 28). In der Vorpubertät werden nun aber gerade von Erwachsenen übernommenen Werte auf ihre Rechtmäßigkeit hin befragt und in ihrer Selbstverständlichkeit problematisiert, sodass ein Zerbrechen der adaptierten ›Wertewelt‹ nicht unwahrscheinlich ist: »Man ist phasengemäß auf einmal kritisch gestimmt, also man verhält sich als Wertprüfer, als Wertbeurteiler, man wertet geradezu die Wertungen der anderen« (Petzelt 1965: 165; Herv. i.O.). Genau damit vollzieht sich eine deutliche Veränderung zur vorangehenden Phase.15 Ist nämlich die Phase der vollen Kindheit »du-

15 Im erziehungswissenschaftlichen bzw. jugendtheoretischen Diskurs ist diese Einsicht bis heute gängig, wenngleich sich dabei eher selten auf Petzelts Ausführungen bezogen wird. So etwa stellt Werner Helsper in seiner Betrachtung des Bedeutungswandels der Schule für Jugendleben und -biographie fest, dass sich in der Frühadoleszenz Individuierungs- und Ablöseprozesse ereignen, »in denen gegenüber Erwachsenen, aber auch Institutionen eine kritische Haltung bezogen und Distanz eingeübt wird« (Helsper 2008: 146). Und weiter betont er, dass der »›Knick‹ in der Schulfreude und im Schulbezug bei den ca. Dreizehnjährigen auch als Ausdruck gravierender psychischer

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bezogen« (ebd.: 192), weil und insofern das Tun anderer Menschen als selbstverständlich erachtet und keinen Nachfragen ausgesetzt wird, so sind ›Vorpubertierende‹ nun »du-bestimmt« (ebd.: 193). Sie beurteilen bestimmte Personen – etwa den Vater, die Mutter oder den Lehrer – anhand von bestimmten Kriterien, womit ein explizit reflektierendes Verhältnis zu anderen Menschen zur Entfaltung kommt. Für Petzelt wird jene ›Du-Bestimmtheit‹ der Jugendlichen dabei insbesondere an der Frage nach der Beispielhaftigkeit des Anderen deutlich. Der »Blick auf den anderen in Ansehung seiner möglichen Beispielhaftigkeit« (ebd.; Herv. i.O.) erfolgt hier von den ›Vorpubertierenden‹ unter der Frage, ob und inwieweit das am Anderen Festgestellte, seine Eigenschaften und Meinungen, seine Sprache oder auch Kleidung, für das eigene Ich übernommen werden sollte. Neben der Ausrichtung auf Wertungen sieht Petzelt in dieser Phase nun auch den Gedanken der Leistung als wesentlich an; mehr noch – Wertung und Leistung hängen eng zusammen, denn »Wertung meint insofern Leistung, als sie einen Grad des Erfolgs der Aktivität ausmacht« (ebd.: 166). Die ›Vorpubertierenden‹ versuchen sich gegenseitig in ihrer Leistungsfähigkeit zu bestimmen, sie wissen aber auch recht genau, wer welche Aufgaben gut und weniger gut vollbringen kann. Jeder der ›Vorpubertierenden‹ ringt deshalb um seinen jeweiligen Status und entwickelt hierzu Pläne aller Art, »um in seiner Leistung immer wieder von anderen gesehen und anerkannt zu werden« (ebd.: 197). Dazu dienen vor allem auch die in dieser Phase geschaffenen Gleichaltrigengruppen, die themenund aufgabenzentriert sind. »Gruppenbildungen sind immer wieder zu finden. Sie werden je nach der Aufgabe immer von neuem gesucht und gewechselt. Da kommt es vor, daß der einzelne mehreren Gruppen angehört, die eine widmet sich dem Sport, in der zweiten geht es um Schularbeiten, in der dritten geht es womöglich um eine Schüler- oder Familienzeitschrift, die man selbst herausgibt, oder irgendeinen anderen Plan.« (Ebd.: 193)

Nicht zuletzt auf Grund dieses vorpubertären Leistungsstrebens durchleben Jugendliche in dieser Phase auch eine Fülle von Emotionen, die sich in ihrer Vielfalt und Nuancierung deutlich von denen unterscheiden, die in den vorangehenden Phasen vorhanden waren. Petzelt erklärt dies mit einem Zusammenhang zwischen Werten und Emotionen. Emotionen sind in seinem Verständnis deshalb an Werte gebunden, weil sie sich durch das definieren, was das Gemeinte

und sozialer Umstrukturierungen in der Frühadoleszenz begriffen werden« (ebd.: 147) kann. Als regelrechtes Entwicklungsgesetz sollte es jedoch – so Helsper – nicht verstanden werden.

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für die ›Vorpubertierenden‹ bedeutet (vgl. ebd.: 177, 191). Insofern sind sie Ausdruck erfolgter Wertungen. Im Akt der Wertung und im Vollzug einer Wertsetzung ist der ›Vorpubertierende‹ dabei auf sich bezogen und beurteilt sich selbst: »Man bemüht sich im Fragen um ein Urteil nach richtig und falsch, nach gut und schlecht. […] Man bewegt sich im Begründen als einer Unerläßlichkeit. Man kann darauf nicht verzichten, man muß sich der Argumente und der Motive in eigenem Mühen bemächtigen, man muß sie kritisch fragen und bewerten lernen. An ihnen hängt die eigene Entscheidung, man will ›richtig‹ begründen lernen. […] Es geht hier um die Beweiskraft der Begründungen, es geht weiter um die Verbindlichkeit der Argumente und Motive.« (Ebd.: 206)

Die Phase der ›Vorpubertät‹ ist für Petzelt also »ausdrücklich durch die Hinwendung zu den Akten des Wertens gekennzeichnet« (ebd.: 165). Auf die ›Vorpubertät‹ folgt die Phase der ›Pubertät‹, die ebenfalls das Jugendalter formiert. Als letzte Phase des von Petzelt beschriebenen Entwicklungsgangs folgt sie jedoch nicht bloß auf die ›Vorpubertät‹, sondern trägt auch notwendigerweise das Moment des Abschlusses der gesamten Entwicklung in sich, nämlich die Hinwendung zum Erwachsensein (vgl. ebd.: 160, 249). Sie zeichnet sich deshalb gegenüber den anderen Phasen dadurch aus, dass sie die spezifische Phasenhaltung auf die Frage des Erwachsenseins hin ausrichtet. Das bedeutet aber, dass sich das Ich auf bestimmte Weise neu fragt und einen neuen Standort zu gewinnen versucht. ›Pubertierende‹ sind deshalb zugleich Sinn- wie auch Standortsucher, die – das macht die Phasenabfolge deutlich – sich von der unmittelbaren gegenstandsgerichteten Betrachtung weg- und zur Analyse der Beziehungen des Subjekts auf Gegenstände hinbewegen: »Das Ich ist nicht mehr allein das des bloßen Subjektes, das durch allerlei Umstände seiner Umgebung in eine bestimmte Situation in Erlebnissen und Handlungen durch Familie und wirtschaftliche Verhältnisse, durch Anlagen und Begabungen hineingestellt ist. Die Subjektivität des eigenen Subjektes drängt sich als Frage hervor.« (Ebd.: 210; Herv. i.O.) Ein solches Befragen des eigenen Daseins, wie es Petzelt aus seiner prinzipienwissenschaftlichen Betrachtungsweise für die Pubertät als grundlegend erachtet, schließt die Möglichkeit und Notwendigkeit ein, »alles zu denken, alles zu fragen, auch nach dem zu fragen, was es macht, daß wir alles fragen dürfen« (ebd.: 212; Herv. i.O.). Auf diese Weise wird es zum radikalen, d.h. rückhaltlosen Fragen. Die ›Pubertät‹ wird zu der Zeit, in der man nach dem Sinn bzw. der Gültigkeit seines Erlebens, seiner Aktivität, seiner Handlungen fragt und sich

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über Ziele, Richtungen sowie Umstände Rechenschaft ablegt: Was habe ich zu tun, was zu leisten, »wie bin ich – wie sollte ich sein« (Petzelt 1964: 277)? Gesucht wird dabei nach einem Allgemeinen, Universalen, das als Maßstab und Richtschnur dient. ›Pubertierende suchen nach »dem Charakter« (Petzelt 1965: 263; Herv. i.O.). So sind Fragen, die auf die Fundierung des Ich und auf das »Menschentum« (ebd.: 262; Petzelt 1997: 24) gerichtet sind, die in der Pubertät im besonderen Maße gestellt werden. Aspekte des Lebens bzw. der ›Daseinskonstitution‹, etwa Geborenwerden, Aufwachsen, Sterben und Vergehen, beschäftigen die ›Pubertierenden‹ nicht zufälligerweise in dieser letzten Phase des Entwicklungsgangs zum Erwachsensein. Man wird sich hier nämlich der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Subjekt und Subjektivität bewusst. Sie wird als notwendig erlebt, und das existenzielle Grundmuster, immerzu auf sich selbst zurückgeworfen und dabei doch zugleich in Sozialität eingebunden zu sein, wird erkannt. Wenn Petzelt dabei von Subjektivität spricht, dann meint er damit Folgendes: »Subjektivität ist jenes Band zwischen den Menschen, in welchem sie als Sinnträger auftreten können. In ihr gehören die Menschen ihrer Natur nach zusammen. Sie sind miteinander verbunden durch jeden Akt, durch das Suchen nach Erkenntnis, durch Verantwortung in ausnahmsloser Gewißheit. Dieses Band ist nirgendwo anders zu finden. Es zeichnet alle Menschen aus. Es verpflichtet sie zur Gemeinschaft. Jeder Mensch ist notwendig zugleich Mitmensch. […] In solchen Vollzügen ›lebt‹ das Ich, an das Du eigentümlich gebunden. Es ist einsam und doch wieder nicht. Es ist in seiner Einsamkeit nicht isoliert. Es behält sein Naturell, seine Besonderung, und weiß sich in stärkster Einzigkeit an alle Menschen gekettet, ihnen gegenüber verantwortlich in der Zusammengehörigkeit und zugleich für sie.« (Ebd.: 27)

Die Auseinandersetzung mit der Einsamkeit als »die Art der Vereinzelung des Menschen, die besondere Einzigartigkeit, in der der Mensch einzeln ist« (Petzelt 1965: 223) ist demnach als typisches Erlebnis dieser Phase zu verstehen. Das Ich will aber nicht einsam bleiben. Deshalb bearbeitet es seine Einsamkeit auch in Sehnsuchtserlebnissen. Das können beispielsweise nach einem idealen Vorbild geführte Liebesbeziehungen oder auch Wünsche nach unbedingtem Verstandenwerden sein. Immer tragen diese für Petzelt Momente der Vollkommenheitssuche in sich, die aber notwendigerweise in Enttäuschung enden. Der ›Pubertierende‹ sehnt sich also, da er sein Ideal in der Wirklichkeit zu suchen beginnt, »von seiner Einsamkeit her, die unüberwindbar ist, nach etwas, was unerreichbar ist« (ebd.: 224; Herv. i.O.). Daraus resultiert nicht selten eine besondere Empfindlichkeit der Heranwachsenden, die im allgemeinen Verständnis das Offen-

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sichtliche und zugleich Schwierige der ›Pubertät‹ ausmacht. Es kommt zu Schwärmereien, zu merkwürdigen Konstruktionen, zur Distanzierung gegenüber den Realitäten des Daseins (vgl. ebd.: 233). ›Pubertierende‹ flüchten so nicht selten in ihre eigenen Welten, die sie nach ihren individuellen Vorstellungen ausgestalten und in denen sie komplett aufgehen. Sofern ihre Mitmenschen sich nicht in gleicher Leidenschaft mit bestimmten Dingen und Gedanken auseinandersetzen, werden diese abgelehnt: Etwa dann, wenn die Beschäftigung mit Musikstücken, von denen die ›Pubertierenden‹ ergriffen sind, oder ihr Interesse für Kino und Film auf Desinteresse stoßen (vgl. ebd.: 235). Die Jugendlichen fühlen sich dann unverstanden, was sie auf verschiedene Weise deutlich machen. Sie verstehen sich manchmal aber auch selbst nicht so recht, zumindest nicht so, wie sie sich noch in der Phase der ›Vorpubertät‹ verstanden haben (vgl. ebd.: 220). Petzelt deutet diese verschiedenartigen Erscheinungen um Einsamkeit, Sehnsucht, Idealbildung und Schwärmerei als Merkmale, die die Entwicklung zum Erwachsensein begleiten. Es sind Momente der Pubertät, in der der Abstand zum Erwachsenen aufgehoben werden soll. Deshalb stellt es für die ›Pubertierenden‹ auch eine große Kränkung dar, wenn ihnen beim ganzen Engagement um das Erwachsensein der Anspruch hierauf aberkannt wird (vgl. ebd.: 227). Die pädagogische Empfehlung lautet demnach: »Man darf den Heranwachsenden nicht klein halten. Er hat ein Recht darauf, gemäß seinem Entwicklungsstande für sein künftiges Erwachsensein ernst genommen zu werden.« (Ebd.: 17) Die Gewinnung eines neuen Standorts des Ich ist in der Pubertät – wie übrigens auch in allen anderen Phasen – von der Unterstützung durch Erwachsene abhängig. Zwar bestimmen diese »nicht allein das Resultat der Pubertät, das muß jeder […] allein aktivieren« (ebd.: 248). Aber Erwachsene haben, wie es Petzelt sagt, »Handbietung« (ebd.: 205) zu leisten und durch ihre Haltung als Beispiel zu fungieren. Lehrer haben etwa zu erkennen, in welcher Phase sich der Jugendliche befindet und darauf entsprechend zu reagieren. Insbesondere an den Eltern und anderen erwachsenen Angehörigen der Familie liegt es aber, Rahmenbedingungen zu schaffen und Leistungen zu bieten, die die Entwicklung der Heranwachsenden befördert und ihnen dabei hilft, sich frei zu halten von wechselnden Meinungen und Moden: »Die Richtungstendenz der gesamten Entwicklung zum Erwachsenen hin […] an jedem ihrer Punkte innezuhalten, das ist die Aufgabe der verantwortlichen Eltern.« (Ebd.: 106; Herv. i.O.) Wenn es ›Pubertierende‹ mit dieser Unterstützung schaffen, ihre Aktivität auf das Verhältnis zwischen Subjekt und Subjektivität zu richten, wenn sie den Sinn erkennen, warum sie sich überhaupt um ihren Standort zu bemühen haben und begreifen, dass man die Wirklichkeit der Welt als verbindlich zu fassen hat, dann kann man von ihnen als Erwachsene sprechen. Erwachsene vollziehen ihre Aufgaben nämlich verantwortlich vor

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sich, vor anderen und der Welt: »Wer Erwachsen ist, steht mit voller Verantwortung unter der Geltungsbindung, das heißt, er hat das Verhältnis zwischen Subjekt und Subjektivität, bzw. zwischen Mensch und Menschentum zu gestalten.« (Ebd.: 254) Jeder Vollzug des Subjekts steht dann im Dienst bzw. »im Sollen für sein Menschentum« (Petzelt 1997: 33). Subjektivität widerspricht also nicht dem Subjektsein. Vielmehr wird das Subjekt im Horizont der Subjektivität als »verantwortliche Einzigartigkeit« (ebd.: 24; Herv. i.O.) angesprochen. Verantwortlich ist das Subjekt dabei insofern, als es nicht egozentrisch nach der bestmöglichen Umsetzung seiner eigenen Ziele Ausschau hält, sondern seinen Anteil aufbringt, »die Gemeinschaft der Menschen zu statuieren« (ebd.: 35; Herv. i.O.). Die Verteidigung eigennütziger Werte, also solche, die lediglich »Privatgültigkeit« (ebd.: 40) beanspruchen können, ist dann ebenso wenig akzeptabel, wie die Abhängigkeit des Ich vom Du. Notwendig ist vielmehr das Erlangen von Unabhängigkeit bei gleichzeitiger Wahrung einer auf das ›Menschentum‹ gerichteten Verantwortung: »Die echte Unabhängigkeit des Ich gegenüber dem Du will eigene verantwortliche Entscheidung. Dadurch sind Autoritätswerte nicht angetastet, sind gültige Beispielhaltungen immer erwünscht. Beide Momente bedürfen der Prüfung, nicht blinder Zustimmung. Das Ich muß sich grundsätzlich, auch im Falle Autorität und Beispiel, unabhängig vom Du halten wollen […], unverfälscht von Mode, Schwärmerei und Fanatismus oder Hörigkeit.« (Ebd.: 41)

Im Gedanken der Subjektivität wird das Subjekt dann nicht nur auf »das Eigenrecht des Ich« (ebd.: 26) verwiesen, sondern auch und gerade auf die »Zusammengehörigkeit der Menschen« (ebd.). Die Einsicht in das Verhältnis zwischen Subjekt und Subjektivität offenbart damit zugleich die Notwendigkeit der Bildung, da »Bildung […] den gültigen Vollzug in der Gemeinschaft« (Petzelt 1957: 82) sondiert. So ist »das Suchen dieser Relation als Verbindlichkeit Kern aller Bildungsbemühungen« (Petzelt 1997: 46), und ohne Mühen um die Subjektivität ist der Weg der Bildung nicht bestimmbar. Dass der menschliche Lebenslauf mit dem Erreichen des Erwachsenseins nicht abgeschlossen ist, versteht sich von selbst. Auch die Bildungsaufgabe besteht fort (vgl. ebd.: 47). Dennoch will Petzelt alles, was nach dem Abschluss der Pubertät im Lebenslauf folgt, nicht als einen Phasenverlauf verstanden wissen, und auch die Etikettierung mit dem Terminus der Entwicklung scheint ihm hier nicht zutreffend zu sein. Eine Theorie des Lebenslaufs wird deshalb – so sagt es Petzelt – mit anderen Begrifflichkeiten zu operieren und auf andere Aspekte zu

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achten haben. Das aber ist nicht weiter Gegenstand seiner Betrachtungen in der Schrift »Kindheit – Jugend – Reifezeit« (vgl. Petzelt 1965: 254). Sicherlich wird man der Theorie Petzelts nicht unwidersprochen begegnen können. So lässt sich die unscharf, z.T. wenig elegant und »eigenwillig erscheinende Sprache« (Haase 1956: 6) monieren. Auch kann man die »eigentümliche Begrifflichkeit« (Dangl 2002: 9) beanstanden. Es lässt sich Petzelts Subjektemphase in Frage stellen, die von ihm an den Tag gelegte »methodologische Nonchalance« (Fischer 1982: 27) rügen und seine Verklärung der Phasen psychischer Entwicklung zu invarianten Grundgegebenheiten deutlicher Kritik unterziehen, zumal sie seiner Konzeption auch »einen falschen normativen Anstrich« (ebd.: 28) verleiht.16 Gleichwohl zeigt die Theorie Petzelts deutlich auf, wie es möglich ist, die Entwicklung des Jugendlichen zum Erwachsenen in Form eines Bildungsgangs zu beschreiben. Auch gelingt es ihr – wie Dietrich Benner (1994: 39) anerkennend formuliert –, »Sinn und Reichweite des mit dem bildungstheoretischen Prinzip der Bildsamkeit in enger Beziehung stehenden erziehungstheoretischen Prinzips einer freien Aufforderung zur Selbsttätigkeit neu zu formulieren«. Und weil dabei nicht nur die formale Struktur beschrieben wird, sondern auch inhaltliche Ausgestaltungen zu Tage treten, liefert die Theorie Petzelts Fokussierungen und Aspekte, um lebensgeschichtliche Erzählungen Jugendlicher unter einer bildungstheoretischen Perspektive zu analysieren. Denn die von Petzelt herausgestellten Akte des Wertens, der Leistung sowie der Emotionalität, Einsamkeit, Sehnsucht usw., die für das Bestreiten des als Bildungsaufgabe aufzufassenden Entwicklungsgangs in der ›Vorpubertät‹ und ›Pubertät‹ wichtig sind, können zur Erschließung von lebensgeschichtlichen Erzählungen Jugendlicher dienen, indem sie in heuristisch-topischer Funktion den präsentierten biographischen Prozess in den Blick nehmen. Zugleich können die zuweilen ab-

16 Petzelts pädagogischer Entwurf basiert auf – das sollte nicht verschwiegen werden – metaphysischen Grundannahmen, und das nicht nur, weil er christlich-theologische Bezüge stellenweise äußerst ›penetrant‹ hervortreten lässt. Jene Grundannahmen spricht Ruhloff (1979: 173) an, wenn er sagt: »Das ›Ich‹ oder die ›Subjektivität‹ sind so wenig wie alles andere übergeschichtlich-invariante Grundlagen einer allgemeingültigen Pädagogik; denn auch sie sind doch noch in Denken und Sprache konstituiert und lassen sich von daher auf ihre Voraussetzungen hin befragen und in ihrer für notwendig gehaltenen Grundlegungsfunktion bezweifeln.« Überblicksartig fasst Kauder (1997) die kritischen Stimmen zum Ansatz Petzelts zusammen (vgl. Kauder 1997: 24ff.). Auch Dangl (2002) konstatiert zentrale Voraussetzungen der Theorie Petzelts. An der »Spitze der Metaphysik« (ebd.: 72) steht seines Erachtens dabei »das Postulat der Existenz des Absoluten« (ebd.) als Voraussetzung für Geltungsansprüche.

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strakt daherkommenden Ausführungen Petzelts über diesen Weg und den Fokus auf die lebensgeschichtlichen Erzählungen Jugendlicher an Substanz und Konkretion gewinnen – etwa indem deutlich gemacht wird, inwiefern eine ›Du-Bestimmtheit‹ narrativ überhaupt artikuliert wird und bildungswirksame Kraft entfalten kann. Im Mittelpunkt steht dabei dann der zentrierende Blick auf die im Jugendalter vollzogenen Akte und die Klärung ihrer ›Bildungsbedeutsamkeit‹. Bevor dies jedoch geschehen kann, sollen noch die Ausführungen von Wolfgang Fischer und Jörg Ruhloff betrachtet werden, da von diesen – in Ergänzung und Erweiterung zu Petzelts Darlegungen – weitere Topoi zu Tage gefördert werden, die deutlich machen, was mit ›Bildung‹ im Allgemeinen sowie im Jugendalter im Besonderen eigentlich gemeint ist. 3.2.2 Befragende Nachdenklichkeit Von Wolfgang Fischer wird der phasen- und aufgabenbezogene pädagogische Entwurf Petzelts konkretisiert und weiterentwickelt; und zwar in einem dreifachen Sinne. Es werden von Fischer – zum Ersten – in den 1950er und 60er Jahren an die Theorie Petzelts anknüpfende Untersuchungen unter dem Titel »Neue Tagebücher von Jugendlichen« (Fischer 1955 und 1967) bzw. »Der junge Mensch« (Fischer 1958a und 1966b) vorgelegt, welche die Befunde Petzelts detaillieren und erweitern. Diese Studien Fischers betrachten dabei speziell das Jugendalter und richten sich nicht auf den gesamten Entwicklungsgang eines Ich von der Geburt an. Konkretisiert und weiterentwickelt wird die Phasenlehre Petzelts dabei – zum Zweiten – auch dadurch, dass die in Fischers Untersuchungen gewonnenen Ergebnisse wesentlich deutlicher als bei Petzelt anhand jugendlicher Tagebuchaufzeichnungen materialiter verdeutlicht und in einem Ergänzungsband (Fischer 1967) zugänglich gemacht werden. Schließlich lässt sich auch noch in einem dritten Verständnis sagen, dass bei Wolfgang Fischer eine Konkretisierung und Weiterentwicklung des Entwurfs Petzelts erfolgt; nämlich dann, wenn man jene jugendtheoretischen Schriften Fischer betrachtet, die er Anfang der 1980er Jahre vorlegt hat. Darin entwickelt er eine phasen- bzw. entwicklungsgemäße Pädagogik aus dem Bildungsgedanken, ohne dabei aber eine dezidiert prinzipienwissenschaftliche Begründung vorzunehmen. Stattdessen erfolgt die Bestimmung hier aus dem Selbstverständnis skeptischer Pädagogik heraus, wie sie zu Beginn des Kap. 2 skizziert wurde. ›Bildung‹ wird dabei als eine Umwendung verstanden, die »den Menschen der Voraussetzungshaftigkeit und Bedingtheit seines Trachtens, Wähnens und Wissens« (Fischer 1980, 25) gewiss werden lässt »und ihn in der Erfahrung des ›Wissens des Nichtwissens‹ […] zur Nachdenklichkeit« (ebd.) freigibt. Auf diese Weise wird eine kritische Urteils-

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kraft befördert, die keine absolut gültige normative Basis gelten lässt, sondern eine ›Denkkultur‹ radikaler Skepsis befördert. Zwar finden sich Facetten dieses skeptischen Bildungsverständnisses nun durchaus schon im früheren Entwurf Fischers, sodass es übertrieben wäre, wenn man sagen würde, dass seine spätere bildungstheoretische Konzeption des Jugendalters mit jenem nichts mehr zu tun hätte. Herkunft und Spuren bleiben nämlich deutlich sichtbar, und doch lässt sich sagen, dass in Fischers jugendtheoretischem ›Spätwerk‹ Weiterentwicklungen unverkennbar sind, die bei dem Versuch einer bildungstheoretischen Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen folglich auch nicht unberücksichtigt bleiben sollten. Auf diese von Fischer vorgenommenen Weiterentwicklungen wird daher nun auch der Blick geworfen, weil damit einerseits die bislang anhand von Petzelts Konzeption hervorgehobenen Topoi konkreter erfasst werden können und weil darin andererseits auch zusätzliche Aspekte hervortreten, sodass im Rahmen der angekündigten Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen die entsprechenden begrifflichen Präzisierungen und theoretischen Bestimmungen von ›Bildung‹ vorhanden sind. Begonnen wird mit der zeitlich früheren Konzeption Fischers. (a) Der junge Mensch: ein aktiv Gestaltender In seinem Entwurf, den Fischer (1966b: 9) in den 1950er und 60er Jahren Petzelts Untersuchung der Phasenabfolge zur Seite stellt, entwickelt er eine »Theorie der geistig-seelischen Entwicklung« im Jugendalter. Diese wird explizit als eine pädagogische verstanden und mit einer Kritik am jugendtheoretischen Zeitgeist verknüpft. Fischer sagt: »Es ist merkwürdig, daß in dem Chor der Jahr für Jahr zahlreich erscheinenden wissenschaftlichen Beiträge zu Jugendproblemen die Stimme der pädagogischen Theorie heute nicht in gebührendem Maße vertreten ist. Epochalpsychologie und soziologische Gesichtspunkte herrschen vor. Sie korrespondieren dem allgemeinen Bedürfnis, neu auftretenden und in der Zeitsituation mitverwurzelten aktuellen Erscheinungen im Lebensvollzug junger Menschen ein fundiertes Begreifen zu ermöglichen. Sie führen ihrem Ansatz nach das Sosein der Jugend auf Veränderungen der Umwelt zurück und haben ein Recht dazu, wenn sie auf den Anspruch verzichten, mit diesem Regressus das Jugendalter vollumfänglich verstehen zu können.« (Ebd.)

Eine veritable Jugendtheorie kann sich dieser Kritik zufolge nicht damit begnügen, Jugend einzig und allein durch psychologische und soziologische Größen zu erklären. Dem will Fischer nicht zuletzt auch dadurch Ausdruck verleihen, indem er seiner Arbeit von 1966 den Untertitel »Ein Beitrag zur pädagogischen

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Theorie der Reifezeit« gibt.17 Pädagogisch möchte diese Theorie dann sein, da sie nicht die gesellschaftlichen Aspekte des Heranwachsens ins Zentrum rückt, keine entwicklungspsychologischen Erklärungen übernimmt und auch nicht etwa biologische Veränderungsprozesse nachzeichnet. Allerdings ist es im Verständnis Fischers nicht ausreichend, eine Theorie deshalb schon pädagogisch zu nennen, weil sie stattdessen typische erzieherische Probleme der Jugendphase schildert oder weil sie auf die immense Bedeutung eines fördernd-begleitenden Lernens hinweist (vgl. ebd.: 15f.). Für Fischer ist eine Jugendtheorie erst dann rechtmäßigerweise als eine pädagogische zu bezeichnen, wenn sie den Jugendlichen selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt und vor dem Hintergrund seines Fragens, Denkens und Lernens die besondere Entwicklung im menschlichen Lebenslauf als Bildungsaufgabe deutlich macht. Entwicklung in diesem Verständnis ist dann »Selbstwerk des Ich, Sache eines nicht weiter rückführbaren Fragens und Lernens« (ebd.: 16) des Subjekts selbst. Auch Fischer bezieht sich bei dieser Sichtweise auf das Modell Kants, welches das Subjekt als Bedingung der Möglichkeit jedweder Erkenntnis beschreibt, sodass man von ihm nicht absehen kann. Damit will Fischer zwar keineswegs die Notwendigkeit bestimmter sozialer Konstellationen negieren, die dazu führen, dass Jugend als Lebensphase überhaupt ein Recht erhält und das Fragen, Denken und Lernen verwirklicht werden kann. Dass aber die gesellschaftliche Lage mehr als eine solche conditio sine qua non darstellt, dass man also mit einigem Recht behaupten kann, sie sei geradezu der Erzeugungsgrund von Jugend, die conditio per quam, das bestreitet Fischer vehement (vgl. ebd.: 18, 49ff.).18

17 Der Untertitel der ersten Ausgabe lautete noch: »Ein Beitrag zur pädagogischen Psychologie der Reifezeit«. Siehe Fischer 1958a. 18 Diverse Einführungen in die Jugendforschung und Übersichten zur Geschichte der Jugend teilen die Aussage, dass Jugend ein Produkt der Gesellschaft sei und sprechen zugleich davon, dass Jugend als ein spezifischer Abschnitt menschlichen Lebens erst im 18. Jahrhundert hervorgebracht bzw. ›erfunden‹ wurde, wie es etwa in der Studie von Lutz Roth mit dem Titel »Die Erfindung des Jugendlichen« (Roth 1983) zum Ausdruck kommt. Diese und ähnliche Aussagen machen allerdings nur vor dem Hintergrund einer ideen- und sozialgeschichtlichen Untersuchungsform Sinn, die in einer Gemengelage entscheidender gesellschaftlicher und pädagogischer Veränderungen des 18. Jahrhunderts die Leitideen des bis heute gültigen Jugendbegriffs sehen. Verfolgt man dagegen einen kulturgeschichtlichen Weg und blickt auf die hier im Zentrum des Interesses stehenden Aspekte, dann sieht man nicht nur dass, sondern auch wie junge Leute schon vor dem 18. Jahrhundert gelebt haben. Man erkennt dann beispielsweise, so wie es etwa Giovanni Levi und Jean-Claude Schmitt in der von ihnen

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Denn der Mensch gilt ihm in diesen ›soziologistisch‹ bestimmten Entwürfen nicht »als jenes Wesen, das auch seine eigene Möglichkeit und seine eigene Aufgabe ist; der junge Mensch nicht als der, der im Begriffe steht, lernend sein Sein sich in verantwortbarer Weise zu eigen zu machen« (ebd.: 46). Gerade das ist es aber, was für Fischer Mensch-sein in einem maßgeblichen Sinne charakterisiert: die schöpferische Aktivität des Ich. »Diese dem Menschen zukommende Aktivität gibt seiner geistig-seelischen Entwicklung das eigene, besondere Gepräge. Nämlich so: er ist in sein Reifen, es selber führend, gestaltend, eingespannt. Es geschieht ihm nicht, irgendwie erwirkt durch dunkle Anlagen und Umwelt, deren Resultante oder Opfer er ist. Er ›macht sich selber reifen‹, und zwar in seinen Akten. In ihnen setzt er sich mit der Welt auseinander, will sie in ihrer Ordnung erkennen und das Verhältnis zwischen sich und ihr bestimmen.« (Fischer 1961: 81)

Damit übernimmt Fischer also die anthropologische Charakterisierung, die auch die Phasenlehre Petzelts fundiert und versucht in seinem Zugriff die Akte des Jugendlichen – als Ausdruck dieser Aktivität – in ihrem Zusammenhang darzustellen: »Wir bemühen uns, das ›typische‹ Verhalten junger Menschen zu verstehen, indem wir nach der besonderen Art der Aktivität, nach entwicklungshaften Prinzipien Ausschau zu halten, die ihm – strukturierend – zugrunde liegen und die zu der herauszubildenden Natur des Ich gehören.« (Fischer 1966b: 34) Fischers Untersuchungsansatz erscheint in dieser Hinsicht ganz und gar auf den Vorstellungen und Leitlinien seines akademischen Lehrers aufzubauen. Denn auch Fischer versucht unter Zugrundelegung einer spezifischen conditio humana, der Aktivität, invariante Momente herauszuarbeiten, um zu demonstrieren, wie hinter allen Akten der Jugendlichen eine verbindende Aufgabenhaltung steht (vgl. Fischer 1955: 150). So wird dann also nicht nur die anthropologische Basis von Petzelt übernommen, sondern das Gesamtgefüge seiner prinzipienwissenschaftlichen Pädagogik, was sich mitunter bis in die Argumentationen und Formulierungen Fischers hineinzieht.

herausgegebenen Geschichte der Jugend (1996) zeigen, wie junge Adlige im Zeitalter des Absolutismus zwischen väterlicher Autorität und Freiheit aufwuchsen, man erblickt, dass es Inszenierungen der Jugend auch im Mittelalter gab oder man sieht, welches Bild der Jugend in der griechischen Antike vorherrschend war. Werden also kulturgeschichtliche Aspekte in den Vordergrund gestellt, dann wird die Aussage, Jugend sei ein Produkt der modernen Gesellschaft und eine Erfindung des 18. Jahrhunderts, hochproblematisch und durch und durch fragwürdig. Vgl. hierzu Fischer 1966a: 130f. und 1966b: 50.

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Nun wäre die Aussage, dass es sich bei Fischers Untersuchungen um eine Konkretisierung und Weiterentwicklung des Ansatzes von Petzelt handle, nicht nachvollziehbar, wenn tatsächlich keinerlei eigene Akzentuierungen erfolgten und er überhaupt keine neuen Befunde hervorbrächte. Die oben vorgelegte Begründung für eine eigenständige Behandlung der Konzeption Fischers als Vorbereitung auf die empirische Analyse wäre so auch hinfällig. Vor allen Dingen in seiner Schrift von 1966 wird nun aber deutlich, inwiefern Wolfgang Fischer neue und über seinen akademischen Lehrer hinausgehende Perspektiven auf Jugend entwickelt. Hier verwendet Fischer nämlich gerade anders als Petzelt nicht mehr Begriffe, die in irgendeiner Form den Schwerpunkt auf ›Psychisches‹ oder ›Psychologisches‹ legen, sondern er verortet seine Arbeit ausschließlich und ausdrücklich im pädagogischen Diskussionszusammenhang. Das hat im Wesentlichen mit starken Veränderungen der Psychologie zu einer empirisch-positivistischen Wissenschaft zu tun, der es um kausalanalytische Beobachtungen und Experimente geht. Dort findet sich Fischer – wie auch Eduard Spranger (1979), der seine »Psychologie des Jugendalters« aus der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Jugendpsychologie ebenfalls in den 1960er Jahren zurückzog – allerdings nicht wieder, geht es ihm doch nicht um eine objektivierende Erfassung der Jugend (vgl. Fischer 1966b: 15). Die Stellung des Ich und die Berücksichtigung seiner Individuallage stehen bei ihm viel zu sehr im Vordergrund. Deshalb befürwortet er – gleichsam in Reminiszenz an die Errungenschaften der geisteswissenschaftlichen Pädagogik – auch die Methode des Verstehens, die sich gemäß Wilhelm Diltheys bekannter Formel nicht auf Naturobjekte, sondern auf das Seelenleben ausrichtet und hierdurch imstande ist, das Bedeutungshafte und Sinnstrukturierende zu erfassen. Ihr und nicht vermeintlich exakten psychologisch-empirischen Verfahren gelingt es deshalb nach Fischers Dafürhalten auch, empirische Erscheinungsweisen, also etwa jugendlichen Akten, nach dahinterliegenden Bedingungen zu befragen, um auf diese Weise tiefer, d.h. in die ermöglichenden Strukturen hinein zu dringen. Folgerichtig heißt es bei Fischer dann auch: »Pädagogische Theorie […] wird immer die Wissenschaft des Verstehens von Sinnstrukturen sein müssen« (ebd.: 33). Da aber freilich auch jugendliche Handlungen, ihr Denken und Fühlen, ihre Motive und Wünsche nur verstanden werden können, wenn konkrete Ansatzpunkte vorliegen, benötigt auch Fischer einen Gegenstand, an dem er seine Untersuchung festmachen kann. Diesen findet er in jugendlichen Tagebuchaufzeichnungen, die er als literarische Selbstzeugnisse versteht und die er deshalb berücksichtigt, weil sie es gestatten, das Erleben Jugendlicher »möglichst unmittelbar, aufrichtig und umfassend, d.h. mehr als sporadisch« (ebd.: 36) in den

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Blick zu nehmen.19 In der Analyse von Tagebüchern Jugendlicher lassen sich auf diese Weise bestimmte Momente ausmachen, die dem – rein objektivierendquantifizierenden – Messen verborgen bleiben. Zwar bieten auch Gespräche, Dialoge oder offene Interviews die Möglichkeit, jugendliches Erleben unmittelbar zu erfassen und ihre Akte verstehend auszulegen, da hier ebenso – weder thematisch streng fokussiert noch den Fragen und Antwortmöglichkeiten nach standardisiert – »das Aktivieren subjektiv wahrhaftig über eine längere Zeit oder ausführlich ausgedrückt und damit einem Du mit-geteilt wird« (ebd.). Tagebücher haben allerdings im Rahmen von Fischers wissenschaftlichem Anliegen einen entscheidenden Vorteil. Weil es das Ziel ist, vom Ansatz Petzelts ausgehend die Phasenabfolge der menschlichen Entwicklung am Beispiel des Jugendalters herauszuarbeiten, ist es deutlich angebrachter und sinnvoller, Tagebucheinträge – und keine Gespräche, Dialoge oder Interviews – zu berücksichtigen, da auf Grund ihrer chronologischen Struktur der Verlauf der Phasen und die jeweils vorherrschenden Momente gleich mitdokumentiert werden (vgl. ebd.: 40). Die Bündelung des von den Jugendlichen in den Tagebüchern Aufgeschriebenen zu Erlebnisgruppen bzw. ihre Zusammenfassung zu Sinneinheiten erlaubt es so auch, Aussagen darüber treffen zu können, wie Jugendliche ihr Heranwachsen gestalten und inwiefern eine dem Ich zugehörige und bedingende Aufgabenhaltung hinter allen Akten steht. (b) Jugend in ihrer frühen Reifezeit Mit dieser empirischen Basis widmet sich Fischer den jugendlichen Ausdrucksweisen, fragt nach ihren ermöglichenden Bedingungen und versucht sie in ihren Zusammenhängen verstehbar zu machen. Wie auch Petzelt unterscheidet Fischer hierzu zwei verschiedene Phasen des Jugendalters. Die eine umfasst in etwa die Altersspanne von 14 bis 17 Jahren, die andere jene von 18 bis 21.20 Bei ihm hei-

19 Der Stellenwert des Jugendtagebuchs als autobiographische Quelle wird ausführlich erörtert in Fischer 1955: 13ff. Als Methode Qualitativer Forschung wird die Jugendtagebuchforschung u.a. von Winterhager-Schmid (1997) vorgestellt. In ihrem Aufsatz betont sie insbesondere die Klärung des Selbstbildes mittels Tagebucheinträgen, widmet aber dem Beitrag, den Tagebücher zur Klärung und Erfindung von Fremd- und Weltbildern leisten können, keinerlei Aufmerksamkeit. In dieser Hinsicht sind Fischers Reflexionen deutlich bildungstheoretisch akzentuiert, während WinterhagerSchmid psychologische bzw. psychoanalytische Deutungsfiguren einschlägt. 20 Fischer versieht die von ihm berücksichtigten Selbstzeugnisse der Jugendlichen stets mit einer Nennung der Altersangabe, obgleich nach seinem Dafürhalten »genaue Al-

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ßen sie allerdings nicht ›Vorpubertät‹ und ›Pubertät‹, sondern frühe und späte Reifezeit (vgl. ebd.: 55). Obwohl diese Begriffe in Fischers früheren Arbeiten noch keine Verwendung finden, so kommt die begriffliche Absetzung in den 1960er Jahren nicht von ungefähr. Weil es Fischer um die pädagogischen Gesichtspunkte im Heranwachsen geht, ›Vorpubertät‹ und ›Pubertät‹ aber einen starken psychologisch-biologischen ›Anstrich‹ haben, möchte er mit dem Begriff der Reifezeit seine pädagogische Fokussierung deutlich machen und die beiden Pubertätsbegriffe nur dort verwenden, wo ausschließlich körperliche Wachstumsabläufe angesprochen sind (vgl. ebd.: 57). Obwohl Fischer nun anders als Petzelt mit der Unterscheidung zwischen früher und später Reifezeit arbeitet, die Rede von psychischen Prozessen weitestgehend vermeidet und auch die Ausführungen seiner Untersuchung immer wieder auf diverse Tagebucheinträge bezieht, die von 14- bis 21-jährigen Jugendlichen stammen, so ähneln sich die herausgearbeiteten Befunde sehr. Auch Fischer betont nämlich, wie sich nach der Vollkindheit eine bedeutende Wende im Leben der Heranwachsenden ereignet, da sie es hier nicht mehr – wie noch zu ihren Kindheitsjahren – mit der Absicht vollziehen, allgemeingültig-objektive Sachverhalte aufzufassen. Ihr Umgang mit den ›realen‹ Gegebenheiten ändert sich. »Die jungen Menschen vollziehen offenbar ihr Leben nicht mehr aus Achtung für die wertmäßig unproblematisch erlebte Wirklichkeit, die ihnen die Eltern und die Erwachsenen als unbedingte Autoritäten vorsetzt.« (Ebd.: 64) Die Jugendlichen der frühen Reifezeit sehen Aussagen Erwachsener stattdessen erst dann als legitim und verbindlich an, wenn sie sie auch aus eigenem Ermessen als gültig wahrnehmen. Auf diese Weise werten die Jugendlichen die Welt in eigener Begründung und wollen sich nichts vorschreiben lassen. Ihnen gilt nicht mehr ›an sich‹ für gut oder schlecht, für unantastbar oder verpflichtend, sondern alles wird nach dem tatsächlichen Wert für das Ich gemessen. Wie bei Petzelt bezieht sich der Ausdruck ›Werten‹ dabei also auf die Festlegung der Bedeutung einer Sache für sich selbst. Allerdings gestaltet sich das Bestimmen der Wertmaßstäbe nicht als creatio ex nihilo, so wie es zuweilen bei Fischers akademischem Lehrer aussehen mag. Die Jugendlichen suchen vielmehr nach verehrungswürdigen Vorbildern, die Ungewöhnliches und Außerordentliches zu bieten haben. Sie sind es dann auch, die jene Normen liefern, welche sich die Jugendlichen aneignen. »Die Vollbringer großer, wertvoller Leistungen – auf welchem Gebiete es auch sein mag – erfahren ihre Bewunderung. Mit dieser Würdigung werden sie zur maßgebenden Instanz. Das kann das Gan-

tersangaben hinsichtlich des Zeitpunktes der Abfassung von Selbstzeugnissen für eine pädagogische Theorie der Entwicklung ziemlich belanglos sind« (Fischer 1967: 13).

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ze der Lebensführung betreffen.« (Ebd.: 105; Herv. i.O.) Zu Vorbildern gekürte Menschen beeinflussen damit den Lebensstil und die Haltung der Heranwachsenden, und das auf eine Weise, die mitunter bis hin zum Kopieren von Frisur, Kleidung und Verhaltensweisen führt. Insofern sind es auch nicht gänzlich eigene Werte, die die Jugendlichen hervorbringen, sondern von Vorbildern adaptierte. Allerdings werden Auswahl und Bedeutung dieser Werte wiederum von den Jugendlichen selbst getroffen. Fischer (1955: 113) spricht hier deshalb von einer »wertenden Wahl«. Wenn es in der frühen Reifezeit vermehrt zu so genannten »Erziehungskrisen« (Fischer 1954), d.h. zu Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten zwischen Eltern und ihren Kindern kommt, dann ist dies für Fischer auch ein Ausdruck dieser neuen Haltung der Heranwachsenden. Eltern wissen zuweilen nicht recht, wie sie mit ihr umzugehen haben und reglementieren, wo eher Beistand und Erörterung erfolgen sollte. Damit unterbinden sie jedoch das Wollen und Denken der Jugendlichen. Zugleich erschweren sie es ihnen, selbstständig wertende Urteile zu fällen und zu einer Eigenständigkeit im Leben zu gelangen (vgl. Fischer 1966b: 73f.). Anhand zahlreicher Tagebucheinträge demonstriert Fischer, wie sehr Jugendliche sich aber gerade Unabhängigkeit und Freiheit wünschen und wie sehr sie manches Verhalten ihrer Eltern als Bevormundung, Maßregelung, Gängelei oder auch Zwang empfinden. So wird etwa eine Anordnung des Vaters für falsch gehalten und dem Ärger hierüber mit dessen Beschimpfung im Tagebuch Ausdruck verliehen (vgl. ebd.: 58; Fischer 1955: 44f.). Oder es wird das nicht entgegengebrachte Verständnis für ein Hobby geschildert und den Eltern ihre mangelnde Toleranz vorgeworfen (vgl. ebd.: 46f.). Elterliche Erziehungsmaßnahmen, ihre Verbote und Gebote sehen die Jugendlichen der frühen Reifezeit also der Theorie nach nicht länger als selbstverständlich gültig an, sondern nehmen sie mitunter als ungerechte Last und als nicht angemessen wahr. Die generationale erzieherische Ordnung wird auf diese Weise in Frage gestellt, und das »reale Sein der Eltern involviert nicht mehr das blind-vertrauende, kritiklose Gehorchen« (ebd.: 31). Zur Aufrechterhaltung der Erziehungsfunktion des Elternhauses stellen solche Wahrnehmungen der Jugendlichen durchaus eine enorme Gefahrenquelle dar, da Erziehung dort unmöglich wird, wo Jugendliche die sie Erziehenden abwerten und nicht mehr in ihrer Position anerkennen. Erziehungsschwierigkeiten im Jugendalter resultieren für Fischer insofern oftmals nicht aus einem aufsässigen, trotzigen und vorlauten Charakter der Heranwachsenden, der diesen häufig nachgesagt wird, sondern vielmehr aus den mangelnden pädagogischen Fähigkeiten der Eltern, die es versäumen, kontinuierlich ein phasengemäßes Erziehen an den Tag zu legen (vgl. ebd.: 42). Eine solche lastet den Jugendlichen gerade nicht allerhand Normen und Regeln auf, um sie in ihrer

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entstehenden Eigenständigkeit zu behindern, sondern findet im Positiven statt, d.h., sie »muß stets bedenken, daß ihr Lenken nicht nur die Bedeutung hat […] dem verderblichen Vielerlei den Garaus zu machen. […] Ihre Aufgabe ist somit die, bei manchem Wertvollen zu überzeugen, daß es dennoch nicht in den Vordergrund des Lebens gehört« (ebd.: 72; Herv. i.O.). Selbst aber dort, wo es Eltern gelingt, die Phase der frühen Reifezeit pädagogisch zu begleiten und die Beziehung zwischen sich und ihren Kindern auf gelungene Weise zu gestalten, ereignet sich »das Spezifische dieser Etappe der Reifezeit« (ebd.: 48): das Werten. So werden dann nicht nur Eltern von den Jugendlichen der frühen Reifezeit bewertet, sondern auch andere sie umgebende Personengruppen: wie etwa ihre Lehrerinnen und Lehrer. Auch von ihnen wird nichts mehr des Amtes wegen blind übernommen, sodass auch sie dem spezifischen Gemessenwerden unterliegen (vgl. ebd.: 56). Die Heranwachsenden untersuchen nämlich in der Phase der frühen Reifezeit auch die Handlungen und Einstellungen der Lehrer daraufhin, ob und inwiefern sie als überzeugend und beispielhaft für das eigene Leben in Betracht gezogen werden können. Betrachtet man die von den Jugendlichen herausgestellten Fremdverhältnisse, so spielen bei ihnen neben den Eltern und den Lehrern auch die Freunde eine wichtige Rolle. Gerade das Suchen nach Freundschaften ist gemäß Fischers Tagebuchanalysen ein hervorstechendes Merkmal der Jugendphase, dem der Wunsch zu Grunde liegt, mit bestimmten Menschen einen engen und vertrauten Kontakt zu haben. So ist das Bedürfnis nach einer Freundschaft, bei der man sich gegenseitig Einblick in sein Inneres gewährt, bei jedem Jungen und Mädchen der frühen Reifezeit auf irgendeine Weise vorhanden. Echte Freunde werden dabei streng von eher oberflächlichen Kameraden unterschieden: »›Freund‹ lautet die Bezeichnung für die Kameraden, mit denen man eine unenttäuschte, besonders vertrauliche Verbundenheit (etwa der Abenteuer, der gemeinsamen Alltagsgestaltung usw.) eingegangen ist. […] Ihre etwaigen Verstöße gegen das, was man für recht und wertvoll hält […], lassen sie absinken vom Rang des Freundes in die Breite der gewöhnlichen Bekanntschaften, der keine Intimitäten eignen, die oberflächlich im Vergleiche mit der Freundschaft ist.« (Ebd.: 115; Herv. i.O.)

An Freunde werden demzufolge auch hohe Erwartungen gestellt. Man will von Freunden ernst genommen und verstanden werden. Sie sollen Hilfe bieten und zuhören. Deshalb erfolgt in dieser Zeit häufig auch der Zusammenschluss zu Jugend- und Gleichaltrigengruppen, die als formelle oder auch informelle Gemeinschaften junger Menschen einen Ort bieten, wo Freunde gefunden werden können und wo man eine Art von ›Bastion‹ gegenüber der Erwachsenenwelt bildet.

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Fischer begründet den Wunsch nach echter Freundschaft vor allem aber unter Berücksichtigung des Wertgedankens, was insofern nicht verwundert, als dieser die spezifische Phasenstruktur der frühen Reifezeit ausmacht. Weil in der frühen Reifezeit der junge Mensch sich selbst und andere im Werten bestimmt und so die Welt neu zu erleben lernt, »sehnt er sich nach einem Du, das an diesem Aufbruch teilzuhaben würdig ist, um ihn […] mitzutragen« (Fischer 1966b: 83). Die Unterscheidung von Freunden und Bekannten, die das Kindesalter nicht kennt, ist so verstanden ein spezifischer Akt des Wertens, bei dem definierte Wertmaßstäbe an Mitmenschen angelegt werden. Und wenn Fischer sagt, dass sich Jugendliche in der frühen Reifezeit nach einem Menschen sehnen, der ihren Aufbruch begleitet, dann nimmt er damit Bezug auf die großen Veränderungen gegenüber der Phase der Vollkindheit und spezifiziert das besondere Entwicklungsmoment als »Aufbruch einer thematischen Ichhaftigkeit« (Fischer 1955: 123). Gemeint ist damit Folgendes: Das Werten ist das Charakteristikum der frühen Reifezeit, das in zahlreichen Lebenslagen der Jugendlichen zum Vollzug kommt. Es wird allerdings nicht bloß auf Eltern, Lehrer, Freunde, also auf Mitmenschen, angewendet, sondern auch und gerade auf das eigene Ich, dessen Verhalten, Taten und Pläne, also in Bezug auf bestimmte Themen, die das Subjekt selbst betreffen. In explizit selbstbezüglichen und -kritischen Bemühungen versuchen Jugendliche nun festzustellen, was sie wert sind. Sie prüfen, ob sie den eigenen Vorstellungen genügen und wollen wissen, inwiefern ihre Einschätzungen und Wünsche angemessen oder gerechtfertigt sind. Dazu spalten sie sich gleichsam »in ein ›höheres‹ Ich, das die Maßstäbe repräsentiert, und in ein ›tatsächliches‹ Ich, das diesen Maßstäben im täglichen Auseinandersetzen« (Fischer 1966b: 87) genügen muss. Im Gedanken der Leistung wird die Wertung des Selbstverhältnisses besonders deutlich. Die Jugendlichen der Reifezeit entwickeln nämlich ein besonderes Geltungsbedürfnis und versuchen herausragende Leistungen zu erbringen. Das geschieht aber nicht bloß zum Selbstzweck: Man will wertvoll sein und es zeigen. Man will Leistungen vollbringen, damit sie die Mitmenschen sehen und vermeidet deshalb auch solche Situationen, in denen man sich blamieren könnte. Denn insbesondere durch die Anerkennung von anderen wird die persönliche Wertsteigerung erreicht. »In der Anerkennung liegt die Bestätigung seines Tuns, wird die Geltung seiner Leistung endgültig gewährt. Die Erfüllung eines intendierten Wertes bringt mit dem Beifall, mit der Zustimmung und vielleicht Bewunderung durch andere aber auch den Wertzuwachs des Ich« (Fischer 1955: 76). Zuweilen nimmt das Wertstreben der Jugendlichen dabei aber auch bizarre Formen an, da die Absicht, herausragende Leistungen zu erbringen, um bei an-

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deren Anerkennung und Achtung zu finden, in Imponiergehabe oder vortäuschendes Renommieren umschlägt (vgl. Fischer 1966b: 100). In Passagen der Selbstbetrachtung wird das Wertstreben der Jugendlichen dann von diesen selbst reflexiv eingeholt, wobei die selbstbeurteilenden Reflexionen sich etwa um die Frage drehen, auf welche Weise man bei den Mitschülern Anerkennung finden kann und durch welche materiellen Güter – Kleidungsstücke, Musiksammlungen, Accessoires – es möglich ist, den Wert des eigenen Ich zu steigern (vgl. Fischer 1955: 58). Die Gedanken der Jugendlichen kreisen ebenso um Eigenschaften, die sie an sich gerne ändern würden. Schließlich befassen sie sich aber auch mit Situationen, in denen sie ihrer Meinung nach angemessener, selbstbewusster oder auch konsequenter hätten reagieren müssen. Gerade eine besonders ausgeprägte Form von Grundsatztreue beschäftigt die Jugendlichen hier, und sie glauben, dass es ihnen schade oder im Wert sinken lasse, wenn sie ihre eigenen Grundsätze nicht strikt befolgen: »Da gibt es Jungen, die keine Grenze zu kennen scheinen, wo z.B. die Abhärtung zum Leichtsinn wird. Bis in die kältesten Monate hinein tragen sie shorts und gehen ohne Kopfbedeckung. Andere Jugendliche glauben, sich selbst und ihrem Ziele untreu zu werden, wenn sie je einmal langsam radfahren würden. Der sportliche Eifer macht ihnen aus der Hauptverkehrsstraße eine Rennstrecke, läßt sie unruhig werden, wenn eine Straßenbahn sie überholt.« (Ebd.: 76)

In diesem Zusammenhang widmet sich Fischer in recht umfangreichen Analysen auch der Sexualität der Jugendlichen sowie ihrem Erleben des Geschlechtlichen. Vor allen Dingen das ist gegenüber Petzelts Phasenlehre eine deutliche Konkretisierung und Weiterentwicklung, weil diese Thematik dort zwar angesprochen, aber keineswegs eingehender behandelt wird. Bei Fischer dagegen wird sie nicht ›tabuisiert‹. Alles, was die Jugendlichen in ihren Tagebüchern an Gedanken und Erlebnissen festhalten, wird ›beim Namen genannt‹ und für den Entwurf einer pädagogischen Theorie der Reifezeit in Betracht gezogen. Das reicht von der Schilderung der ersten gegengeschlechtlichen Zärtlichkeiten, über Schuldgefühle auf Grund der praktizierten Selbstbefriedigung, bis hin zum artikulierten Wunsch nach Geschlechtsverkehr. In dieser Hinsicht ist Fischers pädagogischer Beitrag sicherlich als äußerst progressiv zu bewerten, da er sich Mitte der 1950er Jahre bereits Themen widmet, die erst rund zehn Jahre später breiter diskutiert werden. Obwohl Fischer nun aber untersucht, wie Jugendliche Liebe, Erotik und Sexualität in ihren Tagebüchern verarbeiten, so geht es ihm nicht im engeren Sinne um Aufklärungsarbeit. Das Sexuelle oder das Geschlechtliche, wie es bei ihm

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zumeist bezeichnet wird, versteht Fischer nämlich ganz im Sinne seiner Gesamtlesart als ein Moment der Aufgabenhaltung im Jugendalter, dem ebenfalls der zuständige Platz im Ordnungsgefüge des Ich einzuräumen ist. Das Vorhandensein der Sexualität bedeutet insofern »Aufruf zur Stellungnahme« (ebd.: 93), wie es Fischer nennt. Sie ist ein »Erleben des Ich; vollzogen, unterdrückt oder aufgehoben durch ein Ich, das […] zu korrigieren, zu regulieren oder etwas zu bereuen grundsätzlich imstande ist« (ebd.: 125). Sexualität und Lust sind also als reguläre Angelegenheiten des Lebens von den Jugendlichen in ihrer jeweiligen Bedeutung zu erfassen, zu aktivieren und eigenständig zu bewerten. Dabei weist Fischer darauf hin, dass bei der Herausbildung der Wertordnung zu Liebe und Sexualität die als vorbildlich gesetzten Menschen einen deutlichen Einfluss haben. Denn das Denken und Handeln der Jugendlichen der frühen Reifezeit ist hier noch kein freies, sondern hängt von den Menschen ab, die zum Vorbild genommen werden (vgl. ebd.: 139). Über die angesprochenen Lebensbereiche legen sich die Jugendlichen also kritisch Rechenschaft ab. Wie intensiv diese Kritik vollzogen wird, das variiert jedoch: »Alle Formen […] treten auf. Die einen vollziehen sie mehr oberflächlich, andere nehmen sie sehr ernst. Einige betreiben sie häufig, reflektieren vielleicht täglich über sich selbst und reifen zu hochwertigen, ihrer Grenzen und Fähigkeiten bewußt gewordenen Persönlichkeiten.« (Fischer 1966b: 87) Trotz dieser Verschiedenheit liegt – das macht Fischer unter Verweis auf die Tagebuchaufzeichnungen deutlich – bei den meisten Jugendlichen auf irgendeine Weise aber ein kritisches Moment zu Grunde. Fast niemand gibt sich mit sich selbst vollkommen zufrieden. Fast keiner, will so bleiben, wie er ist. Unzufriedenheit mit bestimmten Lebensgebieten oder ein Zurückbleiben hinter selbst gesteckten Zielen – sei es nun im Bereich der schulischen oder sportlichen Leistungen, der Anerkennung durch andere oder auch der Sexualität – führt daher »zum Zweifel am Wert des Ich und des bisher gelebten Lebens« (Fischer 1955: 65). Auf diese Weise wird eine »Arbeit am Ich« (ebd.) initiiert, die persönliche Veränderungsmöglichkeiten in den Blick nimmt. Gerade darin erblickt Fischer auch ein besonderes Bildungsmoment, denn nur derjenige, der sein Denken beurteilt und seinen Wandel betrachtet, verfällt nicht der Illusion schon perfekt zu sein und kehrt deshalb allen Bildungsbemühungen den Rücken. Gerade das Ausbleiben von kritischen Selbstbetrachtungen und die vollkommene Zufriedenheit mit sich selbst wäre Fischers Lesart zufolge unter bildungsbezogenen Gesichtspunkten fatal. Am Ende stünde hier dann nämlich der »›perfektionierte‹ Mensch, ungebildet und unbildbar, weil Bildbarkeit Wissen um Nichtwissen, um Mängel voraussetzt und Bildung stets ›docta ignorantia‹ […], also gelehrte Unwissenheit ist« (Fischer 1966b: 89; Herv. i.O.).

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Fasst man nun das bislang zur Jugend in ihrer frühen Reifezeit Gesagte zusammen und versucht, das Destillat dieser Überlegungen ›aufzufangen‹, dann kann mit Blick auf die anstehenden bildungstheoretischen Analysen lebensgeschichtlicher Erzählungen bereits Folgendes festgehalten und als Arbeitsprogramm formuliert werden: Die Betrachtung der narrativ wiedergegebenen biographischen Prozesse unter einer bildungstheoretischen Perspektive hat insbesondere auf den Modus des Wertens zu blicken, da über diesen jene Verhältnisse hervortreten, die den Selbst-, Fremd- und Weltbezug der Jugendlichen ausmachen. Dabei gilt es dann die in der »pädagogischen Theorie der Reifezeit« (Fischer 1966b) zur Verfügung gestellten und hier skizzierten Topoi, etwa die Infragestellung der generationalen Ordnung, das Streben nach Leistung oder auch das Bedürfnis nach Freundschaft und Anerkennung, als Kategorien so zu nutzen, das sie imstande sind, das empirische Material zu ›erschließen‹. Und diese Sinnund Bedeutungserschließung sollte dann zeigen können, ob und auf welche Weise es den Jugendlichen gelingt, das bildungstheoretisch exponierte Werten (Stellung nehmen, Rechenschaft ablegen und kritisch Urteile fällen) in Bezug auf ihr Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur Welt zu vollziehen. (c) Jugend in ihrer späten Reifezeit Bislang sind nur Aussagen darüber getroffen worden, wie die etwa 14- bis 17jährigen Jugendlichen der frühen Reifezeit versuchen, »die Kluft, die zwischen dem Menschsein und der Welt grundsätzlich besteht, unabhängig von autoritär vorgeschriebenen Überbrückungen in eigener Anstrengung unter Würdigung aller Umstände für ihr Ich verbindlich bewältigen zu lernen« (ebd.: 98). Aussagen über die etwa 18- bis 21-jährigen Jugendlichen, also diejenigen, die von Fischer der späten Reifezeit zugeordnet werden, wurden noch nicht vorgelegt. Auch bei Fischer kommen diese erst an späterer Stelle ins Spiel und sind nicht so umfangreich wie jene Aussagen zu den Jugendlichen der frühen Reifezeit, was damit zusammenhängt, dass er sich nicht schon in seinen Schriften der 1950er Jahre damit beschäftigt. Diese widmen sich – auch noch unter dem von Petzelt übernommenen Terminus der ›Vorpubertät‹ – lediglich der früheren Phase des Jugendalters. So tritt bei Fischer erst ab den 1960er Jahren die Beschäftigung mit der späten Reifezeit hinzu. Inwiefern unterscheiden sich nun diese Jugendlichen, also jene, die bei Petzelt als ›Pubertierende‹ bezeichnet werden, in ihrer Haltung und ihren Akten von den Jugendlichen der frühen Reifezeit? Unterscheiden sie sich überhaupt von diesen? Sicherlich tun sie das, und es dürfte auch kaum verwundern, dass Fischer sichtlich bestrebt ist, den deutlichen Unterschied, den Petzelt zwischen beiden Phasen herausstellt, ebenfalls zu betonen. Weil eine neue Aufgabenhal-

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tung in der Phase der späten Reifezeit vorherrschend ist, muss nämlich geradezu eine elementare Differenz zur Phase der frühen Reifezeit vorliegen. Eine besondere Art des Fragens spielt für die Jugendlichen der späten Reifezeit dabei eine bedeutende Rolle. Diese besondere Art des Fragens ist darauf gerichtet, Antworten zu finden, die besagen, wie das Leben zu leben ist. Das Ich, Andere und die Welt werden in einer neuen Weise befragt, und dieses neue Befragen charakterisiert für Fischer das gesamte Erleben der Jugendlichen in der späten Reifezeit (vgl. ebd.: 129). Zwar werden Dinge und Sachverhalte, Mitmenschen und das Ich selbst weiter gewertet, aber das Transzendieren21 als die vom subjektiven Standort losgelöste Frage nach dem Sein und Sollen wird für die Jugendlichen nun bestimmend. Es kommt daher nicht selten vor, dass die Jugendlichen dieser Phase Religionen und Weltanschauungen eine deutliche Aufmerksamkeit widmen, bieten diese doch Antworten auf die »Frage, nach dem Sinn, nach dem, was der Grund des Seins und das ›letzte‹ Ziel des Sollens ist« (Fischer 1967: 12).22 Auch der Tod als »die radikalste Demonstration der Bedingtheit alles Seienden […] drängt sich dem, dessen Geist das Vergängliche transzendiert, immer wieder auf« (Fischer 1966b: 159). Die Jugendlichen der späten Reifezeit versuchen also gleichsam die Fundamente ihres Daseins zu begreifen und möchten wissen, wie die Welt als Ganzes zu verstehen ist. Deshalb versuchen sie, den Vollzug des Lebens unter der Frage nach dessen ›letztem‹ Sinn zu klären.

21 Transzendieren meint hier nicht – etwa i.S. des altakademischen bzw. neuplatonisches Platonismus – den Überstieg über das Sein und alles Seiende als das Erfülltwerden vom Göttlichen (vgl. Halfwassen 1999: 1442ff.). Im Kontext der Theorie der Reifezeit ist damit stattdessen der Versuch bezeichnet, das Sein und Sollen zu verstehen und so Einsichten »zum Unvergänglichen« (Fischer 1966b: 134) hervorzubringen. Es ist die denkend-imaginierende Auseinandersetzung mit Sachverhalten jenseits der Grenzen der Erfahrung. Deutungshorizonte der alltäglichen Lebenswelt – inkorporiert in Zielen, Normen und Werten – werden dabei von den Jugendlichen überschritten und auf einen höheren Sinngehalt hin ausgelegt. Mit einem solchen Transzendieren ist nicht notwendigerweise eine Erweiterung des Erkenntnisses verbunden; erreicht wird jedoch eine Problematisierung von Selbst-, Fremd- oder Weltverhältnissen (vgl. ebd.). 22 Diese metaphysische Problematik verweist auf das, was Kant in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft formuliert: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie mit Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.« (Kant KrV A VII)

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»Das Ich fragt danach, was für einen Sinn sein ganzes Tun eigentlich habe. Es entdeckt sich in einer völlig neuen Lage, gleichsam ausgesetzt, aller schönen Geborgenheit entrückt. Es steht nicht mehr nur Auge in Auge mit den bunten Fällen der Wirklichkeit, angesichts derer es sich um die Bestimmung seiner selbst […] bemüht. Die Fälle werden Anlaß zu erfassen, was für eine metaphysische Absicht es mit der Wirklichkeit auf sich hat, warum es sie eigentlich gibt und was dem Menschen ›an sich‹ für ein Amt ihr gegenüber zukommt. Der junge Mensch der späten Reifezeit weiß sich nicht so sehr als Vollstrecker fester Normen, übernommener Maßstäbe. Er erlebt sich als Normsucher, fragt selbständig nach dem Guten und Wahren, ringt um den Wert (und nicht mehr um den gültigen Vollzug des Wertens), sucht nach dem Logos der Welt und des Menschen.« (Ebd.: 137; Herv. i.O.)

Bei dem Suchen nach diesen Gültigkeiten für das eigene Dasein werden die Jugendlichen der späten Reifezeit mit einer grundsätzlichen Einsamkeit und Sehnsucht als Ausdruck der Suche nach Sinn und Vollkommenheit konfrontiert. Denn diejenigen, die sich um Grundlegendes mühen und das zeitlos Gültige fassen möchten, haben es gerade auch mit sich zu tun. Sie erkennen, dass nur sie selbst Antworten auf diese Fragen finden können. Deshalb spielen auch die Vorbilder als signifikante Andere nun nicht mehr die Rolle der ›Idole‹, die man bedingungslos wertschätzt und nachzuahmen versucht. Was sie auf die Frage nach dem ›letzten‹ Sinn bereithalten, wird als bloß »stückwerkhafte« (ebd.: 150) Antwort empfunden. »Das Vorbild wird nicht gekürt im vergleichenden Werten, und nach der Wahl entlehnt man von ihm die Maßstäbe. In der letzten Phase findet der Reifende Hilfe, Anregung. Resonanz bei einem Du, und weil dessen Denken dem Suchen des jungen Menschen entgegenkommt, seinem Sinnen gemäß ist, es befruchtet und vorantreibt, schätzt er es. Diese Hochachtung kann weit gehen. Nachahmungen können sich einstellen wie ehedem, Vertrauen wird verschenkt. Nie aber – und das ist der grundsätzliche Unterschied – werden Aussagen des Vorbilds übernommen, nur weil sie seinem Munde entstammen. Das fürs Leben Maßgebende verdankt seine Position allein dem selbst vollzogenen Denken, unabhängigen Akten – vielleicht in Anlehnung an ein Du, nie aber in einer fürs Metaphysische ›blinden‹ Nachfolge.« (Fischer 1966b: 150f.)

Wie das jetzige und zukünftige Leben geführt wird, hängt so von der Art ab, wie der einzelne Jugendliche diesem Fragen seiner Möglichkeit gemäß nachgehen kann. Und dieses gleichsam philosophische Fragen, »ist notwendig, wenn der Mensch in seinen Urteilen und Handlungen, um die er ja nicht herumkommt, mit Recht den Anspruch erhebt, sie seien richtig oder gut, wenn er sein Wollen sitt-

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lich verantworten, seine Erkenntnisse zu einer Einheit verknüpfen möchte« (Fischer 1966a: 135). Zudem stellt es für den einzelnen Jugendlichen die unerlässliche Voraussetzung dafür dar, nicht Verstand und Gewissen an einen anderen abzutreten, »sondern vielmehr und geradezu sein ihm aufgetragenes Leben nach dem richten, was vernünftigerweise sein soll« (ebd.: 134). Dem Sein und dem Sollen auf die Spur zu gehen, ist jedem Menschen – auch den jungen – aufgetragen, wenn er nicht eine Existenz führen will, die sich stur nach dem gerade Üblichen oder dem just Herrschenden richtet. »Allein wer sich unabhängig hält von zeithaften Machtansprüchen, wer sich nicht blind den Konventionen beugt, sondern die kritische Vernunft, der es um die Wahrheit, das Richtige und das Sittlich-Gute geht, den Ausschlag geben läßt, ist der Welt und also auch der Gesellschaft konstruktiv zugewandt, um sie, die stets Unvollkommenen, kraft vernünftiger Einsicht zu reformieren« (ebd.).

Gerade das zeigt, dass es nicht das Bildungsziel der Konzeption Fischers ist, einen nonkonform-aufsässigen Jugendlichen ›heranzuziehen‹, der herrschende Maßstäbe destruiert, schlicht um sie zu zerstören, sondern »um das Maß in eigener Anstrengung als für sich verbindlich zu fassen« (Fischer 1967: 12; Herv. i.O.) und auf diese Weise Souveränität zu erlangen. Diese Gesamthaltung und eine solche Form des Nachdenkens über sich, über andere und über Welt, wie sie hier vorgestellt wird, attestiert Fischer keineswegs nur wenigen auserwählten Jugendlichen, wie etwa Gymnasiasten und Studenten. Ihr ›Umgang‹ mit Geistigem mag zwar – so Fischer – den Blick auf die Welt und ein tiefgründiges Problematisieren der ›letzten‹ Dinge befördern, prinzipiell ist eine befragende Nachdenklichkeit in jener skizzierten Weise allen Jugendlichen zu ermöglichen – mehr noch, sie ist ihnen ›zuzumuten‹. Dass viele dem dann häufig nicht nachkommen, liegt für Fischer (1966b: 141) jedoch nicht unbedingt an ihnen, sondern an einer »jugendfeindlichen Mitwelt«, der es vielmehr darum geht, schnell und ohne Zeitverlust Menschen für wirtschaftliche oder politische Zwecke nutzbar zu machen. Die Voraussetzungen für das Aufbringen von Muße und Kraft, um die erscheinende Welt nicht einfach hinzunehmen, sondern sie zu begreifen und zu beurteilen, werden so häufig erst gar nicht geschaffen – mit fatalen Folgen: Denn wo »Lahmheit des Kopfes ertragen […] wird, auch wo Lehren als das geisttötende Beschicken mit einem dem Urteilen und Begreifen vorenthaltenden ›Stoff‹ […] verstanden wird, dort wird in aller Regel der Jugendliche nicht imstande sein, dem Fragen seines Alters sich zu stellen« (Fischer 1966a: 138).

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Fragt man nun auch hier nochmals mit Blick auf die anstehenden empirischen Analysen nach dem Ertrag dieser Ausführungen zur »Jugend in ihrer späten Reifezeit«, so bleibt festzuhalten, dass die biographische Prozesse der Jugendlichen neben der Fokussierung auf ›Akte‹ des Wertens auch daraufhin zu untersuchen sind, inwiefern sie eine Suche nach Sinn und Normen dokumentieren. Wenn nämlich ›Bildung‹ – gemäß den gerade getroffenen Aussagen zur späten Reifezeit –mit einer kritischen Befragung des Seins und des Sollens, also der Geltungsprüfung von Verhältnissen, einhergeht, dann lassen sich mit einer darauf bezogenen Blickrichtung womöglich interessante Einsichten zu jener Frage hervorbringen, die schon in der Einleitung der vorliegenden Arbeit den entscheidenden Anlass zur Reflexion geboten hat; nämlich wie ›Bildung‹ eigentlich möglich ist. (d) Jugend als sinnhafte pädagogische Kategorie im Werdegang eines Menschen In dem jugendpädagogischen Entwurf, den Fischer zu Beginn der 1980er Jahre – also etwa 15 Jahre nach den gerade vorgestellten Arbeiten – entwickelt, bleibt er im Großen und Ganzen seinen Ausführungen treu. Denn er begründet hier wie zuvor eine Bildungsaufgabe im Jugendalter und verfolgt den Versuch, eine pädagogische Theorie der Jugend hinsichtlich der Grundlagen, ausgewählter Erscheinungsformen und erzieherischer Maßgaben zu generieren.23 Auch dabei ist der Phasenablauf des jungen Menschen für ihn orientierend, und die Beschreibungen des frühen und späten Jugendalters sind nahezu identisch (vgl. Fischer 1980: 42ff). Doch anders als zuvor wird der Phasenablauf nun nicht mehr an Petzelts 23 Es sind im Wesentlichen vier Publikationen, in denen dies geschieht, wobei die ersten beiden die ›Gehaltvolleren‹ sind: Der im Auftrag des österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung erstellte Studienbrief über »Die besondere pädagogische Problematik im Jugendalter höherer Schüler« (Fischer 1980) sowie der Beitrag mit dem Titel »Jugend als pädagogische Kategorie« (Fischer 1982), der in der elfbändigen »Enzyklopädie Erziehungswissenschaft« abgedruckt ist. Ferner zu nennen sind der gleichnamiger Vortrag auf dem 8. DGfE-Kongress in Regensburg, der allerdings das Wort ›Jugend‹ in Anführungszeichen setzt und im Titel den Zusatz »– historische Rückfragen an Untersuchungen zur Kompetenzentwicklung und Identitätsbildung« trägt. Dieser ist im 18. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik abgedruckt (vgl. Fischer 1983). Die vierte, hier erwähnenswerte Publikation ist der Beitrag »Notizen zu einigen Dokumentationen und Versuchen über die gegenwärtige Jugend« (Fischer 1981), in dem Fischer den zeitgenössischen pädagogischen Diskurs über Jugend kritisch in den Blick nimmt und einige Vernachlässigungen konstatiert.

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Bestimmungen angelehnt und als invariant, gleichsam gesetzmäßig verstanden. Vielmehr stellt er eine pädagogische Sinnzuweisung dar und tritt als Forderung auf, die sich von der Idee leiten lässt, die als spezifisch jugendlich etikettierten Handlungen und Verhaltensweisen »als Erscheinungen einer sinnhaften Figur im Werdegang eines Menschen aufzugreifen und in den Horizont dieser Aufgabenhaltung Erziehen und Unterrichten zu stellen« (ebd.: 20).24 Dass dies nicht so sein muss, dass man Jugend also auch in einem anderen Sinn betrachten, mit einer anderen Aufgabe versehen und zu anderen Schlussfolgerungen zum Umgang mit Jugendlichen kommen kann, dies steht für Fischer außer Frage und er betont, dass die Aufgabenhaltung in den Phasen durchaus kein alles erklärender Supermechanismus ist (vgl. ebd.: 36). Doch wenn es darum geht, Jugend pädagogisch zu verstehen und sie zugleich aus dem Gedanken der ›Bildung‹ heraus zu begreifen, dann sind jene Überlegungen, die das jugendliche Erleben und Verhalten als Vollzug einer sinnhaften Aufgabenhaltung auffassen, gerechtfertigt oder sogar unabdingbar. Pädagogisch geboten ist es dann nämlich auch, diese Phasen- und Aufgabenhaltung vor rascher Erledigung zu bewahren und das Denken der Jugendlichen dabei zu differenziertem, umsichtigem Urteilen zu führen. Das zentrale Bildungsziel liegt für Fischer demnach in der Freigabe zur konsequenten Nachdenklichkeit (vgl. ebd.: 25). Und eine pädagogische Theorie der Jugend kann auch nirgendwo anders ihre Grundlage haben, »als darin, was als der Sinn der Bildung in der Gegenwart bedacht und erläutert werden kann« (Fischer 1982: 31; Herv. i.O.). Bei diesen Überlegungen lässt sich Fischer von der Einsicht leiten, dass Sinn und Maß der ›Bildung‹ ihre Erläuterung in der Formel finden, die Vernunft an die Grenze des Wissens zu bringen, damit man dem »Fürwahrhalten aller falschen, dogmatischen Gewißheit ledig und gegenüber der Verlockung zu un- und leichtsinniger metaphysischer Scheinargumentation widerstandsfähig« (ebd.: 33) wird. ›Bildung‹ hat es mit der »Einsicht in die Begrenztheit unseres Wissens und Könnens« (Fischer 1980: 98) zu tun. Mit dieser Einschätzung gerät so das skeptische Pragma in die auf Jugend fokussierte Bildungskonzeption Fischers hinein

24 Dazu auch der Hinweis Fischers (1982: 34): »Es ist schon angedeutet worden, daß der […] Versuch, ›Jugend‹ als eine pädagogische Bedeutungseinheit zu rechtfertigen, in der Nähe zu Petzelts Konzept der die ›Entwicklung‹ abschließenden ›Pubertät‹ steht.« Und weiter: »[V]erzichtet man gegen ihn darauf, die Aufgabeninvariante, die das (späte) Jugendalter pädagogisch konstituiert, in einer ungeschichtlich-zeitlosen ›Norm der Psyche‹ ihren unbedingten Grund haben zu lassen, dann ist das Erscheinungsbild, das Petzelt vom jungen Menschen nachzeichnet, in dem, worauf es ankommt, […] das einer in der Gegenwart pädagogisch postulierten.«

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und wird zusammen mit dem transzendentalkritischen Interesse in einer Deklaration über ›Bildung‹ offenkundig gemacht. Fischer formuliert nämlich: »Gebildet wird gerade nicht derjenige sein, der bloß über sehr umfangreiches allgemeines und spezielles Wissen verfügt, der das Lernen des Lernens gelernt hat und nicht müde wird, immer mehr Kenntnisse sich anzueignen und sich ›höher‹ zu qualifizieren, der die für ein erfolgreiches und gut funktionierendes individuelles und soziales Leben ermittelnden ›Kompetenzen‹ erworben hat, sondern derjenige, der auf die alledem zugrundeliegenden Voraussetzungen und Bedingungen aufmerksam geworden ist und sich der Frage stellt, was es mit dem gepriesenen Lernen und Wissen, dem Arbeiten und Lieben, der Politik und der Technik, was es mit dem Leben und Sterben auf sich habe.« (Fischer 1982: 33)

In eine solche ›Bildung‹ zu gelangen, wird als Philosophieren lernen, als ›Kritik der Vernunft‹25 und ihrer Leistungen, bezeichnet. Dies ist die selbst zu gestaltende Aufgabe der Heranwachsenden, die aber zugleich pädagogisch anzuleiten ist. Denn Erziehen und Unterrichten heißen vor diesem Hintergrund, in die Skepsis gegenüber den eigenen Auffassungen zu geleiten: »Der Pädagoge wird den Heranwachsenden mit der Wahrheitsproblematik konfrontieren, wachsam angesichts der Gefahr, daß es zu Verbohrungen, eitlen Selbstbespiegelungen, schnellfertigen Scheinlösungen, ausweglosen Verstrickungen, modisch-dogmatischen Verhärtungen, aber auch zu Abwendungsversuchen und Veräußerlichungen kommen kann, unterstützend im Bereitstellen anvertrauter Gedanken, vom Verstehen getragener Zweifel, unwägbarer Antworten, die in der Geschichte des Denkens aufgekommen sind. Kurz: In jenes belehrte Nichtwissen ist philosophierend zu geleiten, das zur Selbständigkeit im Denken freigibt, das besonnen und zurückhaltend macht, das die Lebensfragen gerade darum nicht verdeckt oder dogmatisch-metaphysisch erstickt, weil sie dem Schein des Wissens und der Sprache apodiktischer Gewißheit entzogen sind.« (Ebd.: 38)

Wie ein solches Geleit auszusehen hat und wie es möglich werden kann, das versucht Fischer gerade durch die Formulierung von einigen Maßgaben für den pädagogischen Umgang mit Jugend anzudeuten (vgl. ebd.: 38ff.: Fischer 1980:

25 Die Kritik der Vernunft kann in einem doppelten Sinn verstanden werden: Die Vernunft ist Gegenstand der Kritik wäre die Lesart eines genitivus objectivus, die Vernunft ist Medium der Kritik die eines genitivus subjectivus. Nimmt »man beide Elemente zusammen, geht es folglich um eine Selbstkritik der Vernunft als Bestimmung ihrer Möglichkeiten und Grenzen« (Vogel 2003: 72).

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59ff.). Aufgabe der Pädagoginnen und Pädagogen ist es dann etwa, das Denken, Fragen und Werten der Jugendlichen schwer zu machen, damit es nicht schnell und gedankenlos in eine ungemäße Routine abgleitet. Es ist aber ebenso deren Aufgabe, das Lernen des Denkens, Fragens und Wertens nicht an Verhältnissen scheitern zu lassen, denen junge Menschen noch nicht gewachsen sind; insofern ist es in Paradoxie zur ersten Maßgabe durchaus auch leicht zu machen. Doch welches Vorgehen jeweils angebracht und sinnvoll ist, das wird in jedem Einzelfall und in jeder Situation neu zu erwägen sein. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob es sich um einen jugendlichen Berufstätigen, einen 19-jährigen Studenten oder einem Schlosserlehrling handelt. Vieles spricht für Fischer dafür, dass das Erleben und Verhalten auf eine identische Aufgabenhaltung hin bildungstheoretisch auszulegen ist, ohne die jeweils anders gearteten Verstrickungen und Verwicklungen zu ignorieren. Denn pädagogisch kommt es darauf an, »Verschränkungen in dieser oder jener Gestalt lösen zu helfen, gruppencharakteristische wie epochale wie auch individuell einmalige Verwicklungen durchsichtig und begreifbar zu machen« (ebd.: 39). Nur so tragen Pädagoginnen und Pädagogen dazu bei, dass Jugend als pädagogische Kategorie wirklich und der Bildungsgang der Jugendlichen nicht vergeblich wird. Und was besagen diese Aussagen sowie die im neueren Einsatz Fischers umrissenen Zusammenhänge von Jugend und ›Bildung‹ nun für eine bildungstheoretische Analyse von Lebensgeschichten Jugendlicher? Nun – zumindest Folgendes: Über die an einzelnen Facetten und Ausdrucksformen der Jugend orientierte »Theorie der Reifezeit« (Fischer 1966b) hinaus machen sie deutlich, dass der Bildungs- bzw. Entwicklungsgang auf eine umfassende Nachdenklichkeit gerichtet ist, welche bei aller reflexiven Eigenständigkeit einer pädagogischen Anleitung bedarf. Solche pädagogischen ›Wirkfaktoren‹ sollten also bei einer bildungstheoretischen Analyse der lebensgeschichtlichen Erzählungen nicht vernachlässigt werden, damit entscheidende Bildungsmomente in den biographischen Prozessen der Jugendlichen zu Tage treten. Hierzu stellt dann auch die Bildungskonzeption von Jörg Ruhloff nochmals Perspektiven bereit, sodass sie nun als letzte der drei in Betracht zu ziehenden Theorien zu konturieren ist, bevor eine Synopsis die Ausführungen bündelt und einen leitenden theoretischen Entwurf präsentiert (siehe Kap. 3.3). 3.2.3 Problematisierender Vernunftgebrauch Die von Jörg Ruhloff (1996a) unter dem Namen »Bildung im problematisierenden Vernunftgebrauch« hervorgebrachte bildungstheoretische Konzeption ist die dritte hier – gleichsam in einer akademischen Generationenfolge – präsentierte

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Theorie, die für eine auf ›Bildung‹ fokussierte Analyse von lebensgeschichtlichen Erzählungen Jugendlicher fruchtbar gemacht werden soll. Und dass Ruhloff die Konzeptionen von Petzelt und Fischer sehr gut komplettiert, auch wenn er weniger dezidiert das Jugendalter thematisiert, dürfte schnell deutlich werden. Ruhloff entwickelt seinen bildungstheoretischen Einsatz unter den Vorzeichen, dass nicht nahtlos an die klassischen Bildungstheorien des 19. Jahrhunderts angeknüpft werden kann, will man eine, im Hier und Jetzt angesiedelte und die gegenwärtige Verhältnisse berücksichtigende Bildungskonzeption vorlegen. Auch bei ihm steht also die Problematik, was Sinn und Maß der ›Bildung‹ darstellen, im Zentrum der Betrachtung. Dabei kommt Ruhloff zu folgenden Überlegungen: Die Idee einer Rekonstruktion des klassischen Bildungsgedankens und seiner Übertragung auf aktuelle Bedingungen ist missverständlich und absurd, da man nicht davon ausgehen kann, dass sich eine einst wahre und im Lauf der Zeit vergessene oder verdeckte Gestalt von ›Bildung‹ dabei freilegen lässt.26 Statt einer solchen Vorstellung der Rekonstruktion des Bildungsdenkens das Wort zu reden, hat der bildungstheoretische Diskurs vielmehr und viel deutlicher über die Analyse historischer Gegebenheiten hinaus eine Neufassung des Bildungsbegriffs in den Blick zu nehmen. Und das besagt, »in den überkommenen Begriffsgebrauch etwas einzutragen, was dessen Inauguratoren nicht bereits gesehen haben bzw. nicht sehen konnten oder aus ihm etwas zu streichen, was […] heute nicht mehr haltbar zu sein scheint« (ebd.: 148). Doch was ist der wesentliche Mangel der klassischen Bildungstheorien? Ist es die unhinterfragte Anthropozentrik, d.h. die Selbstsuche des Menschen als ein Seiendes (vgl. Ballauff 1970), ist es die Ausblendung der leiblichen Verfasstheit des Menschen (vgl. Meyer-Drawe 1984) oder ist es die mangelnde Berücksichtigung der Potenzialität kommunikativer bzw. intersubjektiver Vollzüge (vgl. Schaller 1987), um nur einige der zahlreichen Problemfelder von Bildungstheorie zu nennen? Für Ruhloff als Vertreter pädagogisch-transzendentalphilosophischen Denkens ist es die »Unbedingtheit des Glaubens an die Vollkommenheit des Menschen« (Ruhloff 1996a: 148) und dessen postulierte Existenz als Ganzheit, wie sie u.a. bei Wilhelm von Humboldt und dessen bildungstheoretischen Schriften zum Ausdruck kommt. In diesen, aber auch in anderen klassischen Bildungstheorien mit ähnlichen idealistischen Annahmen wird sich auf einen, von der Vernunft vorgegebenen letzten Zweck des Menschen berufen und dieser dogmatisch glaubhaft zu machen versucht. Gegenwärtig allerdings – so Ruhloff – ist das Bildungsproblem nicht mehr

26 Vgl. dazu auch das Kap. 1.2.1, in welchem die Gründe für eine bildungssemantische Neubelebung seit den 1980er Jahren und die hierbei vollzogenen Überlegungen beschrieben werden.

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durch die Berufung auf eine bestimmte Konkretion von Bildung aufrechtzuerhalten, nicht durch eine Einheit stiftende Vernunft zu sichern und auch nicht durch die Vorstellung eines Bildungskontinuums zu belegen, das sowohl alle Individuen als auch die Menschheit selbst umschließt (vgl. Ruhloff 1996a: 150). Als Frage nach der Menschlichkeit des Menschen bleibt ›Bildung‹ aber nichtsdestotrotz deutungs- und beantwortungsbedürftig. Daher entwirft Ruhloff eine gegenwartsadäquate pädagogische Neufassung des Bildungsbegriffs mit gleichwohl traditionellen Momenten, indem er – in Anlehnung an die Philosophie Immanuel Kants und dessen transzendentaler Methodenlehre (vgl. Kant KrV B 733) – zweierlei Arten von Bildungstheorien unterscheidet: Zum Ersten gibt es solche, die im Modus eines dogmatisierenden Vernunftgebrauchs auf die Leistungsfähigkeit der Vernunft vertrauen und uneingeschränkt evidente Wahrheiten prätendieren. Zum Zweiten existieren Bildungstheorien, die im Modus eines problematisierenden Vernunftgebrauchs im selbstkritischen Bewusstsein die Bedingungen der Möglichkeit eigener und fremder Aussagen analysieren und den Geltungsanspruch dieser Aussagen daraufhin einschränken (vgl. ebd.: 150). Die dominierende ›Denkungsart‹ in der Geschichte der Pädagogik stellen für Ruhloff dabei jene pädagogischen Ansätze dar, in denen ein doktrinaler Grundcharakter – also ein dogmatisierender Vernunftgebrauch – zum Ausdruck kommt. Das ist sogar in den bildungstheoretischen Programmen des pädagogischen Idealismus’ der Fall. Denn diesen gilt es, den sich selbst völlig durchsichtigen und die Welt beherrschenden Menschen heraufzuführen (vgl. Ruhloff 1996a: 150). Auch andere Bildungstheorien weisen ähnliche doktrinal-dogmatische Züge auf. Im Allgemeinen lässt sich dabei sagen, dass der dogmatisierende Vernunftgebrauch in seiner ganzen Deutlichkeit immer dann hervortritt, wenn »Wissen, Ethos, Lebenslehren […], Ideen und dergleichen mehr, jedenfalls aber gesicherte Antworten […] zu übermitteln und zu überliefern« (Ruhloff 1996b: 291f.) als maßgebende pädagogische Aufgaben angesehen werden. Vernunftkritik als Selbstkritik der Vernunft tritt hier nämlich nicht auf. Der problematisierende Vernunftgebrauch hingegen als das zwar geschichtlich früher einsetzende, aber weniger erfolgreiche Modell postuliert keine pädagogischen Aufgaben dieser Couleur, sondern fragt nach den Möglichkeiten solcher Interpretationen von Mensch und Welt, welche nicht den gängigen und geschichtlich festgeschriebenen Versionen entsprechen. Das Grundmerkmal dieses Ansatzes ist die freigestellte, nicht bloß und nicht zuletzt auf Antworten vom Charakter der Gewißheit oder Sicherheit eingestellte Problematisierung, die neue

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Möglichkeitsräume eröffnet (vgl. ebd.: 292).27 Im problematisierenden Gebrauch ist damit eine schöpferisch-kreative Kraft eingebunden, denn hier »fungiert die Vernunft als das Vermögen, am Leitfaden der Legitimitätsfrage über Grenzen hinauszusehen und, ohne Gewißheit einer absoluten Legitimität, Grenzverschiebungen in Gestalt neuer Deutungen zu wagen« (Ruhloff 1996a: 151). Aus diesem problematisierenden Vernunftgebrauch, der für das zweite bildungstheoretische Modell steht, entwickelt Ruhloff seinen spezifischen Vorschlag zur Neufassung eines Bildungsbegriffs. Dieser trägt dem Umstand Rechnung, dass das rückhaltlose und selbstlose Durchdenken menschlicher Lagen nur gelingen kann, wenn eine Selbstständigkeit im Denken möglich ist (vgl. Ruhloff 1997: 29). »Erst […] aus der gedanklichen Distanz zu dem, was zeitgemäß ist, wird es möglich, den Schein und Trug des alltäglichen, zeitgemäßen Lebens mitsamt seinen Zukunftsaussichten zu erkennen, zu ermessen, zu beurteilen und ihm mit tatkräftigem Berechtigungsversuchen zu entsprechen« (ebd.). Bildung im problematisierenden Vernunftgebrauch verweist damit auf eine Betonung des Cogito, d.h. auf das »Ich denke«, das in problematisierend-vernünftiger Abwägung in den Ablauf der Normalität begründete Zäsuren einträgt, dadurch Ordnungsmuster ändert und vergessenen Betrachtungsgesichtspunkten eine Berechtigung verschafft (vgl. Ruhloff 1996a: 154). Damit wird eine Bildungsaufgabe exponiert, die die selbst initiierte oder auch von außen hervorgerufene Verwicklung in die Prüfung von Legitimitätsansprüchen und die Eröffnung neuer Blickweisen und Praktiken als rückhaltloses Denken kultiviert. Sie knüpft so an ein antikes Verständnis von ›Bildung‹ an, das den Gedanken der περιαγωγή, der Umwendung, wie er vor allem in Platons Höhlengleichnis zum Ausdruck gebracht wird, stark macht. So schreibt Ruhloff (1993d: 176): »Die Kategorie ›Bildung‹ erstreckt sich seit ihrer Entwicklung in der griechischen Sophistik und Sokratik auf die Legitimitätsproblematik unserer primären menschlichen Direkteinstellungen im Wahrnehmen, Auffassen, Fühlen, Deuten, Wollen und Wünschen, im Kommunizieren, Interagieren, Verhalten, Handeln, im Sozialisationsgeschehen, auch im Erziehen und Unterrichten. Oder kurz: Die Bildungskategorie knüpft die Selbstverständlichkeit menschlicher Primärintentionen an die Frage nach ihrer Rechtfertigung beziehungsweise Begründung.«

27 »Möglichkeiten sind dabei nicht zu verstehen als fiktive Eventualitäten in dem Sinne, daß jederzeit alles auch ganz anders sein könnte, sondern als aufzuspürende tatsächliche Lücken im Raum des geschichtlich Gegebenen, Gedachten oder Angestrebten.« (Ruhloff 1996a: 150f.) Siehe hierzu auch Ruhloff 1998.

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Doch hier liegt – ansonsten wäre es keine Neukonzeptualisierung von ›Bildung‹ – für Ruhloff auch schon die Grenze, bis zu der man dieser Tradition der Bildungstheorie folgen kann. Denn etwa auch die von Platon genährte Erwartung, dass einige ›Philosophenkönige‹ zu einer wahren Erkenntnis des Wahren, des Guten und des Schönen hervordringen können, hält einer skeptischen Prüfung durch den problematisierenden Vernunftgebrauch nicht stand (vgl. Ruhloff 1997: 29). Insofern hat sich die problematisch-vernünftige ›Bildung‹ von dieser Tradition zu lösen und rückhaltlos dazu aufzufordern, den Verbindlichkeitscharakter der Umstände und Auswirkungen, die beispielsweise durch Geschichte, Meinungsbekundungen und Glaubensüberzeugungen einerseits, durch Erziehung, Lernen und Sozialisation andererseits hervorgerufen werden, in Frage zu stellen und sie damit vom Niveau scheinbarer Selbstverständlichkeit auf die Ebene des Bedenkenswerten zu bringen. Auf diese Weise wird »eine denkende Beteiligung daran ermöglicht, wann und wo, in welchem Kontext und unter welchen Voraussetzungen einem für maßgeblich erachteten Gesichtspunkt sein Recht zukommt« (Ruhloff 1996a: 152). Davon ist – das liegt dann in der Konsequenz einer Herausbildung des problematisierenden Vernunftgebrauchs – auch und gerade das eigene Ich mit seinen selbstverständlichen Wahrheitsansprüchen und Weltsichten nicht ausgenommen. Die eigenen Lebensvollzüge in die Grenzen der Frage zurückzunehmen, sie unter dem Aspekt ihrer Berechtigung zu betrachten und alles, was jemanden als factum brutum umstellt und etwa durch Erziehung, Unterricht und Sozialisation als selbstverständlich erscheint, der Reflexion auf die Gründe, fragwürdigen Bedingungen und Änderungsmöglichkeiten auszusetzen, gehört im Verständnis der Konzeption eines problematisierenden Vernunftgebrauchs zur pädagogischen Spezifität von ›Bildung‹ (vgl. ebd.). Jemand bildet sich dann, indem er nach Gründen fragt, sich der Geltungsprämissen seiner Anund Absichten vergewissert und auf diese Weise über das als selbstverständlich Erachtete im Infragestellen hinausgelangt. Die Befangenheit ins Geradehineinleben mit den zunächst in intentio recta vollzogenen Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen wird so aufgebrochen und einer Betrachtung in intentio obliqua zugeführt (vgl. Ruhloff 1979: 179). Zur problematisch-vernünftigen ›Bildung‹ gehören somit Kritik und Skepsis: als Frage nach den Voraussetzungen und Gültigkeiten sowie als Zurückhalten von ›absolutistischen‹ Urteilen (vgl. Ruhloff 2006b: 297). Dass ein solches gründliches und anhaltendes Fragen nicht nur nicht jedermanns Sache ist, sondern auch davon abhängt, ob man auf ein relativ fest begründetes und relativ umfangreiches Wissens und Urteilen-Können zurückzugreifen imstande ist, bedeutet für Ruhloff (1979: 182), dass es dazu wohl »mit einiger Regelmäßigkeit erst im späten Jugendalter, bei den 17-jährigen etwa,

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kommen kann«. Anders als bei Petzelt wird diese Einschätzung aber nicht unter Verweis auf die Aufgabenhaftigkeit der menschlichen Entwicklung begründet, nach der es denknotwendigerweise in einem bestimmten Lebensabschnitt zu spezifischen Fragen und Haltungen kommen muss. Vielmehr wird – wie es auch Fischer in seinem jugendtheoretischen ›Spätwerk‹ äußert – gesagt, dass sich eine ›Bildung‹ ermöglichende Umwendung ins rückhaltlose Denken nur ergibt, wenn auch die äußeren Bedingungen dies gestatten, d.h., »wenn der Heranwachsende in einer bestimmt gefaßten pädagogischen Aufgabe geführt wird« (ebd.). Deshalb ist auch einer familialen und schulischen Dimension deutliche Aufmerksamkeit zu schenken, was nicht heißt, dass sie allein eine solche ›Bildung‹ hervorbringt. Denn es steht nicht in der Verfügungsgewalt der Pädagogik eine derart problematisch-vernünftige ›Bildung‹ überall herzustellen. Dies könnte sie nur dann, wenn sie eine Art von Produktionsinstrument abgäbe, das in einem technokratischen Verständnis ›Bildung‹ machen kann (vgl. ebd.: 184). In welchem Maß der Einzelne der Bildungsaufgabe ›gewachsen‹ ist, zeigt sich deshalb – so auch Ruhloff – nur am Einzelfall selbst. Und um das festzustellen, hilft es, mitunter folgende Fragen zu stellen: »Weiß dieser […] Mensch um die Voraussetzungen, die Grenzen und die Fragwürdigkeiten seines Redens, Tuns und Lassens, und hält er sich – sei es im Verhältnis zu anderen, zur ›Welt‹ oder zu sich selbst – in den von ihm ermessenen Grenzen seines Wissens und Nichtwissens, seines Verständnisses und seines Unvermögens? […] Hat ein Mensch den unter seinen abzuschätzenden individuellen Bedingungen größtmöglichen und von ihm selber im Wissen und bewußten Handeln zu ertragenden und innezuhaltenden Gedankenkreis bereits erreicht, oder bedarf es dazu weiterer unter Umständen einfallsreich-neuer Aufgabenstellungen?« (Ebd.: 181)

Es dürfte in Anbetracht der bisherigen Ausführungen ersichtlich sein, dass die Konzeption einer ›Bildung‹ im problematisierenden Vernunftgebrauch weder eine material-allgemeine noch eine formal-allgemeine Bildungstheorie darstellt (vgl. ebd.). Sie erhebt nämlich keinen Inhalt der ›Bildung‹ zum dominierenden Gut und spricht sich auch nicht für eine überindividuelle, für den Menschen geltende Norm oder Normativität aus. Mit einem Bildungsstandard hat sie deshalb nichts zu schaffen (vgl. ebd.: 185). Gleichwohl ist das transzendentalkritisch-pädagogisch begründete Konzept einer ›Bildung‹ im problematisierenden Vernunftgebrauch weder leer noch folgenlos. »Leer ist es deshalb nicht, weil es nur aus einem weiten Umkreis der bewußten Hinwendung zu Menschen, Dingen und Verhältnissen an dem geschichtlichen Ort, an dem ein je-

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der steht, erwachsen kann. Folgenlos ist es deshalb nicht, weil der im belehrten Nichtwissen Gebildete nicht an einem ›überhimmlischen Ort‹ (Platon) der reinen Schau verharrt und sich in Ideen sonnt, sondern aus Besonnenheit und in Verhaltenheit alle die Aufgaben, die an der Zeit sind und die ihm zu übernehmen möglich sind, zu erfüllen versuchen wird.« (Ebd.: 184; Herv. i.O.)

Was diese Bildungskonzeption verdeutlicht, ist die Möglichkeit, »auf jeweils individuelle Weise zum Wissen um sein Nichtwissen zu gelangen, um aus dieser Einsicht – an welchem Ort, in welchen Verhältnissen und in welchen Aufgaben auch immer – sein Leben zu führen« (ebd.: 183). Damit liegt die Pointe dieser Bildungskonzeption darin, die Wahrheitsfrage offen zu halten und sich nicht in sicheren Lebenswelten einzunisten, fundamentalen Überzeugungen hinzugeben oder festen Selbst-, Fremd- und Weltbildern zu frönen. Somit zeigen sich also unverkennbare Übereinstimmungen zwischen den drei diskutierten Bildungskonzeptionen. Denn sie sehen in der Gewinnung eines Eigenstands und der quaestio iuris, d.h. der Frage nach der Rechtmäßigkeit beanspruchter Geltungen, die Grundlage von ›Bildung‹. Eben damit konturieren sie eine Lebensführung aus rückhaltloser Gedanklichkeit, in der Behauptungen, Urteile, Ansichten und dergleichen nicht ungeprüft übernommen, sondern einer Begründungsreflexion ausgesetzt werden. Das Denken wird auf diese Weise gegen die Gefahr verteidigt, »vom Zauber der scheinbaren Letztgültigkeit des Gedachten gefangen zu werden« (Ruhloff 1999b: 184). Doch wie können die Themenfelder der präsentierten bildungstheoretischen Konzeptionen nun en detail zusammengebracht werden, und zwar so, dass sie ein integrierendes Modell abgeben, dass nicht nur die auf Jugend fokussierten Beschreibungen zu deren Phasenablauf sowie die Betrachtungen zu einer ›Bildung‹ im problematisierenden Vernunftgebrauch beinhaltet, sondern zudem die vorab entfalteten biographietheoretischen Annäherungen berücksichtigt? Das wird nun in einer dieses Kapitel abschließenden Synopsis zu zeigen sein.

3.3 E INE S YNOPSIS

DER BIOGRAPHIE - UND BILDUNGSTHEORETISCHEN M ARKIERUNGEN

Bislang hat der zweite Teil der Arbeit, der mit »Qualitativ-Empirisches« überschrieben ist und eine bildungstheoretische Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen verfolgt, vor dem Hintergrund der Kritik an vier einschlägigen Arbeiten zur bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung einige Markierungen vorgenommen. Das geschah aus zweierlei Richtungen.

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Zum einen wurden aus biographietheoretischer Sicht Ausführungen präsentiert, die deutlich machen, dass Lebensgeschichten – wenngleich sie keineswegs schlichte Abbildungen des gelebten Lebens sind – als artikulierte Selbst-, Fremdund Weltverhältnisse zu verstehen sind, die immer dann, wenn man über sein Leben nachdenkt oder es erzählt, zur Darstellung gebracht und in bewusster Anstrengung reflektiert werden. Obwohl sich das Subjekt nämlich nur in Selbsttätigkeit entwickeln und entwerfen kann, so ist das Leben nicht nur durch Selbstverhältnisse geprägt. Sowohl das eigene Nachdenken über das Leben als auch die Erzählung von diesem weisen über den Selbstbezug hinaus. Sie beinhalten also mehr als Selbstwahrnehmungen und -betrachtungen, obwohl diese keineswegs von marginaler Bedeutung sind. Schließlich spiegelt sich in selbstbezüglichen Reflexionen, jene Haltung, welche das Ich gegenüber sich selbst einnimmt. Doch darüber hinaus treten in Lebensgeschichten immer auch Fremd- und Weltverhältnisse hervor, die ebenfalls reflektiert, erinnert und präsentiert werden. Auf diese Weise werden etwa soziale Begebenheiten, Beziehungsnetze, Familienkonstellationen, Freundeskreise, aber auch zeittypische Lebensverhältnisse, Sozialisationsbedingungen sowie die Struktur von Bildungs- oder Beschäftigungssystemen kenntlich gemacht. Auch Generationen- und Familienthemen sowie Verortungen in die gesellschaftliche Generationenfolge werden hierdurch deutlich. Deshalb haben sich die »biographietheoretischen Annäherungen« (siehe Kap. 3.1) dafür ausgesprochen, das lebensgeschichtliche Erzählen, dem hier die zentrale Aufmerksamkeit geschenkt wurde, gleichsam als ›Interaktion‹ in den Dimensionen der Beziehung zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Welt zu betrachten. Und diese ›Interaktion‹ kann – verbindet man sie auch mit der Einsicht, dass sich das Nachdenken über das eigene Leben als ein Prozess allmählich wachsender biographischer Bewusstheit vollzieht – keineswegs als starr und konstant angesehen werden. Vielmehr ist sie Veränderungen unterworfen und nimmt im Verlauf des Lebens unterschiedliche Gestalt an. Das kann – wie vor allem im Rahmen der Arbeit von Marotzki verdeutlicht – durch Krisen hervorgerufen werden, durch Zufälle und – wie bei Nohl – spontane Handlungen eine Initiierung erfahren oder aber auch in Form schleichender Entwicklung passieren. Gerade die Einsicht in den komplexen Zusammenhang dieser ›Interaktion‹ ist eine wichtige Einsicht, die im Rahmen der biographietheoretischen Markierungen entfaltet wurde und für das Weiterdenken einer auf ›Bildung‹ bezogenen Biographieforschung von Belang ist. Mit dieser Markierung kann nämlich im Wesentlichen auf den Befund reagiert werden, dass es einer bildungstheoretisch motivierten Biographieforschung in ihrer Analyse biographischer Bildungsprozesse nicht bloß um die Demonstration von Änderungen im Selbstverhältnis bzw. dem Aufweis von Identitäts- oder Persönlichkeitsanstrengungen gehen kann. Stattdessen

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hat sie in ihren Analysen – wenn denn Biographie und Lebensgeschichte mehr umfasst als das Verhältnis zu sich selbst – auch und gerade zu den individuellen Fremd- und Weltverhältnissen vorzudringen. Sowohl die Gestaltung der Beziehung zu sich selbst als auch diese zu anderen Menschen und zu Dingen und Themen der Welt ist aus biographischer Perspektive aufschlussreich und daher in den Blick zu nehmen. Bei diesen grundsätzlichen Markierungen aus biographietheoretischer Sicht blieb es aber nicht. Zum anderen wurden nämlich aus bildungstheoretischer Sicht die prinzipienwissenschaftlich bzw. transzendentalkritisch geprägten An- und Einsätze von Alfred Petzelt, Wolfgang Fischer und Jörg Ruhloff vorgestellt und damit der Versuch unternommen, tragfähige Perspektiven zu gewinnen, damit ›Bildung‹ im Kontext lebensgeschichtlicher Erzählungen erfasst und eine ›Bildungsgestalt‹ beschrieben werden kann. Denn der zweite, wesentliche Befund, der im ersten Teil dieser Arbeit diagnostiziert wurde, betont, dass eine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung – stärker als das bislang getan wurde – ihre bildungstheoretischen Referenzen an solche Theorien anzubinden hat, die explizit der Idee der ›Bildung‹ verpflichtet sind. Das kann für die bildungstheoretischen Konzeptionen von Petzelt, Fischer und Ruhloff beansprucht werden. Durch die Art und Weise, wie ›Bildung‹ in deren Schriften – speziell am Beispiel des Jugendalters – begründet wird, erfolgen hierauf bezogene Differenzierungen und inhaltsspezifische Beschreibungen, die deshalb notwendig sind, damit es – wenn von ›Bildung‹ gesprochen wird – nicht auf rein formalistischer Ebene bei der Beschreibung von Wandlungen der Persönlichkeits- bzw. Identitätsentwicklung bleibt. Das argumentative ›Verbindungsstück‹ zwischen den biographie- und bildungstheoretischen Markierungen bildete dabei die von Theodor Schulze unternommene Bestrebung, lebensgeschichtliche Erzählungen unter der Frage nach biographisch bedeutsamen Erfahrungen und wiederkehrenden Topoi zu untersuchen. Schulzes Modell der Toposanalyse unterscheidet sich von jenen Methoden, die bei Marotzki, Koller, von Felden und Nohl Anwendung finden. Es konzentriert sich nicht auf die Gesamtgestalt des Lebens, um so etwa eine übergeordnete Prozessstruktur des Lebensablaufs ausfindig zu machen. Aussagen über den gesamten Strukturverlauf einer Biographie will diese auf lebensgeschichtliche Topoi ausgerichtete Biographieforschung deshalb auch gar nicht treffen. Doch wenngleich sie von lebensgeschichtlichen Erzählungen nicht auf das gesamte Leben zu schließen versucht, so versucht sie dennoch zu prüfen, wie das Ich das Verhältnis zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Welt arrangiert und zur Darstellung bringt. Es geht um das jeweilige menschliche Leben in seiner Gesellschaft und in seiner Zeit, wie Schulze immer wieder formuliert (vgl. Schulze

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2008: 17). Und die Toposanalyse von Schulze besitzt – so die These – sogar hierüber hinausweisendes Potenzial. Durch sie scheinen sich nämlich nicht nur markante ›Orte‹ einer Biographie konturieren zu lassen. Wenn und insofern sie dazu fähig ist, die spezifisch-individuellen Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse über Topoi detailliert zu erfassen, dann dürfte sie auch in der Lage sein, Einsichten darüber hervorzubringen, inwiefern in diesen lebensgeschichtlichen Erzählungen Momente von ›Bildung‹ auftreten, da diese das reflektierende und argumentierende Verhältnis zu sich selbst, zu anderen Menschen und zu den Dingen und Themen der Welt bezeichnet. Wenn die Toposanalyse für eine bildungstheoretische Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen herangezogen werden soll, dann ist sie dafür allerdings einer gewissen Modifikation zu unterziehen. Denn anders als dies in Schulzes Modell angelegt ist, muss für die bildungstheoretische Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen schon ein Begriff von ›Bildung‹ vorliegen. Dieser kann also nicht etwa erst aus den lebensgeschichtlichen Erzählungen entwickelt werden, so wie es bei den biographischen Topoi des »Prügelns« (Schulze 1983) »Abhauens« (Schulze 2008: 18) oder auch »Plattsitzens« (ebd.: 20) der Fall ist. Der potenzielle Erkenntnisertrag ist durch diese Ausrichtung keineswegs eingeschränkt. Vielmehr werden damit bildungstheoretische Einsichten überhaupt erst möglich. So kann die unter den skizzierten Vorzeichen stehende Untersuchung nämlich aufzeigen, wie ›Bildung‹ in lebensgeschichtlichen Erzählungen wirksam wird und inwieweit sie trägt. Genau deshalb wurde mit dem Verfahren der Toposanalyse der Übergang zu den »bildungstheoretischen Schärfungen« (siehe Kap. 3.2) vollzogen. Und weil das Verfahren der Toposanalyse den Blick gerade nicht auf den gesamten biographischen Prozess lenkt, sondern die Aufmerksamkeit auf die jeweils besonderen Elemente der Biographie richtet, muss – sofern man eben davon ausgeht, dass sich auf diese Weise das Phänomen der ›Bildung‹ ebenfalls untersuchen lässt – ›Bildung‹ hier anders konzeptualisiert und aufgefasst werden als in jenen vier diskutierten Ansätzen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. Schließlich setzen diese – was als äußerst problematisch bewertet wurde – Bildungs- mit Wandlungsprozessen gleich, sodass ein solches, auf die »Transformation von Lebensorientierungen« (Nohl 2006a: 11) gerichtetes Verständnis von ›Bildung‹ im Rahmen einer Toposanalyse gar nicht untersucht werden kann. Mit anderen Worten heißt dies, dass die in lebensgeschichtlichen Erzählungen angesiedelte Untersuchung von ›Bildung‹ als reflektierendes und argumentierendes Selbst-, Fremd- und Weltverhältnis hier einen anderen Weg gehen muss. Dem können – so der Geltungsanspruch, der im Folgenden auch noch zu demonstrieren und rechtfertigen sein wird – die pädagogischen Konzeptionen von Alfred Petzelt, Wolfgang Fischer und Jörg Ruhloff

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insofern entsprechen, als sie gerade auf Grund der Bereitstellung zahlreicher bildungstheoretischer Topoi für eine solche, andersgelagerte Thematisierung von ›Bildung‹ in lebensgeschichtlichen Erzählungen ›frucht- und handhabbar‹ gemacht werden können. Werden nun die beiden Markierungsstränge, der biographietheoretische und der bildungstheoretische, überblickt und mit den Überlegungen einer auf Topoi ausgerichteten Untersuchung in Verbindung gebracht, so ergibt sich daraus ein Theoriezusammenhang, der im weiteren Verlauf der Arbeit die bildungstheoretische Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen von Jugendlichen rahmt. Und er lässt sich an dieser Stelle wie folgt präsentieren. Zuallererst versteht der hier vorgelegte Theoriezusammenhang das menschliche Leben als ein vom Subjekt bzw. Ich selbst zu führendes und gestaltendes. Er geht also davon aus, dass das Leben eine aktive Gestaltungsaufgabe impliziert. Insofern sagt dieser Theoriezusammenhang auch, dass vom Leben, in dem allerhand Erfahrungen gemacht, Erlebnisse durchlebt und Erinnerungen verarbeitet werden, ein Anspruch ausgeht: Das Leben ist selbst zu gestalten und zu verarbeiten, weil es nicht an andere delegiert werden kann. Kommt das Subjekt in seinem Leben diesem Anspruch nach, dann hat es seine Erlebnisse, Erfahrungen und Erinnerungen zu ordnen und gestalten. Dies geschieht durch Reflexion, durch Nachdenken oder Erzählen, wobei einige Momente über Akte des Erkennens, Urteilens, Entscheidens, Wollens usw. gezielter in den Blick genommen und mit Sinn und Bedeutung versehen werden. Und weil diese Erlebnisse, Erfahrungen und Erinnerungen als Bewusstheiten unmittelbar mit dem Ich verbunden sind, erfolgt über jenes Ordnen zugleich der Versuch, sich selbst zu entwerfen und sein eigenes Lebens auszulegen – m.a.W. seine Biographie zu konstruieren. Das geschieht geradezu als ein konstruktiv-kreativer Akt durch das Subjekt als Erlebender und Sinnträger. Auch der Entwicklungsgang zum Erwachsensein ist in diesem Sinn als eine lebensbezogene, aktive Gestaltungsaufgabe zu verstehen. Denn der junge Mensch ist hier mit Anforderungen konfrontiert, zu denen er sich auf irgendeine Weise verhalten muss. Diese Auffassung, die sich durch eine Zusammenstellung der vorab entfalteten biographie- und bildungstheoretischen Markierungen ergibt, bildet die subjektzentrierte Basis des Theoriezusammenhangs.28 Doch es bleibt dann nicht bei dieser Auffassung. Bündelt man nämlich nun, wie es sich für eine Synopsis schließlich gehört, gerade auch die in den »bildungstheoretischen Schärfungen«

28 Und damit wird wohl auch der von Ruhloff unlängst umrissene Appell für eine Diskussion um die bildungsphilosophische Tragfähigkeit des Bios-Konzepts mindestens tangiert (vgl. Ruhloff 2002b: 89).

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(siehe Kap. 3.2) vorgestellten Markierungen und fügt die Perspektiven der pädagogischen Konzeptionen von Petzelt, Fischer und Ruhloff ineinander, um Anhaltspunkte für eine bildungstheoretische Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen zu gewinnen, so zeigt sich, dass auf diese Weise ein spezifisches Verständnis von ›Bildung‹ herausgearbeitet werden kann, welches mit einer Differenzierung in Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse aufwartet und gegenstandsspezifische Topoi bereitstellt. Dabei ist das Verständnis eingelagert in die Beschreibung der Entwicklung des Jugendlichen zum Erwachsenen. Diese Entwicklung wird als Bildungsaufgabe gedacht, wobei die Beschreibungen der drei vorgestellten Konzeptionen zugleich einzelne Momente der Bildungsaufgabe bereithalten. Auf diese Weise lässt sich ›Bildung‹ als ein aufgabenhafter Entwicklungsgang zum Erwachsensein konturieren, welcher einer befragenden Nachdenklichkeit und einem problematisierenden Vernunftgebrauch Rechnung zu tragen hat. Gerade für Petzelt und Fischer liegen der Anlass ihrer ausführlichen bildungstheoretischen Betrachtung des Jugendalters dabei in der Feststellung, dass sich die Heranwachsenden – anders als dies Kinder tun – in verschiedensten Ausführungen dem Werten widmen. In der ›Vorpubertät‹ bzw. frühen Reifezeit richten sie sich darauf, wie sie sich selbst, die anderen Menschen, mit denen sie konfrontiert werden, und die Welt, in der sie leben, zu werten haben. Sie suchen dabei nach Orientierungen im Werten. Anschließend – d.h. in der ›Pubertät‹ bzw. der späten Reifezeit – ist es ihnen das zentrale Anliegen, selbstbestimmt jene maßgeblichen Werte in Erfahrung zu bringen, die – philosophisch formuliert – das Sein und Sollen bestimmen. Insofern stellt es einen Ausdruck von ›Bildung‹ dar, wenn Jugendliche den Versuch unternehmen, Werte in eigener Bemühung zu erfassen und sich selbstständig im Denken zu orientieren (vgl. Ruhloff 1979: 181f.). Deshalb hat sich eine bildungstheoretisch inspirierte Betrachtung des Jugendalters in besonderer Weise auch auf solche Akte des Wertens und Wertsuchens zu konzentrieren (vgl. Petzelt 1965: 165; Fischer 1966b: 67ff.). In diesen kommt nämlich zum Ausdruck, wie Jugendliche sich im Fragen um ein Urteil nach richtig und falsch, nach gut und schlecht bemühen. Das Fragen der Jugendlichen ist dabei als ein rückhaltloses Fragen zu verstehen, wenn es über Ziele und Umstände Rechenschaft ablegen will und Werte in ihrer Selbstverständlichkeit problematisiert. Lebensereignisse können demzufolge ›bildungsbedeutsam‹ werden, wenn sie dazu führen, Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen und Wahrnehmungen, Auffassungen, Deutungen oder auch Handlungen unter dem Aspekt ihrer Konsistenz und Konsequenz zu problematisieren. Das macht deutlich, dass nicht jede Modellierung oder ereignishafte Verbiegung der Biographie gleich als ein Zug im Bildungsprozess verbucht oder gar als ›Bildung‹ interpretiert werden sollte (vgl. Ruhloff 1996a: 153). Insofern wird – mit

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Blick auf die anstehende Untersuchung – deutlich, dass es einer bildungstheoretischen Analyse von lebensgeschichtlichen Erzählungen Jugendlicher auch nicht um die Rekonstruktion jeglicher Topoi gehen kann, die in einer Autobiographie auftreten. Vielmehr ist genau das hervorzuheben, was nach den bislang vollzogenen Überlegungen und in Auseinandersetzung mit den Konzeptionen von Petzelt, Fischer und Ruhloff als bildungstheoretisch relevant ausgewiesen wurde. Die unter einer solchen Blickrichtung ins Auge gefassten lebensgeschichtlichen Erzählungen enthalten neben Selbst- gerade auch Fremd- und Weltverhältnisse, die die Jugendlichen in ihrem In-der-Welt-sein als Dasein und Mit-sein ›prägen‹. Eben weil diese drei Dimensionen für das hier explizierte Anliegen einer bildungstheoretischen Analyse von lebensgeschichtlichen Erzählungen Jugendlicher so zentral sind, werden sie für die anstehende Auseinandersetzung mit dem empirischen Material nun auch nochmals dezidiert mit den bildungstheoretischen Einsichten, die aus der Beschäftigung mit Petzelts, Fischers und Ruhloffs Konzeption resultieren, in Verbindung gebracht. Man sollte diese zusammenfassenden Sätze allerdings nicht so verstehen, als ob sie einen gleichwertigen Ersatz der zuvor in diesem Kapitel vollzogenen Überlegungen darstellen. Weder scheint es sinnvoll die Zusammenhänge und Differenzierungen der einzelnen theoretischen Konzepte nochmals intensiv zu rekapitulieren, noch ist es möglich, jene als bildungstheoretisch relevant ausgewiesenen Aspekte dabei ebenso umfänglich wie zuvor auszubreiten. Die zusammenfassenden Sätze können aber zweierlei leisten: einerseits die Gewährung eines Überblicks, der manches von dem, was im Vorfeld genannt wurde, punktuell eingängiger präsentiert und andererseits die Aussicht auf Einsichten, die im Rahmen der qualitativ-empirischen Analysen von lebensgeschichtlichen Erzählungen bewerkstelligt werden. Dass solche über- und ausblicksartigen Betrachtungen dabei immer mit Reduzierungen einhergehen und insofern problematisch sind, dürfte hinlänglich bekannt sein. Und dennoch scheint es gerade gute wissenschaftliche Praxis zu sein, zum Abschluss ›angestrengter‹ Überlegungen solche eng geschnürten Pakete mit Konklusionen zu offerieren. Deshalb wird – rebus sic stantibus – dies nun auch getan und mit einer kompakten Abbildung schließlich zur Darstellung gebracht. (a) Bildung und Selbstverhältnisse Gemäß den konsultierten Bildungstheorien nehmen Jugendliche über Akte des Wertens eigene Taten, Absichten und Vorstellungen in den Blick. Den Blick auf sich selbst zu richten und eine »Arbeit am Ich« (Fischer 1955: 65) zu initiieren, stellt eine regelrechte ›Bildungsaufgabe‹ dar. Kommen die Jugendlichen dieser nach, so versuchen sie in selbstkritischen Bemühungen festzustellen, was sie wert sind, sie prüfen, ob sie den eigenen Vorstellungen genügen und wollen wis-

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sen, inwiefern ihre Einschätzungen und Wünsche angemessen oder gerechtfertigt sind. Das wird auf dem Gebiet der Leistung als Wertstreben der Jugendlichen ebenso vollzogen, wie beim Erleben des Geschlechtlichen. Auch wenn es darum geht, den eigenen Grundsätzen treu zu bleiben, steht die Absicht im Vordergrund, seinen Standort zu bestimmen und sich selbstkritisch Rechenschaft abzulegen. Der Wunsch, wertvoll zu sein, führt die Jugendlichen der frühen Reifezeit dabei zum Verlangen nach einer Wertsteigerung des Ich und einem Zweifel am bisher gelebten Leben (vgl. ebd.). In späteren Jahren, der Phase der Pubertät bzw. der späten Reifezeit, wird das nach Petzelt und Fischer sogar noch weiter vorangetrieben. Das Denken und Handeln der Jugendlichen ist beeinflusst vom Transzendieren als dem Suchen einer Antwort auf den Sinn des Seins und das Ziel des Sollens. Jugendlichen der späten Reifezeit gilt es aber vor allen Dingen vollkommen sein. Und in der Suche nach Vollkommenheit haben sie mit sich selbst zu tun, sodass sie mit Erlebnissen der Einsamkeit und Sehnsucht konfrontiert werden. So sehnen sich Jugendliche von einer Einsamkeit her, nach etwas, das unerreichbar ist (vgl. Petzelt 1965: 224). Mit diesen Beschreibungen sind die zentralen bildungstheoretischen Topoi genannt, die das Verhältnis der Jugendlichen zu sich selbst betonen. Im Rahmen der anstehenden Rekonstruktion von ›Bildungsgestalten‹ auf der Basis lebensgeschichtlicher Erzählungen sind daher auf das Selbst der Jugendlichen gerichtete Thematisierungen in den Blick zu nehmen und daraufhin zu prüfen, inwiefern sie sich etwa als Selbstkritik, selbstbezügliches Leistungsstreben oder auch Zweifel am Wert des Ich artikulieren: Wie denken die Jugendlichen über sich selbst? Worin sehen sie z.B. ihre Schwächen? Auf welchen Gebieten, wollen sie ihre eigenen Leistungen demonstrieren? Inwiefern sind sie bestrebt, eine »Arbeit am Ich« zu initiieren? (b) Bildung und Fremdverhältnisse Jugendliche beziehen in der beschriebenen Bildungsaufgabe jene Akte des Wertens und Wertsuchens auch auf Mitmenschen. In der Absicht, Normen und Werte unabhängig von Wertträgern, wie sie etwa die Eltern oder die Lehrer darstellen, zu vollziehen und zu bestimmen, geraten sie dabei zuweilen auch in Konflikt mit ihnen. Das bedeutet, dass die Bildungsaufgabe auch durch den Umgang mit Meinungsverschiedenheiten gekennzeichnet ist und die Infragestellung der generationalen erzieherischen Ordnung einen Ausdruck des eigenständigen Wertstrebens der Jugendlichen darstellt. Gerade in einer von Petzelt beschriebenen ›Du-Bestimmtheit‹, die sich etwa auf Aussagen oder Handlungen anderer richtet und diese nicht als selbstverständlich gültig ansieht, sondern sie stattdessen hinterfragt, zeigt sich deshalb ein Mühen um Unabhängigkeit und Selbst-

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ständigkeit im Werten. Nichts gilt den Jugendlichen hier ›an sich‹ für gut oder schlecht, nichts allein deswegen für unantastbar oder verpflichtend, weil es ihnen vorgeschrieben oder -gelebt wird. Deshalb wird etwa auch die Leistungsfähigkeit anderer Menschen bewertet oder der Aufweis von echten Freunden verfolgt. Hier wird alles nach dem tatsächlichen Wert für die Jugendlichen selbst gemessen und vor dem Hintergrund der Frage gesehen, ob und inwiefern es als überzeugend für das eigene Leben in Betracht gezogen werden kann (vgl. Fischer 1966b: 68). Kein Wunder also, dass die Jugendlichen – wenn und insofern sie der Bildungsaufgabe nachkommen – gerade Aussagen von Erwachsenen nicht nur unter dem Aspekt ihrer Legitimität und Verbindlichkeit betrachten, sondern diese auch in ihrer Beispielhaftigkeit in den Blick nehmen. In ihrer Suche nach einem gültigen Vollzug des Wertens geraten sie – nach Petzelt und Fischer gerade in der ›Vorpubertät‹ bzw. der frühen Reifezeit – so auch an Vorbilder, die für sie zur maßgebenden Instanz werden und eine Antwort auf die Frage, wie das Leben zu leben ist, geben können. Im späteren Jugendalter spielen Vorbilder hingegen zumeist nicht mehr eine besonders prominente Rolle, da das Verhältnis zwischen Subjekt und Subjektivität hier losgelöst von einem bestimmten Du virulent wird. Die unter dem bildungstheoretischen Fokus stehende Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen hat in Anbetracht dieser Konklusionen darauf zu achten, auf welche Weise die Jugendlichen ihr Verhältnis zu anderen Menschen sehen. Wie positionieren sie sich gegenüber ihren Eltern, ihren Freunden, ihren Lehrern? Mit welchen Wertungen versehen sie ihre mitmenschlichen Verhältnisse? Werden Aussagen und Handlungen anderer unter dem Aspekt ihrer Geltung in den Blick genommen? Tritt dabei eine Auseinandersetzung mit der Beispielhaftigkeit der Mitmenschen hervor? Mittels solcher Fragen wird das Fremdverhältnis der Jugendlichen rekonstruiert und mit ›Bildung‹ in Beziehung gesetzt. (c) Bildung und Weltverhältnisse Es ist nicht eine erst im Rahmen der hier vorgelegten Arbeit errungene Erkenntnis, dass Weltverhältnisse in einem engen Zusammenhang mit ›Bildung‹ stehen. Vielmehr ist »›Welt‹ als bildungstheoretischer Grundbegriff« (Henz 1994) zu verstehen. Neben Selbst- und Fremdverhältnissen hat eine bildungstheoretische Untersuchung daher auch Weltverhältnisse zu fokussieren. In dem hier erarbeiteten theoretischen Entwurf erfolgt die Betrachtung der Weltverhältnisse unter dem Blickwinkel der Wert- und Geltungsproblematik. In der Bildungsaufgabe der Jugendlichen, die man mit den vollzogenen bildungstheoretischen Ausführungen beschreiben kann, stehen also auch Weltverhältnisse unter der quaestio iuris. Ebenso wie im kritischen Bewusstsein die eigenen und fremder Aussagen

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analysiert und deren Geltungsanspruch überprüft werden, so erfolgt die Wertung der Weltverhältnisse beispielsweise in einer Problematisierung von religiösen oder institutionell inkorporierten Anschauungen und Ideologien. Sie richtet sich auf herrschende Maßstäbe und Konventionen, auf das vermeintlich Wahre, Richtige und Gute. Kurz gesprochen: Sie richtet sich potenziell auf alle Strukturen der Welt. ›Bildung‹ vollzieht sich hier, indem die Jugendlichen die Gründe und Bedingungen von Weltverhältnissen reflektieren und ihre Ordnungsmuster befragen, anstatt sich fundamental-dogmatischen Lebenswelten hinzugeben und festen Weltbildern zu unterwerfen. Die Reflexion der eigenen Lebensvoll- und -bezüge in intentio obliqua kann dabei auch neue Blickweisen, Praktiken und Möglichkeitsräume eröffnen und die alten Denkmuster überwinden. Das braucht zuweilen Einiges an Mut und Phantasie (vgl. Ruhloff 2006b: 296f.). Dabei macht die Einsicht in die Begrenztheit des Wissens und Könnens sowie die Offenheit der Wahrheitsproblematik die Spezifität dieser ›Bildung‹ aus. Indem die Aufmerksamkeit hier auf zugrundeliegende Voraussetzungen und Bedingungen der Weltverhältnisse gelegt wird, erfolgt eine denkende Beteiligung daran, wann, wo und inwiefern einem für maßgeblich erachteten Gesichtspunkt zuzustimmen ist (vgl. Ruhloff 1996a: 152). Für die anstehende Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen heißt dies, dass die Beziehung zwischen dem jugendlichen Ich und der Welt bildungstheoretisch aufschlussreich ist. Das spezifische Verhältnis zu den Dingen und Themen der Welt lässt sich dabei über die erarbeiteten und den theoretischen Entwürfen von Petzelt, Fischer und Ruhloff inhärenten Topoi rekonstruieren. Dazu hat die bildungstheoretische Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen darauf zu achten, was und wie die Jugendlichen über Strukturen der Welt erzählen. Es interessiert also, inwiefern sie diese Strukturen beleuchten, gesellschaftliche Normen befragen oder auch die Bedeutungen bestimmter Institutionen zu klären versuchen. Wie stehen sie beispielsweise zur Institution Schule? Aus welchen Gründen spielt etwa Religion in ihrem Leben eine Rolle? Weshalb gelten ihnen manche ›Tugenden‹ als verbindlich? Welche gesellschaftlichen Zustände bewegen sie und evozieren ihren Widerspruch? Indem solche und ähnliche Fragen gestellt, an die lebensgeschichtlichen Erzählungen herangetragen und aus ihnen heraus gewonnen werden, werden Weltverhältnisse der Jugendlichen deutlich gemacht und können zusammen mit den Befunden zur Selbst- und Fremdverhältnissen Einsichten in ›Bildungsgestalten‹ hervorbringen. Die folgende Abbildung bringt das Verhältnis eines Ich (›wertendes und wertsuchendes Subjekt‹) zu sich selbst, zu anderen und zur Welt (›Selbstverhältnisse‹, ›Fremdverhältnisse‹ und ›Weltverhältnisse‹) in einen Zusammenhang mit den Einsichten aus den bildungstheoretischen Konzeptionen von Alfred Petzelt,

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Wolfgang Fischer und Jörg Ruhloff (›Topoi‹) und ermöglicht – wie angekündigt – auf diese Weise eine kompakte Veranschaulichung des generierten Theoriezusammenhangs. Abbildung 1: Übersicht über Dimensionen und Topoi auf biographie- und bildungstheoretischer Grundlage

Selbstverhältnisse

Fremdverhältnisse

Weltverhältnisse

wertendes und wertsuchendes Subjekt Bestimmung des eigenen ›Standorts‹

›Du-Bestimmtheit‹

selbstkritische Betrachtung eigener Taten, Absichten und Vorstellungen

Bestimmung von Normen und Werten in Unabhängigkeit von Anderen

Zweifel am Wert des Ich/ Verlangen nach einer Wertsteigerung des Ich

Infragestellung der generationalen erzieherischen Ordnung

Demonstration eigener Leistungen Suche nach eigener Beispielhaftigkeit

Werte-Übernahme von und ›Abarbeitung‹ an Vorbildern

Suche nach Vollkommenheit

Suche nach fremder Beispielhaftigkeit

Konfrontation und Umgang mit Einsamkeit und Sehnsucht

Wunsch nach Verstandenwerden, Anerkennung und Freundschaft

Befragen von gesellschaftlichen Normen und Ordnungsmustern eigenständiges Suchen nach Normen Problematisierung von Weltanschauungen und Ideologien

Wertung der Welt in eigener Begründung Reflexion über Gründe und Bedingungen von Weltverhältnissen

Auseinandersetzung mit der Frage, wie das Leben zu leben ist

4 Design und Methode – Zur biographie- und bildungstheoretischen Analyse von lebensgeschichtlichen Erzählungen Jugendlicher

Vor dem Hintergrund der »biographietheoretischen Annäherungen« (siehe Kap. 3.1) und »bildungstheoretischen Schärfungen« (siehe Kap. 3.2) soll nun das so genannte ›Untersuchungsdesign‹ und methodische Vorgehen skizziert werden, das bei der Auswertung der lebensgeschichtlichen Erzählungen Jugendlicher zur Anwendung kommt. Obwohl nun bereits Einiges an Herleitungen, Bestimmungen und Abgrenzungen erfolgte, erweisen sich die folgenden Ausführungen, die nach dem Prinzip der Sparsamkeit kurz und bündig zu sein haben, als notwendig, weil bis jetzt noch unklar ist, auf welche konkrete Methodik sich die qualitativ-empirischen Analysen eigentlich beziehen sollen. Das Verfahren Schützes, das ansonsten in Forschungszusammenhängen der Biographieforschung rege Verwendung findet und inzwischen so etabliert ist, dass es hier womöglich keiner großen Erläuterung bedürfte, wurde im Vorfeld als durchaus problematisch ausgewiesen. Denn es bringt mit seiner Fokussierung auf Prozessstrukturen des Lebensablaufs im Rahmen einer auf ›Bildung‹ ausgerichteten Biographieforschung die Präferenz für Wandlungsprozesse mit sich. Und da diese – eben gemäß der Definition Schützes – in der Innenwelt des Biographieträgers vor sich geht, spürt eine darauf fokussierte Biographieforschung dann auch gerade Selbstverhältnissen nach und unterminiert die Bedeutung von Welt-, aber auch von Fremdverhältnissen. Im Zuge der biographietheoretischen Annäherungen folgte deshalb auch die Anlehnung an Theodor Schulzes Toposanalyse, da dieses Verfahren nicht mit ›Einschränkungen‹ solcher Art konfrontiert ist. Es richtet seine Aufmerksamkeit nämlich nicht auf Prozessstrukturen des Lebensablaufs und fokussiert demzufolge auch keine Wandlungsprozesse, sondern ist auf Grund des Interesses an signifikanten Ereignissen in der Lage, ganz vielfältige

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biographische Aspekte in den Blick zu nehmen – auch und gerade solche, in denen Fremd- und Weltverhältnisse eine exponierte Rolle spielen, wie die von ihm vorgelegten Toposanalysen belegen (vgl. bspw. Schulze 1983 und 2006c). Doch wenngleich die »biographietheoretischen Annäherungen« (siehe Kap. 3.1) vorrangig mittels der Überlegungen von Theodor Schulze zum lebensgeschichtlichen Erzählen vollzogen wurden und sein Verfahren der Toposanalyse dann auch die Kopplung zwischen den biographie- und bildungstheoretischen Ausführungen hergestellt hat, so können sich die folgenden Analysen und Interpretationen nicht vollkommen vorbehaltlos auf seine Methodik berufen. Und zwar vor allen Dingen deshalb nicht, weil Schulze die Suche nach biographischen Topoi – abgesehen von seinen biographietheoretischen Bestimmungen – ohne größere theoretische Herleitungen und ohne ein ausgearbeitetes Kategoriensystem gleichsam materialimmanent verfolgt. Das erscheint bei einer auf ›Bildung‹ bezogenen Toposanalyse kaum möglich – zumindest nicht, wenn man es vermeiden will, mit einem unpräzisen Begriffsverständnis aufzuwarten. Hier gilt also, was Hans-Christoph Koller schon anmahnte: »Wer mit qualitativen Mitteln Bildungsprozesse erforschen möchte, kann nicht umhin eine (wenn auch provisorische) theoretische Vorstellung davon zu entwickeln, was Bildung ist«. (Koller 2002: 93; Herv. i.O.) Deshalb dient das, was in den »bildungstheoretischen Schärfungen« (siehe Kap. 3.2) erarbeitet wurde als Rüstzeug und ›Regelkatalog‹ für ein durchdachtes Durchdringen der lebensgeschichtlichen Erzählungen von Jugendlichen im Hinblick auf ihren ›Bildungsgehalt‹. Da es sich also um eine theoriegeleitete Untersuchung handelt, dürfte deutlich sein, dass im Folgenden keine explorative Vorgehensweise im eigentlichen Sinne erfolgt, die den theoretischen Untersuchungsrahmen erst im Verlauf der Untersuchung hervorbringt. Sofern man die – wie schon erwähnt (siehe Kap. 2.5) – keineswegs selbstverständliche Zweiteilung von Theorie und Empirie akzeptiert, hat zwar auch die vorliegende Untersuchung dabei nicht den Anspruch, theoretische Vorannahmen ›bloß‹ empirisch zu überprüfen und anhand von Lebensgeschichten als »Texte besonderer Art« (Schulze 2010a: 419) zu illustrieren. Da aber die Leitlinien und Bezüge ebenso feststehen wie die Frage- bzw. Problemstellung, handelt es sich um eine Untersuchung, die das Ziel der Inspektion verfolgt. So erfolgt eine Konzentration der empirischen Analyse auf die Arbeit mit den zuvor diskutierten Theorien, wodurch die Möglichkeit erschlossen wird, diese durch das empirische Material ›befragen‹ zu lassen. Die Untersuchung nutzt dazu den Umstand, dass die empirische Erforschung von ›Wirklichkeit‹ eine genuin theoriegeleitete Aktivität ist. Bestimmte Theorien – wie etwa auch die Bildungstheorien von Petzelt, Fischer und Ruhloff – erzeugen nämlich eine spezifische ›Geladenheit‹ der empirischen Forschung. Die ex ante Orientierung an einer bestimm-

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ten Theorieperspektive ist also intendiert.1 Auch die Auswahl sowie die Darstellung der lebensgeschichtlichen Interviews in Form von Einzelfällen folgen theoriebezogenen Aspekten, wie sie im gesamten Kap. 3 entwickelt wurden – und das unter den Fragen: Welche Fälle bieten das Potenzial für eine biographie- und bildungstheoretische Analyse? Und welche bieten Anregungen zur Konkretisierung der berücksichtigten Theorien? Eine neue Theorie im eigentlichen Sinne wird dadurch nicht hervorgebracht. Vielmehr lässt sich von einem Weiterdenken sprechen – und zwar sowohl in Bezug auf die Konzeptionen von Petzelt, Fischer und Ruhloff als auch – und vor allem – auf den Forschungsansatz der bildungs-

1

Es ist daher selbstredend, dass die vorliegende Studie nicht dem Grounded-TheoryVerfahren folgt. Zwar teilt die bildungstheoretische Analyse von lebensgeschichtlichen Erzählungen Jugendlicher mit der GTM, wie die Grounded Theory Medodologie abgekürzt wird, eine heuristische Herangehensweise. Anders als deren interpretative Strategie ist sie allerdings nicht auf die Hervorhebung der durch den Kodiervorgang gewonnenen Kategorien ausgerichtet, sondern rekonstruiert die ›Bildungsgestalten‹ der befragten Jugendlichen. Auch stehen im Rahmen der hier vorgelegten Untersuchung nicht Handlungsprozesse im Mittelpunkt, auf die sich die Grounded Theory ausschließlich konzentriert, wie Thomas Brüsemeister in seiner Kritik an der GTM anführt (vgl. Brüsemeister 2008: 180). Vor allen Dingen aber erscheint vor dem Hintergrund des hier eingeschlagenen Weges einer bildungstheoretischen Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen an der GTM problematisch, dass sie mit ihrem ›alternativen‹ Theorieverständnis davon ausgeht, dass Theorien lediglich induktiv auf der Grundlage von empirischen Daten generiert werden sollten. Selbst wenn dieser Anspruch, der sich auch als das »induktivistische Selbstmißverständnis« (Kelle 1994: 341) der Grounded Theory bezeichnet lässt, von Anselm Strauss und Juliet Corbin als rhetorisches Erfordernis einer methodischen Abgrenzung früher Tage entschuldigt und zurückgenommen wurde, so bleibt mit der Betonung des induktiven Erkenntnismodus in der Selbstdarstellung der GTM das Problem der ambivalenten Beurteilung des Stellenwerts von theoretischem (Vor-)Wissen bestehen (vgl. Strübing 2008: 54f.): Einerseits hat der Umgang mit den empirischen Daten – wie es in der GTM heißt – leidenschaftslos und Theoriebestände buchstäblich ignorierend zu erfolgen, andererseits wirkt theoretisches (Vor-)Wissen für den Entdeckungszusammenhang sensibilisierend. Es bleibt wohl deshalb nur einer Aussage zuzustimmen, die Johannes Kopp (2009: 60) in seiner Einführung in die Bildungssoziologie trifft: »Eine theoriefreie Beobachtung ist ein unmögliches Unterfangen, auch wenn diese theoretischen Fundierungen nicht immer deutlich zu Tage treten und deshalb der Versuch, Theorien sozusagen aus der empirischen Praxis abzuleiten, methodologisch immer wieder propagiert wird, allerdings ohne dafür eine sinnhafte Begründung liefern zu können.«

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theoretisch orientierten Biographieforschung. Für das konkrete Vorgehen besagt dies nun Folgendes: Empirisch erschlossen werden solche Phänomene, von denen die erwählten Theorien eine festgefügte Vorstellung haben und über die sie Aussagen treffen. Auf diese Weise werden im empirischen Material ›enthaltene‹ Phänomene mittels der erwählten Bildungstheorien und ihren zentralen Topoi gelesen sowie zum Sprechen gebracht. Die vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis in den Blick genommenen lebensgeschichtlichen Erzählungen wurden eigens für diesen Forschungszusammenhang durch narrative Interviews erhoben, die die gesamte Lebensgeschichte der Jugendlichen erfragen. Die ersten Interviews wurden im August 2006 durchgeführt. Weitere folgten im Zeitraum zwischen Dezember 2006 und Februar 2008. Das letzte Interview wurde aus Gründen ›theoretischer Sättigung‹ heraus im Juli 2009 geführt. Dieser Schritt erschien notwendig, da – obgleich bereits ein Interview-Korpus vorhanden war, welcher ein reichhaltiges Spektrum an unterschiedlichen Lebensgeschichten bot und demzufolge auch eine Vielfalt und Breite des Materials gewährleistete – eine gewisse Unzufriedenheit in der Kontrastierung der Fälle vorlag, wenn diese gerade auch die biographie- und bildungstheoretisch relevanten Dimensionen der Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse sinnund gehaltvoll darstellen sollten. Mit der lebensgeschichtlichen Erzählung, die im Kontext des zuletzt geführten Interviews generiert wurde, konnte das Anliegen, sowohl dezidierte Kontrastlinien als auch eindeutige Bezugspunkte zu den anderen Fallrekonstruktionen aufzuzeigen, eindeutig plausibler verfolgt werden. Diese zuletzt erhobene lebensgeschichtliche Erzählung ist deshalb auch Gegenstand der Auseinandersetzung in Kap. 5.3. Die auf der Basis von narrativen Interviews erhobenen lebensgeschichtlichen Erzählungen haben eine Dauer, die zwischen 26 und 144 Minuten liegt. Realisiert wurden alle 24 Interviews zumeist im Privathaushalt der Jugendlichen oder in Räumlichkeiten pädagogischer Einrichtungen, die zum Zeitpunkt der Befragung nicht durch andere Personen genutzt wurden. Lediglich ein Interview musste mangels Alternativen in einem öffentlichen Park stattfinden.2 Teilweise kam der Kontakt zu den befragten Jugendlichen über den eigenen Freundes- und

2

Nämlich das Interview mit Natalie (Nr. 11), das in Kap. 5.2 Gegenstand der Betrachtung ist. Siehe zu den geführten narrativen Interviews insgesamt die Übersicht im Anhang. Namen, Herkunft und besondere Kennzeichen der interviewten Jugendlichen werden anonymisiert bzw. pseudonymisiert wiedergegeben. Auch Wohnorte werden etwa als V-Stadt, X-Stadt usw. bezeichnet. Somit werden – wie in §4 des EthikKodexes der DGfE gefordert – die »Rechte von Probandinnen und Probanden« (DGfE 2000: 55f.) gewahrt.

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Bekanntenkreis zustande.3 Zum Großteil aber sind sie über den Kontakt mit Studierenden in der Universität initiiert worden, welche entweder als Beschäftigte in einer pädagogischen Einrichtung Treffen mit Jugendlichen unterstützt oder im Rahmen von zwei Projektseminaren zur qualitativen Forschung lebensgeschichtliche Erzählungen Jugendlicher selbst erhoben und daraufhin für diese Arbeit zur Verfügung gestellt haben.4 Außer der Altersspanne von 16 bis 19 Jahren und der strikten Vermeidung einer vor dem Interview vorliegenden Bekanntschaft zu den Jugendlichen gab es keine Filterkriterien. Und ganz gleich auf welchen Wegen die lebensgeschichtlichen Erzählungen im Einzelnen gewonnen wurden: Die Erhebung der Einzelinterviews wies die folgende Strukturierung auf. Zuerst erfolgte ein Vorgespräch, in welchem als ›vertrauensbildende Maßnahme‹ die Selbstpräsentation des Interviewenden, die Zusicherung der Anonymität, die Vorstellung des Forschungskontextes sowie ein grober Vorblick auf den Ablauf des Interviews erfolgten. Ebenfalls wurde im Vorgespräch die Notwendigkeit der akustischen Aufzeichnung des Interviews erläutert. Nachdem von den Jugendlichen die Zustimmung zur Tonaufnahme gegeben und daraufhin der Audio-Rekorder eingeschaltet wurde, sind sie mittels eines erzählgenerierenden Einstiegsimpulses zur Verbalisierung ihrer Lebensgeschichte aufgefordert worden. Im Wortlaut hieß es jeweils: »Blicke einmal zurück auf dein bisheriges Leben und erinnere dich an deine allerersten Erlebnisse. Fang’ dann doch einfach mal an von diesen ersten Erlebnissen an bis heute deine Lebensgeschichte zu

3 4

Die Interviews mit Natalie (Nr. 11), Lisa (Nr. 19) und Sonja (Nr. 24). Eine derartige Unterstützung bei der Kontaktherstellung erfolgte bei den Interviews mit Marc (Nr. 1) und Kristina (Nr. 2). Zahlreiche Interviews wurden durch Studierende erhoben, die im Rahmen der beiden Projektseminare »Biographie als vermittelnde Kategorie – Die Verbindung von Bildungstheorie und Bildungsforschung« sowie »Autobiographie als Maskenspiel – Grenzgänge zwischen Biographieforschung und Bildungstheorie« gründlich in die Theorie und Technik des narrativen Interviews eingeführt wurden. Nach dem Abschluss der studentischen Projektarbeiten wurden die Interviews für diesen Forschungszusammenhang bereitwillig überlassen. Es sollte indes nicht unerwähnt bleiben, dass keines der von Studierenden geführten Interviews im weiteren Verlauf einer Fallrekonstruktion ›unterzogen‹ wird. Das hat allerdings weniger bzw. höchstens am Rande mit der Qualität dieser Interviews zu tun, als vielmehr damit, dass jene vom Verfasser selbst geführten Interviews sich im Interpretationsprozess und vor dem Hintergrund der erarbeiteten Theoriebezüge als die ›Ergiebigeren‹ erwiesen. Unergiebig sind die im Folgenden nicht eigens berücksichtigten Interviews allerdings keineswegs. Unter anderen Voraussetzungen können sich sie sich sogar womöglich als äußerst ertragreich erweisen.

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erzählen.« Dieser Erzählstimulus wurde in nahezu allen Fällen ratifiziert, sodass er eine mehr oder weniger umfangreiche Stegreiferzählung evozierte, die die Jugendlichen nach ihren eigenen Relevanzkriterien gestalteten konnten. Nur in wenigen Fällen war es nötig, die erzählgenerierende Frage unmittelbar zu Beginn des Interviews zu reformulieren, damit eine lebensgeschichtliche Thematisierung in Gang kam.5 Auf Zwischenfragen wurde in der Phase der Haupterzählung weitestgehend verzichtet, um die befragten Jugendlichen die Gestaltung ihrer eigenen Lebensgeschichte zu überlassen und sie nicht vom Gang ihrer Erzählung abzubringen. Gerade deshalb wurde auch Wert auf erzählunterstützende Signale, leibliche Aufmerksamkeitsbekundungen und ›kommunikationsanregendes Schweigen‹ (mhm-Sagen, Nicken, Lachen, Aufrechterhalten des Blickkontaktes) gelegt. Nach dem Ende dieser autonom gestalteten Erzählung – markiert durch eine Koda6, einem Schlusssatz, – schlossen erzählinterne Nachfragen an, die sich auf das bis dahin Erzählte bezogen und den Zweck verfolgten, die Jugendlichen zu weiteren, vertiefenden Erzählungen über Ausgelassenes und undeutlich Gebliebenes zu bewegen. Sie versuchten also weitere narrative Sequenzen in Gang zu setzen, an vorigen Erzählstümpfen anzuschließen und das tangentielle Erzählpotenzial auszuschöpfen, um auch thematisch querliegende Erzählstränge und vermeintliche Unwichtigkeiten zu Sprache zu bringen. Das geschah vor allen Dingen durch den Einsatz von drei unterschiedlichen Fragetypen (vgl. Rosenthal et al. 2006: 23); nämlich durch: Das Ansteuern einer Lebensphase, wie es etwa in der folgenden Frage zum Ausdruck kommt: »ich würde einfach nochmal gerne fragen von diesen Kindheitsjahren ob Du mir da auch noch Mal äh so ein paar Erinnerungen oder Erlebnisse erzählen kannst« (Sonja/1816-1820)? (ii) Die Eröffnung eines temporalen Rahmens bei scheinbar statischen Themen, beispielsweise ausgedrückt durch: »du hast ja jetzt ein paar Mal im Interview deine Halbschwester angesprochen und wenn du dich da vielleicht noch einmal zurückerinnerst und mir erzählen könntest wie das damals war äh als du das dann erfahren hattest« (Natalie/249-254)? (i)

5

Beispielsweise bei dem Interview mit Kristina (Nr. 2).

6

Diese Schlusssätze lauten in den im Folgenden vorgestellten Interviews: »ja das müsst es gewesen sein also . bis heute« (Marc/1014), »das is es glaub ich so was .. an was ich mich so erinnere« (Natalie/246) und »ja gut … mhm . tja jetz bin ich wirklich schon . das is momentan mein Zustand (lachend)« (Sonja/719-721).

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(iii) Die Fokussierung auf eine zuvor erwähnte Situation: »du hast so ein biss-

chen was erzählt zur Grundschulzeit ähm dann auch den Übergang zur Realschule […] kannst du mir davon noch ein bisschen was erzählen« (Natalie/631-638)? Die in diesem Teil des Interviews gestellten Nachfragen beruhten dabei auf protokollförmigen Notizen, die während der Haupterzählung gemacht wurden. Neue Erzählthemen wurden indes nicht angeschnitten. Es dürfte deutlich sein, dass sich das bis hier eingeschlagene Untersuchungsvorgehen an den Hinweisen orientiert, die Fritz Schütze zur Erhebung narrativautobiographischer Interviews gibt (vgl. Schütze 1983). Denn wenngleich – wie zuvor diskutiert – die Bezüge seines Auswertungsverfahrens einige Problematiken zeigen und für eine bildungstheoretische Analyse von Lebensgeschichten nicht probat erscheinen, so erweist sich seine Durchführungsmethode forschungspraktisch besehen als ungemein effektiv und gewinnbringend. Und dennoch wurde nicht erst in der Auswertungsphase, sondern bereits bei dem an die immanenten Nachfragen ansetzenden, letzten Teil des Interviews die enge methodische Anlehnung an jenen Weg, den Schütze mit seinen Hinweisen zur ›Technik‹ des autobiographisch-narrativen Interviews vorgibt, aufgegeben. Denn im dritten Teil des narrativ-autobiographischen Interviews soll der oder die Befragte nach Schütze (1983: 285) eigentlich als »Experte und Theoretiker seiner selbst« angesehen und über exmanente Fragen zu »abstrahierenden Beschreibungen von Zuständen, immer wiederkehrenden Abläufen und systematischen Zusammenhängen« (ebd.) aufgefordert werden. Das wurde in den hier berücksichtigten Interviews nicht getan, was aber nicht heißt, dass die Jugendlichen nicht doch auch als ›Fachmänner‹ und ›Fachfrauen‹ ihrer selbst betrachtet wurden. Aber die Leistung, abstrahierende Beschreibungen sowie Orientierungsund Erklärungstheorien für ihren prozessstrukturellen Lebensablauf darzubieten, wurde ihnen nicht abverlangt (vgl. Schütze 1987: 178f.). Stattdessen ist bei den hier vorliegenden Interviews mit den Jugendlichen in der dritten Phase des Gesprächs ein vorab generierter ›Fragenkatalog‹ zum Einsatz gekommen, welcher sich auf ausgewählte Aspekte des Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisses richtete, explizite Anleihen an die bildungstheoretischen Referenzen und ihre zentralen Topoi aufwies und den Blick der Jugendlichen so nochmals dezidiert auf die Beziehung zu sich selbst, zu anderen Menschen und zu den Dingen und Themen der Welt lenken sollte, um sie hier auch zu reflektierten Aktivitäten und bewertenden Stellungnahmen zu führen. Es wurden ihnen folgende Fragen gestellt:

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Tabelle 1: Übersicht über den exmanenten ›Fragenkatalog‹ Fragen, die auf das Selbstverhältnis zielen: 1. »Was ist dir besonders wichtig in deinem Leben, worauf könntest du gar nicht oder nur ungern verzichten? Kannst du mir davon erzählen und vielleicht auch sagen, warum dir das so wichtig ist?« 2. »Und wie soll es für dich weitergehen? Was sind denn deine Zukunftspläne?« Fragen, die auf das Fremdverhältnis zielen: 3. »Wenn du an deine Eltern denkst, was fällt dir dann spontan zu ihnen ein?« 4. »Denk’ mal nach. Fällt dir eine Situation ein, in der du deinen Eltern Schwierigkeiten bereitet hast, und wie sind deine Eltern dann damit umgegangen?« 5. »Auf was, glaubst du, sind deine Eltern besonders stolz bei dir?« 6. »Du hast doch sicherlich eine beste Freundin oder einen besten Freund. Würdest du mir erzählen, wie ihr euch kennen gelernt habt? – Kannst du mir auch noch sagen, was genau dir an der Freundschaft besonders wichtig ist und was du für die Aufrechterhaltung der Freundschaft tust?« 7. »Es gibt aber nicht nur Freunde oder Menschen, die man mag, sondern auch Leute, mit denen man gar nicht zurechtkommt. Erzähle mir doch mal von einer solchen Person, mit der du gar nicht klar kommst.« Fragen, die auf das Weltverhältnis zielen: 8. »Wenn du mal kurz überlegst und auf dein Leben zurückblickst, fällt dir da eine Situation ein, wo du so ein richtiges Aha-Erlebnis hattest, also ein Erlebnis, wo du schlagartig etwas mit ganz anderen Augen gesehen hast?« 9. »Du hast mir ja vorhin auch aus deiner bisherigen Schulzeit erzählt. Warum und wozu glaubst du geht man eigentlich in die Schule und soll dort unterrichtet werden? Wozu ist die Schule überhaupt da?« 10. »Wenn du etwas in der Welt verändern könntest, was würdest du dann verändern wollen und warum?« Auf diese Interviewfragen, antworteten die Jugendlichen in unterschiedlichem Ausmaß. Gewisse Schwierigkeiten bereiteten in einigen Interviews dabei die Fragen 4, 7 und 8.7 Generell beendet wurden die Interviews jeweils mit der zehn-

7

Im Interview mit Sonja (Nr. 24) wird auf die achte Frage nicht erzählerisch geantwortet. Auch Sandra (Nr. 20) antwortet auf diese Frage nicht im Sinne einer autobiographischen Thematisierung.

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ten Frage. Erst nachdem auf diese Frage geantwortet wurde und die exmanente Nachfragephase einen Abschluss fand, erfolgte durch einen Datenbogen die Erhebung soziodemographischer Merkmale. Wurde das Aufnahmegerät nicht schon vor dieser Erhebung ausgeschaltet, so geschah das hiernach. Im Anschluss erfolgten dann ein zumeist kurzes Nachgespräch und die Verabschiedung von den Jugendlichen. Nachdem die Interviews abgeschlossen waren, wurde – wenn möglich noch am gleichen Tag – ein Interviewprotokoll bzw. Postskriptum erstellt, das äußere Bedingungen und situative Faktoren, »Beobachtungen über das Zusammentreffen, den emotionalen und sonstigen Zustand der befragten Person, ihr Äußeres, ihre Stimme und Redeweise, den Ort, die Atmosphäre und Situation, in der das Gespräch stattfand, eigene Sympathien und Antipathien« (Küsters 2006: 65) festhielt und zu Papier brachte. Zuweilen dienten diese Interviewprotokolle der späteren Auswertung als zusätzliche Stütze. Für die biographie- und bildungstheoretische Auswertung der lebensgeschichtlichen Erzählungen wurden die Interviews zuerst vollständig transkribiert, sodass aus der Audioaufnahme ein Text entstand. Alle sprachlichen Äußerungen, die auf den Aufnahmen zu hören sind, sind dabei in ihrer Originalgestalt beibehalten und nicht in die Schriftsprache transformiert worden. Eine Glättung von Dialekten und Satzbaufehlern erfolgte also nicht. Und neben den sprachlich-verbalen Merkmalen, wozu auch Versprecher, grammatikalische Unrichtigkeiten, unvollendete Wort- oder Satzanfänge, Plausibilisierungsfüllsilben (»ähm«), Wortwiederholungen und Stotterlaute gehören, wurden zusätzlich prosodische Besonderheiten (lautliche Gestaltungen und Betonungen) sowie parasprachliche Eigenschaften (Lachen, Räuspern usw.) erfasst. Zudem wurde das Transkript mit einer Zeilennummerierung versehen, um im Rahmen der Auswertung genaue Quellenangaben zu machen. Zwar lässt sich keineswegs sagen, dass auf eine solche Weise die Aufzeichnung ›wahrheitsgetreu‹ wiedergegeben und die Kommunikationsstruktur chronologisch genau abgebildet wird. Denn vielmehr ist schon die Verschriftlichung der Audioaufnahme als Interpretationsleistung zu betrachten und stellt gegenüber dem eigentlichen Interview insofern eine Verfremdung zweiter Ordnung dar, als die in erster Ordnung verfremdeten Daten, die Tonbandaufnahme, nun abermals verändert werden. Als Transkript kann die lebensgeschichtliche Erzählung aber für eine wissenschaftliche Untersuchung besser handhabbar gemacht werden; wiederholte Analysen sind so etwa leichter möglich (vgl. Schulze 2010b: 30). Zudem gestattet sie auch den distanzierten Umgang mit dem Gesprächsverlauf und bringt in der Regel mehr interpretative Möglichkeiten mit sich (vgl. Fuchs-Heinritz 2009: 285). Für den hier gegebenen Forschungszusammenhang wurde dazu ein Verfahren gewählt, das sowohl das

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›Was‹ als auch das ›Wie‹ des Erzählens betrachtet und sich dazu gewissermaßen an einem mittleren Maß an Transkriptionsregeln ausrichtete. Tabelle 2: Angewandte Transkriptionsregeln . / .. / … (Pause in Sek.) Mhm sicher / und dann ab(lachend), (geht raus), (schnell gesprochen bis*) …* (..), […] (kommt es?) A: aber da kam (I: mhm) ich

Pause von einer / zwei / drei Sekunden Pause von mehr als drei Sekunden als Zahl Pausenfüller, Rezeptionssignal auffällige Betonung / Dehnung Wortabbruch Charakterisierung von nicht sprachlichen Vorgängen bzw. der Sprechweise, des Tonfalls: die Charakterisierung steht vor der entsprechenden Stelle und gilt bis zum Äußerungsende (*) Unverständlich nicht mehr genau verständlich, vermuteter Wortlaut gleichzeitiges Sprechen mit Kennzeichnung des Einsetzens

Wie wurden die auf diese Weise entstandenen Transkripte von lebensgeschichtlichen Erzählungen Jugendlicher aber nun ausgewertet? Zum einen wurde sich mit den Interviews gemäß des Prinzips der kollektiven Auswertung qualitativer Daten im Rahmen einer Interpretationsgruppe, in denen sich Lesarten gegenseitig befruchten, intersubjektiv-hermeneutisch entwickeln und konsensual aufeinander abstimmen konnten, auseinandergesetzt. Zum anderen erfolgte in individueller Aufarbeitung die Fortsetzung, Erweiterung und Korrektur dieser Gruppeninterpretationen. Auch wurde eine Datenliste, eine biographische Agenda, zur erzählten Lebensgeschichte erstellt, die neben der Angabe von Jahreszahlen und Lebensjahren herausragende biographische Vorkommnisse enthält. In den Sitzungen der Interpretationsgruppe, die wie die Interviews auf Tonträger aufgenommen wurden, konnten Einschätzungen zu den jeweiligen Interviews möglichst frei und spontan erfolgen. Hier sind sie vom Erzählstimulus ausgehend und ›Satz für Satz‹ – aber nicht mit einer Fokussierung auf jeden Satz für sich selbst – besprochen worden. Eine Hierarchisierung der unterschiedlichen Schemata der Sachverhaltsdarstellung, bei denen – wie es die Narrationsanalyse nach Schütze (1987) ›zelebriert‹ – die narrativen Textpassagen einen Primat erhalten und die auf Beschreibung und Argumentation ausgerichteten Teile der lebensgeschichtlichen Erzählung von diesen getrennt werden, erfolgte nicht, weil und in-

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sofern vor dem Hintergrund der bildungstheoretischen Topoi – insbesondere desjenigen des Wertens, der für die Vorpubertät bzw. frühe Reifezeit eine entscheidende Rolle spielt – gerade auch der individuelle Modus der reflektierenden und argumentierenden Stellungnahme von Interesse ist. Das besagt zwar keineswegs, dass die lebensgeschichtlichen Erzählungen nicht doch in der gemeinsamen Besprechung in kleinere Texteinheiten unterteilt wurden, wobei durchaus auch formale Gliederungsmarkierer und Rahmenschaltelemente (»und dann«, »ja erstmal«) als Indikator für eine Einheit fungieren konnten. Für die Bildung von Einheiten innerhalb der lebensgeschichtlichen Erzählung war es allerdings, gerade mit Blick auf die Gesamtinterpretation, deutlich hilfreicher, nach Zusammenhängen inhaltlicher Ausrichtung Ausschau zu halten. Statt also in das narrationsanalytische Prozedere einzusteigen und nacheinander die einzelnen Verfahrensschritte (formale Textanalyse, strukturell-inhaltliche Beschreibung der Erzählabschnitte, analytische Abstraktion, Wissensanalyse sowie kontrastiver Vergleich unterschiedlicher Interviewtexte und Konstruktion eines theoretischen Modells) akribisch auszuführen, wurden die Interviews – wie es auch Theodor Schulze mit Verweis auf die historische Tradition der (philosophischen) Hermeneutik macht – von vorne nach hinten gelesen und hierbei Einfälle und hervorstechende Gesichtspunkte, narrativ dichte Stellen, wiederholte Formulierungen und Ausdrücke, Themen bzw. Themenkomplexe, Beziehungen, Grundmotive, Leerstellen usw. ausgemacht und sinnhaft erschlossen (vgl. Schulze 2008: 16ff. und 2010a: 429f.).8 Auf diese Weise wurde ein Gesamteindruck über die lebensgeschichtliche Erzählung gewonnen und auch darin präsentierte Selbst-, Fremdund Weltverhältnisse ausfindig gemacht.

8

Dass eine ›Absicherung‹ der Analysen ausschließlich über die strikte Ableistung einzelner Verfahrensschritte gewährleistet werden kann, wird übrigens nicht nur von Theodor Schulze (2010a) im Konzept seiner »Reflexiven Hermeneutik« bestritten, sondern auch von Werner Fuchs-Heinritz (2009) in Zweifel gezogen. Beide stellen heraus, dass eine forschungsbegleitende Reflexion sowie die Darlegung der im Verlauf der Untersuchung vollzogenen Entscheidungen von immenser Wichtigkeit sind und plädieren daher auch – statt auf technizistisch-szientistische Weise und in gleichsam normativer Gewohnheit »angestrengt-hochgestochene methodologische und methodische Ansprüche« (Fuchs-Heinritz 2009: 214) zu formulieren, »denen der wirkliche Forschungsgang nicht (oder nur unvollständig)« (ebd.) nachkommt – für eine Methodik, die der Bemühung folgt, Gründe des Forschungsgangs deutlich zu machen. Bei Theodor Schulze heißt es dann etwa auch, dass der reflexiv-hermeneutische Forschungsprozess seine Voraussetzungen prüft und Entscheidungen rechtfertigt (vgl. Schulze 2010a: 416).

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Als heuristisches Mittel zur Rekonstruktion und Auslegung der erzählten Lebensgeschichten dienten vor allen Dingen die zentralen bildungstheoretischen Topoi, die in Auseinandersetzung mit den Konzeptionen von Petzelt, Fischer und Ruhloff bereits dargestellt wurden. Gerade dies geschah vor allen Dingen in individueller Aufarbeitung. Dabei ging es nicht bloß um eine Prüfung des Umstands, ob die lebensgeschichtlichen Erzählungen der befragten Jugendlichen jene bildungstheoretischen Topoi enthalten oder nicht. Vielmehr war das Interesse leitend, die Interviews daraufhin in den Blick zu nehmen, inwiefern sich die ›Präsenz‹ bzw. ›Nicht-Präsenz‹ der bildungstheoretischen Topoi im einzelnen Fall konkret gestaltet. Als Frage formuliert: Inwiefern finden sich in den lebensgeschichtlichen Erzählungen der befragten Jugendlichen solche bildungstheoretischen Topoi, was ist ihre jeweilige Bedeutung und auf welche spezifische Weise nutzen die Jugendlichen die bildungstheoretischen Topoi zur Gestaltung ihrer Beziehung zu sich selbst, zu anderen Menschen und zu den Dingen und Themen der Welt? Dazu wurden die Topoi in den lebensgeschichtlichen Erzählungen – angelehnt an die Toposanalyse Schulzes – aufgeschlüsselt, indem nach Bezugspunkten, nach Belegstellen und weiteren Fundorten gesucht wurde. Das erfolgte fall- bzw. lebensgeschichtenimmanent, also nicht über den Wechsel in einen anderen autobiographischen Erzählzusammenhang, wie es für die Toposanalyse nach Schulze eigentlich konstitutiv ist. Mit Schulze allerdings waren wiederum die vier Prozessstrukturen des Lebensablaufs, die den Dreh- und Angelpunkt der Biographieanalysen von Fritz Schütze bilden, nicht blickleitend.9 Denn wie es Schulze nicht darum geht, die Interpretation gemäß der Narrationsanalyse Schützes auf verschiedene, übergeordnete Formen des Prozessierens hin zu leiten, sondern aus dem Standort des erzählenden Subjekts heraus den individuellen biographischen Prozess zu durchdringen und gleichsam von innen seine Beweggründe zu erfassen, so ging es auch hier nie darum – wie es die folgenden Analysen zu zeigen versuchen –, verallgemeinerbare Strukturen zu erkennen, die jeder Biographie – sei es auch nur latent – immanent sind. Vielmehr wurden »die Ausgangsvoraussetzungen und die Rahmenbedingungen, die Potentiale und die

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Insofern weist dieses Vorgehen durchaus Parallelen zum Auswertungsverfahren von Koller auf, da hierin als Prozessstrukturen ebenfalls nicht die »entsprechenden begrifflichen Konzepte Schützes« (Koller 1999a: 183) Maßgeblichkeit erlangen, sondern die an Humboldt, Adorno und Lyotard entwickelten Fragestellungen aus sprach- und bildungstheoretischer Perspektive. Siehe dazu auch das Kap. 2.2. Anders als bei Koller steht im Folgenden jedoch das Subjekt im Mittelpunkt. Außerdem wird ›Bildung‹ nicht als ein Wandlungsprozess in den Blick genommen. Und schließlich erfolgt die Rekonstruktion von ›Bildungsgestalten‹ anhand inhaltsbezogener Aspekte.

4 D ESIGN

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M ETHODE

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Widerstände, die Erwartungen, Entscheidungen und die einzelnen Bewegungen, die Krisen und Wendepunkte, die Erfahrungen und Deutungen – und zwar in dem Sinne, wie sie von der Erzählerin oder dem Erzähler erfahren und gedeutet werden« (ebd.: 427), fokussiert. Dazu erfolgte die ›Anerkennung‹ der »Einzigartigkeit und Eigensinnigkeit des Individuums« (ebd.), um so den jeweiligen biographischen Prozess als einen dynamischen zu verstehen, in dem mehrere Kräfte ineinandergreifen und zusammenwirken. Wie Theodor Schulze und andere Protagonisten der qualitativen Biographieund Bildungsforscher verlauten, handelt es sich bei dieser Art des Zugangs dann allerdings nicht um eine gleichsam bedeutungslose Konkretion des Individuellen, also um eine Betonung des Besonderen ›an und für sich‹ (vgl. Schulze 1997b und 2010b: 44). Vielmehr geht es bei dieser Fokussierung des Individuellen um eine Rekonstruktion von Allgemeinem und Besonderem, die sich auf einen spezifischen Fall richtet. Als Fallrekonstruktion zielt sie demnach auf das Verstehen des individuellen Allgemeinen. Dieses wird von Schulze streng abgegrenzt vom kategorialen Allgemeinen, das Grundbegriffe einer wissenschaftlichen Disziplin umfasst – etwa »der Begriff der Biographie und eine Reihe von fundamentalen Einsichten, die mit der Klärung dieses Begriffs verbunden sind« (ebd.: 36). Ebenso unterschieden wird das individuelle Allgemeine aber auch von den Formen des gesellschaftlichen, besonderen und situativen Allgemeinen. Das gesellschaftliche Allgemeine bezeichnet nach Schulze dabei bedeutsame Gegebenheiten, die dem Individuum qua seiner gesellschaftlichen Einbettung vorgegeben sind, mitunter sogar »als unausweichliche Gegebenheiten, als Zwänge und Verpflichtungen« (ebd.: 37). Das besondere Allgemeine betrifft soziale Erscheinungen, die wiederum selbst gesellschaftlichen Allgemeinheiten unter- oder zugeordnet sind – z.B. Teilgruppen und persönliche Kommunikationsnetze. Hier ist also der »Aggregatzustand des Sozialen« (ebd.: 39) ein anderer als auf der Ebene des gesellschaftlichen Allgemeinen. Das situative Allgemeine wiederum bezeichnet die Ebene der Interaktionen und Kommunikationen, »die sich in wiederkehrenden Situationen zu Handlungsfolgen und Verständigungsprozessen zusammenschließen« (ebd.). Von diesen vier Formen des Allgemeinen unterscheidet sich das individuelle Allgemeine dadurch, dass es das »Allgemeine in einer einzelnen individuellen Biographie« (ebd.: 41) aufsucht. Es sind »wiederkehrende Probleme und Konstellationen, lebensbestimmende Themen oder Ereignisse« (ebd.) nach denen gefragt wird, wenn man das individuelle Allgemeine vor Augen hat. Der Bezug zur sozialen Wirklichkeit wird dabei keineswegs verlassen. Denn das individuelle Allgemeine ist »keine zufällige Begebenheit oder ein überraschender Vorfall, sondern ein Fall, mit dem man rechnen kann und rechnen muss« (ebd.: 31), weil und insofern er seinen Ort in der sozia-

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len Wirklichkeit hat. Und dieses individuelle Allgemeine als Bestandteil der sozialen Wirklichkeit kommt deshalb angemessen zu Wort, weil es reflexiv-hermeneutisch gedeutet und erschlossen wird. Eben deshalb lässt sich auch sagen, dass »Subjektives erkennen oder verstehen […] nicht automatisch subjektives Erkennen oder Verstehen« (Fischer 1980: 42) meint.10 Eine solche Betonung des individuellen Allgemeinen dient zugleich der rekonstruktiven Welterschließung. Auf diese Weise wird nämlich in den besonderen Erscheinungen auf Allgemeines in seiner kategorialen, gesellschaftlichen, besonderen und situativen Form gestoßen, und es werden Einsichten in etwaige ›Unzulänglichkeiten‹ dieser Formen des Allgemeinen aufgezeigt. Insofern hält das individuelle Allgemeine Perspektiven bereit, die nicht nur »die Auseinandersetzung des Individuums mit der Gesellschaft in der Bewegung seines Lebens« (Schulze 2010b: 44) als ›Bildungsgestalt‹ zu verdeutlichen imstande sind, sondern auch das kategoriale, gesellschaftliche, besondere oder situative Allgemeine neu ins Licht setzen können.

10 Um pädagogische Prozesse, Phänomene, Sachverhalte, Äußerungen adäquat zu verstehen, ist man auf eine solche Beachtung des individuellen Allgemeinen sogar angewiesen. So etwa auch Andreas Gruschka (2007: 48), wenn er feststellt: »Bei der Rekonstruktion von Strukturfragen der Erziehung, Bildung […] werden wir mit der Individualität der inneren und äußeren Vorgänge vor allem auf eine Arbeit am Fall verwiesen, auf Annäherungen an den möglichst nahen Nachvollzug von Prozessen im Individuum, die als solche nicht beobachtet werden können, sowie auf die möglichst genaue Protokollierung der kommunizierten Prozesse und ihrer erschließenden Lektüre. Kasuistisches Arbeiten ist die der Logik des Pädagogischen am ehesten angemessene Form.«

5 Rekonstruktion und Interpretation – Lebensgeschichtliche Erzählungen Jugendlicher in biographie- und bildungstheoretischer Absicht

Das soeben skizzierte Verständnis einer auf das individuelle Allgemeine zielenden Biographieforschung sowie die dazu hervorgebrachte Methodik bildet nun die Basis der folgenden Analysen, die sich um jene biographie- und bildungstheoretischen Aspekte formieren, die in Kap. 3 als Rahmung vorgestellt wurde. Dabei kommt es der Gesamtkomposition zugute, dass nicht nur die vorgestellten bildungstheoretischen Bezüge in ihrer Ausrichtung genuin kritisch genannt werden können, sondern auch die Biographieforschung kritische Implikationen enthält. Auch die Funktion der Biographieforschung ist nämlich »nicht so sehr eine pragmatische als eine kritische« (Schulze 2002b: 46). Die durch sie hervorgebrachten Ergebnisse eignen sich, um »vordergründige Entscheidungen in Frage zu stellen und ein eingehendes Verständnis für biographisch bedeutsame Situationen, Probleme und Entwicklungsperspektiven anzubahnen« (ebd.). Bei den folgenden drei Rekonstruktionen handelt sich um Fälle, in denen das jeweilige Verhältnis zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Welt mit den bildungstheoretischen Topoi angemessen beschrieben und als ›Bildungsgestalt‹ verdeutlicht wird. Es beginnt mit der analytischen Sicht auf die lebensgeschichtliche Erzählung des 18-jährigen Marc (siehe Kap. 5.1). In dieser erlangt das Selbstverhältnis besondere Bedeutung und offenbart deutliche Verbindungslinien zum entfalteten Bildungsverständnis. Anschließend folgen die Rekonstruktionen der lebensgeschichtlichen Erzählungen der 17-jährigen Natalie (siehe Kap. 5.2) sowie der 19-jährigen Sonja (siehe Kap. 5.3). Während Natalie sich in ihrer Erzählung dabei ganz wesentlich auf das Verhältnis zu ihrer Familie konzentriert und eine ›Bildungsbedeutsamkeit‹ im Kontext der Auseinandersetzung mit Fremdverhältnissen auszumachen ist, richtet Sonja ihre lebensgeschichtliche

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Erzählung auf Weltverhältnisse aus. Dinge und Themen der Welt werden von ihr kritisch in den Blick genommen, sodass sich sagen lässt, dass ›Bildung‹ bei ihr nicht nur und nicht allein im Kontext von Selbst- oder Fremdverhältnissen, sondern geradezu im Zusammenhang mit dem Befragen von Weltverhältnissen zu verorten ist. Insofern illustrieren die Rekonstruktion der lebensgeschichtlichen Erzählungen von Marc, Natalie und Sonja zum einen, auf welche Weise Jugendliche ihre »eigene, unverwechselbare ›Jugend‹« (Fischer 1982: 35) im Gefüge von Einlassungen, Verwicklungen, gewährten oder auch verweigerten Hilfen und Anregungen verwirklichen. Zum anderen machen sie deutlich, inwiefern ›Bildung‹ dabei möglich wird.

5.1 »I CH EMPFINDE DAS NICHT ALS G RUND EINEN G LAUBEN ANZUNEHMEN « – DER 18- JÄHRIGE M ARC Der zum Interviewzeitpunkt 18-jährige Marc1 wird 1987 in einer norddeutschen Stadt als einziger Sohn einer katholischen Familie geboren. Er zieht im Alter von

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Das Interview mit Marc findet im August 2006 bei einem Anbieter berufsvorbereitender Maßnahmen statt und ist eines der ersten Interviews, das im Rahmen dieses Forschungskontextes erhoben wird. Marc selbst gehört nicht zum Kreis der Jugendlichen, die sich in einer qualifizierenden Maßnahme befinden, sondern ist bereits seit einiger Zeit als Assistenzkraft bei der Einrichtung tätig und als solche für Vorbereitungen jeglicher Art zuständig. Der Kontakt zu ihm erfolgt durch eine Gießener Studentin, die bei derselben Einrichtung als Tutorin auf Honorarbasis arbeitet und den Interviewtermin arrangiert. Außer der Studentin und Marc sind an jenem Tag noch drei Jugendliche anwesend, die gerade eine kurze Pause von der Schulung abhalten. Nach einer kurzen Vorstellung und der Zuweisung eines großen Bürozimmers, in dem das Interview ungestört durchgeführt werden kann, werden Anliegen und Ablauf des Interviews nochmals kurz erläutert. Diese Vorstellung geht über in eine Konversation über die Hobbys und den bevorstehenden Studienstart von Marc. Währenddessen wird auch das technische Equipment aufgebaut und die Funktionalität des Aufnahmegerätes sowie des Mikrophons getestet. Die Aufnahme beginnt kurz vor der erzählgenerierenden Fragen, sodass dieser Zeitpunkt den eigentlichen Beginn des narrativautobiographischen Interviews markiert. Marc lässt sich bereitwillig auf das Interview ein und ratifiziert den Erzählstimulus nach nur kurzem Zögern mit der Äußerung »wow OK meine allerersten Erlebnisse also« (27f.). Damit zeigt er nicht nur an, dass er die erzählgenerierende Frage und die mit ihr verbundene Aufforderung versteht, sondern verdeutlicht zugleich, dass ihm die Erzählung seines Lebens seit den ersten

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vier Jahren mit seiner damals 30-jährigen Mutter nach Hessen. Zum Vater besteht bereits zu diesem Zeitpunkt kein Kontakt mehr, da sich die Mutter zwei Jahre nach Marcs Geburt infolge der Hinwendung des Vaters zur ScientologySekte scheiden lässt. Am neuen Wohnort besucht Marc zuerst den Kindergarten und anschließend die Grundschule. Dort erhält er nach zwei Jahren die Möglichkeit, eine Jahrgangstufe zu überspringen. Obgleich dadurch die Herauslösung aus dem alten Klassenverband und neue Integrationsanforderungen verbunden sind, wird diese Chance ergriffen, und Marc wechselt vom Halbjahr der zweiten in die dritte Klasse. Von Freundschaften aus dieser Zeit berichtet er jedoch nicht. Die Schilderung von Vorfällen, die sich im Wesentlichen außerhalb der Schule abspielen, machen vielmehr deutlich, dass Marc Schwierigkeiten hat, mit Gleichaltrigen zurechtzukommen. Durch das Verschulden der Gleichaltrigen trägt er kleinere Blessuren, mitunter aber auch Knochenbrüche davon, und es sind Erwachsene, die sich in solchen Situationen um ihn kümmern, ihn verarzten und versorgen. In seiner Kindheit ist er einerseits ein intellektueller Überflieger, andererseits aber auch ein – um es durchaus ein wenig streng zu formulieren – sozialer Außenseiter. Seinen exzellenten schulischen Leistungen tut diese gewisse soziale Exklusion allerdings keinen Abbruch. Zum Ende der Grundschulzeit hat er dann nämlich sogar das Gefühl, von seinen Mitschülern akzeptiert zu wer-

erinnerten Erlebnissen keine einfache und mühelose Aufgabe zu sein scheint. Eine gewisse Anstrengung, die Lebensereignisse zu artikulieren und in einer konzisen Aufeinanderfolge zu präsentieren, ist ihm so auch von Anfang an anzumerken, obgleich das Interview an keiner Stelle durch lange Pausen, in denen das Geschehene zu rekonstruieren versucht wird, gekennzeichnet ist. Wohl aber gibt es Präzisierungen und Korrekturen, kurze Selbstvergewisserungen des Erzählten und auch Eingeständnisse der mangelnden Erinnerungsfähigkeit, also das, was sich als »Bearbeitungskampf« (Schütze 1987: 44) im Interview bezeichnen lässt. Denn immer wieder hält Marc kurz inne, um sich der Chronologie der Geschehnisse zu vergewissern und die Ereignisse in ihrer vermeintlichen diachronen Abfolge zu schildern. Scheinbar nach und nach stellt er in dem Versuch einer präzisen autobiographischen Thematisierung fest, dass seine Erlebnisse nicht so gut erinnert sind, um sie ohne Probleme zu verbalisieren: »ja da kann ich mich auf jeden Fall auf die Fahrt auf also noch’n bisschen an . nur so Erinnerungsfetzen halt« (38ff.). So muss er sich gewissermaßen selbst eingestehen, dass seine Erinnerungen manchmal trübe sind und er zuweilen doch »nichts … Genaueres oder ja so nichts wirklich Detailreiches« (41f.) mehr weiß. Das narrativ-autobiographische Interview entfaltet so gleich zu Beginn seine Wirkmächtigkeit, indem es Marc die Schwierigkeiten einer kondensierten, geschlossenen und doch zugleich detaillierten lebensgeschichtlichen Thematisierung spüren lässt.

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den, wenn er gemeinsam mit diesen das Schulgebäude abenteuerlich erkundet: »Also es war’n drei Gebäude und beim dem Durchgehen von dem einen zum anderen das war wie so’n Glaskorridor und da gab’s an dem einen Ende war eine Scheibe locker die konnte man ein bisschen rausdrücken und dann konnte man durch den Korridor verschwinden das weiß ich noch das haben wir auch gemacht (lachend)« (325-330). Als nach der vierten Klasse die Option des erneuten ›Überspringens‹ einer Jahrgangsstufe besteht, entscheidet sich Marc mit seiner Mutter gegen diese Möglichkeit. Er wechselt nach dem Ende der Grundschulzeit ganz regulär auf die Comenius-Schule, ein christliches Privatgymnasium protestantischer Prägung, in einer etwa 20 km von Wohnort entfernten Stadt. Warum Marc als Katholik auf die protestantisch geprägte Comenius-Schule wechselt, bleibt dabei unklar. Hier keimt das ›Außenseiter-Dasein‹ jedoch wieder auf und entfaltet deutlich größere Wirkung als zuvor. Für ihn sind seine Klassenkameraden auf dem christlichen Privatgymnasium nun etwa »voll die Fußballfreaks« (429) und verbringen in den Schulpausen ihre Zeit mit Fußballspielen. An dieser gemeinschaftlichen Aktivität beteiligt sich Marc indes nicht, denn er ist gerade »nich so die Sportskanone« (493). Vielmehr distanziert er sich davon, als ›Fußballfreak‹, also als jemand, der starken Enthusiasmus und Euphorie für den Fußballsport zeigt, bezeichnet zu werden und markiert damit eine deutliche Differenz zu seinen Mitschülern. Marcs Gefühl, in der jetzigen Schule als Außenseiter angesehen zu werden, kulminiert dann in dem Gedankenexperiment einer religiösen Konversion zum Protestantismus, das im Zuge intensiver Gespräche mit seiner Mutter allerdings nicht zur Umsetzung kommt. Gegen Ende der Mittelstufe und dem bevorstehenden Übergang in die Oberstufe erfolgt auf Grund von Differenzen mit einigen Lehrern und einer allmählich entwickelten, distanzierenden Haltung gegenüber den konservativ-religiös inspirierten Einstellungen und Weltanschauungen der Schule dagegen sogar die Entscheidung für einen erneuten Schulwechsel, obgleich dadurch soziale Orientierungsbemühungen aufwarten. Nach anfänglichen Kontaktschwierigkeiten findet Marc an der neuen Schule allmählich Anschluss an einen Teil seiner Mitschüler, bei anderen stößt er wegen seiner Vorliebe für Heavy-Metal-Musik auch auf Ablehnung. Das Hören dieser Musikrichtung wird von Marc zu diesem Zeitpunkt seit etwa einem Jahr intensiv betrieben und äußert sich in einer aktiven Auseinandersetzung mit Stilelementen und Texten. Neben dem Besuch von Musikfestivals und einem eigenen Bandprojekt, welches allerdings nur am Rande erwähnt und nicht weiter ausgeführt wird, bringt Marc die Identifizierung mit dieser Musik durch seinen Kleidungsstil zum Ausdruck. Im Freizeitbereich nimmt bei ihm darüber hinaus seine Leidenschaft an Multiplayer-Online-Rollenspielen einen gewichtigen Stellenwert ein, wo eine

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selbst erschaffene Spielfigur, die gleichsam als virtueller Stellvertreter fungiert, in einer Computerwelt gemeinsam mit anderen Mitspielern Aufgaben lösen und Gegner bezwingen muss, um hierdurch neue Fähigkeiten zu erlangen, die sowohl sie selbst als auch die Spielgruppe insgesamt stärker und wertvoller machen. Über das Online-Rollenspiel »World of Warcraft« knüpft er auch Kontakt zu einer Mitspielerin, von der er sich so sehr verstanden fühlt, dass er in Unklarheit über sich selbst und seine Haltung zu ihr gerät: »Und ich war mir halt über mich selber nich so ganz klar was das jetzt eigentlich für mich is (I: mhm) also ob ich jetz mich auch in sie verschossen hab oder ob’s mir eigentlich egal is oder was« (1907-1912). Das hat nicht zuletzt gewiss damit zu tun, dass er kurz zuvor die seit etwa einem Jahr bestehende Beziehung zu seiner ersten Freundin beendet. Den hieran anknüpfenden Lebensabschnitt erlebt er als äußerst nervenaufreibend und gefühlschaotisch, sodass er über sich und seine Emotionen überhaupt erstmal Klarheit erlangen möchte. Im Zuge dessen gewinnt er eine neue Einsicht in die Beziehung zu seiner bis dato ›besten Freundin‹ und gesteht sich selbst ein, dass er »eigentlich total verliebt« (1763) in sie ist, sodass hier eine Umgestaltung seines Wertbezuges erfolgt. Weitere Lebensereignisse in dieser Zeit, die von Marc mit einer biographischen Bedeutung belegt werden, sind die Pkw-Führerscheinprüfung, die erst bei der dritten praktischen Prüfung gelingt sowie die Abiturprüfungsphase, in der er sich selbst sehr stark unter Druck setzt und vor der ein Zeitabschnitt intensiven Lernens mit Klassenkameraden liegt. Nach dem erfolgreichen Abschluss der Oberstufe und dem Erwerb der Allgemeinen Hochschulreife hospitiert Marc zum Zeitpunkt des Interviews bei einem Anbieter berufsvorbereitender Maßnahmen, bei dem seine Mutter als Leiterin arbeitet. Dort hat er bislang bereits einige Male in den Ferien handwerkliche Tätigkeiten ausgeführt. Mit der Absicht, die Betreuung der Schüler zu übernehmen, die sich in den berufsvorbereitenden Maßnahmen befinden, will er eine studienbegleitende Tätigkeit erhalten, mit der er sich das anstehende universitäre Studium in einem naturwissenschaftlichen Fach finanzieren kann. Der hier in knappen Worten präsentierte biographische Prozess Marcs, der sich anhand seiner autobiographischen Erzählung rekonstruieren lässt, beinhaltet einige Aspekte und Konstellationen, die zuvor im Rahmen der Auseinandersetzung mit den bildungstheoretischen Konzeptionen von Petzelt, Fischer und Ruhloff als bildungstheoretische Topoi zur Sprache kamen. Dabei sind es vor allen Dingen der starke Einfluss der Mutter, die wiederkehrende ›Nicht-Gewährung‹ von sozialer Anerkennung sowie im Zusammenhang mit fehlenden Freundschaftsbeziehungen stehende Einsamkeitserlebnisse auf individueller Ebene, die nicht nur äußerst anschlussfähig an die erarbeiteten bildungstheoretischen Ausführungen sind, sondern die zugleich als besonders aufschlussreich für das Ver-

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ständnis der Lebensgeschichte Marcs angesehen werden können. Auf diese markanten Elemente soll im Folgenden der Blick geworfen und deren ›Bildungsbedeutsamkeit‹ diskutiert werden. Dabei steht zuerst die die zentrale Bedeutung der Mutter im Leben Marcs im Mittelpunkt, die anhand des Begriffs der ›Du-Bezogenheit‹ nach der Theorie Alfred Petzelts beschrieben wird (siehe Kap. 5.1.1). Anschließend geht es um den »Versuch einer Wertsteigerung des eigenen Ich und die Erwägung, soziale Anerkennung durch eine religiöse Konversion zu erfahren« (siehe Kap. 5.1.2). Schließlich wird das »Bedürfnis nach Freundschaft und die Überwindung sozialer Exklusion als biographisches Projekt« (siehe Kap. 5.1.3) beleuchtet, um sodann abschließende Betrachtungen im Kontext von ›Bildung‹ und der Bedeutsamkeit von Selbstverhältnissen vorzubringen (siehe Kap. 5.1.4). 5.1.1 ›Du-Bezogenheit‹ – die zentrale Bedeutung der Mutter im Leben Marcs Gerade im Kindes- und frühen Jugendalter hat die Mutter für Marc eine große Bedeutung. Sie ist ihm die einzige und zugleich »sehr enge Bezugsperson« (1633). Über Jahre hinweg haben Mutter und Sohn alleine, d.h. ohne einen männlichen Lebensgefährten der Mutter, der für Marc gleichsam als ›Ersatzvater‹ hätte fungieren können, gelebt. Sie ist es, die Marc eine große emotionale und lebenspraktische Unterstützung bietet und ihm gleichsam den Weg durch das Leben weist. So hütet sie nach dem Unfall, bei dem Marc von einem Spielgefährten von einer Rutsche heruntergestoßen wird, unter ungewöhnlichen Bedingungen – nämlich auf einer Luftmatratze nächtigend – im Krankenhaus sein Bett. Mit dem Übergang zum Gymnasium begleitet sie ihren Sohn bei der ersten Busfahrt zur neuen Schule, und die vorherige Entscheidung, nicht erneut eine Jahrgangstufe zu überspringen, trifft Marcs Mutter gemeinsam mit ihrem Sohn, wohl allerdings nicht ohne entscheidende Weichenstellungen bei dieser Entscheidung vorgenommen zu haben. In Gesprächen zur Sondierung von Marcs Wünschen nach sozialer Anerkennung bei Gleichaltrigen und in der Schule ist es die Mutter, der sich Marc anvertraut. Schließlich ist sie es auch, die Marc bei einer – womöglich sogar bloß vermeintlich – ungerechtfertigten Handlung durch seinen Sportlehrer zur Seite steht. Denn Marc schildert im Interview, wie seine Mutter »ein bisschen ausgerastet is« (483f.), als er nach einer Weisheitszahn-OP am 12-Minuten-Dauerlauf, dem so genannten Coopertest, teilnehmen musste, obgleich er eigentlich vom Sportunterricht befreit war:

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»Ähm .. dann . das war kurz nach der Operation war ich vom also da weiß ich noch ein Erlebnis das erinnere ich mich noch relativ genau da war ich natürlich vom Sport befreit (I: mhm) ähm mein Sportlehrer wollte das aber irgendwie nich einsehen . und hat mich dann trotzdem dazu gezwungen den Zwölfminutendauerlauf mitzumachen . ähm ich hab das dann zu Hause erzählt worauf meine Mutter ein bisschen ausgerastet is und . ich hatte halt noch Glück weil meine Nähte haben halt gehalten weil die hätten halt platzen können (I: ja) in also in dem Augenblick« (474-488).

Gleichsam symptomatisch für diese vielfältigen Formen der Begleitung und Unterstützung, die Marc durch seine Mutter zuteilwerden, ist auch der Umstand, dass schon in der allerersten Erinnerung, von der Marc im Interview berichtet, die Mutter eine zentrale Rolle spielt. Nach der Ratifizierung des Erzählstimulus’ beginnt Marc seine lebensgeschichtliche Erzählung mit einem Umzugserlebnis, das er im Alter von vier Jahren erlebt hat: »Das erste Mal umgezogen bin ich da war ich . ja das war recht früh da war ich vielleicht grad vier .. ja das müsste hinkommen das war das Alter« (28-30). Marc erzählt hier, wie er mit seinem Onkel, der im Übrigen im weiteren Verlauf der lebensgeschichtlichen Erzählung kein weiteres Mal Erwähnung findet, im Umzugswagen von Norddeutschland zum neuen Wohnort, einem Dorf in Mittelhessen, das mehrere hundert Kilometer vom alten Zuhause entfernt liegt, gefahren ist, wohingegen seine Mutter sich bereits seit Kurzem dort aufhielt, um die neue Wohnung einzurichten. Dass jener Umzug aus der Scheidung der Eltern heraus resultiert, wird an dieser Stelle des Interviews allerdings von Marc nicht erläutert. Insofern bleiben die eigentlichen Umstände und Hintergründe des Umzugs in dieser Passage unerwähnt. Stattdessen konzentriert sich Marc auf sich selbst und schildert seine Erinnerungen sowie die Gefühle, die er mit diesen verbindet. Bei der Schilderung des ersten erinnerten Erlebniskomplexes hebt Marc hervor, dass er »ganz stolz drauf« (34) war, bei seinem Onkel im »Umzugslaster« (ebd.) zu sitzen. Zwar kann er sich während des Erzählvorgangs keine genauen Erinnerungen des Umzugs, »nur so Erinnerungsfetzen halt so Fahrt auf der Autobahn und so was« (39ff.) ins Gedächtnis rufen und führt rechtfertigend aus, dass er wohl auch viel geschlafen habe, da er »schließlich noch klein« (38) gewesen sei. Der Umzug läuft allerdings – so sieht es Marc in der von ihm geschilderten Familiengeschichte – nicht ohne seine Beteiligung ab. Er wird nicht einfach zum neuen Wohnort gebracht, sondern nimmt als Familienmitglied aktiv am Umzug teil. Er sagt dann auch: »und woran ich mich da noch erinnern kann das is meine Ankunft« (52f.). Mit seiner Ankunft am neuen Wohnort kippt die euphorische Stimmung dann aber zugleich. Marc berichtet nunmehr vom Anblick der Vermieter und deren älteren Tochter. Und er beschreibt die Umgebung des Wohnorts sowie die

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nahezu unmöblierte Wohnung. Die unbekannte, »halt so ländliche« (52) Umgebung, die fremden Menschen, d.h. die »Vermieter […] und denen ihre ähm ältere Tochter« (54f.) und der Blick auf die »relativ leere Wohnung« (58) scheinen für ihn etwa Unheimliches an sich zu haben, und so bringen diese Beschreibungen in der gedanklichen Reaktualisierung der Geschehnisse auch die Erinnerung an den vorherrschenden emotionalen Zustand der Ängstlichkeit und Unsicherheit hervor, welcher im Kontrast zum zuvor gefühlten Stolz steht: »Ich war ja dann relativ unsicher und mir ging’s net so gut« (56f.). Diese damals empfundene Unsicherheit und Ängstlichkeit wird aber von der Mutter sogleich abzufangen versucht, da sie – wie Marc zu wissen glaubt – ihn bei der Ankunft am neuen Wohnort auf dem Arm hat. Sie kümmert sich demzufolge nicht bloß um jene Aspekte, die mit dem Bezug der neuen Wohnung, die bis zum Zeitpunkt des Interviews von Marc und seiner Mutter bewohnt wird, zu tun haben, sondern sorgt sich auch um ihren Sohn, der durch die Situation verunsichert ist. So heißt es in Marcs lebensgeschichtlicher Erzählung: »Ich weiß halt noch wie wir ausgestiegen sind meine Mutter mich auf dem Arm hatte glaube ich oder so« (65-67). Das angefügte »glaube ich oder so« schwächt dabei den Gewissheitsgrad der Erinnerung zwar ab. Gleichwohl lässt sich diese Äußerung als ein ›untrügliches‹ Indiz für die enge Bindung Marcs zu seiner Mutter verstehen. Denn Marc meint auch, dass er wohl »auf dem Arm« (66) der Mutter gewesen sein muss, sodass er ihre körperliche Nähe gespürt hat. Gleichsam symbolisch wird damit die enge Bindung, das besondere Ich-Du-Verhältnis, zum Ausdruck gebracht. Eine derartige Unterstützung seitens der Mutter, wie sie Marc in seinem ersten erinnerten Erlebnis zuteilwird, ist ihm – darauf haben die Beispiele zu Beginn dieses Teilkapitels bereits verwiesen – auch in den folgenden Lebensjahren ›gesichert‹. Die von Marc im Rahmen seiner lebensgeschichtlichen Erzählung angesprochenen Episoden machen die enge Bindung zwischen ihm und seiner Mutter deutlich. So erinnert sich Marc etwa an ein Ereignis, das unmittelbar zu Beginn seiner Gymnasialzeit stattfand und dem die Entscheidung vorweggeht, nicht abermals eine Klassenstufe zu überspringen, sondern eine reguläre Versetzung nach der vierten Klasse in Anspruch zu nehmen. In der Interviewpassage, in der Marc dieses Ereignis ausführt, erzählt er davon, wie er eine Schulfeier für die neuen Schülerinnen und Schüler der fünften Klasse wahrgenommen hat: »Ähm aber an die Einschulung in äh zur fünften kann ich mich noch erinnern das ist dann weil die Comenius-Schule ist ja an die Kirchengemeinde angegliedert (I: mhm) ähm und dann haben wir halt in der Kirchengemeinde dann diese Zeremonie gehabt und ähm was ich da noch weiß ist dass ich nicht hingegangen bin obwohl ich aufgerufen wurde also dann auf die Bühne weil meine Mutter und ich uns nicht so ganz einig waren ob das jetz

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ob wirklich ich gemeint war weil also meinen Namen kann man ja auch englisch aussprechen ob ich jetzt Marc Thomas oder (englisch ausgesprochen bis*) Marc Thomas* heiße weiß man ja nich und die waren wohl der Ansicht dass ich (lachend bis*) Amerikaner bin oder so*« (389-403).

Marc wird also zu der erneuten »Einschulung« (389) von seiner Mutter begleitet. Als er wie die Schüler und Schülerinnen seiner sowie der Parallelklasse namentlich aufgerufen wird, sein Vor- und Zuname allerdings fälschlicherweise englisch ausgesprochen wird, herrscht zwischen seiner Mutter und ihm Uneinigkeit darüber, ob er nun tatsächlich gemeint ist und auf die Bühne gehen soll. Erst als man mittels Schilder zeigt, welche Schüler sich zusammenfinden möchten, geraten beide in Unruhe, und Marc läuft rasch zu seinen zukünftigen Klassenkameraden: »Ähm . und . als sie dann aber irgendwann mal die Schilder hochgehalten haben wer dann wo hingehen sollte und dann waren wir plötzlich sogar mal ganz hektisch und ich bin dann . wie äh von der Tarantel gestochen auf diese Bühne gerannt« (405-409). Wenn Marc in dieser kleinen Episode davon berichtet, wie er und seine Mutter sich nicht einig waren, ob er nun gemeint ist oder nicht, deutet dies aber nicht bloß auf gewisse reale Strukturen hin, die in der schulischen Praxis Verwendung finden. Vielmehr zeigt sich sowohl in der hier beschriebenen als auch in jener Situation, in der Marc als Neunjähriger gemeinsam mit der Mutter über seine schulische Zukunft entscheidet, der Umstand, dass sich Marc bereits in seinen Kindheitsjahren als ein gleichwertiger Interaktionspartner wahrnimmt. Und die Mutter dürfte mit ihrem erzieherischen Handeln diese Wahrnehmung entschieden unterstützt haben. Auf dieses Faktum verweist nämlich auch die dritte Frage des exmanenten Nachfrageteils, die zum Komplex der auf Fremdverhältnisse ausgerichteten Fragen gehört und auf unspezifische Weise die Beziehung zur den Eltern anspricht. Auf die Frage, was ihm spontan zu seinen Eltern einfällt, antwortet Marc wie folgt: »Oh ähm also . ähm als Eltern in dem Sinne sehe ich eigentlich sowieso nur meine Mutter weil ich meinen Vater nie kennengelernt hab der ähm also meine Mutter hat sich dann scheiden lassen als mein Vater in die Scientology eingetreten is (I: mhm) und das war da war ich zwei (I: OK) da kann ich mich nicht mehr dran erinnern (I: ja ja ) ähm und deswegen is in diese so ne Bezugsperson eigentlich nur meine Mutter für mich (I: mhm) weil also es hat also danach halt dann lang kein Partner un .. ähm von daher is es jetz nich so was mich dann stark geprägt hätte (I: mhm) ähm wenn ich so an meine Mutter denke (fragend bis*) was mir dann einfällt … wie geartet einfällt . irgendwas* … ja es is halt ähm meine Mutter is ne sehr enge Bezugsperson für mich und das is was mir halt dazu einfällt (?) also sie is halt von der Art her auch . also ich bin ihr relativ ähnlich sag ich mal (I:

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mhm) ähm und . ja empfind das halt als . ähm es is jetz nich so dass ich da so ne na wie sagt man das also so behan- also ich hab nich das Gefühl dass sie ähm würd mich so von oben herab behandeln so ich bin jetzt deine Mutter und du machst das jetz weil ich dir Befehle geben kann oder so (I: mhm) sondern ich empfind das halt eher so als ähm ja . ähm Zusammenleben weil das is halt also meine Mutter war dann halt auch alleinerziehend jetzt (I: mhm) dann die ganze Zeit und dann äh hat sich das eher so entwickelt dass das halt wie also wirklich wie so’n Zusammenleben fast wie so ne WG bei uns zu Hause (I: OK) und äh dass ähm halt auf beiden Seiten relativ große Freiheiten herrschen und so und das empfind ich halt also als schön und harmonisch und das das also das fällt mir dann eigentlich dazu ein (I: mhm) die hat zwar auch kein Problem dann mal durchzugreifen wenn sie meint sie müsste aber also eigentlich is es wirklich ein harmonisches Zusammenleben is ziemlich gut« (1611-1662).

Marc korrigiert zu Beginn dieser Passage also zuerst die Ausgangsfrage, indem er sie auf seine individuelle Situation zurechtrückt und auf diese Weise nicht nur deutlich macht, weshalb das Wort ›Eltern‹, mit dem in der Regel sowohl der Vater als auch die Mutter gemeint sind, sich für ihn lediglich auf die Mutter bezieht. Auch spricht er nun – wenngleich auch nur indirekt – die Hintergrundbedingungen an, die im unmittelbar zu Beginn des Interviews geschilderten Umzugserlebnis gewirkt haben. Auf diese Weise macht er plausibel, dass »so ne Bezugsperson eigentlich nur« (1623f.) seine Mutter für ihn ist. Wenn er also von Eltern spricht, was zunächst und zumeist eine triadische Struktur impliziert, dann bezieht er sich lediglich auf eine dialogische Beziehung, die gleichsam existenzielle Bedeutung für ihn hat. Es geht ihm so ausschließlich um das Verhältnis von Ich und Du (vgl. Petzelt 1965: 192f. und 1997: 27ff.). Nicht zuletzt auf Grund der hieraus resultierenden Nähe bei gleichzeitiger Gewährung von Freiheiten, hat sich Marcs Darstellung zufolge zwischen beiden ein Verhältnis entwickelt, das durch ein äußerst vertrautes Miteinander gekennzeichnet ist. Vermutlich gerade deshalb behauptet Marc auch, »von der Art her« (1634) seiner Mutter relativ ähnlich zu sein, was sich über die Jahre hinweg »so entwickelt« (1650) hat. Und da er auch nicht das Gefühl hat, dass sie ihn von oben herab behandelt, was ganz konkret auf die Ausgestaltung der Erziehungssituation verweist, empfindet er die familiale Situation als »schön und harmonisch« (1656). Auffallend dabei ist, dass Marc die Beziehung zu seiner Mutter als sehr stabil präsentiert. Von intensiven Aufs und Abs berichtet er nicht. Auch macht er deutlich, dass Entscheidungen zwischen Mutter und Sohn ausgehandelt werden, sodass sich Marc als kompetenter und gleichrangiger Gesprächspartner anerkannt fühlt. Er bekommt Rechte wie ein Erwachsener. Sein Urteil ist genauso gefragt wie das Urteil der Mutter, die innerfamilial nur Marc als Gesprächspartner hat,

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denn einen Ehemann und weitere Kinder gibt es für sie als Alleinerziehende nicht. Selbst Verwandte spielen kaum eine Rolle. Denn nicht nur der Onkel wird lediglich ein einziges Mal erwähnt. Auch Großeltern erfahren in Marcs lebensgeschichtlicher Erzählung bloß am Rande der Darstellung eines Grundschultheaterstücks Aufmerksamkeit, in welchem Marc eine kleine Rolle spielt und diese mit seiner Oma am Vorabend der Vorstellung nochmals einübt. Insofern sind die geschilderten Familienkonstellationen insgesamt sehr überschaubar und dezidiert auf die Mutter-Sohn-Beziehung konzentriert. Und wie es Marc in der zitierten Passage zum Ausdruck bringt, stellt sich diese für ihn als gelungen dar. Insofern darf das Gesagte durchaus auch als Lob am erzieherischen Handeln seiner Mutter angesehen werden, und wie bedeutsam eine positive Einstellung gegenüber dem elterlichen Erziehungshandeln im Jugendalter ist, hat vor allem Wolfgang Fischer in seinem frühen jugendtheoretischen Entwurf herausgestellt (vgl. Fischer 1966b: 58: 73ff.). Ganz in diesem Sinne betont Marc, dass seine Mutter sich auf Grund ihrer Stellung nicht per se das Recht herausnimmt, ihm Befehle zu erteilen. Infragestellungen der generationalen erzieherischen Ordnung sind bei ihm in keinerlei Weise zu finden. Wenn Fischer in seiner bildungstheoretischen Betrachtung zum Jugendalter also beschreibt, dass es in der Vorpubertät bzw. der frühen Reifezeit vermehrt zu Erziehungskrisen kommt, da die Jugendlichen die elterlichen Erziehungsmaßnahmen nicht mehr einfach unhinterfragt hinnehmen wollen und sie häufig auch als zwanghaft und einengend empfinden, so muss konstatiert werden, dass eine solch ablehnende und die Erziehungspraktiken der Mutter deutlich in Frage stellende Haltung in der lebensgeschichtlichen Erzählung Marcs nicht zum Vorschein kommt. Das Handeln seiner Mutter hinterfragt Marc nämlich nicht. Auch nimmt er es nicht vor dem Hintergrund der Frage nach einer Beispielhaftigkeit kritisch in den Blick. Unter Berücksichtigung der im Vorfeld gesondert ausgewiesenen bildungstheoretischen Topoi lässt sich dagegen sagen, dass Marcs Verhältnis zu seiner Mutter auch im Jugendalter durch eine ›Du-Bezogenheit‹ charakterisiert ist (vgl. Petzelt 1965: 192). Demnach zeigt sich durch den empirischen Blick auf die lebensgeschichtliche Erzählung Marcs, dass die Propagierung einer ›Du-Bestimmtheit‹ im Jugendalter als notwendig anzusetzendes Prinzip durchaus problematisch erscheint. Zwar gibt es auch bei Marc Ablösungsprozesse. Sie münden beim ihm jedoch – anders als dies etwa Petzelts und Fischers Analysen verdeutlichen – nicht in einer vorrübergehenden disharmonischen Gestaltung der Sozialbeziehung. Was bei einer Betrachtung der lebensgeschichtlichen Erzählung Marcs in dieser Hinsicht zudem auffällt, ist Folgendes: Er bringt die gemeinsam mit seiner Mutter vollzogene Lebensform an keiner Stelle des Interviews mit dem Terminus der Familie zusammen, sondern spricht von »Zusammenleben« (1645, 1651

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und 1662) sowie einer WG-ähnlichen Struktur. In gewisser Weise mag das distanziert und kühl klingen. Und angesichts der intensiven emotionalen Bindung an seine Mutter wird man wohl auch zu dem Schluss kommen, dass Marcs Charakterisierung des familialen Zusammenlebens als WG-ähnlich nur sehr eingeschränkt geeignet ist, um die enge Bindung zwischen ihm und seiner Mutter treffend zu beschreiben. Denn in einer Wohngemeinschaft müssen die zusammenlebenden Personen zwar durchaus harmonieren, um die anfallenden Haushaltsarbeiten gemeinsam zu leisten und den Fortbestand der WG zu sichern. Jedoch sind die Mitglieder einer Wohngemeinschaft prinzipiell austauschbar, da sie aus funktionalen Gründen zusammenleben – etwa weil das Geld zu knapp ist, um eine eigene Wohnung zu finanzieren oder weil man sich anderweitige Vorzüge durch das Gemeinschaftsleben verspricht. Die spezifische Mutter-Sohn-Beziehung, die in Marcs lebensgeschichtlicher Erzählung hervortritt, kann mit einer solchen Charakterisierung allerdings nicht sinnvoll verglichen werden, beruht das Verhältnis in seinem Fall doch eindeutig auf einer emotionalen Nähe ›familial-intimer‹ Prägung. Wenngleich also der von Marc vorgenommene Vergleich hinkt, so dient er ihm dennoch dazu, jenes von ihm besonders wertgeschätzte Moment der Mutter-Sohn-Beziehung zu betonen: nämlich die sowohl von seiner Mutter als auch von ihm gewährleisteten Akzeptanzen und Freiheiten. Und diese sind – das zeigt abermals Wolfgang Fischer in seinen Betrachtungen – zur Herausbildung einer befragenden Nachdenklichkeit im Jugendalter außerordentlich bedeutsam, da ein unter diesen Bedingungen stehendes Geleit in die Lage versetzt, zur Selbstständigkeit im Denken zu gelangen (vgl. Fischer 1966b: 58 und 1982: 38). Indem Marc das Verhältnis zu seiner Mutter also nicht ›du-bestimmt‹, sondern nach wie vor ›du-bezogen‹ gestaltet, gelingt es ihm, die vertrauensvolle Mutter-Sohn-Beziehung in die Jugendphase hinein zu übertragen. Auf diese Weise bleibt die Mutter für ihn von zentraler Bedeutung. Nichtsdestotrotz ist die Beziehung zwischen Mutter und Sohn nicht gänzlich frei von Problemen und Sorgen. Denn in den Jugendjahren versucht Marc, mehr soziale Anerkennung bei Klassenkameraden und Gleichaltrigen, aber auch bei seinen Lehrern zu finden. Er sucht also auch in außerfamilialen Sozialgefügen nach dem, was er bei seiner Mutter nahezu uneingeschränkt vorfindet. Dazu erwägt er u.a. einen Wechsel der Konfession und bereitet auf diese Weise – wie er sagt – seiner Mutter Schwierigkeiten.

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5.1.2 Der Versuch einer Wertsteigerung des eigenen Ich und die Erwägung, soziale Anerkennung durch eine religiöse Konversion zu erfahren Gleich mehrfach erzählt Marc in kleineren oder größeren Episoden von Ereignissen, die darauf schließen lassen, dass er immer wieder Probleme hat, jene soziale Anerkennung bei Gleichaltrigen zu finden, die er sich wünscht. Zwar hat er seit der sechsten Klasse einen besten Freund. Von diesem berichtet er allerdings erst im exmanenten Nachfrageteil und entfaltet hier eine durch die Erzählaufforderung initiierte Darstellung, die nicht nur kurz ausführt, auf welchem Weg man sich kennengelernt hat, sondern die auch deutlich macht, dass eine zweijährige Phase des spärlichen Kontakts die Freundschaft in der Mittelstufe prägte: »Ähm also ich hab nen besten Freund seit der sechsten Klasse in etwa (I: mhm) also das is ähm aus auch der Com- Comenius-Schule aus meiner Parallelklasse (I: mhm) war das einer und (fragend bis*) wie wir uns kennen gelernt haben* ja über also eigentlich über die Schule (I: mhm) dadurch dass wir uns dann halt fast jeden Tag in der Pause gesehen haben (I: ja) irgendwann mal dann mal so ins Gespräch gekommen sind . äh und . ja und dann hat’s die Freundschaft dadu- Freundschaft halt irgendwas irgendwann mal draus entwickelt dann hatten wir auch mal so äh die nächsten ein zwei Jahre dann mal so halt nur so flüchtigen Kontakt wo man sieht sich dann mal in der Pause und redet ein bisschen ähm ja und irgendwann … hat man dann halt immer mehr geredet und irgendwann dann auch mal nachmittags was (I: mhm) unternommen und so weiter und ähm also an der Freundschaft liegt mir auch relativ viel also ich kann halt ich rede gern über alles Mögliche ich kann dann mit ihm gut über irgendwelches Zeuch philosophieren (I: mhm) und so was« (17151749).

Es ist dabei auffällig, dass Marc diesen besten Freund als namenlose Person einführt und an jenen Stellen des Interviews, wo dessen Erwähnung sinnvoll und angebracht gewesen wäre, in keinerlei Weise vorstellt. Auch kommen, obwohl Marc aussagt, dass ihm an der Freundschaft viel liege und er »mit ihm gut über irgendwelches Zeuch philosophieren« (1748f.) könne, weder an dieser noch an anderen Stellen des Interviews Erzählungen zustande, in der gemeinsame Erlebnisse präsentiert werden. Inwiefern der beste Freund Marc etwa in schwierigen Lebenslagen zur Seite steht, wird nicht genannt. So bleibt Marcs bester Freund durchaus merkwürdig unkonkret und anonym. Nicht minder auffällig ist auch, dass Marc nicht bloß im Jugendalter, wo Beziehungen zur Peergroup an Bedeutung gewinnen, kaum über engere soziale Kontakte im außerfamilialen Bereich zu verfügen scheint, sondern gewisse Ver-

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lautbarungen darauf hindeuten, dass bei ihm bereits in der Kindergarten- und Grundschulzeit deutliche Schwierigkeiten bestehen, gut mit Gleichaltrigen zurechtzukommen. So berichtet er von drei Ereignissen, die ungefähr zwischen seinem sechsten und neunten Lebensjahr stattfinden und handfeste Auseinandersetzungen mit Altersgenossen zum Gegenstand haben. Wichtiger als der Umstand, dass sich Marc durch diese Ereignisse zuweilen Blessuren und schwerwiegendere Verletzungen zuzieht, ist allerdings die hierbei zum Ausdruck kommende und zur Entfaltung der Frage nach einer Wertsteigerung des eigenen Ich relevante Sozialbeziehung zu Gleichaltrigen. Das erste Ereignis, von dem er hier berichtet, muss sich in der Nähe der knapp zwei Jahre zuvor bezogenen Wohnung zugetragen haben. Marc erinnert sich: »Dann hab ich mir das Handgelenk gebrochen das linke das weiß ich noch ziemlich genau da war ich sechs (I: mhm) ähm .. ja da bin ich von jemandem der mich wohl nicht so gut leiden konnte von ner Rutsche runtergestoßen worden . ich kann mich sogar noch teilweise an den Flug erinnern der war ja nicht so lang also knapp zwei Meter (lachend) und bin dann halt auf’m Arm aufgeschlagen und hatte mir das Handgelenk gebrochen was natürlich erstmal keiner wusste dann kamen halt erstmal die Nachbarn waren total geschockt und richtig fertig mir hat alles wehgetan also hauptsächlich der Arm« (101-112).

Es sind in dieser Situation erwachsene Nachbarn, die ihn »so vorsichtig wie’s ging in die Wohnung« (115f.) ›verfrachten‹, ihm eine Cola anbieten und den Notarzt verständigen. Die Mutter, die ihm normalerweise in solchen Situationen beisteht, ist nicht anwesend. Demzufolge kann sie ihm nicht helfen. Marc kann allerdings auf die Fürsorge und den Schutz anderer Erwachsener zurückgreifen. Auch sie behandeln ihn umsorgend und behutsam wie eine sensible ›Fracht‹. Nachdem Marc daraufhin ins Krankenhaus eingeliefert wird, damit das Handgelenk untersucht und ärztlich versorgt werden kann, kehrt er nach einer Übernachtung, bei der seine Mutter auf einer Luftmatratze neben ihm schläft, mit einem eingegipsten Arm wieder nach Hause zurück. Und unmittelbar hieran setzt der zweite Erzählstrang an, an dem deutlich wird, dass sich Marcs Kontakt zu seinen Altersgenossen schon im Kindesalter als durchaus kompliziert erweist: »Und ähm ja dann bin ich halt irgendwann auch wieder nach Hause gekommen war natürlich praktischerweise en Hochsommer (I: mhm) sechs Wochen Gips also Fahrradfahren lernen erstmal verschieben (lachend) ähm was ich dann auch noch weiß aus der Zeit is das . also ich hatte auch so so ne kleine Feindschaft schon im Kindergarten mit einem aus’m Dorf (I: mhm) der konnte mich nicht leiden und ich konnte ihn auch nicht leiden und er hat mich halt den ganzen die ganze Zeit geärgert ich war auch ein etwas unsportliches

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Kind damit hat er mich dann auch immer aufgezogen irgendwann hat’s mir gereicht und dann hab ich ihm mit meinem ähm Arm im Gips eine runtergehauen (I: (lachend)) das weiß ich noch (lachend bis*) und ich wurd dann also es war mitten im Kindergarten und ich wurd natürlich* also Kindergärtnerin fand das natürlich nich so toll was ich da veranstaltet hab (lachend) der Kerle auch nich der hat tierisch geheult aber irgendwie fand ich das trotzdem als Genugtuung (lachend bis*) im ersten Moment*« (142-165).

Marc reagiert auf die Provokationen des anderen Kindergartenkindes durch körperliches Zurwehrsetzen, in dem es ihm womöglich um die Reparation der psychischen Beschädigung seiner Person geht. Und es hat den Anschein, als ob ihn die Tat in gewisser Weise stärkt und mit Selbstvertrauen ausstattet. Insofern stellt diese Handlung einen Akt der Selbstbehauptung dar. Und auch ungeachtet des Umstands eines Tadels durch die Erzieherin dürfte Marc mit seiner Wehrhaftigkeit recht eindeutig signalisieren, dass er sich nicht alle Hänseleien gefallen lässt und ein ›Aufziehen‹ auf Grund seiner wenig ausgeprägten Sportlichkeit nicht duldet. In Vorwegnahme sozialer Erwartung bereut er diese Handlung zwar. Er steht aber durchaus zum Gefühl der Genugtuung. Die ›Lektion‹, die er in dieser Situation seinem Altersgenossen erteilt, bewahrt ihn jedoch nicht davor, in der Zukunft vor ›Übergriffen‹ durch andere Kinder vollkommen gefeit zu sein. Das zeigt sich in der dritten, hier wiedergegebenen Sequenz, die nun in seiner Grundschulzeit spielt, allerdings nicht im schulischen Kontext stattfindet, sondern sich während der Freizeit einer hier anonymisiert als »VEREIN« deklarierten konfessionellen Kinder- und Jugendeinrichtung ereignet: »Ähm Ferienpass-Aktion war das (I: mhm) da war ich jetzt auch noch Grundschüler . ähm … mit der Feuerwehr halt irgendwo Feuerwehr und dem VEREIN irgendwo zelten (I: mhm) und da war so ne so ne grobe Treppe so’n Hang hoch (I: mhm) das waren . also ich weiß aus Erzählungen dass es fünfzehn Stufen waren (lachend) von meinem Fall hab ich auch nicht mehr alles mitbekommen ich war kurz weg (I: ja) aber ich weiß noch wie ich halt also da waren dann oben auch noch so andere Steine . da fanden wir es lustig drauf zu balancieren . haben wir dann halt gemacht und einer war warum weiß ich auch nicht mehr von der Zeltfreizeit da war ich dann halt auch nur . einen Tag weil danach hat einer dann gemeint mich die Treppe runterschmeißen zu müssen« (189-210).

Auch hier wird Marc – wie im ersten von ihm geschilderten Ereignis – abermals unvermittelt von einem Altersgenossen gestoßen, sodass er eine Steintreppe hinunterfällt und sich tiefe Schnittwunden zuzieht. Und es sind nochmals Erwachsene, die sich daraufhin um ihn kümmern und die Versorgung der Verletzungen veranlassen:

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»Ich bin natürlich so geschickt geflogen dass ich das kopfüber gemacht hab deswegen weiß ich auch nur noch ich glaub ja den ersten Aufschlag weiß ich noch .. wie mir die Treppe dann entgegenkam und dann erstmal weg und das nächste was ich dann wieder weiß is da stand ich schon wieder wurd von zwei Leuten festgehalten und ähm der eine Mensch von der Feuerwehr den ich auch schon kannte weil also is ja alles Dorfgemeinschaft und so (I: mhm) ähm mir immer gesagt hat dass ich nicht an mir runtergucken soll (lachend) . heute weiß ich dass ich ähm einen tiefen Schnitt an der Seite und am Knie hatte und wahrscheinlich deswegen nicht (I: ja ja) an mir runtergucken sollte ja die haben mich dann verarztet« (212-228).

Marc wird von bekannten Feuerwehrkräften erstversorgt und anschließend zu einem Arzt gebracht. Von den Spielgefährten sowie dem ›Übeltäter‹ ist sowohl in dieser als auch in der folgenden Passage nicht mehr die Rede. Stattdessen besitzt Marc die geballte Aufmerksamkeit der Beteiligten und präsentiert sich auch als ›Regisseur‹ – durchaus mit gewisser Tendenz zur Selbstüberschätzung, wenn er den behandelnden Arzt erzieht und ihm gleichsam Nachhilfe gibt: »Ähm ... dann von der Fahrt weiß ich den Anfang nicht mehr . doch den Anfang weiß ich noch wo sie mich also die haben mich dann zum Arzt gefahren was ich dann noch weiß ist dass der Arzt mit mir geredet hat aber ich nicht nicht wirklich in der Lage war dem Gespräch zu folgen (I: mhm) wie gesagt da war ich auch noch kleiner das müsste in der Grundschule gewesen sein und ich hab am Ferienpass noch aktiv mitgemacht . und .. ähm . ach ja das eine Erlebnis weiß ich auch noch dass der Arzt mir dann irgendwann die Nierenschale weggenommen hat . und die Übelkeit aber dann erst richtig eingesetzt hat (lachend) und ich dem Arzt dann also auf den Boden erbrochen habe was der Arzt dann gelernt hat dass er mir nicht mehr die Nierenschale wegnehmen sollte er hat sie mir dann auch wieder brav gegeben (I: aha) ähm das weiß ich noch .. dann immer noch so so kleine Strecken von der Fahrt wo die Leute von der Feuerwehr auch noch versucht haben mich zu beruhigen und ähm das weiß ich noch« (228-248).

Diese drei Ereignisse, die Marc im Kindesalter erlebt und von denen er im Interview nahezu übergangslos hintereinander berichtet, haben noch keine Initiierung von konkreten Aktionen zur Überwindung seiner ›Außenseiter-Rolle‹ zur Folge – zumindest erzählt er nichts davon. In der Mittelstufe ändert sich das allerdings. Denn hier versucht Marc aus der Erfahrung sozialer Isolation heraus Wege einzuschlagen, die ihn bei seinen Mitschülern, aber auch bei seinen Lehrern beliebter machen. Man kann unter Berücksichtigung der bildungstheoretischen Bezüge formulieren: Das Gewahrwerden seiner sozialen Exklusion und das zunehmende Unbehagen hieran führt ihn zum Verlangen nach einer Wertsteigerung des eige-

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nen Ich: »Hauptsache dass die mich akzeptieren dass ich halt nicht mehr immer so als Außenseiter dastehe« (1687), so bringt es Marc im Interview sprachlich auf den Punkt und beschreibt damit die Unzufriedenheit über seinen sozialen Status sowie die Absicht, diesen unter Inkaufnahme jeglicher erdenklicher Maßnahmen zu verbessern. Dabei kommt er aber nicht zu dem womöglich naheliegenden Schluss, etwas an seiner Fitness zu tun und über den Weg der Demonstration sportlicher Leistungen Anerkennung bei anderen zu erfahren, was gemäß der Konzeptionen von Petzelt und Fischer durchaus eine Option darstellen würde (vgl. Petzelt 1965: 197; Fischer 1955: 76). Obgleich Marc nicht intensiv ausführt, mit welchen Strategien er seine Beliebtheit im Konkreten zu steigern versucht, so wird dennoch deutlich, dass er dabei vor allen Dingen eine Konversion zum Protestantismus in Erwägung zieht, wodurch gleichsam ein unausgesprochenes »Familienthema« (Ecarius 2003) zum Vorschein kommt. Denn auch der Vater hat schließlich mit der Hinwendung zur Scientology-Sekte eine religiösweltanschauliche Umorientierung vollzogen – mit den angesprochenen weitreichenden Konsequenzen. So weit kommt es bei Marc allerdings nicht, wofür gerade die Mutter sorgt. Denn in intensiven Gesprächen zwischen Mutter und Sohn wird Marcs Absicht einer Konversion bearbeitet. Dabei dürften es weniger explizit religiöse Motive sein, die die Mutter veranlassen, die Konversion ihres Sohnes zu verhindern. Vielmehr scheint dafür eine – biographisch durchaus nachvollziehbare – Angst vor dem Verlust der ›du-bezogenen‹ Beziehung zu sorgen: »Sechste siebte Klasse wohl äh auf der Comenius-Schule wie gesagt ist ja eingegliedert in diese Kirchen Gemeinde (I: ja) und äh also selbst in diesem in dieser Gemeinde gibt’s dann noch mal Strömungen und dies halt äh d- da gibt’s halt Lehrer die sind in einer sehr . ja also sehr .. ähm konservativen (I: mhm) (schluckend) Strömung quasi (I: mhm) und ähm ich hatte dann irgendwann wie gesagt so sechste siebte Klasse dann mal so die Idee ich müsste auch genau so werden . Hauptsache dass die mich akzeptieren dass ich halt nicht mehr immer so als Außenseiter dastehe und da hat meine Mutter halt dann lange mit mir drüber also . das war sehr anstrengend für sie (lachend) denk ich ähm und da meine Mutter hat dann halt damit reagiert dass sie halt mit mir darüber gesprochen hat also wir haben dann halt oft abends zusammen gesessen und haben darüber geredet warum ich das machen will was mir das bringt und so weiter ähm und ja das ging halt wirklich sehr lang und in dieser diesen Diskussionen hatʼs dann halt dann noch irgendwann das ging wirklich lange bestimmt en Jahr (I: mhm) ähm . hat’s dann halt auch für mich so dieses Verstehen warum ich das machen will überhaupt äh dann entwickelt und das ich dann halt gemerkt hab dass ich das eigentlich nur machen will damit ich irgendwo Akzeptanz finde (I: ja ja)

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und das (is halt?) äh was ich dann auch selber nicht gut fand war ich also ich empfinde das nicht als Grund einen Glauben anzunehmen nur um Akzeptanz zu finden« (1673-1707).

Die Gründe seiner Konversionsabsicht scheinen Marc nach den langwierigen Gesprächen mit seiner Mutter, die ihn gewissermaßen ins Denken einbezieht und dieses bei ihm hervorruft, nicht mehr gerechtfertigt. Eine Orientierung an den kurzzeitig als nachahmenswerte Beispiele angesehenen Lehrern wird nicht weiter verfolgt. Aus heutiger Sicht kann Marc durchaus im Sinne eines problematisierenden Vernunftgebrauchs und einer für ihn geklärten Lebensausrichtung sagen: »Äh . was ich dann auch selber nicht gut fand war ich also ich empfinde das nicht als Grund einen Glauben anzunehmen nur um Akzeptanz zu finden« (1705ff.). In der Folgezeit trägt die Abwendung einer konfessionellen Konversion und das Verstehen der eigenen Motive insofern Früchte, als Marc an Selbstvertrauen gewinnt und eine kritische Haltung gegenüber seiner Schule und der darin vorherrschenden ›Schulkultur‹ entwickelt. Die unterrichtenden Lehrer bewertet er ebenso wie einige seiner Mitschüler als »komisch« (602). Emotional betrachtet ergeht es ihm an der christlichen Privatschule aber nach wie vor »nich so wahnsinnig gut« (597). Rückblickend sagt er auch: »Mit dem . Thema meine alte Schulzeit hab ich auch soweit abgeschlossen vielleicht liegt’s da dran dass ich nicht mehr so viele Ereignisse daraus . so im Gedächtnis hab . (I: mhm) also ich weiß noch mir ging’s da äh an der Schule speziell nich so wahnsinnig gut weil äh es is dann halt schon ne christliche Privatschule . steht zumindest dran (I: mhm) un ja die Lehrer und paar Schüler sind da ran schon recht komisch also« (591-602)

Auf Grund von Differenzen mit einigen Lehrern – vor allem seiner Klassenlehrerin und seinem Religionslehrer – entscheidet sich Marc mit dem Übergang in die Oberstufe sogar für einen erneuten Wechsel der Schule: »Also ich hab mich dann dafür entschieden . ähm nich das Abi auf der Comenius-Schule zu machen (I: mhm) ähm weil da liefen dann auch so Späße wie . ähm mein Relilehrer hat gemeint mir eine Vier in Religion geben zu müssen nur weil ich katholisch getauft bin und so Sp- Sachen (I: mhm) (lachend bis*) das fand ich halt* etwas krass und . ähm (4 Sek.) ja und hab mich dann irgendwann dafür entschieden nicht mehr auf diese Schule weiterzugehen« (500-511).

Ein Schulwechsel nach der zehnten Klasse ist nach der Ausbildung dieser distanzierenden Haltung für Marc geradezu notwendig geworden, hat er doch die Leitlinien der Schule und ihre auf Konformität angelegten Grundansichten nicht

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länger hinnehmen und unhinterfragt akzeptieren können. Demzufolge versucht er sich auch nicht mehr verzweifelt anzupassen, sondern geht Diskussionen ein, in denen er seine Handlungen argumentativ vertritt. Für die Schule erscheint Marc nun als ein Störenfried, vielleicht sogar als ein Abtrünniger, der auf einer Klassenfahrt, die für ihn »schon so .. Abschlussfahrtscharakter« (517f.) hatte, Unruhe stiftet und die Ordnung durcheinanderbringt: »Also ich erinnere noch so Fetzen von Gesprächen mit meiner Klassenlehrerin zu dem Thema weil sie fand das nicht in Ordnung dass ich mit Leuten aus der Parallelklasse auf einem Zimmer bin (I: mhm) warum auch immer weiß ich nicht aber sie fand das nich in Ordnung« (526-532). Marc gerät in Disput mit seiner Klassenlehrerin, die ihm gegenüber weder ihre Gründe deutlich macht, noch eine respektvolle Annahme seiner Motive an den Tag legt. Stattdessen beharrt die Lehrerin darauf, dass Zimmerbelegungen während der Abschlussfahrt ›klassenhomogen‹ zu sein haben. Marc beugt sich der Meinung seiner als Autoritätsperson auftretenden Lehrerin allerdings nicht. Die Teilung eines Zimmers mit »Leuten aus der Parallelklasse« (530), die ihm – vermutlich auch im Gegensatz zu seinen eigentlichen Klassenkameraden – durchaus wohlgesonnen sein dürften, hat für Marc in dieser Situation einen höheren Wert als das dumpfe Befolgen der Anweisung. So fragt er dann auch nach der Überzeugungskraft ihrer Argumente und nimmt die Stellung der Lehrerin nicht per se als maßgeblich an. Möglicherweise ein wenig unerwartet gelingt es ihm, sich in dieser Angelegenheit zu behaupten. Im weiteren Verlauf der Klassenfahrt bleibt er nämlich mit den drei Schülern der Parallelklasse auf einem Zimmer. Und es sind an dieser Stelle nun auch Gemeinschaftsaktionen, von denen er berichtet: »Dann weiß ich noch wie wir ein bisschen durch Berlin gezogen sin war viel .. ähm Polizei . überall rum weil war Jahrestag vom 11. September […] deswegen war überall viel Polizei . äh .. die auch relativ missmutich waren den ganzen Tag weil se den ganzen Tag irgendwo rumstehen mussten und nichts passiert is (I: mhm) ein paar Leute aus der Parallelklasse haben es dann auch noch lustig gefunden sich äh mit den Polizisten anzulegen (lachend) ähm . das war nicht so klug (lachend) dann saßen wir noch im Reichstagsgebäue rum da mussten wir erstmal tierisch lange stehen vorher und es war warm sehr warm . mhm und an was ich mich noch erinnern kann ist dass es sehr nach Kanal gerochen hat in dem Bereich vor dem Reichstagsgebäude (I: mhm) weil es war halt wirklich richtig warm (I: ja) . ähm .. ja . dann weiß ich nur noch äh (leise gesprochen bis*) so’n paar Fetzen wie wir dann mal durch Berlin gezogen sind oder so*« (533-536/569-588).

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Anders als einige Schulkameraden aus der Parallelklasse beteiligt sich Marc nicht an der Provokation der Polizisten. Womöglich erscheint ihm das zu heikel. Während er also zuvor die Autorität der Klassenlehrerin durchaus herausfordert, schreckt er bei der ›Staatsgewalt‹ zurück und bewertet diese Aktion als »nicht so klug« (577). 5.1.3 Das Bedürfnis nach Freundschaft und die Überwindung sozialer Exklusion als biographisches Projekt Marc wechselt nach dem Ende der zehnten Klasse auf die Herderschule, ein Oberstufengymnasium, das etwa 20 Kilometer entfernt von der Comenius-Schule in einer anderen Kreisstadt liegt. Deutlich bevorzugt hätte er zwar den Besuch der Röntgenschule, ein Gymnasium im Stadtgebiet, da er auf diese Weise den Weg zum Abitur gemeinsam mit einigen Ex-Comenianern – also Schülern, die wie er die Comenius-Schule nach der zehnten Klasse verlassen haben – hätte gehen können. Doch die Röntgenschule nimmt ihn aus kapazitären Gründen nicht auf, da er im Nachbarkreis gemeldet ist. Marc stößt insofern auf Grenzen schulorganisatorischer Art. An der Herderschule allerdings kennt er niemanden, während sich die Mitschüler seinem Empfinden nach alle untereinander kennen und z.T. auch vormals die gleichen Schulen besuchten. Er ist also mit einer ganz ähnlichen Situation konfrontiert wie zu jenen zwei Zeitpunkten, als er eine Jahrgangsstufe innerhalb der Grundschule überspringt und sich als stadtgebietsfremder Schüler nach der Versetzung von der vierten in die fünfte Klasse in der konfessionellen Comenius-Schule einfinden muss. Doch nicht nur der Umstand fehlender Bekanntschaften ist für ihn eine Herausforderung, die er zu meistern hat: An seinem ersten Tag an der Herderschule hat er – wie auch schon während der ›Einschulungszeremonie‹ auf der Comenius-Schule – mit gewissen Orientierungsschwierigkeiten zu kämpfen. Marc findet nämlich die Aula nicht, in der eine Begrüßungsfeier für die neuen Oberstufenschülerinnen und -schüler stattfindet. Seine Mutter, die ihn zur Begrüßungsfeier der Comenius-Schule noch begleitet, ist dieses Mal nicht dabei, und so muss Marc sich selbst zurechtfinden, was ihm offensichtlich nicht ganz leicht zu fallen scheint. Denn er führt aus: »Ähm … dann bin ich nach Y-Stadt in die Herderschule gekommen (I: ja) zur 11. Klasse (I: ja) .. (fragend bis*) an was kann ich mich da noch erinnern* da hatten wir wohl auch so ne Einschulungszeremonie . ach ja und dann kann ich mich noch dran erinnern dass ich wie ich durch die Gänge gelaufen bin und die Aula gesucht hab weil da steht nicht Aula dran (I: mhm) da steht nur also ähm man kommt da durch so’n Gang und da steht Aula

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Treppe runter geh ich ja die Treppe runter und ich war das gewöhnt dass da riesengroß Aula dran steht es stand aber net Aula dran also bin ich weil ich ja dann logischerweise schon zu spät war ich die ganze Zeit gesucht habe (I: ja) dann total panisch durch die Gänge gerannt und zwei Mal zwei oder drei Mal die Sekretärin genervt .. ähm und hab sie dann schlussendlich doch gefunden . die Aula und dann weiß ich noch wie ich da rein gekommen bin und zwar al- is dann halt alles voller Leute gewesen (I: mhm) is ja klar das weiß ich noch« (610-636).

Als nach dieser Begrüßungsfeier der eigentliche Unterricht in den Klassenräumen beginnt, sitzt Marc »irgendwo hinten ganz hinten am Tisch irgendwo alleine« (654f.). An diesem Platz, der für Marc nur vage benennbar (»irgendwo«) und damit nicht lokal einordbar ist, sitzt niemand anderes. Marc findet keinen Tischnachbarn vor. Recht unverhofft gesellt sich dann aber in der ersten Stunde ein Mitschüler zu ihm, um gemeinsam mit Marc eine Gruppenarbeit im Biologieunterricht durchzuführen: »Und . ähm .. ja was ich dann noch weiß ist dass der .. wen hatten wir denn da . keine Ahnung auf jeden Fall die Lehrkraft vorne gemeint hat sie fänd’s lustig wenn wir eine Gruppenarbeit machen fand ich nicht so lustig weil ich hatte keine Gruppe (I: mhm) aber ähm also . einer der dann halt vor mir saß hat sich dann zu mir gesessen wir haben dann die Gruppenarbeit zusammen gemacht (I: ja) das fand ich eine sehr feine Aktion« (657-669).

Obwohl Marc bei der Durchführung der eher widerwillig in Angriff genommenen Gruppenarbeit nicht alleine bleibt und dann sogar sichtlich erfreut darüber ist, dass er Beistand erhält – schließlich wertet er die Handlung seines Mitschülers als »sehr feine Aktion« (669) –, gelingt es ihm nicht, frühzeitig in der neuen Klasse Kontakte zu knüpfen, die seiner Integration Vorschub leisten. Ein engerer Kontakt zu dem hier erwähnten Mitschüler resultiert erstmals nicht aus der gemeinsamen Gruppenarbeit. In den Pausen sitzt Marc dann auch »auf so einer Bank an so ner Fensterreihe« (672f.), um dort Musik zu hören, da er niemanden hat, mit dem er sich unterhalten kann. In der lebensgeschichtlichen Erzählung heißt es dann: »Ja und ansonsten saß ich dann halt also weiß ich noch wo ich dann ich saß dann meistens auf so einer Bank an so’ner Fensterreihe (I: mhm) und hab Musik gehört die Pause lang weil mit wem sollt ich mich auch unterhalten« (671-676). Gewiss ist zu konstatieren, dass Marc mit dieser Vorgehensweise seine soziale Isolation geradezu bestärkt. Der Konsum von Musik wirkt hier nämlich als Beförderung der Isolation; er ermöglicht durch die Art und Weise des Rückzugs gerade nicht die Herstellung von Peer-Kontakten. Durch das Hören von Musik ›flüchtet‹ sich Marc aber auch in einen ästhetischen Bereich, nach

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Fischer eine »Repräsentation des Endgültigen und Vollkommenen« (Fischer 1967: 73), welcher ihm dabei hilft, seine soziale Isolation zu vergessen und die für ihn unbefriedigende Situation so gut wie es geht zu ertragen. Damit greift er auf ein durchaus bewährtes Handlungsmuster zurück, ›extrahiert‹ es aber aus einem anders gelagerten Problemkontext. Denn während der bereits erwähnten Weisheitszahn-OP, in deren Anschluss er ›illegitimerweiese‹ am Coopertest teilnehmen muss, wird ihm von den behandelnden Arzt empfohlen, Musik zu hören, wodurch die Operation für ihn erträglicher wird: »Ah dann hat ich Weisheitszahnoperation (fragend bis*) wann war das denn* .. das war nicht so spät das müsste neunte Klasse so um den Dreh gewesen sein ähm . da hat ich wurd ich örtlich betäubt da weiß ich von der Operation auch noch alles also ich hab währenddessen Musik gehört (I: mhm) das äh wurd mir so empfohlen (I: ja ja) von meinem Chirurg und fand ich auch gut . ähm .. das war noch so die Zeit wo ich Punk gehört hab« (444-455).

Zu dieser Zeit ist sein Bezug zur Musik allerdings noch nicht so stark ausgeprägt, wie zu Beginn der Oberstufe. Denn in der Zwischenzeit hat sich nicht nur die von ihm präferierte Musikrichtung vom Punk weg und zum Metal hin bewegt, sondern auch eine deutliche intensivere Auseinandersetzung mit den textuellen und musikalischen Elementen stattgefunden, welche ebenfalls in Verbindung zu den eigenen Stimmungen und Gefühlslagen gebracht werden. Ein solches ästhetisches Erleben ist durchaus als Spezifikum der späten Reifezeit zu verstehen (vgl. Fischer 1967: 12). Und Marc reflektiert auch die Gründe des Gefallens bzw. Nicht-Gefallens der Musikstücke: »Also ich hab erzählt dass ich dann früher auch zu der Zeit wo meine Weisheitszahnoperation eher so auf dem Punktrip war (I: mhm) also Punk gehört hab (I: ja) da war das eigentlich noch gar nicht so also da war ich hab ich zwar auch gern Musik gehört und auch viel Musik gehört aber äh hätte noch nicht so so’n engen Bezug das hab ich erst seit . das war dann ein Jahr oder zwei später als ich dann richtig angefangen hab so M- also Metall zu hören (I: mhm) oder auch mal da die also verschiedene Stilrichtungen anzugucken (I: mhm) verschiedene Bands und überhaupt . und . ja eigentlich hör ich dann so dass was . ähm also ich denke dass der enge Bezug sich äh ausgebildet hat weil ich dann doch eher so das höre was auch auf mich passt (I: mhm) halt also dass ich eher so . ähm . Sachen hör also jetzt nichts also ich hör auch so’n paar so Spaßbands die jetzt nicht wirklich ernstzunehmende Texte haben oder so ähm aber ich hör halt äh halt auch viel Sachen wo dass was dann auch halt lyrisch drauf passt wie ich mich entweder fühle oder schon Mal gefühlt hab oder ähm . so was und ich weiß nicht ich denk mal dass es auch daran dass ich

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mich dass ich mich dann halt so so eingehend mit dem Thema Musik überhaupt beschäftigt hab (I: mhm) und ähm . dass ich auch halt angefangen zu gucken also warum hört sich das jetzt für mich speziell so an und warum mag ich das jetzt nich und was sind da Elemente drin die ich nich gut finde oder die ich grad gut finde (I: mhm) ähm dass mit dieser also dadurch dass ich mich da so eingehend mit beschäftigt hab das is halt dadurch so ne enge Bindung zustande gekommen is« (1478-1519).

Indem Marc vor dem Hintergrund der in dieser Passage geschilderten Sensibilität und Reflexivität die Schulpausen in den ersten Wochen auf der Herderschule mit Musikhören verbringt, gelingt es ihm vorübergehend seine Einsamkeit zu kompensieren. Und er arrangiert sich in gewisser Weise mit seiner Situation. Er versucht nämlich gerade nicht durch gezielte Maßnahmen, mit denen er die ›Persönlichkeit‹ von Grund auf ändert, seine Beliebtheit zu steigern und zwanghaft Anschluss an Mitschüler zu finden. Anbiederungen erfolgen so nicht. Vielmehr bleibt Marc sich selbst treu. Nach und nach findet er sich mit dieser Haltung in die Klassengemeinschaft ein: »Ähm irgendwann zwischendurch ging das dann mit dem Klassengefüge dann erinnere ich mich noch an halt so’n paar Stunden also wir hatten unser Klassenlehrer war auch unsere Geschichtslehrer und dann erinnere ich mich an ein paar lustige Geschichtsstunden und ein paar lustige Klassenlehrerstunden« (677-682).

So fühlt er sich nach einiger Zeit recht wohl in der Klasse, und das, obwohl es innerhalb der klasseninternen Schülerschaft eine Aufteilung in zwei Gruppen gibt, die sich wechselseitig nicht mögen. Auch stößt Marc auf Grund seiner Vorliebe für Heavy-Metal nicht überall auf Gegenliebe, sodass ›seine‹ Musik auch hier keine Integrationsfunktion erfüllt: »Also dadurch dass ich halt diese Musik höre die ich höre (I: mhm) dadurch dass ich halt äh auch sehr viel mit der Musik aus- mich auseinandersetzte wird man auch gerne in so Schubladen gesteckt« (1811-1816). Das geschieht vor allen Dingen durch eine Mitschülerin Marcs, die er auch als seine »Nemesis« (1795) bezeichnet. Zwar bleibt im Rahmen seiner lebensgeschichtlichen Erzählung unklar, inwiefern er von ihr beleidigt wird. Deutlich wird zumindest, dass Marc von ihrer egozentrischen Art regelrecht angewidert ist und es entschieden ablehnt, »irgendwen nach seiner Musik« (1819) zu beurteilen. Einsamkeitserlebnisse und das starke Gefühl sozialer Exklusion scheinen im Klassenverbund fortan aber nicht mehr vorzuherrschen. Marc freundet sich nun auch mit jenem Mitschüler an, mit dem er ganz zu Beginn die Gruppenarbeit im Biologieunterricht durchgeführt hat. Mit diesem ist er unterwegs, besucht ihn und bereitet gemeinsam mit ihm Referate vor:

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»Mhm dann .. hab ich ähm .. ja viel mit einem aus meiner Klasse gemacht dass dann auch interessanterweise der war der sich am Anfang dann zu mir gesetzt hatte (I: mhm) in an diesem ersten Tag ähm mit dem war ich dann immer noch so’n bisschen unterwegs ein paar Mal auch bei ihm zu Hause . ähm .. (fragend bis*) haben wir denn da gemacht* net viel . ah en pa- ein paar Mal war ich da während wir Referate gehabt haben« (686-695).

Auch die unmittelbar darauf getroffene Interviewaussage macht deutlich, dass Marc nun tatsächlich das Gefühl hat, integriert zu sein: »Dann .. an so das Feeling von Pause wenn man dann in irgend’ner Traube Menschen steht und überall um einen rum stehen noch’n paar Trauben Menschen und alle labern durcheinander (lachend) da kann ich mich noch dran erinnern« (696-699). Zu dieser hier zum Ausdruck gebrachten positiven Stimmung dürften auch anderweitige mitmenschliche Verhältnisse außerhalb des familialen Kontextes entschieden beigetragen. Marc ist nämlich sehr von seinem Tutor und dem von ihm gestalteten Unterricht so beindruckt, dass er das Lehrerhandeln als durchaus beispielhaft wertet: »unser Tutor war klasse« (765). Während er die Lehrer der Comenius-Schule stark abwertet und im Verlauf der dort verbrachten Schuljahre auch mehrere Male in Auseinandersetzungen mit ihnen gerät, zuerst mit seinem Sportlehrer, dann mit seinem Religionslehrer und schließlich während der Abschlussfahrt mit seiner Klassenlehrerin, äußert er an seinem Tutor kein einziges kritisches Wort. Insofern könnte auch zu erklären sein, wieso Marc trotz seiner schlechten Erfahrungen auf der Comenius-Schule die Schule insgesamt als eine wichtige Institution ansieht, die – unter entsprechenden Bedingungen – zur Entwicklung einer Zusammenhänge erkennenden und Sachverhalte durchdenkenden Persönlichkeit beiträgt: »Und man bekommt ja dann so ähm Denkstrukturen mit ob das jetzt aus naturwissenschaftlichen Fächern is eher so analytische Denkstrukturen oder ähm das man dann auch mal so deswegen find ich’s auch gut also ich sach nich dass irgendein Fach Schwachsinn wäre oder so oder dass man dann halt ähm (schluckend) . ja aus den sprachlichen Fächern erst eher so lernt zu Diskutieren oder ähm dann auch mal so ähm . ja so .. is ja nich unbedingt analytische Denkstrukturen die man da an den Tag legen muss (I: mhm) sondern eher ähm . ja so Verknüpfungsgeschichten. Also man muss sich dann denken also muss sich ja dann überlegen was damit ausgesagt werden soll (I: mhm) was da steht und so ähm und also das hilft einem dann natürlich auch dann weiter das vor allen Dingen dass man dann Politik und Wirtschaft und so lernt äh wenn man Zeitungsartikel liest . dass man dann auch unterschwellige Kritik oder Meinungen die der ähm Autor mitklingen lässt dann eher herausfiltern kann und dass man das dann (I: OK) ähm ja also dass man dann halt quasi weiß was man da liest (I: mhm) und ja ich find das halt auch diesen dieses umfassende

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Wissen was man da mit äh vermittelt kriegen soll find ich halt gut dass man ähm mhm Zusammenhänge besser erkennen kann« (2052-2080).

Die subjektive Zufriedenheit mit sich und den Anderen befördert vermutlich auch der Umstand, dass Marc gegen Ende der 11. Klasse seine erste Freundin kennenlernt und hierdurch den implizit bzw. latent gegebenen Erwartungen an die Erfüllung von Entwicklungsaufgaben im Jugendalter gerecht wird: »Ähm da hab ich meine Freundin kennengelernt zu der Zeit also das war so Ende elf Anfang zwölf (I: mhm) . ähm meine erste (lachend) relativ spät angefangen mit so was ähm . dann erinner ich mich auch noch . also an die Zeit mit ihr erinner ich mich klar noch relativ . detailgetreu eigentlich äh bildlich« (768-775). Von diesen detailgetreuen und bildlichen Erinnerungen erzählt Marc im Interview dann allerdings nicht. Wohl aber führt er aus, dass er sich nach einem Jahr von seiner Freundin bereits wieder trennt und diese Zeit als »emotional sehr nervenaufreibend« (796f.) erlebt. Kurz zuvor schon – wann genau bleibt unerwähnt – fängt er an, das Multiplayer-Online-Rollenspiel »World of Warcraft« zu spielen, mit dem er sich »so ein bisschen mit drin ausleben so’n bisschen die Phantasie halt mal so ähm ziehen lassen« (1521ff.) kann. Denn dieses Spiel – so sagt es Marc (1525f.) in einer Formulierung die sein geradezu immersives Erleben zum Ausdruck bringt – »is ja im Prinzip so dass man wie so ein zweites Leben führen kann«. Und zu diesem zweiten Leben gehört es für ihn in »Interaktion mit Menschen« (1209) zu treten, um mit ihnen im Spiel ›herumzuziehen‹. Doch bei »World of Warcraft« spielen für Marc auch Möglichkeiten der kreativen und phantasievollen Auseinandersetzung im Spiel eine bedeutende Rolle: »Ähm und auf jeden Fall hab ich mich dann mal mit dem . Konzept MultiplayerOnlinerollenspiel auseinandergesetzt und warum ich dann bei World of Warcraft im Endeffekt gelandet bin is weil ähm .. es is halt es gibt halt extra Server dafür in auf denen man auch Rollenspiel betreiben kann also (I: mhm) nich nur dieses . ach keine Ahnung (lachend) ähm .. möglichst den Charakter möglichst schnell möglichst stark machen mit möglichst guten guter Ausrüstung behaften sondern halt wo man wirklich auch ma äh für seinen Charakter ne Story ausarbeiten kann und die nachher aber auch spielen kann (I: mhm) ähm dieses Rollenspielelement das war halt so (I: ja) in World of Warcraft ist das so das einzige Onlinerollenspiel wo es so was gibt (I: mhm) in allen anderen Rollenspielen is ja eh egal weil man hat ja keine Interaktion mit Menschen (I: ja) ähm . und deswegen bin ich halt dann im Endeffekt da dabei hängengeblieben weil ich das halt auch ähm also das fand ich halt wichtich dabei (I: mhm) . das is halt das was mir so so richtig Spaß macht ach und ähm mit den Leuten dann ich bin dann auch meistens halt immer mit den gleichen Leuten zieh ich dann rum ich kenn auch da nicht so viele ähm .. ja aber da jetz

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das Rollenspielelement .. das find ich halt gut (I: mhm) ja das macht so die Faszination davon für mich aus« (1187-1222).

In gewisser Weise scheint das Faszinierende für Marc darin zu liegen, ohne größere Anstrengungen und von realen Konsequenzen entlastet in Kontakt mit Menschen zu kommen, mit denen er ausgedachte Geschichten bestreitet, die dramaturgisch geschickt aufgebaut sind und durch ihre ›Narrationsstruktur‹ gemeinschaftsbildende Kraft entfalten. Eine Tendenz zur Realitätsferne, die nach Petzelt (1965) für die ›Pubertät‹ charakteristisch ist, kann bei diesen Aufenthalten in virtuellen Welten gewiss nicht abgestritten werden, wenngleich Marc auch sagt, dass er durchaus in der Lage sei, zwischen Realität und Virtualität zu unterscheiden: »Ich hab dann schon noch einen Sinn für Realität (lachend) (I: OK) (schnell gesprochen bis*) auch wenn ich oft vorgeworfen krieg dass ich den nicht mehr hab nur weil man hört dass ich World of Warcraft spiele aber* macht ja nichts« (803-808). Marc nutzt das Spiel aber nicht nur zum Erleben virtueller Gruppenaktivitäten und spielerisch-kreativer Ausdrucksformen, sondern auch »als Kontaktbörse quasi« (1899f.), wodurch er – nachdem die Beziehung zur ersten Freundin bereits in die Brüche gegangen ist – eine Mitspielerin näher kennenlernt: »Dass ich äh über World of Warcraft dann (I: mhm) als Kontaktbörse quasi auf jeden Fall einen kennen gelernt hab mit dem ich sehr gut reden konnte (I: ja) und wo ich mich dann auch sehr verstanden gefühlt hab (I: ja) ähm . nu war die Person auch ne Frau (lachend) und ich war mir halt über mich selber nich so ganz klar was das jetzt eigentlich für mich is (I: mhm) also ob ich jetz mich auch in sie verschossen hab oder ob’s mir eigentlich egal is oder was« (1897-1912).

Die in dieser Passage geschilderte Unentschiedenheit und Gefühlsverwirrung führt ihn letztendlich zu einem ›Aha-Erlebnis‹, im Zuge dessen er soziale Beziehungen für sich neu auslotet. Denn Marc hat zu diesem Zeitpunkt nicht nur einen besten Freund, sondern auch eine beste Freundin, von der er allerdings kaum etwas erzählt. Deshalb kommt sie – wie auch der beste Freund – ebenfalls recht anonym daher. Durch die Computer-Bekanntschaft gelingt es Marc nun aber die soziale Beziehung zu der besten Freundin für sich ›richtig‹ einzuordnen. Bislang war die beste Freundin nämlich eine rein ›platonische‹, mit der man gute Gespräche führen und »über alles Mögliche reden« (1769) konnte. Nun stellt er indes fest, dass er »eigentlich Hals über Kopf in sie verliebt« (1890f.) ist. Auf diese Weise belegt er sowohl die Beziehung zur besten Freundin als auch die zur Computerspielgefährtin mit einem neuen Wert. Der bis dato besten Freundin nä-

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hert er sich emotional an; er bemerkt, dass er in sie verliebt ist. Auf die Beziehung zur Mitspielerin von »World of Warcraft« entwickelt er hingegen eine distanzierte Sichtweise: »Und ähm dadurch halt dass ich das realisiert hab dass ich mich in diese beste Freundin die jetz aber also stofflich ist (lachend) also nicht niemand aus World of Warcraft (I: ja) ähm hat ich dann . ähm ne eher distanzierte Sichtweise auf diese andere Beziehung sag ich mal da aus aus dem Spiel und dann (I: mhm) is mir halt da’n Licht aufgegangen sozusagen« (1914-1924).

Marc erzählt hier also seinen Erfahrungsablauf, der das Plötzliche der Erkenntnis deutlich macht und im Kontext der Themen um Geschlechtszugehörigkeit, Freundschaft und Emotionalität vonstattengeht. Für Marc tauchen damit inmitten der Spielwelt, die mit jenen Themen erst einmal nicht allzu viel zu schaffen hat, Möglichkeiten auf, soziale Beziehungen zwischen ihm und anderen zu bedenken, um so ertragreiche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Doch nicht nur über das Computerspiel »World of Warcraft« kommt Marc zu Einschätzungen über sein Verhältnis zu sich selbst und anderen. Auch dadurch, dass er über den Heavy-Metal Gleichgesinnte findet und mit ihnen Konzerte sowie Festivals besucht, gelingt es ihm, nicht nur seinem Bedürfnis nach Freundschaft nachzukommen, sondern auch Aspekte seines Selbst- und Fremdverhältnisses zu klären. Eine uneingeschränkte soziale Anerkennung, so wie er sie in der Mittelstufe verfolgte, scheint hier nicht mehr das Ziel zu sein. Vielmehr zeigt er sich zufrieden, wenn er in Gemeinschaft einer kleinen Gruppe von Menschen ist, die er gut kennt und mit denen er sowohl gemeinsam Konzerte besuchen als auch die Leidenschaft für die Musik teilen kann. Wenn das der Fall ist, dann – so sagt es Marc im Rahmen seiner lebensgeschichtlichen Erzählung – hat er auch als »Einzelgängertyp« (1382) kein Problem damit, sich in Gesellschaft zu begeben: »Ähm aber ich würd sagen dass dies halt auch eher . ja die Art wie ich mein Leben führe widerspiegelt weil also das is eigentlich so dass ich eher der Einzelgängertyp bin mich aber gut halt in Gruppen oder Gemeinschaften einfügen kann (I: mhm) also wenn ich mal sehe was ich dann denen bringe quasi (I: mhm) (schluckend) äh dann hab ich auch kein Problem damit mich in Gesellschaft zu begeben oder so also ich bin jetz nich irgendwie Gesellschaft stark abgeneigt aber (I: ja) es is auch nich so dass ich jetz also ich geh abends zum Beispiel nie weg eigentlich (I: mhm) wenn ich mal weggeh dann auf Konzerte (I: ja) aber da auch nie alleine sondern dann halt auch dann mit Leuten mit denen man dann die Leidenschaft für die Band die Musik was auch immer teilt (I: mhm) (schluckend) also ich

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würd eigentlich schon sagen dass ich ähm ich bevorzuge aber allerdings eher kleinere Gruppen also große Menschenaufläufe (I: mhm) hab ich zwar auch kein Problem mit also (I: mhm) is auch überhaupt gar kein Ding aber äh mhm ich bevorzuge dann lieber also eher die Gesellschaft von äh ner kleinen Gruppe an Menschen die mich auch richtig gut kennt (I: mhm) also würd ich schon sagen dass ich im Prinzip eigentlich eher der Einzelgänger bin« (1380-1417).

Im Kontext dieser Passage spricht Marc nun zwar auch von konkreten Gruppenerlebnissen; er erzählt von drei Musikfestivals, die er zusammen mit befreundeten Metal-Anhängern besucht hat. Insgesamt besehen wird aber deutlich, dass es für Marc nicht gemeinsame Erlebnisse sind, an denen er den Wert einer Freundschaft ausmacht. Vielmehr stellen bei ihm »über alles Mögliche reden zu können« (1769) und »verstanden zu werden« (1772) die basalen Bestandteile seines Freundschaftskonzepts dar. Wie in der sozialen Beziehung zu seiner Mutter sind für ihn dabei ein offener Umgang und Akzeptanz im zwischenmenschlichen Umgang zu Gleichaltrigen bedeutsam. Das deckt sich insofern mit jenen Ausführungen, die im Kontext von Wolfgang Fischers jugendtheoretischem Entwurf (siehe Kap. 3.2.2) präsentiert wurden, als auch diese das jugendliche Bedürfnis nach einer Freundschaft betonen, die durch einen vertrauten Kontakt und den gegenseitigen Einblick in das ›Innere‹ charakterisiert sind (vgl. Fischer 1966b: 83). Und Freunde werden in Jugend- und Gleichaltrigengruppen gefunden. In diese hat sich Marc aber gerade lange Zeit nicht sonderlich gut integriert gefühlt. Insofern verwundert es vermutlich nicht, dass Aspekte der Themen um soziale Anerkennung, Freundschaft und Einsamkeit in Marcs lebensgeschichtlicher Erzählung immer wieder hervortreten und er in gewisser Weise als Kompensator für fehlende Akzeptanz bei Gleichaltrigen und Klassenkameraden die Bedeutung seiner Mutter stark macht. Und wenn es im exmanenten Nachfrageteil des Interviews darum geht, was er in der Welt gerne ändern würde, dann tritt seine wertschätzende Haltung gegenüber einer ›ganzheitlichen‹ Akzeptanz, die im Rahmen von mitmenschlichen Verhältnissen waltet, abschließend nochmals besonders deutlich hervor. Diese wird vor dem Hintergrund eigener biographischer Erfahrungen geltend gemacht und mit einem Plädoyer für Toleranz verknüpft: »Also wie gesagt was mich halt äh auch an anderen Menschen nun sehr stört hab ich ja auch schon gesagt is so Intoleranzgeschichten (I: mhm) . ähm . dass wär so eigentlich dass das is halt sehr unkonkret und sehr schwammich aber (I: ja) das is so das einzige was ich äh ändern wöllte (I: mhm) ähm dass halt mhm dass dass . ja aufhört kann man ja schlecht sagen aber ähm dass son mhm vom menschlichen Faktor her ein gegenseitiges Akzeptieren halt herrschen kann (I: mhm mhm) was halt . schwierich zu realisieren wäre (schlu-

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ckend) weil also als Mensch is man natürlich immer irgendwo Egoist nur die Sache is halt die einen mehr und die anderen weniger (I: ja) und ähm das ist glaub ich der eigentliche Knackpunkt also dass man zu sehr also dass manche Menschen wohl zu sehr auf sich selber achten und mhm nur als das für wahr erachten was sie selber denken und so (I: mhm) und dass man also dass allgemein ein bisschen die Toleranz für alles Mögliche eben ähm da is also ich könnt jetz nich mal unbedingt sagen dass mich nur stört Rassenintoleranz oder ähm gedankliche Intoleranz (I: mhm) oder Glaubensintoleranz oder so was sondern dass es im Prinzip also der ganze Topf is (I: OK) dass ich weder das eine gut abkann noch das andere (I: mhm) und was ähm also dadurch dass ich halt jetz außer . ähm Rassenhass alles fast alles schon mal selber erlebt hab (schluckend) ähm … ja und das is das würd ich halt ändern« (2112-2153).

5.1.4 Zusammenfassende Betrachtungen: Die Bedeutsamkeit der Selbstverhältnisse in der ›Bildungsgestalt‹ Marcs Wenn ›Bildung‹ – wie in Kap. 3.2 präsentiert – dadurch gekennzeichnet ist, dass man die eigenen Lebensvollzüge nicht als selbstverständlich nimmt, sondern sie im Modus der intentio obliqua in ihrem Sosein kritisch wertet und auf diese Weise heraus zu neuen Deutungen gelangt, dann zeigt sich diese Struktur in der lebensgeschichtlichen Erzählung Marcs in aller Deutlichkeit. Die uneingeschränkte soziale Anerkennung als wirksames Idealbild – man könnte sogar von einer ›Bedürfniseinflüsterung‹ sprechen – ist eine scheinbare Selbstverständlichkeit, die Marc im Lauf seines Lebens unter die Lupe nimmt. Sie übt auf ihn im frühen Jugendalter, der ›Vorpubertät‹ bzw. frühen Reifezeit, wie sich mit Petzelt und Fischer sagen lässt, auf Grund seiner biographischen Erfahrungen – Umzug, Herauslösung aus Verwandtschaftsnetzwerken, frühes Verlassen des Klassenverbands und abermalige Integrationsanstrengungen – eine besondere Attraktivität aus, der er als umfassende Aufgabe nachkommen will. Im Kindesalter kommt er mit Gleichaltrigen allerdings kaum zurecht. Freundschaften, die über die schulischen Kontakte in den außerschulischen Freizeitbereich hineinragen, bestehen zu dieser Zeit überhaupt nicht. Marc belastet die nicht gewährte Anerkennung durch Gleichaltrige in der Mittelstufe dann aber so sehr, dass er aktiv Mittel und Wege sucht, um diese zu finden. Hierbei nimmt er einen Wechsel seiner Religionszugehörigkeit in Kauf und erhofft sich so, auf der protestantisch geprägten Privatschule bei seinen Mitschülern Wertschätzung zu erhalten. Es sind die intensiven Gespräche mit seiner Mutter, die ihn dann von diesem Vorhaben abhalten und die Einsicht in die Kurzsichtigkeit des Plans hervorbringen. Denn eine Konversion zum Protestantismus hätte ihm, wenn überhaupt, wohl nur punktuell und

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zeitlich befristet soziale Anerkennung verschafft. Dabei scheint gerade auch die Konversionsthematik bei der Mutter – vermutlich wegen ihrer eigenen biographischen Erfahrungen mit Marcs Vater, welcher der Scientology-Sekte beigetreten ist – auf besondere Sensibilität zu stoßen. So ist sie bereit, die z.T. ermüdenden Gespräche immer wieder und aufs Neue zu führen, um Marc mit überzeugenden Argumenten von seinem Vorhaben abzubringen. Marc lässt im Zuge dieser Gespräche von seinem Vorhaben einer religiösen Konversion ab und entwickelt im Lauf der Zeit eine kritische Haltung, die sich vor allem gegenüber sich selbst und seinem gehegten Plan richtet. Dies wird verdeutlicht in einer von Marc getroffenen ›Kernnarration‹: »dass ich dann halt gemerkt hab dass ich das eigentlich nur machen will damit ich irgendwo Akzeptanz finde« (1701-1703). Wenn Marc davon berichtet, dass er zum damaligen Zeitpunkt eine Konversion zum Protestantismus bloß deshalb in Erwägung zieht, um Akzeptanz zu finden und aus heutiger Sicht heraus diese Überlegung als illegitim erachtet, dann dürfte die Rolle der Mutter bei diesem Deutungswandel indes kaum zu überschätzen sein. Denn sie ist es, die Marc immer wieder in erörternde Gespräche verwickelt. Bildungstheoretisch formuliert lässt sich deshalb durchaus sagen, dass die Mutter ihren Sohn ins Denken einbezieht und eine Infragestellung seines ›Für-Wahr-Haltens‹ initiiert. Die Mutter verhilft Marc also dabei, seinen Blick zu schärfen und sich u.a. mit Fragen auseinanderzusetzen wie: Was will ich wirklich? Was ist mir wichtig? Was ist sinnvoll und gerechtfertigt? Damit macht sie das, was nach Petzelts und Fischers Überlegungen zu den zentralen Aufgaben verantwortlicher Eltern gehört: dem Jugendlichen beistehen und das eigenständige Werten stark machen (vgl. Petzelt 1965: 106; Fischer 1966b: 57ff.). Und gewiss sind die Gründe des Gelingens dabei im Zusammenhang der in Kap. 5.1.1 zum besonderen Gegenstand erhobenen Sozialbeziehung zu sehen, in der – als ›du-bezogene‹ – die Mutter für Marc eine gleichsam existenzielle Bedeutung hat. Dass Marc jedoch auch nach der Entscheidung gegen eine religiöse Konversion mit Problemen sozialer Exklusion konfrontiert ist und sich am Wunsch nach umfassender Anerkennung regelrecht abarbeitet, zeigen dabei die Ereignisse in den folgenden Jahren: Etwa wenn er während der Mittelstufen-Abschlussfahrt deshalb in Disput mit seiner Klassenlehrerin gerät, weil er die Nähe zu seinen Schulkameraden der Parallelklasse und nicht zu seinen eigentlichen Klassenkameraden sucht oder wenn in der Oberstufe und trotz neu eingerichteter Klassengefüge Schwierigkeiten hat, Anschluss an seine Mitschüler zu finden. Selbst zum Zeitpunkt des Interviews ist ihm soziale Anerkennung noch wichtig, sodass die Überwindung bzw. Vermeidung sozialer Exklusion für Marc ein akutes biographisches Projekt darstellt. Nun verfolgt er jedoch keine gleichsam bedin-

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gungslose Anerkennung mehr, sondern möchte sich stattdessen auf wenige gute Freunde und Bekannte verlassen. Dabei erachtet er den Besuch von Konzerten mit Gleichgesinnten und – noch mehr – das intensive Gespräch unter Freunden als besonders wichtig. Für die Beendigung des Drangs nach uneingeschränkter sozialer Anerkennung und der Hinwendung zu einer ausgewogeneren und anspruchsloseren Gestaltung der Sozialbeziehungen lässt sich weder ein zentrales Konversionserlebnis noch ein spontaner Handlungsimpuls angeben. Auch kann beides nicht mit einer Hervorbringung neuer Idiome im Widerstreit von Diskursarten oder Marcs Geschlechtskonstruktion zusammengebracht werden. Und wenngleich jenen Umständen, die Anlass der fortdauernden Gespräche zwischen Mutter und Sohn darstellen, auch ein krisenhafter Charakter nicht gänzlich abgesprochen werden kann, so erfolgt der Ausweg aus der für Marc unbefriedigenden Situation keineswegs auf emergente Weise. Denn er wird weder überraschend noch unintendiert veranlasst. Vielmehr erwächst die ›Haltungsänderung‹, die auf das Verhältnis zwischen Ich und Anderen gerichtet ist, ganz allmählich aus dem Befragen persönlicher Leitbilder. Marc spürt gleichsam dogmatisierende Elemente seines Selbstverhältnisses auf, indem er an sich selbst gerichtete Ansprüche als unbegründet und haltlos entlarvt. Auf diese Weise erfolgt sukzessiv die Hervorbringung einer Treue zu sich selbst. Marc verstellt sich für andere nicht und biedert sich nicht an; eine Änderung seines Musikgeschmacks zieht er etwa zu Beginn der Oberstufe nicht in Erwägung, um Beliebtheit bei seinen Klassenkameraden zu erlangen. Er nimmt es vielmehr in Kauf, von einigen auf Grund seiner musikalischen Vorlieben in ›Schubladen‹ gesteckt zu werden. Menschen, die ihn trotzdem oder gerade deshalb achten, sind jene, die als Freunde in Frage kommen. Marc gerät also, so die in der Rekonstruktion gewonnene Lesart, in einen Prozess, der es ihm im weiteren Verlauf seiner biographischen Entwicklung erlaubt, nicht nur seine Selbstverhältnisse zu befragen, sondern sich auch kritisch – d.h. im Bewusstsein von Gründen – auf andere Menschen und Themen der Welt zu beziehen. Das macht er etwa, indem er den Lehrer der Comenius-Schule ihre Beispielhaftigkeit abspricht, indem er reale und virtuelle Sozialbeziehungen für sich neu auslotet oder indem er sich für Toleranz und Akzeptanz als verbindliche Werte ausspricht. Inwieweit die errungene kritische Haltung sowie die gewonnene Stabilität seiner mitmenschlichen Beziehungen dabei aber tragen, dürfte ›prädiktorisch‹ kaum genau zu erfassen sein. Schließlich steht für Marc mit Abschluss der Schullaufbahn und dem Beginn des Studiums auch eine Neuorientierung vor der Tür, die ihn vor Herausforderungen in Form abermaliger Integrationsanforderungen stellt: Im Studium gilt es z.B. sich Gruppen selbst zuzuordnen, den Kon-

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takt zu Kommilitonen herzustellen, sich auf Gruppenarbeiten und schwierige Kommunikationssituationen einzulassen, mit Hochschullehrern zu korrespondieren usw. Vor dem Hintergrund der in Kap. 2 vollzogenen gründlichen Bestandsaufnahme von Konzeptionen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen macht die Rekonstruktion der lebensgeschichtlichen Erzählung Marcs deutlich, dass es zugunsten eines pädagogischen Erkenntnisgewinns lohnend ist, ›Bildung‹ in autobiographischen Zusammenhängen nicht ausschließlich in Form von Wandlungsprozessen zu fassen. Man ist vielmehr auf inhaltliche Kategorien angewiesen, denn erst Topoi wie der Zweifel am Wert des Ich, die Vollkommenheitssuche und die Auseinandersetzung mit der Frage, wie das Leben zu leben ist, können wichtige Spezifizierungen leisen und Differenzierungen kenntlich machen. Sie stellen ›Bildung‹ damit nicht der Beliebigkeit anheim. Bei Marc sind es mit dem Versuch einer Wertsteigerung des Ich und der Konfrontation mit Einsamkeitserlebnissen jene auf das Verhältnis zu sich selbst bezogenen bildungstheoretischen Topoi, die bedeutsam sind. Fasst man dabei – mit Wigger (2006: 111) und über ihn hinaus gesprochen – unter einer ›Bildungsgestalt‹ die mit Wertungen einhergehende »Stellung zu den objektiven Bedingungen, zu anderen und zu sich selbst« als Ergebnis und Grundlage einer Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte, dann tritt hier demzufolge gerade das Selbstverhältnis Marcs hervor. Zugleich ist mit der Orientierung an der Mutter, die sich mit Petzelts Begriff der ›Du-Bezogenheit‹ als selbstverständlich hingenommene und unproblematisch empfundene Sozialbeziehung beschreiben lässt, aber auch ein Topos wirksam, ohne den Marc wohl kaum zur Hervorbringung seines Spektrums an Wertungen, Infragestellungen und kritischen Betrachtungen in der Lage wäre. Denn bei seiner Mutter findet er Unterstützung und Halt. Ihr Handeln nimmt er als beispielhaft wahr, sodass er keine Veranlassung sieht, sich – wie von Petzelt und Fischer als ›jugendphasenspezifisch‹ erachtet – ihr gegenüber zur Wehr zu setzen und Freiheiten zu erkämpfen. Sowohl in Form dieser ›Du-Bezogenheit‹ als auch durch die Fokussierung auf die Gewinnung sozialer Akzeptanz erfährt die Dimension des Fremdverhältnisses im Rahmen von Marcs ›Bildungsgestalt‹ also ebenfalls an Bedeutung, ohne dass sie allerdings zum vorherrschenden Faktor wird. Insofern steht Marc für einen lebensgeschichtlichen Fall, in welchem ›Bildung‹ primär mit der Beziehung zu sich selbst in Verbindung steht. Denn es geht um ihn selbst: um seinen Zweifel am Wert des Ich, seinen Versuch einer persönlichen Wertsteigerung und die hierbei vollzogene Auseinandersetzung um die Infragestellung seiner selbst auf der einen und der Treue zu sich selbst auf der anderen Seite.

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Die nachfolgende Abbildung stellt die Bedeutsamkeit des Selbstverhältnisses in Marcs ›Bildungsgestalt‹ abschließend graphisch dar, indem sie auf das Ich gerichtete Topoi im Allgemeinen und seiner lebensgeschichtlichen Erzählung im Besonderen hervorhebt. Sie baut dabei auf die am Ende der im vorletzten Kapitel entfalteten Synopsis (siehe Kap. 3.3) auf, erweitert und konkretisiert sie aber. Zudem werden zwei zentrale Aussagen, die Marc während des Interviews trifft, in die Abbildung integriert. So ergibt sich – ohne dass nochmals sämtliche Aspekte der vorgenommenen Interpretation und Rekonstruktion berücksichtigt werden – eine auf das ›Wesentliche‹ fokussierte Veranschaulichung, die Marcs ›Bildungsgestalt‹ im Kontext der biographie- und bildungstheoretischen Markierungen deutlich macht. Abbildung 2: Marcs ›Bildungsgestalt‹ – im Kontext biographie- und bildungstheoretischer Markierungen

Selbstverhältnisse

Fremdverhältnisse

Weltverhältnisse

Marc (18 Jahre; Abiturient) Bestimmung des eigenen ‚Standorts‘ selbstkritische Betrachtung eigener Taten, Absichten und Vorstellungen Zweifel am Wert des Ich/ Verlangen nach einer Wertsteigerung des Ich Demonstration eigener Leistungen Suche nach eigener Beispielhaftigkeit Suche nach Vollkommenheit Konfrontation und Umgang mit Einsamkeit und Sehnsucht

‚Du-Bestimmtheit‘

Befragen von gesellschaftlichen Normen und Ordnungsmustern

Changieren zwischen persönlicher Bestimmung von Normen Werten in selbst »dass ichSuchen dann haltnach Infragestellung undund Treue zu sich eigenständiges

Unabhängigkeit von Anderen

kein Wechsel der Konfession zugunsten des Erlangens von Akzeptanz

Infragestellung der generationalen Bestreben, dasOrdnung Außenseiter-Dasein im erzieherischen Klassenverband zu überwinden

und

Werte-Übernahme von Tischtennis und schulischer Erfolg als ‚Abarbeitung‘ an Vorbildern Demonstrationsfelder

gemerkt hab dass ich das

Normen eigentlich nur machen will Problematisierung von damit ich irgendwo Weltanschauungen Akzeptanz finde«und Ideologien Wertung der Welt in eigener Begründung

Reflexion über Gründe und Bedingungen von »also ich empfinde das Weltverhältnissen Suche nach uneingeschränkter sozialer nicht als Grund einen Auseinandersetzung mit der Anerkennung Glauben anzunehmen« Wunsch nach Verstandenwerden, Frage, wie das Leben zu leben Anerkennung und Freundschaft Erleben von Einsamkeit zum Beginn der ist Plädoyer für Toleranz

Suche nach fremder Beispielhaftigkeit

Oberstufe; Kompensation durch Musik

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5.2 »H AB

ICH AUCH MIT MEINEN E LTERN DARÜBER GEREDET UND GEFRAGT WARUM SIE NICH MA IRGENDWIE IM U RLAUB MIT MEINER S CHWESTER GEREDET HABEN « – DIE 17- JÄHRIGE N ATALIE

Natalie2 wird 1990 in einer rheinland-pfälzischen Stadt geboren. Sie ist zum Interviewzeitpunkt 17 Jahre alt. Die Mutter Natalies ist als Industriekauffrau tä-

2

Der Kontakt zu Natalie wird – wie bereits erwähnt – über den privaten Freundeskreis hergestellt. Natalie ist die Freundin des Bruders einer ehemaligen Kommilitonin; eine persönliche Bekanntschaft zu Natalie liegt vorab indes nicht vor. Erst nachdem Natalie ihre Bereitschaft signalisiert und das Einverständnis zur Weitergabe ihrer E-MailAdresse gibt, erfolgt die persönliche Kontaktaufnahme und die Vereinbarung eines Interviewtermins per E-Mail. In insgesamt fünf E-Mails werden Interviewzeitpunkt und -ort besprochen sowie konkretisiert. Natalie schlägt dabei den Ostersonntag vor, da sie diesen Tag bei ihren Eltern verbringt. Als möglicher Ort wird ein kleiner Park genannt, an dem ihrer Auskunft nach das Interview ungestört durchgeführt werden kann. Auch erkundigt sie sich, ob ihr Freund sie begleiten und während des Interviews anwesend sein könne. Mittels der Darlegung von Gründen gelingt es, deutlich zu machen, dass eine Begleitung zwar möglich, aber das Interview als reines Vier-AugenGespräch stattfinden sollte. An dem besagten Tag erscheint Natalie gegen 14:10 Uhr an dem vereinbarten Treffpunkt. Sie wird von ihrem Vater mit dem Auto gebracht. Dieser entschuldigt sich für die Verspätung und fragt nach der ungefähren Dauer des Interviews, um daraufhin Natalie zu sagen, dass sie ihn anrufen soll, wenn das Interview vorbei sei. Er käme dann nämlich und hole sie ab. Nach dieser Absprache suchen Natalie und ich uns eine der wenigen Parkbänke aus. Der vereinbare Interviewort war nicht gänzlich zufriedenstellend, da dort zu viel Publikumsverkehr herrschte. Aus Mangel an echten Alternativen erfolgt jedoch kein Standortwechsel. Natalie erfährt nochmals ausführlicher vom Prozedere des Interviews. Sie hört dabei aufmerksam zu und wirkt sehr ruhig. Auf die erzählgenerierende Frage reagiert sie trotz der anfänglichen Bekundung »ganz schön schwer der Anfang« (26f.) gut und gestaltet eine eigene lebensgeschichtliche Erzählung, die durch große Offenheit geprägt ist. Auf immanente und exmanente Fragen antwortet sie recht umfassend. Glücklicherweise lässt sich Natalie von den anderen Parkbesuchern nicht ablenken. Am Ende des Interviews füllt sie den Datenbogen aus. Auch wird ihr versprochen, eine Audioaufnahme des Interviews zu erhalten, weshalb sie bereitwillig ihre Adresse herausgibt. Nachdem ihr einige Tage nach dem Interview eine solche Kopie der Aufnahme zugeht, antwortet sie, bedankt sich für die Übersendung der CD und schreibt, dass ihr viel daran liege, eine Kopie der Interviewaufnahme zu besitzen.

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tig. Der Vater ist Werkstattleiter in einer Behinderteneinrichtung. Ihre Schwester Nina, zehn Jahre älter als Natalie, und Alexandra, sieben Jahre älter, wohnen nicht mehr im Elternhaus, sondern haben eigene Wohnungen. Auch Natalie wohnt nicht bei ihren Eltern. Stattdessen hat sie ihr Zimmer bei den Eltern der Mutter, die allerdings unmittelbar nebenan wohnen. Bereits in frühen Kindheitsjahren verbringt sie viel Zeit bei den Großeltern mütterlicherseits. Denn die Eltern gehen zuweilen sehr intensiv ihren beruflichen Beschäftigungen nach und können in dieser Zeit auf die Großeltern im Rahmen familialer Unterstützungsleistungen zählen. Womöglich hat Natalie gerade deshalb auch keinen Kindergarten besucht. Mit öffentlichen Bildungsinstitutionen kommt sie erstmals in der Grundschule in Berührung, wo sie auch Steffi, ihre beste Freundin, kennenlernt und mit ihr die ersten vier Schuljahre verbringt. Obwohl Natalie nach der Grundschule auf die Realschule wechselt und Steffi auf ein Gymnasium geht, haben beide – von einer kurzen Phase zu Beginn des Besuchs der weiterführenden Schulen abgesehen – bis heute engen Kontakt und unterstützen sich gegenseitig in schwierigen Lebenslagen. Von diesen gibt es gerade in Natalies Leben einige. So erkrankt Natalie kurz vor dem Übergang auf die Realschule an einer Schuppenflechte, mit der starke Hänseleien und Spott durch die Klassenkameraden verbunden sind. Diese setzen sie psychisch unter Druck. Weder bei ihren Eltern noch bei ihren Großeltern und Schwestern findet Natalie jedoch jene Zuflucht und emotionale Wärme, die sie in dieser Phase benötigt. Was sie im engsten Kreis der Familie nicht findet, sucht Natalie deshalb bei einer Nachbarin, die sie wiederum bereitwillig ›aufnimmt‹ und ihr das geben kann, was vor allem Natalies Eltern nicht zu geben imstande sind: Aufmerksamkeit und intensive Gespräche. Natalie besucht diese Nachbarin über geraume Zeit nahezu täglich und hält auch zu ihr, als sie wegen eines stationären Aufenthalts in einer Psychiatrischen Einrichtung zur Behandlung ihrer Depression über Monate hinweg nicht anzutreffen ist. Etwa zur gleichen Zeit kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen ihren Eltern und Schwestern. Alexandra, ihre sieben Jahre ältere Schwester, wird nämlich 18-jährig von ihrem Freund schwanger, treibt das ungeborene Kind – nicht zuletzt auf Grund der Ausübung eines massiven Konformitätsdrucks der Eltern – ab und wird einige Zeit danach von diesen aus dem Elternhaus ›geworfen‹. Nina, die zehn Jahre ältere Schwester, vermeidet es, die Eltern über ihre Homosexualität zu unterrichten, über die Natalie bereits durch Nina selbst informiert ist. Als Nina ihre homosexuelle Orientierung vor den Eltern doch noch ›beichtet‹, kommt es auch hier zum großen Krach mit Tränen und emotionalen Verletzungen.

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Natalie hat jedoch noch mit weiteren und von ihr im Verlauf der lebensgeschichtlichen Erzählung mehrfach mit dem Attribut »schlimm«3 bewerteten Ereignissen zurechtkommen: Als sie mit 14 Jahren »praktisch durch nen Zufall« (303) erfährt, dass der Vater aus einer früheren Beziehung eine Tochter hat, wovon sie als einziges Familienmitglied keine Kenntnis hat, erschüttert sie dies sehr. Vor allen Dingen aber belastet dieser Umstand ihr Vertrauensverhältnis zu den Eltern eklatant. Denn Natalie kann ihren Eltern diesen Verschweigensakt nicht verzeihen und versucht fortan, Licht in die Obskurität der Ereignisse zu bringen, wobei sie eine gleichsam kritisch-skeptische Haltung gegenüber den elterlichen Aussagen annimmt. Zudem stellt sie – nachdem sie das Für und Wider eines ins Auge gefassten Treffens mit ihrer Freundin Steffi bespricht – Kontakt zu ihrer 15 Jahre älteren Halbschwester Tanja her. Die Halbschwester lernt Natalie als nette Frau kennen, die ihr in gewissem Sinne auch als Vorbild dient. Denn Tanja ist als Erzieherin in jenem sozialen Berufsfeld tätig, in dem auch Natalie einmal arbeiten möchte, sodass sie mit ihr »super dadrüber reden« (332f.) und den potenziellen Ausbildungsweg planen kann. Ihren Eltern gegenüber verheimlicht sie jedoch dieses erste Treffen, bei dem sie von ihrer Schwester Alexandra begleitet wird. Nina, Natalies älteste Schwester, die diesem Treffen nicht beiwohnt und den Kontakt zur Halbschwester auch nicht sucht, tadelt sie deshalb und macht ihr klar, dass die Eltern über die Kontaktaufnahme in Kenntnis zu setzen seien. Dieser ›Aufforderung‹ kommt Natalie nach. Die Eltern lassen sich bei der Unterredung aber nicht auf Natalies Argumentation ein und wehren das Thema ab, sodass die Aussprache »irgendwann halt eskaliert« (1038) und Natalie den Entschluss fasst, sich mit ihrer Halbschwester weiterhin heimlich zu treffen. Das wiederum bemerken die Eltern alsbald und reagieren »ziemlich sauer« (1045), sodass im weiteren Verlauf sogar ein Auszug Natalies zur Disposition steht. In dieser Situation sind es die Großeltern, die gleichsam mediatorisch wirken und darauf hinarbeiten, dass Natalie und ihre Eltern wieder zusammenfinden, was auch gelingt, da sich das Verhältnis zwischen Natalie und ihren Eltern in der Tat bessert. Zum Zeitpunkt des Interviews möchte sie nämlich nicht mehr

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Der Ausdruck »schlimm« wird von Natalie auffallend häufig im Interview gebraucht. Sie verwendet ihn, um ihre Haltung und ihr Empfinden gegenüber einer erlebten Situation zum Ausdruck zu bringen. Insofern steht er für eine Kategorisierung bzw. Wertung. So etwa wenn sie sagt: »da hab ich mich dann mit meinen Eltern gar nicht verstanden das war ganz schlimm muss ich sagen« (50f.). Weitere Verwendungen des Wortes »schlimm« – jedoch kontextuell ähnlich gelagert – treten in folgenden Passagen des Transkripts hervor: 51, 114, 125, 420, 425, 524, 611, 672, 782, 1050, 1318, 1322.

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schleunigst ausziehen, sondern das Beziehen einer eigenen Wohnung zusammen mit ihrem Freund nach dem Abschluss einer noch ungefähr ein Jahr dauernden Ausbildung zur Sozialassistentin in Ruhe angehen. Dennoch dürften die Schwierigkeiten, die sie mit ihrer Familie – und weniger mit sich selbst – hat, bis dahin keineswegs erledigt, sondern nach wie vor und zumindest implizit wirksam sein. Mit den erarbeiteten bildungstheoretischen Bestimmungen wird im Folgenden Natalies biographischer Prozess punktuell eingehender untersucht, indem zuerst ihr Wunsch des Aufwachsens in ›intakten‹ Familienverhältnissen betrachtet und zusammen mit ihrem emotionalen Erleben rekonstruiert wird (siehe Kap. 5.2.1). Daraufhin werden ihr regelrechtes ›Management‹ familialer Sozialbeziehungen sowie ihr selbsttätiges Handeln in den Blick genommen (siehe Kap. 5.2.2). Abschließend geht es – vor einer Konklusion, welche zusammenfassend auf die Bedeutsamkeit der Fremdverhältnisse aufmerksam macht (siehe Kap. 5.2.4) – um ihre Suche nach ›Wahrheit‹ (siehe Kap. 5.2.3). 5.2.1 Das Erleben von Emotionalität und der Wunsch des Aufwachsens in ›intakten‹ Familienverhältnissen Bis in die Grundschuljahre hinein schildert Natalie ihre Kindheit als eine glückliche Zeit. Gerne und gut erinnert sie sich gerade an die wöchentlichen Schwimmbadbesuche, die etwa bis zu ihrem zehnten Lebensjahr stattfinden und mit dem Vater sowie den beiden Schwestern Nina und Alexandra, nicht aber unter Beteiligung der Mutter, erfolgen. Die Schwimmbadbesuche stellen für Natalie dabei – ebenso wie die häufigen Aufenthalte bei den Großeltern – regelmäßige und insofern routinierte Angelegenheiten dar, die mit positiven Gefühlen verbunden werden. Sie sorgen gewissermaßen für Sicherheit und schaffen kraft ihrer Regelmäßigkeit Orientierung: »Dann kann ich mich noch gut dran erinnern dass ich früher mit meinem Vater immer und mit meinen anderen beiden Geschwistern ähm immer Schwimmen war ein Mal die Woche (I: mhm) das war immer ganz schön für mich . das is was wo ich mich heut noch positiv dran erinner« (37-44). Mit dem Übergang in die Realschule, deren Besuch von Natalies Grundschul-Klassenlehrerin nicht uneingeschränkt empfohlen wird, setzt allerdings ein Lebensbruch ein, welcher der gelebten Unbeschwertheit ein plötzliches Ende versetzt und eine krisenhaft verlaufende Ereigniskaskade mit sich bringt. Denn Natalie fällt nicht nur der Übergang in die Realschule auf Grund höherer schulischer Anforderungen schwer. Sie versteht sich fortan auch nicht mehr mit ihren Eltern: »Und dann kam halt so die Realschulzeit und da hab ich mich dann mit meinen Eltern gar nicht verstanden das war ganz schlimm muss ich sagen«

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(49-51). Beinahe parallel dazu erkrankt sie an der bereits erwähnten Schuppenflechte und beginnt eine ambulante therapeutische Behandlung, die auch relativ rasch positive Wirkung zeigt und Natalie deutlich machen kann, weshalb die Erkrankung bei ihr eigentlich auftritt. Das vermutlich im Rahmen der medizinischen Behandlung unterbreitete Erklärungsmuster macht Natalie dann auch zu ihrem eigenen: »Ja is halt .. spielt bei mir halt ziemlich mit der Psyche ne Sache diese Krankheit weil wenn ich aufgeregt bin oder irgendwie nervös bin vor ner Klassenarbeit oder so dann dann is das halt (I: mhm) ganz extrem bei mir« (129135). Eine Teilnahme am Schulsport wird durch die Therapie, als solche wird die Behandlung der Schuppenflechte von Natalie bezeichnet, aber nicht sogleich ermöglicht. So kommt es, dass Natalie hier in ständige Begründungsnötigungen gegenüber den Mitschülern gerät. Das ›nervt‹ sie sehr: »Und ähm was auf einmal so’n ja so’n Handicap war dass ich zum Beispiel kein Sport mitmachen durfte (I: mhm) weil ähm dass halt wenn ich schwitze und so dass halt mehr ähm sich ausbreitet (I: ja) das soll ich halt nich (I: ja) und das war halt immer so ganz schade warum machst du nich mit und was hast du denn und (I: mhm) das das hat halt schon ziemlich genervt immer« (680-694).

In dieser Lebenssituation, in der Natalie auf geballte Weise mit Veränderungen konfrontiert ist, sucht sie ›Zuflucht‹ bei Beate, einer 25 Jahre älteren Nachbarin: »Also in der Zeit wo ich mich mit meinen Eltern sehr schlecht verstanden habe ähm da hab ich ähm ne gute Freundin kennen gelernt die is aber mittlerweile schon 42 also is praktisch wie meine Mama für mich (I: mhm) zweite Mama und ähm die hab ich durch ihre beiden Hunde kennen gelernt und bei der war ich bis vor Kurzem jeden Tag gewesen die wohnt bei uns in der Nachbarschaft und die is die hat mit mir Ausflüge gemacht und hat mir zugehört wenn ich Probleme hatte mit meinen Eltern also praktisch wie meine Familie (I: mhm) da bin ich halt auch jetzt noch viel« (73-86).

Natalie erfährt von Beate Aufmerksamkeit und intensive Gespräche. Auch gemeinsame Ausflüge werden unternommen. Damit bietet ihr Beate etwas, wofür gerade die eigene Mutter nicht zur Verfügung steht. Denn Natalies Mutter »is nich so der Typ viel mit den Kindern zu unternehmen« (400f.). Die »zweite Mama« (78), wie Natalie die Nachbarin auch nennt, macht das indes. Damit stellt sie eine soziale Ressource dar und ersetzt – sofern man die Aussage, dass sie praktisch wie eine Familie zu betrachten sei, ernst nimmt – sogar ein ganzes Sozialgefüge. Sie ist Ersatz-Mutter und Ersatz-Familie. Natalies Eltern scheinen dies nicht gezielt unterbinden zu wollen; zumindest wird deutlich, dass sie Nata-

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lie den Kontakt zu Beate keineswegs verbieten, obgleich ihre genaue Einstellung zu der Freundschaft zwischen ihrer Tochter und der Nachbarin nicht deutlich wird. Fakt ist indes, dass es Natalie gelingt, eine enge soziale Beziehung zu Beate herzustellen, die ihr gut tut. Aber auch die Nachbarin, von der man erfährt, dass sie mit 27 Jahren eine Fehlgeburt erlitt und ihre Zwillinge nicht entbinden konnte, ›profitiert‹ von Natalies Besuchen in emotionaler Weise: Denn sie »hat dann immer gesagt dass äh ich immer zu ihr kommen kann dass sie das schön findet dass ich bei ihr bin und dass ich wie ihre Tochter bin halt (I: ja) und sie is halt demnach wie meine Mutter weil sie mir das gibt was meine Mutter auch mein Vater halt nich so geben können« (462-468). So treffen beide in ihrer jeweiligen Bedürftigkeit aufeinander. Zugleich wird deutlich, dass Natalie die elterlichen Handlungen im Kindesalter nicht als angebracht und mit einer selbstverständlichen Gültigkeit versehen betrachtet. Vielmehr hat sie Erwartungen an ihre Eltern, die diese jedoch nicht erfüllen. Insofern ist ihr Verhältnis zu den Eltern durch eine Unzufriedenheit charakterisiert, die nicht bloß stillschweigend ›ertragen‹ wird, sondern geradezu handlungswirksame Kraft entfaltet. Das ist nun vor allen Dingen auch mit Blick auf die fundierenden bildungstheoretischen Bezüge interessant, da Natalie über eine durchaus kritisch zu nennende Einstellung gegenüber der elterlichen Erziehungsverantwortung zu verfügen scheint, die sie spätestens zum Zeitpunkt des Interviews – also im Jugendalter – auch artikulieren kann. Sie vergleicht ihre Eltern mit Beate und kommt zu der Einschätzung, dass die Nachbarin für sie ein Angebot bereithält, das die Eltern nicht offerieren können. Dabei ist die soziale Beziehung zwischen Natalie und der Nachbarin ebenso von durchaus fragiler Struktur. Denn Natalie entfaltet im Verlauf ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung auch, wie Beate von einem auf den anderen Tag nicht mehr anzutreffen und telefonisch erreichbar ist. Über Beates Eltern, zu denen Natalie ebenfalls Kontakt hergestellt hat, wird sie dann mit dem Befund konfrontiert, dass die Nachbarin unter Depressionen leidet und sich deshalb in einer Psychiatrischen Klinik befindet: »Und äh .. sie hat ähm leidet unter Depressionen und hat auch schon etliche Therapien gemacht war in Kliniken und äh war zwischenzeitlich auch in zwei Psychiatrien gewesen was sehr schlimm für mich war weil ich das ähm durch ihre Eltern erfahren hab weil ich mit denen auch ein bisschen Kontakt habe (I: ja) und auch erfahren hab dass sie mit der Polizei gesucht wurde weil sie ausgebrochen is und das war halt schlimm für mich weil ich diese Beate nicht gekannt hab (I: ja) immer nur die liebe nette (I: mhm) die für mich da war und nich die die Depressionen hatte (I: OK) ähm rausgekommen also gemerkt hab eigentlich nie dass sie irgendwie krank is (I: mhm) ich dacht halt immer es wär alles in

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Ordnung (I: mhm) bis sie sich auf einmal von heut auf morgen gar nicht mehr gemeldet hat sie war nicht mehr zuhause sie ging nich ans Telefon und das über ein Jahr lang« (416434).

Mit diesen Nachrichten konfrontiert zu werden, erschüttert Natalie. Denn »diese Beate« (426) kennt sie gar nicht. Vielmehr geht sie bis dahin davon aus, dass sie sich auf Beate verlassen könne und »alles in Ordnung« (438) sei. Insofern lässt sich die überraschende Konfrontation mit Beates psychischer Erkrankung auf zweifache Weise als eine Enttäuschung für Natalie verstehen: Zum einen erfährt sie dadurch nämlich, dass ihr Bild von Beate nicht vollends zutrifft und von einer uneingeschränkten Beispielhaftigkeit ihrer Person abzusehen ist. Zum anderen muss sie feststellen, dass Beate nun – wie auch die eigentlichen Familienangehörigen – nicht mehr für sie da ist; und das sogar über ein Jahr lang. Allerdings kündigt Natalie die enge Beziehung zu ihr vor dem Hintergrund dieser Einsichten nicht auf oder sucht sich eine neue Bezugsperson in der Nachbarschaft. Stattdessen versucht sie immer wieder den Kontakt zu ihrer ›zweiten Mama‹ herzustellen: »Und dann hab ich immer wieder Briefe geschrieben an ihre Adresse immer wieder versucht anzurufen SMS geschrieben bis dann irgendwann was zurück kam also en Brief dass sie drin geschrieben hat dass sie Depressionen hat dass es ihr ziemlich schlecht geht aber dass sie es toll findet dass ich immer noch zu ihr halte weil sie hatte halt zu der Zeit keine Freunde mehr niemanden« (445-451).

Die von Natalie an den Tag gelegte Hartnäckigkeit wird dann insofern belohnt, als Beate ihr in Form eines Briefs antwortet, in dem sie ihre derzeitige Situation offen schildert und Anerkennung für Natalies Beharrlichkeit äußert. Nachdem die Nachbarin die Psychiatrische Klinik wieder verlassen kann, wird die Beziehung zwischen beiden dann fortgeführt, was auch deutlich wird, wenn Natalie davon berichtet, dass sie in den Wochen vor dem Interview sehr häufig bei ihr gewesen ist: »Dann war ich halt in den letz- also in der letzten Zeit wirklich jeden Tag bei ihr« (409-411). Die Nachbarin Beate gehört für Natalie daher selbstredend zu ihren engen Sozialkontakten – aber nicht nur das. Sie gehört für Natalie sogar zur Familie und wird für unverzichtbar erklärt. Sie ist also mehr als nur eine signifikante Andere: »Meine Familie (I: ja) auf die könnt ich niemals verzichten (I: mhm) wozu ich aber nich nur meine Eltern und Geschwister zähle sondern (I: mhm) wie gesagt auch meine zweite Mama die Beate die gehört halt auch dazu (I: mhm) auf die könnt ich auch niemals verzichten« (860-872). Wie es Natalie in dieser Aussage zum Ausdruck bringt, werden die Eltern und die

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verwandtschaftlichen Familienmitglieder keineswegs durch Beate verdrängt. Sowohl auf die eigentliche Kernfamilie als auch auf Beate könne sie »niemals verzichten« (862). Das markiert den besonderen Wertbezug, den Natalie den ihr nahestehenden Menschen entgegenbringt. Dass aber geradezu Kernkonflikte innerhalb der Familienstruktur bestehen, dass wird anhand der im Interview vollzogenen Ausführungen Natalies unmissverständlich deutlich. Diese belasten sie in emotionaler Hinsicht auch. Es sind dabei in erster Linie die Eltern, die Familienmitglieder ausschließen oder ihnen in zentralen Bereichen keine Anerkennung entgegenbringen: Alexandra, die sieben Jahre ältere Schwester, wird kurz nach der Abtreibung ihres ersten Kindes aus der elterlichen Wohnung hinausgeworfen und streitet sich, wenn sie daraufhin für Besuche kurz vorbeikommt, sehr intensiv mit den Eltern. Für Natalie ist dies schwer zu ertragen, obwohl sie sich selbst mit Alexandra »früher nie verstanden« (211) und »immer gezankt« (ebd.) hat: »Weil ich das nich ausgehalten hab dass sie kaum bei uns war und dass sie sich nur noch angeschrien haben und so wenn se da war« (242-244). Nina, die zehn Jahre ältere Schwester, zu der Natalie ein ausgesprochen gutes Verhältnis hat, weil sie – so sagt es Natalie – immer für sie da war, kämpft um die Anerkennung ihrer Homosexualität. Diese wird ihr allerdings bis zum Zeitpunkt des Interviews nicht gewährt. Denn insbesondere die Mutter begegnet der sexuellen Orientierung Ninas selbst vier Jahre nach dem Coming-Out immer noch mit Unverständnis. Sie kann auch die Lebensgefährtin von Nina nicht leiden, was Natalies Auffassung nach allerdings gar nicht unmittelbar in der Person der Freundin begründet ist. So äußert sie sich dazu im Interview wie folgt: »Die Meinung von meiner Mutter is bis jetz geblieben auch wenn se die Freundin von meiner Schwester kennen gelernt hat aber se kann se nicht leiden (I: mhm) und ich glaub das liegt nicht daran weil es ein schlechter Mensch is weil is wirklich nett die Freundin (I: ja) ich glaub eher dass das daran liegt dass sie’s nich akzeptiert« (595-604). Doch nicht nur Alexandra und Nina haben mit desintegrierenden ›Manövern‹ der Eltern zu kämpfen. Vor allen Dingen Tanja, Natalies Halbschwester, die im gleichen Ort wohnt, verheiratet ist und ein Kind hat, wird von den Eltern erst gar nicht in die Familie integriert: »Meine Eltern haben aber keinen Kontakt zu ihr (I: mhm) fällt mir halt immer noch schwer« (66-70). Auch verschweigen diese vor Natalie jahrelang Tanjas Existenz, dulden nicht, dass sie zu Familien- und Feiertagsfesten kommt und negieren bis dato die Rechtmäßigkeit eines juristisch anerkannten Vaterschaftstests. Angesichts der äußerst hohen Wahrscheinlichkeit, mit der solche Tests die Vaterschaft bestimmen, ist die Reaktion der Eltern rational daher auch kaum erklärbar. Statt aus manifesten Bedenken erwächst die elterliche Reaktion des Ausschließens und Verheimlichens wohl vielmehr aus ei-

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nem massiven Verdrängungsbestreben: Selbst innerhalb der Familie gilt es mit diesem Umstand als Geheimnis umzugehen. Dabei würde sich Natalie sehr wünschen, dass nicht nur Tanja endlich als vollwertiges Familienmitglied anerkannt wird, sondern die Familie als Ganze zusammenfindet und keine der genannten Exklusionsphänomene virulent sind. Dass Natalie ihre Halbschwester Tanja im Verlauf der lebensgeschichtlichen Erzählung als Schwester bezeichnet und ihr damit den gleichen Status zuweist wie ihren Schwestern Alexandra und Nina, kann durchaus im Sinne einer solchen Beseitigung von Exklusionsphänomenen verstanden werden. Denn ihr ist es sehr wichtig, dass die Familienmitglieder den Kontakt zueinander aufrechterhalten und gemeinsame Unternehmungen vornehmen: »Und das ist mir halt wichtig in der Familie dass man viel zusammen (I: ja) macht zusammen spricht« (403f.). Genau das findet sie in ihrer Familie allerdings nicht vor, wobei zuweilen nicht bloß die Eltern dafür die Verantwortung tragen. Auch Nina, deren Homosexualität von den Eltern nicht akzeptiert wird, vermeidet es nämlich, einen Kontakt zur Halbschwester aufzubauen und unterstützt stattdessen die Haltung der Eltern, welche die Rechtmäßigkeit, Tanja als Halbschwester zu bezeichnen, bezweifeln. Dabei war es Nina, die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit als Erzieherin Tanja kennengelernt hat: »Und äh meine Schwester hat’s rausbekommen weil se mit ihr zusammengearbeitet hat also praktisch durch’n Zufall (I: mhm) die beiden ähm sind Kindergärtnerinnen also Erzieherinnen und haben sich auf der Arbeit praktisch kennengelernt meine Halbschwester hat das dann halt gewusst durch den Namen her Jäger dass das ihre Schwester is (I: ja) und hat sie dann auch angesprochen« (301-312).

Obwohl das Kennenlernen also über Nina erfolgte, ist diese an einem Ausbau des Kontakts auf Grund ihres elterlich beeinflussten Ressentiments gegenüber Tanja nicht interessiert. Das bedauert Natalie, weil eben das ihrem Wunsch entgegensteht, dass die Familie zusammenfindet und etwas zusammen unternimmt. In Anbetracht dieser Analysen wird deutlich, dass Natalies biographischer Prozess deutlich vom Wunsch durchzogen ist, in ›intakten‹ Familienverhältnissen aufzuwachsen.4 Er weist auch Merkmale auf, Toleranz und Harmonie zwischen den Familienmitglieder aktiv herbeizuführen, indem Sozialbeziehungen

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Den mentalitätsbezogenen Betrachtungen von Thomas Ziehe (2007) zufolge, ist ein solches Bedürfnis nach Beziehungsstabilität, Eingebundenheit und stützender Gemeinschaftlichkeit neben dem Verlangen nach einer Art ›Sichtschutz‹ vor gesellschaftlicher Dauerbeobachtung und dem Wunsch nach normativer Übersichtlichkeit sogar eine Grundsehnsucht der heutigen Jugend. Siehe Ziehe 2007: insbes. 393.

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gleichsam zu lenken und ›managen‹ versucht werden. Natalie zieht sich also nicht aus ihrer Familie zurück. Vielmehr versucht sie zu erreichen, dass Familie ›gelebt‹ wird. Natalie ist dabei auch subtilen Bestrafungen ausgesetzt, die sich etwa dann zeigen, wenn Natalie ankündigt, dass sie Tanja, mit der sie sich trotz des elterlichen Widerspruchs alle zwei Wochen trifft, besuchen geht und daraufhin »die Stimmung halt immer ziemlich im Keller« (367) ist. Zugunsten ihrer Ambition, die Familie zusammenzuhalten, ist sie bereit, Bestrafungen solcher Art zu ›ertragen‹. In der von Natalie forcierten Mission wirkt dann nicht zuletzt auch das bildungstheoretisch exponierte Prinzip der Selbsttätigkeit – selbst über Widerstände hinweg – auf entschiedene Weise. 5.2.2 Selbsttätigkeit und das ›Management‹ familialer Sozialbeziehungen Natalie versteht sich nicht als ›Opfer‹ von Sozialisations- oder Erziehungseffekten, den man sich nolens volens zu beugen hat. Von einer Lenkung durch andere spricht sie etwa an keiner Stelle des Interviews. Sie stellt vielmehr ihr aktives und selbsttätiges Handeln heraus. Das wird gerade auch in dem Versuch deutlich, ihre Familie aufzustellen und die ihrer Auffassung nach unbefriedigenden sozialen Interaktionen zwischen den Angehörigen zu verändern. Dazu befragt sie, geht auf die Spur und hält Widerstände aus. Sie versucht die Sozialkontakte der Familienmitglieder zu steuern, weshalb sich auch sagen lässt, dass sie ihrem Leben sowie den sie umgebenden Strukturen wertend begegnet. Natalies Selbsttätigkeit tritt in zwei Episoden, die im Rahmen ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung eine recht umfangreiche Auseinandersetzung finden, besonders intensiv hervor. Die erste Episode konzentriert sich auf jenen Zeitraum, in dem Natalie von der Existenz ihrer Halbschwester erfährt und im weiteren Verlauf ohne elterliches Wissen ein erstes Treffen mit ihr plant. Der Hintergrund, vor dem sich diese Handlung abspielt, ist folgender: Natalie verfolgt im Alter von 14 Jahren kurz vor einer Familienfeier einen Disput zwischen ihren Eltern und ihrer Schwester Nina, in dem der etwaige Besuch einer Tanja besprochen wird. »Mhm also das war ähm wie gesagt als ich 14 war (I: mhm) da ähm wie war das da da hat meine Schwester mit meinen Eltern geredet weil meine Nichte Geburtstag hatte (I: mhm) oder Weihnachten war ich weiß es nicht mehr genau (I: mhm) und dann ähm hat se nur gemeint Tanja kommt auch und das is halt meine Halbschwester . und dann ham also hab ich halt mitbekommen meine Eltern nur dass sie nicht kommen soll und dass sie das nicht möchten dass sie dann nicht kommen und ich auch nicht kommen darf« (255-269).

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Wenngleich Natalie jene Person nicht kennt, die Anlass eines Streits zwischen der Schwester und ihren Eltern ist, so kann sie indes sehr wohl erfassen, dass die Eltern einer Anwesenheit Tanjas äußerst ablehnend gegenüberstehen und sogar damit drohen, sowohl ihren eigenen als auch den Besuch der jüngsten Tochter bei der anstehenden Familienfeier abzusagen. Insofern ist es in der Tat berechtigt, wenn Natalie sagt, dass sie von der Existenz ihrer Halbschwester erfahren hat. Natalie fragt dann aber nicht sogleich nach, wieso es zur harschen Reaktion der Eltern kommt, bei der sie sogleich auch einer Bevormundung ausgesetzt wird. Vielmehr erkundigt sie sich einen Tag später bei ihrer Schwester, um wen es sich bei dieser Person namens Tanja handelt. Ihre Schwester sträubt sich zwar zuerst, ihr eine Antwort auf die Frage zu geben und verweist sie an die Eltern. Dann aber berichtet sie doch von der Existenz einer Halbschwester, worauf Natalie zuerst »total baff« (280) und ungläubig reagiert. Zugleich ist Natalie aber an den Hintergründen interessiert und will sie im Einzelnen wissen: »Und dann war ich mit meiner Schwester alleine am drauf folgenden Tag und hab se halt gefragt warum meine Eltern da so reagiert haben wer denn Tanja wohl is (I: mhm mhm) und dass ich die nicht kenne und . dann hat se hat erst gezögert und gesagt ich soll meine Eltern fragen weil se das halt auch nicht so wollte und dann hat se aber dann erzählt dass das meine Halbschwester is und da war ich da war ich total baff (I: mhm) also hab ich erst mal gar nicht glauben können und hab auch ähm natürlich nachgefragt von wem und warum und war mein Papa schon mal verheiratet so Sachen (I: ja) und ähm hat se hat erzählt dass ähm mein Vater in einer früheren Beziehung halt äh ne Frau und Kind hatte (I: mhm) und ähm das aber auch angezweifelt hat vor Gericht (I: ah ja) weil er’s halt nicht glauben wollte und ähm aber also bewiesen wurde auch durch Bluttests dass es seine Tochter is und er es aber immer noch anzweifelt (I: mhm) und auch keinen Kontakt mit ihr hätte« (271-299).

Die erfragten Hintergründe werden von der Schwester geschildert, und so erfährt Natalie zugleich, warum die Eltern derart abweisend auf die Ankündigung des Besuchs von Tanja reagierten. Der Vater hat nämlich seine Vaterschaft angefochten und ist nach wie vor der Auffassung, dass es sich bei Tanja keineswegs um seine leibliche Tochter handelt, obwohl ein auf Blutproben basierender Test dies bestätigt hat. Mit ihrer besten Freundin Steffi überlegt Natalie nach diesem Gespräch, wie sie mit dieser Nachricht umgehen soll und ob es ernsthaft in Erwägung zu ziehen ist, sich mit der Halbschwester zu treffen: »Ja dann hab ich halt mit meiner damaligen besten Freundin überlegt soll ich mich mit ihr treffen weil ich hatte halt auch en bisschen Angst was sagste wie is se so (I: mhm) weil se is ähm 15 Jahre älter als ich« (314-319). Die erstmals vorherrschende Angst

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und Zurückhaltung – verdeutlicht in der Formulierung »was sagste« (316) – werden zugunsten der Neugier und des Interesses – »wie is se so« (ebd.) – fallen gelassen. Es findet ein erstes Treffen zwischen Natalie, ihrer Schwester Alexandra und Tanja, der Halbschwester, statt. »Und dann hab ich mich über meine andere Schwester mit ihr getroffen un jo hab da gesessen und hab nix gesagt war total . ja nervös weil sie ihre kleine Tochter auch mitgebracht hat . un ähm war aber direkt ganz freundlich hat mich umarmt und hat sich gefreut dass ich sie kennen lernen wollte und dann ähm jetzt mittlerweile ham also treffen wir uns regelmäßig so alle zwei Wochen wohnt auch hier in Z-Stadt ist verheiratet und hat’n Kind und (I: mhm) und ähm . jo sie is halt auch Erzieherin was ich halt auch werden will mir ihr kann ich super dadrüber reden« (321-333).

Natalie wird beim ersten Treffen sehr herzlich empfangen und sogleich umarmt. Sie selbst kann allerdings diese von der Halbschwester – nicht nur verbal, sondern durch die Umarmung sogar körperlich – zum Ausdruck gebrachte Sympathie nicht unmittelbar erwidern. Vielmehr ist sie nervös und verschwiegen, was nicht nur – so die hier vorgeschlagene Lesart – an der Anwesenheit von Tanjas Tochter liegen könnte, mit der Natalie ihre Zurückhaltung in ursächliche Verbindung bringt, sondern zumindest latent auch in dem Umstand begründet sein dürfte, dass die Eltern zu diesem Zeitpunkt noch nicht darüber Bescheid wissen, dass Natalie einem Treffen mit der Halbschwester beiwohnt. Natalie verheimlicht nämlich dieses Treffen vor ihren Eltern, so wie diese ihr die Existenz der Halbschwester verschwiegen haben. Von Nina wird sie deshalb allerdings getadelt und dazu angehalten, die Eltern doch in Kenntnis zu setzen: »Ähm . da hab ich dann ähm mich halt das erste Mal als ich mich mit ihr getroffen hab heimlich getroffen und meinen Eltern nix davon gesagt (I: OK) un aber ähm meine andere Schwester hat dann auch gesagt das geht so nich sag den Eltern das (I: mhm) und ähm hab ich halt mit ihnen da drüber geredet un ähm . was halt total schwierich war weil ses weil se nich auch mich eingegangen sin und auf das Thema gar nich und ziemlich abgeblockt haben und ähm . dann ähm ist das irgendwann halt eskaliert so dass ich mich heimlich immer wieder mit ihr getroffen habe meinen Eltern nix davon gesagt habe (I: mhm) un ses dann aber rausgefunden haben (I: ja OK) und dann ziemlich sauer auf mich waren was ich heute auch verstehen kann« (1026-1046).

Die Befolgung des Rats der Schwester erweist sich für Natalie als nicht ertragreich. Das Gespräch zwischen Natalie und ihren Eltern gestaltet sich nämlich nicht nur, wie Natalie sagt, als »total schwierich« (1035). Es entgleitet sogar den

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Strukturen einer vernünftig geführten Konversation; es »eskaliert« (1038) und führt zu einem ernüchternden Ergebnis: Die Eltern nehmen sich den Bedürfnissen, die für Natalie den Anlass des Gesprächs darstellen, gar nicht erst an und blocken das Thema gleich ab. Natalie wiederum zieht daraus die Konsequenz, sich auch weiterhin heimlich mit ihrer Halbschwester zu treffen und die Eltern gewissermaßen zu hintergehen. Deren Unverständnis nimmt sie also keineswegs zum Anlass, um von weiteren Treffen abzusehen. Vielmehr erachtet sie die Haltung der Eltern nicht als gerechtfertigt, sodass sie die ihr gültig erscheinende Handlung, nämlich sich auch zukünftig mit der Halbschwester zu treffen, fortsetzt. Die hier von Natalie getroffene Entscheidung kann insofern zu den erarbeiteten bildungstheoretischen Bestimmungen relationiert werden. Denn mit der von ihr an den Tag gelegten Nonkonformität geht die Auffassung einher, dass die elterlichen Normen nicht ›an und für sich‹ zu akzeptieren sind, sondern in Frage gestellt und durch bessere ersetzt werden können. Genau das macht sie, was auf eine Problematisierung der elterlichen Legitimitätsansprüche und eine im Kontrast dazu hervorgebrachte eigenständige Wertsetzung verweist, deren ›Bildungsbedeutsamkeit‹ für den jugendlichen Entwicklungsgang mit Petzelts, Fischers und Ruhloffs Ausführungen in Kap. 3.2 deutlich gemacht wurde. Dass die Eltern sauer sind, nachdem sie von den heimlichen Treffen erfahren, kann Natalie aus heutiger Sicht verstehen. Damals konnte sie es scheinbar nicht, was die heftige Reaktion erklärt, die sich im Anschluss an dieses Gespräch ergibt. Denn Natalie empfindet die sich hieran anschließenden Spannungen zwischen ihr und den Eltern nahezu unerträglich, sodass sie diesen gegenüber ankündigt, von Zuhause ausziehen zu wollen: »Und ähm dann ging’s dann so weit dass ich gesagt hab dass ich von Zuhause raus will dass ich ausziehe« (1048f.). Wie auch in den frühen Realschuljahren antwortet Natalie auf die starke Konfrontation mit ihren Eltern also in Form eines Fluchtstrebens, wobei es dieses Mal keine Nachbarin ist, bei der sie Zuflucht sucht. Zwar führt Natalie im Rahmen ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung nicht aus, wie sie sich den Auszug vorgestellt hat und inwiefern sie Schritte zur Umsetzung dieses Plans realisieren konnte. Wohl aber macht sie deutlich, dass sie durch die Mithilfe der Großeltern, die in Natalies lebensgeschichtlicher Erzählung nur wenige Male erwähnt werden und deren genaue Rolle innerhalb der Familie auf Grund der spärlichen Aussagen recht undurchschaubar bleibt5, von ihrem Plan abrückt. Die Großeltern, als nicht in den

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Obwohl Natalie ihr Zimmer bei den Großeltern hat, erwähnt sie diese nur selten im Interview. Eine umfangreichere Passage zu ihrem Opa gibt es allerdings. Sie handelt von der plötzlichen Einlieferung des Großvaters in ein Krankenhaus und der Feststel-

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Disput Involvierte und Familienmitglieder, mit denen sich Natalie »super« (102) versteht, reden nämlich mit Natalie und machen im Gespräch deutlich, dass die Eltern große Angst haben, sie zu verlieren: »Und ähm ich glaub das war dann nicht nur für mich schlimm sondern auch für meine Eltern ziemlich schlimm weil ähm meine Großeltern dann auch mit mir geredet haben (I: mhm) dass meine Eltern ihnen gesagt hätten dass se wirklich auch Angst haben dass se mich verlieren könnten un das war dann so wo ich gedacht hab jetzt muss sich irgendwie was ändern« (1048-1057).

Die von Natalie in dieser Interviewpassage angesprochene Änderung tritt dann in der Tat ein, wenngleich unklar bleibt, wie sie genau herbeigeführt wird. Von klärenden Gesprächen mit ihren Eltern spricht sie zumindest nicht. So steht die Revision der Entscheidung nur als Faktum dar: Sie setzt ihre Ankündigung nicht in die Tat um, sondern bleibt in ihrem Zimmer im Haus der Großeltern wohnen. Aus heutiger Sicht erweist sich dieser Schritt für Natalie als vollkommen sinnvoll. Einen Auszug mit ihrem 18. Geburtstag verfolgt Natalie nämlich keineswegs mehr, sodass sie sich die Frage, wie das Leben zu leben ist, anders als vor dem Streit beantwortet. Vielmehr befragt sie – im Sinne einer bildungstheoretisch bedeutsamen Analyse denknotwendiger Bedingungen – nun die für einen Auszug wichtigen Grundvoraussetzungen. Und so kommt sie zu dem Befund, dass sie über gar kein eigenes Einkommen und keine abgeschlossene Berufsaus-

lung, dass er an Krebs leidet. Davon erzählt Natalie im Interview als Antwort auf die exmanente Nachfrage nach einem Aha-Erlebnis: »Also da- dass kam ganz äh plötzlich war halt immer großer starker Mann für mich (I: mhm) immer mein Opa halt (I: mhm) hat halt immer äh gearbeitet und alles und ähm dann äh is er halt auf einmal umgefallen umgekippt ins Krankenhaus gekommen und ähm wurd halt festgestellt dass er Krebs hat und ähm . dann war halt für mich am Anfang immer klar der schafft das is mein Opa der is stark der schafft das« (1230-1241). Doch diese Zuversicht kippt als eine Operation ansteht: »Und ähm dann hab ich ähm is er halt operiert worden (I: mhm) und an dem Tag war meine Freundin auch da meine beste weil ich halt ja nich allein sein wollte an dem Tag (I: mhm) weil meine Eltern und Geschwister bei ihm im Krankenhaus waren auch und ähm als meine Eltern wiederkamen hab ich sie unten nur weinen gehört (I: mhm) und ähm da hab ich schon so gedacht ob er jetzt tot ist also hab ich mir wirklich schon so überlegt und mit meiner Freundin drüber geredet dann kam meine Schwester halt hoch und hat nur mim Kopf geschüttelt sie wollte mir eigentlich sagen is alles in Ordnung is nix ich hab halt in dem Moment bin ich in Tränen ausgebrochen und hab halt gedacht er is wirklich tot« (1247-1265).

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bildung verfügt, was den Plan, schleunigst von Zuhause auszuziehen, im Nachhinein als aberwitzige Idee ausweist: »Ja als ich so Streit mit meinen Eltern hatte wollt ich das natürlich sofort ausziehen mit 18 bin ich raus was sich mittlerweile auch geändert hat weil ich mir denke du hast kein Geld du hast noch keine Ausbildung und wovon willst du ne Wohnung bezahlen (I: ja) und ähm wo meine Eltern aber auch mittlerweile sagen ähm wenn du nächstes Jahr mit deinem Freund zusammen- ziehen willst ist das in Ordnung (I: OK) un ähm jo das ich sag ma das hat Zeit (I: mhm) noch’n bisschen würd ich sagen also ich mu- muss jetz nich sagen ich werd 18 und dann an dem Tag muss ich raus sein (I: OK) das hat sich also schon (I: ja ja) geändert . jo« (937-957).

Die Gründe, die sie vormals bewogen haben, so schnell wie möglich auszuziehen, scheinen zum Zeitpunkt des Interviews daher nicht mehr virulent zu sein, was aber vermutlich nicht nur an der Einsicht in die Vermessenheit der Idee eines Auszugs trotz nicht vorhandener Ressourcen liegen könnte. Vielmehr scheint es auch in Beziehung zu ihrem Freund zu stehen, mit dem sie seit etwa einem Jahr zusammen ist. Ihm bringt sie – das machen die Aussagen im Interview deutlich – eine hohe Wertschätzung entgegen, da er sich in ihren Augen sowohl für den Aufbau ihres Selbstvertrauens verantwortlich zeichnet, als auch einen Beitrag dafür leistet, dass sich Natalies Beziehung zu den Eltern bessert. Wenn Natalie in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung vom Freund erzählt, heißt es dann: »Durch ihn hab ich mich ähm ziemlich verändert würd ich sagen (I: mhm) im positiven Sinne ich hab mehr Selbstvertrauen durch ihn aufgebaut weil ich halt wirklich früher so ziemlich schüchtern war (I: OK) was ich halt immer noch’n bisschen bin aber is halt schon viel besser geworden und ähm ja durch ihn mhm wie soll ich das sagen is halt ähm . dadurch dass ich mehr bei ihm bin is das Verhältnis zu meinen Eltern besser geworden er hilft mir da auch en bisschen« (888-900).

Die zweite Episode, an der Natalies Selbsttätigkeit besonders deutlich zum Ausdruck kommt, setzt bereits an einem früheren Lebensereignis an, und zwar als Nina, die zehn Jahre ältere Schwester, einen Abend vor ihrem gemeinsamen Skiurlaub mit den Eltern diesen gegenüber ihre Homosexualität offenkundig macht. Gerade anhand dieser biographischen Episode wird auch das ›Management‹ der Sozialbeziehungen sehr deutlich, und so lässt sich in der Analyse dieses lebensgeschichtlichen Ereignisses der zentrierende Blick auf die Vehemenz richten, mit der Natalie ihre Eltern und ihre lesbische Schwester zum offenen, unbornierten Dialog auffordert. Natalie berichtet:

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»Bevor se in Urlaub gefahren sind (I: mhm) is meine Schwester halt hergekommen wollt bei uns schlafen und dann hab ich halt die Tür aufgemacht weil se geklingelt hat und da hab ich schon gesehen dass sie geweint hat (I: mhm) und dann bin ich halt mit ihr in die Küche hab gefragt was denn los is und da hat se nur gemeint tja ich muss es Mama und Papa endlich sagen und dann ähm haben wir noch ein bisschen dadrüber geredet und hab ich ihr bin ich mit ihr zusammen ins Wohnzimmer und hab bin auch bei ihr geblieben und dann ähm hat se aber gemeint ich soll lieber hoch gehen und sie möcht mit meinen Eltern alleine reden und da hat sie’s ihnen wohl gesagt« (546-561).

Natalie ist zu diesem Zeitpunkt bereits über die Homosexualität ihrer Schwester informiert, da es zwischen ihr und Nina wenige Wochen zuvor ein ›aufklärendes‹ Gespräch gab: »also sie hat mir erklärt warum und wieso und was das überhaupt is weil ich das zu dem Zeitpunkt nich so wusste« (524-526). Zwar empfindet Natalie die Auseinandersetzung mit der sexuellen Orientierung ihrer Schwester als »hart«, allerdings nur deshalb, weil sie im Rahmen ihrer konservativen Erziehung mit diesem Thema bislang nie konfrontiert wurde: »ich glaub 13 war ich da hab ich erfahren dass meine Schwester lesbisch is (I: mhm) . war sehr hart für mich muss ich sagen weil ich damit so noch nie konfrontiert wurde mit diesem Thema weil meine Eltern mich da auch sehr . ich sach mal konservativ erzogen haben« (139-142). Auch an dem Tag vor der Abreise findet ein Gespräch zwischen den beiden Schwestern statt. Für die Aussprache mit den Eltern wünscht Nina dann allerdings alleine zu sein, sodass Natalie diesem Gespräch nicht beiwohnt. Die folgenden Ereignisse weiß sie daher nur aus zweiter Hand zu berichten: »Also meine Eltern kamen damit überhaupt nicht zurecht die haben äh meine Mutter hat dann so Sachen losgelassen wie das ist doch heilbar und so was und ähm meine Schwester war da total ähm fertig natürlich hat geweint und ähm mein Vater hat gar nichts dazu gesagt wa- was ich auch nicht gut fand der hat das einfach so is nich OK aber is auch nicht gut oder so (I: ja) hat gar nichts gesagt dazu« (564-572).

Die Eltern reagieren alles andere als tolerant auf das Coming-out von Nina, die in diesem Gespräch mit zweierlei Reaktionen konfrontiert wird. Von ihrer Mutter wird sie massiv diskreditiert, denn für diese stellt die Homosexualität eine abnorme Eigenschaft, ein Stigma, dar. Ninas Vater wiederum enthält sich – gleichsam in buchstäblicher Auslegung der Diktion »Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen« (Wittgenstein TLP, 9) – einer Aussage. Beide Stellungnahmen verurteilt Natalie. Die Aussage ihrer Mutter weist sie zurück, weil sie nicht nur unreflektiert (»losgelassen«) und falsch (»ist doch heilbar«) ist,

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sondern weil sie die Schwester emotional betrachtet so sehr verletzt, dass sie weint. Die Reaktion des Vaters lehnt sie ab, da dieser sich einer qualifizierten Aussage gänzlich enthält, obwohl die Situation es erfordern würde, sich zu positionieren. Insofern stellt für Natalie keine der beiden elterlichen Stellungnahmen eine beispielhafte Reaktion dar. Ein Gespräch, in dem offen und vorbehaltlos über Ninas Homosexualität gesprochen wird, kommt deshalb auch nicht zustande. »Dann ähm bin ich später wieder dazu gestoßen und ähm hab halt gefragt was denn jetz los ist un dann hat meine Schwester nur gesagt dass sie nach Hause fahren will und dass sie nicht mit meinen Eltern in Urlaub fahren will weil das Quatsch wäre« (572-576). Zwar fahren Nina und die Eltern dann einen Tag darauf doch gemeinsam in den Skiurlaub. Doch über die abendliche Situation und die Thematik im Allgemeinen wird nicht gesprochen. Das erfährt Natalie, indem sie ihre Eltern im Urlaub anruft und sich über das Befinden der Familienmitglieder erkundigt: »Ähm wenn ich dann mal angerufen hab und gefragt hab wie’s denn so läuft wurde immer nur gesagt is alles in Ordnung aber es wird halt nicht über diese Sache geredet« (578-580). Als Nina und die Eltern nach einigen Tagen vom Urlaub zurückkehren, wird Natalie aktiv und versucht, das permanente Schweigen zu brechen. Dazu sucht sie eine Unterredung mit den Eltern und verlangt nach Begründungen für die unterlassene Aussprache. »Und ähm als se dann wieder zu Hause waren hab ich halt ähm auch mit meinen Eltern da drüber geredet und gefragt warum sie nich ma irgendwie im Urlaub mit meiner Schwester da drüber geredet haben warum das so is und ob se das nicht verstehen können . mein Vater sich wieder zurückgehalten (I: mhm) und ähm meine Mutter hat nur gesagt dass sie das nicht versteht und dass das nicht normal wäre und ähm dass sie’s nicht einsieht warum se ähm warum se halt Frauen liebt« (583ff.).

Ihre Ambition, überzeugende Begründungen zu erhalten und die Eltern womöglich zu Offenheit und Toleranz zu bringen, scheitert allerdings. Denn der Vater sagt abermals nichts, und die Mutter liefert nicht im eigentlichen Sinne Begründungen, sondern verleiht lediglich ihrem Unverständnis Ausdruck. Ninas Homosexualität erscheint ihr abnormal. Sie kann auch kein Verständnis für die gleichgeschlechtliche Liebe ihrer ältesten Tochter entwickeln. Von dieser Haltung grenzt sich Natalie deutlich ab, wenn sie sagt: »Also für mich is se immer noch meine Schwester und ob sie nun nen Mann oder ne Frau liebt das is mir völlig egal« (531-533). Eine solche Stellung bezieht die Mutter keineswegs. Wie Natalie berichtet, hat die Mutter an dieser Haltung nach wie vor nichts geändert. Die Mutter verharrt also gewissermaßen in ihrem Denken und kann auch über Natalies Versuche nicht bewegt werden, ihre Haltung zu überdenken und die eigenen

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Annahmen in einer reflektierend-problematisierenden Auseinandersetzung zu klären. Natalie lässt sich dadurch allerdings nicht entmutigen, sondern versucht weiterhin in selbsttätigen Bemühungen die Familie zu ›managen‹ und zueinander zu führen. Hierbei wird sie auch von ihrem Verlangen angetrieben, Zusammenhänge zu erkennen und die ›Wahrheit‹ herauszufinden. 5.2.3 Das Erkennen von Zusammenhängen und die Suche nach ›Wahrheit‹ Natalies Familie zeichnet sich durch einen Tabuisierungs-, Verschweigens- und Verdrängungskomplex aus. Gespräche über die Homosexualität der Schwester Nina werden tunlichst vermieden. Die Existenz der Halbschwester Tanja wird Natalie zuerst jahrelang verheimlicht. Und auch später, nachdem Natalie zu Tanja Kontakt aufnimmt und sich mit ihr regelmäßig trifft, wird nicht offen und ehrlich über die Halbschwester gesprochen. Doch Natalie strebt nach Begründungen, da sie nur so Sachverhalte verstehen und akzeptieren kann. Mit ›Halbgarem‹ will sie sich nicht zufrieden geben. Genau das offerieren ihr die Eltern aber und lassen Natalie somit in Ungewissheit über die ›Fakten des Lebens‹. Das ist für Natalie ein Problem, was deutlich wird, wenn sie von der familial geführten Kommunikation über ihre Halbschwester berichtet oder die abgebrochene Beziehung zu den Großeltern väterlicherseits erwähnt. Auch der angebliche Versand einer Kurznachricht beschäftigt Natalie und führt sie zu der Frage, wie es dazu kommen kann, dass Nina behauptet, eine SMS an Tanja gesendet zu haben, diese wiederum aber negiert, von Nina über das Handy kontaktiert worden zu sein. Dass Natalie aber nicht nur innerfamilial auf ›Wahrheit‹ gerichtet ist, sondern diese Haltung bei ihr auch außerhalb der Familienkonstellation Wirksamkeit erlangt, wird deutlich, wenn schließlich zwei weitere Sequenzen in den Blick genommen werden. In der einen geht es um das plötzliche Verschwinden einer Klassenkameradin, das sich Natalie nicht erklären kann. In der anderen steht das Unverständnis darüber im Mittelpunkt, dass eine ehemals gute Freundin sich von Natalie abwendet und andere gegen sie aufbringt. Für Natalie ist es nicht erschreckend oder peinlich, dass sie eine Halbschwester hat. Weder an ihrem Status als Halbschwester noch an ihr als Person nimmt sie Anstoß. Sie versteht sich mit Tanja indes ausgesprochen gut. ›Schlimm‹ – damit charakterisiert Natalie auch diesen Sachverhalt – ist für sie aber sehr wohl, dass ihre Eltern die Existenz der Halbschwester partout verschwiegen haben, dem Vaterschafts- bzw. Bluttest keinen Glauben schenken und mit Tanja nichts zu tun haben wollen. Das subjektive Problem sind in dieser Konstellation also die Eltern und nicht die Halbschwester. Natalie wird nämlich von ihnen nicht in

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Familienthemen eingeweiht. Wahrheiten werden ihr vorenthalten. Sie äußert aber gerade Anspruch darauf, als vollwertiges Mitglied anerkannt und in familiale Angelegenheiten einbezogen zu werden. Der Praktizierung eines traditionellen Befehlshaushaltes, in dem ausschließlich die Eltern das Sagen haben und kein Verhandeln stattfindet, steht Natalie demnach ablehnend gegenüber. Weil ihre Eltern sie von sich aus jedoch nicht in Themen einbeziehen, sieht Natalie sich genötigt, den verschwiegenen Themen selbsttätig auf die Spur gehen. Dazu lässt sie sich u.a. auch den Vaterschafts- bzw. Bluttest zeigen: »weil ich diesen Bluttest gesehn hab (I: OK) also ich wollt mich auch vergewissern und hab mir dann die Unterlagen zeigen lassen« (349-353). Der erlittene Vertrauensverlust führt also dazu, dass Natalie den Befund ›schwarz auf weiß‹ haben will und sich nicht auf die Aussagen ihrer Eltern verlassen möchte. Nur auf diesem direkten Weg kann sie Gewissheit erlangen und ihre eigene Meinung bilden. Genauso verlangt sie aber auch, dass sich ihre Eltern in unmittelbarer Auseinandersetzung mit den Dingen und Themen ihre Meinung bilden sollen. Ihrer Mutter, die sich bei Natalie zuweilen über Nina und deren Freundin erkundigt, sagt sie daher auch, dass sie sich direkt an Nina zu wenden habe: »Un ähm sie fragt mich dann auch manchmal so’n bisschen aus über die Freundin oder über meine Schwester und so (I: mhm) und dass find ich ganz schlimm weil wenn se wenn se meine Schwester was fragen will über ihre Beziehung oder so dann soll se das selber machen und dass sag ich meinen Eltern dann auch also meiner Mutter« (607614). Indem sich Natalie einer Beantwortung der Fragen verwehrt und ihre Mutter dazu auffordert, den direkten Kontakt zu Nina zu suchen, gibt sie ihr zu verstehen, dass sie ein gleichsam hinter dem Rücken der Schwester geführtes Gespräch über die Freundin für inakzeptabel hält. Ernsthafte Auseinandersetzungen erfordern – so weiß Natalie aus eigener Erfahrung – das unmittelbare Gespräch mit den Familienmitgliedern, da auf diese Weise ein Rahmen geschaffen wird, der es ermöglicht, Geschehnisse aus erster Hand zu erfahren. Nur indem man die Aussprache mit Familienmitgliedern sucht, Informationen austauscht und andere aufrichtig in Privates einbezieht, können Zusammenhänge erkannt und Probleme überhaupt gelöst werden. Auch anhand einer zweiten Episode wird deutlich, inwiefern Natalie in dem Netz von Verschwiegenheit und Tabuisierung nach aufrichtigen Erläuterungen und korrekten Zusammenhängen sucht. Diese fokussieren hier die Gründe für den nicht vorhandenen Kontakt zu den Eltern des Vaters. Während Natalie schon in den Kindheitsjahren viel Zeit bei ihren Großeltern mütterlicherseits verbringt und der Kontakt zu ihnen nicht zuletzt deshalb sehr intensiv ist, da Natalies Zimmer im Haus der Großeltern untergebracht ist, bestehen zur Mutter des Va-

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ters keinerlei soziale Beziehungen. Da die Eltern auch kaum über die Familie des Vaters reden, hat Natalie kein fundiertes Wissen über die Großeltern. Zwar weiß sie, dass ihr Großvater 1993 verstorben ist. Sie kennt auch den Wohnort ihrer Großmutter, der sogar im selben Landkreis liegt. Weitere Informationen halten jedoch weder ihre Erzählungen noch der erhobene Datenbogen bereit. Auch die Gründe für den fehlenden Kontakt kennt sie nicht: »ähm mit meiner anderen Oma hab ich gar keinen Kontakt mehr von der Seite von meinem Vater . ich weiß nich warum meine Eltern haben es mir nie gesagt aber da is überhaupt kein Kontakt mehr« (103-106). Auch diese Passage kann nun so gedeutet werden, dass Natalie nicht den Umstand des fehlenden Kontakts als absolut unbefriedigend bewertet. Wohl aber macht sie deutlich, dass das Faktum zur Frage herausfordert, weshalb keinerlei soziale Beziehungen zur Mutter des Vaters bestehen. Die Eltern, die diese Frage beantworten könnten, tun dies indes nicht, obwohl sie wissen müssten, wie bedeutsam für Natalie die Bereitstellung von Wissen, Informationen und Begründungen ist. Doch nicht nur die Eltern enthalten wichtige Informationen vor oder konfrontieren Natalie mit Aussagen, die sie insofern als unbefriedigend erachtet, als sie ihre keine überzeugenden Begründungen liefern. Auch durch andere Familienmitglieder sieht sie sich vor Situationen gestellt, denen sie auf den Grund zu gehen hat. Ganz konkret tritt dies in einer Passage der lebensgeschichtlichen Erzählung hervor, in der Natalie davon spricht, dass sie angesichts widersprüchlicher Aussagen von Tanja und Nina Aufklärung wünscht. Während sie und ihre Schwester Alexandra den Kontakt zur Halbschwester Tanja pflegen, hat Nina – so erfährt man von Natalie – bislang keinen Kontakt aufbauen wollen. Sie unterstützt vielmehr die Auffassung der Eltern und bezweifelt den rechtmäßigen Status Tanjas als Halbschwester. Umso mehr wundert es Natalie, als Nina ihr wenige Wochen vorm Interviewtermin berichtet, dass sie Tanja gerne treffen möchte und ihr daher eine Kurznachricht geschrieben hat. »Meine Schwester Nina die lesbische (I: mhm) die hat ähm mir vor ich würd mal sagen drei vier Wochen erzählt dass se zu Tanja Kontakt aufgenommen hätte da sie ihr ähm über SMS äh also ne SMS geschrieben hätte un ähm . da hat mich ziemlich gewundert weil sie halt nie den Kontakt wollte und meinen Eltern halt geglaubt hat dass sie gar nicht unsere Schwester wäre« (340-348).

Als sie Tanja auf die Initiierung des Treffens mit Nina anspricht, wird ihr dann allerdings gesagt, dass bislang keine Kurznachricht angekommen sei:

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»Und ähm hab ich dann mit meiner Halbschwester drüber geredet dass sie sich halt gemeldet hat und hat sich total gefreut nur bis heute hat se gesagt hat se keine SMS bekommen was mich auch sehr stutzig gemacht hat (I: mhm) . weil ich mich halt gefreut hab dass wir dann vielleicht auch Mal wirklich mit der Familie (I: ja) unternehmen können un so« (355-365).

Angesichts der Aussage Tanjas, dass sie bis jetzt keine Kurznachricht von Nina erhalten habe, wird Natalie stutzig. Sie wundert sich also über den manifesten Widerspruch. Neben der Frage, was die Umstände für die divergierenden Aussagen sind, ist Natalies Aufmerksamkeit dabei vor allen Dingen auch auf das Resultat des gescheiterten Treffens gerichtet, d.h. auf die dadurch vereitelte Möglichkeit, Unternehmungen mit der ganzen Familie durchzuführen. Die letzten Sequenzen, die Natalies Interesse an ›Wahrheit‹ demonstrieren, sind nicht ausschließlich in familiale Kontexte eingebettet. Allerdings wird in diesen Sequenzen – wie auch in allen anderen hier diskutierten Passagen der lebensgeschichtlichen Erzählung Natalies – ebenfalls die Dimension des Fremdverhältnisses angesprochen. Die erste spielt sich in der Mittelstufe der Realschule ab. Natalie ist etwa 15 Jahre alt, als eine gute Freundin plötzlich nicht mehr in die Schule kommt. Auf Nachfrage erhält Natalie vom Klassenlehrer bloß die Auskunft, dass die Freundin umgezogen sei. Diese Antwort scheint sie jedoch nicht so ohne Weiteres zu akzeptieren. Gerade der von Natalie in der folgenden Passage ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung bemühte Konjunktiv (»die wär umgezogen«) macht das deutlich: »Dann ... hab ich ähm in der Realschule ne gute Freundin gehabt ähm sozusagen meine beste Freundin und ähm die ähm hat halt immer ziemlich Probleme mit ihrem Vater gehabt weil der die Mutter geschlagen hat und ziemlich gewalttätig gegenüber den Kindern auch war (I: ja) und ähm die is dann ähm irgendwann kam ich halt in die Schule eines Tages und da wurd mir dann nur gesagt dass diese Freundin halt nicht mehr da is die wär umgezogen (I: mhm) wovon ich aber nichts wusste (I: mhm) und da war ich halt ziemlich geschockt« (149-164).

Für Natalie stellt sich eine Art geschockter Ungläubigkeit ein. Geschockt ist sie dabei zum einen durch die Plötzlichkeit des Verschwindens, zum anderen aber auch durch die Tatsache des Verlusts: »war ziemlich schwer für mich weil ich .. früher nie so viel Freunde hatte und sie halt so meine beste war« (169f.). Von einem Umzug der Freundin wusste Natalie nichts. Die Klassenkameradin, die zu dieser Zeit ihre beste Freundin war, hätte sie darüber aber sicherlich aufgeklärt. Deshalb traut dieser Aussage nicht recht. Und die weitere Entwicklung gibt ihr

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recht: Sie erfährt nämlich einige Wochen darauf durch einen Anruf der Freundin, dass sie wegen des schlagenden, alkoholabhängigen Vaters mit ihrer Mutter in ein Frauenhaus ziehen musste. Nach einigen Monaten kehrt die Freundin mit ihrer Mutter wieder zum Vater zurück. Weil auf Grund der nach wie vor ausgeübten Gewalthandlungen des Vaters jedoch kein Neubeginn ermöglicht wird, bespricht Natalie mit ihren Eltern die Situation der Freundin und überlegt gemeinsam mit ihnen, was zu tun ist: »Dann ähm is se aber nach en paar Monaten wiedergekommen sin se wieder zu ihrem Vater gegangen und ähm wurde aber nichts der hat halt war halt immer noch gewalttätig (I: mhm mhm) is auch Alkoholiker gewesen oder immer noch ich weiß es nich und ähm dann äh hab ich mit meinen Eltern auch da drüber geredet weil wir halt nicht wussten was wir machen sollten weil die Mutter von ihr auch ganz verstört war (I: ja) un ähm haben dann äh zusammen die Polizei gerufen und dann sind se noch ma in en Frauenhaus gekommen (I: mhm) wo se jetzt ähm in der Stadt ne Wohnung gefunden haben und praktisch en neues Leben angefangen haben (I: mhm) seitdem hab ich sie aber auch nicht mehr gesehen also das is schon jetzt zwei Jahre her« (173-193).

Es bleibt in dieser Passage unklar, ob Natalie nur mit ihren Eltern oder sogar gemeinsam mit ihren Eltern und der Mutter der Freundin die Polizei verständigt. Fakt ist allerdings der Umstand, dass Natalie das Problem der Freundin gewissermaßen zu ihrem macht, ihre Eltern konsultiert und in dieser Situation – anders als in zahlreichen anderen – ein Gespräch stattfindet, bei dem Informationen ausgetauscht und gemeinsam Strategien zur Problembewältigung erarbeitet werden. Durch die gemeinsame Aktion gelingt es dann auch, der Klassenkameradin und ihrer Mutter behilflich zu sein, sodass sie im weiteren Verlauf »praktisch en neues Leben« (189) anfangen können. Der Beginn eines neuen Lebens bedeutet dabei – das ist gewissermaßen die Tragik dieser Episode – den Verlust der Freundschaft. Mit einem Verlust der Freundschaft hat Natalie auch in einer anderen Situation zu tun. Ausgangspunkt ist dabei ein Streit zwischen ihr und einer Mitschülerin, mit der sie ehemals gut befreundet war: »Wegen dieser Freundin hatte ich Streit mit ner anderen Klassenkameradin (I: mhm) ähm ich ich weiß gar nicht mehr warum heute is es is schon was länger her und ähm es hat ziemlich ausgeartet weil wir waren immer gute Freunde und auf einmal hat sie mich wirklich gehasst von Grund auf und ich konntʼs halt nicht verstehen weil ich nich wusste warum reagiert sie jetzt so warum mag sie (I: ja) nich mehr und die hat dann ähm ja aus der Klasse ziemlich viele Mädchen auf ihre Seite bekommen un (I: mhm) war halt ziemlich äh

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schlimm für mich ich hab dann oft daheim geweint un auch meine Eltern gefragt warum warum is das so« (768-784).

Die Ursache dafür, weshalb die gute Freundschaft so rasch zerbricht und die Klassenkameradin schlagartig ein stark aversives Verhalten gegenüber Natalie zeigt, ist unbekannt. Natalie kann es sich nicht erklären, ist niedergeschlagen und sucht deshalb den unterstützenden Rat der Eltern, indem sie ihnen die Frage nach dem ›Warum‹ stellt. Natalie erzählt nichts darüber, ob sie ihr konkrete Erklärungen bieten können oder inwiefern ihre Eltern sie darin unterstützt haben, die Situation zu verarbeiten. Deutlich wird durch die weitere Erzählung indes, dass Natalie wiederum selbst die Initiative ergreift. Im Zuge der Vorbereitungen für die Abschlussfeier auf der Realschule sucht Natalie nämlich den Kontakt zu ihrer Mitschülerin und bespricht die Situation mit ihr. Doch eine Erklärung für den heftigen Streit zwischen den zuvor befreundeten Schülerinnen kann auch dieses Gespräch nicht herbeiführen, wenngleich es eine gewisse Wiederannäherung zwischen Natalie und der Klassenkameradin initiiert: »Ähm da hab ich dann noch ma dran gedacht dass ich mit ihr halt so gut befreundet war und ähm mich mit ihr getroffen haben da drüber geredet und ähm sie hat sie hat selbst gesagt sie weiß nich mehr warum und wieso aber es auf einmal war es halt nich mehr so . keine Ahnung wusst sie halt auch nich mehr (I: mhm) genau und ähm ja seitdem . wir sind nicht mehr so gute Freunde wie früher aber wir sehen uns ab und zu noch« (801-810).

Werden diese verschiedenen Episoden nun überblickt und ihr Kern destilliert, dann zeigt sich deutlich, welche Bedeutung die Suche nach Aufklärung und ›Wahrheit‹ für Natalie hat. Für sie ist es wichtig, dass man über Dinge redet und sich informiert, da auf diese Weise nicht nur Sachverhalte überblickt und Zusammenhänge erkannt werden können, sondern auch Handlungsfähigkeit erlangt und Bewältigung erreicht wird. So sind für sie die Dinge des Lebens erst einmal gar nicht unmittelbar negativ konnotiert, sondern fordern zur Frage heraus, weshalb sie sich dergestalt zeigen und wie mit ihnen umzugehen ist. ›Schlimm‹ – um in Natalies Kategorisierungen zu reden – sind die Dinge des Lebens allerdings dann, wenn man sich ihnen entzieht, sich nicht in Gesprächen mit ihnen auseinandersetzt und Begründungen für sie ausbleiben. Dabei steht ihre Suche nach ›Wahrheit‹, den Beweisen und der Geltung von Aussagen der elterlichen Strategie des Umgangs mit Lebenssituationen entgegen. Denn die elterliche Strategie ist es, Beweise zu verbergen, Konflikte zu verschweigen und Sachverhalte umzudeuten, sodass die ›Wahrheit‹ nicht ans Licht kommt. Hieraus entstehen jene Konfusionen, die die Familie in ihren alltäglichen Handlungsweisen belasten.

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Das Aufzeigen von Gründen und die Bereitstellung von Wissen durch Gespräche stellen für Natalie nun aber auch mehr als nur bloße ›Informationsveranstaltungen‹ dar. Sie bedeuten für Natalie den Einbezug in soziale Zusammenhänge. Über Gespräche, die aufrichtig, statt verleugnend geführt werden, gestaltet sie ihre sozialen Beziehungen. Wenn sie in Sachverhalte einbezogen wird, wertet sie soziale Beziehungen auch als zufriedenstellend. Die Qualität ihres Verhältnisses zu den Eltern – das ist die hier vorgeschlagene Lesart – lässt sich daher als das Resultat des permanenten Nicht-Einbeziehens in familiale Angelegenheiten verstehen. Weil Natalie Beziehungen vorrangig über Offenheit, Aufrichtigkeit und damit auch Vertrauen herstellt, die Eltern ihr das aber nicht offerieren, ist ihr Verhältnis zu ihnen ausgesprochen ambivalent. Wenn Natalie auf die dritte exmanente Nachfrage antwortet und hierbei zuerst erzählt, was ihr zu ihrem Vater einfällt, tritt diese Ambivalenz sehr deutlich hervor: »Also zu meinem Papa fällt mir ein dass ich mit ihm immer viel Streit hatte (I: mhm) und ähm ihn auch glaub ich mit manchen Worten dann ziemlich verletzt hab was ich heute weiß was ich damals nicht so richtig realisiert habe (I: OK ja) und ähm dass ich mit ihm aber gleichzeitig auch total schöne Momente erlebt habe wie dieses Schwimmen jedes Wochenende .. in den Zoo gefahren sind (I: mhm) war früher so Sachen halt wo ich mich noch genau dran erinnern kann« (972-985).

Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen ist dann auch Natalies Aussage plausibel, dass sie trotz des vielen Streits zum Vater ein engeres Verhältnis als zur Mutter hat. Zwar wird ihre Sehnsucht nach Liebe, Zuneigung und einer ›intakten‹ Familie auch von diesem nicht wie gewünscht erwidert. Der Vater kann aber – deutlicher als die Mutter – Nähe zeigen und dadurch familiale Intimität zum Ausdruck bringen. Und Natalie selbst weiß, dass sie genau das braucht: »Obwohl ich mit meinem Vater viel Streit hatte muss ich sagen mit meiner Mutter hat ich nie das Verhältnis wie mit meinem Vater (I: mhm) also mit ihr konnt ich ähm zwar reden wenn ich ähm Probleme hatte mit Freunden oder so konnt ich mit ihr reden (I: mhm) aber ähm sie kann ganz schlecht Nähe zeigen und ähm sie sie kann mich halt ganz schlecht in den Arm nehmen (I: mhm) oder mir mal sagen dass sie mich lieb hat und dass is mir ganz wichtig das brauch ich halt« (986-999).

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5.2.4 Zusammenfassende Betrachtungen: Die Bedeutsamkeit der Fremdverhältnisse in der ›Bildungsgestalt‹ Natalies Natalie gestaltet ihre lebensgeschichtliche Erzählung vorrangig über die narrative Präsentation von Fremdverhältnissen. Selbstverhältnisse sind bei ihr keineswegs dominant. Sie werden zwar im Verlauf der lebensgeschichtlichen Erzählung notwendigerweise zum Ausdruck gebracht. Und gelegentlich werden sie auch intensiver entfaltet – beispielsweise dann, wenn Natalie, durchaus mit Bezug auf die von Petzelt und Fischer erarbeitete Kategorie des Leistungsstrebens, erzählt, dass sie stolz darauf ist, den Realschulabschluss geschafft zu haben. Durchgängig treten bei ihr Topoi, in denen das Verhältnis zur eigenen Person dominant hervortritt, wie etwa im Zweifel am Wert des Ich, dem Verlangen nach einer persönlichen Wertsteigerung oder dem Wunsch nach Vollkommenheit, indes nicht hervor. Natalie richtet sich vielmehr auf ihre Mitmenschen und die Beziehung zu ihnen. Es sind gerade Familienstrukturen, mittels derer sie ihr gelebtes Leben verdeutlicht. Positive Erfahrungen sind dabei eher selten Gegenstand der Auseinandersetzung Natalies. In weiten Teilen liest sich ihre lebensgeschichtliche Erzählung deshalb als Aneinanderreihung von familial bedingten biographischen Krisen. Sie ist zehn Jahre alt, als sie sich – kurz nach der Erkrankung an der Schuppenflechte und dem Übergang auf die Realschule – nicht mehr mit ihren Eltern versteht und daraufhin die Nachbarin Beate kennenlernt, die ihr das geben kann, was die Eltern nicht zu geben imstande sind. Zum Zeitpunkt des sich für Natalie als belastend erweisenden Hinauswurfs der Schwester Alexandra aus der elterlichen Wohnung, ist sie 11 Jahre alt. Mit 13 wird sie damit konfrontiert, dass ihre Schwester Nina lesbisch ist. Im Alter von 14 Jahren erfährt sie, dass der Vater aus einer früheren Beziehung bereits eine Tochter hat, was jedoch innerfamilial radikal verheimlicht und trotz eines Vaterschaftstests nicht anerkannt wird. Dass Natalie mit diesen krisenhaften Phänomenen in einem Zeitraum von ca. vier Jahren konfrontiert wird, ist besonders beachtlich; vor allen Dingen auch deshalb, weil sich dieser Zeitraum mit jener Phase deckt, die den Übergang von der Kindheit in die Jugend bildet, sodass Natalie zusätzlich zu den Aufgaben, die das jugendliche Ich im Zuge des Eintritts in die Lebensphase Jugend (›Vorpubertät‹ bzw. frühe Reifezeit) beanspruchen, auch diese Situationen für sich zu verarbeiten hat. Selbst dezidiert erfreuliche Momente werden dabei aber von ihr in ›schlimme‹ Erfahrungen eingebettet. So macht Natalie nicht nur deutlich, dass die Bekanntschaft mit der Nachbarin Beate nur deshalb erfolgte, weil das Verhältnis zu ihren Eltern mit dem ›Abschied‹ von der Kindheit eine deutliche Verschlechterung erfährt und sie ihr fortan nicht das geben können, was sie

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braucht. Auch das Kennenlernen ihres Freundes wird negativ konnotiert erzählt. Denn Natalie erwähnt es im Zusammenhang mit dem Wiederauftreten der Schuppenflechte. Auch wenn Natalie ihr Leben nun aber vorrangig als Aneinanderreihung krisenhafter Konstellationen erzählt, so resigniert sie angesichts dieser Umstände nicht. Aus der unbefriedigenden Familiensituation zieht sie etwa keineswegs – höchstens vorübergehend im Rahmen ihrer Auszugsüberlegungen, die durch das gleichsam mediatorische Einwirken der Großeltern letztendlich fallen gelassen werden – den Schluss, sich von ihrer Familie zu distanzieren und jeglichen Kontakt zu vermeiden. Ihre Sehnsucht nach einer ›intakten‹ Familie und Zusammenhalt treibt sie vielmehr an. So stellt sie in der lebensgeschichtlichen Erzählung heraus, wie sie die Verbindungen zwischen den Familienmitgliedern aufrechterhält: Sie geht zur Mutter, zum Vater, zu ihrer Schwester Nina, zur Halbschwester, transportiert Informationen zwischen ihnen und versucht, sie als Familie zueinander zu bringen. Natalie zeigt dabei enormes Widerstandspotenzial und Mut. Sie wagt – um mit dem Vokabular der Bildungstheorie Ruhloffs zu sprechen – neue Deutungen, eröffnet neue Möglichkeitsräume und versucht, etablierte Ordnungsmuster zu ändern (vgl. Ruhloff 1996a: 154). Sie bestimmt nämlich den Status und den Wert ihrer Halbschwester Tanja anders als dies ihre Eltern tun. Sie erkennt die Chancen der Vergemeinschaftung, die aus einer Verständigung zwischen den Familienmitgliedern erwachsen. Und sie erachtet die Homosexualität ihrer Schwester Nina nicht als abnormal oder abstoßend, sondern generiert ihre eigenen Wertvorstellungen, wenn sie sagt, dass es ihr völlig egal ist, ob ihre Schwester Nina nun Frauen oder Männer liebt. Natalie ist folglich keineswegs durch ihre äußeren, d.h. hier elterlichen Einflüsse determiniert. Ihr Fremdverhältnis richtet sie keineswegs an der elterlichen Sicht aus. Vielmehr verfügt sie über eine Aktivität, die sich den erzieherischen und sozialisatorischen Einflüssen widersetzt und bildungswirksame Kraft entfaltet. Diese äußert sich bei Natalie in dem Verlangen nach ›Wahrheit‹ und Begründungen, dem Einordnen und Verstehen sowie dem Befragen und selbsttätigen ›Auf-die-Spur-gehen‹. Die Rekonstruktion der lebensgeschichtlichen Erzählung Natalies weist dabei allerdings – das ist nun mit Blick auf die getroffenen Analysen in Kap. 2 interessant – kein Konversionserlebnis aus, das sich für diese Haltung verantwortlich zeichnet. Vielmehr lässt sich sagen, dass Natalie über grundlegende Mittel verfügt, die es ihr ermöglichen, ihr Leben auf eine bestimmte Weise zu leben. Über Sachverhalte reden, sie erkennen und aufklären, um aus dieser Kenntnis heraus zu handeln, das sind jene Mittel, die Natalie gebraucht, um Situationen zu be- und verarbeiten. Während sie von der Nachbarin Beate dafür allerdings Anerkennung erfährt, schließlich lobt sie Natalies Beharrlichkeit des Nachfragens

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und der Kontaktpflege zum Zeitpunkt ihres stationären Aufenthalts in einer Psychiatrischen Klinik, so honorieren die Eltern Natalies Aufklärungsbestreben keineswegs. Natalie hat stattdessen mit gewissen Strukturen und ›Mechanismen‹ zu kämpfen, die ihr Agieren zu unterbinden versuchen. Diese zeigen sich beispielsweise dann, wenn die Eltern ihr mittels eines Stimmungswechsels unmissverständlich deutlich machen, dass sie die Verabredungen mit Tanja nicht gutheißen. Dass sich Natalie dadurch nicht von ihrem Handeln abbringen lässt, macht deutlich, dass sie von der Rechtmäßigkeit ihres Tuns überzeugt ist. Insofern lässt sich auch sagen, dass Natalie mit ihrer gleichsam reflektiert-problematisierenden Haltung zu den Eltern in Opposition tritt. Die Eltern verharren nämlich in ihrem Handeln. Sie zeigen permanentes Nicht-Verstehen und Nicht-Akzeptieren-Wollen, was durchaus als dogmatisierend zu bezeichnen ist. Begründungen liefern sie nicht und den Drang, über Angelegenheiten offen zu sprechen, verspüren sie nicht. Diese gleichsam lethargisch-paralytische Einstellung kritisiert Natalie vehement. Aber auch ähnliche Umgangsweisen anderer Mitmenschen – etwa die von Lehrerinnen und Lehrern – werden von ihr mittels des Prinzips der ›Du-Bestimmtheit‹, also der von Petzelt (1965: 159) als kritische Auseinandersetzung mit anderen Menschen, deren Denken und Handeln beschriebene Haltung, in den Blick genommen und mit Argwohn betrachtet, wenn sie nicht bereit sind, sich mit Missständen ernsthaft auseinanderzusetzen. Natalie rekurriert dabei etwa auf ihre eigenen Erfahrungen des ›Gehänselt-Werdens‹ zu Beginn der Realschule. Ebenso wie das elterliche Tabuisieren als wenig beispielhaft bewertet wird, kommt Natalie hier zu dem Befund, dass die nicht erfolgte Intervention des Lehrers als Nachlässigkeit und Verstoß gegen die professionelle Verpflichtung anzusehen ist: In seinem Status als Lehrer hätte er nicht nur etwas sagen können, er hätte es sogar müssen. Das aufrichtige Gespräch stellt für Natalie – wie nun mehrfach deutlich wurde – einen Zentralpfeiler ihrer aufklärerischen Bemühungen dar. Nur über offene Gespräche kann sie Zusammenhänge erkennen und Handlungsfähigkeit erlangen. Problematisch wird es für sie gerade dann, wenn man nicht über Angelegenheiten spricht, Sachverhalte verschweigt oder sogar falsche Informationen in Umlauf bringt. Dabei bedeutet ihr Beharren auf Aussprache und die Verbalisierung der ›Wahrheit‹ im Umkehrschluss aber auch, dass ihr ein Sehen oder Spüren der Tatsachen nicht ausreicht. Sie ist auf die Artikulation und offene Aussprache angewiesen. Denn erst dann, wenn man über Dinge und Themen spricht, erlangt Natalie Klarheit. Erst das Sagen ist für sie Wissen. Eben das heißt aber auch, dass Natalie Situationen immer erst dann erkennt, wenn sie ihr verbal mitgeteilt werden. Entwicklungsverläufe und Prozesshaftigkeiten kann sie nicht antizipieren. Von der Depression der ›zweiten Mama‹ hat sie etwa vor der Einliefe-

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rung in die Psychiatrische Klinik nie etwas gemerkt. Auch dass ihre Klassenkameradin unter ihrem alkoholabhängigen und gewalttätigen Vater leidet, wird von Natalie nicht festgestellt. Nicht zuletzt deshalb dürfte sie so sehr geschockt sein, als die Freundin nicht mehr da ist und man ihr sagt, dass sie umgezogen sei. Von Ereignissen, die sie nicht hervorsieht, wird Natalie also stark erschüttert. Jedoch – und das ist das Entscheidende – wird sie von diesen Erschütterungen keineswegs außer Gefecht gesetzt. Sie sucht vielmehr danach, wie mit diesen Bedingungen umzugehen und das Leben unter ihnen zu leben ist. Sie sucht nach Zusammenhängen und Klärungen. In dem ersten Fall äußert sich dies in einer Beharrlichkeit der Kontaktpflege zur Nachbarin Beate trotz oder gerade wegen ihres Aufenthalts in einer Psychiatrischen Klinik. In der zweiten Episode artikuliert sich dies in einer Ungläubigkeit und – nach der Rückkehr der Freundin – in der Überlegung, was zu tun ist, damit man der Klassenkameradin und ihrer Mutter helfen kann. Natalie steht insofern für einen Fall, in welchem ›Bildung‹ primär mit der Beziehung zu anderen in Verbindung steht. Die nachfolgende Abbildung versucht – wie schon zuvor –, wesentliche Aspekte hervorzuheben und die Bedeutsamkeit des Fremdverhältnisses in Natalies ›Bildungsgestalt‹ im Kontext der biographie- und bildungstheoretischen Markierungen deutlich zu machen. Abbildung 3: Natalies ›Bildungsgestalt‹ – im Kontext biographie- und bildungstheoretischer Markierungen

Selbstverhältnisse

Fremdverhältnisse

Weltverhältnisse

Natalie (17 Jahre; Auszubildende) ‘ »und ich konnt‘s halt nicht verstehen weil ich nich wusste warum«

des Ich »als se dann wieder zu Hause waren hab ich halt ähm auch mit meinen Eltern da drüber geredet und gefragt warum sie nich ma irgendwie im Urlaub mit meiner Schwester da drüber geredet haben warum das so is und ob se das nicht verstehen können«

›Du-Bestimmtheit‹ Bestimmung von Normen und Werten in Unabhängigkeit von Anderen

kritische Positionierung gegenüber den elterlichen Aussagen und Handlungen

Infragestellung der generationalen erzieherischen Ordnung

Distanzierung von Meinungen der Eltern hinsichtlich des Status der Halbschwester und der Homosexualität von Nina

Werte-Übernahme von und ›Abarbeitung‹ an Vorbildern

Herstellung und Aufrechterhaltung von Familienkontakten trotz elterlichen Widerstands

Suche nach fremder Beispielhaftigkeit

Wunsch nach Verstandenwerden, Anerkennung und Freundschaft

Wertung der elterlichen Handlungen als wenig beispielhaft aufgrund ihrer desintegrierenden ‚Manöver‘ ausgeprägtes Bedürfnis nach familialem Zusammenhalt, Hinwendung zur Nachbarin Beate (Mutter- und Familienersatz)

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5.3 »W AS

ICH EIGENTLICH AM LIEBSTEN MACHEN MÖCHTE IS EIGENTLICH DER T IERSCHUTZ « – DIE 19- JÄHRIGE S ONJA

Zum Interviewzeitpunkt ist Sonja6 19 Jahre alt. Sie kommt 1989 an einem Hochzeitstag ihrer Eltern, einer Sekretärin und einem Finanzverwalter, nach einer problematischen Geburt »per Kaiserschnitt zur Welt« (1930). Zusammen mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester Barbara wächst sie – gewissermaßen in Kontrast zu ihrem ›abenteuerlichen‹ Lebenseintritt – behütet auf einem kleinen mittelhessischen Dorf auf. Ihre Eltern verbringen mit ihr sowie ihrer Schwester regelmäßig Urlaub in Italien oder Österreich. Und sie führen sie schon früh an Tiere – insbesondere Katzen – heran, weshalb Sonja sich diesen Lebewesen seit frühesten

6

Der Kontakt zu Sonja wird über eine Kollegin hergestellt. Sonja ist eine von insgesamt drei Schülerinnen, die prinzipiell Bereitschaft signalisieren, an einem Interview teilzunehmen. Obwohl mit allen drei Kontakt aufgenommen wird, kommt letztlich nur das Interview mit Sonja zustande, die am entschiedensten ihr Interesse an einer Teilnahme bekundet. Auf Grund eines kurzen Urlaubs von Sonja muss der Termin zwar um zwei Wochen verschoben werden. Er kann dann aber stattfinden. Das Interview wird in Räumlichkeiten der Universität durchgeführt, womit Sonja sich durchaus zufrieden zeigt. In der Eingangsphase erweist sich das Interview jedoch nicht so unkompliziert wie die bis dahin erfolgte Korrespondenz mit Sonja. Auf den Erzählstimulus reagiert sie nämlich sogleich mit einer Rückfrage: »Erlebnisse im Sinne von (fragend bis*) was mich geprägt hat*« (19f.). Außerdem ist Sonja äußerst skeptisch, was die Relevanz des von ihr Gesagten angeht. So hat sie am Anfang deutliche Schwierigkeiten, ins flüssige Erzählen zu kommen, weil sie sich an dem Ausdruck ›Erlebnis‹ stört: »mich irritiert immer noch dieses Wort Erlebnis ich komm irgendwie auf kein Erlebnis was (lachend bis*) ich erzählen könnte*« (90-92). In den ersten Minuten des Interviews finden daher einige Aushandlungen statt. Zeitweise scheint sogar zu befürchten, dass Sonja das Interview abbricht, zumal sie auch Vorbehalte gegenüber einer offenen Erzählung ihrer Lebensgeschichte artikulierte: »ich frage mich eben nur was so erzählenswert jetz zum Beispiel wäre (I: mhm) beziehungsweise was ich auch gerne einem fremden Menschen erzählen möchte« (61-66). Nur wenig später erübrigen sich glücklicherweise diese Vorbehalte: »ich kann mir nicht vorstellen dass das alles wirklich relevant is aber (I: mhm) OK ich rede einfach weiter« (209-212). Daraufhin präsentiert Sonja – durchaus mit Erzählfreude – in insgesamt zweieinhalb Stunden ihre Lebensgeschichte, wenngleich auch ein gewisser ›Geständnischarakter‹ ihre folgenden Ausführungen stets begleitet: »es gibt ja noch tausend Details aus meinem Leben die ich noch preisgeben könnte« (471f.).

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Kindheitstagen besonders verbunden fühlt und einen gleichsam personalen Bezug zu ihnen herstellt. Umgeben von Wald und Feld erlebt sie so »ne ziemlich schöne Kindheit« (39f.). Zudem sind die Eltern des Vaters unmittelbar vor Ort, da die gesamte Familie in einem Mehrgenerationenhaushalt lebt. Sie, ihre Eltern und ihre Schwester bewohnen dabei das obere Stockwerk des vom Großvater väterlicherseits erbauten Hauses. Die Großeltern selbst wohnen im Erdgeschoss. Allerdings versterben sie noch in Sonjas erstem Lebensjahrzehnt, worauf das gemeinsam bewohnte Haus komplett umgebaut und so eingerichtet wird, dass sowohl Sonja als auch Barbara je ein eigenes Zimmer erhalten. Erste Freundschaften schließt Sonja im Kindergarten, wo sie sich als Dreijährige gemeinsam mit einem altersgleichen Mädchen kraft spielerischer Imaginationen vorstellt, ein Eichhörnchen zu sein. Von weiteren Situationen vor dem Eintritt in die Schule weiß sie jedoch nur wenig zu berichten, denn für sie ist zu dieser Zeit »sonderlich nicht so viel passiert« (41). Demgegenüber hat sie über ihre Grundschulzeit »viel mehr Erinnerungen« (155f.), womöglich gerade auch deshalb, weil der Schulanfang sich für sie gewissermaßen als unvorteilhaft erweist. Sie freundet sich nämlich rasch mit zwei türkischen Mädchen an und muss mitansehen, wie sich deshalb Freunde aus der Kindergartenzeit von ihr abwenden. Weil die beiden türkischen Mädchen die Schule nach der zweiten Klasse dann aber bereits wieder verlassen, steht Sonja für den Rest der Grundschulzeit plötzlich »zur Außenseiterin degradiert« (186) da. Dieser Zustand ändert sich erst auf der weiterführen Schule, wo es Sonja gelingt, neue Freundschaften zu schließen. Auch diese sind jedoch nicht von sonderlich langer Dauer. Die erste, sogleich zu Beginn der fünften Klasse des Gymnasiums eingegangene Freundschaft zerbricht rasch, da die dauerhaft egozentrische Haltung der Klassenkameradin und ihre extremes schulisches Leistungsstreben bei Sonja auf deutliche Ablehnung stoßen. Eine zweite, eher sporadisch geführte Freundschaft kommt zu Beginn der siebten Klasse nach knapp zwei Jahren deshalb zum Erliegen, weil Sonja nun Anschluss an eine in Russland geborene Klassenkameradin namens Anastasia findet, die ihre »erste wirkliche beste Freundin« (240) wird. Das ›Highlight‹ dieser Freundschaft ist ein Besuch von Anastasias Großmutter in Litauen, wodurch Sonja nicht nur ihre »Liebe zu Russland entdeckt« (253f.), sondern auch in den Besitz einer Katze kommt, die ihren Haustierbestand erweitert. Sonja und Anastasia verbringen »jeden Tag miteinander« (241) und widmen sich gerne Computer- und Konsolenspielen. In der Zeit, in der sie sich nicht mit ihrer Freundin Anastasia trifft, liest Sonja gerne Bücher, die über Katzen handeln, und schreibt eigene Geschichten, weshalb sich zu dieser Zeit ein erstes berufliches Wunschziel formiert: Sie hat vor, »Schriftstellerin zu werden« (627f.). ›Jugendtypische‹ Aktivitäten stehen dagegen noch nicht im

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Vordergrund. Vielmehr ist Sonja »einfach sehr sehr brav« (766f.). Sie schminkt sich nicht, trägt »nur so Katzen-T-Shirts« (1281), läuft zuweilen noch an der Hand ihrer Mutter und ist daher auch »noch wie’n kleines Kind« (768f.). Ihr 14. Lebensjahr stellt jedoch einen – auch und gerade von ihr selbst identifizierten – Wendepunkt im Leben dar. Denn am Abreisetag des obligatorischen Jahresurlaubs, der im Rahmen einer Familienfreizeit in Griechenland verbracht wird und der bis dahin »schönste Urlaub« (795) überhaupt ist, erleidet Sonjas Vater – nur wenige Tage nach Sonjas 13. Geburtstag – einen Herzinfarkt. Zwar werden Sofortmaßnahmen eingeleitet und ein Notarzt verständigt, doch auf der Fahrt ins Krankenhaus verstirbt der Vater. Für Sonja, die mit ihrer Mutter und der Schwester noch am selben Tag die Heimreise per Schiff antritt, ist der Tod des Vaters nicht nur insofern schmerzlich, als sie in den vorangehenden Lebensjahren sehr auf ihn fixiert und »mehr so das Papakind« (756f.) war. Er ist auch deshalb für sie mit großer Entbehrung verbunden, weil sich die Mutter in den folgenden Monaten sehr zurückzieht und sich viel mit sich selbst, kaum jedoch mit ihren Töchtern beschäftigt. Vor allem an dem Umstand, dass die Mutter in der Folgezeit »auch Bekanntschaften übers Internet« (961f.) macht und auf diese Weise einen neuen Partner kennenlernt, stört Sonja immens – auch deshalb, weil die Mutter von ihren ganzen Unternehmungen erst erzählt, »als sie dann plötzlich ihren Freund hatte« (982f.). Nicht zuletzt deshalb kann Sonja – wie auch ihre Schwester – den neuen Partner der Mutter anfänglich überhaupt nicht leiden. Sie nimmt ihn sogar regelrecht als Eindringling wahr. Mit dem Tod des Vaters ändert sich Sonjas Leben aber nicht nur in innerfamilialer Hinsicht. Auch und gerade außerfamilial kommt es zu einschneidenden Entwicklungen und dem Eintritt in eine ›neue Welt‹. Sonja lernt auf ihrer Schule nämlich Dani, ein gleichaltriges Mädchen, kennen, die ebenfalls ihren Vater verloren hat – das allerdings bereits im Alter von vier Jahren. Es ist das gemeinsame Schicksal, das die beiden Mädchen dabei zusammenbringt und sie in eine bis zum Interviewzeitpunkt existierende Freundschaft führt, die so extensiv gelebt wird, dass Sonjas Freundschaftsbeziehung zu Anastasia dabei schon nach kurzer Zeit in die Brüche geht. Dani ist gewissermaßen das Gegenteil von Sonja. Sie ist »laut« (1127), »so unabhängich« (ebd.) und »bildhübsch« (1345). Sie steht auch gerne im Mittelpunkt, fällt mir ihrer extrovertierten Art auf und hat als 13Jährige bereits einen 21-jährigen Freund, was Sonja zu dieser Zeit sehr imponiert. Denn sie selbst hat nicht nur keinen Freund, sondern empfindet sich auch als wenig attraktiv. Sie glaubt, »nicht so . toll […] auf Jungs vor allen Dingen« (1300f.) zu wirken. Von Dani wird Sonja dann aber »en bisschen mitgerissen« (85). Sie ändert auf ihr Geheiß das ›Styling‹ und wird extrovertierter. So ›verwandelt‹ lernt Sonja ihren ersten Freund kennen. Im Zuge von Danis Ein-

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fluss interessiert sie sich zudem für die Gothic- und Metal-Szene und zieht sich »so’n bisschen da schwarz an« (1667). Peu à peu kommt es dazu, dass sie »en bisschen abdriftet« (1121) und das Erkunden der Szene forciert, was ihr auch deshalb gelingt, weil sie von ihrer Mutter nahezu »alle Freiheiten der Welt« (1209) gewährt bekommt. Gemeinsam mit Dani sowie deren Bekanntenkreis besucht Sonja fortan jede Woche eine Szenedisko, wozu sie ein spezielles Outfit anlegt: Sie hat »dann Hotpants an zerrissene Strumpfhose und irgend en schwarzes Oberteil also teilweise auch rot . und manchmal auch Minirock mit Strapse« (1717-1719). Und über eine gewisse Zeit hinweg ist Sonja von diesen Szenegängen äußerst fasziniert. Vor allen Dingen auch die Tatsache, dass »halt Jungs Männer wie auch immer« (1737f.) sich für sie interessieren und sie als junge Frau wahrnehmen, wirkt reizvoll auf sie. Alles, was ihr im Kontext der Szene begegnet, findet Sonja deshalb »richtich klasse« (1739). Nach einiger Zeit – und vor allem durch den Besuch eines mehrtägigen Festivals initiiert – reduziert sie aber ihre szenespezifischen Aktivitäten. Sie stellt nämlich nicht nur fest, dass die Musik auf Dauer »furchtbar« (341) ist. Sie findet auch, dass »die Leute en bisschen gestört« (334) sind; es sind ihres Erachtens zuweilen »wirklich richtich Be- Bekloppte« (1707f.), die diese Veranstaltungen besuchen. Zwar besteht daraufhin Sonjas Interesse an »Hardrock« (357) und »Metal« (ebd.) noch fort, doch statt permanent auf Szene-Partys zu gehen, besucht sie – ungefähr ab der neunten Klasse und ebenfalls mit Dani – fortan Konzerte einer Schulband, für deren Mitglieder sie in gewisser Weise zu schwärmen scheint. Über diesen Weg erschließt sie sich auch einen Bekanntenkreis, der zwei Schulstufen umgreift. Im Rahmen einer »Gruppe wo wirklich jeder mit jedem befreundet« (1365f.) ist, sind es in der Folgezeit – und bis in die Oberstufe hinein – »ständich diese Partys« (429f.), mittels derer sie ihre Freizeit gestaltet, wobei sie auf Grund von übermäßigem Alkoholkonsum auch »drei Mal oder vier Mal so nen Absturz« (443) erlebt. Ihre schulischen Leistungen scheinen von diesen kleinen Eskapaden jedoch nicht beeinträchtigt zu werden. Sie hat – wie sie selbst sagt – »Gott sei Dank keine Probleme mit Schule« (2175). Zwar tut sie nicht viel für sie. Gleichwohl nimmt Sonja den Unterricht durchaus ernst. Sie wird durch »viele Lehrer auf der Schule […] sehr inspiriert« (528f.) und schätzt vor allem den Deutschunterricht. Auch ihr Interesse an den anderen sprachlichen Unterrichtsfächern ist so hoch, dass sie nicht ohne einen gewissen Stolz sagen kann, sie spreche »Französisch und Spanisch und Englisch fließend« (540). So besteht sie schließlich, ohne dass sie auf Schwierigkeiten oder besondere Anstrengungen verweist, die Abiturprüfungen und entschließt sich dazu, »selbst Lehrerin zu werden« (1991f.). Aller-

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dings ist sie sich noch nicht sicher, ob es bei dieser Entscheidung dauerhaft bleiben wird: »Werde jetz erstma zwei Semester studieren (I: mhm) auf Lehramt Deutsch Philosophie ähm . hab mich aber dazu entschlossen es erstmal nur zur Orientierung zu machen weil ich noch nicht sicher bin ob ich wirklich äh Lehrer werden möchte ah in dem Moment wo ich diese Bewerbung abgeschickt habe dacht ich eigentlich so is nich wirklich das was ich so . was bei mir an oberster Stelle steht Lehrer werden ich weiß nich ob das mein Ding is« (568-577).

Am liebsten würde Sonja nämlich gerne etwas tun, das im Zusammenhang mit dem Tierschutz steht, den sie – neben ihrer praktizierten vegetarischen Ernährungsweise – seit geraumer Zeit nicht nur ideell, sondern auch durch Mitgliedschaften bei Organisationen und regelmäßige Spenden unterstützt. Gerade im aktiven Eintreten für den Tierschutz sieht sie einen Sinn und die Möglichkeit, dass sie »wirklich was bewegen könnte« (603). Doch ein berufliches Engagement im Bereich des Tierschutzes zu forcieren, betrachtet sie auch insofern als problematisch, als eine generelle Schwierigkeit darin besteht, überhaupt »im Tierschutz ne Arbeit zu finden« (607), mit der man den eigenen Lebensunterhalt sichern kann. Deshalb ist die Entscheidung für das Lehramt gleichsam eine vorläufige und die Normen- sowie Sinnsuche für sie nicht abgeschlossen, zumal sie auch auf Grund eines bevorstehenden Umzugs der Mutter in ein anderes Bundesland und dem damit verbundenen Verkauf des ihr lieb gewordenen Hauses fortan stärker auf sich allein gestellt ist. Werden die auf ›Bildung‹ bezogenen Perspektiven in Rechnung gestellt, die in Kap. 3.2 erarbeitet und zusammen mit den biographiefokussierten Betrachtungen zu einem Theoriezusammenhang kompiliert wurden, so lässt sich Sonjas lebensgeschichtliche Erzählung noch gründlicher untersuchen. Durch die Vielzahl der von ihr angesprochenen Themen kann dabei der Akzent auf ihre im frühen Jugendalter sich artikulierende Unzufriedenheit mit dem äußeren Erscheinungsbild bzw. ihrer körperlichen Attraktivität gelegt werden. Man kann also auf das Verlangen nach einer Wertsteigerung des eigenen Ich abheben und somit die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Person untersuchen. Angesichts der geschilderten unbeständigen Freundschaftsbeziehungen kann man den Fokus ebenso auf eine Betrachtung ihres Bedürfnisses nach Freundschaft richten und so Momente ihres Verhältnisses zu anderen Menschen in den Blick nehmen. Ergiebig und aussichtsreich ist es allerdings, die Analyse von Sonjas lebensgeschichtlicher Erzählung nicht darauf zu beschränken, sondern sich zudem auf einige markante Aspekte ihres Weltverhältnisses zu konzentrieren, weil gerade damit

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ihre ›Bildungsgestalt‹ beschrieben werden kann. Auf diese Weise kommen zum Ersten die Übernahme der Werte des gleichaltrigen Vorbildes und die Faszination des Außeralltäglichens im Rahmen szenespezifischer Aktivitäten in den Blick (siehe Kap. 5.3.1). Zum Zweiten sind es Momente des Transzendierens sowie Formen ihrer Auseinandersetzung mit Verlusten (siehe Kap. 5.3.2), auf die die besondere Aufmerksamkeit fällt. Und zum Dritten treten die – qua O-Ton auch als Motto dieser bildungstheoretischen Analyse von Sonjas lebensgeschichtlicher Erzählung vorangestellte – Formulierung von Sinnfragen sowie ihr Einsatz für den Tierschutz hervor (siehe Kap. 5.3.3). Zusammenfassend lassen sich diese Ausführungen auf die ›Bildungsbedeutsamkeit‹ der Weltverhältnisse in der lebensgeschichtlichen Erzählung Sonjas hin auslegen (siehe Kap. 5.3.4). 5.3.1 Die Übernahme der Werte des gleichaltrigen Vorbildes und die Faszination des Außeralltäglichen im Rahmen szenespezifischer Aktivitäten In Kontakt zur Gothic- und Metal-Szene kommt Sonja über ihre Freundin Dani, die sie nach dem Tod des Vaters im Alter von 13 Jahren kennenlernt. Obgleich sie dieselbe Schule besuchen, sind sie bis dahin nicht in Kontakt zueinander getreten. Es ist erst das gemeinsame Schicksal, das Sonja und Dani zusammenbringt, da auch Dani ihren Vater im Kindesalter verloren hat: »Nachdem mein Vater gestorben is hab ich äh ne Freundin gefunden die ich auch wirklich nur deswegen kennengelernt habe . weil mein Vater gestorben is weil so kamen wir ins Gespräch ihr Vater is auch gestorben« (69-72). Der Tod des Vaters eröffnet Sonja insofern den Zugang zu einer neuen Freundschaft, die ihr die Kompensation familialer Verluste – nämlich den Tod des Vaters sowie den damit in Zusammenhang stehenden Rückzug der Mutter – ermöglicht. Sonja steht zu jener Zeit an der Schwelle zur Jugend, zur ›Vorpubertät‹ bzw. frühen Reifezeit, wie sich mit dem Begriffsrepertoire Petzelts und Fischers sagen lässt (vgl. Petzelt 1965: 159ff; Fischer 1966a: 53ff.). Sie fühlt sich jedoch ungleich ›unreifer‹ als Dani. Sonjas Bewertung nach ist Dani nämlich schon »so unabhängich« (1127) und hat »ihr Leben mehr oder weniger in der Hand« (1127f.). Auch ist Dani bereits fest in der Gothic- und Metal-Szene verankert und wird dort voll akzeptiert, was Sonja in erster Linie auf das äußere Erscheinungsbild sowie das ›Naturell‹ ihrer Freundin zurückführt, wenn sie sagt: »Die Dani is ähm ziemlich klein auch (I: mhm) die is glaub ich eins- einsneunundvierzig is sie groß aber bildhübsch wirklich und ähm dadurch hab war sie natürlich sehr ansprechend für viele und sie war auch einfach so’n Charakter sie war immer offen und lustich

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und hat jede Menge Scheiße gelabert die einfach viele Leute total lustich finden und . ja so kam es immer dass tausend Leute sich um sie gescharrt haben« (1342-1351).

Dani steht aber nicht nur – im Gegensatz zu Sonja – im Mittelpunkt und verfügt über enorme Beliebtheit in einem großen Freundeskreis. Sie hat zu jenem Zeitpunkt auch einen acht Jahre älteren Freund. Gerade von diesem Umstand lässt sich Sonja sichtlich beeindrucken. Sie selbst hat nämlich keinen Freund, fühlt sich unattraktiv und besitzt wenig Selbstbewusstsein. Es mag daher nicht verwunderlich erscheinen, dass es die gleichsam charismatische Ausstrahlung Danis ist, die Sonja sehr imponiert und die dazu führt, dass sie verstärkt die Nähe zur neuen Freundin sucht. Und in Dani findet Sonja in der Tat einen neuen Fixpunkt, nachdem sie ihren alten durch den Tod des Vaters verloren hat und innerfamilial keinen adäquaten Ersatz finden kann. Insofern erfolgt auch ein Wechsel der Lebensführung. Denn die Primordialität der Familie hat plötzlich ein Ende, und das Elternbild wird kritisch reflektiert, wenn Sonja fortan nicht mehr das Bedürfnis hat, an der Hand der Mutter zu laufen, sondern angesichts des Rückzugs auf sie »irgendwie böse« (981) ist. So wird die Peergroup zur leitenden sozialen Größe. Die alte Freundschaft zur bis dato besten Freundin Anastasia kommt dabei jedoch ebenfalls zum Erliegen, und so wiederholt sich ein Ereignis, das im biographischen Prozess Sonjas vermehrt auftritt. Denn bereits in der Grundschule und auf dem Gymnasium muss Sonja mitansehen, wie Freundschaften sich verlieren oder in die Brüche gehen. Dieses Mal trägt sie indes entscheidend dazu bei, da sie während eines Streits zwischen Anastasia und Dani Position für die neue Freundin ergreift: »So kam es eben dass meine jetz noch beste Freundin die Dani dass ähm ich mich dann mit der befreundet habe und die Anastasia mehr oder weniger im Stich gelassen habe weil die hat sich zu einem Zeitpunkt mit der Dani gestritten und ich hab mich auf die Seite von ihr gestellt und das hat die Anastasia mir nich verziehen« (280-286).

Von Dani wird Sonja nach diesem Vorfall dann sogleich auch in ein ihr bis dahin unbekanntes Leben »mit reingerissen« (1130) und in die Szene mit ihren Strukturen und Ritualen eingeführt. Es ist »erstma« (320) die Musik sowie die Kleidung, die ihr nähergebracht wird. Dann sind es Partys und Konzerte. Zuletzt ist Sonja mit Dani »irgendwann auch auf nem Festival« (328f.). Nahezu unwidersprochen scheint sie sich im Rahmen dieser Einführung in die Gothic- und Metal-Szene an Danis Empfehlungen zu orientieren. So geht man zusammen zum Friseur und verabredet sich zum ›Shoppen‹. Hier werden jene Kleidungsstücke gekauft, die Dani für Sonja aussucht:

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»Mit ihr bin ich zusammen einkaufen gegangen hab mir eben andere Klamotten gekauft wobei ich Shoppen eigentlich nicht leiden kann . aber ähm ja so kam das eben also es war tatsächlich oft so dass sie mir meine Sachen ausgesucht hat und ähm wir sind dann auch zusammen zum Friseur gegangen« (1320-1325).

Selbst den Musikgeschmack der Freundin übernimmt Sonja, wenn sie fortan das hört, »was sie gehört hat« (1376), obwohl sie die Anspruchslosigkeit vieler Bands durchaus moniert und »dieses Gegröle« (1765) gar nicht so recht ausstehen kann. Wenn sie für sich ist, hört Sonja zwar ebenfalls Bands dieses Genres, dann aber viel lieber »richtich anspruchsvolle Musik« (1767). Es ist im biographischen Prozess von Sonja – anders als dies in der Theorie der Reifezeit Fischers beschrieben wird – insofern ein gleichaltriges Vorbild, dessen Handeln als nachahmenswert und dessen Werteinstellung als beispielhaft empfunden wird. Strukturell betrachtet ergeben sich daraus jedoch keine folgenreichen Unterschiede. Wirkung und Einfluss des Vorbildes auf »Lebensstil und Haltung« (Fischer 1966b: 106) stimmen nämlich im Fall von Sonja mit den von Fischer vorgelegten Erläuterungen zur Jugend in der frühen Reifezeit überein. Sonja erkennt Dani als eine maßgebende Instanz an. Die zum Vorbild erkorene Freundin ist es, die über Doʼs und Don’ts, über ›Wohl und Wehe‹ bestimmt. Sie repräsentiert die Normen und Maßstäbe, denen sich Sonja verpflichtet fühlt und die sie demzufolge vertritt. Entscheidungen werden dabei dezidiert vor dem Hintergrund von Danis Auffassung gefällt: »Sie hat ja mehr oder weniger auch mitentschieden was ich anzieh wenn nich hat sie sogar selber entschieden also ich hab glaub ich nie . mir irgendetwas gekauft ohne ihre Meinung dazu zu hören« (1679-1682). Auf diese Weise macht sich Sonja in ihren Entscheidungen auf der einen Seite sehr von Dani abhängig, was gleichsam notgedrungen bei der Übernahme der Werte eines Vorbildes erfolgt (vgl. Fischer 1966b: 107f.). Und aus der heutigen Sicht heraus lehnt Sonja diese Unabhängigkeit ab, wenn sie konstatiert, dass sie früher das »Anhängsel« (406) von Dani war. Auf der anderen Seite betont sie aber auch, dass sie mit Danis Unterstützung immens an Selbstvertrauen gewonnen hat. Dani hilft ihr zu dieser Zeit insbesondere dabei, das kindlichunreife Äußere zu verändern, sodass Sonja an Selbstbewusstsein gewinnt: »Sie hat immer versucht dass ich eben auch selbstbewusster werde sie hat mich eben ja sie hat eben auch dafür gesorgt dass ich besser aussehe« (2643-2646). Die Steigerung ihres Selbstbewusstseins sieht Sonja folglich als ein besonderes Verdienst Danis an: »Ich war immer sehr introvertiert […] hatte jetz auch nich wirklich Selbstvertrauen und durch sie hat sich das eben ziemlich verändert« (78-83). Durch Danis Einflussnahme fühlt sich Sonja in der Folgezeit deutlich attraktiver und lernt nicht nur ihren ersten Freund kennen – was sie jedoch bloß knapp

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erwähnt und nicht narrativ ausgestaltet –, sondern knüpft auf Partys auch Kontakt zu vielen anderen Szeneangehörigen: »Dementsprechend hab ich mich dann natürlich äußerlich so (I: mhm) so sehr verändert dass ich dann auf andere Leute anders gewirkt habe und dann auch attraktiver wurde und ähm so kam es dann eben auch dass ich meinen Freund . hatte ähm . also mein mein erster Freund da war ich vierzehn ja und ähm dadurch hab ich dann andere Leute kennengelernt und ja vor allen Dingen eben durch Dani hab ich tausend Leute kennengelernt immer wenn wir auf ner Party waren« (1331-1340).

Als sozialer Ort für dieses Knüpfen neuer Kontakte dient vor allen Dingen das »Kult«, eine Szene-Diskothek, die Sonja zusammen mit Dani regelmäßig besucht, und das bereits in einem Alter, in welchem ihr gar kein Einlass gewährt werden dürfte. Durchaus mit Stolz verbunden erzählt Sonja während des Interviews davon, wie sie und Dani als Vierzehnjährige illegitimerweise die Lokalität besuchen und dort auf ausnahmslos Ältere treffen: »Das Kult kennste bestimmt ja also das war damals so . tatsächlich so diese Disko da sind wir jede Woche hin (I: mhm) obwohl wir erst vierzehn warn aber wir kamen damals trotzdem noch rein also mittlerweile ging das irgendwie nich mehr wenn wir heute noch vierzehn wären würden da rein wollen das ging dann wohl nich aber damals hat das alles funktioniert (I: mhm) und man dann immer eben auch umgeben von diesen ganzen Leuten die dann schon über zwanzig waren« (1163-1175).

Der Reiz und die Faszination der Besuche sind für Sonja aber nicht nur in dem Umstand begründet, dass sie und Dani als Vierzehnjährige die Räumlichkeiten der Diskothek betreten können. Es ist vielmehr auch die ihnen gewährte Anerkennung durch die anderen Besucher, die sie besonders beeindruckt: »Die Leute im Kult selber die fanden uns natürlich auch . total klasse weil waren eben noch jünger waren aber schon drin in dieser Szene und wirkten halt nicht wie so Möchtegerns und ähm . ja wir sahen auch hatten auch schon natürlich irgendwie ne gewisse Attraktivität für diese Menschen« (1727-1732). Weil Sonja an der ›Szene-Welt‹ Gefallen findet, häufen sich zum einen ihre Disko-Besuche; sie geht nämlich nach einer Weile nicht mehr nur samstags, sondern zudem auch mittwochs ins Kult, wo auf Industrial-Partys »so richtige ähm extreme Leute« (1708) feiern, z.B. Frauen »die dann nur nen Metall-BH getragen haben und dann pink gefärbte Haare« (1709-1711). Zum anderen intensiviert sie auch ihre ›Maskerade‹, denn – so führt Sonja aus – »man wollte da natürlich jetz auch nich unbedingt auffallen man wollte sich dem angleichen man

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fand das aber auch toll« (1711-1713). Es scheinen geradezu eine gewisse Lust an der Provokation und der Spaß am Widerstand gegenüber bürgerlichen Konventionen zu sein, durch die die beiden Freundinnen in ihren szenespezifischen Aktivitäten angetrieben werden. Sonja erzählt nämlich auch, wie sehr es beide erfreut, wenn sie auf dem Weg in die Diskothek von Passanten angeschaut werden: »Wir fanden das ganz toll und fanden das total geil so auszusehen wir fanden das auch toll auf der Straße rumzulaufen dass die Leute uns dann angucken« (17211724). Das Erregen von Aufmerksamkeit ist dabei ebenso Teil des Spaß evozierenden Prozederes wie das Zurechtmachen für den Diskobesuch. Gerade das Schminken sowie das Anziehen der szenespezifischen Kleidung wird regelrecht zelebriert: »Ich hab das geliebt mich so zurecht zu machen mich dann doch ma extrem zu schminken und dann ähm diese Stiefel anzuziehen also das fand ich dann ganz toll« (1739-1742). Obwohl Sonja das Anlegen dieser ›Maskerade‹ genießt und damit auch auffallen möchte, soll es jedoch nicht zu extrem wirken. So kann sie sich etwa nicht vorstellen, wie andere Szenegänger nur knapp bekleidet und mit bunten Haaren in der Disko zu erscheinen. Auch will sie sich nicht komplett schwarz kleiden und schminken. Es darf für Sonja allerdings auch nicht langweilig sein – schon allein deshalb nicht, weil – wie sie im Nachhinein betrachtet sagt – es »irgendwie aufgefallen« (1780) wäre, wenn sie neben Dani »gelaufen wäre und hätte ausgesehen wie jeder andere« (1779f.). Um die Zugehörigkeit zur Szene zu demonstrieren, ist eine gewisse Überschreitung der Konventionen also notwendig. Für die Diskobesuche wählt Sonja daher eine ›Maskerade‹, von der sie sich erhofft, dass sie die gewünschte Aufmerksamkeit zwar hervorruft, eine allzu große Extravaganz jedoch vermeidet. Durchaus grenzwertig – aber noch im Rahmen des für sie Legitimierbaren – sind dabei die von ihr bereits erwähnten Stiefel, die vorrangig in der Gothic- und Metal-Szene getragen werden und dort als Erkennungszeichen fungieren: »Ich hatte mir dann ähm einmal so Schuhe gekauft ähm ich weiß nich ob dir das was sagt New Rocks (fragend bis*) ne* . das is halt en bisschen extremer als Springerstiefel sind halt so so Stiefel die gehen bis hier (Anm.: zeigt mit den Händen) ham da so Nieten (I: mhm) also gibt’s tausend verschiedene Ausführungen meine hatten eben so Nieten wirklich sehr extreme aber das war das Extremste was ich tatsächlich besessen hatte und bin dann mit diesen Schuhen rumgelaufen und ähm Nietengürtel hatt ich immer getragen . habe ansonsten ich hatte meistens Jeans an oder also nie ganz ganz schwarz« (1669-1695).

Mit diesem gleichsam moderaten Kleidungsstil unterscheidet sich Sonja jedoch durchaus von ihrer Freundin Dani. Denn diese wählt deutlich ausgefallenere Kleidung – sowohl für die Diskobesuche als auch für den Alltag. Sonja erzählt:

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»Also sie war sehr extrem mit Springerstiefeln schwarzer Mantel irgendwann hat sie sich auch die Haare halb abrasiert so (I: mhm) un also sie hatte so lange Haare (Anm.: zeigt mit den Händen) (räuspernd) und hat sie sich auch schwarz gefärbt ja und ähm Nieten und mit alles Mögliche« (1669-1676). Während Sonja aus heutiger Sicht heraus die Aufmachung ihrer Freundin Dani allerdings nicht befürwortet und als »viel zu extrem« (1787) bewertet, hätte sie früher gerne genauso ausgesehen. Denn zu jener Zeit findet sie Dani »wunderschön« (1783) und ihr Aussehen »richtich geil« (1789). »Ich wollte selber auch so aussehen und ähm zu dem Zeitpunkt fand ich die Dani natürlich auch wunderschön (I: mhm) also sie war ja sie is einfach . richtich schönes Mädchen und ähm wie sie äh damals aussah war natürlich viel zu extrem und wenn ich jetz heute Bilder seh denk ich mir auch oh Gott aber ich fand das damals natürlich richtich geil und dachte mir so so will ich auch aussehen« (1781-1790).

Der Wunsch, ihre Mutter nicht in Verlegenheit zu bringen, verhindert, dass sie wie ihre Freundin Dani »wirklich den ganzen Tag richtich extrem« (1777f.) gekleidet ist und sich in der Szene voll ›auslebt‹. Die Übernahme der Werte des Vorbildes, die gemäß den bildungstheoretischen Überlegungen ein Kennzeichen der frühen Reifezeit ist, endet bei Sonja also dort, wo eine emotionale Verletzung der Mutter befürchtet wird. Das erläutert Sonja in einer Passage ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung, wenn sie sagt: »So richtich extrem ausgelebt hab ich das auch nich . ähm was wahrscheinlich hauptsächlich daran lag dass meine . Mutter das nich wollte also sie kannte zwar die Dani (I: mhm) und wusst auch wie sie aussieht aber sie mochte die Dani trotzdem sehr gerne weil sie eben so ne nette Persönlichkeit hat und ähm . hatte dann zwar Angst dass ich selber auch . so sehr dann darin abrutsche und selber auch so rumlaufe und mich so gebe aber (räuspernd) hatte dann dennoch nichts gegen meine Freundschaft mit ihr aber ich wollte ihr das eben nich antun ich wollte nich dass ich sie so weit enttäusche dass ich dass sie sich für mich schämt wenn ich in der Öffentlichkeit mich zeige oder so« (1792-1805).

Wenngleich in der Hauptsache eine ›Verantwortung‹ gegenüber der Mutter also dafür sorgt, dass Sonja nicht komplett in die Gothic- und Metal-Szene abtaucht, so ist zu diagnostizieren, dass dies nicht der alleinige Grund ist, der sie davon abhält. Eine allzu intensive Involviertheit vermeidet Sonja nämlich durchaus auch deshalb, weil sie und ihre Freundin Dani erkennen, dass diejenigen, die komplett von den Strukturen der Szene vereinnahmt werden, nicht mehr recht ›bei Sinnen sind‹. Die Szene macht – wie Sonja in ihrer wertenden Diktion sagt

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– »die Leute en bisschen gestört« (334). Bei aller Faszination, die die Szene einerseits auf die Freundinnen ausübt, wirkt sie andererseits also auch bedrohlich auf sie. Eben weil Sonja und Dani diese Dialektik von Faszination und Bedrohung nach einer Weile registrieren, haben sich die beiden Freundinnen zum Zeitpunkt des Interviews »dieser Szene wieder en bisschen mehr entfernt« (331). Dani hat mit der Szene nur noch wenig zu tun. Sie hört nun vor allen Dingen »House HipHop und so« (359), wie Sonja zu berichten weiß. Sonja selbst hingegen ist – wenngleich sie die Gothic- und Metal-Partys im Kult bereits seit dem Besuch der zehnten Klasse nicht mehr regelmäßig besucht – der Szene »tatsächlich noch mehr zugetan« (354f.). Gerade jene von ihr als anspruchsvoll titulierten Bands des Metal- und Hardrock-Genre hört sie etwa nach wie vor gerne. Sonja distanziert sich also keineswegs ganz und gar von der Szene. Bedachte Ausflüge und Explorationen sind für sie durchaus legitim. Als notwendig erachtet Sonja jedoch ein Wissen um die Gefahr, die von der Szene ausgeht, sofern man sich zu sehr auf sie einlässt. Auf diese Weise wirkt sie einem Abgleiten in die ›Szene-Welt‹ entgegen und spricht sich für ein Leben in der ›Bürgerlichkeit‹ aus. Im Sinne einer Rekonstruktion der individuellen Weltverhältnisse in ihrem biographischen Prozess ist dabei auch festzuhalten: Sonja will partout keinen Realitätsverlust erleiden und folgt damit nicht dem Prinzip der Realitätsferne, das nach Petzelt die Pubertät kennzeichnet (vgl. Petzelt 1965: 230ff.). Unter die ›Gestörten‹ bzw. ›Bekloppten‹ lässt Sonja sich nicht subsumieren wollen. Stattdessen möchte sie mit beiden Beinen im Leben stehen, und es zeigt sich, dass ihr das im Zuge der Auseinandersetzung mit ihrer Freundschaft zu Dani sowie der Reflexion über die Gothic- und Metal-Szene gelingt. Durch die Einsicht in die dialektische Struktur der Szene und der darauf folgenden Reduktion von szenespezifischen Aktivitäten erreicht Sonja nämlich gleich zweierlei. Zum einen erfolgt eine Emanzipation von Dani. Mit der Loslösung von der besten Freundin geht für Sonja eine Befreiung von Bindungen und Voreingenommenheiten einher. Diese wird selbstreflexiv eingeholt, wenn Sonja behauptet: Es hat sich »dann auch so eingespielt dass ich jetz nich mehr nur noch das Anhängsel von der Dani bin« (455f.). Zum anderen findet Sonja im Kontext ihrer Schule gleichaltrige Freunde, die sie vor allen Dingen zu Konzerten der Schulband, später auch zu Oberstufenpartys, trifft. Entscheidend dabei ist, dass Sonja diese Freunde selbst kennenlernt und sich unabhängig von Dani mit ihnen treffen kann: »So hab ich dann eben selber auch Freunde gefunden und das kam eben alles dadurch und ähm ja dann hab ich auch mich auch verändert in . von der Dani« (13691371). Indem sich Sonja in ihrem Wert fortan nicht mehr in Abhängigkeit zu Dani bestimmt, sie sich also »dann eben von ihr verändert« (1393), werden

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Möglichkeiten der eigenständigen, nicht bloß mimetischen Entfaltung von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen geschaffen. Von dieser berichtet Sonja bilanzierend in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung, wenn sie sagt: »Hab dann einfach angefangen selber Dinge zu tun selber mir die Sachen auszusuchen die ich anziehe und äh selber meine Musik zu hören und selber auch noch Freunde zu haben mich mich denen zu treffen ohne die Dani was . wirklich zeitweise einfach nie der Fall war« (1395-1400). Die durch die Ablösung von Danis Vorgaben gewonnene Freiheit wird dabei schließlich als produktiver Entwicklungsverlauf gedeutet. Auf diese Weise ist Sonja mit der Zeit nämlich »viel erwachsener geworden« (1411) und kann von sich behaupten, dass sie »halt jetz en eigenständiger Mensch« (1422) ist. 5.3.2 Momente des Transzendierens und die Verarbeitung von Verlusten Im Rahmen ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung kommt Sonja mehrfach auf Erlebnisse zu sprechen, in denen eine Verlusterfahrung für sie zentral ist. Ausführlich schildert sie etwa, wie sie in der Grundschule durch eine Freundschaft zu zwei türkischen Mädchen Kontakte zu früheren Freunden verliert und plötzlich eine Außenseiterin wird. Auch und gerade im Zusammenhang der Erzählung über den Tod des Vaters, der nach wie vor als sehr ergreifend erlebt wird, spricht Sonja von Erfahrungen mit Verlusten. Um diese geht es dann auch, wenn sie das abrupte Ende ihrer Freundschaft mit Anastasia erwähnt oder davon berichtet, wie innerhalb weniger Wochen gleich zwei ihrer Katzen infolge einer augenscheinlichen Vergiftung sterben. Schließlich spricht Sonja ausführlich vom bevorstehenden Verkauf ihres Elternhauses, in dem sie seit ihrem ersten Lebensjahr wohnt, sodass sie dies als Verlust ihres angestammten Refugiums betrachtet. Insgesamt sind es somit mindestens fünf Erlebnisse, die Sonja im Lauf der Erzählung ihrer Lebensgeschichte als Verlusterfahrungen verdeutlicht. Als unfreiwilliger Verzicht auf etwas, das einen bestimmten Wert für Sonja hat, evozieren die Erlebnisse geradezu Erzählungen, in denen sie die Verarbeitung der Verluste anspricht. Und da Sonja in diesen Erzählungen zudem den Versuch unternimmt, über die Schilderung des Konkret-Gegenständlichen hinaus zum ›Ungegenständlichen‹, also über das Hier und Jetzt Hinausgehende, vorzudringen, erlauben sie eine Auslegung im Kontext jenes Transzendierens, das nach Fischers Theorie der Reifezeit – wie im Rahmen des Kap. 3.2.2 der »bildungstheoretischen Schärfungen« entfaltet – ein zentraler Topos im Bildungs- und Entwicklungsgang des Jugendlichen ist. Auf diese Weise kann Sonjas Verarbeitung von Verlusten –

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mal expliziter, mal impliziter – auf Momente des Transzendierens hin bezogen werden. Das früheste Ereignis, das für Sonja eine Verlusterfahrung darstellt, ist dabei am Übergang vom Kindergarten in die Grundschule situiert. Diesen erzählt Sonja als Problemgeschichte. Denn im Kindergarten konnte sie sich zusammen mit einem gleichaltrigen Mädchen Imaginationsspielen hingeben. Die Schule dagegen konfrontiert sie sogleich mit einem Problem: »Ähm en Problem in der Grundschule war dass erste zweite Klasse war bei uns zusammengelegt und ähm wir hatten zwei Ausländerinnen in der (I: mhm) Klasse ich wohn ja in der Nähe von V-Stadt ich wär eigentlich in V-Stadt auf die Grundschule gegangen wo ja der Ausländeranteil sehr viel größer is (schluckend) aber meine Mutter wollte dass ich nach W-Stadt geh und da waren nur zwei Mädchen die kamen aus der Türkei und keiner wollte mit denen was zu tun haben (I: mhm) und ich hab das überhaupt nich verstanden weil ich bin so erzogen worden dass es überhaupt kein Unterschied jetz zwischen verschiedenen . Herkünften irgendwie gibt (I: mhm) und dann hab ich mich eben mit denen befreundet weil ich die doch sehr nett fand und daraufhin haben meine Freunde die ich noch aus dem Kindergarten hatte haben sich ähm dann eben von mir abgewendet weil sie das irgendwie blöd fanden dass ich mich mit denen befreundet hab weil sie die nich leiden konnten« (156-178).

Zwar bleibt in Sonjas Darstellung anfänglich unklar, worauf sich das angekündigte Problem in der Grundschule genau bezieht. Man könnte zuerst meinen, es sei das Faktum der Zusammenlegung zweier Klassenstufen. Auch dass eine ›uneigentliche‹, nicht unmittelbar in Wohnortnähe befindliche Grundschule besucht wird, könnte – so scheint es zuerst – für Sonja problembehaftet sein. Ihre weiteren Ausführungen machen dann aber deutlich, dass sich das Problem in der Grundschule auf einen anderen Sachverhalt bezieht: nämlich auf den Verlust bisheriger Freunde aus dem Kindergarten. Dieser erfolgt deshalb, weil Sonja eine Freundschaft mit zwei türkischen Mitschülerinnen eingeht. Sonja hat – so betont sie – keine Schwierigkeiten damit, sich mit den beiden türkischen Mädchen anzufreunden und begründet dies mit der toleranten Erziehung, die sie erfahren hat. Kulturelle bzw. herkunftsbezogene Differenzen sieht sie nicht. Deshalb versteht sie es auch nicht, warum ihre Klassenkameraden keinen Kontakt zu den beiden türkischen Mädchen haben wollen. Erst mit deutlichem Abstand zu diesem Ereignis kann Sonja »das ja nachvollziehen warum die Leute nichts mit denen zu tun haben wollten« (229f.). Das Agieren ihrer Mitschüler konfrontiert sie seinerzeit insofern mit den Grenzen ihres individuellen Erkenntnisvermögens. Es muss daher für Sonja zu diesem Zeitpunkt auch vollkommen unverständlich sein, als

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ihre Klassenkameraden sie meiden, nachdem sie sich mit den beiden Mitschülerinnen anfreundet. Die Situation verschärft sich dann allerdings noch, als die beiden Türkinnen nach der zweiten Klasse von der Schule gehen und die Freundschaft mit ihnen somit nicht weiter aufrecht erhalten werden kann. Sonja findet in den folgenden zwei Jahren keinen Anschluss mehr an ihre Klassenkameraden und bleibt bis zum Ende der Grundschulzeit eher eine Außenseiterin. Von Treffen mit Freundinnen, Geburtstagseinladungen usw. erzählt sie beispielsweise nichts. Es passt dabei dazu, dass Sonja während des Interviews ihre ehemalige Situation als eine der sozialen Exklusion präsentiert und sie über kausale Verknüpfungen – sowie ironisch konnotiert – zur Darstellung bringt. Sie sagt nämlich: »Deswegen is zu der Zeit auch nich viel in meinem Leben passiert weil ich nich so viel zu tun hatte weil ich (lachend bis*) keine Freunde hatte*« (187-189). Da keine Freundschaftsbeziehungen bestehen, ist es vielmehr der Nahraum ihrer Eltern, an dem Sonja sich aufhält. Der Vater ist ihr unangefochtener »Held« (747), die Mutter nimmt sie zuweilen noch an die Hand. Auf diese Weise bietet sich Sonja eine Möglichkeit, die fehlenden Freundschaftskontakte innerfamilial zu kompensieren, wenngleich dies auch mit der Konsequenz verbunden ist, dass sie bis zum 14. Lebensjahr nicht das Leben einer Jugendlichen, sondern vielmehr das eines Kindes führt. Unter Berücksichtigung der theoretischen Einsichten aus der Phasenlehre Petzelts (1965) kann man deshalb auch sagen, dass Sonjas Bildungs- und Entwicklungsgang durch die fehlenden Freundschaftskontakte durchaus blockiert wird. Der gültige Vollzug von Akten der Vorpubertät – insbesondere das Werten, aber eben auch die Hervorbringung von Gruppenbildungen – kann unter den gegebenen Bedingungen nur schwerlich stattfinden. Diese Lebensbezüge ändern sich für Sonja mit dem Tod ihres Vaters, der sich wenige Tage nach ihrem 13. Geburtstag ereignet. Die Familie befindet sich im obligatorischen Jahresurlaub; mehrere hundert Kilometer von Zuhause entfernt. Sie genießt den Urlaub, denn er bietet – anders als sonst – allen die erhoffte Erholung: »Früher waren wir wirklich jedes Jahr in Italien oder in Österreich und das war immer en bisschen stressiger Urlaub zumindest für meine Mutter weil sie immer noch ähm eben irgendwie Pflichten hatte so Essen zu sorgen und so und da war’s eben so dass wir im Hotel warn und dieser Urlaub war für die ganze Familie sehr stressfrei also das war der schönste Urlaub den wir jemals hatten« (789-795).

Mit dem Abreisetag endet der Urlaub allerdings unerwartet tragisch. Denn Sonjas Vater erleidet einen Herzinfarkt, in Folge dessen er trotz der Einleitung von

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lebensrettenden Sofortmaßnahmen stirbt. Vom Reiseleiter werden Sonja und ihre Schwester, die nicht sogleich zum Vater dürfen und deshalb in Unwissenheit sind, nach dem Vorfall zum Krankenhaus gebracht. Er – und nicht etwa die Mutter, die ihren Mann im Rettungswagen zum Krankenhaus begleitet – ist es, der sie auch mit der traurigen Nachricht konfrontiert. Sonja erzählt: »Ich weiß noch ich saß vorne meine Schwester saß hinten ich weiß die hat ganz viel geweint ich weiß auch nich mehr was ich gemacht hab ich glaub ich hab wahrscheinlich auch geweint und wir sind dann ähm zum Krankenhaus gefahren sind dann durch dieses Krankenhaus meine Mutter stand in so nem Hinterhof und hat geraucht meine Mutter raucht schon immer und ähm . war auch total am Ende und dann hat sie uns eben in den Arm genommen hat gesagt wir schaffen das andere ham das auch geschafft wir schaffen das auch da war auch noch ein Mädchen vom Hotel konnte nich so gut deutsch aber die war halt sehr nett und ähm dann hieß es eben dass wir nochmal rein sollen zu meinem Vater äh uns verabschieden aber ich wollte das nich (I: mhm) ich wollte ihn eben nich sehen als Leiche ich . wollte ihn eben in Erinnerung haben als lebendigen Mann und dann hab ich eben draußen gewartet . ich glaub es muss ewich gedauert haben ich weiß nich mehr wie lange (räuspernd) und dann kamen die wieder raus« (885-903).

Anders als ihre Mutter und ihre Schwester möchte Sonja den Vater nicht als Toten sehen, weshalb sie den Vorschlag ablehnt, sich im Krankenhaus von ihm zu verabschieden. Vielmehr will sie den Vater so in Erinnerung behalten, wie sie ihn bis dahin erlebt hat: als lebendigen Mann und Helden ihrer Kindheit. Und auch nach der Heimreise entwickelt Sonja eine eigene Strategie, mit dem Tod des Vaters umzugehen. Sie setzt sich zu diesem Zeitpunkt nämlich damit auseinander, dass ihr der Vater sehr fehlt und sich ihr »ganzes Leben jetz da so verändert« (941). Dies wird ihr vor allen Dingen deshalb bewusst, da sie nun auch deutlich weniger Aufmerksamkeit von ihrer Mutter erhält, die nach dem Tod ihres Mannes größere Schwierigkeiten hat, wieder Struktur in den Alltag zu bekommen. So verlangen es die Umstände von Sonja nicht nur, den Verlust des Vaters zu verarbeiten, sondern auch ein höheres Maß an Eigenständigkeit aufzubringen. Die Reflexion des Faktums, dass sie ihren Vater niemals wieder sehen wird, drängt sich ihr so gleichsam auf, und die Erfahrung des Verlusts ›nötigt‹ sie, zu transzendieren. Berücksichtigt man hierbei die Befunde der Phasenlehre Petzelts sowie der Theorie der Reifezeit Fischers, dann wird allerdings deutlich, dass dieses Transzendieren wohl kaum schon zum damaligen Zeitpunkt erfolgt. Es ist als Akt der späten Reifezeit eine gedankliche Auseinandersetzung, die Sonja erst deutlich später – womöglich sogar während der Erzählung ihrer Le-

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bensgeschichte in der Interviewsituation – vornimmt. Leitend ist für sie dabei das Motiv des Selbstschutzes, was deutlich wird, wenn sie sagt: »Ich hab auch kein Problem damit also darüber zu reden wie man ja merkt (räuspernd) ich rede auch sehr sehr gern über meinen Vater aber . wenn ich mir das wirklich realisiere dass ich ihn nie wieder sehe also dass is wirklich eigentlich unerträglich deswegen ignoriere ich diesen Gedanken einfach« (922-927).

Sonjas Überlegungen lassen also sehr wohl erkennen, dass sie ein ausgeprägtes Bewusstsein über den Verlust des Vaters hat. Sie reflektiert die Tragweite seines Todes für ihr eigenes Leben, was sie gerade auch emotional herausfordert. Die Einsicht in die Unmöglichkeit, den Vater nochmals lebend zu sehen, empfindet sie dabei nämlich als unerträglich. Diese Empfindung will sie jedoch nicht aufkommen lassen, weshalb sie den Gedanken an den Tod ihres Vaters ignoriert. Nur indem sie – so macht Sonja während ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung deutlich – eine solche Haltung einnimmt, gelingt es ihr auch, frei und ungetrübt über den Tod ihres Vaters zu sprechen. So geht es ihr also darum, angesichts des widerfahrenden ›Schicksals‹ handlungsfähig zu bleiben. Bemerkenswert ist die von Sonja an den Tag gelegte Haltung vor allen Dingen nun auch deshalb, weil es vor dem Hintergrund der bildungstheoretischen Ausführungen von Petzelt und Fischer Themen wie Tod und Sterben sind, die den gleichsam prädestinierten Anlass für derart intensive gedankliche Auseinandersetzungen der Jugendlichen um das Verhältnis von ›Ich und Welt‹ jenseits der Grenzen der Erfahrung darstellen (vgl. Petzelt 1965: 234f.; Fischer 1966b: 159). In jener vorgetragenen Episode Sonjas ›bewahrheitet‹ sich dies durchaus. In anderen Passagen, in denen Sonja von Verlusten berichtet, werden solche Momente des intensiven Bedenkens und Transzendierens weniger intensiv miteinbezogen. Sonja bleibt hier viel eher diesseits der Erfahrung: Sie schildert also das, was sich zugetragen hat und ›abstrahiert‹ nicht. So wird etwa der Verlust der Freundin Anastasia, der – wie schon erwähnt – aus einem Streit heraus resultiert, eher am Rande auf übergeordnete Bedingungen bzw. Konsequenzen hin befragt. Was Sonja allerdings zu berichten weiß, ist ein regelrechtes Buhlen um Danis Freundschaft, welches vor dem Streit zwischen ihr und Anastasia erfolgt: »Es war fast so’n bisschen wie’n Wettstreit um die Dani zwischen mir und der Anastasia weil sie eben das so toll fand dass die Dani beliebt is und deswegen so viel mit ihr zu tugemacht hat und weniger mit mir ja und ähm irgendwann war’s allerdings dann so dass die Dani mehr mit mir gemacht hat weil wir ham uns besser verstanden (I: mhm) das fand die Anastasia dann natürlich schrecklich und dann kam eben auch kam’s zu diesem Streit

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und ähm daraufhin warn wirklich nur noch Dani und ich wir waren so eben zu zweit durch Dick und Dünn und ham eben alles zusammen gemacht alles Mögliche« (2622-2634).

Das Buhlen um Dani nimmt dabei Züge des Leistungsstrebens an, wie es für Jugendliche der frühen Reifezeit bezeichnend ist (vgl. Fischer 1966b: 96ff.) Sonja und Anastasia messen sich nämlich in der Frage, wem es besser gelingt, Dani von sich zu überzeugen. Letztlich kann sich Sonja in diesem Wettstreit behaupten, weil ihre Sympathiewerte höher sind: Dani hat sich mit ihr besser verstanden als mit Anastasia. Dass jedoch das Zerbrechen der Freundschaft womöglich gerade diesem Wettstreit geschuldet ist, reflektiert Sonja in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung nicht. Insofern erfolgt im Kontext dieses Verlusterlebnisses keine Überschreitung des Deutungshorizonts der alltäglichen Lebenswelt. Sonja bleibt reflexiv auf der Ebene des Konkret-Gegenständlichen. Anders verhält es sich, wenn Sonja in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung wiederum vom Verlust ihrer Katzen Luka und Freya spricht, die beide innerhalb weniger Tage – vermutlich an einer Vergiftung – sterben. Die von ihr hierzu vorgetragenen Ausführungen lassen sich nämlich nicht nur in besonderer Weise auf die eigenständige Suche nach leitenden Normen, sondern auch auf das Transzendieren im Jugendalter nach Wolfgang Fischers Theorie der Reifezeit beziehen, da durch das plötzliche Sterben beider Tiere Sonja abermals feststellt, wie sehr Katzen zu ihr und ihrem Leben dazugehören. Artikuliert wird von ihr so gleichsam eine ›wesenhafte‹ Verbindung mit diesen Haustieren. Vor allen Dingen zu ihrem Kater Luka hat sie dabei eine besondere Beziehung. Sonja ist sogar davon überzeugt, dass dieses Tier spüren kann, wenn es ihr schlecht geht und sie Beistand benötigt: »Also immer wenn was Schlimmes passiert is war eben dieser Kater da und normalerweise Katzen machen was sie wollen und (I: mhm) ähm wenn sie keine Lust ham gestreichelt zu werden dann wehren die sich oder gehen weg (I: ja) und dieser Kater er wusste aber wenn’s mir schlecht ging« (22402249). Als dann ihre Katze Freya tot aufgefunden wird und Sonja so traurig ist, dass sie zwei Tage lang nichts essen kann, ist es in erster Linie ihr Kater – und nicht etwa ihre Mutter oder ihre Freundin Dani –, der ihr Trost spenden kann: »Ich hab ihn genommen und hab ihn gestreichelt und hab hab gesagt du wirst mich nie verlassen bitte verlass mich nicht und er ihm hat und er hat es sich gefallen lassen was eigentlich nich normal is für ne Katze ähm ja und ich dachte solang ich diesen Kater habe geht’s mir aber noch gut« (2257-2261). Umso schlimmer ist es für Sonja, als auch Luka wenige Tage später ungewöhnlich lange nicht nach Hause kommt. Sie macht sich Sorgen. Ihre böse Vor-

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ahnung bestätigt sich, denn der Kater wird im Garten der Nachbarn tot aufgefunden. Sie erzählt: »Und ich hab dann diesen Anruf bekommen bin dann wirklich schon beim Anruf fast zusammengebrochen und bin dann . gegenüber wollte dann dort klingeln und seh dann aber schon den Garten und seh dann Luka dort liegen . ich glaub das war wirklich der schlimmste Moment meines Lebens ich bin dann hin und er war äh es hatte geregnet er war nass und kalt ich hab ihn dann angefasst und es war er hatte den Mund so offen als hätte er Schmerzen gehabt als er gestorben is und ähm ja wir gehen von aus irgendjemand hatte wohl Gift ich weiß nich ob es vielleicht auch Rattengift war oder ob es wirklich Gift für die Katzen war ausgelegt weil es unsre beiden Katzen eben das gefressen hatten und daran gestorben sind weil die hatten sonst keine Verletzungen ja und dann ähm .. ja als er saß ich da eben war total am Ende« (2280-2293).

Daraufhin ist Sonja so unglücklich ist, dass sie beschließt, eine neue Katze ins Haus zu holen. Jedoch ist ihre Trauer anfänglich noch zu groß, um diesen Entschluss tatsächlich zu realisieren. Das muss Sonja feststellen, als sie mehrere Tierheime aufsucht, um dort für sich eine neue Katze auszuwählen. Zwar nimmt sie auch diese Katzen als »süß und schön« (2306) war; ihren Kater ersetzen können sie, wie Sonja bemerkt, indes nicht. Ihrer Sehnsucht nach Katzen kann Sonja daher auch erst nachkommen, nachdem sie die Trauer um Luka verarbeitet hat: »Bin dann in Tierheime gefahren und wollte ne Katze mit nach Hause nehmen aber es war dann doch so ich ich konnte eben noch nich wegen . es hat mir einfach noch zu sehr weh getan (I: mhm mhm) ich musste auch einfach immer denken ja die Katze die is süß und schön und so aber es is nich Luka ja also letzte Woche hab ich mir dann . ein Katzenbaby geholt von einer Bekannten (räuspernd) (I: mhm) und es war auch am Anfang bisschen bisschen komisch wieder ne Katze im Haus zu haben aber mittlerweile also ich liebe diese Katze wirklich sehr« (2300-2313).

Angesichts des durch den Studienbeginn Sonjas bevorstehenden Umzugs ist ihre Mutter mit dieser Entscheidung zwar nicht einverstanden. Allerdings lässt sich Sonja davon nicht beeindrucken: »Meine Mutter wollt auch nicht dass ich mir ne Katze hole bevor ich äh ne Wohnung eben habe aber mir war das dann letztendlich egal« (2385-2387). Dem Wunsch der Mutter misst Sonja also keine übergeordnete Bedeutung bei. Sie kommt dagegen auf Grund ihrer eigenen Wertungen zu einem Entschluss, den sie zu verteidigen bereit ist. Man darf – gerade auch wegen des von Sonja in dieser Aussage genannten Wortes »letztendlich« (2387) – allerdings davon ausgehen, dass dieser Entscheidung ein Abwägen vorausge-

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gangen ist. Weil ihr Wertbezug zu Katzen eine derart starke Ausprägung aufweist, ist Sonja schließlich jedoch bereit, die Einstellung der Mutter zu ihrem Vorhaben zu ignorieren und die Anschaffung eines neuen Haustieres in die Tat umzusetzen, selbst wenn sie dadurch – wie die Mutter sagt – womöglich beim bevorstehenden Umzug gewisse Einschränkungen in Kauf zu nehmen und Hürden zu überwinden hat. Es ist dieser Umzug, den Sonja schließlich auch zum Gegenstand einer ausführlicheren Betrachtung vor der Erzählkoda macht. Dazu kündigt sie den Umzug als – im weitesten Sinne – relevant an und expliziert die Hintergründe, vor denen er sich abzeichnet: »Was momentan noch irgendwie von Relevanz hat is ähm seitdem ich geboren bin leb ich in dem Haus was mein Großvater gebaut hat (I: mhm) also früher hab ich auch mit meinem Großeltern zusammen in dem Haus gelebt es hat zwei Stockwerke also meine Großeltern unten und wir oben (I: mhm) wo sie dann gestorben sind haben wir umgebaut und ähm ja meine Schwester is nach dem Abitur sie is zwei Jahre älter als ich is sie nach Frankfurt gezogen (I: mhm) und äh eigentlich leben da nur noch ich und meine Mutter eben in dem Haus wobei ihr Freund . die meiste Zeit eigentlich auch bei uns is« (651667).

Ein Auszug aus dem vom Großvater gebauten Haus hat nun jedoch nicht etwa primär deshalb zu erfolgen, weil dieses inzwischen nicht mehr von sechs, sondern bloß noch von zwei bzw. drei Personen bewohnt wird. Der Auszug ist vielmehr im unmittelbaren Zusammenhang mit der Familiengeschichte und den biographischen Planungen der Mutter zu sehen. Sonja weiß nämlich auch zu erzählen, dass die Mutter »nen Neuanfang« (674) will und dazu einen Auszug aus dem Haus beabsichtigt, zumal ihr das Haus auch »immer viele Probleme bereitet« (675f.). Ein Verkauf des Hauses steht deshalb sogar schon zur Disposition, seitdem Sonjas Mutter einen neuen Partner hat. Nachdem erste Verkaufsanstrengungen aber nicht die gewünschte Wirkung zeigen, wird der Plan vorerst nicht weiter forciert. Etwa ein halbes Jahr vor dem Interview entschließt sich Sonjas Mutter dann aber erneut dazu, das Haus zu verkaufen. Und dieses Mal steht nicht nur ihr Entschluss fest. Es findet sich auch ein Käufer. Deshalb versucht Sonja womöglich erst gar nicht, die Mutter umzustimmen und die anstehende Zäsur zu vermeiden; von derartigen Versuchen erzählt sie zumindest nichts. Stattdessen macht sie deutlich, inwiefern sie die Entscheidung der Mutter unter Druck setzt und vor eine Herausforderung stellt. Sie muss nämlich innerhalb kurzer Zeit eine Wohnung finden, da die Mutter gemeinsam mit ihrem neuen Partner in ein anderes Bundesland ziehen wird. Erschwert wird Sonjas Situation dadurch, dass sie

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noch keine Zusage für einen Studienplatz erhalten hat und einen Auszug deshalb noch nicht in die Tat umsetzen kann: »Ich muss eben . bis August muss ich dann halt ausgezogen sein sprich ich muss innerhalb eines Monats eine Wohnung finden (lachend) (I: mhm) was ja spaßig wird ähm das heißt ich hoff ja immer noch auf die Zusage von der Uni in T-Stadt dass ich da möglichst bald dann hinziehen kann weil meine Mutter wird nach nach Rheinland-Pfalz ziehen (I: mhm) ähm wo auch eben ihr Freund herkommt der hat dort auch zwei Töchter die bei denen er dann in der Nähe wohnen kann und ähm ja meine Mutter selber möchte da auch gerne hin ja un so kam das dann eben dass sie dort en Haus gefunden haben ja (räuspernd) und ähm . ja ich muss dann eben zwangsläufig schnell ausziehen« (689-705).

Mit Blick auf den Topos des Transzendierens im Jugendalter ist diese Passage vor allen Dingen deshalb interessant, weil Sonja sich scheinbar erst durch die Konfrontation mit dem Entschluss der Mutter überhaupt darüber bewusst wird, wie sehr sie an dem bereits seit mehreren Jahrzehnten im Besitz der Familie befindlichen Haus hängt. Sie mag – im Gegensatz zu ihrer Mutter – das Haus und fühlt sich dort wohl. Es ist ihr Zuhause. Deshalb gehen Sonja der Verkauf des Hauses und die Notwendigkeit des Auszugs auch viel »zu schnell« (708). Sie möchte das Haus im Grunde genommen gar nicht verlassen – zumindest nicht sofort. Die Vorstellung des raschen und endgültigen Ausziehens bereitet ihr daher deutliche Schwierigkeiten: »Vor allen Dingen is dieses Haus auch . bedeutet mir sehr viel weil ich da einfach schon immer sehr . ja das is einfach mein Zuhause (I: ja) ich kann mir gar nicht vorstellen woanders zu wohnen eigentlich« (711-717). Auch in diesem Fall wird Sonja mit den Grenzen ihrer Erfahrung konfrontiert und gerät in eine gedankliche Auseinandersetzung, in welcher sie jene Lebensumstände, die sie als selbstverständlich erachtet, einer problematisierenden Betrachtung zuführt. Sie erhält hier Einsicht in die Kontingenz vertrauter und scheinbar fester Lebensumstände. Bald – darüber ist sich Sonja im Klaren – wird sie sowohl das unmittelbar familiale als auch örtliche Umfeld, also zwei zentrale Bausteine ihrer alltäglichen Lebenswelt, verlieren. Genügend Zeit, sich auf diesen Verlust einzustellen, hat sie ihres Erachtens nicht, weshalb sie »jetz so in diesem Stress« (709) ist. Zugleich sind es Fragen der Zukunftsgestaltung, denen sich Sonja ausgesetzt sieht. Sie sucht nach Sinn, nach Möglichkeiten, etwas zu bewegen und eruiert dazu die Bedingungen für ein berufliches Engagement im Bereich des Tierschutzes, was Gegenstand der nun folgenden Analyse ist.

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5.3.3 Die Formulierung von Sinnfragen und der Einsatz für den Tierschutz Eine rege Auseinandersetzung, wenn nicht gar Identifikation mit Tieren durchzieht Sonjas biographischen Prozess wie ein roter Faden. Vor allen Dingen Katzen sind – wie sie mehrfach betont – »das Wichtigste« (108; 2316f.), was es in ihrem Leben gibt. Sie sind ihr »viel wichticher als die meisten Leute also als die meisten Leute das nachvollziehen können« (2212f.). Dabei wird ihre ›Liebe‹ zu Katzen schon unmittelbar zu Beginn der lebensgeschichtlichen Erzählung als biographische Konstante vorgestellt, wenn Sonja sagt: »Was mir vielleicht sehr wichtich is is dass ich schon immer seit ich geboren bin äh Katzen hatte« (100102). Da Katzen somit gewissermaßen Teil von Sonjas ›Wesen‹ sind, wird von ihr betont, auf sie niemals verzichten zu können: »Und ich hab einfach gemerkt ohne Katze geht bei mir nicht« (2313f.). Auch die ihr nahestehenden Personen registrieren das eminente Interesse Sonjas an diesen Lebewesen. Zugleich stärken sie es, indem sie ihr zu Geburtstagen und anderen feierlichen Anlässen Bücher über Katzen schenken, die Sonja – im Alter von ungefähr zehn Jahren – zum Verfassen eigener Geschichten inspirieren: »Ich hab ja auch äh Geschichten geschrieben die meisten meiner Geschichten handelten über Katzen und ähm das war irgendwie auch bekannt in der Klasse naja und so kam es einfach dass ich mich mehr dafür interessiert hatte als ähm als jetz die meisten Mädchen meines Alters die ja wirklich anfangen sich zu schminken (I: ja) so so sich anders zu kleiden und so das war mir eben alles nich so wichtich« (1453-1462).

Von ihren Klassenkameraden wird Sonja zuweilen auch als »verrückte Katzenlady« (1448) bezeichnet. Es verwundert vor diesem Hintergrund auch nicht sonderlich, dass sie zeitweise größere Probleme hat, Freundschaften einzugehen und aufrechtzuerhalten. Ihr ausgeprägtes Interesse für Katzen ist an die Neigungen der gleichaltrigen Klassenkameradinnen nämlich nicht anschlussfähig: »Also ich hab ich hatte nich so viele Freunde und ähm ich hatte auch Probleme Freunde kennenzulernen und Sachen die mich interessieren die ham andere nich interessiert« (1308-1311). Das belastet Sonja zwar durchaus. Zugunsten eines ›phasentypischen‹ Bedürfnisses nach Freundschaft gibt sie ihre Leidenschaft für Katzen in der Vorpubertät jedoch keineswegs auf. Sie ›verbiegt‹ sich also nicht; wohl deshalb, weil es zuvörderst ihre Katzen sind, die ihr Halt und Sicherheit geben. Es ist das signifikante Interesse an Katzen, über das Sonja schließlich auch zum Tierschutz gelangt. Denn in den Katzenbüchern, mit denen sie sich beschäftigt, werden häufig Misshandlungen von Tieren erwähnt, die sie aufwühlen und

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im Jugendalter für diese Thematik sensibilisieren: »Also hab ich immer viele Katzenbücher geschenkt bekommen und viele haben das Thema behandelt dass sich ähm dass eben . Tiere in irgendeiner Form misshandelt werden und so und so bin ich wahrscheinlich darauf gekommen und deswegen steht das bei mir so weit . oben im Gegensatz zu den meisten anderen Jugendlichen die ich kenne« (113-119). Es sind dabei vor allen Dingen zwei Bücher, die sie auf diese Spur bringen und ein nachhaltiges Interesse am Tierschutz evozieren. Von beiden Büchern und den durch sie gewonnenen Einsichten berichtet Sonja während des Interviews ausführlich: »Felidae von Akif Pirinçci is auch mein Lieblingsschriftsteller ja und der Felidae is ein Buch das is aus der Sicht einer Katze geschrieben also es is (I: mhm) ähm aus der IchPerspektive erzählt dieses Ich ist eben ein Kater der ähm sich ähm letztendlich eben damit auseinandersetzen muss dass er in en Haus gezogen is und ähm da war früher ein Versuchslabor (I: mhm) ähm drin dass eben Tierversuche mit Katzen durchgeführt hat und ähm dass is da wirklich auf’s äußerste Detail beschrieben uäh ne also ganz schreckliche Dinge eben (I: mhm) (räuspernd) und dann hatt ich noch ein ähm Buch gelesen . das paradoxerweise den Namen Irmchen trägt was überhaupt nichs selber mit dem Buch zu tun hat also auch ähm geht über einen Kater (I: mhm) hat sogar zwei Teile später geht’s dann über den Sohn dieses Katers und eben der Lebensweg dieses Katers wird beschrieben und auch die Person im Leben die am meisten mit diesem Kater zu tun hat (I: mhm) weil der wechselt immer so’n bisschen seine Herrchen und ähm . ja und dieser Mensch hat sich eben selber auch für den Tierschutz eingesetzt und da wird eben auch sehr viel beschrieben was mich extrem getroffen hat weil die meisten Menschen wissen davon ja auch gar nichts ähm was es alles gibt also wie ähm . ja ich weiß nich wenn Stiere ähm deren Hörner angezündet werden die ja empfindlich sind wie unsere Finger (I: mhm) und dann jagen die eben ins Wasser aus Panik und dann werden die noch zu Tode ge- gespickt und eben so Dinge die ich alle gelesen habe die mich wirklich getroffen haben« (1471-1509).

Die Lektüre der beiden Romane bringt Sonja zum Nachdenken. Die äußerst detailreichen Schilderungen der Tierversuche an Katzen lassen sie erschaudern. Und die Unwissenheit vieler Menschen über die konkreten Praktiken solcher Versuche sowie das Schmerzempfinden von Tieren machen sie betroffen. Deshalb hat sie das Bedürfnis, mit anderen darüber zu reden. In Gesprächen mit ihren Mitmenschen stellt Sonja jedoch fest, dass diese weitaus weniger intensiv auf die Darstellung von Tierversuchen reagieren. Zwar empfinden sie das, was dort passiert, ebenfalls schrecklich. Sie setzten sich allerdings nicht tiefgreifend

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damit auseinander, sondern legen Sonjas Einschätzung nach eine gewisse Gleichgültigkeit an den Tag. Dies enttäuscht sie sichtlich: »Und ähm daraufhin hat mich eben sehr getroffen dass die meisten Menschen in meiner Umgebung dass denen das egal is und auch wenn ich mit denen darüber reden wollte oder wenn ich denen das erzählen wollte um sie von meiner Meinung mehr oder weniger zu überzeugen oder um die zu erklären also die konnten das nich nachvollziehen (I: mhm) die fanden das dann auch schrecklich aber die haben das dann ein Tag später wieder vergessen« (1511-1520).

Die Enttäuschung Sonjas bleibt dabei allerdings nicht auf die scheinbar gleichgültige Einstellung ihrer Mitmenschen beschränkt. Sie ist durchaus auch von sich selbst enttäuscht. Denn sie erkennt, dass sie sich zwar von ihren Mitmenschen durch eine Betroffenheit unterscheidet. Ihre Betroffenheit allein kann aber sowohl an den Ursachen als auch an den Wirkungen nichts ändern. Weder von einer fremden noch von einer eigenen »Beispielhaftigkeit« (Petzelt 1965: 201) – so lässt sich mit Rekurs auf die erarbeiten bildungstheoretischen Bestimmungen formulieren – kann demzufolge die Rede sein. So sieht es zumindest Sonja selbst, wenn sie sagt: »Mich hat das wirklich sehr extrem beschäfticht und vor allen Dingen aber auch dass ähm . ich selber nich in der Lage war das zu ändern also ich ich konnte daran denken ich konnt das alles schrecklich finden aber ich konnte es nich ändern (I: mhm) und ähm das hat mich dann wieder an diese Menschen aus meiner Umgebung erinnert die das dann auch schrecklich finden . aber denen das dann daraufhin egal war (I: mhm) und so hab ich mich dann eben auch gefühlt so als wär mich das egal weil ich eben nich nichts daran ändere« (1520-1533).

In dieser Situation ist es dann jedoch kein konkreter Plan, den sie verfolgt, um gegen Tierversuche und -quälereien vorzugehen. Es ist stattdessen ein zufälliges Ereignis, das ihr Interesse weckt und sie auf Möglichkeiten der Intervention aufmerksam macht: »Und ähm . durch Zufall kam es dann eigentlich dazu dass ich .. also ich wollte immer irgendwie etwas daran ändern konnte aber nich und hab dann ähm . eigentlich kam es wirklich dadurch dass ich Werbung von WWF im Fernsehn gesehen hab da lief zu dieser Zeit irgendwie äh stoppen Sie die Säge irgendwie sowas schicken sie eine SMS und so und dann bin ich eben auf die Internetseite von denen gegangen (I: mhm) und fand das sehr interessant was die da alles machen was die alles schreiben wie sie sich dafür einset-

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zen und dacht mir eben Okay ich kann sonst nichts tun also werd ich da Mitglied und ähm ja dann hab ich eben angefangen mit nem Spendenbetrag in also von einem Jahr ich hab ja nur Taschengeld bekommen . also hab selber eigentlich kein wirkliches Vermögen ha- hab dann eben von meinem Taschengeld dann immer jährlich soundso viel dahin gespendet« (1534-1550).

Von der TV-Werbung angeregt erkundigt sich Sonja über die Absichten von WWF, indem sie den Internetauftritt der Organisation besucht. Was sie dort liest, findet sie nicht nur interessant. Es überzeugt sie letztendlich sogar, sodass sie sich auch dazu entschließt, bei WWF Mitglied zu werden und einen jährlichen Spendenbeitrag zu leisten, den sie durch ihre »Taschengeldeinnahmen‹ aufbringt. Eine ganze Weile scheint sie mit dieser Art der Unterstützung tatsächlich zufrieden zu sein. Doch ihren Wunsch, auf breiter und nachhaltiger Weise den Umgang mit Tieren zu verbessern, befriedigt dieses ›Engagement‹ auf Dauer dann doch nicht. Ein halbes Jahr vor dem Interview entscheidet sich Sonja nämlich dazu, bei der Tierrechtsorganisation PETA aktiv zu werden. Die Gründe, die sie zu dieser Entscheidung bringen, sind folgende: »Ähm vor nem halben Jahr ähm dacht ich mir eben WWF das is mehr Naturschutz und Wildtierschutz (I: mhm) also ähm es geht gar nich so viel um Tierschutz selbst dabei hab ich immer auf auf YouTube vor allen Dingen seh ich immer sehr viele Videos ähm . von PETA weil ich hab auch vor zweieinhalb Jahren angefangen mich nur noch vegetarisch zu ernähren (I: mhm) weil ich mochte Fleisch auch früher schon nich sonderlich und ähm hab kaum Fleisch gegessen deswegen is es mir nich schwergefallen ganz darauf zu verzichten und irgendwann dacht ich mir eben eigentlich will ich das gar nich essen dann hab ich angefangen auch diese Videos auf YouTube zu sehen und . ähm ja da gibt es so Einiges vom Alltag in Schlachthöfen und dann Pelztierfarmen und Versuchslabore und was es da nich alles gibt (I: mhm) und ähm . die schrecklichsten Dinge überhaupt also und daraufhin hab ich mir dann eben . Gedanken gemacht auch Mitglied bei PETA zu werden was dann eben auch . ähm gemacht habe« (1559-1581).

Die Betrachtung der von PETA initiierten Videokampagnen auf YouTube folgt auf die bereits vollzogene Umstellung auf eine rein vegetarische Ernährungsweise, die Sonja nicht nur ethisch, sondern ästhetisch, nämlich bezogen auf ihr Geschmacksempfinden, begründet. Etwas unklar bleibt angesichts dieser Schilderung zwar, inwiefern die Entscheidung für eine Mitgliedschaft bei PETA durch das Internet-Videoportal YouTube beeinflusst ist. Ist für Sonja zuerst die Ambition leitend, zusätzlich zum WWF auch die Tierrechtsorganisation PETA zu un-

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terstützen, sodass das Internet-Videoportal dabei lediglich insofern unterstützend wirkt, als es ihr eine mediale Anschauung verschafft? Oder lenkt der Besuch des Internet-Videoportals YouTube überhaupt erst die Aufmerksamkeit auf die Tierrechtsorganisation PETA, welche über Natur- und Wildtierschutz hinaus geht und deshalb in ihrer Ausrichtung gleichsam auch fundamentaler, am »Tierschutz selbst« (1564), wie Sonja sagt, ausgerichtet ist? Wenngleich dieser Umstand nun auf der Basis ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung nicht abschließend zu beantworten ist, so wird mit ihr durchaus deutlich, wie Sonja konkret vorgeht, um sich vor dem Hintergrund des in den Videos Gesehenen mit der Tierrechtsorganisation PETA eingehender zu beschäftigen: »Also ich bin dann . auf die Internetseite von PETA gegangen hab mich da en bisschen informiert und ähm PETA is ja ne sehr sehr extreme Organisation die versuchen ja auch ähm . ähm die Leute immer wieder davon zu überzeugen fas- also Vegetarier vor allen Dingen aber wenn nich auch Veganer zu werden und ähm . also sie setzen sich sehr extrem für diese Tierrechte ein (räuspernd) (I: mhm) was den meisten Leuten wahrscheinlich zu extrem erscheint also ich selber kann das sehr gut nachvollziehen und unterstütze diese Haltung eigentlich auch aber ich kann auch irgendwie nachvollziehen dass das auf die meisten Leuten dann doch schon bisschen abgedreht wirkt« (1581-1595).

Sonjas Vorgehen zur Erlangung von Informationen ähnelt dem vorherigen. Abermals nutzt sie den Internetauftritt der Organisation, um sich genauer über deren Ziele und Ansichten zu erkundigen. Jene von PETA betrachtet sie allerdings – im Gegensatz zu denen von WWF – durchaus ambivalent. Sie findet es nämlich auch plausibel, dass viele Menschen PETAs radikales Eintreten für Tierrechte als »abgedreht« (1595) wahrnehmen. Sie selbst unterstützt indes die Ansichten von PETA. Sie kann sie »sehr gut nachvollziehen« (1593), d.h., sie erscheinen ihr gerechtfertigt, um gegen das Leiden der Tiere vorzugehen und die etablierten Umgangsweisen zu verändern: »Also dass spiegelt eigentlich so am besten das wieder was ich eigentlich erreichen möchte« (1597f.). Im Konzept der Tierrechtsorganisation PETA entdeckt Sonja insofern die Einlösung ihrer Normvorstellungen hinsichtlich eines vernünftigen Umgangs mit Tieren. Von Sonja als absolut inakzeptabel bewertete sowie ihr emotional zusetzende Zustände werden durch die Tierrechtsorganisation bekämpft. Die Weltverhältnisse, die sie sich wünscht, werden von PETA herzustellen versucht. Für Sonja ist es dabei zum einen »die Tatsache dass es sonst niemanden interessiert« (1620f.), die sie bestärkt, für den Tierschutz einzutreten. Zum anderen macht deutlich, dass sie sich angesichts der von ihr betrachteten Bilder und Videos, die »diese unerträglichen Schmerzen die diese ganzen Tiere durchmachen müssen« (1625f.) scho-

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nungslos zeigen – z.B. bei Schlachtungen, »wenn die Kamera dann eben auf das Gesicht des Tieres zoomt wie es noch atmet« (1627f.) – gleichsam moralisch verpflichtet fühlt, Initiative zu ergreifen. Die ganzen Bilder hat sie »immer im Kopf« (1623). Sie lassen Sonja »einfach nicht los« (1631). Wenn es etwas gibt, das sie unbedingt verändern könnte, ist es daher »das ganze Leid was die Tiere durchmachen« (2888f.).7 Gerade weil es Sonja um eine tatsächliche Veränderung dieser Verhältnisse geht, würde sie ihren Einsatz für das Wohl der Tiere über die Mitgliedschaft bei Organisationen hinaus gerne auch im Rahmen einer beruflichen Tätigkeit vornehmen. Sie sieht hier Möglichkeiten, ein breites Bewusstsein für die Missstände zu schaffen: »Deswegen is es auch einfach so wichtich für mich wenn ich später mal irgendwie in dieser Hinsicht arbeiten kann dass es tatsächlich irgendwie ne Veränderung bewirken könnte oder wenn’s irgendwo ne Möglichkeit geben würde . irgendwie ähm . an ähm na wie heißt es . so’n Bekanntheitsgrad zu steigern sodass man Leute ansprechen kann (I: mhm) dass man da irgendwie dass man da so Leute beeinflussen kann also dass wär mir wirklich wichtich« (1631-1641).

Ein derartiger Einsatz für den Tierschutz würde ihr dabei auch das Gefühl geben, etwas ›Bewegendes‹ und wirklich Sinnvolles zu tun: »Was ich eigentlich am liebsten machen möchte is eigentlich ähm der Tierschutz weil mir das am meisten wirklich am Herzen liegt (I: mhm) und ich es natürlich unglaublich toll fände wenn ich irgendwie was machen könnte in mit meinem Leben wo ich wirklich nen Sinn drin sehen würde und dass ich wirklich was bewegen könnte in meinem Leben (I: mhm) das fänd ich total klasse« (596-606).

7

Sonja sagt zwar während des Interviews auch, dass sie gegenüber menschlichen Belangen nicht vollkommen ›immun‹ ist. Aber auch hier wird deutlich, dass ihr Fokus eindeutig auf dem Wohl der Tiere liegt: »Wenn ich alles verändern könnte was ich wollte würd ich natürlich auch den Hunger den Kindern in Afrika helfen so es is ja nich so dass mir Menschen nicht am Herzen liegen (räuspernd) wobei ich bei vielen Menschen denke dass sie . so sehr auf sich selbst fixiert sind dass sie eigentlich züviel zu viel lebe- äh viel zu viel haben in ihrem Leben was sie eigentlich verdienen was sie eigentlich haben sollten auch wenn das en bisschen bösartiges Denken is (räuspernd) naja ich würde natürlich irgendwie den Planeten retten wollen aber vor allen Dingen würd ich die Qual der Tiere beenden wollen« (2926-2937).

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Zugleich ist sie jedoch skeptisch, ob sie diesen Wunsch in die Tat umsetzen kann. Eventuell bleibt er doch nur »ne Traumvorstellung« (1641). Dafür spricht für sie in erster Linie die Problematik, im Bereich des Tierschutzes eine Arbeit zu finden, mit der man gleichzeitig auch den Lebensunterhalt sichern kann. Der Wunsch, den Tierschutz aktiv im Rahmen einer beruflichen Tätigkeit zu unterstützen, kollidiert somit mit einer anderen, eher konventionellen Erwartung an ihr eigenes Leben; nämlich finanziell abgesichert zu sein. Möglich wäre die Verbindung beider Aspekte, dem beruflichen Einsatz für den Tierschutz auf der einen und der Sicherung des Lebensunterhalts auf der anderen Seite, lediglich in der Tätigkeit als Biologin. Als solche möchte Sonja zukünftig jedoch keineswegs tätig sein, was sie mit Bezug auf ihre bisherigen Erfahrungen in der Schule sowie auf Inhalte des Biologiestudiums verdeutlicht: »Also das Problem is natürlich ähm dass im Tierschutz ne Arbeit zu finden (lachend) womit man natürlich auch noch also irgendwie seinen Lebensunterhalt verdienen kann is jetz irgendwie nich sehr leicht (I: mhm) (räuspernd) das einzige was ich eben in der Richtung machen könnte wäre dann Biologie zu studieren um da irgendwie da in dem Bereich tätig zu sein was allerdings einfach nich mein Ding is (I: mhm) also Biologie konnte ich schon in der Schule nich leiden weil mir diese Materie die hat mir nich zugesagt und . also ich hab auch gehört im Biologiestudium is es notwendig ähm Tiere so zu sezu- sezieren (I: mhm) beziehungsweise auch Tierversuche zu machen was mir natürlich vollkommen gegen den Strich geht« (606-624).

Da eine solche Tätigkeit für Sonja nicht in Frage kommt und sie einen gleichsam normalbiographischen Lebensweg einschlagen möchte, hat sie sich für ein Studium des Gymnasiallehramts entschieden. Mit diesem kann sie – wenngleich auch keiner Tätigkeit auf dem Gebiet des Tierschutzes – zumindest ihrer Leidenschaft für die deutsche Sprache nachgehen. Ob es für sie dabei dauerhaft bleibt, weiß sie jedoch noch nicht. Ihre Entscheidung, Lehrerin zu werden, könnte so durchaus eine Revision erfahren. Sonja möchte nämlich erst sehen, ob sie auch hierin einen – wie es für die Phase der späten Reifezeit charakteristisch ist – ›wirklichen‹ Sinn für sich entdecken kann (vgl. Fischer 1966b: 136f.). Eben deshalb will Sonja auch erst nach einer selbst gesetzten Orientierungsphase von einem Jahr zu einer Entscheidung darüber kommen, ob sie das Lehramtsstudium fortsetzt oder doch etwas anderes ausprobiert: »Also ich habe wirklich zunächst einmal vor nur zwei Semester zu studieren und dann zu gucken will ich das jetzt weitermachen find ich das vielleicht doch so toll ist es doch genau das was ich machen möchte oder ähm möchte ich dann vielleicht was ganz anderes machen nich also ich möchte mir dann wirklich dieses Jahr Zeit nehmen« (2388-2393).

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Sollte sie sich gegen die Fortsetzung ihres Studiums entscheiden und insofern also erkennen, dass ihr das Lehramt keinen ›wirklichen‹ Sinn vermitteln kann, dann könnte sich Sonja durchaus vorstellen, an einen ganz anderen Ort zu gehen; zumal schließlich der Verkauf des vom Großvater gebauten und von ihrer Familie jahrelang bewohnten Hauses ansteht. Konkrete Alternativen hat sie – wenngleich über die Aufnahme eines Studiums in Erfurt nachgedacht wird, »weil en Bekannter da ne Wohnung hat« (561) – jedoch nicht vor Augen. Es sind demnach keineswegs absolut fixe Zukunftspläne, die Sonja präsentiert. Vielmehr sind es verschiedene Optionen, gewissermaßen Möglichkeitsräume, die sie während des Interviews aufzählt. Dabei steht ein Wechsel nach Erfurt für sie ebenso zur Disposition wie eine Übersiedlung in die Schweiz oder nach Österreich: »Vielleicht geh ich doch noch in den Osten oder wo ich auch sehr gern hin möchte is die Schweiz ich Schweiz find ich sehr sehr schön auch Österreich […] ja also ich werde dann mal sehen ob ich dann in einem Jahr vielleicht irgendwie die Möglichkeit habe dorthin zu gehen dort zu studieren oder so was« (581-596). Die Suche nach einer Beschäftigung, in der Sonja einen Sinn sieht, ist für sie daher noch keineswegs abgeschlossen. Zugleich ist auch ihre räumliche Verortung unklar. Deshalb lässt sich sagen, dass ihr weiterer Lebensweg von Unbestimmtheit charakterisiert ist. Bestimmt hingegen ist – so haben es gerade die vorangehenden Analysen demonstriert – die Bedeutsamkeit von Weltverhältnissen in der ›Bildungsgestalt‹ Sonjas, die nun abschließend nochmals gesondert thematisiert und im expliziten Zusammenhang mit den erarbeiteten bildungstheoretischen Bestimmungen behandelt wird. 5.3.4 Zusammenfassende Betrachtungen: Die Bedeutsamkeit der Weltverhältnisse in der ›Bildungsgestalt‹ Sonjas Als reflektierendes und argumentierendes Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zu den Dingen und Themen der Welt bezeichnet ›Bildung‹ – gemäß des generierten Theoriezusammenhangs (siehe Kap. 3.3) – die Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensvoll- und -bezügen als quastio iuris. Dabei werden Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse unter dem Blickwinkel der Wert- und Geltungsproblematik betrachtet: Warum ist es so, ist dies gerechtfertigt, muss und darf das sein? Blickt man vor diesem Hintergrund auf Sonjas lebensgeschichtliche Erzählung, so lässt sich feststellen, dass bei ihr sogar gleich in mehrfacher Hinsicht von derartigen ›Anstrengungen‹ die Rede ist. Besondere Bedeutung erlangt da-

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bei vor allem die Auseinandersetzung mit Weltverhältnissen. Denn solche sind es, die Sonja in besonderem Maße einer prüfenden Beurteilung unterzieht. Das zeigt sich im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit dem Tierschutz und dem für sie zentralen Wunsch, »die Qual der Tiere beenden« (2936) zu wollen. Sie will, dass Tiere geachtet und als Lebewesen entsprechend behandelt werden. Unbedingt möchte sie Änderungen im Umgang mit Tieren bewirken und Einstellungen ändern. Es ist ihr vor dem Hintergrund der in den YouTube-Videos gezeigten Misshandlungen und des insgesamt besehen eher geringen Interesses anderer für die Belange von Tieren gleichsam innigste Herzensangelegenheit und moralische Verpflichtung, Lebenseinstellung und Weltanschauung. Dem Einsatz für den Tierschutz versucht Sonja daher sogar als eine umfassende Aufgabe nachzukommen. Ihre Unterstützung von Organisationen weitet sie dazu aus. Eine Berufstätigkeit in diesem Arbeitskontext wird als erstrebenswert sowie eminent sinnhaft erachtet. Dabei stellt sie – auch das ist ein Charakteristikum der späten Reifezeit – die »Frage nach dem Sinn des Berufs« (Fischer 1966b: 140) als »Frage nach der Berufung« (ebd.). Insofern ist mit Rekurs auf die bildungstheoretischen Einsichten durchaus zu sagen, dass Sonja selbstständig »nach dem Guten und Wahren« (ebd.: 137; Herv. i.O.) fragt und »dem Logos der Welt« (ebd.) auf den Grund geht, wenn sie sich mit dem Tierschutz auseinandersetzt. Allerdings kommt sie hierbei zur Erkenntnis, dass das Engagement für den Tierschutz anderen Erwartungen an ihr eigenes Leben widerspricht. Denn es bietet ihr nicht jene Sicherheit, die sie als notwendig für ein Leben in geordneten Bahnen erachtet. In Zukunft will sie sich gerade auch versorgt wissen. Da sie jedoch keinen für sich überzeugenden Weg erkennt, wie sie den Tierschutz so in ihr Leben integrieren kann, dass sie sich dadurch zugleich eine gesicherte Existenz aufbauen kann, sieht sich Sonja ›gezwungen‹, nach Alternativen Ausschau zu halten und ihre Planungen an eine eher normalbiographische Laufbahn anzupassen. Sonja entscheidet sich für ein Lehramtsstudium und gibt so einer konventionellen Lebensgestaltung Vorrang vor einer ideellen, weshalb sich wohl keineswegs unter Berufung auf stichhaltige Argumente behaupten lässt, dass sie Realitäten des Daseins verkennt und sich gedankenlos in eine Traumwelt begibt. Sie hat vor, gleichsam verankert und gesichert ihr Leben zu gestalten. Wenn sie allerdings davon berichtet, inwiefern sie nach der Absendung der Bewerbungsunterlagen für das Studium mit ihrer Entscheidung hadert, dann macht dies deutlich, dass sie diese normalbiographische Ausrichtung keineswegs als absolute Erfüllung ansieht. Sonja hat mehr vor und will eine Nachhaltigkeit ihrer Tätigkeit erreichen. In ihren grob umrissenen Plänen findet sich – ganz im Sinne der Beschreibungen zur ›Pubertät‹ bzw. späten Reifezeit – Platz für Sehnsucht und Schwärmerei. Und in einer ›Kernnarration‹ stellt sie auch den Wunsch heraus, etwas in

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ihrem Leben zu tun und zu leisten, das für sie Sinn macht: »wenn ich irgendwie was machen könnte mit meinem Leben wo ich wirklich nen Sinn drin sehen würde« (601-603). Ob es beim Lehramtsstudium für Sonja bleiben wird, ist angesichts dieser Aussage fraglich. Denn sie muss erst testen, ob das Lehramtsstudium für sie einen solchen ›wirklichen‹ Sinn bereithält. Wenngleich nun die Auseinandersetzung mit Weltverhältnissen in der lebensgeschichtlichen Erzählung Sonjas eine exponierte Bedeutung hat, so lässt sich nicht behaupten, dass bei ihr deshalb Selbst- und Fremdverhältnisse unterbestimmt bleiben. Sie entfalten – da Lebensgeschichten als artikulierte Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse zu verstehen sind (siehe Kap. 3.1.1) – ebenfalls Wirkung. Das zeigt sich etwa in jenen Passagen, in denen Sonja den Umgang mit Verlusten, also dem unfreiwilligen Verzicht auf Wertbezogenes, schildert und im Akt des ›pubertären‹ Transzendierens Deutungshorizonte der alltäglichen Lebenswelt bedenkt und überschreitet. Auf diese Weise werden von ihr Einsichten und Zusammenhänge in Bezug auf sich selbst, auf andere und auf Dinge und Themen der Welt erlangt. So etwa setzt sich Sonja rückblickend damit auseinander, dass die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit als Hemmfaktor in sozialen Beziehungen wirken kann und in ihrem konkreten Fall dazu führte, dass sie – nachdem sie sich mit zwei türkischen Mädchen angefreundet hat – in der Grundschule von Klassenkameraden ausgeschlossen wurde. Im Rahmen der Erzählung über den Tod des Vaters bedenkt sie des Weiteren die Tragweite desselben für ihre Familie und generiert einen für sie erträglichen Umgang mit der Tatsache, dass sie den »Held« (747) ihrer Kindheit nie mehr wieder sehen wird. Und durch den bevorstehenden Verkauf des Elternhauses wird Sonja mit der Kontingenz von Lebensumständen konfrontiert, die sie für sich bedenkt und bewertet. Eine solche ›Kopplung‹ von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen wird aber gerade auch im Zusammenhang mit der Übernahme der Werte von Dani, Sonjas Freundin, und den szenespezifischen Aktivitäten der beiden Gleichaltrigen deutlich. Hier zeigt sich nämlich besonders anschaulich, inwiefern Sonjas Arbeit am Ich und die Herausbildung eigener – d.h. nicht am Vorbild orientierter – Wertvorstellungen als eine Aufgabe der späten Reifezeit über die Auseinandersetzung mit ihrem Verhältnis zur Gothic- und Metal-Szene im Allgemeinen und deren antikonventionellen und außeralltäglichen Bestandteilen im Besonderen erfolgt. Gerade diese sind es, die auf Sonja faszinierend wirken, sodass sie über geraume Zeit Aktivitäten – insbesondere regelmäßige Diskobesuche – innerhalb der Szene nachgeht. Die Zugehörigkeit wird dabei einerseits durch den Konsum einer bestimmten Musikrichtung und andererseits durch das Tragen bestimmter Kleidungsstücke zum Ausdruck gebracht, mit denen sie und ihre Freundin Dani Aufmerksamkeit erregen. Gerade diese ›Maskerade‹ macht ein

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spezifisches Verhältnis zur Welt evident: Man ist anders, grenzt sich ab, lässt sich nicht in konventionelle Strukturen einordnen. Es ist dann allerdings zum einen Sonjas Verantwortung gegenüber der Mutter und zum anderen die Einsicht in die dialektische Struktur der Szene, die eine vollkommene Abkehr von der ›Bürgerlichkeit‹ verhindern. Sonja möchte ihre Mutter nicht enttäuschen, sodass sie darauf verzichtet, auch im Alltag auffallend gekleidet zu sein. Und sie erkennt, dass die Szene nicht nur Faszinierendes bietet, sondern von ihr auch insofern eine Bedrohung ausgeht, als sie derart einnehmend wirken kann, dass man »en bisschen gestört« (334) wird und »überhaupt nich mehr raus kommt« (337). Vor diesem Hintergrund gelingt es Sonja dann auch, sich kritisch mit den Strukturen der Szene auseinanderzusetzen, Abstand von ihr zu nehmen und sich selbst nicht in dieser Welt zu verlieren. Vermutlich ist hierbei auch relevant, dass Sonjas Präferenzen mit jenen der Szeneangehörigen nicht absolut deckungsgleich sind: Während diese nämlich einer hedonistischen Orientierung nachgehen, demonstriert Sonja mit ihrem Einsatz für den Tierschutz, inwiefern sie nicht nur auf sich selbst bezogen ist. Ihre Herauslösung aus der Szene wird vor diesem Hintergrund erleichtert. Zugleich schafft Sonja es dabei, sich von Dani als leitendem Vorbild zu lösen, sodass sie einen Eigenstand erlangt, der von ihr erkannt und produktiv gedeutet wird. Die individuellen Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse von Sonja stehen in dieser Hinsicht also unter einem eindeutig wechselseitigen Einfluss, bei dem Leitbilder in Frage gestellt, Auffassungen und Handlungen unter dem Aspekt ihrer Konsistenz und Konsequenz problematisiert und Zweifel am Wert des Ich überwunden werden. Vor dem Hintergrund der Kritik an den vier Konzeptionen einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung ist es nun wichtig hervorzuheben, dass die Rekonstruktion der lebensgeschichtlichen Erzählung Sonjas kein Konversionserlebnis auszumachen vermag, das bildungswirksame Kraft entfaltet. Selbst der von ihr selbst diagnostizierte ›Wendepunkt des Lebens‹, der Tod des Vaters, evoziert keinen ›identifizierbaren‹ Bildungsprozess. Die Gleichsetzung von Wandlungs- mit Bildungsprozessen führt demnach zum Verständnis von Sonjas ›Bildungsgestalt‹ nicht weiter. Und auch Bezüge auf spontane Handlungsimpulse, im Widerstreit befindliche Diskursarten oder Geschehnisse, die auf ihre Geschlechtskonstruktion zurückführbar sind, ›taugen‹ in dieser Hinsicht nicht. Ist man bestrebt, Sonjas ›Bildungsgestalt‹ als Ergebnis und Grundlage einer Geschichte der Auseinandersetzung mit Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen kenntlich zu machen, dann wird deutlich, dass es das kritische Bedenken und Werten ist, das von Sonja auf verschiedene Weise ›aktiviert‹ wird. Der differenzierte »Zusammenhang einer historischen Lage der Welt und einer subjektiven Verfasstheit und Stellung zu den objektiven Bedingungen, zu anderen und zu

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sich« (Wigger 2006: 111) lässt sich im Anschluss an die Einsichten von Petzelt, Fischer und Ruhloff somit als ›Bildungsgestalt‹ erhellen. In Sonjas ›Bildungsgestalt‹ kommt dabei gerade zum Ausdruck, inwiefern sie nach Unabhängigkeit von Vorgaben strebt. Die jahrelange Bestimmung des eigenen Werts in Abhängigkeit zum gleichaltrigen Vorbild, der Freundin Dani, wird im Nachhinein durchaus mit Bedenken belegt, wenngleich diese soziale Konstellation Sonja zu Selbstvertrauen verholfen und die Erkundung der sie faszinierenden Gothic- und Metal-Szene ermöglicht hat. Eine Abhängigkeit von anderen erachtet Sonja jedoch prinzipiell nicht als erstrebenswert. Sie will vielmehr Werte eigenständig erfassen und sich nicht von Vorgaben – sowohl familialer als auch peergroupbezogener oder sonst wie sozial inkorporierter Couleur – leiten lassen. Die potenzielle Gefahr, die von der Gothic-und Metal-Szene ausgeht, schreckt sie ab. Verfolgt wird insofern eine selbstständige Orientierung im Denken. Diese zeigt sich etwa auch in der Auseinandersetzung mit dem Tierschutz, in welcher sie den menschlichen Umgang mit Tieren problematisiert und der Auffassung widerspricht, die von der selbstverständlichen Nahrungsaufnahme tierischer Produkte ausgeht. Zugunsten der Förderung des Wohls der Tiere sei es ihres Erachtens hingegen zu wünschen, »dass jeder Vegetarier is« (2892), auch wenn »das vielleicht schon en bisschen extrem is« (2893). In der Darlegung zur Dringlichkeit, das Leiden der Tiere zu beenden und ihr Wohl zu fördern, bemüht sich Sonja so um gültiges Urteilen. Sie eröffnet Denkalternativen, die als übergeordnete Entwürfe Geltung beanspruchen und Anerkennung finden sollten. Keineswegs werden diese jedoch fundamental-dogmatisch artikuliert. Insofern lässt sich sagen, dass – auch wenn ebenfalls Selbst- und Fremdverhältnisse hervortreten, diese beund durchdacht werden – die lebensgeschichtliche Erzählung von Sonja im eigentlichen Sinne die Virulenz eines problematisierenden Umgangs mit Weltverhältnissen aufzeigt. Gründe und Bedingungen von Weltverhältnissen werden reflektiert und ihre Ordnungsmuster befragt. Folglich steht Sonja für einen lebensgeschichtlichen Fall, in welchem gerade die ›Bildungsbedeutsamkeit‹ von Weltverhältnissen hervortritt. Die nachfolgende Abbildung trägt diesem Befund Rechnung und stellt die Bedeutsamkeit des Weltverhältnisses in Sonjas ›Bildungsgestalt‹ graphisch dar, wozu sie auf die Welt gerichtete Topoi hervorhebt, die erarbeiteten biographie- und bildungstheoretischen Markierungen einbindet und zwei von Sonja getroffene Aussagen besonders herausstellt. Sonjas ›Bildungsgestalt‹ komplettiert somit schließlich das Spektrum von Verhältnissen zu sich selbst, zu anderen Menschen und zu den Dingen und Themen der Welt, die sich unter Berufung auf die pädagogischen An- bzw. Einsätze von Petzelt, Fischer und Ruhloff beschreiben lassen.

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Abbildung 4: Sonjas ›Bildungsgestalt‹ – im Kontext biographie- und bildungstheoretischer Markierungen

Selbstverhältnisse

Fremdverhältnisse

Weltverhältnisse

Sonja (19 Jahre; Abiturientin)

»was ich eigentlich am liebsten machen möchte is eigentlich der Tierschutz«

»deswegen is es auch einfach so wichtich für mich wenn ich später mal irgendwie in dieser Hinsicht arbeiten kann dass es tatsächlich irgendwie ne Veränderung bewirken könnte«

Fokussierung der Mensch-TierBeziehung und Befragung des selbstverständlichen Konsums tierischer Produkt e Problematisierung des menschlichen Umgangs mit Tieren im Allgemeinen Notwendigkeit der Initiierung gesellschaftlicher Veränderungen / Änderung von Einstellungen und etablierten Umgangsweisen Aufweis von Unkenntnis und mangelndem Interesse am Wohl der Tiere als Grund für unbefriedigenden status quo Abwägen, inwiefern das Leben auf ideeller oder pragmatischer Grundlage zu stellen ist (unbedingter Einsatz für den Tierschutz vs. solide Existenz)

Befragen von gesellschaftlichen Normen und Ordnungsmustern eigenständiges Suchen nach Normen Problematisierung von Weltanschauungen und Ideologien Wertung der Welt in eigener Begründung Reflexion über Gründe und Bedingungen von Weltverhältnissen Auseinandersetzung mit der Frage, wie das Leben zu leben ist

6 Ich, Andere und Welt – Die vergleichende Analyse der ›Bildungsgestalten‹ und die Rückbindung an die Befunde zur Programmatik der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung

In diesem Kapitel münden die drei konturierten ›Bildungsgestalten‹ von Marc, Natalie und Sonja in einen Vergleich, in welchem die fallspezifischen Befunde vor dem Hintergrund des leitenden biographie- und bildungstheoretischen Entwurfs – wie er in Kap. 3.3 als Synopsis skizziert ist – zur übergeordneten Betrachtung kommen. Dabei werden die Rekonstruktionen zum einen über die Differenzierung von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen in Augenschein genommen (siehe Kap. 6.1). Zum anderen werden sie vor dem Hintergrund der erarbeiteten bildungstheoretischen Topoi miteinander verglichen (siehe Kap. 6.2). Beide Varianten führen die hervorgebrachten Analysen auf diese Weise auf die Befunde zurück, die zum Ende des ersten Teils der Arbeit den Anstoß für den theoretisch begründeten und qualitativ-empirisch inspirierten Versuch einer Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung geliefert haben. Die im Zuge der Beschäftigung mit den drei lebensgeschichtlichen Erzählungen hervorgebrachten Interpretationen werden so auf die beiden elementaren Problembereiche der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung bezogen, um zu verdeutlichen, dass ›Bildung‹ in biographischen Zusammenhängen weder sinnvoll auf die Auseinandersetzung mit dem Selbstverhältnis einzuschränken ist, noch schlicht und ergreifend als eine Wandlung bzw. – wie es von Arnd-Michael Nohl (2006a: 13) formuliert wird – »Transformation von Lebensorientierungen« verstanden werden kann.

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6.1 ›B ILDUNG ‹ UND B IOGRAPHIE IN DREIFACHER V ERHÄLTNISBESTIMMUNG Werden die auf der Basis narrativ-autobiographischer Interviews rekonstruierten ›Bildungsgestalten‹ von Marc, Natalie und Sonja in einem ersten Zugriff nun vergleichend in den Blick genommen und dabei die Unterscheidung von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen vorgebracht, dann ist zuallererst zu konstatieren, dass alle drei Dimensionen in den untersuchten lebensgeschichtlichen Erzählungen zur Sprache kommen. Die befragten Jugendlichen erzählen nämlich in den Interviews sowohl von sich selbst als auch von anderen Menschen und von der Welt. Selbstverhältnisse werden von Marc, Natalie und Sonja dabei etwa dort artikuliert, wo von Selbstbildern und -wahrnehmungen berichtet wird, wo ein persönliches, d.h. auf sich selbst bezogenes Wertstreben zum Ausdruck kommt und wo eigene Stärken verdeutlicht und Schwächen ›eingestanden‹ werden. So erzählt Marc von seinen Einsamkeitserlebnissen. Natalie berichtet stolz von ihrer persönlichen Leistung, den Realschulabschluss erlangt zu haben. Sonja schildert, dass sie sich zeitweise als unattraktiv und unreif wahrgenommen hat. Auch von ihren Fremdverhältnissen erzählen die drei befragten Jugendlichen; u.a. dort, wo sie Beziehungsnetze, Familienkonstellationen und Generationenverhältnisse darstellen und auf diese Weise Positionierungen gegenüber ihren Eltern, Lehrern, Vorbildern oder Freunden deutlich machen. Marc stellt seine besondere Bindung zur Mutter heraus und erzählt von Konflikten mit Gleichaltrigen, deren Anerkennung er zuweilen vergeblich gesucht hat. Natalie berichtet umfangreich von den Spannungen zwischen den Familienmitgliedern und erzählt, wie sie über die Kontaktaufnahme zur Nachbarin Beate ein mütterliches ›Substitut‹ gewinnt und somit für sich erweiterte familiale Strukturen erschließt. Sonja bezieht sich in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung auf ihren verstorbenen Vater und verdeutlicht, wie sehr sie ihn vermisst. Auch spricht sie von ihrer Freundin Dani und macht deutlich, wie sie zu ihr steht. Schließlich werden von Marc, Natalie und Sonja auch Weltverhältnisse artikuliert; und zwar dann, wenn sie Institutionen und Lebensformen erwähnen, Werte und Konventionen ansprechen oder von gesellschaftlichen Zuständen und Entwicklungen berichten. Marc spricht sich in seiner lebensgeschichtlichen Erzählung etwa deutlich für Werte der Toleranz und Akzeptanz aus, beleuchtet die Schule als Institution und nimmt die Religionszugehörigkeit als u.a. Sozialbeziehungen strukturierende Größe in den Blick. Natalie plädiert ebenfalls für bestimmte Werte, nämlich Aufrichtigkeit, Offenheit, Vertrauen und mitmenschliche Sorge, die ihres Erachtens gerade auch in der Familie als kleinste soziale

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Einheit herrschen müssen. Zudem geht sie auf gesellschaftliche Normalitätserwartungen ein, wenn sie von den innerfamilialen Konflikten auf Grund der gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehung ihrer Schwester Nina erzählt. Sonja wiederum betont die Notwendigkeit von ökologisch nachhaltigen Maßnahmen, setzt sich umfassend mit dem Tierschutz auseinander und nimmt die Unverantwortlichkeit in den Blick, die durch die Misshandlung und Tötung von Tieren zum Ausdruck kommt. Die in rekonstruktiv-interpretativer Manier vollzogene Betrachtung der drei lebensgeschichtlichen Erzählungen verdeutlicht demnach die dreifache Verhältnisbestimmung von Biographie: als artikuliertes Selbst-, Fremd- und Weltverhältnis. Es bestätigt sich insofern also – wie in Kap. 3.1.1 entfaltet –, dass es beim lebensgeschichtlichen Erzählen um eine ›Interaktion‹ des Verhältnisses zu sich selbst, zu anderen und zur Welt geht. Denn die Erzählung und Vergewisserung des eigenen Lebens weist über Selbstverhältnisse hinaus. Fremd- und Weltverhältnisse sind hierbei ebenfalls eingebunden. Mit Blick auf biographietheoretische Überlegungen und deren ›Implementierung‹ in empirische Forschungen bedeutet dies, dass die Reichhaltigkeit biographischer Ereignisse, Erfahrungen und Erinnerungen in Rechnung zu stellen und die Analyse vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen zu bewerkstelligen ist. Hinter sie gilt es nicht zurückzufallen, damit umfassende Einsichten in lebensgeschichtliche Zusammenhänge ermöglicht und gründliche Interpretationen von Biographien hervorgebracht werden können. Gerade dafür bietet die Toposanalyse von Theodor Schulze (1997b und 2006c) geeignete methodische Hilfen und kann in der Tat als offener angesehen werden als eine vorab bestimmte Fokussierung auf »Prozeßstrukturen des Lebensablaufs« (Schütze 1981). Die auf Basis der drei lebensgeschichtlichen Erzählungen vollzogene Rekonstruktion und Interpretation leistet allerdings noch mehr als die Betonung dieser biographietheoretisch relevanten Erkenntnis. Im Rahmen der intensiven Analyse der drei lebensgeschichtlichen Erzählungen lässt sich nämlich nicht nur herausarbeiten, dass Marc, Natalie und Sonja sowohl Selbst- als auch Fremdund Weltverhältnisse biographisch bearbeiten und in Worte fassen. Es wird durch die hierbei vorgenommene Fokussierung ihrer individuellen Erlebnisse, Erfahrungen und Erinnerungen auch deutlich, dass bei den drei Jugendlichen geradezu spezifische Schwerpunktsetzungen vorhanden sind und nicht alles in jeder Biographie auf gleiche Weise ›wirkt‹. In dieser Hinsicht weisen die drei lebensgeschichtlichen Erzählungen also deutliche Unterschiede auf. Diese Schwerpunkte und Differenzierungen sind gerade unter bildungstheoretischen Gesichtspunkten von Relevanz. Denn es zeigt sich im Rahmen der rekonstruktivinterpretativen Beschäftigung mit den drei lebensgeschichtlichen Erzählungen,

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dass entweder das Verhältnis zu sich selbst, zu anderen Menschen oder auch zur Welt erhöhte ›Bildungsbedeutsamkeit‹ erlangen kann, weil und insofern das, was vor dem Hintergrund der hier getroffenen theoretischen Ausführungen als ›Bildung‹ bezeichnet wird, sich in der Auseinandersetzung mit einer dieser drei Dimensionen besonders zeigt. Als ›bildungsbedeutsam‹ ist das Selbst-, Fremdoder auch Weltverhältnis dabei also insofern anzusehen, als im Gesamtzusammenhang der jeweiligen lebensgeschichtlichen Erzählung die kritisch-problematisierende Konfrontation mit den eigenen Lebensvoll- und -bezügen im Rahmen einer ›Interaktionskomponente‹ umfassender und tiefgreifender als in den beiden anderen erfolgt. Insofern gilt es genau zu schauen, worin Anlässe und Potenziale für ›Bildung‹ liegen und auf welche Weise Jugendliche diese wahrnehmen bzw. ›aktivieren‹, wie sich mit Petzelt (1965: 243) sagen lässt. So lässt sich dann nämlich auch eine ›Bildungsgestalt‹ markieren, die »gleichsam ein Koordinatensystem für die existenzielle Verankerung des Menschen« (Marotzki 1997: 85) umreißt und als Ergebnis sowie zukunftsoffene Grundlage die Geschichte der Auseinandersetzung mit sich selbst, anderen und der Welt darstellt (vgl. Wigger 2006: 111). Je nach Ausprägung des individuellen Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisses sowie deren Behandlung in Form der quaestio iurus, d.h. der Frage nach der Rechtmäßigkeit beanspruchter Geltungen, gestaltet sich die jeweilige ›Bildungsgestalt‹ und zeigt sich – greift man den metaphorischen Ausdruck Marotzkis auf – als einzigartiges Koordinatensystem: Im ersten hier besprochenen Fall ist dann die Auseinandersetzung mit sich selbst als ›bildungsbedeutsam‹ zu erachten (siehe Kap. 5.1). Im zweiten Fall ist es hingegen die Auseinandersetzung mit anderen Menschen (siehe Kap. 5.2). Der dritte intensiv ins Visier genommene Fall demonstriert schließlich eine im Zusammenhang mit ›Bildung‹ stehende Relevanz von Weltverhältnissen, auch wenn sich hier – stärker als in den beiden anderen Fällen – Verwobenheiten mit Selbst- und Fremdverhältnissen hervortun (siehe Kap. 5.3). In der ersten Fallinterpretation, jene, in der die lebensgeschichtliche Erzählung des 18-jährigen Marcs intensiv zur Betrachtung kommt, tritt die Auseinandersetzung mit dem Selbstverhältnis und die Zugehörigkeit im sozialen Kontext hervor, sodass der Blick hier auch auf eine Identitätsentwicklung fällt (siehe Kap. 5.1.4). Nicht aber die Identitätsentwicklung ›an sich‹ ist es, die schon rechtfertigt, die lebensgeschichtliche Erzählung von Marc mit ›Bildung‹ in Beziehung zu setzen und vor einem solchen Hintergrund analytisch zu durchdringen. Es ist der Umstand, dass Marc Einsicht in die ›Problematizität‹ des Verhältnisses zu sich selbst gewinnt und eine reflexive Bearbeitung seines Selbstentwurfes ver-

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folgt.1 Im Zuge der Analyse seiner lebensgeschichtlichen Erzählung in bildungstheoretischer Absicht lässt sich so die ›Bildungsbedeutsamkeit‹ seines Selbstverhältnisses herausstellen. Allerdings beschränkt sich die Analyse seiner lebensgeschichtlichen Erzählung nicht zur Gänze auf das individuelle Selbstverhältnis. Mit der anhand von Petzelts Begriff der ›Du-Bezogenheit‹ beschriebenen Orientierung an der Mutter ist hierbei nämlich auch ein bildungstheoretisch exponierter Topos wirksam, ohne den Marc zu seiner kritischen Einschätzung wohl kaum gelangen könnte. Auf diese Weise kommen also außerhalb des Selbstverhältnisses liegende und die ›Bildungsgestalt‹ Marcs begünstigende Faktoren in den Blick. Marc hat mit seiner Mutter eine Bezugsperson, auf die er sich verlassen und mit der er sich austauschen kann. In Gesprächen mit der Mutter bearbeitet Marc dann auch seine Konversionsabsicht und entwickelt jene distanzierte Haltung zu seinem zuvor gehegten Plan. In Form der ›Du-Bezogenheit‹ erfährt die Dimension des Fremdverhältnisses im Rahmen von Marcs ›Bildungsgestalt‹ insofern durchaus an Bedeutung. Zum dominanten Faktor wird sie jedoch keines-

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Nimmt man gängige begriffliche Abgrenzungen von Bildung und Identität in den Blick, so lässt sich hervorheben, dass nicht schon eine ›neue‹ Ich-Identität bildungstheoretisch betrachtet bedeutsam ist, sondern gerade die Einsicht eines Menschen in die Instabilität und Vergänglichkeit seines Identitätsentwurfes. Siehe hierzu bspw. Mollenhauer 1983: 155ff., Stroß 1991, Hoffmann 1997, Klika 2000 und Ballauff 2004: 49f. Es sind – um mit Mollenhauer (1983: 155) zu sprechen – gerade »Schwierigkeiten mit Identität«, die für ›Bildung‹ ausschlaggebend sind. Im Kontext von ›Bildung‹ ist es entscheidend, dass jemandem das Verhältnis zu sich fragwürdig wird und er dieser Fragwürdigkeit nachspürt. Nur durch ›Bildung‹ – so formuliert es etwa Theodor Ballauff (2004: 49) – »kann das Ich sich auf ein Selbst hin verstehen und die Abhängigkeit von der Fremdeinschätzung bzw. -identifikation durchschauen und überwinden, aber auch seine Identifikationen infragestellen«. Mollenhauer bezeichnet in seinen Ausführungen Identität deshalb auch als eine Fiktion, die nur dann ›bildungsbedeutsam‹ ist, wenn die Unabgeschlossenheit und Unabschließbarkeit der in die Zukunft gerichteten Suche nach Identität anerkannt wird. Zunächst und zumeist weist das zur pädagogischen Leitformel geronnene Postulat, dass der Mensch eine Identität benötige, diese Unabschließbarkeit aber nicht auf, sodass die Annahme einer Ich-Identität als Zielvorstellung pädagogischen Denkens und Handelns nicht nur eine Verkürzung der anthropologisch gegebenen Offenheit menschlicher Natur in sich birgt (vgl. Stroß 1991: 4.). Sie tilgt auch das ›Bildung‹ überhaupt in Gang setzende Problem, sodass sich aus dieser Perspektive betrachtet sagen lässt: »Schlimm also, wenn wir von jemandem sagen könnten, er sei mit sich identisch!« (Mollenhauer 1983: 179)

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wegs. Auch die Auseinandersetzung mit Weltverhältnissen tritt in der bei ihm konturierten ›Bildungsgestalt‹ nicht außerordentlich auffallend hervor, obwohl Marc auch diese zuweilen – etwa dort, wo er die stark religiös geprägte Comenius-Schule in den Blick nimmt – im Bewusstsein von Gründen beleuchtet. Dass die ›Bildungsgestalt‹ Marcs ihren Schwerpunkt auf dem Selbstverhältnis hat, wird geradezu offensichtlich, wenn man sie mit jener von Natalie und Sonja vergleicht und dabei die Abgrenzungen hervorhebt. Die lebensgeschichtliche Erzählung der 17-jährigen Natalie kreist nun nämlich ebenfalls um Prozesse sozialer Anerkennung. Anders als bei Marc sind diese aber nicht auf die eigene Person bezogen, sondern vielmehr und viel deutlicher auf andere Familienmitglieder. Ein Problem mit sich selbst hat Natalie nicht. Deshalb lassen sich in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung auch keine Versuche der persönlichen Wertsteigerung ausmachen. Ein dezidierter »Zweifel am Wert des Ich« (Fischer 1955: 65) tritt erst recht nicht hervor. Wohl aber verdeutlicht sie ihr gelebtes Leben mittels der narrativen Präsentation mitmenschlicher – und das heißt bei ihr vor allen Dingen familialer – Verhältnisse. Ihr geht es immer wieder um die Klärung der sozialen Beziehungen, die in ihrer Familie vorherrschen. Vor allen Dingen aber will sie verstehen, wie es zu bestimmten Entwicklungen in ihrer Familie kommt. Sie sucht nach Aufklärung und geht den Dingen auf den Grund. Dabei kann sie – im Gegensatz zu Marc – kaum auf die Unterstützung durch die Eltern setzen. Vielmehr sind gerade sie es, die die krisenhafte Struktur und ›Fragilität‹ der familialen Beziehungen durch Verschleierungen und Verdrängungen aufrechterhalten. Die Eltern schließen Familienmitglieder aus und stigmatisieren sie. Natalie hingegen ist hochgradig sozialkompetent und versucht allen Familienmitgliedern gerecht zu werden. Dass ihre Schwester Nina lesbisch ist, macht ihr nichts aus; stattdessen unterstützt Natalie sie und sucht – anders als ihre Eltern dies tun – das offene Gespräch. Dass Tanja ›bloß‹ ihre Halbschwester ist, hindert Natalie nicht daran, sie zur Familie zu zählen und sich regelmäßig mit ihr zu treffen. Wird Natalies ›Bildungsgestalt‹ mit der von Marc verglichen, so tritt die Dimension des Fremdverhältnisses hier also in einer deutlich stärkeren Weise in Erscheinung. Und weil Natalie gerade jene Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zu anderen auf eine Art und Weise betreibt, die der kritisch-problematisierenden Haltung entspricht, die die Konzeptionen von Petzelt, Fischer und Ruhloff beschreiben, lässt sich hier von einer ›Bildungsbedeutsamkeit‹ des individuellen Fremdverhältnisses sprechen (siehe Kap. 5.2.4). In Sonjas lebensgeschichtlicher Erzählung hingegen erlangt schließlich die Auseinandersetzung mit dem Weltverhältnis an Bedeutung. Denn mit Zuständen und Strukturen der Welt beschäftigt sich Sonja auf verschiedene Weise, sucht

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dabei nach Gründen und stellt die Frage nach der Rechtmäßigkeit, sodass auch in ihrem Fall die Bemühung um ›Bildung‹ hervortritt und mit dem begrifflichen Repertoire von Petzelt, Fischer und Ruhloff beschrieben werden kann. Sonjas tiefgehende Auseinandersetzung mit Dingen und Themen der Welt erfolgt dabei gerade dort, wo es ihr um den Schutz und Erhalt der Tiere geht. Wenn die 19jährige Abiturientin sich nämlich intensiv den Belangen von Tieren widmet, etwa im Rahmen von Mitgliedschaften in hierauf ausgerichteten Organisationen, durch regelmäßige Spenden sowie dem seit einigen Jahren praktizierten Vegetarismus, den sie argumentativ verteidigt und dessen Sinnhaftigkeit sie gegenüber einer auf der ›Fleischküche‹ basierenden Ernährungsweise herausstellt, dann gelten ihr diese verschiedenen Wege des Engagements als Beiträge für die Schaffung eines besseren Weltgefüges. Alles, was Sonja mit einer Weltverbesserung in Verbindung bringt, hat dabei in erster Linie – wie sie selbst sagt – mit Tieren und »irgendwie mit der Umwelt zu tun« (2907). Hierin sieht sie einen klar hervortretenden Sinn, wenngleich sie auch Initiativen gegen den Welthunger als erstrebenswert und wichtig erachtet. Doch für Menschen ist sie nicht nur weitaus weniger gewillt, den aktiven Einsatz zu suchen. Das Verhältnis zu anderen Menschen evoziert bei ihr gerade auch keine derartig bildungswirksame Kraft, wie es die Beschäftigung mit Dingen und Themen der Welt tut. Zwar ist auch Sonja durchaus an Zwischenmenschlichen interessiert, was sich an dem besonderen Verhältnis zu Dani und ihrer – unter bildungstheoretischen Gesichtspunkten ebenfalls aufschlussreichen – Verantwortung gegenüber der Mutter zeigt. Auch belastet sie vorübergehend, dass sie zuerst keine enge Freundschaft zu Gleichaltrigen pflegen und sich später nicht recht von Dani emanzipieren kann. Die kritisch-problematisierende Auseinandersetzung mit Fremdverhältnissen ist allerdings nicht ihr Dreh- und Angelpunkt. Anders als Natalie richtet Sonja ihre ganze Aufmerksamkeit etwa nicht etwa auf die Herstellung von familialem Zusammenhalt; das durch den Auszug der Schwester und den bevorstehenden Umzug der Mutter resultierte ›Auseinanderdriften‹ der Familie ist ihr zwar bewusst und ruft zum Teil auch ihren Widerspruch hervor, doch sie findet sich mit diesem Umstand weitgehend ab und unternimmt keine Anstrengungen der Abwehr. Auch das Selbstverhältnis kommt in Sonjas lebensgeschichtlicher Erzählung nicht so sehr in Erscheinung, dass man – wie etwa bei Marc – in gleicher Weise von einer ›Bildungsbedeutsamkeit‹ desselben sprechen könnte. Sonja geht es nicht um umfassende Anerkennung oder die Verteidigung ihrer selbst, sodass sie das eigene Ich gleichsam permanent in den Mittelpunkt des Geschehens stellt. Sonja verfolgt andere Ziele als Natalie und Marc. Sie will etwas im Leben leisten, das nachhaltig und von übergeordneter Bedeutung ist. Das aber wird von ihr weder im Personalen noch im Zwischenmenschlichen gesehen. Es ist der über

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ihre ›Katzenliebe‹ entwickelte Einsatz für den Tierschutz, der für Sonja an erster Stelle steht, weshalb ihr auch die mit Rücksicht auf die weitere Lebensplanung getroffene Entscheidung, ein Lehramtsstudium zu ergreifen, deutliche ›Bauchschmerzen‹ bereitet (siehe Kap. 5.3.3). Die über die drei Rekonstruktionen lebensgeschichtlicher Erzählungen zu Tage geförderten Einsichten in die ›Bildungsbedeutsamkeit‹ von Selbst-, Fremdund Weltverhältnissen und die Darstellung von ›Bildungsgestalten‹, also dem unter ›Bildung‹ betrachteten Gefüge des Verhältnisses zu sich selbst, zu anderen und zur Welt, sind im Gesamtzusammenhang dieser Arbeit betrachtet nun gerade deshalb äußerst interessant, da sie aufzeigen, dass die Bedeutung von ›Bildung‹ keineswegs immer im Kontext des individuellen Verhältnisses zu sich selbst zu sehen ist, auch wenn die narrative Präsentation von Selbstverhältnissen in lebensgeschichtlichen Erzählungen stets eine Rolle spielt. Selbstverhältnisse – so lässt sich den von Marotzki (1990a), Koller (1999a), von Felden (2003) und Nohl (2006a) vorgelegten Befunden entgegen – können, müssen aber nicht ›bildungsbedeutsam‹ sein. Unter einer auf ›Bildung‹ bezogene Betrachtung können gerade auch Fremd- und Weltverhältnisse Bedeutung erlangen. Dass deshalb auch ›Bildung‹ – ebenso wie Biographie – in dreifacher Verhältnisbestimmung zu thematisieren ist, nämlich als die Relation eines Ich zu sich selbst, als das Verhältnis eines Ich zu anderen Menschen und als das Verhältnis zwischen einem Ich und dem, was mit Welt bezeichnet wird, lässt sich nach der qualitativempirischen Untersuchung als wichtiges Ergebnis formulieren und für die Theorieentwicklung einer auf bildungstheoretischen Konzeptionen beruhenden Biographieforschung festhalten. Eine sensibel differenzierende Betrachtung lebensgeschichtlicher Erzählungen unter den Perspektiven von Selbst, Anderen und Welt ist also auch dann zu berücksichtigen, wenn man – wie es die Analysen der lebensgeschichtlichen Erzählungen von Marc, Natalie und Sonja verdeutlichen – umfassende Antworten auf die Frage erhalten möchte, wie ›Bildung‹ in Erscheinung tritt und eigentlich möglich ist. Nun lässt sich gewiss nicht behaupten, dass das empirische Feld mit diesen drei lebensgeschichtlichen Erzählungen schon erschöpfend beschrieben ist. Denn weder ist mit der vorgenommenen Analyse in biographie- und bildungstheoretischer Absicht gesagt, dass in jeder lebensgeschichtlichen Erzählung ein dezidierter Bezug zum Themenbereich der ›Bildung‹, so wie er hier konzeptualisiert ist, hergestellt werden kann. Noch sollte – gleichsam in rein statischer Betrachtung – davon ausgegangen werden, dass immer nur eine der drei Dimensionen, also das Selbst-, Fremd- oder Weltverhältnis, als ›bildungsbedeutsam‹ hervortritt. Derartige Konklusionen lassen die drei lebensgeschichtlichen Erzählungen nicht zu. Unter Berücksichtigung der in dieser Arbeit keiner detaillierten Fallanalyse un-

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terzogenen Interviews ist vielmehr zu sagen, dass nicht jede lebensgeschichtliche Erzählung deutliche Spuren von ›Bildung‹ i.S. einer reflektierend-problematisierenden Auseinandersetzung mit den Lebensbezügen zeigt. Einige Erzählungen illustrieren stattdessen geradezu die Macht der dogmatischen ›Denkungsart‹ und offenbaren somit Bildungshemmnisse; z.B. die lebensgeschichtliche Erzählung von Paulina (Nr. 4). Zwar kommen Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse auch darin zum Ausdruck. Diese werden aber nicht wie bei Marc, Natalie und Sonja auf Gründe und Bedingungen hin befragt. Hier herrscht vielmehr eine Lebensorientierung, die sich sehr an den Wünschen und Vorstellungen anderer ausrichtet. Die primäre Ausrichtung und Gestaltung erfolgt an den gleichaltrigen Freunden und treibt Paulina zu umfangreichen Peergroup-Aktivitäten, da sie immerzu fürchtet, etwas verpassen zu können. Ihre Gedanken und Handlungen münden deshalb auch nicht in den Entwurf einer klaren und eigenständig begründeten ›Lebensstrategie‹. Die Konfrontation mit Sachverhalten, die intensiv durchdacht und in Frage gestellt werden wollen, vermeidet sie nahezu konsequent – sowohl in Bezug auf sich selbst als auch auf andere und Dinge und Themen der Welt, sodass von dem Versuch, eine Lebensführung aus rückhaltloser Gedanklichkeit zu betreiben, nicht gesprochen werden kann. In Anbetracht des leitenden theoretischen Entwurfs ist es deshalb auch nicht gerechtfertigt, hier eine ›Bildungsgestalt‹ auszumachen, will man ›Bildung‹ als Repräsentanz eines Anspruchs aufrechterhalten und nicht der Beliebigkeit anheimstellen. Wenngleich die drei umfassend in den Blick genommenen lebensgeschichtlichen Erzählungen demnach also keineswegs eine Abdeckung des gesamten empirischen Feldes beanspruchen können, so machen sie jedoch sehr wohl – und das ist entscheidend – darauf aufmerksam, dass sich die auf Basis des generierten Theoriezusammenhangs vollzogene Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen sowohl auf das Selbst- als auch auf das Fremd- und Weltverhältnis zu richten hat. Eine Verkürzung von biographischen Bildungsprozessen auf Wandlungen des Selbstverhältnisses und die damit verbundene starke Betonung von Identitätsentwicklungen muss – damit bestärken die Ergebnisse der qualitativempirischen Studie das Monitum von Lothar Wigger – als ungeeignet erachtet werden, wenn man umfassende Einsichten in ›Bildungsgestalten‹ gewinnen möchte (vgl. Wigger 2004: 489 und 2006). An die Unterscheidung von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen gilt es bildungstheoretisch betrachtet also anzusetzen. Sie kann nämlich ›Bildung‹ in Biographischem erhellen und eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung bewerkstelligen.

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6.2 ›B ILDUNG ‹ IN B IOGRAPHISCHEM JENSEITS VON W ANDLUNGSPROZESSEN Im Zuge der Interpretation der lebensgeschichtlichen Erzählungen unter der Perspektive von Selbst, Anderen und Welt lassen sich individuelle Aspekte und Konturen des Biographischen hervorheben bzw. miteinander in Beziehung setzen. Es kann insofern aufgezeigt werden, in welcher Weise Marc, Natalie und Sonja Selbstverhältnisse zur Sprache bringen, wie sie ihr Verhältnis zu anderen Menschen und zur Welt deuten und was sie in dieser Hinsicht bewegt. Das aber ist nur die eine Seite. Denn neben dieser in erster Linie unter biographietheoretischer Perspektive relevanten Fokussierung erlaubt die rekonstruktiv-interpretative Betrachtung des Gefüges von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen in den drei lebensgeschichtlichen Erzählungen auch eine Bezugnahme auf das pädagogische Konzept der ›Bildung‹. Mittels der Konzeptionen von Petzelt, Fischer und Ruhloff lassen sich die artikulierten Selbst,- Fremd- und Weltverhältnisse untersuchen und analytisch durchdringen, sodass von den lebensgeschichtlichen Erzählungen auf individuelle ›Bildungsgestalten‹ geschlossen werden kann. Dies fördert unter bildungstheoretischen Gesichtspunkten relevante Aspekte hervor. Das Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur Welt lässt sich also – wie im vorangehenden Abschnitt verdeutlicht – sowohl auf biographie- als auch auf bildungstheoretische Bestimmungen hin beziehen. Mit Blick auf den Gesamtzusammenhang dieser Arbeit antwortet eine solche auf Selbst, Andere und Welt ausgerichtete Durchdringung lebensgeschichtlicher Erzählungen damit allerdings nur auf einen der beiden diagnostizierten Problembereiche der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. Denn sie konzentriert sich auf die zur Beantwortung bildungstheoretischer Frage- und Problemstellungen unergiebige Fokussierung auf das Verhältnis eines Ich zu sich selbst. Auf den zweiten diagnostizierten Problembefund, die Vermeidung einer einzig und allein unter formalen Gesichtspunkten betriebenen Bestimmung von ›Bildung‹ im Rahmen biographischer Forschung, antwortet diese Darstellung lediglich indirekt, weshalb es geboten ist, den Beitrag der empirischen Fallanalysen noch genauer auf diesen Aspekt zu beziehen. Dazu bedarf es Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei ›Bildungsgestalten‹ nicht so sehr auf der Grundlage der Differenzierung von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen kenntlich zu machen. Vielmehr sind deutlicher die im Kontext der Auseinandersetzung mit den Konzeptionen von Petzelt, Fischer und Ruhloff erarbeiteten bildungstheoretischen Topoi zu berücksichtigen, deren ›Präsenz‹ bzw. ›Nicht-Präsenz‹ sich mittels der methodischen Adaption von Theodor Schulzes Toposanalyse (Schulze 1997b und 2006c) in den drei

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lebensgeschichtlichen Erzählungen zeigt. Im Folgenden werden die Narrationen deshalb rekapitulierend unter anderen Vorzeichen in den Blick genommen; es gilt nun zu verdeutlichen, inwiefern die auf der Basis lebensgeschichtlicher Erzählungen markierten ›Bildungsgestalten‹ von Marc, Natalie und Sonja mehr und Weiteres hervorheben als ›bloße‹ Wandlungsprozesse. Da die ›Bildungsgestalten‹ dabei zudem in Charakterisierungen zur Jugend – also zur ›Vorpubertät‹ und ›Pubertät‹ bzw. frühen und späten Reifezeit (vgl. Petzelt 1965; Fischer 1966b) – eingebettet sind, ergeben sich in und mit den bildungstheoretischen Ausführungen zugleich jugendtheoretische Einsichten aus pädagogischer Perspektive. Ein über die bildungstheoretischen Topoi realisierter Vergleich der lebensgeschichtlichen Erzählungen von Marc, Natalie und Sonja setzt beim eigenständigen Werten und Wertsuchen an. Denn als übergreifende ›Prinzipien‹ sind eigenständiges Werten und Wertsuchen zur Beschreibung von Jugend aus bildungstheoretischer Sicht maßgebend. Sie charakterisieren den als Bildungsaufgabe aufzufassenden Entwicklungsgang in der Jugendphase. Werten und Wertsuchen sind demnach eingelagert in die ›Bildung‹ des Subjekts und äußern sich in Form von rückhaltlosen Infragestellungen, dem Versuch einer selbstständigen Orientierung im Denken und der Problematisierung von Wahrnehmungen, Auffassungen, Deutungen oder auch Handlungen unter dem Aspekt der Konsistenz und Konsequenz (vgl. Petzelt 1965: 165; Fischer 1966b: 67ff.; Ruhloff 1979: 181f.). So heißt es bei Petzelt, dass die Phase der ›Vorpubertät‹ dezidiert durch die Hinwendung zu den Akten des Wertens gekennzeichnet ist (vgl. Petzelt 1965: 165). Hier wird der gültige Vollzug des Wertens verfolgt. In der Phase der ›Pubertät‹ verhält es sich dagegen anders. Sie ist bildungstheoretisch betrachtet vor dem Hintergrund der Suche nach einem allgemeinen bzw. übergreifenden Wert zu sehen. Dieser allgemeine Wert hat als Maßstab und Richtschnur zu fungieren und soll – so gerade der Anspruch der pädagogischen Theorien von Petzelt und Fischer – den Jugendlichen eine Antwort zur Beurteilung gültigen Denkens und Handelns verschaffen (vgl. ebd.: 213; Fischer 1966b: 137). Werten und Wertsuchen als übergreifende Prinzipien verfolgen eine Loslösung von heteronomen Vorgaben, wechselnden Meinungen und Moden. Sie werden zugunsten einer eigenständigen und selbst zu verantwortenden Lebensführung benötigt und dienen – so Petzelt und Fischer in ihren pädagogisch-jugendtheoretischen Schriften – der Hinwendung zum Erwachsensein, bei dem der Vollzug des Subjekts in den Dienst der Subjektivität gestellt und damit das Verhältnis zwischen Mensch und Menschentum bedacht wird (vgl. Petzelt 1965: 254 und 1997: 33; Fischer 1966b: 157). Eine derartige Autonomiebestrebung und Absage an kollektive Halte- und Lenkungssysteme wird gerade auch im Rahmen der untersuchten lebensge-

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schichtlichen Erzählungen deutlich. Wenn Marc etwa nach der Verabschiedung seiner Konversionsabsicht die Distanz zur Comenius-Schule und ihrer radikal protestantischen ›Schulkultur‹ verstärkt und sich letztendlich für einen Schulwechsel entscheidet, dann lässt sich dies vor dem Hintergrund des ›Prinzip‹ des Wertens interpretieren. Auch eine von Petzelt und Fischer für die ›Pubertät‹ bzw. späte Reifezeit beschriebene Wertsuche zeigt sich im Kontext der drei lebensgeschichtlichen Erzählungen. So macht Sonja beispielsweise deutlich, dass sie in ihrem Leben etwas zu leisten versucht, das nachhaltig und von übergeordneter Bedeutung ist: »wenn ich irgendwie was machen könnte mit meinem Leben wo ich wirklich nen Sinn drin sehen würde« (601-603). Dass dies im Zusammenhang mit dem Einsatz für den Tierschutz zu sehen ist, darüber ist sie sich im Klaren. Doch weiß sie noch nicht so recht, wie sie diesem gerecht werden soll, ohne andere Erwartungen an ihr Leben unerfüllt zu lassen. Was letztendlich das Allgemeine ist, an das sie sich auszurichten und ihren Lebensentwurf zu unterstellen hat, kann sie daher noch nicht sagen. Es wäre jedoch unzutreffend, wenn man davon ausginge, dass deshalb für sie alles unklar ist. Sie weiß sehr wohl, was zu befürworten und abzulehnen ist. Sonja ›aktiviert‹ das Verhältnis zu sich selbst, zu anderen Menschen und den Dingen und Themen der Welt reflektierend und kritisch-problematisierend. Das ist keineswegs ein Spezifikum ihrer Jugendbiographie. In allen drei lebensgeschichtlichen Erzählungen lassen sich nämlich – wie die jeweiligen Zusammenfassungen am Ende der drei Fallanalysen (siehe Kap. 5.1.4, 5.2.4 und 5.3.4) verdeutlichen – Momente eines so verstandenen kritisch-problematisierenden Umgangs mit der Frage, was wahr und was rechtens ist, kenntlich machen und vor dem Hintergrund der Konzeptionen von Petzelt, Fischer und Ruhloff als ›Bildung‹ sinnhaft erschließen. Denn sowohl Marc als auch Natalie und Sonja verfolgen ein dezidiert »kritisches Geschäft« (Kant KdU A X). Der Anlass, der sie jeweils dazu bewegt, unterscheidet sich jedoch bei ihnen. Deshalb erhalten in den drei markierten ›Bildungsgestalten‹ auch andere bildungstheoretische Topoi Geltung und Brisanz. Bei Marc stellt der Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit die treibende Kraft dar, sodass er eine »Arbeit am Ich« (Fischer 1955: 65) initiiert, die Treue zu sich selbst sucht und verteidigt. Dabei wird mittels der erarbeiteten bildungstheoretischen Topoi deutlich, auf welche Weise, vor welchem Hintergrund und mit welcher Wirkung die Herstellung einer Balance von Einzigartigkeit und Zugehörigkeit von Marc zu erreichen versucht wird. Die auf Grund starker sozialer Exklusion zunächst von ihm geplante religiöse Konversion – zu verstehen als der Versuch einer Wertsteigerung des Ich (vgl. ebd.: 76) – wird von ihm nämlich in Frage gestellt und als nicht gerechtfertigt erachtet. Das geschieht gerade auch durch die Unterstützung durch die Mutter, die ihn gewissermaßen ins

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Denken einbezieht und dieses bei ihm hervorruft. Zugunsten einer umfassenden sozialen Anerkennung durch das Lehrerkollegium und die Schülerschaft der Comenius-Schule will Marc seine Persönlichkeit dann nicht von Grund auf ändern. Das wird deutlich, wenn er sagt: »Ich empfinde das nicht als Grund einen Glauben anzunehmen nur um Akzeptanz zu finden« (1706f.). Insofern steht der Wechsel zum Protestantismus für ihn schließlich auch nicht mehr zur Disposition. Die ›Bildungsgestalt‹ von Marc ist in diesem Sinne also im Wesentlichen durch das Verlangen nach Wertsteigerung des eigenen Ich und die Infragestellung des persönlichen Fürwahrhaltens gekennzeichnet (vgl. ebd.: 76; Fischer 1982: 33). Diese stellen die zentralen bildungstheoretischen Topoi dar. Für Natalie ist dagegen ihr Wunsch nach einer ›intakten‹ Familie ausschlaggebend. Eine solche wird ihr jedoch gleichsam auf Grund des Agierens ihrer Eltern vorenthalten, weshalb sie nicht nur danach strebt, die Familienmitglieder zueinander zu führen. Sie sucht angesichts der elterlichen Strategie des Verheimlichens und Nicht-Akzeptierens auch und gerade nach ›Wahrheit‹ und Aufklärung. Demzufolge sind es – im Vergleich zu Marc – andere Aspekte, die in Natalies lebensgeschichtlicher Erzählung virulent werden, weshalb sich hier eine anders gelagerte ›Bildungsgestalt‹ hervortut. Diese ist auf die kritische Auseinandersetzung mit den familialen Orientierungen des Verschweigens, Täuschens und Verdrängens bezogen. Natalies ›Bildungsgestalt‹ demonstriert dabei geradezu die Kreativität und Beharrlichkeit des Ich, weshalb ihr Fall auch zum Einspruch gegen eine allzu harsch formulierte Prägung durch soziale Bedingungen verhilft. Sie verdeutlicht nämlich gleichsam par excellence, dass sich Individuen nicht zwangsläufig jeglichen sozialen Strukturen unterwerfen und sich von diesen in ihren Handlungsmöglichkeiten limitieren lassen. Von einer notgedrungenen sozialen ›Vererbung‹ lässt sich demnach also keineswegs sprechen. Natalies Verlangen nach ›Wahrheit‹ und Begründungen, das Befragen und selbsttätige ›Auf-die-Spur-gehen‹ wird von ihr trotz familialer Widerstände nicht aufgegeben. Sie will in ›intakten‹ Familienverhältnissen aufwachsen, die Mitglieder der Familie zueinander führen und sie gerade nicht, wie es die Eltern tun, stigmatisieren. Permanent befragt sie dabei die Handlungen ihrer Eltern, tritt in reflektierend-problematisierender Haltung zu ihnen in Opposition und klärt innerfamilial verschwiegene, bisweilen auch verdrängte Sachverhalte auf. Dabei kommt sie zu eigenständigen Einschätzungen und widersetzt sich den erzieherischen sowie sozialisatorischen Einflüssen ihrer Eltern. Würde man von ›Bildung‹ ausschließlich dann sprechen, wenn sich eine – wie immer auch geartete – Wandlung vollzieht, dann könnten diese Anstrengungen Natalies nicht als veritable ›Bildungsbemühungen‹ in den Blick geraten.

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Für Sonja wiederum liegt der Anlass – wie schon erwähnt – im Wunsch, etwas Sinnvolles und Bewegendes zu tun. Ihre Frage nach der Sinnhaftigkeit verweist dabei auf die bei Petzelt und Fischer angesprochene Normen- und Wertsuche der späten Reifezeit (vgl. Petzelt 1965: 209ff; Fischer 1966a: 137). Von Marcs und Natalies ›Bildungsgestalt‹ unterscheidet sich Sonjas dabei insofern, als bei ihr weder derart exponiert das Spannungsgefüge von Infragestellung der eigenen Person auf der einen und die Treue zu sich selbst auf der anderen Seite hervortritt, noch der Widerstand gegen die familiale Orientierung des Verschweigens und Nicht-Akzeptierens verfolgt wird. Sie widmet sich einer kritisch-prüfenden Beurteilung von Dingen und Themen der Welt. Gründe und Bedingungen von Weltverhältnissen werden von ihr reflektiert und ihre Ordnung befragt. Gerade im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Tierschutz wird das deutlich. Sonja will nämlich, dass Tiere geachtet und respektvoll behandelt werden. Sie sollen gleichsam als ›Mitgeschöpfe‹ betrachtet werden. Der Einsatz für den Tierschutz ist für sie daher ein ethisches Prinzip. Sonja versucht, diesem Einsatz auch als umfassende Aufgabe nachzukommen. Ihre Unterstützung von Organisationen weitet sie dazu aus. Auch eine Berufstätigkeit in diesem Arbeitskontext wird als erstrebenswert sowie eminent sinnhaft erachtet. Unbedingt möchte sie Änderungen im Umgang mit Tieren bewirken und Einstellungen der Menschen ändern, um so einen Beitrag zur Verbesserung der Welt zu leisten. Es geht ihr – wie sie sagt – dabei darum, »dass der Regenwald nich weiter zerstört wird dass diese Tiere dort ihren Lebensraum erhalten dürfen dass ähm diese ganzen Tierarten die vom Aussterben bedroht sind dass sie nicht weiter äh davon bedroht sind dass ähm sie sich wieder vermehren« (2917-2921). Dabei fragt sie nach den Bedingungen der Geltung und eröffnet auch Denkalternativen den Weg. Eine solche Haltung, die auf Grund ihrer reflektierend-problematisierenden Auseinandersetzung mit Lebensbezügen als ›Bildung‹ deklariert wird, zeigt sich dann etwa im Widerspruch gegen die Auffassung, die von der selbstverständlichen Nahrungsaufnahme tierischer Produkte ausgeht. Sie manifestiert sich aber auch dort, wo Sonja sich kritisch mit den Strukturen der von ihr eine Zeit lang frequentierten Gothic- und Metal-Szene auseinandersetzt und dabei erkennt, dass diese nicht nur Faszinierendes und vom Alltag Abweichendes zu bieten hat, sondern auch bedrohlich wirkt, da sie stark vereinnahmend wirken und einen Realitätsverlust nach sich ziehen kann. Indem sie diesen dialektischen Umstand bedenkt und ihre starke Involvierung in die Szene beendet, erlangt sie zugleich eine Emanzipation von Danis Vorgaben, sodass Möglichkeiten zur selbstständigen Lebensgestaltung geschaffen werden. Sonja kann selbst entscheiden, was sie macht, welche Musik sie hört, was sie anzieht und mit wem sie sich trifft.

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Die auf bildungstheoretische Topoi ausgerichtete qualitativ-empirische Analyse ist nun – wie auch schon jene, die Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse fokussiert (siehe Kap. 6.1) – unter zweierlei Perspektiven von Belang: nämlich zum einen unter jungendtheoretischen, zum anderen – und darauf liegt vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen auch der Schwerpunkt – unter bildungstheoretischen. Mit Blick auf jugendtheoretische Einsichten zeigt sich, dass Jugend gerade auch als eine pädagogische Kategorie zu verstehen ist. Jugend stellt demnach mehr als eine nur psychologisch und soziologisch bedeutsame Phase im Lebenslauf dar. Sie ist nämlich nicht nur eine Sturm-und-Drang-Zeit‹, in der es zu psychischen Umbrüchen und innerer Unausgeglichenheit kommt. Sie ist auch – wenngleich »umgeben von der Familie, von den Lehrern und Mitschülern in der Schule« (Fischer 1958a: 273) nie menschenleer und der Gesellschaft in mancherlei Weise begegnend – mehr als eine Lebensphase, die von sozialen Bedingungen abhängt und gesellschaftlich formiert wird. Eine »vollständige Entschlüsselung der zeitbedingten Eigenart junger Menschen« (ebd.: 276) ist von Jugendpsychologie und -soziologie nicht zu erwarten, was nicht heißt, dass ihre Befunde zu verwerfen sind (vgl. Fischer 1981: 335 FN 22). Sie sind vielmehr – liegt denn der Akzent auf einem pädagogischen Erkenntnisinteresse – innerhalb einer pädagogischen Theorie der Jugend zu entfalten. Im Rahmen einer umgreifenden pädagogischen Konzeption, die auf Fragen nach Sinn und Maß von ›Bildung‹ Antworten bereithält, ist dabei der Hervorruf und Einbezug der Jugend in den weitgreifenden Gedankenkreis vorgesehen, welcher besagt, »daß man als Mensch lebt und nicht daran vorbeisehen kann, daß die Welt, in die man immer schon verstrickt, einbezogen ist, nicht in der Mannigfaltigkeit ihrer erfahrbaren Erscheinungen, nicht in ihren Routinen und ihrer Ausgelegtheit durch andere saturiert ist« (Fischer 1983: 174). Pädagogisch betrachtet kommt es also insofern darauf an, Jugend als eine Phase im Lebenslauf aufzufassen, in der sich »der Frage nach dem Sinn eigener Aufgabenhaftigkeit« (ebd.: 173) zuzuwenden ist. Das in den Blick genommene Erscheinungsbild ist dann »nicht das einer soziologisch oder empirisch-psychologisch ermittelten und auch weder soziologisch noch psychologisch als richtig oder falsch nachweisbaren ›Jugend‹, sondern das einer in der Gegenwart pädagogisch postulierten« (Fischer 1982: 34). Diese jugendtheoretischen Einsichten verweisen somit auf bildungstheoretischen Perspektiven. Werden die Interpretationen nämlich im Gesamtzusammenhang dieser Arbeit betrachtet und auf die kritischen Befunde zur Programmatik der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung bezogen, dann ist hervorzuheben, dass es mit den inhaltsbezogenen Differenzierungen und gegenstandsspezifischen Topoi der Konzeptionen von Alfred Petzelt, Wolfgang Fischer und Jörg Ruhloff mög-

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lich ist, ›Bildung‹ nicht bloß als einen formalen Vorgang der Wandlung zu beschreiben. Insofern lässt sich die zweite Problemstelle der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung vor dem Hintergrund produktiv bearbeiten. Statt ›Bildung‹ im Sinne einer »Subjektivierung durch die Transformation von Lebensorientierungen« (Nohl 2006a: 11) zu verstehen und mit dem Verweis auf die von Fritz Schütze erarbeitete Prozessstruktur des Wandlungsprozesses zu realisieren, welche primär Veränderungen selbstbezüglicher Aspekte der ›Biographieträger‹ im Blick hat, wenn Identitätswandlungen nachgezeichnet, Veränderungen im Interesse aufgezeigt und Transformationen persönlicher Relevanzstrukturen deutlich gemacht werden, richtet das hier grundgelegte und in der empirischen Untersuchung zur Anwendung gebrachte Bildungsverständnis die Aufmerksamkeit auf Aspekte der reflektierend-problematisierenden Auseinandersetzung mit sich selbst, anderen und Dingen und Themen der Welt. Zu Kennzeichen einer solchen ›Bildung‹ gehören dann etwa die Geltungsprüfung von persönlichen Ansichten, die Infragestellung der generationalen erzieherischen Ordnung, die kritische Beschäftigung mit dem Sein und dem Sollen oder auch die Problematisierung von Werten und Normen in ihrer Selbstverständlichkeit.2 Wird ›Bildung‹ derart konturiert, dann lässt sich diese von Wandlungsprozessen, Veränderungen subjektiver Erlebnisse und Handlungsmöglichkeiten oder auch Transformationen von Selbst- und Weltverhältnissen unterscheiden, da sie – aus gutem Grund und sachlicher Notwendigkeit – andere Aspekte als ›bildungsbedeutsam‹ erachtet. Das stützt die Auffassung, dass nicht alles, was den Lebenslauf modelliert oder ereignishaft verbiegt, gleich als ›Bildung‹ interpretiert werden kann und sollte (vgl. Ruhloff 1996a: 153). Und es trägt der Einschätzung Rechnung, dass biographische Wandlungsprozesse vielfach auch dort stattfinden, wo es mit der ›Bildung‹ nicht weit her ist (vgl. Stojanov 2006b: 76).3 Dass

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Diese Stoßrichtung von ›Bildung‹ wird auch in anderen bildungstheoretischen Zusammenhängen hervorgehoben. So etwa von Alfred Schäfer (2005: 160), nach dem von ›Bildung‹ dann zu sprechen ist, wenn »das Individuum bereit ist, seine Sicht auf die Dinge und damit sich selbst infrage zu stellen«. Damit geht dann auch die Forderung einher, dass Subjekte ihre Erfahrungen weder vorschnell der eigenen, für selbstverständlich gehaltenen Sicht auf sich selbst, auf andere und auf die Welt unterzuordnen noch sie einer objektiviert-standardisierten Deutung zu unterwerfen haben (vgl. ebd.). Folgerichtig ist der Glaube daran, alles verstanden und im Griff zu haben ebenso ›bildungshemmend‹ wie die Weigerung, sich irritieren zu lassen (vgl. ebd.: 158).

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So weist Stojanov darauf hin, dass die Abkehr von linksextremistischen und die Hinwendung zu rechtsextremistischen Organisationen auch als ein biographischer Wandlungsprozess zu verstehen ist. Als ›Bildung‹ allerdings kann eine solche Wandlung

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es also Sinn macht, an einen Vorgang, den man mit dem Etikett ›Bildung‹ in Zusammenhang bringen möchte, mehr bzw. anderes zu erwarten als die »Wandlung der Selbstidentität« (Schütze 1981: 103) und die »Umschichtung der lebensgeschichtlich-gegenwärtig dominanten Ordnungsstruktur des Lebenslaufs« (ebd.), zeigt sich gerade auch dann, wenn berücksichtigt wird, dass die Verantwortlichkeit des Einzelnen gegenüber dem »Menschentum« (Petzelt 1965: 262 und 1997: 24) und die »Idee der Menschlichkeit« (Ruhloff 2000: 119) als ›bildungsbedeutsame‹ Bezugspunkte nicht eskamotiert werden können. Die »privat-partikularistischen« (Stojanov 2006b: 80) Wandlungsprozesse lassen aber genau diese ›bildungsbedeutsamen‹ Bezugspunkte vermissen. Vor dem Hintergrund der hier herausgestellten inhaltlichen Kategorien und Differenzierungen gewinnt eine an bildungstheoretischen Frage- und Problemstellungen interessierte Biographieforschung demzufolge deutlich an Begriffsschärfe und kann das Spektrum an Einsichten zur Gestalt von ›Bildung‹ in Biographischem erweitern, weil und insofern nicht notgedrungen Wandlungsprozesse, sondern auch Neuentdeckungen, Weiterentwicklungen oder auch Tilgungen eines zuvor ›Fürwahrgehaltenen‹ oder unproblematisch Empfundenen berücksichtigt werden. Durch die bildungstheoretische Einbettung in die Konzeptionen von Alfred Petzelt, Wolfgang Fischer und Jörg Ruhloff werden so bildungstheoretisch interessierte Biographieanalysen möglich, die betrachten, wie die Lebensvollzüge der befragten Personen von diesen reflexiv auf ihre Gründe, fragwürdigen Bedingungen und Änderungsmöglichkeiten hin in Augenschein genommen werden (vgl. Fuchs 2010b: 184). Auch erfolgt mit der Vergewisserung und Schärfung der bildungstheoretischen Grundlagen eine für notwendig erachtete Klärung des Beitrags der so gearteten Biographieforschung im Gesamtzusammenhang erziehungswissenschaftlicher An- und Einsätze (vgl. Wigger 2004: 490). Aufgabe und Leistung einer auf Bildungstheorien rekurrierenden Biographieforschung lassen sich damit folglich präzisieren. Eine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung übernimmt als ein empirisch-erziehungswissenschaftlicher Forschungsansatz die Beobachtung und theoretische Erklärung der Wirklichkeit von ›Bildung‹ (vgl. Vogel 1997b: 422). Insofern leistet sie einen Beitrag zur Beantwortung der Frage, wie ›Bildung‹ möglich ist – und zwar auf einem hohen Theorieanspruch und niedrigem Generalisierungsniveau (vgl. ebd.). Die von ihr über die Analyse lebensgeschichtlicher Erzählungen oder auch anderer Dokumente hervorgebrachten Einsichten

auf Grund ihrer ideologischen Verankerung im eigentlichen Sinne nicht bezeichnet werden; sie müsste es allerdings, wenn man Bildungsprozesse ohne Differenzierungen mit Wandlungsprozessen gleichsetzt (vgl. Stojanov 2006b: 76f.).

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gelten nicht für alle Menschen und alle Zeiten. Es sind Ausschnitts- und Momentaufnahmen. Deshalb sollte man von einer auf Bildungstheorien rekurrierenden Biographieforschung sinnvollerweise auch nicht die »Generalisierbarkeit ihrer Ergebnisse« (Wigger 2004: 486) und die Erfassung von Gesetzen und Strukturen der Welt verlangen. Weder ist sie auf Grund ihres Zuschnitts dafür prädestiniert, allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. Noch kann sie – gemäß der Einsicht, dass sich über die Welt ›an sich‹ nichts wissen und sagen lässt – ins ›Reich der Ideen‹ vordringen. Verlangt man dieses oder jenes, dann ist man an anderen Stellen besser bedient. Dass aber der Frage nach Sinn und Maß von ›Bildung‹ nicht nur eine theoretisch-normative Fundierung, sondern auch eine konkrete Anschauung im Biographischen verschafft wird, das ist das Charakteristische einer auf genuin bildungstheoretischen Fundamenten aufbauenden Biographieforschung. So werden die in Erzählungen geschilderten Auseinandersetzungen von Menschen mit Lebensvoll- und -bezügen deutlich und vor dem Hintergrund der Frage diskutiert, inwiefern sie sich dabei selbstständig im Denken zu orientieren und »eine generelle skeptische und kritische Haltung« (Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger 2006: 124) an den Tag zu legen versuchen. Wenn – wie Winfried Marotzki (2006c: 61) formuliert – Bildungstheorie »eine konsequente Wende von der intentio recta zur intentio obliqua« vollzieht, dann macht eine mit bildungstheoretischen Kategorien arbeitende Biographieforschung also auf die individuelle Art und Weise des ›schrägen Gerichtetseins‹ in biographischen Zusammenhängen aufmerksam und kann ›Bildungsgestalten‹ als »Koordinatensystem für die existenzielle Verankerung des Menschen« (Marotzki 1997: 85) empirisch kenntlich machen. Dabei aber sogleich davon auszugehen, eine Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung zu realisieren, wäre indes ein bisschen hoch gegriffen und müsste als zu hehrer Anspruch aufgefasst werden.

Ausblick: Bildungstheorie, Bildungsforschung und die Programmatik der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung – neue Perspektiven und alte Probleme

Dass eine auf bildungstheoretischen Fundamenten aufbauende Biographieforschung interessante Einsichten in Lebensverläufe bzw. -geschichten liefern und sie mit der Frage nach der ›Bildung‹ des Subjekts in Verbindung bringen kann, ist eine Auffassung, die im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit wohl eher bestärkt denn gemindert werden dürfte; und zwar deshalb, weil hier nicht nur mittels intensiver empirischer Rekonstruktionen versucht wird, verschiedene ›Bildungsgestalten‹ kenntlich zu machen, sondern auch deshalb, weil an entscheidenden Stellen eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung vorgenommen und so das Profil dieses Forschungsansatzes geschärft und weiterentwickelt wird. Zum einen wird mit der Berücksichtigung der »Reflexionsebenen von Gegenständlichkeit, Sozialität und Subjektivität« (Poenitsch 2004b: 120) in lebensgeschichtlichen Erzählungen ein erweitertes Spektrum von Bezügen der ›Bildung‹ berücksichtigt und damit über die ausschließliche Erfassung von Selbstverhältnissen hinausgegangen. Auf diese Weise lässt sich die ›Bildungsbedeutsamkeit‹ von Selbst-, Fremd- und Weltverhältnissen herausstellen. Zum anderen wird durch den Rekurs auf die prinzipienwissenschaftlichen bzw. transzendentalkritischen Konzeptionen von Alfred Petzelt, Wolfgang Fischer und Jörg Ruhloff über das Kriterium der Wandlung zur Spezifizierung von ›Bildung‹ hinaus ein inhaltsbezogenes Fundament geschaffen, welches das Fragen, Zweifeln und Problematisieren in lebensgeschichtlichen Horizonten fokussiert. Damit erfolgt eine Einbeziehung bildungstheoretischer Topoi, die – gemäß der Devise »Wer ›Bildung‹ sagt, ist zur Begriffsauslegung genötigt« (Miller-Kipp 2004: 379) – notwendig ist, um überhaupt tragfähige Perspektiven zu gewinnen, mit denen ›Bildung‹ im Kontext lebensgeschichtlicher

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Erzählungen erfasst und empirisch beschrieben werden kann. Insofern lässt sich sagen, dass eine derart bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung es nicht bei der Beantwortung der Frage belässt, was ›Bildung‹ sein soll, sondern darüber hinausgeht und den Sachverhalt beleuchtet, wie ›Bildung‹ eigentlich möglich ist (vgl. Wigger 2009; Fuchs 2010a und 2010b). Bezieht man die Ergebnisse der qualitativ-empirischen Untersuchung dabei nun auf die gleichsam den Stein überhaupt ins Rollen bringende These, dass eine Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung notwendig ist und sie im ›Design‹ einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung bewerkstelligt werden kann, dann lässt sich allerdings keine – im eigentlichen Sinne – positive Bilanz ziehen. Es tun sich vielmehr Zweifel an der Angemessenheit der Interpretation und vorgetragenen Lösungsstrategie auf. Es sind zwei ›Bewandtnisse‹, die dabei zu einer unmissverständlichen Zurückhaltung gegenüber der lautstark geforderten Notwendigkeit der Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung führen und die allzu selbstbewusst vorgetragene Realisierung im Kontext der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung skeptisch sehen. Mit der Hervorhebung der ersten ›Bewandtnis‹ werden entscheidende Unterschiede einer präskriptiv-normativen und empirisch-deskriptiven Markierung von ›Bildung‹ in Anschlag gebracht und somit an einige in Kap. 1 herausgestellte Befunde erinnert, indem diese gleichsam rekapituliert und zugespitzt werden. Die Betonung der anderen ›Bewandtnis‹ knüpft hieran an, verweist dann aber auf die Problematik einer rigiden Integration von Forschungszugängen und Methodologien, bei der produktive Zusammenhänge verkannt und notwendige Differenzen getilgt werden. Es stellt sich – so die erste ›Bewandtnis‹ betonend – durchaus die Frage, ob Bildungstheorie und Bildungsforschung angesichts ihrer verschiedenen Arbeitsund Argumentationsweisen überhaupt vermittelbar sind – also ob grundsätzlich die Herbeiführung einer Synthese differenter pädagogischer Zugriffe und Methodologien besteht. Denn es zeigt sich – auch und gerade im Kontext der hier zur Umsetzung gebrachten Untersuchung –, dass mit der Sachstruktur empirischer Forschung die Stilllegung der Arbeit an den sie leitenden Kategorien und Begriffen einhergeht. Um empirisch forschen zu können, wird ein Repertoire an Kategorien benötigt, das nicht weiter bearbeitet, Fragen ausgesetzt, verworfen, neu konstituiert usw. werden kann. Empirische Forschung erfordert die Befreiung von der Problematik der richtigen Begriffe (vgl. Schäfer 1990: 70). Eine eigentliche ›Arbeit am Begriff‹ als dasjenige, was bildungstheoretisches Denken auszeichnet und stark macht, kann dabei selbstverständlich nicht erfolgen:

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»Eine empirisch orientierte Wissenschaft ist nicht in der Lage, die reflexiv erfolgten Qualifizierungen eines Gegenstandsbereiches […] zu bestätigen oder zu falsifizieren. Als nach methodischen Standards geregelte Form der Erfahrung, die die Möglichkeit intersubjektiver Überprüfung gewährleisten soll, vermag sie zwar, auf diese Regeln hin ausgerichtete Hypothesen zu überprüfen und vielleicht vorläufig zu bestätigen, nicht aber die in der Hypothese verwendete Begrifflichkeit.« (Ebd.)

Eben weil die Begründung und Rechtfertigung der Idee der ›Bildung‹ demnach im Moment des Forschens außer Blick gerät und keine Berücksichtigung finden kann, werden bildungstheoretische Bestimmungen nötig. So zeigt sich dann gerade auch die Unerlässlichkeit einer bildungstheoretischer ›Forschungsaktivität‹: »Die allgemeine Aufgabe und die spezielle Leistung des bildungstheoretischen Diskurses ist es demnach zumindest, den Begründungs- und Rechtfertigungsfragen […] – erstens – überhaupt einen Platz in der Pädagogik zu verschaffen, an dem sie systematisch und nicht bloß notfallversorgend verhandelt werden, und – zweitens – solche Erörterungen gegenüber fundamentalistischen Rechtsursupationen in wissenschaftsförmiger Offenheit beziehungsweise auf dem Niveau von Skepsis zu halten.« (Ruhloff 1993d: 177f.)

Bildungsforschung hingegen hat eine andere Aufgabe. Ihr Beitrag liegt in der Bearbeitung der »empirisch nachweisbaren opportunities und den effects and side effects institutionalisierter (und auch informeller) Bildungs- und Erziehungsprozesse« (Schneider 2006: 27; Herv. i.O.). Man tut gut daran, keine der beiden Aufgaben als höherwertig zu erachten; ebenso sollte man – das ergibt sich daraus – auch keiner mit geringerer Beachtung begegnen, so hat es bereits Dietrich Benner (1973 und 1987) hervorgehoben. Wiegt man die eine Aufgabe mit der anderen auf und kommt so zu Einschätzungen, die entweder der Bildungstheorie oder der Bildungsforschung einen Primat zusprechen, dann verkennt man, dass auf diese Weise »sachlogisch inkompatible Gebrauchsregeln« (Ruhloff 1998: 419) zusammengebracht werden. Berücksichtigt man allerdings, dass von unterschiedlichen Bezugssystemen, etwa verschiedenen epistemologischen und methodischen Orientierungen, ausgegangen wird, dann kann nur die Zurückweisung des Vermittlungsanspruches erfolgen. Denn – das sei in Erinnerung an die in Kap. 1.1 vorgetragenen Ausführungen angemerkt – die Bildungstheorie »betrachtet die Personwerdung unter dem Gesichtspunkt der Eigenaktivität des sich Bildenden« (Schäfer 2005: 153). Ihr Fokus liegt dabei auf der Reflexion des Menschen hinsichtlich seiner, auf die Möglichkeit hin gedachten Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse. Deshalb geht es hier um die Angabe von Bedingungen, die einen Bildungsprozess möglich machen sollen (vgl. ebd.: 154).

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Im bildungstheoretischen Diskurs wird ›Bildung‹ also als Möglichkeitskategorie gedacht, sodass »Bildungstheorien eher als Möglichkeitstheorien für Selbstbildung zu verstehen« (ebd.: 155; Herv. i.O.) sind. Der Bildungsforschung hingegen geht es nicht um einen solchen möglichen Bezug, sondern um die Realität von Bildungsprozessen; sie fragt »danach, wie die realen Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse sich erheben und auf welche Bedingungen sie sich zurückführen lassen« (Schäfer 2006a: 86; Herv. i.O.). Dementsprechend ist es Anliegen und Anspruch der Bildungsforschung »nicht nur die Realität gegebener Bildungsqualitäten angeben zu können, sondern auch noch deren Ursachen« (ebd.) und Prägekraft. Auf diese Weise zeigen sich zwei unterschiedliche Zugriffsweisen auf ›Bildung‹. Während der bildungstheoretische Diskurs die kategoriale Reflexion des Bildungsbegriffs betont und hierbei auch Raum für die begriffliche Unbestimmtheit belässt, interessiert sich die Bildungsforschung für die fortwährende Präzisierung der empirischen Bestimmbarkeit von ›Bildung‹. Es ist angesichts dieser sowie der zuvor vorgenommenen Skizzierung elementarer Unterschiede deshalb recht fragwürdig, ob legitimer- bzw. sinnvollerweise von einer ›Vermittlung‹ zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung gesprochen werden kann. Dieses Votum dürfte schließlich untermauert werden, wenn – und hier kommt die zweite ›Bewandtnis‹ zum Tragen – vergegenwärtigt wird, dass ein erziehungswissenschaftlicher ›Passepartout-Ansatz‹, der über ein Potpourri verschiedener Methodologien und theoretischer Zugänge verfügt, hinsichtlich der Problembearbeitung erziehungswissenschaftlicher Frage- und Problemstellungen keineswegs als angemessen gelten kann. Er würde sie vielmehr ad absurdum führen. Insofern lässt sich die Bestrebung einer Vermittlung von Bildungstheorie und Bildungsforschung durchaus auch als Ausdruck eines Syndroms verstehen, das »sich nicht in der Vielfalt des Wissens einrichtet oder die Themen als offene Forschungsaufgabe auffasst, sondern zu integrieren sucht, was so disparat existiert« (Tenorth 2004: 381). Die Produktivität dieser Disparität tritt so jedoch gar nicht erst in den Blick. Womöglich muss deshalb – wie von Peter Vogel (1991: 27) vorgeschlagen – »die Erziehungswissenschaft ihre Forderung nach einer sowohl einheitlichen wie allgemeingültigen Methodologie, […] abschreiben, um realistisch weiterarbeiten zu können«. Es ist schließlich gerade Sinn und Zweck der unterschiedlichen Methodologien und Zugänge, dass sie aus differenten Perspektiven und mit verschiedenen Blickweisen die Forschungsgegenstände betrachten und zu spezifischen Bearbeitungsweisen gelangen. Genauso wie es wissenschaftliche Experten auf dem Gebiet der empirisch-erziehungswissenschaftlichen Forschung benötigt, die eine als pädagogisch ausgewiesene Wirklichkeit beschreiben und erklären, so bedarf es dann neben Experten, die das Problem der

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Grundlagen pädagogischen Handelns bearbeiten und ›handlungsorientierende‹ Maximen für die pädagogische Praxis formulieren auch solche, die im Festhalten des obliquen Blicks auf die Voraussetzungshaftigkeit von allem, was pädagogisch konzipiert und in die Tat umzusetzen versucht wird, aufmerksam machen und auf diese Weise verhindern, dass metaphysische Grundlegungsfragen sich dogmatisch verfestigen – schließlich kommt die »Bedingtheit […] überhaupt erst mit der Legitimationsfrage als Problem in den obliquen Blick« (Ruhloff 1993d: 177). Es ergibt sich für die wissenschaftliche Pädagogik daher also nicht grundlos, sondern auch sachlicher Notwendigkeit ein »schiedsrichterloses Gegenspiel zwischen erziehungswissenschaftlichen Forschungen und bildungstheoretischen Maßgeblichkeitserwägungen« (Ruhloff 1993b: 93). Dies wird übrigens auch in einem historischen Abriss à la longue deutlich, wonach die pädagogische Aufgabe einen unauflöslichen Widerstreit einschließt, »der das Gelingen aller Versuche, eine homogene pädagogische Theorie oder Wissenschaft aufzubauen, ebenso vereitelt wie eine homogene Erziehungs- und Bildungspraxis« (ebd.: 82). Wird vor dem Hintergrund dieser Einsicht der Diskurs über die Möglichkeiten, Bedingungen und Folgen von Bildungsprozessen sowie die Leistungskraft und Grenzen des Bildungsbegriffs betrachtet, dann spricht dies – wie es Jutta Ecarius (2009b: 247) formuliert – für die Etablierung und Aufrechterhaltung kontroverser Diskussionen: »Wenn Bildung als eine Auseinandersetzung mit Selbst- [, Fremd-; T.F.] und Weltverhältnissen – im Plural – zu verstehen ist […], dann bedarf es auch kontroverser Diskussionen über verschiedene erziehungswissenschaftliche Zugangsweisen auf Bildung vor dem Hintergrund pluraler Lebenswelten in historischen Kontexten.« In diesem Sinne sind Bildungstheorie und Bildungsforschung dann durch eine Nichtauflösbarkeit ihres Spannungsverhältnisses gekennzeichnet. Denn pädagogische Gegenstandsentwürfe – wie etwa Bildungstheorien – sind durch empirisch-erziehungswissenschaftliche Forschungen nicht hervorzubringen. Empirische Befunde wiederum können durch Theorien nicht vorweggenommen werden. Deshalb sollte es nicht zu einer Immunisierung der Pädagogik gegenüber bildungstheoretischen Grundlagen kommen; es sollte auch nicht zur Verurteilung empirisch-erziehungswissenschaftlicher Forschungen veranlassen (vgl. Schäfer 1990: 77). Durch dieses, in den beiden skeptischen Anmerkungen insgesamt zum Ausdruck gebrachte ›Resultat‹ ist also auch die Möglichkeit und Rechtmäßigkeit einer in bildungstheoretischen Kategorien arbeitenden Biographieforschung auf keinen Fall ausgeschlossen. Zur Beleuchtung der Frage, wie ›Bildung‹ möglich ist und real werden kann, erscheint sie vollkommen berechtigt; auch und gerade deshalb, weil so ein Bereich geschaffen wird, wo es der Bildungstheorie gelingt,

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von den tatsächlichen Bildungsprozessen Notiz zu nehmen und sich mit diesen auseinanderzusetzen (vgl. Gruschka 1992). Über die philosophische (Re-)Konstruktion des Bildungsbegriffs hinaus ist Bildungstheorie dann auf Bildungsforschung – im Sinne der empirischen Untersuchung von Verlaufsformen und Bedingungen tatsächlicher Bildungsprozesse – angewiesen, wenn sie in Erfahrung bringen will, wie Prozesse, die den Namen ›Bildung‹ verdienen, zu ›Tatsachen‹ werden können (vgl. Koller 2009b: 45). Geboten dürfte jedoch bei jedem dieser und ähnlicher Antwortversuche eine Selbstbeschränkung des eigenen Anspruchs sowie ein Misstrauen gegenüber den eigenen Fundamentalüberzeugungen sein, damit diese nicht »zu einem sich selbst- und andere täuschenden Zwang werden« (Fischer 1989d: 95). Derart skeptische ›Anflüge‹ sollten dabei nicht als störend und eigentlich vermeidbar empfunden werden. Sie sind vielmehr – wie skeptisches Denken in der Pädagogik überhaupt – nicht zu entbehren (vgl. Fischer 1989b).

Literaturverzeichnis

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— (1989d): »Die transzendentalkritische Pädagogik«, in: Ders., Unterwegs zu einer skeptisch-transzendentalkritischen Pädagogik, S. 85-95. — (1989e): »Über Recht und Grenzen des Gebrauchs von ›Bildung‹«, in: Ders. Unterwegs zu einer skeptisch-transzendentalkritischen Pädagogik, S. 117130. — (1989f): »Philosophieren als Unterrichtsprinzip«, in: Ders., Unterwegs zu einer skeptisch-transzendentalkritischen Pädagogik, S. 189-209. — (1989g): »Collage aus splitterhaften Materialien nebst einigen kurzen Kommentaren zum Einsatz und Konzept der Postmoderne«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 65, S. 403-414. — (1993): »Über den Mangel an Skepsis in der Pädagogik«, in: Ders./Ruhloff, Skepsis und Widerstreit, S. 11-28. — (1996): »Pädagogik und Skepsis. Bemerkungen zum skeptisch-transzendentalkritischen Einsatz in der Pädagogik«, in: Borrelli/Ruhloff, Deutsche Gegenwartspädagogik, S. 16-27. — (1998): »Über Sokrates und die Anfänge des pädagogischen Denkens«, in: Ders./Dieter-Jürgen Löwisch (Hg.): Philosophen als Pädagogen. Wichtige Entwürfe klassischer Denker. 2., ergänzte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 1-25. —/Ruhloff, Jörg (1993): Skepsis und Widerstreit. Neue Beiträge zur skeptischtranszendentalkritischen Pädagogik, Sankt Augustin: Academia-Verlag Richarz. Flammer, August (2010): »Psychologische Entwicklungstheorien«, in: Krüger/ Grunert, Handbuch Kindheits- und Jugendforschung, S. 43-64. Fleck, Ludwik (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Friebertshäuser, Barbara/Prengel, Annedore (Hg.) (1997): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, Weinheim/München: Juventa. Friedrich, Dagmar (1972): »Ansätze zur Planung der Bildungsforschung. Gegenwärtige Bedingungen und Trends der Entwicklung der Bildungsforschung in der BRD«, in: Dietrich Hoffmann/Hans Tütken (Hg.): Realistische Erziehungswissenschaft. Beiträge zu einer Konzeption. Heinrich Roth zum 65. Geburtstag, Hannover: Schroedel, S. 139-168. Fuchs, Thorsten (2006): »Rezension von: Nohl, Arnd-Michael: Bildung und Spontaneität. Phasen biographischer Wandlungsprozesse in drei Lebensaltern – Empirische Rekonstruktionen und pragmatistische Reflexionen, Opladen:

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430 | B ILDUNG UND BIOGRAPHIE

Vogel, Peter (1990): Kausalität und Freiheit in der Pädagogik. Studien im Anschluß an die Freiheitsantinomie bei Kant, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang. — (1986): »Zum Zusammenhang pädagogischer Wissensformen«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 62,, S. 472-486. — (1989): »Die neukantianische Pädagogik und die Erfahrungswissenschaften vom Menschen«, in: Jürgen Oelkers/Wolfgang K. Schulz/Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Neukantianismus, Kulturtheorie, Pädagogik und Philosophie, Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 127-164. — (1991): »Von Umfang und Grenzen der Lernfähigkeit empirisch-analytischer und systematischer Pädagogik im Streit miteinander«, in: Hoffmann, Bilanz der Paradigmendiskussion in der Erziehungswissenschaft, S. 17-30. — (1994): »Pädagogik, Skepsis, Erziehungswissenschaft. Versuch einer Ortsbestimmung«, in: Fischer, Colloquium paedagogicum, S. 203-221. — (1997a): »Von der philosophischen Pädagogik zur philosophischen Reflexion innerhalb der Erziehungswissenschaft«, in: Bärbel Frischmann/Georg Mohr (Hg.): Erziehungswissenschaft – Bildung – Philosophie, Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 61-70. — (1997b): »Vorschlag für ein Modell erziehungswissenschaftlicher Wissensformen«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 73, 415-427. — (1998): »Stichwort: Allgemeine Pädagogik«, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 1, S. 157-180. — (2000): »Die Pädagogik des problematisierenden Vernunftgebrauchs. Versuch einer Ortsbestimmung«, in: Karl Helmer et al., Spielräume der Vernunft, S. 368-378. — (2003): »Transzendentale Analyse«, in: Meder, Zwischen Gleichgültigkeit und Gewissheit, S. 71-79. Weber, Erich (1994): »Biographische Orientierung der Pädagogik: Erziehung und Bildung im Lebenslauf«, in: Seibert/Serve, Bildung und Erziehung an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, S. 364-403. Welsch, Wolfgang (1987): Unsere postmoderne Moderne, Weinheim: VCH, Acta humaniora. Westermann, Henrik (2005): Prinzip und Skepsis als Grundbegriffe der Pädagogik, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang. Wiesner, Gisela/Zeuner, Christine/Forneck, Hermann J. (Hg.) (2007): Empirische Forschung und Theoriebildung in der Erwachsenenbildung. Dokumentation der Jahrestagung der Sektion Erwachsenenbildung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vom 21. bis 23. September 2006, Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren.

L ITERATURVERZEICHNIS

| 431

Wigger, Lothar (2009): Wie ist Bildung möglich?, Bad Heilbrunn: Klinkhardt. — (1996): »Die aktuelle Kontroverse um die Allgemeine Pädagogik. Eine Auseinandersetzung mit ihren Kritikern«, in: Zeitschrift für Pädagogik 42, S. 915-931. — (2002): »Neue Herausforderungen und neue Perspektiven der Allgemeinen Pädagogik«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 78, S. 261-266. — (2003): »Pädagogische Entscheidungen, Begründungen und Skepsis«, in: Meder, Zwischen Gleichgültigkeit und Gewissheit, S. 33-43. — (2004): »Bildungstheorie und Bildungsforschung in der Gegenwart. Versuch einer Lagebeschreibung«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 80, S. 478-493. — (2006): »Bildung und Habitus. Einige Überlegungen zum Zusammenhang von Habitusformationen und Bildungsprozessen«, in: Barbara Friebertshäuser/Markus Rieger-Ladich/Ders. (Hg.): Reflexive Erziehungswissenschaft. Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 101-118. — (2007): »Bildung und Habitus? Zur bildungstheoretischen und habitustheoretischen Deutung von biografischen Interviews«, in: Hans-Rüdiger Müller/ Wassilios Stravoravdis (Hg.): Bildung im Horizont der Wissensgesellschaft, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 171-192. Winkler, Michael (2002): Klaus Mollenhauer. Ein pädagogisches Porträt, Weinheim/Basel: Beltz. Winterhager-Schmid, Luise (1997): »Jugendtagebuchforschung«, in: Friebertshäuser/Prengel, Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, S. 354-370. Wittgenstein, Ludwig (1984): Werkausgabe in acht Bänden, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Wolf, Hartmut K. (1985): Bildung und Biographie. Der Zweite Bildungsweg in der Perspektive des Bildungslebenslaufs, Weinheim/Basel: Beltz. Zedler, Peter (1982): »Erziehungswissenschaftliche Theoriebildung am Beginn der 80er Jahre – Problemstruktur und Perspektiven«, in: König/Ders., Erziehungswissenschaftliche Forschung, S. 266-289. — (2002): »Erziehungswissenschaftliche Bildungsforschung«, in: Tippelt, Handbuch Bildungsforschung, S. 21-39. Ziehe, Thomas (2007): »Eingebundenheit und Stabilität – Zum Wandel jugendlicher Sehnsüchte«, in: Bildung und Erziehung 60, S. 389-393.

Namenverzeichnis    —A— Adorno, Theodor W. | 21, 85, 97, 119f., 136, 140 Alheit, Peter | 111, 152 Apitzsch, Ursula | 201 Appelsmeyer, Heide | 21 Aristoteles | 92 Arndt, Andreas | 183 —B— Baacke, Dieter | 19, 80 Baeumer, Max L. | 206 Ballauff, Theodor | 16, 62, 152, 210, 249, 379 Bateson, Gregory | 21, 95f., 107f., 113, 155 Baumert, Jürgen | 15, 53 Beck, Klaus | 32 Becker, Hellmut | 43ff. Bellmann, Johannes | 18 Benner, Dietrich | 18, 31, 40, 47, 52f., 55, 59, 63f., 66ff., 77, 119, 153, 210, 216, 219, 228 Berg, Alena | 10 Blankertz, Herwig | 14, 17, 48, 61, 210 Blömer, Ursula | 18, 20, 78, 160, 195

Bohnsack, Ralf | 98, 160, 168 Bollmann, Ulrike | 219 Bönold, Fritjof | 151, 154, 156 Bornscheuer, Lothar | 206 Borsche, Tilman | 119 Borst, Eva | 210 Bourdieu, Pierre | 24 Brandt-Herrmann, Gila | 22, 170 Breinbauer, Ines M. | 62 Brezinka, Wolfgang | 49 Brüdigam, Ulf | 22 Brüggen, Friedhelm | 210 Brüsemeister, Thomas | 267 Büchner, Peter | 185 Butler, Judith | 143 Büttemeyer, Wilhelm | 49 —C— Chomsky, Noam | 80 Corbin, Juliet | 267 Criblez, Lucien | 47 —D— Dangl, Oskar | 211, 216, 218f., 228 Dausien, Bettina | 145 Deleuze, Gilles | 72 Demmrich, Anke | 53

434 | B ILDUNG UND BIOGRAPHIE

Derbolav, Josef | 153 Derrida, Jacques | 72 Dewey, John | 39, 159f., 163, 167, 170, 175, 177f. Dilthey, Wilhelm | 233 Dorn, Karola | 10 Dörpinghaus, Andreas | 33, 178, 183, 206, 210, 392 Dzierzbicka, Agnieszka | 59 —E— Ecarius, Jutta | 9, 20, 96, 185, 198, 213, 397 Egger, Rudolf | 22 Ehrenspeck, Yvonne | 14, 16, 18, 71f., 210 Engelhardt, Michael von | 199f., 202, 204 —F— Felden, Heide von | 21f., 26, 86f., 93, 96, 128, 135, 138ff., 148ff., 158f., 170ff., 181, 186, 191 Fend, Helmut | 14, 53 Fichte, Johann G. | 183 Filipp, Sigrun-Heide | 203 Fischer, Aloys | 51 Fischer, Wolfgang | 9, 27f., 34, 36, 48, 52, 61f., 74, 87ff., 113, 194, 211f., 214ff., 229ff., 253, 256f., 259f., 262ff., 266f., 278, 280, 283, 289f., 295, 300, 306ff., 324, 336, 345, 347, 352, 355ff., 367, 369, 372f., 380f., 384ff., 391, 393, 398 Flammer, August | 212 Fleck, Ludwik | 36 Forneck, Hermann J. | 18 Foucault, Michel | 72

Franke, Katja | 10 Freud, Sigmund | 80 Friedrich, Dagmar | 43 Fuchs, Thorsten | 10, 18, 20, 22, 171, 185, 216, 391, 394 Fuchs-Heinritz, Werner | 273, 275 Funke, Gerhard | 137 —G— Garz, Detlef | 18, 20, 78, 160, 195 Geulen, Dieter | 212 Glaser, Edith | 140 Göstemeyer, Karl-Franz | 67 Große, Stefanie | 22, 151, 154 Grotlüschen, Anke | 171 Gründer, Karlfried | 25 Grunert, Cathleen | 212 Gruschka, Andreas | 12, 15, 18, 55, 278, 398 Günther, Gotthard | 101, 107, 113 Gutjahr, Elisabeth | 47 —H— Habermas, Jürgen | 73 Hager, Frithjof | 45 Halfwassen, Jens | 242 Hansmann, Otto | 14, 16, 50, 75, 210 Hehlmann, Wilhelm | 43 Heid, Helmut | 18, 50ff., 56 Heinze, Thomas | 79ff. Heitger, Marian | 62, 76, 216 Heitmeyer, Wilhelm | 213 Helmer, Karl | 59, 89, 206 Helsper, Werner | 77, 222 Henningsen, Jürgen | 19 Hentig, Hartmut von | 73 Henz, Hubert | 262 Herzberg, Heidrun | 22

N AMENVERZEICHNIS

| 435

Heydorn, Heinz-Joachim | 76 Hoerning, Erika M. | 106 Hoffmann, Dietrich | 39, 49f., 52, 74, 76, 379 Hoffmann-Riem, Christa | 81 Honneth, Axel | 112 Horkheimer, Max | 121f., 140 Hornstein, Herbert | 32 Hörster, Reinhard | 210 Humboldt, Wilhelm von | 21, 24, 85, 118ff., 123, 129, 136 Hurrelmann, Klaus | 27 Huschke-Rhein, Rolf | 62 Husserl, Edmund | 75, 78

Koller, Hans-Christoph | 12, 16, 20f., 24, 26, 32, 74, 86f., 93, 98, 108, 114ff., 140, 151f., 155, 158f., 170ff., 181, 186, 191, 201, 266, 276, 398 König, Eckard | 79 Kopp, Johannes | 267 Krah, Karin | 185 Kraul, Margret | 145 Krüger, Heinz-Hermann | 19, 58, 77, 97, 212 Kues, Nikolaus von | 25 Kunze, Axel B. | 18 Küsters, Ivonne | 98, 273

—I— Ingenkamp, Karlheinz | 12, 42, 46, 48, 51

—L— Lakatos, Imre | 36 Lay, Wilhelm A. | 51 Leibniz, Gottfried W. | 153 Lemberg, Eugen | 37, 40 Lenzen, Dieter | 16, 63 Lerch, Christophe | 10 Levi, Giovanni | 231 Liebau, Eckart | 60 Litt, Theodor | 46 Loch, Werner | 19 Loeber, Heinz-Dieter | 18 Löwisch, Dieter-Jürgen | 89, 91 Lüders, Jenny | 22 Lünnemann, Ole | 18 Lyotard, Jean-François | 21, 72, 85, 115ff., 128ff., 140, 157

—J— Jehn, Peter | 206 —K— Kant, Immanuel | 109, 111, 194, 218f., 242, 250, 386 Kauder, Peter | 211, 218ff., 228 Kell, Adolf | 32 Kelle, Udo | 110, 267 Kellner, Thomas | 18 Kilb, Barbara | 22 Klafki, Wolfgang | 72, 94 Klika, Dorle | 140, 379 Kluge, Susann | 110 Klusemann, Hans-Werner | 80 Köbel, Nils | 10 Koch, Lutz | 17 Kochinka, Alexander | 126, 128ff. Kokemohr, Rainer | 81ff., 100, 102, 113, 125, 188, 201

—M— Mannheim, Karl | 166ff., 176, 213 Marotzki, Winfried | 16ff., 24, 26, 58, 71, 75, 78, 81ff., 93ff., 103ff., 112f., 125, 145f., 151ff., 158, 160, 163, 170, 172f., 180f.,

436 | B ILDUNG UND BIOGRAPHIE

186, 188, 191, 198, 210, 255, 378, 392 Marquard, Odo | 74 Masschelein, Jan | 16, 88 Mead, George H. | 80, 166f., 170, 178, 213 Meder, Norbert | 73f. Menz, Margarete | 22 Menze, Clemens | 38, 210 Merkens, Hans | 18 Messerschmidt, Astrid | 22, 151, 154 Meyer-Drawe, Käte | 249 Mierendorf, Johanna | 212 Miller, Alice | 104 Miller-Kipp, Gisela | 11, 18, 60, 393 Mollenhauer, Klaus | 71f., 78, 80, 185, 379 Möller, Bernhard | 49 Müller, Hans-Rüdiger | 23, 127ff., 132f., 135, 179f., 192 —N— Nieke, Wolfgang | 18 Nohl, Arnd-Michael | 21ff., 26, 71, 86f., 93, 98, 106, 108, 110, 159ff., 181f., 186, 191, 255, 257, 375, 390 —O— Oevermann, Ulrich | 18, 79f. Olk, Thomas | 212f. Ortlepp, Wolfgang | 71 —P— Parsons, Talcott | 212 Paschen, Harm | 60 Peccei, Aurelio | 95

Peirce, Charles S. | 80 Petersen, Peter | 51 Petzelt, Alfred | 27, 87, 211ff., 239, 241, 245f., 249, 253, 256ff., 266f., 276, 283f., 288f., 295, 304, 307ff., 324, 336, 338, 345, 351, 354ff., 363, 372f., 378ff., 384ff. Peukert, Helmut | 17 Piaget, Jean | 80 Picht, Georg | 42, 46 Platon | 252 Poenitsch, Andreas | 9, 15, 18, 33, 36, 87, 118f., 178, 183, 210, 392f. Pongratz, Ludwig A. | 18 Prawda, Marek | 81, 201 Prengel, Annedore | 140 Prondczynsky, Andreas von | 18, 42, 57, 59f., 63, 213 Protagoras | 73 —R— Rauschenbach, Thomas | 19 Rehbein, Jochen | 81 Reichenbach, Roland | 112 Reinders, Heinz | 213 Reinhartz, Petra | 22, 106, 110 Reinwand, Vanessa-Isabelle | 22 Richter-Reichenbach, Karin-Sophie | 185 Ricken, Norbert | 16 Ricœur, Paul | 125 Rieger-Ladich, Markus | 25 Roeder, Peter M. | 15 Röhrs, Hermann | 37, 185 Rolff, Hans-Günter | 14 Rombach, Heinrich | 49 Rosenthal, Gabriele | 204, 270

N AMENVERZEICHNIS

Rösler, Winfried | 60 Roth, Heinrich | 46 Roth, Lutz | 231 Ruhloff, Jörg | 12, 15, 27, 54f., 60, 73ff., 87ff., 120, 183f., 210ff., 215f., 218, 220, 228f., 248ff., 283, 337, 372f., 381, 384f., 389ff., 395, 397 Rustemeyer, Dirk | 16, 56f., 71f., 76 —S— Sailer, Maximilian | 18 Sanders, Olaf | 20, 159 Sartre, Jean P. | 97, 109 Sattler, Elisabeth | 128, 133ff. Schäfer, Alfred | 17, 23, 53, 56f., 89, 390, 394ff. Schaller, Klaus | 249 Schell-Kiel, Ines | 151 Scheuerl, Hans | 38f. Schirlbauer, Alfred | 25 Schirren, Thomas | 206 Schmitt, Jean-Claude | 231 Schneider, Barbara | 32, 395 Schönherr, Christian | 18, 89, 185, 211, 215 Schröder, Hans J. | 207 Schultze, F. E. Otto | 51 Schulze, Theodor | 19, 27, 80, 97, 195ff,, 256f., 265f., 273ff. Schütz, Egon | 62 Schütze, Fritz | 19, 27, 80, 97ff., 104, 115, 125, 145, 182, 186f., 201, 206, 265, 271, 274ff., 281, 391 Soeffner, Georg | 80 Sokrates | 89 Son, Seung-Nam | 22

| 437

Spranger, Eduard | 233 Stanat, Petra | 53 Stauber, Barbara | 171 Stecher, Ludwig | 9, 213 Stempel, Wolf-Dieter | 81 Stojanov, Krassimir | 22, 39, 106, 110ff., 127f., 132f., 156, 390f. Stöppler, Reinhilde | 9 Straub, Jürgen | 21, 126ff., 133 Strauss, Anselm | 267 Stroß, Annette M. | 16, 379 Strübing, Jörg | 267 Sünker, Heinz | 18 —T— Tenorth, Heinz-Elmar | 11f., 16ff., 32, 37, 51, 55, 57f., 61ff., 77, 210, 396 Thiel, Felicitas | 16 Thomä, Dieter | 204f. Thompson, Christiane | 89, 180 Tietgens, Hans | 106 Tippelt, Rudolf | 14, 18, 32, 51 Treml, Alfred K. | 153 —U— Ueding, Gert | 206 Uhle, Reinhard | 43, 49 —V— Vogel, Peter | 13, 18f., 32, 57, 59f., 89f., 211, 219, 247, 391, 396 —W— Wahl, Katrin | 185 Weber, Erich | 195 Weber, Max | 45 Welsch, Wolfgang | 73, 115, 117

438 | B ILDUNG UND BIOGRAPHIE

Weniger, Erich | 82f. Westermann, Henrik | 92, 211 Wiesner, Gisela | 18 Wigger, Lothar | 11, 17f., 22ff., 33, 60, 92, 102, 106ff., 128ff., 133, 137f., 157f., 171ff., 178, 183f., 187, 192f., 210, 310, 378, 383, 391ff. Wimmer, Michael | 18, 88

Winkler, Michael | 72 Winterhager-Schmid, Luise | 234 Wittgenstein, Ludwig | 116, 327 Wolf, Hartmut K. | 81 —Z— Zedler, Peter | 18, 44, 47, 53 Zeuner, Christine | 18

Anhang

Überblick über die Interviewpartnerinnen und -partner Lfd. Nr.

Name

Geschlecht

Alter

Lfd. Nr.

Name

Geschlecht

Alter

1

Marc

männlich

18

13

Madlen

weiblich

16

2

Kristina

weiblich

16

14

Eva

weiblich

18

3

Nadine

weiblich

18

15

Dominik

männlich

17

4

Paulina

weiblich

17

16

Katharina

weiblich

16

5

Marco

männlich

15

17

Daniel

männlich

18

6

Axel

männlich

18

18

Sara

weiblich

19

7

Elisabeth

weiblich

18

19

Lisa

weiblich

17

8

Alf

männlich

18

20

Sandra

weiblich

19

9

Sarah

weiblich

20

21

Patrick

männlich

19

10

Anton

männlich

19

22

Ivo

männlich

17

11

Natalie

weiblich

17

23

Natascha

weiblich

18

12

Lea

weiblich

16

24

Sonja

weiblich

19

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Abbildung 2 Abbildung 3 Abbildung 4

Übersicht über Dimensionen und Topoi auf biographie- und bildungstheoretischer Grundlage | 264 Marcs ›Bildungsgestalt‹ – im Kontext biographieund bildungstheoretischer Markierungen | 311 Natalies ›Bildungsgestalt‹ – im Kontext biographieund bildungstheoretischer Markierungen | 339 Sonjas ›Bildungsgestalt‹ – im Kontext biographieund bildungstheoretischer Markierungen | 373

440 | B ILDUNG UND BIOGRAPHIE

Tabellenverzeichnis Tabelle 1 Tabelle 2

Übersicht über den exmanenten ›Fragenkatalog‹ | 272 Angewandte Transkriptionsregeln | 274

Pädagogik Markus Dederich, Martin W. Schnell (Hg.) Anerkennung und Gerechtigkeit in Heilpädagogik, Pflegewissenschaft und Medizin Auf dem Weg zu einer nichtexklusiven Ethik Januar 2011, 264 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1549-4

Johannes Giesinger Autonomie und Verletzlichkeit Der moralische Status von Kindern und die Rechtfertigung von Erziehung 2007, 218 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-795-0

Ghodsi Hejazi Pluralismus und Zivilgesellschaft Interkulturelle Pädagogik in modernen Einwanderungsgesellschaften. Kanada – Frankreich – Deutschland 2009, 376 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1198-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Pädagogik Barbara Keddi Wie wir dieselben bleiben Doing continuity als biopsychosoziale Praxis Mai 2011, 318 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1736-8

Antje Langer Disziplinieren und entspannen Körper in der Schule – eine diskursanalytische Ethnographie 2008, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-932-9

Christiane Thompson, Gabriele Weiss (Hg.) Bildende Widerstände – widerständige Bildung Blickwechsel zwischen Pädagogik und Philosophie 2008, 228 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-859-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Pädagogik Kathrin Audehm Erziehung bei Tisch Zur sozialen Magie eines Familienrituals 2007, 226 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-617-5

Wiltrud Gieseke, Steffi Robak, Ming-Lieh Wu (Hg.) Transkulturelle Perspektiven auf Kulturen des Lernens 2009, 266 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1056-7

Britta Hoffarth Performativität als medienpädagogische Perspektive Wiederholung und Verschiebung von Macht und Widerstand 2009, 270 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1095-6

Ulla Klingovsky Schöne Neue Lernkultur Transformationen der Macht in der Weiterbildung. Eine gouvernementalitätstheoretische Analyse 2009, 234 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1162-5

Dominik Krinninger Freundschaft, Intersubjektivität und Erfahrung Empirische und begriffliche Untersuchungen zu einer sozialen Theorie der Bildung 2009, 278 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-8376-1287-5

Fabian Lamp Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung Der Umgang mit Differenz in der sozialpädagogischen Theorie und Praxis 2007, 258 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-662-5

Claudia Lemke Ethnographie nach der »Krise der Repräsentation« Versuche in Anlehnung an Paul Rabinow und Bruno Latour. Skizzen einer Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen April 2011, 300 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1727-6

Felicitas Lowinski Bewegung im Dazwischen Ein körperorientierter Ansatz für kulturpädagogische Projekte mit benachteiligten Jugendlichen 2007, 242 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-726-4

Ruprecht Mattig Rock und Pop als Ritual Über das Erwachsenwerden in der Mediengesellschaft 2009, 264 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1094-9

Elisabeth Sattler Die riskierte Souveränität Erziehungswissenschaftliche Studien zur modernen Subjektivität 2009, 176 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1323-0

Christian Schütte-Bäumner Que(e)r durch die Soziale Arbeit Professionelle Praxis in den AIDS-Hilfen 2007, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-717-2

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