Arenen der Ästhetischen Bildung: Zeiten und Räume kultureller Kämpfe [1. Aufl.] 9783839432303

Ever since the antique, we have been presented with battles around aesthetic education that are carried out not just the

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German Pages 228 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Arena als methodischer Begriff. Mit einem Blick auf Ästhetische Bildung
Zeiten
Die Querelle des anciens et des modernes in der Musik
Gottesdienst als Arena Ästhetischer Bildung
Der Kampf um den und mit dem Zuschauer. Bemerkungen zum Verhältnis von „Theater“ und seinen Betrachtern
Das Leben einer Geisha
Räume
Arenen Kultureller Bildung
Personale Identität in Bildern. Zur bildnerischen Selbstdarstellung im Lebenslauf
Ambivalenzen der Bildkommunikatn. Ist eine Vorherrschaft der technischen Bilder unausweichlich?
Das Schaufenster als Ort Ästhetischer Bildung. Ein Essay
Palliativstationen. Über das Entstehen einer neuen ars moriendi
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Arenen der Ästhetischen Bildung: Zeiten und Räume kultureller Kämpfe [1. Aufl.]
 9783839432303

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Jörg Zirfas (Hg.) Arenen der Ästhetischen Bildung

Ästhetik und Bildung | Hg. von Eckart Liebau und Jörg Zirfas | Band 9

Jörg Zirfas (Hg.)

Arenen der Ästhetischen Bildung Zeiten und Räume kultureller Kämpfe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3230-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3230-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung Jörg Zirfas Arena als methodischer Begriff. Mit einem Blick auf Ästhetische Bildung ……….…….…............. 9

Zeiten Eckhard Roch Die Querelle des anciens et des modernes in der Musik …........ 31 Konrad Klek Gottesdienst als Arena Ästhetischer Bildung ….......................... 59 André Studt Der Kampf um den und mit dem Zuschauer. Bemerkungen zum Verhältnis von „Theater“ und seinen Betrachtern ……..... 75 Peter Ackermann Aus dem Leben einer Geisha …....……………...………………... 95

Räume Eckart Liebau Arenen Kultureller Bildung …....……………...…......................... 117 Michael von Engelhardt Personale Identität in Bildern. Zur bildnerischen Selbstdarstellung im Lebenslauf ….….......... 131 Aida Bosch Ambivalenzen der Bildkommunikation. Ist eine Vorherrschaft der technischen Bilder unausweichlich? ……..... 171

Gert Schmidt Das Schaufenster als Ort Ästhetischer Bildung …....................... 191 Lars Allolio-Näcke Palliativstationen. Über das Entstehen einer neuen ars moriendi ……….................. 205

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ….…......................... 225

Einleitung

Jörg Zirfas

Arena als methodischer Begriff Mit einem Blick auf Ästhetische Bildung

Einleitung Geht man vom Begriff der „Arena“ aus (von lat. (h)arena, „Sand„), so wird damit traditionell ein Veranstaltungsort bezeichnet, auf dem Wettkämpfe, Vorführungen und Spiele kultischreligiöser, sportlicher oder künstlerischer Natur stattfanden. In der Antike war eine Arena ein Versammlungsbau, der aus einem ebenen, mit Sand bedeckten Platz bestand; Beispiele für diese Bauten sind das griechische Stadion für sportliche Wettkämpfe, das römische Amphitheater für Kampfspiele und Tierhetzen oder der römische Circus für Wagenrennen. Im antiken Theater entsprach der Arena als Spielbereich die Orchestra. Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts scheint der Begriff in Deutschland eher ungebräuchlich gewesen zu sein, findet er sich doch weder im „Deutschen Wörterbuch“ der Brüder Grimm (1854) noch auch im „Etymologischen Wörterbuch“ von Kluge (1957). Im Deutschen wird der Arenabegriff i.d.R. für eine Vielzahl von Veranstaltungsräumen mit sportlicher oder kultureller Nutzung verwendet. Im Kontext Ästhetischer Bildung sind Begriff und Metapher als Arena im Gegensatz zu verwandten Bedeutungszuweisungen wie Auseinandersetzung, Machkämpfe, Diskurs, etc. noch nicht etabliert und daher wohl noch erklärungsbedürftig. Unter Ästhetischer Bildung wird hier zunächst ganz allgemein die grundlegende Bildung der Empfindsamkeit gegenüber Mensch und Natur, die Entwicklung der Einbildungskraft, des Geschmacks und des Genusses, die Befähigung zu Spiel und Geselligkeit, zur ästhetischen Alphabetisierung, Urteilskraft und Kritik, die Erschließung von (neuen) Ausdrucksformen und Handlungsperspektiven und auch die Zivilisierung des Lebens verstanden. Ästhetische Bildung umfasst in ihrer aktiven wie rezeptiven Komponente alle Formen der Bildung durch ästhetische Aktivitäten und Darstellungsformen, Kenntnisse von Kunst und Kul-

EINLEITUNG

tur und die Reflexion künstlerischer und kultureller Prozesse und Resultate. Im Folgenden soll die methodische Bedeutung des Arenenbegriffs im Hinblick auf Ästhetische Bildung im Mittelpunkt stehen. Dabei wird auf fünf Dimensionen dieses Begriffs eingegangen: auf die räumliche Dimension mit Blick auf einen Diskursraum (Feld, Gebiet, Tableau, Ebene, Episteme, Fläche, Formation, System, Struktur, Ort, Ordnung; vgl. Foucault 1981) auf die agonale Dimension, die die Frage nach den Machtstrukturen stellt, auf die performative Dimension hinsichtlich der Inszenierungsformen, auf die spielerische Dimension, die den experimentellen Charakter unterstreicht und auf die kritische Dimension, insofern eine Arena immer auch ein Ort der kritischen Auseinandersetzung nach innen wie nach außen darstellt, steht doch die Arena der Ästhetischen Bildung immer auch in Beziehung zu anderen – politischen, ökonomischen, sozialen etc. – Arenen. Die in dieser Einleitung vertretene These lautet: Der Arenenbegriff erscheint methodisch als ein heuristischer, analytischer und nominalistischer Begriff, der einen Sachverhalt unter diskurstheoretischen, machtpraktischen, inszenatorischen, ludischen und kritischen Perspektiven aufzuklären in der Lage ist. Dabei überlappen sich einige der hier dargestellten Aspekte in der Realität; diese lassen sich nur für eine Analytik fein säuberlich trennen.

1. Arena als Diskursraum In dieser Perspektive kann man mit Michel Foucault (1979) voraussetzen, dass sich in jeder Gesellschaft Diskurse durch spezifische Produktionsbedingungen und -verfahren, nämlich durch Kontrollen, Selektionen und Kanalisierungen auszeichnen. Diese Organisation des Diskurses erscheint aus mehreren Gründen sinnvoll: nicht nur, weil man – wie Foucault sagt –, seine Kräfte und Gefahren bändigen möchte, sondern auch, weil man mit einem Diskurs die Welt des Sicht- und Sagbaren von der des Nichtsichtbaren und -sagbaren trennen kann, weil man mit der Bändigung und Trennung sich zugleich als maßgebliche Instanz zu legitimieren beansprucht und weil somit der organisierte Diskurs auch theoretische wie praktische Orientierungen anbietet. Foucault benennt drei Prozeduren, die den Diskurs regeln, nämlich zunächst die Ausschließung; d.h. bezogen auf Ästhetische

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Bildung macht es gelegentlich keinen Sinn, über diese zu sprechen und auch keinen Sinn, etwa den gesamten Gegenstand zu entfalten (ein heikles Thema betritt etwa die Frage nach den Grenzen der Ästhetischen Bildung); sodann sind die Umstände des Sprechens ebenso zu beachten, wie die Rolle und der Status des Sprechers. Eine weitere Prozedur der Ausschließung betrifft die Grenzziehung zwischen Vernunft und Wahnsinn, die man im Kontext Ästhetischer Bildung etwa an den Debatten um die Kunst psychiatrischer Patienten, oder im Kontext der Diskussion um Kinderkunst und auch in der Grenzziehung zwischen legitimen und illegitimen Künsten verfolgen kann. Ein drittes Ausschließungssystem ist nach Foucault schließlich der Gegensatz zwischen Wahrheit und Falschheit: Seiner Ansicht nach sei es dieser Wille zur Wahrheit, der letztlich das beherrschende Ausschließungssystem bilde, weil es ihm dezidiert um die Bemächtigung des Diskurses gehe, indem es, historisch betrachtet, die beiden anderen Prozeduren immer stärker integriere. Mit dieser Grenzziehung von wahr und falsch ist verbunden, dass das erkennende Subjekt eine bestimmte (wissenschaftliche) Position, einen bestimmten (empirischen, hermeneutischen etc.) Blick und eine bestimmte Funktion (zu verifizieren oder falsifizieren anstatt zu kommentieren etc.) einnehmen musste. So kann man mit diesem historischen Blickwinkel veranschaulichen, dass sich auch die Wahrheitskonzeption der Ästhetischen Bildung über die Jahrhunderte stetig verschieben: von der Philosophie über die Theologie zu den Künsten und einer sich in der Moderne ausdifferenzierenden Wissenschaftslandschaft, in der es mittlerweile keine Wissenschaft mehr gibt, die nicht für Bildung und Kunst zustände ist. Während die bisherigen Ausschließungssysteme von außen an den Diskurs herantreten und diesen organisieren, gibt es dagegen auch interne Prozeduren der Kontrolle, die als Prinzipien der Klassifikation, Anordnung und Verteilung in der Arena wirken. Foucault nennt hier zunächst den Kommentar, d.h. Texte, die auf andere Texte Bezug nehmen und diese ggf. auch transformieren. Ein Beispiel wäre hier der jahrhundertelange Mimesis-Bezug in der Kunstdebatte, der einerseits das wiederholt, was schon gesagt worden ist und andererseits das zum Ausdruck bringt, was noch nie zur Sprache kam. Daneben spielt auch der Begriff des Autors eine wichtige Rolle, denn nicht nur in Diskursen der Ästhetischen 11

EINLEITUNG

Bildung ist wichtig, wenn nicht sogar entscheidend, wer hier spricht oder schreibt, um dem Diskurs eine unverwechselbare Form zu geben. Schließlich gibt es auch noch die Disziplinen, die sich durch spezifische Gegenstände, Techniken, Instrumente und Methoden sowie ein Korpus von Sätzen, Regeln und Definitionen auszeichnen, und die in der Lage sind, neue Aussagen zu konstruieren. Ein Beispiel der neueren Zeit bilden die Neurowissenschaften, die den Kunstgenuss durch bildgebende Verfahren erklären möchten. Und schließlich gibt es noch die Verknappung der sprechenden Subjekte als Kontrollprozedur des Diskurses. Denn sprechende Subjekte müssen sich, wenn sie gehört werden wollen, bestimmten Ritualen – etwa Vortragsritualen oder Veröffentlichungsritualen – unterwerfen. Daneben gibt es die Diskursgesellschaften – etwa das IZÄB oder auch die Deutsche Gesellschaft für Ästhetik – welchen die Aufgabe zukommt, Diskurse zu produzieren und zu erinnern, die Doktrinengruppen (etwa die Phänomenologen, die Kantianer etc.) und schließlich die gesellschaftlichen Aneignungssysteme wie die Politik, die Künste oder auch das Bildungs- und Unterrichtssystem. „Was ist eigentlich ein Unterrichtssystem – wenn nicht eine Ritualisierung des Wortes, eine Qualifizierung und Fixierung der Rollen für die sprechenden Subjekte, die Bildung einer zumindest diffusen doktrinären Gruppe, eine Verteilung und Aneignung des Diskurses mit seiner Macht und seinem Wissen?“ (ebd.: 31).

2. Arena als Raum der Machtverhältnisse Während Foucault im Hinblick auf die Organisation des Diskurses stärker auf die Aspekte der Angst vor der Zufälligkeit und den unkontrollierten Effekten des Diskurses abhebt, bietet der Arenenbegriff die Möglichkeit den Diskursraum auch als agonalen Raum des Wettkampfes zu verstehen. Hierbei werden Fragen der Macht virulent, die in verschiedene Richtungen hin diskutiert werden könnten. So kann zum einen in den Blick kommen, wie die Existenz-, und Ausschlussbedingungen sowie die Bedingungen für das Auftauchen, Modifizieren und Verschwinden der Diskurse Ästhetischer Bildung durch Machtprozeduren geregelt werden. Wenn der Diskurs aus den Praktiken der Macht entsteht, so sind hier die Macht-Wissens-Komplexe der Ästhetischen Dis-

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kurse zu verhandeln. Hierbei könnte z.B. untersucht werden, inwieweit sich die der Ästhetischen Bildung verpflichteten Ziele, -strategien, -methoden und -inhalte der Politik und diejenigen der Pädagogik so miteinander aushandeln lassen, dass sie sowohl für die je individuellen Ziele der beteiligten Institutionen als auch für die zum Teil unterschiedlichen Ziele der beteiligten gesellschaftlichen Teilsysteme anschlussfähig sind bzw. werden. Hierbei geht es also um Fragen der konkreten Macht- und Diskursdifferenzen und ihren jeweiligen Effekte. Der Sinn der Ästhetischen Bildung ergibt sich, so betrachtet, nicht aus dem Gegenstand, sondern aus den spezifischen Kräfteverhältnissen, die diesen Gegenstand erst hervorbringen und ihm Sinn verleihen. Die Geschichte des Gegenstandes Ästhetische Bildung ist somit nicht nur die Geschichte der Variationen seiner Bedeutungen, sondern vor allem die Geschichte der Machtbeziehungen, die diese Variationen zu bestimmen in der Lage waren. Allgemeiner formuliert: Die Bedeutung eines Sachverhaltes ist die Geschichte seiner Auseinandersetzungen und Bewältigungsversuche. In diesem Kontext sind Machtverhältnisse wesentlich produktiv zu verstehen, da sie nicht nur Diskurse, sondern auch sog. Dispositive hervorbringen, d.h. Ensembles von diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken, etwa Gesetzesvorgaben, politische Entscheidungen oder pädagogische Maßnahmen. So können Machtverhältnisse punktuell normativ motivierte Verständigungen, pragmatische Kompromissbildungen oder auch dauerhaft zwanghafte Institutionalisierungen schaffen oder sie können strukturelle Lösungen aufschieben, organisierte Ungleichgewichte schaffen und propädeutisch-didaktische Vorschläge unterbreiten. In diesen Kontext gehören auch der Widerstand bzw. die Kritik an dem herrschenden Macht-Wissenskomplex und die Frage, von welchem Macht- bzw. Wissensstandpunkt aus Widerstände bzw. Kritik geäußert werden können. Sind diese Gegenbewegungen selbst Teil des vorherrschenden Macht-Wissens-Komplexes, und somit systemfunktional, oder bildern sie ihre andere, nicht in Betracht gezogene Seite? So kann man sich z.B. fragen, ob die zur Zeit nicht nur in der Philosophie sehr prominente Figur des Lebenskünstlers eine Kritik am herrschenden neoliberalen Menschenbild und Gesellschaftsbild darstellt, oder ob sie funktional für den Neoliberalismus ist, werden doch die Lebenskünstler oftmals als diejenigen dargestellt, die aufgrund der Einsicht in die 13

EINLEITUNG

Notwendigkeiten ihr Leben trotz aller Widrigkeiten zu gestalten wissen? Allgemeiner: Ist die Kunst kulturaffirmativ bzw. systemstabilisierend oder nicht-affirmativ, systemkritisierend? Mit der Frage der Macht in der Arena ist auch die Frage der Wirkung von Macht verbunden. Folgt man hier wiederum Foucault, so wirken Machtverhältnissen vor allem auf den Körper. Der Körper ist keine einmalige gegebene und unveränderliche Substanz, sondern er ist plastisch, zerlegbar und zusammensetzbar. Der Körper ist das schwächste, weil manipulierbarste und zugleich das stärkste, weil regenerations- und funktionsfähigste Element der Macht. Und obwohl Foucault eine entscheidende phänomenologische Differenz neuer anthropologischer Forschungen nicht bedenkt, nämlich diejenige zwischen dem Körper als physischer Gegebenheit und dem Leib als gelebtem und gefühltem Körper, ist ihm dahingehend zuzustimmen, dass spezifische Machtkonstellationen auch prägnante Körpereffekte mit sich bringen. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Sinnlichkeiten und Emotionalitäten sich im Kontext mittelalterlich pikturaler Bildprogramme und musikalisch-kosmologischer Modelle anders entwickeln als im Bereich moderner Ästhetischer Bildungsprogramme, die mit Bezug zur Erfahrungsoffenheit von Wahrnehmungen auf materialerkundende und selbstgestalterische Suchprozesse setzen. Und es erscheint auch evident, dass Bildungsprozesse sinnlichkörperlich anders verlaufen, wenn man intensive Erfahrungen mit dem Theater gemacht oder wenn man in seiner Kindheit und Jugend nie Theater gesehen oder gespielt hat. Wenn auch mit Bollnow ganz allgemein gilt, dass: „Erst durch die Beschäftigung mit den Werken des objektivierten Geistes, in diesem Fall mit den Werken der Kunst als Erzeugnissen menschlicher Gestaltung, die Sinne zu Organen einer differenzierten Auffassung“ [werden] (Bollnow 1988: 31), so zeitigen die durch Machtverhältnisse ganz unterschiedlich bedingten Beschäftigungsformen und Kunstverständnisse eben auch unterschiedliche Formen der Sinnlichkeit und Körperlichkeit. In diesem Sinne schreiben sich die Machteffekte der Arenen der Ästhetischen Bildung eben auch in die Körper ein (vgl. Lohwasser/Zirfas 2014).

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3. Performative und inszenatorische Praktiken in der Arena Vielleicht etwas haarspalterisch soll im Folgenden zwischen dem Performativen und der Inszenierung unterschieden werden. Dabei steht bei beiden Begriffen die konkrete körperliche und soziale Praxis in den Arenen Ästhetischer Bildung im Mittelpunkt. Wer heute vom Performativen spricht, greift in der einen oder anderen Variante auf eine der fünf zentralen historischen Referenzen zurück: auf die 1. performative Sprechaktphilosophie von John Austin, die Aussagen als Handlungen begreift, 2. auf die Transformationsgrammatik von Noam Chomsky mit ihrer Differenz von Performanz und Kompetenz, 3. auf die Kultur- und Theatertheorien der performance art, des Happening und des Fluxus, 4. auf die Genderdiskussion, in deren Verlauf Judith Butler den Begriff der Performativität als rituelle Zitierung des Geschlechts einführt, und schließlich 5. auf den Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“ (FU Berlin), in dessen Verlauf vor allem die Momente Körperlichkeit, Referentialität, Flüchtigkeit, Kreativität, Darstellung, Emergenz und Wiederholung und Ritualisierung herausgearbeitet wurden. Im Unterschied zum Begriff des Performativen, der stärker die präsentativen Dimensionen betont, zielt der Begriff der Inszenierung stärker auf die repräsentativen Momente, lässt sich doch unter Inszenierung (theaterwissenschaftlich) die Semiotisierung der Darstellung verstehen (vgl. Fischer-Lichte 1998). Dabei kommt der Inszenierung eine besondere Bedeutung zu: Inszenieren lässt sich als geplantes gestalterisches Handeln verstehen, das in Szene setzen von Handlungsabläufen, die kreative Rahmung von Bewegungsabläufen. Martin Seel (2001: 50) versteht etwa Inszenierungen als „absichtsvoll eingeleitete oder ausgeführte sinnliche Prozesse, die vor einem Publikum dargeboten werden und zwar so, daß sich eine auffällige spatiale und temporale Anordnung von Elementen ergibt, die auch ganz anders hätte ausfallen können.“ Darüber hinaus bedeutet Inszenierung auch eine Effektsteigerung, eine Szenographie und Dramaturgie, die über eine Spannungssteigerung auf eine Klimax zielt. Dabei muss die Inszenierung als ein Vorgang verstanden werden, der etwas zur Erscheinung bringt, was sich primär der Wahrnehmung entzieht. Inszenierungen sind kreative Hervorbringungen eines nicht komplett in der Präsentation

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EINLEITUNG

aufgehenden Abwesenden. Diese Idee lässt sich am Begriff der „Repräsentation“ verdeutlichen, der im Deutschen neben Vorstellung und Darstellung auch noch die Bedeutungen Stellvertretung und Vergegenwärtigung umfasst. In den diversen Arenen Ästhetischer Bildung kommen die genannten Perspektiven des Performativen und der Inszenierung ganz unterschiedlich zum Tragen. Denn natürlich werden auch Diskurse der Ästhetischen Bildung in einer bestimmten Form performiert oder inszeniert – ein Vortrag im Rahmen des IZÄB verläuft anders als einer in der Aula des Schlosses im Rahmen einer Ringvorlesung – und natürlich lassen sich damit dann auch unterschiedliche (perlokutionäre) Effekte oder Feedbackschleifen zwischen Vortragenden und Zuhörern ausmachen. Interessant erscheint hier die schon kaum mehr vermeidbare Rhetorik der Powerpointpräsentationen, die für die Konzeptionen Ästhetischer Bildung eigentlich wie eine doppelte Einladung bzw. doppelte Herausforderung wirkt: denn in der Gestaltung wie im Verstehen erscheinen bei dieser Rhetorik ästhetische (rhetorische und inszenatorische) Kompetenzen als unerlässlich. Neben diesem ästhetischen Schauplatz, der hier natürlich nicht zureichend behandelt wurde, gibt es aber vor allem die Arena der körperlichen und sozialen Darstellungsformen. Man kann hier zunächst schlicht und ergreifend an den Alltag denken, in denen Ästhetische Bildung als Darstellungsform und Reflexionsgeschehen immer wichtiger wird. Je unübersichtlicher moderne Gesellschaften werden, je dichter das „Zeichengestöber“ (Sloterdijk) wird, in dem wir uns bewegen, desto mehr sind die Individuen darauf angewiesen, die für ihre Interaktionen und Kommunikationen zentralen Bedeutungsgehalte durch Stilinszenierungen zum Ausdruck zu bringen. Show-Effekte, Lifestyleinszenierungen und Imageattributierungen spielen in einer zunehmend komplexer werdenden kulturellen Situation eine zentrale Rolle (Zirfas 2004). Gerade im Bereich jugendlicher Subkulturen – das Paradebeispiel bildet hier der Punk – zeichnen sich durch bewusste Verdrehungen und Subvertierungen scheinbar natürlicher Stilelemente die inszenatorischen Strategien der Stilschöpfungen besonders gut aus. Wie der Stil als absichtsvolle Kommunikation funktioniert, macht Hebdige an der Kleidung deutlich:

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„Somit beinhaltet die Wahl der Kleidung eine ganze Reihe von Botschaften, die sich durch eine genaue Reihenfolge ineinandergreifender Gegebenheiten mitteilen: Klasse und Status, Selbstbild und Attraktivität etc. Letztlich drücken sie zumindest das ,Normalsein‘ im Gegensatz zur ,Abweichung‘ aus, das heißt, sie geben sich durch ihre relative Unauffälligkeit, ihre Angepasstheit, ihre Natürlichkeit zu erkennen. Die absichtliche Kommunikation folgt jedoch einer anderen Ordnung. Sie steht abseits – eine sichtbare Konstruktion, eine mit Bedeutung beladene Wahl. Sie zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Sie will gelesen werden“ (Hebdige 1998: 393f.).

Neben diesen alltäglichen Arenen der Stilpräsentationen und -inzenierungen lassen sich auch, bezogen auf die Arbeitsfelder Ästhetischer Bildung, von diversen Performanzen und Inszenierungen sprechen. So sind sowohl in Theorie wie in Praxis Ästhetischer Bildung Performativitäten und Inszenierungen aller Art gang und gäbe: Ob man sich für das Museum spezielle (altersgerechte) Führungsformate und theatrale Inszenierungen überlegt, sich für viele „Hands on“-Präsentationen mit Erfahrungscharakter stark macht, oder ob man Geschichte durch Mitmachprogramme und die Ausstellung von Trends und Stilen als Erlebnisparcours gestaltet – in der Zusammenarbeit von Kuratoren, Ausstellungsdesignern und Museumspädagogen wird der Aspekt der Inszenierung zunehmend auch pädagogisch bedeutsamer. Das gilt auch für die Zusammenarbeit von Künstlern in Schulen oder in außerschulischen Kontext, wenn es darum geht, eine besondere (kreative) Atmosphäre herzustellen, oder einen persönlichen Kontakt zwischen Schülern und Künstlern anzubahnen, oder ganzheitliche Erfahrungsräume zu ermöglichen. Zu erwähnen ist hier schließlich auch das gesamte Marketing des Ästhetischen, das ja nicht nur als pädagogische Vermittlungsaufgabe, sondern auch eine ökonomische Verkaufsaufgabe und eine informationstechnische Serviceaufgabe darstellt, und bei dem Momente des Performativen ins Spiel kommen, wenn von der Attraktivität, der Identifikation, der Präsenz im Alltag, den richtigen Medien oder Kanälen etc. die Rede ist. Explizit wie implizit geht es durchaus im Blickwinkel des Performativen um ein ästhetisches Vollzugsgeschehen, das ebenso von funktionalen Bedingungen des Gelingens (Austin) wie von phänomenalen Bedingungen des Embodiment abhängig ist (But-

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EINLEITUNG

ler). Nicht umsonst ist in diesen Kontexten immer die Rede von Authentizität, Liveness, Präsenz, Auftritt, Öffentlichkeit, aber auch von Ganzheitlichkeit, Übung, Probe, Erarbeitung, aktiver Auseinandersetzung. Wer im Sinne der Ästhetischen Bildung einen Wechselprozess zwischen sinnlicher Wahrnehmung, rationaler Auseinandersetzung und praktischem künstlerischen Handeln in Gang setzen will, erscheint somit immer stärker auf unterschiedliche Stile und Inszenierungen setzen zu müssen, um an möglichst viele Menschen anschlussfähig sein zu können. Hier konkurrieren die Arbeitsfelder Ästhetischer Bildung – gerade bei den jüngeren Menschen – mit den Medien: Fernsehen und Internet. Und sie konkurrieren zunehmend um ein jüngeres Publikum, etwa von 6 bis 12 Jahren.

4. Spielformen Der Spielcharakter des Arenenbegriffs soll anhand eines metaphorischen Umwegs deutlich gemacht werden, und zwar über die Schrift von Hans Scheuerl Das Spiel. Untersuchungen über sein Wesen, seine pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen, die nicht versucht das Wesen des Spiels zu definieren, sondern es anhand von Merkmalen zu rekonstruieren und zwar durch: Freiheit, Unendlichkeit, Scheinhaftigkeit, Ambivalenz, Geschlossenheit und Gegenwärtigkeit (vgl. Scheuerl 1954). Mit Freiheit ist bei Scheuerl die fehlende Zweckhaftigkeit bezeichnet, die Idee, dass das Spiel (idealiter) keinen anderen Zweck kennt als das Spielen; und dass es insofern frei ist von spezifischen Lebensnotwendigkeiten oder bestimmten gesellschaftlichen Anforderungen. Nun lassen sich auch für die Diskussionen und Praxen Ästhetischer Bildung oftmals nicht einem spezifischen Zweck unterstellen, sondern folgen i.d.R. mehreren, teilweise auch sich überschneidenden, kritisierenden und ausschließenden Zwecken. Besonders beliebt ist hier die Debatte um die Funktionalität bzw. Disfunktionalität oder A-Funktionalität Ästhetischer Bildung, die immer wieder die Frage der zwecklosen Zweckhaftigkeit des Umgangs mit Kunst aufwirft (Zirfas 2009). Vielleicht lässt sich in der Ästhetischen Bildung auch deshalb so viel verzwecken, weil man ihre Effekte so wenig objektiv, reliabel und valide erforschen kann.

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Wenn Scheuerl von Unendlichkeit spricht, so verweist er darauf, dass das Spielen einen Ewigkeitscharakter hat, auf ständige Wiederholung und auf möglichste Ausdehnung in der Zeit angelegt ist: Man kann sich nicht satt spielen. Die Frage nach der Ästhetischen Bildung, bzw. danach, welchen Zweck, welchen Inhalt, welche Ursache und welche Form die Ästhetische Bildung hat bzw. bekommen soll (causa finalis, materialis, efficiens, formalis), lässt sich ideengeschichtlich über die europäische Geistesgeschichte – und wohl auch über die Sozialgeschichte hinweg – verfolgen (vgl. Zirfas u.a. 2009; Klepacki/Zirfas 2011; Zirfas/Klepacki/ Lohwasser 2014). Ästhetische Bildung war und ist in der abendländischen Geschichte unter je unterschiedlichen Facetten ein stetiges Feld der Debatten und der pädagogischen Praxis und ein Ende ist nicht abzusehen. Dieser Sachverhalt könnte zu einen damit etwas zu tun haben, dass Ästhetische Bildung, zumindest implizit und unbewusst, neben der moralischen und theoretischen als eine Grundbildung anzusehen ist, die, wenn man sich auch über Jahrhunderte hinweg vornehmlich auf moralische und/oder theoretische Zwecke bezogen hat, einer gesonderten Betrachtung und einer auf ihre Eigenlogik bezogene Praxis brauchte. Zwar war Ästhetische Bildung bis hin zur Aufklärung quasi allgemein verständlich, ohne allerdings vollkommen selbstverständlich zu sein. In den Arenen Ästhetischer Bildung war weitgehend Konsens, dass die schönen Künste und die mit ihr verbundenen Bildungsprozesse eine dienende Funktion haben, doch die Wechsel der Dienstformen und Dienstherren – von der Kirche, über den Staat bis hin zu gesellschaftlichen Teilgruppen – lässt sich durchaus auf dem Feld der Arenen deutlich machen. Identifiziert man unter Scheinhaftigkeit nicht negativ illusionäres Zu-Sein-Scheinen oder bloße Einbildung, sondern positiv die Arena als Diskursebene, so wäre an dieser Stelle zu beleuchten, inwieweit die Diskurse Ästhetischer Bildung in der Praxis ihre Effekte gezeigt haben. In diesem Sinne wären die diskursiven Arenen Ästhetischer Bildung als Theorieauseinandersetzungen von der Praxis für die Praxis (Klafki) zu verstehen, d.h. dahingehend zu betrachten, welche unterschiedliche Schwerpunktsetzungen der Praktiken, Strategien und Institutionalisierungen Ästhetischer Bildung jeweils mit ihnen vorgenommen worden sind. Gleichzeitig lassen sich die Arenen Ästhetischer Bildung auch in ihrem mimetischen Bezug zu den Ordnungen, Werten und Normen der 19

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jeweiligen Gesellschaft, in der sie stattfinden, aufweisen. Die Arenen zeigen uns hier, welche sozialen und politischen Entscheidungen hier getroffen werden, welche Machstrukturen entscheidend sind und wie das Kunstdenken strukturiert ist. Kurz, die Arenen der Ästhetischen Bildung sind (auch) eine mimetische Welt. Mit Ambivalenz bezeichnet Scheuerl den Sachverhalt, dass das Spiel einen Zwischenzustand darstellt, einen Zustand, der von fundamentalen Spannungen durchzogen ist. Für moderne Theorien der Ästhetik oder der Ästhetischen Bildung kaum noch von Belang und eher schulmeisterlich trocken erscheinen die bis in die Neuzeit enorm bedeutsamen Argumentationen im Kontext eines Wettstreits der Künste, des so genannten Paragone. In den Arenen Ästhetischer Bildung wird der Wettstreit einer Vorherrschaft der Künste ausgetragen, und die Architektur, die Dichtung, die Malerei, das Theater im Konzert der Künste favorisiert. Mit diesen Kämpfen sind nicht nur verschiedene Kunst-, Bildungs- und Wirkungsmodelle und nicht nur anthropologische Entwürfe, sondern auch Erkenntnistheorien, oder sogar Ontologien und Metaphysiken aller Art verbunden. In gewisser Weise dauert dieser Streit in der Schule bis heute an, weil mit ihm Kanonfragen, und damit auch Identitätsfragen zusammenhängen; so ist z.B. das Schultheater als drittes künstlerisches Fach immer noch nicht vollkommen etabliert und noch immer gilt der Sport einigen als nicht ästhetische Praxis. Die Bestimmung der Geschlossenheit weist nach Scheuerl darauf hin, dass die spielerische Welt eine Welt für sich darstellt. Sie hat ihre eigenen Raum- und Zeitstrukturen, ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten und Regularien, ihre spielerische Eigenlogik. Diese Facette lässt sich mit den Überlegungen zur Ordnung des Diskurses s.o. zusammendenken. Mit dem Titel Gegenwärtigkeit ist nach Scheuerl die Kehrseite von Zweckfreiheit, Unendlichkeit und Scheinhaftigkeit gemeint, nämlich die Zeitenthobenheit, die stehende Bewegtheit des Spiels. Dieses Spielmoment kann man historisch in einen Zusammenhang bringen mit dem Versuch, raum- und zeitenthobene Modelle der Ästhetischen Bildung zu entwickeln. Im aktuellen Diskurs ist eher von einer doppelten Historizität die Rede, d.h. davon, dass sich sowohl Gegenstand wie Perspektive im Laufe der Geschichte ändern. Die Zeitenthobenheit ist der Zeitgebundenheit der Dis20

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kurse und Praktiken gewichen. Spätestens seit Dilthey weiß man, dass auch in der Ästhetischen Bildung nichts für die Ewigkeit ist.

5. Die Kritik der Arena Der Begriff der „Kritik“, aus dem Rechtskontext von Philologie und Rhetorik stammend, verweist auf die Kunst des Scheidens und Trennens, des Entscheidens, Beurteilens und Anklagens. Die Arena ist auch ein Ort der Kritik oder der Grenzziehung. Wobei die kritischen Maßstäbe nicht ein für alle mal festgestellt werden können, sondern in der Arena in der Auseinandersetzung mit Gegenständen und Positionen immer wieder hervorgebracht wird, je anspruchsvoller, desto undogmatischer und origineller. Wie auch mit Bezug auf den Begriff der Kultur oder die kulturelle Bildung, so sind auch die Schwierigkeiten um eine Bestimmung dessen, was Ästhetische Bildung ist bzw. sein soll, weniger auf die methodischen Zugriffe, sondern auf den Sachverhalt selbst, seine Komplexität und Vielgestaltigkeit zurückzuführen. Zwar lässt sich – etwa im bildungstheoretischen oder auch anthropologischen Sinne – durchaus plausibel von einem Grundbegriff der Ästhetischen Bildung sprechen, doch wohl eher im Sinne einer Problemformel, die man nicht nicht diskutieren kann. Die Ästhetische Bildung markiert Grenzen, etwa soziale oder kulturelle Geschmacksgrenzen, Grenzen der Entwicklung, der Zivilisierung, der Modernisierung, Grenzen zwischen dem Individuellen und dem Sozialen oder auch Grenzen zwischen dem Deskriptiven und dem Normativen, den Bedingungen und den Effekten. In diesem Sinne existiert Ästhetische Bildung immer neu als zu realisierender Verbund aus stabilen, faktischen Formen und variablen, geltungsbezogenen Verhältnisbestimmungen. Die Arenen Ästhetischer Bildung sind Krisenorte der Infragestellungen und Herausforderungen, in denen sich nichts von selbst versteht und in denen alle Faktizitäten und Geltungsansprüche nach kritischer Auslegung und Umsetzung verlangen. So gilt etwa in der Pädagogik nicht nur im Bereich Ästhetischer Bildung seit geraumer Zeit: Keine Realisation ohne Evaluation. Unterscheiden lassen sich auch diverse Formen der Kritik Ästhetischer Bildung (vgl. Dielemann 2008: 117-142; Konersmann 2010: 94ff.):

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EINLEITUNG

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eine ästhetische Kritik der Bedeutung von Kunst, Symbolik, Design und Zeichen; eine restitutive Kritik, die die Unbeirrbarkeit ihres Urteils aus dem erhält, was zu allen Zeiten und Orten im Bereich Ästhetischer Bildung Gültigkeit beanspruchen kann (vgl. noch Comenius); eine selbstreflexive Kritik, als Kritik der Ästhetischen Bildung im Namen der Ästhetischen Bildung erfolgt (vgl. Rousseau); eine historische Kritik, die den Ort ihrer kritischen Invektiven immer wieder neu fortschritts- oder verfallstheoretisch, hochoder populärkulturell austarieren muss (vgl. Adorno); eine heuristische Kritik der alltäglichen (gemeinschaftlichen) Lebensstile und Alltagsroutinen oder eine empirisch-deskriptive Kritik, die die Aufmerksamkeiten für die faits culturels der diversen Lebenswelten schärft (vgl. dazu Liebau); eine bildungstheoretisch oder anthropologisch grundierte Kritik, die Leitformeln gelungener Ästhetischer Bildung zu präzisieren in der Lage ist (dito); eine ontologische Kritik der Limitierungen von wissenschaftlichen und technischen Rationalität und damit einer Betonung der Ganzheitlichkeit von Wahrnehmung, Wissen und Sein (IZÄB); eine professionelle Kritik neuer und ungewohnter, hybrider und vernetzter Sichtweisen, die diverse Logiken und Leidenschaften zu kombinieren und auszuprobieren sucht; eine Metakritik, die die Bedingungen der Möglichkeiten der Kritik Ästhetischer Bildung selbst noch einmal in den Blick nimmt (vgl. Kant oder Bourdieu). Und schließlich lässt sich auch noch eine an der Arenen Ästhetischer Bildung selbst festgemachte Kritik benennen – eine Kritik im Sinne des Genitivus obiectivus –, die von anderen Diskurs- und Machtlogiken herrührt, etwa von ökonomischen, politischen, sozialen etc.

In diesem Sinne lassen sich gesellschaftliche, politische etc. Strukturen gerade artistisch und ästhetisch befragen und in Frage stellen. Ästhetische Bildung kann insofern als kritisches Korrektiv oder auch als Regulativ von Formen und Prozessen der Gesellschaft und Politik fungieren. Die Ästhetische Bildung befähigt zur Relativierung, zur Skepsis, zur Ironie und zur Kritik, aber auch 22

JÖRG ZIRFAS: ARENA ALS METHODISCHER BEGRIFF

zur Artikulation, zur Selbstvergewisserung, zum Experiment, zum Vernetzen – und nicht zuletzt zur Lebensfreude. Zusammenfassend: Wer Arena als methodischen Begriff verwendet, betreibt Analytiken der Ordnung des Diskurses, der ihr inhärenten Machtbeziehungen, deren Darstellungs- und Inszenierungsformen sowie ihrer spielerischen und kritischen Dimensionen.

6. Ästhetische Bildung im Fokus der Arena Warum und inwiefern sind gerade Ästhetische Bildungsprozesse in den diversen Arenen immer wieder zum Gegenstand der Auseinandersetzung geworden? Historische These: Erst seit dem 18. Jahrhundert gibt es tiefergehende Auseinandersetzungen um den Status der Ästhetischen Bildung. Grund dafür ist der Übergang aus einem metaphysischen Horizont zu diversen nachmetaphysischen Systemen. Hatte Ästhetik im Laufe der Jahrhunderte eine der Philosophie oder der Theologie untergeordnete Rolle zu spielen, rückte sie in der Moderne zu einer Grundlagendisziplin auf, die sich mit anderen in den Diskurs- und Machtarenen messen konnte. An die Stelle hierarchischer Verweisungszusammenhänge, die ihre eigene funktionsinterne (Verwertungs-)Logik der Ästhetischen Bildung hatten, tritt ein offener und dynamischer Aushandlungsprozess der Funktionalitäten Ästhetischer Bildung für eine horizontal geordnete Welt. Die alte, oftmals ontologisch bestimmte Konvergenz zwischen Zivilisierung und Bildung wird abgelöst durch die Versprechungen einer neuen funktionalistischen Einheit von Kultivierung und Bildung. Und von der Weltvervollkommnung wird umgestellt auf die Selbstvervollkommnung. Legitimationsthese: Mit dem Wegfall des metaphysischen Horizontes werden vor allem Legitimationsfragen virulent, die auch vor der Ästhetischen Bildung nicht Halt machen. Arenen der Ästhetischen Bildung sind in diesem Sinne Krisenphänomene, reagieren sie doch auf ein in der Neuzeit nicht mehr zureichendes Legitimationspotential. So wundert es nicht, dass seit den ästhetischen Entwürfen der Aufklärung und Romantik der Kunst immer wieder eindeutig positive Bildungswirkungen attestiert, d.h. personale und soziale, künstlerische, kulturelle und ästhetische, praktische und reflexive, lern- und leistungsbezogene etc. Fähigkeiten identifiziert werden, die man im Kontext Ästhetischer Erziehung

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und Bildung erwerben kann. 1993 haben dann Didi u.a. in einem Resümee 600 sog. Schlüsselqualifikationen beschrieben, die in diesem Kontext zu verschiedenen Zeiten relevant waren, etwa Durchhaltevermögen, Anpassungsfähigkeit, Taktgefühl, Phantasiefähigkeit, Kreativität u.a. Doch ist weder geisteswissenschaftlich-normativ noch sozialwissenschaftlich-empirisch geklärt, welche Ziele inwieweit durch Ästhetische Bildung verfolgt werden sollen, bzw. welche auch verwirklichbar sind. So sind etwa zwischen den durch die Beschäftigung mit der Kunst sich ergebenden Bildungszielen Autonomie und Authentizität oder auch zwischen Selbstverwirklichung und Solidarität nicht geklärte normative Widersprüche auszumachen; und es ist empirisch ebenso ungeklärt, ob sich etwa die genannten ästhetischen Kompetenzen ausschließlich dem Kunstunterricht in der Schule verdanken und ob diese auch für das spätere Leben „nachhaltige“ Relevanz besitzen. Institutionelle These: Damit verbunden ist vor allem die bis heute andauernde Auseinandersetzung um den pädagogischen Status der Kunst und um den künstlerischen Status des Pädagogik. So kann eine Geschichte der Ästhetischen Bildung ohne Mühe dokumentieren, dass die Instrumentalisierung der Ästhetik für politische, soziale, religiöse etc. Zwecke ein durchgängiges pädagogisches Modell bildet. Mit dem sich seit der Aufklärung etablierenden neuen Verständnis der Kunst, der Erweiterung der Philosophie durch eine eigenständige Ästhetik, der zunehmenden Bedeutung von Subjektivität und Individualität und nicht zuletzt durch die bildungstheoretischen Überlegungen in Folge der Theorien von Herder und Humboldt, lässt sich Ästhetische Bildung allerdings kaum mehr auf objektivierbare, allgemeine Geschmackskriterien, außerästhetische soziale Lernzielstandards und Instrumentalisierungen aller Art beziehen. Insofern ist es fraglich, inwieweit die Ästhetischen Bildungsprozesse als Pädagogisierung durch die Ästhetik, als Didaktik der Kunsterziehung zur Ästhetik, oder zunächst als individuelle Ästhetische Bildungsprozesse im ästhetischen Kontext verstanden werden müssen. Anthropologische These: Obwohl sich ästhetische Wahrnehmungen und Erfahrungen auch an nicht künstlerischen Gegenständen gewinnen lassen, besitzen kunstförmige Gegenstände insofern eine erhöhte bildungstheoretische wie -praktische Bedeutsamkeit, als sie in der Lage sind, ein verdichtetes Spiel von Erscheinungen und Bedeutsamkeiten zu evozieren. Diese Einschätzung trifft so24

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wohl auf die antike wie mittelalterliche Idee der Kunst als techne – als ein praktisches, auf Herstellung zielendes Wissen, ein regelorientiertes Handwerk –, wie auf die neuzeitliche Kunstvorstellung, als kreatives, dem Neuen, Originellen und Irritierenden verpflichtetes Schaffen, zu (vgl. Ullrich 2005). Denn seit dem Beginn der Neuzeit hat die Kunst nicht mehr (nur) die Funktion, das Zweckmäßige und Notwendige hervorzubringen, sondern auch diejenige, die Möglichkeiten des Lebens zu vervielfältigen. Während der Kunst in der Antike und dem Mittelalter Verbindlichkeit, Strenge, Kodifizierung und Verpflichtung zukam, wird die Kunst in der Moderne oftmals mit dem Veränderlichen, Möglichen, Virtuellen und Originellen in Verbindung gebracht. Heute versteht man unter Kunst in der Regel nicht die aus der Praxis ableitbaren Regeln oder die Mimesis der wahren Wirklichkeit, sondern Kunst hat mit Kreativität, Erneuerung, Expressivität und Schöpferischem zu tun. Dass Kunst Menschen in einer, mit kaum einer anderen Lebenspraxis zu vergleichenden, Intensität zu bilden imstande ist, haben Erzieher zwar seit Platons Zeiten immer wieder gefürchtet, aber auch in ihrem Sinne instrumentell zu nutzen gewusst. Kunstwerke und kunstspezifische Handlungsformen sind immer auch Ausdruck und Reflexion eines, je nach historisch-kultureller Situation, spezifisch gestalteten menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses, das in seiner Gestaltung, Wahrnehmung und Erfahrung für die Pädagogik immer – und auch und gerade in ihren kunstkritischen und -negierenden Tendenzen – hoch bedeutsam war. Denn Kunst hat es von Hause aus mit Wahrnehmung, Ausdruck, Gestaltung und Darstellung, eben mit Sinnlichkeit zu tun. Es ist der Körper-Leib, der als die eigentliche Arena Ästhetischer Bildung gelten muss. Ästhetische Bildung ist nicht nur Kampf um den Geist, sondern vor allem Kampf um den Körper.

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EINLEITUNG

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Zeiten

Eckhard Roch

Die Querelle des anciens et des modernes in der Musik

Vorspiel Der 27. Januar 1687 war ein denkwürdiger Tag in der Geschichte der Ästhetik. Ludwig XIV. war von einer langen Krankheit genesen. Aus diesem Anlass trug Charles Perrault in der Académie française sein Gedicht „Le siècle de Louis le Grand“ vor. Charles Perrault war Jurist von Beruf, aber bei Hofe zugleich als brillanter Literat und Unterhalter geschätzt. Als Günstling des mächtigen Ministers Colbert verwaltete er ab 1662 die königlichen Kunstwerke und war später als Oberaufseher der königlichen Bauvorhaben auch maßgeblich an der Erbauung des Versailler Schlosses beteiligt. Ebenfalls mit Hilfe Colberts wurde er 1671 Mitglied der Academie und zu deren Sekretär ernannt. Das Gedicht, das dieser einflussreiche Mann an jenem denkwürdigen Tag in der Akademie vortrug, war ein Huldigungsgedicht an den König. Er pries darin das Zeitalter Ludwigs XIV. als Ideal der modernen Literatur und ging dabei sogar so weit, die bislang über jeden Zweifel erhabene Vorbildfunktion der Antike in Frage zu stellen. „Die schöne Antike verdiente immer Verehrung,“ hebt das Gedicht an, „Doch nie, glaubte ich, Anbetung. Ich sehe die Menschen der Antike, ohne die Knie zu beugen, Sie sind groß, das ist wahr, doch Menschen wie wir; Und man kann den Vergleich anstellen, ohne ungerecht zu sein, Zwischen dem Zeitalter von LOUIS und dem schönen des Augustus.“

Perrault mochte sich mit dieser Lobeshymne wohl den Beifall des Königs erhofft haben. Doch er löste einen unerwartet heftigen Streit unter den Akademiemitgliedern aus, einen Streit, der bald ganz Frankreich erfasste und als die „Querelle des anciens et des modernes“ in die Geschichte eingehen sollte.

ZEITEN

Es gibt nur wenige Ereignisse in der Geschichte der Ästhetik, welche sich so genau datieren lassen. Natürlich hatte der Konflikt zwischen den „Antiken“ und „Modernen“ schon lange geschwelt, sonst wäre die Wirkung des Gedichtes wohl kaum eine so revolutionäre gewesen. Interessanterweise waren jedoch fast alle bedeutenden Autoren von Perraults Generation wie Racine, La Fontaine und vor allem Nicolas Boileau zunächst gegen seine These von der Überlegenheit der Neuzeit über das Altertum. Der Streit eskalierte, als Perrault ab 1688 die vier Bände seiner „Parallèle des anciens et des modernes“ veröffentlichte, worin er die These von der Überlegenheit der Neuzeit bekräftigte und auf nahezu alle Bereiche des Lebens übertrug. Schon wenige Jahre später setzte sich seine Ansicht allgemein durch. Die Partei der „Modernen“ hatte über das jahrhundertealte Antikeideal gesiegt. Die von Perrault ausgelöste Querelle war in erster Linie ein Streit von Literaten gewesen, obwohl im Gedicht durchaus auch von anderen Künsten die Rede war, so auch von der Musik. In der Musik war die Antike freilich immer nur mittelbar durch die Wunderberichte über die großen Musikheroen und natürlich die aus der Antike überlieferte Musiktheorie von Bedeutung gewesen. Und so beklagt Perrault nicht ohne Ironie, dass er nicht über den berühmten Arion, über Orpheus und Amphion reden könne, als Zeugen für die seltenen Wunder ihrer Zeit. Und dann gerät er ins Schwärmen über die Musik seiner eigenen Zeit: Wer habe in ihrem glücklichen Zeitalter [der Antike], dergleichen gehabt! Wenn der Vorhang sich hebt, und die Töne einer endlosen Menge von verschiedenen Instrumenten den Hörer bezaubern, indem sie eine strahlende und volltönende Symphonie gestalten, welche alle Sinne durch ihre edle Harmonie erfreut? (Perrault 1964: 165). Vermutlich dachte Perrault hier an ein Werk von Jean Baptiste Lully, eines Komponisten, der wie kein anderer den musikalischen Glanz am Hofe Ludwigs XIV. repräsentiert. Von der Musik der Antike hingegen besitzen wir – einige unbedeutende Fragmente ausgenommen – keine Musikstücke oder Melodie, sondern nur die Berichte über ihre wunderbaren Wirkungen. Da ist der von Perrault erwähnte Kitharode und Dithyrambensänger Arion, der sich, um der Ermordung durch habgierige Seeleute zu entgehen, singend ins Meer stürzte, doch auf wunderbare Weise von einem Delphin ans Land getragen und so gerettet wurde (Herodot, Historiae: 1.23f.). Und wer kennt nicht Orpheus, den berühm32

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testen Sänger des Altertums, der wilde Tiere besänftigte, Berge versetzte und Bäume tanzen ließ? Orpheus, der mit seinem lyrabegleiteten Gesang sogar die Schrecken des Hades überwand und dessen Lyra nach seinem tragischen Tode von Apollon unter die Sterne versetzt wurde als ewiges Zeichen von der Macht seiner Musik?1 Und schließlich Amphion, der mit dem Spiel seiner Lyra die Steine bewegte, so dass sie sich wie von selbst zur Mauer des siebentorigen Theben fügten? (Euripides 1966: 823f.). Das ganze Mittelalter hindurch wurden diese Wunderberichte wieder und wieder erzählt. Glaubte man ihnen, so musste diese alte Musik eine Macht besessen haben, über welche die zeitgenössische Musik nicht verfügte, denn Berge versetzen, wilde Tiere besänftigen, Volksaufstände niederwerfen, Städte aufbauen oder zerstören2, das konnte die neue Musik nicht. Während schon Perrault berechtigte Zweifel an der Größe der antiken Musik hegte, hielt man in Deutschland zunächst unbeirrt an der antiken Tradition fest. Noch Wolfgang Caspar Printz führt in seiner Historischen Beschreibung der edelen Sing- und Kling-Kunst (Dresden 1690), der ersten deutschsprachigen Musikgeschichte, alle diese Wundererzählungen auf, als seien es historische Tatsachen. Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts bricht auch die deutsche Musikgeschichtsschreibung mit dieser Tradition. In seinem Neueröffneten Orchestre (Hamburg 1713) spricht Johann Mattheson es offen und drastisch aus, „daß diese uhralte Musica Practica gegen die heutige zu rechnen ein simples elendes und kahles Wesen gehabt habe“ und – wenn man sie etwa im Original beibehalten hätte, bei uns wohl eine völlig konträre Wirkung hervorgebracht hätte. Man solle solche Autoren, welche die moderne Musik verachten und irgendwelchen „chimärischen Antiquitäten“ nachhängen, rechtschaffen widerlegen (Mattheson 1713: 8). Damit ergriff Mattheson unmissverständlich die Partei der „Modernen“ und die musikalischen Wundererzählungen wurden endgültig ins Reich der Mythen und Legenden verbannt. Die Modernen hatten nun auch auf dem Felde der Musik gesiegt. Aber hatten sie das wirklich?

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Vgl. Ps.-Apollodorus, Bibliotheca: 1.3.2; Euripides, Bakchai: 562, Iphigenie in Aulis: 1212. Vgl. die biblische Erzählung von der Zerstörung Jerichos, Josua: 6,121.

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ZEITEN

Die Geschichte der Musik lehrt, dass der Streit zwischen den Verkündern neuer Ideen und den Bewahrern des „guten Alten“ kein einmaliges historisches Ereignis des 17. Jahrhunderts war, sondern schon sehr viel früher zu beobachten ist und sich zu verschiedenen Zeiten periodisch wiederholt. Der von Perrault entfesselte Streit zwischen Anhängern des Alten und des Neuen war weit mehr als ein bloßer Literatenstreit. Er beruhte vielmehr auf einem elementaren massenpsychlogischen Prinzip, welches die Urteile über Kunst von jeher und auch bis heute steuert. Große Massen werden nicht durch logische Argumente, sondern durch bloße Behauptungen und kräftige Parolen überzeugt. Der Geschmack der Masse orientiert sich nur an ganz einfachen Modellen. Schwarz-weiß-Malerei ist die einfachste Strategie auf unsicherem Terrain. Das Begriffspaar „antik – modern“ ist ein solcher simpler Maßstab der ästhetischen Wertung. Differenziertere Urteile hat es zwar zu allen Zeiten auch gegeben, aber sie lassen sich großen Menschengruppen kaum vermitteln. Das Denken in Gegensätzen ist ein stark vereinfachendes Denken, und es ist daher auch die gefährliche Praxis aller Ideologien! Die Simplizität des Urteils der Massen wird aber aufgewogen durch die Vehemenz, mit der man es festhält und verteidigt. Ideale werden verteidigt, Feindbilder bekämpft und immer neu projiziert. Gerade die Musik ist mehr als andere Künste in das Gegensatzdenken von alt und neu eingespannt, da sie bekanntlich kein natürliches Darstellungsobjekt besitzt. Sie ist mehr als andere Künste dem Zeitgeschmack und seiner nachträglichen Legitimation, der (ideologischen) Theorie ausgeliefert. Damit sind zugleich die idealen Voraussetzungen für die Ausbildung einer Querelle gegeben. Indem der Streit eskaliert, werden dem Grundmuster antikmodern immer neue Gegenstände und immer neue Begriffspaare hinzugefügt. Das so entstehende Begriffsreservoir bildet eine Art kollektives Gedächtnis, eine Art Speicher der Querelle durch die Geschichte hindurch. Antik – modern, damit ist der ästhetische Kampfplatz abgesteckt. Fast ist man versucht, von einer virtuellen Arena Ästhetischer Bildung zu reden. Die Antike ist dabei nicht nur das Vorbild einer der beiden Parteien, sondern zugleich auch die historische Zeit, der das Prinzip selbst entstammt.

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ECKHARD ROCH: DIE QUERELLE

Ethos und Ästhetik Schon Platon wird in seiner Politeia nicht müde, vor allen Neuerungen in der Musik zu warnen. Zur Begründung zitiert er Damon, den Vater der antiken Ethoslehre: Neue Gattungen der Musik einzuführen, müsse man scheuen, als wage man dabei alles; weil nirgends die Gesetze der Musik geändert würden, ohne dass zugleich die wichtigsten bürgerlichen Ordnungen in Gefahr gerieten (Platon, Politeia: 4.424 b). Was ist das eigentlich für eine Musik, der solch mächtige Wirkungen zugesprochen wurden? Wie kommt ihr mächtiges Ethos zustande? Eine für die damalige Zeit „wissenschaftliche“ Erklärung gibt Platon in seinem pythagoreischen Dialog Timaios. Der Demiurg schöpft dort die Weltseele nach den Proportionen einer diatonischen Tonleiter. Deren Zahlenproportionen gelten nach pythagoreischer Vorstellung nicht nur im Makrokosmos, sondern auch Mikrokosmos, also der menschlichen Seele. Wenn aber Kosmos und Mensch nach den gleichen musikalischen Proportionen aufgebaut sind, so führt eine Veränderung in der einen Sphäre notwendig auch zu einer Veränderung in der anderen. Anschaulich wird dieser Zusammenhang in einer bei Boethius überlieferten Erzählung dargestellt. Ein Jüngling war durch das Spiel einer phrygischen Tonweise in Raserei geraten. Pythagoras, der den Vorfall in den Sternen beobachtet hatte, kam hinzu und riet, einen dorischen Spondeion, jene getragene Weise mit zwei Verslängen, zu spielen und der Jüngling beruhigte sich sofort (Boethius 1966: 184, 10-185, 9). Das Dorische galt den konservativen Griechen als ruhige, besonnene Tonart. Der phrygischen Tonart hingegen schrieb man eine aufpeitschende Wirkung zu. Vom ästhetischen Standpunkt gesehen, müssten beide Tonarten daher nicht nur einen diametral entgegengesetzten Charakter, sondern ebenso eine entsprechende Intervallstruktur besitzen. Dem ist aber nicht so. Beide Tonarten sind diatonische Skalen, die sich nur in der Lage des Halbtones unterscheiden. Wie aber soll dieser kleine Unterschied eine solch gravierende Wirkung hervorbringen? Eine soziologische und durchaus auch nach heutigen Maßstäben triftige Erklärung des Ethos von musikalischen Melodien gibt Platon in seinem Alterswerk, den Nomoi. Die Musik sei in alter Zeit bei den Griechen in ihre besonderen Gattungen und Arten ge-

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teilt gewesen, schreibt er dort. Eine Gattung des Gesanges waren Gebete an die Götter, welche mit dem Namen von Hymnen bezeichnet wurden; andere nannte man Threnen (Trauergesänge); eine andere waren die Päane (Hymnen an Apollon), eine weitere war der sogenannte Dithyrambos (Dionysos gewidmet) und schließlich eine letzte nannte man geradezu (musikalische) Nomoi, Gesetzweisen. Alle diese und noch einige andere Arten hätten nun ihre festbestimmte Ordnung gehabt, und es sei nicht gestattet gewesen, die eine Sangesgattung an Stelle einer anderen zu gebrauchen (Platon, Nomoi: 3. 700 a-e; vgl. ebd.: 7. 797 b-c; 7. 815 b; Politeia 4. 424 b). So weit Platon. Die musikalischen Weisen erhalten ihr Ethos demzufolge durch ihren klar definierten Gebrauch, d.h. ihre kulturelle Funktion und nicht ihre innermusikalische Struktur. Später aber seien die Dichter, fährt Platon fort, die ersten Urheber der jetzt herrschenden Gesetz- und Geschmacklosigkeit geworden, indem sie nämlich Threnen mit Hymnen und Päane mit Dithyramben verbanden, Aulosweisen im Kitharaspiel nachahmten und (überhaupt) alles Mögliche miteinander vermischten (Platon, Nomoi: 3. 700 d). Worauf Platon hier anspielt, ist die Institution des musikalischen Agons, jene musikalische Arena, auf welcher die zuvor funktional eindeutig bestimmten musikalischen Weisen aus ihrem Zusammenhang gerissen und mit anderen Weisen „vermischt“ wurden, so dass sie ihr Ethos allmählich verloren. Es handelt sich dabei um einen Prozess, der etwa um 700 v. Chr. beginnt und um 500 v. Chr. seinen Höhepunkt erreicht. Das Urteil über Musik fällt nun – wie Platon drastisch formuliert – dem Beifallsklatschen oder Zischen und rohen Geschrei der Menge anheim (ebd.). Der musikkulturelle Wandel, den Platon hier beschreibt, kommt geradezu einem Paradigmenwechsel gleich, dem Wechsel von der alten Ethoslehre zu einer modernen Ästhetik. War das mächtige Ethos in der „guten alten Zeit“ durch die eindeutige Funktion einer musikalischen Weise zustandegekommen, so verliert sich dieses nun und wird fortan von einer schwer zu definierenden Ästhetik bestimmt. Das neue Paradigma der Ästhetik setzte sich allerdings nur allmählich durch und wurde von den Anhängern der alten Ethoslehre, unter ihnen eben auch Platon, heftig bekämpft. Dennoch ist Platon kein Reaktionär. Seine Klage über den Verfall der Musik in 36

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moderner Zeit wird verständlich, wenn man den Verlust bedenkt, der mit den Neuerungen der Musikkultur verbunden ist. Die Auflösung der kultischen Musikordnung geht mit dem Verlust der alten Wertmaßstäbe einher. Ein Dokument der Gegenpartei, also der „Modernen“, ist zumindest teilweise im ältesten musikalischen Papyrus-Fragment, der sog. Hibeh-Rede (um 390 v. Chr.) erhalten und gibt Zeugnis von diesem Werteverfall. Der unbekannte Autor spottet über die Verfechter der alten Ethoslehre, weil sie behaupten, dass von den Melodien uns die einen mäßig, andere verständig, andere gerecht, andere tapfer, andere furchtsam machen, ohne zu bedenken, dass weder die Chromatik Furchtsamkeit, noch die Enharmonik Mannesmut bei denen, die sich ihrer bedienen, zu erzeugen imstande ist (Abert 1906: 80). Hier ist also ein Klanggeschlecht, nämlich die sog. Chromatik, welche nach der Ansicht der Alten furchtsam und feige macht, und zwar aufgrund seines Gebrauchs in ganz bestimmten musikalischen Zusammenhängen wie beispielsweise dem Threnos, der Klageweise. Aber der Autor der Hibeh-Rede versteht das alte Ethos nicht mehr, er interpretiert dessen Aussagen mit Hilfe einer modernen, an musikalischen Parametern orientierten Ästhetik. Ästhetisch aber, d.h. anhand musikalischer Parameter, lassen sich die musikalischen Wunder der alten Zeit nicht erklären. Es fehlt ihnen die musikkulturelle Grundlage. Dennoch lebte die alte Lehre in der Tradition noch lange fort. Den Anhängern des guten Alten wiederum konnte die neue Musik nur als ein Zeichen des Niedergangs und Verfalls erscheinen. So in einem Komödienfragment des Pherekrates, in welchem die Frau Musica auf der Bühne erscheint, um jene Musiker zu verklagen, welche sie mit ihrer Chromatik vergewaltigt und zerstückelt haben (Ps.-Plutarch, De musica: 1142. A. 9). Unter ihnen Timotheos von Milet, ein Musiker, der den stolzen Wahlspruch hatte, er singe nicht die alten Weisen, sondern seine eigenen neuen, weil diese besser seien. Ein spartanisches Gericht warf ihm vor, dass er mit seinen neuen Melodien die Jugend gefährde, weshalb man die überzähligen Saiten aus seinem zwölfsaiten Instrument wieder herauszuschnitt (Boethius 1966: 182f). Ein konservativer Schriftsteller wie Platon ist auch PseudoPlutarch aus spätantiker Zeit, welcher dem Stil der „Modernen“ seiner Zeit explizit den Stil der „guten alten Zeit“ gegenüberge37

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stellt. Dabei nennt er auch konkrete Komponistennamen: Olympos, Terpandros, Polymnastos, Thaletas und Sakadas, Alkman und Stesichoros, Pindaros, Simonides und andere auf der Seite der „Alten“ und Melanippides, Kinesias, Phrynis, Timotheos, Krexos, Philoxenos auf der Seite der „Modernen“. Allgemein vertritt Ps.Plutarch die Überzeugung, die Kompositionen jener altehrwürdigen Musiker seien ethisch wertvoller, weil schlichter und einfacher, gewesen. Als besondere Tugend der „Anhänger des Pindarischen und Simonideischen Stiles“ hebt er hervor, dass sie sich alle mit Vorbedacht des Chromas, der Metabole, des weiten Tonumfanges und vieles anderen, was an Rhythmen, Tonarten und Metren üblich sei, enthalten hätten (Ps.-Plutarch, De musica: 1137. F. 41138. A. 2). Die Neueren hätten eine Vorliebe für viele Töne, die Älteren dagegen für mannichfache Rhythmen gehabt (ebd.: 1138. B. 10-1138. C. 1). Weiter Tonumfang, Metabole, Chromatik und Vieltönigkeit – das alles sind musikalische Merkmale, aus denen sich schließen lässt, dass die modernen Komponisten seiner Zeit wie Kinesias, Phrynis oder eben Timotheos in einem virtuosen, ornamentreichen Stil gespielt und komponiert haben müssen. Agonen-Preisstil nennt Ps.-Plutarch abwertend diesen Stil. Der Kampf des „guten Alten“ und des „verwerflichen Neuen“ ist alt, so alt, dass sogar der antike Mythos Beispiele dafür enthält. Das berühmteste davon ist wohl der musikalische Wettstreit zwischen dem Gott und Musenführer Apollon mit dem Silen Marsyas. Es handelt sich bei dieser Erzählung um nichts anderes als die mythische Fassung eines musikalischen Agons. Einst hatte die Göttin Athena ein doppelröhriges Blasinstrument, den Aulos, erfunden, um damit die Totenklage der Schwestern der Medusa nachahmen zu können. Als sie jedoch bemerkte, dass das Spiel auf diesem Instrument ihr Gesicht entstellte, warf sie es wütend weg. Der Silen Marsyas aber hob das Instrument auf und brachte es darauf zu solcher Virtuosität, dass er – übermütig geworden – sogar den Gott Apollon zum Agon herausforderte. Apollon ging darauf ein, stellte aber die Bedingung, dass der Sieger mit dem Unterlegenen nach seinem Belieben verfahren könne. Apollon spielte zuerst auf seiner Kithara. Dann versetzte Marsyas seine Zuhörer mit dem Aulos in Erstaunen und erntete sogar mehr Beifall als Apollon. Daraufhin spielte Apollon zum zweiten Male, indem er nun eine Sangesweise mit Begleitung der Kithara vortrug. Dem konnte 38

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der Aulet Marsyas natürlich nicht folgen, und so errang Apollon den Sieg. Zur Strafe für seine Vermessenheit ließ Apollon dem unglücklichen Silen die Haut vom Leibe ziehen (Vgl. Xenophon, Anabasis: I, 2. 8; Herodot, Historiae: VII, 26. 3). Eine blutrünstige Geschichte? Nein. Der Mythos erzählt vom historischen Konflikt zwischen der alten dorischen mit der neuen phrygischen Musik, bei dem es zwar nicht um Mord und Totschlag, aber doch um Sein oder Nichtsein ging. Im 7. Jahrhundert v. Chr. strömte eine große Zahl von phrygischen Aulosspielern ins griechische Mutterland. Sie brachten neue Melodien und bisher ungeahnte technische Fertigkeiten mit sich, die jene schlichten Weisen der alten dorischen Musik in den Schatten stellten. Vor allem die klangvollen, diatonisch und chromatisch spielenden Auloi erfreuten sich großer Beliebtheit, mussten den konservativ gesinnten Dorern jedoch schon bald als eine Bedrohung ihrer altehrwürdigen Tradition erscheinen. Der Mythos von Apollon und dem aulosspielenden Silen Marsyas beschreibt diese Auseinandersetzung, wobei aus konservativer Sicht natürlich die alte dorische Musik den Sieg über die moderne phrygische Musik davonträgt. Es kommt aber noch ein zweiter Aspekt hinzu: Apollon siegt nicht nur als Kitharist, sondern als Kitharode über den Aulosbläser, d.h. es siegt der Sänger über den bloßen Instrumentalisten. Ja, es gab den Kampf zwischen der Vokalmusik und Instrumentalmusik schon in der Antike, wobei erstere der Tradition der Alten, letztere der Praxis der Modernen entsprach. Platon hielt es auch hier wiederum mit den Alten, während er die Instrumentalmusik als bloße Fingerfertigkeit abtat. Die Auloi, welche in der Antike als vielsaitigste (!) Instrumente galten, weil sie z.B. ohne weiteres chromatisch spielen konnten, verbannte er sogar aus seinem Staat. Berühmt wurde in diesem Zusammenhang Platons Musikdefinition aus der Politeia (398c-d), nämlich die Feststellung, dass ein Melos (Lied) aus dreierlei zusammengesetzt sei: aus Logos (Rede), Harmonia (Tonart) und Rhythmus (Zeitmaß). Es dürfte kaum einen anderen Ausspruch Platons geben, welcher für die europäische Musikgeschichte folgenschwerer war, als diese Definition. Wir machen jetzt einen großen historischen Sprung und landen in der Renaissance, also jener Zeit der europäischen Geschichte, in der man sich nach der Zeit des „finsteren“ christlichen Mittelalters wieder auf das „lichtvolle“ Zeitalter der heidnischen Antike besann. 39

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Favola in Musica Die antike Dichtung und Skulptur inspirierten die KunstBegeisterung dieser Zeit, in der Musik jedoch fehlten – wie wir schon wissen – vergleichbare Monumente. Die bei Alypios aufgeführten Hymnen des Mesomedes (2. Jh. n. Chr.) waren zwar durch Vincenzo Galileis Dialogo della musica antica e moderna, Florenz 1581, allgemein zugänglich geworden, aber wohl kaum geeignet, die wunderbaren Wirkungen der antiken Musik zu demonstrieren. Die Legenden vom mächtigen Ethos der Musik waren über das Mittelalter hinweg tradiert worden, aber angesichts der eigenen, inzwischen hochentwickelten Musikkultur kamen spätestens im 16. Jahrhundert Zweifel an der überragenden Qualität der antiken Musik auf. Die Fachwelt war gespalten. Theoretiker wie Gafurius, Artusi, Salinas und Cerone hatten nur ein rein gelehrtes Interesse an der antiken Musik; sie waren mit der Musik ihrer Zeit zufrieden. Anhänger der Antike waren hingegen Tyard, Galilei, Mei und Doni. Für sie stellte sich die Frage, warum die zeitgenössische Musik keine der antiken Musik vergleichbaren Wirkungen hervorbringe (Walker 1949: 9). Diese Frage beschäftigte auch einen Kreis engagierter Literaten und Musiker um den Grafen Bardi in Florenz, die sog. Florentiner Camerata, welche sich ganz praktisch um die Wiederbelebung der antiken Musik bemühte. In diesem Kreis fand man auch eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen der großen Wirkung der antiken Musik. Man kam nämlich zu dem Ergebnis, dass nicht die antike Musik allein, sondern ihre Einheit mit der Sprache, die seither verlorengegangen war, der Grund für ihr gewaltiges Ethos gewesen sein müsse (ebd.: 13). Das ästhetisch entscheidende Argument war dabei die auf Platon zurückgehende These, dass dieses Ethos nur durch die Einheit von Logos, Harmonia und Rhythmos wiedergewonnen werden könne (Platon, Politeia: 398c 11-398d 12). Praktische Erfahrungen, beispielsweise der große Erfolg der Intermedien zum Schauspiel La pelegrina im Rahmen der Fürstenhochzeit des Jahres 1589 in Florenz, führten die beteiligten Musiker wie Jacopo Peri und Giulio Caccini mit ihrem Textdichter Ottavio Rinuccini zur Schaffung einer neuen dramatischen Gattung, in welcher der Text durchweg gesungen wurde. „Favola in Musica“ nannte man diese neue Gattung zunächst, aus welcher später die „Oper“ werden sollte. „Favola“ ist das lateinische Wort

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für Fabel, welches im Griechischen Mythos heißt. Und auf die alten griechischen Mythen griff man um 1600 auch zurück. Die Neuartigkeit dieser „Favola in musica“ für den Komponisten beschreibt Peri im Vorwort zu seiner Euridice, der ersten vollständig erhaltenen Oper der Geschichte. Sofort habe er erkannt, schreibt er dort, dass es sich bei dieser Dichtung (sie stammte von Ottavio Rinuccini) um eine dramatische Gattung handelte und der Gesang deshalb im Grunde einen Sprechenden nachzuahmen hatte. Recitar cantando nannte er das. Zweifellos nimmt Peri hiermit Bezug auf die Ideen der Florentiner Camerata, die sich mit ihrer These, dass die Dramen in der Antike durchweg gesungen worden seien und dabei Rhythmus und Harmonia (Melos) dem Wort folgen müssten, auf Forschungen des Philologen Girolamo Mei berief.3 Prima le parole, lautete die Devise. Wie man sich das gesungene Drama der Antike um 1600 vorstellte, bezeugt beispielsweise das berühmte Lamento des Orfeo aus Peris Euridice. Die Rückkehr zur Antike war offenbar nicht möglich ohne eine drastische Beschränkung der Musik auf reine Textdeklamation. Da hatten die Madrigale, Motetten und Messen des 16. Jahrhunderts musikalisch doch mehr zu bieten gehabt. Die Musik von Peris ist dermaßen an der Sprache, dem Text der Favola orientiert, dass sie aufgrund ihrer Simplizität eigentlich nicht wiederholbar war. Zum Ausbruch einer musikalischen Querelle kam es bei Peri daher noch nicht. Aber schon wenig später, als kein geringerer als der berühmte Kapellmeister an San Marco, Claudio Monteverdi, sich mit seinem Orfeo, uraufgeführt im Jahre 1607, der neuen Gattung zuwandte, da brach der Streit aus. Giovanni Artusi, Schüler des seinerzeit bedeutendsten Musiktheoretikers Gioseffo Zarlino, griff – ohne dessen Namen zu nennen – Monteverdis neuen monodischen Stil scharf an, indem er ihm eklatante Verstöße gegen den Kontrapunkt (insbesondere die freie Dissonanzbehandlung) vorwarf. Monteverdi antwortete im Vorwort zu seinem 5. Madrigalbuch (1605) eigentlich versöhnlich, indem er zwei unterschiedliche Stilarten als gleichberechtigt nebeneinanderstellte, die er „prima pratica“ und „seconda pratica“ nannte. Die „prima pratica“, welche Artusi verteidigte, ist die polyphone, kontrapunkti3

Eine umfassende Darstellung der verschiedenen Argumente für und gegen diese Theorie gibt wiederum Daniel Pickering Walker (1949). Zum Problem der Antikerezeption durch die Florentiner Camerata vgl. auch Egert Pöhlmann (1969).

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sche Musik des 16. Jahrhunderts, der sog. Palestrinastil, welcher auf dem Konzil zu Trient (1545-1563) selbst einmal als Rückbesinnung auf das „gute Alte“ verstanden worden war. Die „seconda pratica“ hingegen ist der neue monodische Stil Peris und Monteverdis, der die Melodiestimme hervorhob und dieser basierend auf dem Generalbass alle anderen Stimmen unterordnete. Da diese Monodie sich am antiken Vorbild orientierte, galt sie als „antik“, der polyphone Palestrinastil hingegen paradoxerweise als „modern“. Schon hier wie später bei Glucks Opernreform oder Richard Wagners musikalischem Drama besteht die Paradoxie der Querelle darin, dass die „Antiken“ den realen musikalischen Fortschritt, die „Modernen“ aber die Reaktion vertreten. So auch bei unserem nächsten Konflikt. Am 1. August 1752 entfachte die Aufführung von Pergolesis Intermezzo La serva padrona durch eine italienische Operntruppe unter Eustachio Bambini in Paris den schon längere Zeit schwelenden Streit um die Vorherrschaft der französischen oder italienischen Oper – es kam zur sog. Querelle des Bouffons, dem Buffonistenstreit. In dieser Kontroverse standen sich die Coin du Roi (Loge des Königs), welche die französische Oper vertrat, und die Coin de la Reine (Loge der Königin), welche die italienische Oper bevorzugte, gegenüber. Zur ersteren gehörten die Anhänger von Jean-Baptiste Lully und Jean-Philippe Rameau; zur gegnerischen Partei Denis Diderot und Jean-Jacques Rousseau. Rousseau heizte die Debatte an, als er in seiner Schrift Lettre sur la musique françoise (November 1753) eindeutig die Partei der italienischen Musik ergriff. Ausgehend von der These des Abbé Dubos, dass der Ursprung der Musik in der Sprache zu suchen sei, weshalb auch ihr ästhetischer Zweck einzig in der Nachahmung der Sprache bestehe, sprach er der französischen Sprache schlichtweg ab, zur Vertonung geeignet zu sein. Diese Auffassung von der Musik als Nachahmung der Sprache bedeutete natürlich nichts anderes als die Vorherrschaft der Sprache über die Musik, eine These, von der bekanntlich auch die Florentiner Camerata bei der Begründung der Monodie ausgegangen war. Es überrascht daher nicht, dass Rousseau seinen Gegner Rameau mit Kategorien bekämpft, die ursprünglich der prima pratica zugehören: Harmonie, Polyphonie im Gegensatz zu Monodie und Melodie, welche der seconda pratica, also dem Lager der „anciens“ entstammen 42

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(Dahlhaus 1978: 52f.). Die Loge des Königs vertrat somit die Position der „Modernen“, die der Königin die Position der „Alten“. Die Tendenz der „Modernen“, der Musik gegenüber dem Text größere Freiheiten einzuräumen, die im Grunde schon mit Monteverdis Opern begonnen hatte, führte im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts zu musikalischen Auswüchsen, welche schließlich Christoph Willibald Gluck mit seiner Opernreform bekämpfte. Wie er in der Widmung seiner Reformoper Alceste schreibt, war es ihm vor allem darum zu tun, die Musik auf die ihr zukommende Aufgabe, nämlich den Dienst an der Fabel und den dramatischen Ausdruck zu beschränken, ohne die Handlung durch lange Arien und unnötigen Zierrat der Sänger zu unterbrechen (Gluck 2005: X). Nach dem Erfolg seiner Reformopern in Wien, beschloss Gluck Anfang der 1770er Jahr nach Paris zu gehen. Aber schon mit der Erstaufführung seiner Oper Iphigénie en Aulide am 19. April 1774 spaltete er das Publikum. Seine Gegner beriefen sich auf den italienischen Maestro Niccolò Piccini, um die Überlegenheit des italienischen Opernstils gegenüber Gluck zu beweisen. Es kam zum berühmten Streit der Gluckisten und Piccinisten, der im Grunde den alten Buffonistenstreit wieder aufgriff, diesen an Heftigkeit aber bei weitem übertraf. Dieser Streit ist als ein regelrechter Musikkrieg bezeichnet worden, denn in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß nahm die Öffentlichkeit, nahm „ganz Paris“ daran anteil.

Vokalmusik und Instrumentalmusik Mit der Geschichte der Oper war die Entwicklung einer instrumentalen Gattung verbunden – der Sinfonia in Italien und der Ouvertüre in Frankreich. Ursprünglich hatte diese musikalische Gattung nur eine Einleitungsfunktion zur Oper besessen. Gerade die Forderung Glucks, dass die Ouvertüre den Hörer auf die nachfolgende Szene vorbereiten solle, führte jedoch zur dramatischen Gewichtung und schließlich allmählichen Verselbständigung dieser Gattung. Wenn die Ouvertüre Inhalte oder Affekte der Handlung in sich aufnahm, konnte sie unter Umständen auch ohne nachfolgende Oper aufgeführt werden – als Konzertouvertüre oder Konzertsymphonie. Und hier setzt nun eine musikhistorisch bedeutsame Entwicklung der deutschen Komponisten ein, welche

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bislang immer im Schatten der Italiener und Franzosen gestanden hatten. Am Hofe des Mannheimer Fürsten Karl Theodor gelangte die instrumentale Gattung der Symphonie um 1750 unter dem Kapellmeister Johann Stamitz zu einem ersten Höhepunkt. Die Symphonien, die Stamitz im Paris veröffentlichte, galten als so typisch deutsch, dass sie den Namen „Melodia germanica“ erhielten. Der Erfolg der Gattung Symphonie leitete den Siegeszug der Instrumentalmusik Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts ein. Wenn die Instrumental-Symphonie als Opern-Symphonie klar durch ihre Einleitungsfunktion legitimiert gewesen war, so kam jetzt allerdings die Frage auf, was diese „Musik ohne Sprache“ eigentlich bedeutete. War sie ein bloßer Sinnenkitzel und leerer Schall und Rauch? Oder verbarg sich doch mehr dahinter? Johann Georg Sulzer fällte in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste noch unverhohlen ein abfälliges Urteil über die instrumentalen Gattungen: „In die lezte Stelle sezen wir die Anwendung der Musik auf Concerte, die blos zum Zeitvertreib und etwa zur Uebung im Spiehlen angestellt werden. Dazu gehören die Concerte, Symphonien, die Sonaten, die Solo, die insgemein ein lebhaftes und nicht unangenehmes Geräusch, oder ein artiges und unterhaltendes, aber das Herz nicht beschäftigendes Geschwäz vorstellen“ (Sulzer 1774: 788).

Für Sulzer setzte die „wahre Musik“ immer noch die Einheit von Logos, Harmonie4 und Rhythmus, wie Platon es einst behauptet hatte, voraus. Ganz anders lautet jedoch die Erklärung der Symphonie in dem von Johann Abraham Peter Schulz stammenden Artikel des gleichen Werkes: „Symphonie. (Musik) Ein vielstimmiges Instrumentalstük, das anstatt der abgekommenen Ouvertüren gebraucht wird“. Man könne die Symphonie mit einem Instrumentalchor vergleichen, so wie die Sonate mit einer Instrumentalcantate.“5 Es muss zunächst nicht verwundern, dass Schulz die neue Gattung der Instrumentalmusik mit einer bekannten Gattung der 4 5

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Wobei Harmonia jetzt nicht mehr das Tonsystem wie in der Antike, sondern die Harmonik im modernen, akkordischen Sinne bedeutet. Johann Abraham Peter Schulz, Art. „Symphonie“, in: Sulzer 1774: Bd. 2: 1121f.

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Vokalmusik vergleicht. Einen anderen Maßstab gab es ja noch nicht. Hervorzuheben ist jedoch in dieser Definition die Vielstimmigkeit, die Polyphonie. Auch Ludwig Tieck (1984: 354) lobte an den Symphonien vor allem die schöne Verworrenheit (d.h. Verflechtung) der Stimmen. Das hatte eine schwerwiegende Konsequenz. Der Vergleich mit der sprachgezeugten Vokalmusik legte nämlich eine einfache Überlegung nahe: Wenn die Musik bei der Vertonung eines Textes die zur Sprache gehörigen Empfindungen ausdrückte, so konnte diese Musik ohne Text eigentlich nur die „Sprache der Empfindungen“ sein. Die Musik sei eine „wunderbare Erfindung zur Aufbewahrung der Gefühle“, schrieb der mit Tieck eng befreundete Wilhelm Heinrich Wackenroder (1984: 312). Freilich war diese musikalische „Sprache“ dunkel, denn es bereitete große Schwierigkeiten, wenn man ihren Inhalt in rationalen Begriffen wiedergeben wollte. Aber die Zeit der sogenannten Empfindsamkeit hielt die Empfindungen ohnehin für viel wichtiger, weil existentieller, als abstrakte Begriffe. Sowohl in der Musik als auch der Wortsprache, schrieb Ludwig Tieck, könne der Mensch nur hantieren und spielen. Und sei es da nicht gleichgültig, ob er in Gedanken oder Instrumentestönen denkt? (Tieck 1984: 348). Plötzlich scheinen Musik und Wortsprache auf eine gemeinsame Ebene gehoben zu sein. Und gleich darauf kippt das Gleichgewicht sogar zugunsten der Musik um, wenn Tieck erklärt: Gewiss würde die Musik als dunklere und feinere Sprache dem Menschen oft mehr als die Wortsprache genügen (ebd.). Was soeben noch ein Nachteil der Musik gegenüber der Wortsprache gewesen war – die Unbestimmtheit ihrer „Gedanken“ – wird also plötzlich umgedeutet in einen Vorzug. In seiner berühmten Rezension zu Beethovens 5. Sinfonie (1810: Sp. 361) schreibt E.T.A. Hoffmann: „Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äussern Sinnenwelt, die ihn umgiebt, und in der er alle durch Begriffe bestimmbaren Gefühle zurücklässt, um sich dem Unaussprechlichen hinzugeben.“

Die Instrumentalmusik, die gerade noch der bloßen Sinnlichkeit verfallen schien, wird damit zum Reich reiner Geistigkeit erhoben. Aber mehr noch: Hoffmann meint nämlich, dass nur diese Musik, die nicht mehr der Beimischung einer anderen Kunst bedarf, die

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eigentliche Musik sei. Eine solche Behauptung kam um 1810 einem regelrechten Paradigmenwechsel gleich (vgl. Dahlhaus 1978: 7). Es ist der zweite in der Geschichte der Musik, der Wechsel vom Paradigma der Vokalmusik zum Paradigma der Instrumentalmusik oder „absoluten“ Musik, wie sie später genannt werden sollte. Jene Schlachtmusiken und Battaglien der sogenannten Programmusiker, welche eben nicht autonom sind, sondern einer anderen Kunst bedürfen, geißelt Hoffmann hingegen als hoffnungslose Verirrungen des musikalischen Geschmackes, weil sie die unplastischste der Künste, die Musik, plastisch aufgefasst hätten (Hoffman 1810: 637). Für Hoffmann war jede plastisch-musikalische Nachahmung überhaupt Musik minderer Qualität. Auf die Frage, worin denn der Sinn einer Symphonie bestehe, gab Hoffmann eine semiotisch tiefgründige Antwort: Die Symphonie gleiche einem musikalischen Drama (zit. nach Dahlhaus 1978: 17). Das Drama hat bekanntlich keinen Erzähler, sondern besteht in der lebendigen Interaktion seiner Protagonisten. Wenn die Symphonie somit gleichsam als Drama der Instrumente aufgefasst werden konnte, so erübrigte sich die Frage nach der sprachlich gefassten Bedeutung von selbst. Bei Hoffmann stehen sich also nicht nur Vokal- und Instrumentalmusik gegenüber, sondern überhaupt antik-heidnische Plastik und modern-christliche Musik. Das System der begrifflichen Antithesen, welches Hoffmann dem angesammelten Repertoire der Querelle des anciens et des modernes hinzufügt, erreicht seine höchste Dichte in seiner Schrift Alte und neue Kirchenmusik (erschienen AMZ Jg. XVI 1814). „Die ältere Kirchenmusik der Italiener verhält sich zu der neueren deutschen wie die Peterskirche zum Straßburger Münster“, mit diesem gewagten Gleichnis beginnt der Musiker Theodor (in welchem sich nur zu deutlich Hoffmann selbst porträtiert) den Dialog über das besagte Thema. „Die grandiosen Verhältnisse jenes Baues erheben das Gemüt, indem sie kommensurabel bleiben; aber mit einer seltsamen inneren Beunruhigung staunt der Beschauer den Münster an, der sich in den kühnsten Windungen, in den sonderbarsten Verschlingungen bunter phantastischer Figuren und Zieraten hoch in die Lüfte erhebt. Allein selbst diese Unruhe regt ein das Unbekannte, das Wunderbare ahnendes Gefühl auf, und der Geist überläßt sich willig dem Traume, in dem er das Überirdische, das Unendliche zu erkennen glaubt. Nun! und eben dies ist ja

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der Eindruck des Rein-Romantischen, wie es in Mozarts, in Haydns Kompositionen lebt und webt“ (Hoffmann 1963: 511f.).

An späterer Stelle wird das System der Querelle des anciens et des modernes sogar ausdrücklich exponiert: „Die beiden einander entgegensetzten Pole des Antiken und des Modernen, oder des Heidentums und des Christentums, sind in der Kunst die Plastik und die Musik.“ Hoffmann verwendet das Verfahren der Querelle als hermeneutisches Modell für seinen neuen Begriff einer autonomen Musik (Dahlhaus 1978: 47ff). Es besteht in dem schematischen Verfahren, gegensätzliche Begriffe analog aneinanderzureihen, als seien sie eine logische Konsequenz. Am Ende hängen alle Begriffe der Alten und alle Begriffe der Modernen untereinander zusammen, so dass aus einem Begriff sogleich lawinenenartig auch alle anderen samt ihren Gegensätzen folgen. Wenn daraus zuweilen logisch fragwürdige Folgerungen hervorgehen, wie etwa die Behauptung, Palestrinas christliche Vokalpolyphonie sei absolute Musik, weil Polyphonie und Harmonie auf Seiten der Modernen zusammenhängen und zu Monodie und Melodie auf Seiten der heidnisch-Antiken in Gegensatz stehen, so ist das nichts anderes als die Konsequenz der ideologischen Zwänge, welche ein massenpsychlogisches Phänomen wie die Querelle des anciens et des modernes notwendig ausübt.

Gesamtkunstwerk und Absolute Musik Hoffmanns Schriften übten auf kaum einen anderen Musiker einen so großen Einfluss aus wie auf Richard Wagner. Wagner, dessen erste Oper Die Feen auf eine direkte Empfehlung in Hoffmanns Phantasiestück Der Dichter und der Komponist (Hoffmann 1963: 107) zurückgeht, übernahm in seiner Schrift Das Kunstwerk der Zukunft (1848) auch das Denken in analogen Gegensätzen von Hoffmann. Wagners Kunstwerk der Zukunft ist die Frucht seiner jahrelangen Opernerfahrung und der selektiven Lektüre von philosophischen Schriften Ludwig Feuerbachs, dessen Philosophie der Zukunft er im Titel parodiert, vermischt mit revolutionären Ideen aus dem Umgang mit Revolutionären wie Michail Bakunin und August Röckel; und wie selbstverständlich greift er damit auch in die alte Querelle des anciens et des modernes ein.

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Gleich im ersten Kapitel exponiert Wagner unter der Überschrift „Natur, Mensch, Kunst“ die lapidare Behauptung: „Wie der Mensch sich zur Natur verhält, so verhält sich die Kunst zum Menschen“ (Wagner 1911: 42). Diese Behauptung ist gewissermaßen Wagners Exposition, die im folgenden nun aber nicht etwa bewiesen, sondern nur durch Anhäufung immer neuer analoger Gegensätze wiederholt und dem Leser regelrecht eingehämmert wird. Wagner nimmt hier möglicherweise auf einen Gedanken Wilhelm Weitlings Bezug, dessen Schrift Die Menschheit. Wie sie ist und wie sie sein sollte bereits zehn Jahre vor dem Kunstwerk der Zukunft erschienen war. Bei Wagner steht die Natur für die „Welt wie sie sein sollte“, der Mensch hingegen für die „Welt wie sie ist“. Der Theoretiker Wagner erweist sich auch hier als Dramatiker: Wie die Protagonisten in einem Drama werden die Kategorien einander gegenübergestellt. „Schachspiel mit Begriffsformeln“ nannte Eduard Devrient (1964: 519) treffend diese Art von Argumentation: Natur Wirklicheit Erkenntnis Notwendigkeit Unbewusstes Gefühl Sinnlichkeit Kunst usw.

/ / / / / / / /

Mensch Vorstellung Irrtum Willkür Bewusstsein Verstand Geistigkeit Wissenschaft

Der dramatische Konflikt der Begriffsformeln besteht darin, dass die Welt wie sie ist zur Welt wie sie sein sollte werden muss. Schon hier wird deutlich, dass auch Wagners revolutionärer Kunstentwurf, sein „Kunstwerk der Zukunft“, eine Rückkehr zum guten Alten ist. Das dem Text zugrundeliegende Argumentationsschema bliebe eine bloß abstrakte Konstruktion, wenn es seinen Niederschlag nicht auch im musikalischen Werk fände: In seinem Künstlerdrama Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg stehen sich die zwei Welten in Gestalt des heidnischen Venusberges und der christlichen Wartburg diametral gegenüber. Tannhäuser tritt mit seinem ekstatischen Preislied auf die antike Göttin Venus gegen

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den regelhaften Minnesang der prüden Wartburg-Ritter zum musikalischen Wettkampf an. Und Wagner findet hier erstmalig in seinem Werk auch zu einem jeweils passenden Lokalkolorit. Es sind eine modern-christliche und eine antik-dionysische Musik, die sich beim Sängerkrieg gegenüberstehen. An dieser Stelle wird nun auch deutlich, woher die Kategorien des Kunstwerks der Zukunft letztlich stammen – als der alten Querelle des anciens et des modernes. Die „Alten“ waren um 1849 aber die Anhänger der Vokalmusik mit ihrer Einheit von Musik und Sprache, die „Modernen“ hingegen waren die Vertreter der „absoluten“ Instrumentalmusik mit der Gattung der Symphonie. Wagner, der in seinen jungen Jahren durchaus eine Reihe von Instrumentalkompositionen, darunter seiner ambitionierte Symphonie in C-Dur, hervorgebracht hatte, ergriff mit seiner Hinwendung zur Oper eindeutig die Partei der „Alten“, zu deren vehementem Verfechter er sich im Kunstwerk der Zukunft aufschwang. Berühmt wurde in diesem Zusammenhang Wagners Deutung des Chorfinales der Neunten Symphonie Beethovens als die Erlösung der absoluten Musik durch das Wort der Dichtung. Wagner vergleicht hier die antike Musik mit der antiken Seefahrt. Wie der antike Seefahrer nie die sichere Führung des Ufers verließ, so habe auch die antike Musik sich am Wort der Dichtung orientiert. Erst die christliche Seefahrt wagte sich aufs freie, unendliche Meer hinaus und war nun jeder Orientierung beraubt. Erst einem kühnen Seefahrer gelang es, über das unendliche Meer zu neuen Ufern vorzustoßen – Columbus, dem Entdecker Amerikas. Wie die christliche Seefahrt, so habe auch die christliche Musik sich mehr und mehr vom sicheren Strand des Wortes gelöst und sich auf das unendliche Meer der „absoluten Musik“ begeben. Der Columbus aber, welcher in der Musik zum neuen Land des Wortes vorstieß – das war Beethoven. Im Chorfinale seiner 9. Symphonie habe er die absolute Musik durch das Wort erlöst (Wagner 1911, Bd. 3: 82-85). Wagners Idee von der Einheit der Künste im musikalischen Drama beruft sich, kaum anders als die Favola in Musica der Florentiner Camerata auf das Vorbild des antiken Dramas, wobei auch Wagner die Platonische Definition der Musik gekannt haben dürfte. In seiner Zürcher Schrift Oper und Drama fasst er seine Polemik gegen die Gattung der modernen Oper folgendermaßen zusammen: Der Grundirrtum der Oper bestehe darin, dass sie ein 49

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Mittel des Ausdrucks, die Musik, zum Zwecke und den Zweck, das Drama, zum Mittel gemacht habe (Wagner 1911, Bd. 3: 231). Das bedeutete konkret, dass die dramatische Dichtung die Musik hervorbringe. Nicht als herkömmliche Vertonung eines Textes, sondern durchaus im kompositorisch-technischen Sinn. Und wieder gebraucht Wagner eine Metapher: Die Musik sei das „Wellenmädchen“, das zunächst noch seelenlos durch ihr Element dahinrauscht, bis es durch die Liebe des Mannes (die Dichtung) erst seine Seele empfängt (ebd.: 316f.). Als Folge dieser Zeugung wird dann die „dichterisch-musikalische Periode“ des Wagnerschen Dramas geboren. Das Drama, welches die Schwesterkünste Tichtkunst, Tanzkunst und Tonkunst in einem vollkommenen Stabreim vereint. Aber Wagner reiht sich nicht nur in den alten Streit der Antiken und Modernen ein, nein, er will ihn lösen, und zwar endgültig. Dazu bringt er die Kategorien der Querelle in ein geschlossenes System, das nur noch einen Ausgang hat. Wo zuvor ein freies Spiel der Kräfte sich bald nach der Seite der Alten, bald nach der Seite der Modernen neigte, strebt jetzt alles einem unabwendbaren, notwendigen Ziele zu, nämlich der Erlösung des Menschen im Wagnerschen Kunstwerk. Das dramatische Schema des Kunstwerks der Zukunft lässt sich vereinfacht etwa so darstellen: Antik

/

modern

Natur (Soll) / Mensch (Ist) | | Notwendigkeit / Willkür | | Erkenntnis / Irrtum | | wirkliches Leben / Wissenschaft (Selbstvernichtung) Erkenntnis der Natur | Ende der Wissenschaft | Kunstwerk | Erlösung des Künstlers

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Die Gegensätze der Querelle werden in diesem System nicht versöhnt. Die Erlösung im Drama der Gegensätze ist vielmehr dialektisch, die Negation der Negation. Die Welt wie sie ist, kann nur zurückfinden zur Natur, indem sie aufhört zu sein. Die Rolle dieser „Erlösung durch Selbstvernichtung“ wie Wagner das nennt, übernimmt in diesem System die „Wissenschaft“. „Die Wissenschaft trägt somit die Sünde des Lebens und büßt sie an sich durch ihre Selbstvernichtung“, heißt es im Kunstwerk der Zukunft (ebd.: 45). Die Erlösung findet also nicht gleichzeitig auf allen Ebenen statt, sondern, stellvertretend für alle, nur auf einer. Sie erfolgt auch nicht schrittweise, sondern auf einen Schlag, radikal: Beim Tode des dramatischen Helden – denn das ist seine Erlösung – wird die Welt, deren Sünde er trägt, miterlöst. In einem Aphorismus Wagners über das Wunderbare in der Kunst heißt es wörtlich: „Hier wird in dichterischer Fiktion die ungeheure Kette des Zusammenhanges verschiedenartigster Erscheinungen zum leicht überschaulichen Bande weniger Glieder verdichtet, diesen wenigen Gliedern aber die Macht und die Kraft der ganzen Kette beigelegt: und diese Macht ist das Wunder in der Kunst“ (ebd., Bd. 12: 277).

Danach kommt eigentlich nichts anderes mehr, denn das erlöste Kunstwerk ist eben kein Kunstwerk mehr, sondern erfülltes Leben, das Leben wie es sein sollte. Nicht zufällig taucht bei Wagner daher der Gedanke vom Ende der Kunst auf. Denn wenn Kunst in der unerlösten Welt nur der Sublimation unbefriedigter Triebe, nur der Projektion eines besseren Lebens in die Zukunft gedient hatte, so hat sie ihre Aufgabe erfüllt, wenn der Sollwert zum Istwert geworden ist. Die Querelle ist damit beendet, die Entwicklung steht still. Um seiner Kunst zum Durchbruch zu verhelfen, war Wagner 1848/49 Revolutionär geworden. Aber der Anarchist Bakunin hatte ihm keinen geringen Schrecken eingejagt, als er ihm sagte, dass nach der Revolution keine Kunst mehr gebraucht würde. Nach der gescheiterten Revolution hatte Wagner jedoch den Spieß umgedreht: Die Kunst als vornehmste Kraft menschlicher Kultur sollte der sozialen Befreiung vorausgehen (ebd., Bd. 3: 38). Das war die Idee vom „Kunstwerk der Zukunft“.

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Jene andere Musik aber, welche die Einheit der Künste verschmäht, weil sie selbst alles sein will, benennt Wagner mit einem Begriff, den wir schon kennen, „absolute“ Musik. Das meint Wagner natürlich in einem polemischen Sinn. Absolute Musik ist für ihn eine von den Schwesterkünsten Dichtkunst und Tanzkunst losgelöste, eigentlich nicht lebensfähige Musik. Die Partei der Modernen unter Führung von Eduard Hanslick und Johannes Brahms allerdings wertete den Begriff später in einen positiven um: Absolute Musik als die eigentliche Musik im Sinne E.T.A. Hoffmanns, die Sprache des Unaussprechlichen oder Absoluten, als die metaphysischste der Künste schlechthin. Absolute Musik als das neue, moderne Paradigma der Musik überhaupt. Dieser Paradigmenwechsel von der Vokalmusik zur absoluten Musik blieb auch für Wagner nicht ohne Folgen. Nach der Lektüre von Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung im Jahre 1854 ist ihm seine Theorie vom Primat der Dichtung über die Musik selbst peinlich. In „Oper und Drama“ habe er nur noch nicht gewagt, zu sagen, dass die Musik das Drama produziere, obgleich er es in sich wusste, rechtfertigt er sich gegenüber Cosima (C. Wagner 1975, Bd. 1: 490; Eintrag vom 11. Februar 1872). Der alternde Wagner will dann auch keine großen Welterlösungsdramen mehr komponieren. Nach dem Parsifal plante er, wieder Symphonien zu schreiben. Wollte er damit seinen lebenslangen Kampf um die Einheit der Künste im musikalischen Drama aufgeben und ins gegnerische Lager der „absoluten Musik“ überlaufen? Nein. Es gäbe nur das Drama! behauptet er noch ein Jahr vor seinem Tod im Gespräch mit Cosima. Absolute Musik sei ein Art Drama! (ebd., Bd. 2: 905; Eintrag vom 7. März 1882). Damit stimmten die ideologischen Fronten wieder, aber unter der Hand hatte sich Wagners System einmal um die eigene Achse gedreht. Nachdem Wagner die Symphonie im Drama dialektisch aufgehoben hatte, war nun die absolute Musik selbst dramatisch geworden! Es ist wohl kein Zufall, dass Wagners Bedeutung für seine Nachfolger weniger auf dem Gebiet der Oper oder des musikalischen Dramas, sondern dem der Symphonie zu suchen ist. Die eigentliche Verhärtung der Fronten zwischen den Alten und Neuen geht daher nicht auf Wagners Konto allein, sondern mehr auf das seiner Nachfolger. Der Kontroverse der sog. Neudeutschen mit den Brahminen stand Wagner selbst merkwürdig fern, während gerade Symphoniker wie Anton Bruckner und 52

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Franz Liszt unter den Verurteilungen der Modernen zu leiden hatten. Fassen wir zusammen: Nach Art einer empirischen Untersuchung können wir die bisher besprochenen Stationen der Querelle nun in die folgende Matrix eintragen:

Die Querelle des anciens et des modernes Paradigmenwechsel (ab 1771) J. J. Sulzer Instrumentalmusik Vokalmusik Einheit von Musik und Sprache angenehmes Geräusch E.T.A. Hoffmann 1810

Vokalmusik Wortsprache plastisch Programmmusik heidnisch melodisch Monodie Oper natürlich klassisch-antik schön Natur

Instrumentalmusik Sprache d. Unaussprechlichen musikalisch autonome Musik christlich harmonisch Polyphonie (Palestrinas) Symphonie (Drama der Instrumente) wunderbar romantisch-modern erhaben Dschinnistan (Geisterreich der Musik)

Wagner (1849)

Natur menschliche Kultur Sinnlichkeit Geistigkeit Wissenschaft Kunst Erkenntnis Irrtum mus. Drama Oper „Gesamtkunstwerk“ „absolute Musik“

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Ausblick Unter den politischen Verhältnissen in Deutschland nach 1933 nahm die Querelle des anciens et des modernes zunehmend totalitäre Züge an. Die politisch Konservativen, das wissen wir schon seit Platons Staat, berufen sich nur zu gern auf das gute Alte. So auch hier. Aber dieses sog. „gute Alte“ war in der Musik angesichts der musikalischen Moderne für die Nationalsozialisten unglücklicherweise die Kunst Richard Wagners. Nicht wirklich seine Musik, denn von dieser verstanden sie herzlich wenig, aber seine mythologische Dichtung, deren sozialrevolutionäre Tendenz sie missverstanden und in ihrem Sinne deutschtümelnd verdrehten. Die Moderne, darunter vor allem die Neue Musik Arnold Schönbergs und seiner Schule, aber beispielsweise auch die Musik Paul Hindemiths, traf nun das vernichtende Urteil der „entarteten“ Kunst. Es zeugt von der ungebrochenen Kraft der Querelle des anciens et des modernes, dass das Pendel nach dem 2. Weltkrieg in entgegengesetzter Richtung zurückschlug. Die Unerbittlichkeit, mit welcher Th. W. Adorno in seiner Philosophie der Neuen Musik jeden Verdacht von Tonalität als „reaktionär“ attackierte, trug abermals totalitäre Züge. Ein Zurück zur Tonalität in der hohen Kunstmusik scheint seither so gut wie ausgeschlossen. Die traditionelle Tonalität ist in die Niederungen der popularen Unterhaltungsmusik verbannt. Im Sozialismus der DDR glaubte man hingegen, die sozialen Utopien des 19. Jahrhunderts und damit das „gute Alte“ tatsächlich verwirklicht zu haben. Auf Wagners Musik konnte man, aufgrund von deren Missbrauch im Dritten Reich, zwar nicht zurückgreifen, dafür aber auf Beethoven und die „klassische Musik“. In einer merkwürdigen Mischung von Pythagorismus und sentimentaler Gefühlsästhetik schien zum Ausdruck der sozialen Harmonie der sozialistischen Gesellschaft nur tonale Musik geeignet zu sein, während die „moderne“ Dodekaphonie paradoxerweise nur zur Darstellung Bösen, beispielsweise des Faschismus geduldet war. Auch der sozialistische Realismus berief sich also, kaum anders als die Nationalsozialisten auf die Tradition des guten Alten. Dem ideologischen Zwang der Querelle entsprach es daher auch, dass man im Sozialismus die Vokalmusik favorisierte, während die autonome Instrumentalmusik, ebenso wie die westli-

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che Popmusik und zeitweise sogar der Jazz mehr oder weniger im Verdacht der Bürgerlichkeit und des Abweichlertums stand. Wie die Querelle des anciens et des modernes in der Musik weiter gehen wird, lässt sich natürlich nicht vorhersagen. Gewiss hat die böse Erfahrung der nationalsozialistischen Vergangenheit mit dazu beigetragen, dass das vormals „gute Alte“ heute nicht mehr unbedingt als gut, sondern oftmals als reaktionär gilt. Die Pendel-Bewegung zwischen „Alten“ und „Modernen“, dieser Motor des musikalischen und kulturellen Fortschritts, scheint aus dem Takt geraten. Alles muss heute „modern“ oder „neu“ sein. Das Neue repräsentiert nicht unbedingt einen Fortschritt, es ist nur anders, oft auch nur eine neue „Verpackung“ alter Inhalte. Dabei übt es einen sozialen Zugzwang aus, dem sich kaum jemand zu entziehen vermag. Nur die neuesten Hits gelangen in die Charts der Pop-Musik. Auch die Mode der sog. „Remakes“ und die Begeisterung für „Oldies“ stellt dazu keine wirkliche Alternative dar. Sie gehört eher in den Bereich der Nostalgiewelle. Mit einem Fortschritt durch Rückgriff auf das gute Alte hat das freilich nichts zu tun. Das Neue lässt das Alte einfach hinter sich. Sogar im verschwindend kleinen Marktanteil der sog. klassischen Musik (was die klassische Tradition und die Neue Musik gleichermaßen meint) muss es die neueste Einspielung sein, welche man hört. Ältere, oft bessere Interpretationen gelten als veraltet. Der musikalische Geschmack muss mit der Zeit gehen und daher immer „neu“ sein. Aber muss er das wirklich? Unsere Perspektive auf die Gegenwart und Zukunft ist begrenzt. Die Dialektik der Geschichte besteht erfahrungsgemäß darin, dass das wirklich Neue immer nur aus dem guten Alten hervorgehen kann.

Literatur Abert, Hermann (1906): Ein neuer musikalischer Papyrusfund. In: Heuß, Alfred (Hg.): Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft. Achter Jahrgang 1906-1907. Leipzig: Breitkopf und Härtel. Apollodorus (2005): Bibliotheca. Hg. v. Paul Dräger. Düsseldorf u.a.: Artemis und Winkler.

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Konrad Klek

Gottesdienst als Arena Ästhetischer Bildung

Einleitung Dass Kulthandlungen in allen Religionen wesentlich eine ästhetische Dimension haben, sei zunächst als Allgemeinplatz vorausgesetzt und nicht weiter thematisiert. So gilt weiter, dass jede Kultpraxis zugleich ästhetische Praxis ist, wobei die Partizipationsmuster differieren, auf der einen Seite etwa der priesterlich agierende, auf der anderen Seite die stärker rezeptiv beteiligten Gläubigen. Zudem ist festzuhalten, dass alle Kultpraktiken per se ein Moment Ästhetischer Bildung enthalten. Jede Initiation in religiöse Riten ist Einweisung in ästhetische Praxis. Die Begehung der Riten, gekennzeichnet durch Wiederholung in größeren oder kleineren Zeitintervallen, bedeutet Übung, Exercitium im Wortsinn, Festigung, Bestätigung der Verhaltensmuster, Sicherung der eigenen Identität, also Bildung in essentieller Weise. Im sogenannten christlichen Abendland lässt sich nach vulgärer Lesart der konfessionelle Gegensatz zwischen römischkatholischer Kirche und protestantischen Kirchen als ästhetische Polarität der Gottesdienstpraxis fassen. Hier finden wir die mit allen Sinnenreizen agierende römische Kirche, mit Bildern und Putten übersäte Kirchenräume, grandiose Hochaltäre, goldübergossene Heiligenstatuen, bunte Messgewänder, heutzutage zudem ausgeklügelte Lichtregien, mit dem Weihrauchfass schließlich auch den Geruchssinn betörend; demgegenüber steht die sogenannte Kirche des Wortes, in der der Fokus bei den Gottesdienstbesuchern ganz auf der inhaltlichen Apperzeption des Sprachgeschehens liegt und in der bei den agierenden Theologen oft nicht einmal die ästhetischen Dimensionen ihrer verbalen Vollzüge „im Ohr“ sind. Ich will diese bewusst überzeichnete ästhetische Polarität katholisch – evangelisch nicht weiter verfolgen. Als evangelischer Theologe stelle ich mich konkret der Frage, inwieweit gerade im Protestantismus mit seiner antisinnlichen Stoßrichtung der

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Gottesdienst als eine Arena Ästhetischer Bildung fungiert. Ich werde einige historische Wegmarken benennen, um schließlich zur gegenwärtigen Problemstellung etwas auszuführen.

1. Reformation und die Folgen für Kunst und Kult Die mit dem Begriff Reformation bezeichnete religiöse Neuorientierung im 16. Jahrhundert markiert in der Kunstgeschichte einen gravierenden Einschnitt. Das Schlagwort heißt „Bildersturm“. Kundige wissen aber, dass Reformation nicht überall radikales Ausräumen der Kirchen bedeutete, sondern dass es vielmehr zu einer spezifischen neuen Bildkultur kam. Große Meister wie Albrecht Dürer oder Lukas Cranach wurden ja nicht arbeitslos, sie sind auch nicht in einnahmesichere altgläubige Territorien ausgewandert, sie haben souverän umprogrammiert. Das Bild wurde zum Medium der Vermittlung der neuen Lehre, der expressiven Darstellung biblischer Gestalten und Geschichten und eröffnete so den Künstlern neue, individuell gestaltbare Darstellungs- und Ausdrucksmöglichkeiten.1 Gerade die Ablehnung jeglicher Idolatrie durch die Reformation schuf Freiraum zu ästhetischer Innovation und damit auch zu neuen Dimensionen Ästhetischer Bildung. Den Status des kultischen Primärmediums errang allerdings das Wort, wie Luthers berühmten Worten bei der Einweihung des ersten evangelischen Kirchenbaus, der Schlosskirche zu Torgau im Jahre 1544 zu entnehmen ist. Hier postulierte er, übrigens mit der Hand an „Sprengel und Rauchfass“, dass in diesem Haus „nichts anderes darin geschehe, denn das unser lieber Herr selbs mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir widerumb mit im reden durch Gebet und Lobgesang“ (Luther WA 49, 588, 12-22). Die intendierte kultische Unmittelbarkeit im Dialog zwischen „Gott selbst“ und seiner Gemeinde ist Grund dafür, dass sowohl das personale Medium des Priesters als auch gegenständliche Medien der darstellenden Kunst als irrelevant zurück gedrängt werden. Gottesdienst wird verstanden als personale Begegnung von Gott und Mensch getreu dem biblischen Christuswort: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matthäus 18,20). Da Gott sich an das Wort der Bibel ge1

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Siehe dazu den umfänglichen Katalog zur Nürnberger Ausstellung im Luther-Jubiläumsjahr 1983.

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bunden hat, redet er selbst in den Texten, vorgetragen als Lesung, und in den darauf als Auslegung bezogenen Worten des Predigers. Heute ist allen stilbewussten Menschen klar, dass bei jeder direkt personalen Begegnung die ästhetische Dimension nicht unerheblich ist. Man kann leicht aneinander vorbei reden, wenn die Stilebenen nicht kompatibel sind. Ob der von Luther intendierte Dialog zwischen Gott und der christlichen Gemeinde gelingt, ist also nicht nur eine Frage der biblischen Fundierung von Liturgie und Predigt, sondern auch eine Stilfrage. Es ist heute strittig, ob namentlich bei Luther hierfür hinreichendes Sensorium vorhanden war. In seinem ersten und einzigen Gottesdienstentwurf in deutscher Sprache, der Deutschen Messe von 1526 (Faksimileausgabe), hat er jedenfalls die Gestaltung des (damals stets gesungenen) Bibelwortvortrags genau festgelegt: Er schreibt die Noten aus, mit welchen die Schrift– Lesungen vorzutragen sind und gibt Hinweise, dass die Tonhöhen bzw. die Tonarten zwischen verschiedenen Stücken möglichst gleich bleiben sollen. Herkömmliche Messgesänge, die in der liturgischen Dialogstruktur auf die Seite der Gemeinde gehören, reduziert er drastisch. Das Kyrie eleison etwa sei nur „drey mal und nicht neun mal“ (ebd.: XIII.) zu singen, und die dann vorgeschlagenen Version ist an Schlichtheit nicht zu überbieten. Das eigentlich dazugehörige vollmundige Gloria entfällt ganz. Ansonsten gibt es für den Antwortpart der Gemeinde „in Gebet und Lobgesang“ jetzt die Form des gereimten deutschen Liedes. Im Unterschied zum gregorianischen Choral, der sich zur hohen Kunst entwickelt hatte als Solo- oder geschulter Ensemblegesang, können Lieder in Strophenform von einem größeren „Haufen“ Volks erfasst und ästhetisch einigermaßen befriedigend gesungen werden. Unter ästhetischem Gesichtspunkt betreibt Luther also offenbar gezielt Vereinfachung, Elementarisierung, um hochkulturelle Barrieren zu vermeiden, die das selbstständige Teilnehmen der Gottesdienstbesucher am Dialoggeschehen hindern könnten. Es geht ihm sozusagen um einen niederschwelligen Einstieg in das neue Projekt, das man „Gemeinde feiert Gottesdienst“ nennen könnte, statt „Kirche zelebriert Kult“ (mit Prunk und Profis). Das heißt aber nicht, dass anspruchsvolle „Hochkultur“ bei Luther prinzipiell ausgedient hätte. In der Vorrede zum ersten protestantischen Gesangbuch, das ein Chorbuch mit hoch artifiziellen

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mehrstimmigen Sätzen ist, hat er schon 1524 die viel zitierten Worte geschrieben: „Auch das ich nit der meynung bin/ das durchs Euangelion/ sollten alle künst zuboden geschlagen werden un vergehen/ wie etzliche abergeystlichen fürgeben. Sondern ich wöllt alle künste/ sonderlich die Musica/ gern sehen im dienst/ des der sie geben unn geschaffen hat.“

Ohne jede liturgische Fixierung räumt Luther der künstlerischen Praxis sozusagen einen Eigenwert ein. Es ist ihre Aufgabe, auf möglichst vielfältige Weise „das heylige Euangelion/ so itzt von Gottes gnaden widder auffgangen ist/ zutreiben und inn schwanck zu bringen“. Der damit verbundene allgemeine Bildungsaspekt darf nicht unterschlagen werden: Die Lieder seien „dazu auch inn vier stimme bracht/ nit auß anderer ursach/ denn das ich gern wöllte/ die jugent/ die doch sonst soll und muß inn der Musica und andern rechten künsten erzogen werden/ etwas hette/ da mit sie der buhl lieder und fleyschlichen gesenge loß würde/ unnd an der selbenn stat/ etwas heylsames lernete/ unnd also das guhte mit Lust/ wie den jungen gepürt/ ingienge“ (Johann Walter 1524, TenorStimmbuch: A II.).

Sinn und Zweck der Kunst ist also primär die Lust der Jugend. Und via lustvoller Kunst kann man jungen Leuten „das Gute“ unterjubeln. Gerade als lustvolle Kunst wird „das Gute“ das „Fragwürdige von der Straße“ in inhaltlicher wie ästhetischer Hinsicht ausstechen. Diese Gesangbuchvorrede von 1524 ist ein Primärtext für das, was man als typisch protestantisches Bildungsprogramm bezeichnen mag. Es geht da nicht speziell um gottesdienstliche Musik. Mit den Schulkantoreien fanden solche artifiziellen Liedsätze auch Eingang in die Gemeindegottesdienste; aber sie sind nicht essentiell für das Dialoggeschehen Gott-Gemeinde, denn die Melodie mitsingen kann man bei diesen komplexen polyphonen Sätzen mit Tenor-cantus firmus nicht. Professionelle Hofmusikensembles in Residenzen, mit Schulen verbundene Kantoreien in Städten, bisweilen auch in bürgerlicher Initiative entstandene Adjuvantenchöre, werden alsbald und in den Folgejahrhunderten mit solchen Lutherworten im Rücken „die Music“ im Gottesdienst künstlerisch anspruchsvoll gestalten bis hin zur Höchstkultur Johann Sebastian Bachs in Leipzig (1723-1750). „Die Music“, das war im lu62

KONRAD KLEK: GOTTESDIENST

therischen Gottesdienst eine künstlerische Einlage, eine konzertante Darbietung mitten im liturgischen Geschehen, das auch sonst ästhetisch nicht gerade homogen sich gestaltete.2 Die Textdisposition der barocken Kantate war zwar am Proprium des Sonntags ausgerichtet, insofern inhaltlich kein Fremdkörper, ästhetisch war dies aber eine mit dem übrigen Sprach- und Klanggeschehen nicht vermittelte Extra-Nummer, darin vielerorts eine höfische oder bürgerliche Statusfrage: Man leistet sich eine vokalinstrumentale Kunstmusikaufführung. Die Gottesdienstbesucher waren sozusagen zum Kulturgenuss verdonnert. Nicht wenige Gemeindemitglieder der Leipziger Nikolai- und Thomaskirche werden die ihnen allsonntäglich vorgesetzte Kantate von Bach als ästhetische Zumutung empfunden haben. Sie hatten allerdings die Möglichkeit, „die Music“ zu umgehen, wenn sie nur 14-tägig zum Hauptgottesdienst am Vormittag gingen, denn die Kantatenaufführung wechselte zwischen den beiden Hauptkirchen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wandelte sich schon zu Bachs Lebzeiten die musikalische Stilistik entscheidend hin zum primär Gefälligen. Später hielt sogar der Mainstream der Wiener Klassik in protestantische Kirchen Einzug, wie man etwa in Ansbach studieren kann, wo Mozart-Stücke mit deutschen Texten unterlegt als „Music“ geboten wurden.3 Dagegen regte sich im 19. Jahrhundert dann doch entschiedener Widerstand, bei dem schwer abzuwiegen ist, inwieweit er ästhetisch oder theologisch motiviert war.

2. Das Kirchenlied als zentrales ästhetisches Bildungsmedium Zurück zu Luther in Sachen Gemeindelied. Es ist für ihn das zentrale Medium, in welchem „das Euangelion“ sich fest in den Herzen der Menschen verankert. „Singen und Sagen“ ist eine seiner Formeln zur Kommunikation der frohen Botschaft.4 Da Gesangbücher zunächst nur Pfarrern und Lehrern zugänglich sind, fällt dem Singen im Gottesdienst zugleich die didaktische Aufgabe zu, 2 3 4

Siehe die Ausführungen zum Leipziger Gottesdienstablauf bei Petzoldt (1999). Die Materialien sind erhalten in den Archiven der Ansbacher Kirchenmusik. Vgl. „davon ich singn und sagen will“: Schlusszeile der ersten Strophe von Luthers „Kinderlied auff die Weihenachten“ Vom Himmel hoch da komm ich her (EG 24). Babstsches Gesangbuch (1545), Nr. IIII.

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die neuen Lieder zu verbreiten. Eine „Vermahnung“ Luthers im Anschluss an eine Predigt vom 24.1.1529 ist allerdings signifikant: „Ich kenne eure Faulheit, dass ihr die gebräuchlichen Kirchenlieder nicht lernt, die ihr nun schon fast zwei Jahre lang von den Schülern täglich habt singen hören. Ihr gebt euch nicht im Geringsten Mühe, sondern achtet vielmehr auf Reuterliedlein. Ihr Familienväter solltet darauf bedacht sein, die Euren zu unterweisen. Denn solche Lieder sind eine Bibel für die Unmündigen, ja auch für die Gelehrten“ (zit. nach Rößler 2001: 67).

Hier ist das ästhetische Medium Lied didaktisch instrumentalisiert: Glaubensunterweisung, Katechese via Lied. Liedvortrag und Liedgesang im Gottesdienst rücken so in die Nähe einer Schulstunde. Und hier agieren allerdings die zuvor schon konditionierten Schüler als Lehrer der Erwachsenen! Darin zeigt sich ein Grundproblem des Protestantismus: Die religiösen Sprachformen, die Grundlage der gottesdienstlichen Kommunikation sind, stellen in ihrer Vielgestaltigkeit stets ein Vermittlungsproblem dar. Wo und wie lernt man das, was man im Gottesdienst braucht, um sich ins Dialoggeschehen Gott-Mensch einklinken zu können? Luthers zitierte Vermahnung zeigt: Mit learning by doing im Gottesdienst ist es nicht getan. Er nimmt die Familienväter in die Pflicht. Sie müssen in den Häusern didaktische Vorarbeit leisten. Bei den Lehrern in den Schulen ist das sowieso Dienstpflicht. In der Liedgeschichte des Protestantismus erweist sich dann dieses komplementäre Gegenüber von häuslicher und öffentlicher Liedkultur als Erfolgsrezept. Im 17. Jahrhundert erreichen Gesangbücher Riesenauflagen, weil sie zur Grundlage der häuslichen Erbauungskultur werden. Die neue musikalische Stilistik des Generalbassliedes, verbunden mit sprachlich „reinen“ deutschen Versen im Gefolge von Martin Opitz Buch von der deutschen Poeterey (Brieg 1624), das macht Lust, vor allem auch den Erwachsenen und hier besonders den Hausfrauen, welche sich bald als die besseren Animateure in Sachen Vorsingen, Nachsingen, Mitsingen und darin als Sachwalterinnen der Frömmigkeit erweisen.5 Während die von Männern gemachten offiziellen Kirchengesangbü5

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Vgl. die Vorrede von Johann Georg Ebeling zur 10. Lieferung der Paul-Gerhardt-Lieder 1667, wiedergegeben in Bubmann/Klek 2012: 99-101.

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cher zur Kanonisierung der Lieder aus dem Reformationsjahrhundert neigen, findet stilistische Innovation sprachlich wie musikalisch in der eher feminin bestimmten Subkultur der Häuser ihren Nährboden. Typisch kirchlich dauert es dann einige Jahrzehnte, bis die ästhetischen Dämme auch im öffentlichen Kultus brechen. Die beliebten Lieder von Paul Gerhardt (1607-1672) etwa, die seit 1647 in den verschiedenen Auflagen des vom Berliner Kantor Johann Crüger publizierten Gesangbuchs Praxis pietatis melica zugänglich wurden, fanden erst mit einigem Abstand Eingang in andere, offizielle Gesangbücher, in J.S. Bachs Sachsen etwa erst 1725 (Petzoldt 2007: 14).

3. Liturgische Bildung seit dem 19. Jahrhundert Das unerbittlich umgesetzte, radikal traditionsfeindliche liturgische Konzept des Rationalismus mit spezifischen didaktischen und ästhetischen Implikationen kann hier nicht behandelt werden, so spannend das wäre. Historisch übersprungen sei auch Friedrich Schleiermacher (1768-1838), der in Zurückweisung wie Aufnahme rationalistischer Strömungen das Tor zum 19. Jahrhundert aufstößt, indem er einen Paradigmenwechsel einleitet. Schleiermachers eigene, bis in jedes sprachliche wie musikalische Detail hinein subtil durchgestylte Gottesdienstpraxis ist inzwischen umfassend aufgearbeitet und wäre für unsere Fragestellung durchaus ergiebig (Schmidt 2002). Ich setze wieder ein im Jahre 1854 an der Universität Erlangen. Es wird hier ein Gesangs- und Orgellehrer für Theologiestudierende installiert, der den zukünftigen Pfarrern als wesentlich erkannte ästhetische Grundlagen für ihren Dienst vermitteln soll (Klek 2004). Pfarrer müssen singen können und die Gesangbuchlieder kennen und wenigstens etwas Ahnung von den historischen Entwicklungen auf dem Gebiet von Kirchenmusik und Kirchenlied haben. Zeitgleich revidiert die bayerische Landeskirche mutig ihre Gottesdienstordnung und bringt ein neues Gesangbuch heraus. Beides intendiert den bewussten Anschluss an die „historischen Grundlagen“. Dazu gehört beim Gesangbuch (1855) der Abdruck der Lieder in ihrer textlichen wie musikalischen Originalgestalt. So ist stilistische Vielfalt impliziert, wie es die historische Entwicklung mit sich gebracht hat. Als evangelischer Christ

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mit Luther Ein feste Burg ist unser Gott zu singen, mit Paul Gerhardt Befiehl du deine Wege oder mit Gellert Wie groß ist des Allmächtgen Güte sind sprachlich wie musikalisch differenzierte Vorgänge, die gerade in solcher Differenzierung nun als Bereicherung wahrgenommen werden. Damit ist allerdings der Bildungsanspruch an das Kirchenvolk erheblich gesteigert und zunächst müssen die Multiplikatoren, also die Pfarrer, dafür „fit“ gemacht werden. Für das Kirchenvolk ist das learning by doing im gottesdienstlichen Vollzug inzwischen insofern erleichtert, als die Ausstattung einer jeden Dorfkirche mit einer Orgel und einem diese „schlagenden“ Dorfschulmeister zur Regel wird. Zur Lehrerausbildung an den Präparandenschulen und Lehrerseminaren gehört nun Orgelunterricht. Es brauchen sich also nicht mehr die Schüler beim Vorsingen blamieren. „Die Orgel spielt“ und wer kann, singt kräftig mit und animiert so die neben ihm sitzenden Mitchristen. Die Pfarrer müssen die Lieder mit historisch differenziertem Stilbewusstsein aussuchen und sollen im Unterricht von Schülern und Konfirmanden die Lieder präsentieren können ohne Zuhilfenahme eines Organisten.6 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeigt sich vermehrt ein Unbehagen an der Art und Weise von kirchenamtlichen Liturgierevisionen, verbunden mit heftigen kirchlichen Parteikämpfen. Es herrscht auch die Sorge vor mangelndem evangelischem Profil gegenüber dem erstarkenden Katholizismus, schließlich entwickelt sich auch ein neues, eigenes Interesse der Gemeindeglieder. So kommt es zu „liturgischen Bewegungen“ im deutschen Protestantismus, wie man das dann im 20. Jahrhundert nennt. Zwei Straßburger Theologieprofessoren, Friedrich Spitta und Julius Smend, haben mit einer Zeitschrift Erfolg, die sie programmatisch Monatschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst betiteln (Klek 1996). Hier wird eingeklagt, dass die ästhetische Dimension für alles gottesdienstliche Handeln grundlegend ist, dass „volkskirchliche“ Gottesdienste durch die Art ihrer umsichtigen und in sich 6

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Seit dem 18. Jahrhundert gibt es die didaktische Maßnahme des Konfirmandenunterrichts als Einweisung in kirchliche Lehre und Praxis. Auf Familienväter und Hausfrauen meinten sich die Theologen nicht mehr verlassen zu können, bzw. deren Wirken ohne pfarramtliche Aufsicht sollte kontrolliert werden. Inwieweit die Konzepte von Konfirmandenunterricht damals wie heute die Dimension Ästhetischer Bildung im Blick hatten bzw. haben, wäre eine eigene Untersuchung wert.

KONRAD KLEK: GOTTESDIENST

stimmigen, weil dialogischen Gestaltung attraktiv sein müssen. Formale agendarische Korrektheit allein genügt nicht. Die Gemeinde soll mit den ihr vertrauten und geliebten Liedern selber reichlich zu Wort kommen; der reiche Schatz evangelischen Kulturgutes soll Eingang finden ohne stilistische Fixierungen, wie sie seitens der konservativen Restauratoren zu konstatieren sind, die auf möglichst alte und unsinnliche Sprach- und Musikmuster setzen. Spitta und Smend haben beide einen besonderen Draht zur Musik. In ihren ersten Pfarrgemeinden haben sie mit Kirchenchorgründungen großen Erfolg gehabt, sie berücksichtigen aber auch die für die Kirchenraumgestaltung wichtigen Bereiche von Architektur und Malerei. Zusammen mit ihrem bald stattlichen Freundeskreis setzen sie die Einsicht um, dass kultische Praxis auch im Protestantismus essentiell ästhetische Praxis ist. Gottesdienst soll nun nichts anderes sein und gerade darin faszinieren und fesseln, um Gottes Gegenwart zu erschließen. Nur in einem stimmigen Arrangement der verschiedenen liturgischen Elemente und Dimensionen kann sich das „Erlebnis Gottesdienst“ ereignen. Die liturgische Kunst besteht darin, das stimmige Arrangement auf die örtlichen Verhältnisse bezogen so einzurichten, dass die Menschen vom liturgischen Dialoggeschehen mitgerissen werden und darin eine Horizonterweiterung erfahren. Ästhetische Bildung ergibt sich dabei gleichsam spielerisch als Nebeneffekt. Liturgischer Erzfeind von Spitta und Smend ist der Gottesdienst als Schulstunde via pastorale Belehrung. Über die notwendigen flankierenden Maßnahmen, damit das Konzept aufgehen kann, machen sie sich keine Illusionen: Kirchliche Unterweisung in Schule und Konfirmandenunterricht muss primär Unterweisung im Liedgut sein. Ohne Kirchenchor als sängerischer Pressure group geht gar nichts und am besten sollte in den Häusern täglich „rauf und runter“ gesungen werden. Smend hat es in nur sechs Jahren Dorfpfarramt im Hinterland von Bonn (Seelscheid) nachweislich geschafft, seinen Bauern klar zu machen, dass die Anschaffung eines Klaviers für die Wohnstube Priorität vor derjenigen eines Pferdes hat (Klek 1996: 149). Das 20. Jahrhundert bringt im Anschluss an die antiromantisch ausgerichteten Bewegungen der 1920er und 30er Jahre nach 1945 den Versuch der Rekonstruktion einer geschlossenen kirchlichen Lebenswelt via klarer agendarischer Vorgaben und eines 67

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neuen Gesangbuches (Evangelisches Kirchengesangbuch EKG, 1950ff.), das stilistisch einseitig auf das Reformationsjahrhundert fixiert ist (Cornehl 1985: XXX). Liturgische Bildung wird durchaus in ihrer ästhetischen Dimension wahrgenommen, aber im Sinne von Stilfixierung auf ein bestimmtes Muster liturgischer Leitkultur. Der Gegenschlag lässt nicht lange auf sich warten – das 1961 preisgekrönte Lied Danke für diesen guten Morgen (EG 334) ist der Inbegriff für eine neue geistliche Ästhetik, die sich allerdings zunächst gar nicht in den „offiziellen“ Gottesdienst traut (Bubmann 2012).

4. Gottesdienst heute – ein ästhetisches Konfliktfeld Für liturgisches Agieren heute stellt das, was man Erosion der Volkskirche nennen mag, die zentrale Herausforderung dar. Wenn die Vertrautheit mit den kirchlichen Sprachformen bei den meisten Kirchenmitgliedern verschwindend gering ist, weil sie weder in der Schule, noch in den Häusern und mangels regelmäßiger Gottesdiensteilnahme auch nicht in der Kirche kultiviert wird, kann das Dialoggeschehen Gottesdienst in Luthers Sinne kaum mehr funktionieren. Die soziologischen Studien des aus Erlangen stammenden Gerhard Schulze mit dem Titel Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992) haben auch in der Praktischen Theologie eingeschlagen. Einerseits nimmt man jetzt wahr, wie sich die gesellschaftlichen Milieus in der kirchlichen Gemeindepraxis abbilden und dass die herkömmliche Veranstaltungsform Gottesdienst zum ästhetischen Lebensentwurf bestimmter Milieus einfach nicht passt oder eben nur bestimmte Milieus bedient. Andererseits entwickelt man Strategien von gerade im ästhetischen Setting differenzierten Gottesdienst-Angeboten für die verschiedenen Milieus oder entwickelt Konzepte des stilistischen Crossover, um die Einheit der christlichen Gemeinde trotz ästhetischer Diversifizierung der Gemeindegruppen irgendwie zu retten.7 Jedenfalls ist klar, dass ohne Reflexion der ästhetischen Dimension kirchlichen Handelns praktische Theologie heute nicht mehr auskommen kann.

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Siehe jetzt die Konzeption des Werkbuchs Musik im Gottesdienst (Reinke 2014). Zu Nutzen und Grenzen der Rezeption der Milieutheorie in der Kirchenmusik, vgl. Bubmann 2009: 169-178.

KONRAD KLEK: GOTTESDIENST

Ich konkretisiere die liturgischen Problemstellungen anhand von Fallbeispielen aus eigener Praxis. 1. Vorabendgottesdienst zur Konfirmation. Das ist wohl der entscheidendste Punkt im kirchlichen Jahresablauf, wo der Status Volkskirche auf dem Spiel steht und die Pfarrer deshalb nervöser sind selbst als bei full house an Weihnachten. Mein Pfarrer hat bewusst moderne Lieder ausgewählt, um zu zeigen, dass die Kirche nahe an der Jugend „dran“ ist. Es singt aber kaum jemand mit. Beim Hinausgehen höre ich von einer offensichtlich von weither angereisten Besucherin in nörglerischem Tonfall: „Na, bei den Liedern hätten se ja was Bekanntes nehmen können, Lobe den Herren oder so.“ – Kommentar: Die Kritikerin wollte durchaus mitsingen, wollte sich einklinken in das Dialoggeschehen Gottesdienst. Sie war sich auch ihres typischen Outsider-Status bewusst und meinte deswegen, „etwas Bekanntes“ beim Liedgesang reklamieren zu können. Was sie als Beispiel nannte, war allerdings ein 1680 erstmals publiziertes Lied (Joachim Neander, Lobe den Herren, EG 317), also über 300 Jahre alt, ästhetisch also gerade nicht up to date! 2. Im Jahr 2010 wurde auf höchster kirchlicher Ebene, im bayerischen Landeskirchenrat, folgender Vorwurf verhandelt: „Jetzt kann man nicht einmal mehr an Weihnachten die Lieder mitsingen“.8 Offensichtlich war ein Mitglied des Gremiums am Heiligen Abend 2009 beim Versuch gescheitert, die angezeigten Lieder mitzusingen. Die Melodie war ihm schlicht zu hoch. Ursache des Übels waren zwei althergebrachte Lieder, bei denen am Anfang das hohe c mehrmals hintereinander kommt und dann auch noch zum d weiter schreitet (Es ist ein Ros entsprungen und Lobt Gott ihr Christen allegleich). – Kommentar: Das Betätigen und Üben der Singstimme ist heute selbst für in der Kirchenleitung tätige Personen ein so seltener Vorgang, dass die Teilnahme am gottesdienstlichen „Singen und Sagen“ schon daran scheitern kann. Dabei sind die Tonhöhen der Kirchenlieder in den Gesangbüchern im Laufe der Jahrhunderte stets weiter gesenkt worden.9 Jenseits der viel diskutierten Stilfragen ist heute nicht einmal eine Einigung über die Tonhöhe möglich. Auf der einen Seite gibt es die kirch8 9

Mündliche Mitteilung des mit einer Expertise dazu beauftragten Landeskirchenmusikdirektors Michael Lochner. Das neue katholische Gesangbuch Gotteslob (2013/2014), geht diesbezüglich oft nochmals einen Schritt weiter nach unten.

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lich engagierten Chorsoprane, denen es in tiefer Gesangbuchlage keinen Spaß macht, auf der anderen Seite finden sich die vielen im Singen Ungeübten und die vielen älteren Menschen im Gottesdienst, denen die Gesangbuchmelodien noch zu hoch sind. Das potentielle Nachsingen von Popsongs im Alltag macht übrigens nicht unbedingt gesangbuchtauglich, denn diese kommen in der Regel mit einem sehr eingeschränkten Tonvorrat aus und rangieren hinsichtlich der Tonhöhe auf einem low level, der deutlich unterhalb des kirchlich Approbierten liegt. Die Ästhetische Bildungsaufgabe hieße demnach zunächst: Singen lernen oder Singen üben. So engagieren sich die Kirchen denn auch eifrig bei den aktuell an verschiedenen Stellen aus dem Boden sprießenden Aktionen „Singen mit Kindern“ usw. Jeder, der sich in der kirchenmusikalischen Praxis als Sing-Animateur betätigt und als Organist den sicheren Platz auf der Orgelbank verlässt, um die Gemeinde von vorne anzuspornen, weiß, wie schwierig es ist, die Leute in ihren Kirchenbänken zunächst zu einer Körperhaltung zu bringen, die der Tonentwicklung günstig ist. Zu viel Didaktisierung will man aber auch nicht haben, denn der Gottesdienst soll ja nicht zur Singstunde werden. Hinsichtlich des Repertoires von „bekannten“ Liedern hat derzeit die Losung Kernlieder Konjunktur. Die württembergische Landeskirche ging vor einigen Jahren in Vorlage mit einer 33 Titel umfassenden Liste, welche die Basis für die Ästhetische Bildung in Kindergarten, Schule und Konfirmandenunterricht bilden soll. Lobe den Herren steht auf der Liste (Bubmann 2011; Dremel 2012: 60f.). An solch einem tatsächlich abrufbaren Fundus von Liedern hängen tatsächlich die Sprachfähigkeit der Gemeinde und damit das ganze lutherische Gottesdienst-Projekt. Insofern ist Singenkönnen für evangelische Christen Not-wendig im Wortsinn. Das hier kirchlicherseits geleistete „Üben“ der menschlichen Äußerungsform Singen wird zugleich zu einer gesellschaftsdiakonischen Leistung. Man stelle sich eine Gesellschaft vor, in der niemand mehr singt!10 3. In den 1990er Jahren wurde in Stuttgart auf dem Oberkirchenrat die folgende Frage gestellt: „Was dürfen sich Kirchenmu10 In Dänemark leistet es sich die finanziell gut abgefederte Staatskirche, den Gemeindegesang durch bezahlte Kirchensänger zu substituieren. Das ist diametral entgegengesetzt zu Luthers Intention von der Kommunikation des Evangeliums im Dialog.

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siker noch alles leisten?“ Der Reutlinger Kirchenmusiker-Kollege hatte an einem repräsentativen Ort, in der Marienkirche mit herausragender neuer Orgel, am Heiligen Abend als Nachspiel den Schlusssatz aus Olivier Messiaens (1908-1992) Orgelzyklus La Nativité du Seigneur gespielt, einen virtuosen Klassiker der neueren Orgelliteratur, komponiert 1935. Ich selber hatte mit diesem Stück in liturgischem Kontext etwa zeitgleich folgende Erfahrung: Nach dem Umbau meiner Orgel in Nürtingen im Herbst 1994 konzipierte ich zusammen mit dem Dekan den Gottesdienst am 2. Weihnachtsfeiertag, der jedes Jahr ein spezieller Musikgottesdienst war, dergestalt, dass ich einzelne Sätze aus diesem MessiaenZyklus spielte und er dazwischen passend ausgewählte Texte des Messiaen-Generationsgenossen Karl Rahner (1904-1984) vortrug. Kaum war beim fulminanten Nachspiel Dieu parmi nous der Schlussakkord verklungen, ertönte eine Stimme im Kirchenraum. Ein durchaus nicht alter, knapp 40-jähriger, regelmäßiger Gottesdienstbesucher beschwerte sich von den Altarstufen aus über die Zumutung der Musik in diesem Gottesdienst. Er drohte auch sogleich mit Verweigerung des Gottesdienstbesuchs, wenn das so weitergehe. Dieser Protest löste nun eine sehr lebhafte Diskussion aus. Zahlreiche Besucher unterhielten sich engagiert in Gesprächsgruppen, ein Vorgang, den ich bei keinem Gottesdienst vorher und nachher wieder so erlebt habe. – Kommentar: Dieser Gottesdienst war als ästhetisch ambitionierte Praxis tatsächlich eine Herausforderung. Er war im Gegenüber von Wort und Musik stimmig konzipiert, so dass die Besucher nicht lediglich mit etwas Fremdem konfrontiert wurden („friss oder stirb“), sondern sich auf den Weg zur Horizonterweiterung mitnehmen lassen konnten. Der Protestierer jedoch war – warum auch immer – wohl nicht fähig und willens, sich auf diesen Weg zu begeben. Letztlich handelt es sich um einen Dissens im Gottesdienstverständnis: Gehe ich in die Kirche um der Affirmation meiner Weltanschauung willen oder erwarte ich Infragestellung und Horizonterweiterung? Bei beidem spielt die ästhetische Dimension eine entscheidende Rolle. Die aktuellen liturgischen Strategien zur Befriedigung bestimmter Milieus übernehmen meist unreflektiert erstere Position: Wir bieten Euch die Musik, die ihr hören und die Lieder, die ihr singen wollt. Kritiker nennen das verächtlich Wohlfühlkirche. Die regressive, identitätsstabilisierende Komponente gottesdienstlichen Feierns ist gewiss wichtig, aber um Gottes und 71

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der als andere als vollkommenen Welt willen, bedarf es stets auch der Herausforderung, nicht zuletzt in Gestalt des ästhetischen Ärgernisses. Das Kreuz Christi selbst ist hierfür Vor-Bild. 4. Bachjahr 2000. Eine Erlanger Kantorei bereitet die Aufführung der h–Moll–Messe von J.S. Bach vor. Kurz vor dem Aufführungstermin ist Gottesdienst zum Gemeindefest. Dieser wird bespielt mit Sätzen zum Kyrie und Gloria aus Bachs großer Messe – mit vollem Orchester inklusive glänzender Trompeten. Gemäß der liturgischen Anordnung ist dieser „Job“ vor der Predigt erledigt. Auf die Predigt folgt als Gemeindelied ein inhaltlich wie musikalisch sehr schlichter Song, der auf Handzetteln verteilt wurde. Eine Gitarre und eine Querflöte spielen das Lied vor und führen den nun ziemlich kümmerlichen gemeinsamen Gesang an. – Kommentar: Die ästhetische Diastase zum Vorausgehenden war nicht nur hinsichtlich des Musikstils, sondern auch hinsichtlich des Anspruchs extrem – dort professionelle Hochkultur, hier dilettantischste Hausmusik, liturgisch offenbar legitimiert durch den Kasus Gemeindefest. Dieses Beispiel verdeutlicht wohl zur Genüge, in welchen Polaritäten die musikalische Ausgestaltung und damit das ästhetische Setting der Gottesdienste sich heute bewegen. In vielen Fernsehgottesdiensten agieren heute verschiedene, stilistisch und im Niveau deutlich divergierende, Musikgruppen. Das soll die Diversität der „Volkskirche“ abbilden und zugleich das Gelingen von Gemeinde als Miteinander im Aufeinanderhören. Ein ästhetisch stimmiges Setting ist im Medium Fernsehen weniger relevant, wo das Film-Paradigma des „Schnitts“ eine große Rolle spielt. Inwieweit das die Gemeindewirklichkeit tatsächlich abbildet, wäre jeweils zu überprüfen. Allgemein wäre zu erforschen, ob es tatsächlich eine Dialogizität der Musikstile gibt dergestalt, dass ästhetische Lernprozesse über Milieugrenzen hinweg angestoßen werden, und zwar in verschiedene Richtungen, nicht nur von unten nach oben, von „low level“ zu Hochkultur, oder von Pop zu Klassik, sondern auch umgekehrt. Wenn es denn gelänge, in der gemeinsamen Ausrichtung auf Gott im Gottesdienstgeschehen die ästhetischen Schranken der Milieus zu überwinden und wechselseitige Horizonterweiterungen anzustoßen, dann wäre Gottesdienst ein exemplarisches ästhetisches Lernfeld mit großem Potential für den Anstoß analoger gesamtgesellschaftlicher Prozesse. 72

KONRAD KLEK: GOTTESDIENST

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Der Kampf um den und mit dem Zuschauer Bemerkungen zum Verhältnis von „Theater“ und seinen Betrachtern

Nutzt man den Begriff Kampf, so stellen sich zwangsläufig einige Fragen, auch wenn die Verwendung dieses Wortes zunächst rein rhetorisch motiviert sein mag: Beispielsweise nach denjenigen, die dort aneinandergeraten (wer kämpft gegen wen?), den zugrunde liegenden Motivationen (warum kämpft man bzw. lässt sich auf einen Kampf ein?) und möglichen Zielen, die mit den Kampfhandlungen verbunden sind. Denn wer kämpft, will meistens auch siegen. Aber worin genau besteht der Gewinn in diesem Kampf? Gibt es Verlierer – und wie geht es ihnen in und mit der Niederlage? Schließlich: Wie bringt man in diesem „Getümmel“ noch Aspekte Ästhetischer Bildung unter? Man würde diesen nicht unbedingt einen kämpferischen Hintergrund unterstellen, zumal Bildung ein Subjekt mit sich selbst in Beziehung setzt. Dies geschieht zwar nicht ohne Aufwand, aber meist ohne Streit – im Gegensatz zum Lernen, das aus diversen Gründen nicht ohne ein Ringen, das man auch als Zweikampf bezeichnen könnte, auskommen kann (Prange 2010: 62f.). Jedoch sollen im Folgenden die eben aufgeworfenen Fragen im Hinblick auf die Ästhetische Bildung diskutiert werden, zumal jene in diesem Kontext als heimliche Überschrift und/oder Klammer des vorliegenden Beitrags gelten darf.

Wer kämpft (gegen wen)? Wenn ich zunächst meine Aufmerksamkeit bzw. meinen schweifenden Blick auf einige tatsächliche, mögliche und denkbare Facetten einer Begegnung von „Theater“ und seinen Betrachtern richte, geschieht dies gewissermaßen zur Kartographie der Arena. Mit „Betrachtern“ sollen nicht allein die Zuschauer gemeint sein, die konkret (und tatsächlich noch) Aufführungen besuchen, diese an-

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schauen und sich dabei unmittelbar „im Nahkampf mit dem Dispositiv“ (Agamben 2008: 27) befinden. Mit Betrachtern sind auch diejenigen Akteure gemeint, die sich des „Theaters“ als Mittel ihrer (vielfältigen) Zwecke bedienen, wobei diese theoretischer, praktischer, journalistischer und/oder pädagogischer Natur sein können. Auch wenn man hierbei eher von einem mittelbaren Umgang mit „Theater“ sprechen könnte, sind einzelne „Kampfhandlungen“ – gerade im journalistischen Bereich, wo in beständigen Zyklen immer wieder Theaterskandale beschworen werden, wobei die Kontroversen um das so genannte Regie-Theater am meisten Konjunktur haben (vgl. Noack 2008; Gutjahr 2008) – nicht ausgeschlossen: Meine Verwendung des Betrachter-Begriffs impliziert, dass sich mit ihm diese „Kämpfe“ auch als dezidierte Thematisierungen von Diskursen Ästhetischer Bildung denken lassen bzw. so überhaupt erst denkbar werden, zumal diese sich im „Theater“ – und seiner vielschichtigen Praktiken – ohnehin mehr als externe Zuschreibungen, denn als konkrete Handlungen rekonstruieren lassen. Darüberhinaus birgt der Begriff der Betrachtung eine Distanz, die ein Zuschauer bestenfalls nicht hat: Wenn es mir in diesen Überlegungen um „Theater“ geht, so ist damit nicht eine bestimmte Spielart der sich dort realisierenden Darstellungsformen, sondern eher die institutionelle Dimension seiner Verankerung in das gemeint, was wir Gesellschaft und/oder Kultur nennen. Diese Perspektive sieht sich einerseits von den Überlegungen Dirk Baeckers und seiner Frage inspiriert, inwieweit dem Theater gegenwärtig (noch) eine gesellschaftliche Funktion zugewiesen werden könne (Baecker 2013); andererseits soll damit die bereits angedeutete Annahme illustriert werden, dass sich die „Kämpfe um Ästhetische Bildung“ immer als Auseinandersetzungen zwischen Beobachtern zweiter Ordnung gestalten. In der Konsequenz bedeutet dies, dass sich der Abstand zum eigentlichen theatralen Vorgang, nämlich die unmittelbare Konfrontation von Szene und Zuschauer, zwar vergrößert, jedoch damit der dem Kampfbegriff innewohnende, latent aggressive Anspruch auf einen Sieg und/oder (Selbst-)Überwindung partiell diskursiviert werden kann. Ein weiterer Grund für die argumentative Ausklammerung von performativen Praktiken der Szene ist deren unfassbare Komplexität – und zwar im wörtlichen wie übertragenen Sinne. 76

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Im Gegensatz zu normativ gefassten Vorstellungen, was jeweils als „Theater“ zu gelten hat bzw. was als solches erwartet wird, zeichnet sich die Szene durch eine sinnliche (Über-)Fülle und flüchtige Materialität aus. Dabei ist ihre (re-)präsentische Simultanität eng in eine vielschichtige Historizität gewoben; diese Aspekte und die gleichermaßen gegebene Selbstbezüglichkeit als szenisches Phänomen unterlaufen permanent die normativen Vorgaben, die meistens einen impliziten Objektivitätsanspruch formulieren, und stellen den Zuschauer, auch und gerade, wenn es sich in ihm um einen Theaterwissenschaftler handelt, der – als spezieller Betrachter – eine Analyse der Aufführung – als spezifische Betrachtung – verfassen möchte, vor einige Probleme (vgl. dazu Fischer-Lichte/Risi/Roselt 2004; Fischer-Lichte u.a. 2006; Wortelkamp 2006). Die Darstellung auf der Szene meint sich und etwas anderes, sie findet im Augenblick statt und ist doch nicht voraussetzungslos; als Zuschauer kann man sowieso nur einen kleinen Ausschnitt des (fiktionalen und/oder als wirklich behaupteten) Lebens, das sich dort konzipiert, formatiert und realisiert sieht, wahrnehmen und verarbeiten – und man kann sich dabei gleichzeitig selbst auch nur sehr selektiv im Blick haben. Dazu müsste man sich, wenn es um mögliche Formen der Verarbeitung von sinnlichen Angeboten des Performativen ginge, viel intensiver den „Kämpfen“ (in Wahrnehmung und Ausdeutung) des Zuschauers mit dem szenisch Annoncierten widmen. Allein, diese Vorgänge entziehen sich ob ihres individuellsubjektiven Charakters dem Zugriff einer systematisch validen wissenschaftlichen Methode. Viele qualitative wie quantitative Ansätze einer Publikumsforschung im Theater, z.B. die Verkabelung einzelner Zuschauer zum Messen von Puls und anderen Vitalfunktionen, das Erfassen von Meinungen und Eindrücken per Interview und Fragebogen, das Applaudimeter und andere Apparaturen sind nicht wirklich über Ansätze der Rekonstruktion der Publikumsreaktionen hinaus gekommen. Die wissenschaftliche Darstellung eines Einzelverhaltens, das in ein Kollektivverhalten eingebettet ist, aber nicht generalisiert werden darf, bleibt eine Herausforderung – und endet meist in ordnungspolitischen Befunden und/oder organisationssoziologischen Setzungen (z.B. Hänzi 2013). Die Komplexität des Zuschauens (als Kampf) zeigt sich in der ambivalenten Ausrichtung der theaterwissenschaftlichen Bearbei77

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tung, die sich in ihrer Ausgangslage durchaus darüber bewusst ist, dass, wenn man über den Zuschauer spricht, man sich damit auch immer selbst meinen kann. Von daher erscheint es einfacher, sich – in defensiver Ausrichtung – allein mit Strukturen zu beschäftigen, die sowohl ein Miteinander als auch ein Gegenüber von „Theater“ einerseits und „Zuschauer“ andererseits ermöglichen, weil so eine Distanz zwischen dem abstrahierten Gegenstand und seiner theoretischen, historischen und/oder analytischen Betrachtung geschaffen wird. In der Theorie kann dies allerdings auch dazu führen, dass sich der Schwerpunkt der Wahrnehmung auf Bereiche verlagert, die nur noch indirekt mit dem szenischen Geschehen zu tun haben müssen, wie es Sabine Schouten (2007) im Hinblick auf die Atmosphäre bei Aufführungen und Jens Roselt (2008) im Bezug auf sich selbst als Wahrnehmenden exemplarisch herausgearbeitet haben. So wird – in offensiver Ausrichtung – die Auseinandersetzung mit dem „Theater“ unter Anwendung der These eines Spectator in the Leading Role (Schoenmakers 1990) in Angriff genommen – und implizit auf den dabei „obsiegenden“ Wissenschaftler übertragen.

Wozu also kämpfen – oder: Der Kampf um den Zuschauer Im öffentlichen Werben des „Theaters“ um Legitimation und Aufmerksamkeit war und ist, damals wie heute, der Kampf um den Zuschauer viel deutlicher ökonomisch als formal oder inhaltlich motiviert. Solange „Theater“ noch Ritual war, wie z.B. in der griechischen Antike – und die Konsequenzen dieser einstigen formalen Verfasstheit strahlen bis in unsere Gegenwart aus –, brauchte es inhaltlich keine besonderen Anstrengungen zu unternehmen, einen Zuschauer für sich einzunehmen. Streng genommen war der Bezug auf den Zuschauer irrelevant, da ein wesentliches und strukturell unabdingbares Kennzeichen von Ritualen die Eingemeindung und vollständige Umfassung aller Beteiligten ist (vgl. Turner 1995; Gebauer/Wulf 1998). Eine ähnliche Situation ergibt sich, wenn man „Theater“ – ob der Nähe zu kultischen Festen – als säkularisierte Form eines Gottesdienstes versteht, die zu einem repräsentativen (und repräsentierenden) Fest wird; auch hier ist die Trennung von institutionalisierter Form und gelebten Handlungen nicht vorgesehen. Besten-

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falls ergibt sich so eine große Kongruenz zwischen den formalen und inhaltlichen Angeboten, die das „Theater“ macht, und dem Nutzen, den der Betrachter daraus zieht. Hierbei scheinen vor allem Fragen der „Psychohygiene“ relevant, die sich zum einen durch das Erleben einer Katharsis und zum anderen in der sich selbst ansichtig werdenden Polis, die sich z.B. im formalen Gefüge des Chores wieder erkennt, stellen. Diese relative Einvernehmlichkeit wurde in der Antike flankiert durch das agonale Prinzip der Dionysien; der dort abgehaltene Dramenwettbewerb schuf eine relative Distanz, die einen Zuschauer als richtendes und urteilendes Gegenüber überhaupt erst ermöglicht und seine Meinung würdigt (vgl. Lehmann 1991). Jedoch kann von einem Kampf um ein Publikum nicht die Rede sein – vor allem nicht im Hinblick auf potentiell Ästhetische Bildungsprozesse. Dass die Dramentexte der Antike (und im gewissen Sinne auch die spekulativ unterstellten Aufführungspraktiken) im Sinne der Bildung kanonisiert wurden, ist das Ergebnis einer humanistischen Bildungsidee, die erst eineinhalb Jahrtausende später formuliert wurde – und die uns bis heute beschäftigt. So war denn auch Bildung als Vorsatz und/oder Motivation in der Zeit, in denen sich das „Theater“ als profanes und vulgäres Unterhaltungsmedium behaupten musste, nicht relevant. Zwar ist das dem „Theater“ innewohnende dialogische Moment – sei es als mimisch-gestische bzw. audiovisuelle Interaktion zwischen Darstellung und Wahrnehmung, sei es als Text ausagiert und in die Semantiken der Sprache überführt – allein schon Kennzeichen einer „Unterhaltung“; jedoch wird diese oftmals im Sinne eines vermeintlich geistlosen „Entertainments“ verstanden, was dazu führen kann, dass die Potentiale des Amüsements überbetont werden: Einmal in den Augen derer, die über die Hierarchie der Kunst, in deren Augen Theater lange als grob, unfein und nicht kulturwürdig galt, wachen (vgl. Hammermeister 2007: 139-164) und auch in den Augen jener, die gerade hierin die moralische oder politische Sprengkraft des Theaters erkennen. Dass dabei – wie bereits angedeutet – die Wirkmechanismen des Rituals im „Theater“ beibehalten werden, auch wenn man sich den Kampf um die Aufmerksamkeit eines Publikums als drastische Konkurrenz zwischen Spiel-Szene und im Parkett parallel weiterlaufenden Leben vorstellen darf, wird von Stephen Greenblatt in seinen Verhandlungen mit Shakespeare als Strategie, „Thea79

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ter (als ein) Produkt kollektiver Intentionen“ zu fassen, wie folgt beschrieben: „Es mag zwar tatsächlich einen Zeitpunkt geben, an dem ein einsames Individuum damit beschäftigt ist, Worte aufs Papier zu bringen, aber es [...] erweist sich selbst der Moment der Niederschrift bei näherer Betrachtung als ein sozialer Moment. Dies ist im Falle Shakespeares, der seine Rückgriffe auf andere literarische Quellen nicht verschweigt, besonders deutlich, doch gilt das auch für Autoren, deren Entlehnungen weniger offensichtlich daherkommen, denn sie bleiben alle kollektiven Genres, Erzählmustern und Sprachkonventionen verpflichtet. Zweitens richtet sich das Theater ganz offensichtlich an ein kollektives Publikum. Sein Adressat ist nicht, wie beim Roman des neunzehnten Jahrhunderts, der individuelle Leser, der sich aus der geschäftigen, öffentlichen Welt in die Privatheit von Heim und Herd zurückzieht, sondern die Menschenmenge, die sich in einem öffentlichen Vorführraum zusammenfindet“ (Greenblatt 1988: 10).

Man könnte nun noch einen Schritt weitergehen und behaupten, dass erst die neuzeitliche Literarisierung des Theaters dieses zum „Theater“ macht, was wiederum eine Öffentlichkeit als Publikum voraussetzt. Dieses ist stets als Kollektiv gemeint – und setzt sich eben nicht aus individuell verschiedenen Zuschauern zusammen, um die man einzeln zu kämpfen hat. In dieser Konstellation lassen sich notwendig moralische und/oder erzieherische Vorstellungen viel effektiver artikulieren und adressieren: So weist Ruedi Graf (1992) in seiner Studie vom Theater im Literaturstaat überzeugend nach, wie das Theater langsam zu einem Schauplatz der intellektuellen Emanzipation bürgerlicher Schichten – und damit zum „Theater“ wird. Im komplexen und diffusen Feld der kulturellen Praxen im Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts erodierte das etablierte Textmonopol der Schule, der Universität und der Kirche langsam zugunsten einer breiteren Öffentlichkeit. Dabei wurde das Theater zum Sammelbecken einer „zweite[n] literarische[n] Gesellschaft, die sich außerhalb der offiziellen Kanäle von Schule, Kirchen und Universitäten bewegt“ (ebd.: 14; vgl. 119-155). Die Hindernisse, die man zwischen dem Beginn und Ende des 18. Jahrhunderts zu überwinden hatte, lagen unter anderem auch im Grad der Institutionalisierung des Theaters begründet. Um die Konventionen des (kirchlich organisierten) Schultheaters gesellschaftlich zu öffnen, musste die moralische Satisfaktionsfähigkeit 80

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des misstrauisch beäugten und gesellschaftlich diskreditierten Theaterwesens sichergestellt werden. In diesem Zusammenhang „zeichnet sich eine doppelte Bewegung ab, die ständische Gelehrsamkeit und Wanderbühnen miteinander in Kontakt bringt. Den Bemühungen der Wandertruppen, gesellschaftliche Respektabilität zu erlangen, entsprechen bis zu einem gewissen Grade die Bemühungen der Gelehrsamkeit, für ihre Aktivitäten einen neuen Resonanzraum zu finden. [...] Die Reformtätigkeit wird zu einem Aggregationspunkt für die zerstreuten kulturellen Praxen. Der bürgerliche Reformer sammelt, selegiert, assimiliert und verstößt. Seine Sammeltätigkeit bezieht sich auf Sachen und Personen. Er sammelt ein Korpus von Werken für die Literaturgesellschaft, und er sammelt die Leute, die zu deren Agenten werden. Er ‚erlöst‘ die Literatur aus ihren ständisch-institutionellen Bindungen, aus ihrer plebejischen Würdelosigkeit, indem er sie vereinheitlicht unter dem Begriff der schönen Literatur, des regelmäßigen Dramas mit zuerst eindeutig moralischen, später überwiegend ästhetischen Konnotationen. Am Ende der Entwicklung werden die Wanderbühnen zu stehenden Theatern, die ständische Gelehrsamkeit hat sich in die verschiedenen intellektuellen Berufe aufgeteilt und eine neue Schicht einer literarischen Intelligenz ausdifferenziert. Sie produziert und diskutiert die literarischen Werke, die auf der Bühne zu authentischer Gestalt kommen sollten. Im Dispositiv des neuen Theaters entstehen die Figuren des literarischen Autors, des literarischen Kritikers, ein neuer Typus Schauspieler, der Regisseur und die Theaterkritik und schließlich ein erwartungsvolles Publikum, das seine erfüllten Hoffnungen mit Applaus und seine enttäuschten mit Pfiffen quittiert“(ebd.).

Darüberhinaus wird das potentiell destruktive, weil affekthafte Handeln des Zuschauers zunehmend durch Theatergesetze, Benimmregeln und eine sich ausdifferenzierende soziale Disposition domestiziert. Eine Entwicklung, die sich exemplarisch an zwei Bildwerken von Honoré Daumier zeigen lässt: Während in Le drame (1860) noch stark übertriebene Posen und in ihrer Emotionalität typisierte Gesten (zu einem gerade stattgefundenen Bühnentod) und dazu korrespondierende Mimiken im Publikum zu erkennen sind (vgl. Abb. 1), sitzen seine Zuschauer im Theater (1863) emotional kaum bewegt vor uns (vgl. Abb. 2). Sie gehören – wie an ihrer Kleidung ersichtlich wird – der gehobenen Schicht an. Vor ihren versteinerten Mienen läuft die Darbietung ab, sie sind emotional kontrolliert und lassen sich nicht von ihren Empfin-

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dungen leiten – im Gegensatz zu den eher kleinbürgerlichen Besuchern in Le Drame, die mitfiebern und sich von den dargebotenen Emotionen umfassend anstecken lassen. Daumiers Zuschauer im Theater verkörpern das für ihre Klasse typische Selbstbild der Zurückhaltung und Selbstzufriedenheit. Diese Rezeptionshaltung soll sich im weiteren Verlauf der Theatergeschichte als bedeutsam herausstellen, begann doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts die vollständige „Stillsetzung“ des Publikums – und damit die vorläufige Eliminierung des Zuschauers als Subjekt.

Abb. 1: Honoré Daumier – Le Drame (1860), Öl auf Leinwand, 98 x 90 cm. München – Neue Pinakothek. Aus: Paolo Lecaldano (Hg.): Klassiker der Kunst. Das gemalte Gesamtwerk von Daumier. Mailand 1971. Tafel XXXI.

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Abb. 2: Honoré Daumier – Zuschauer im Theater (1863), Öl auf Holz, 26 x 35 cm. Washington, National Gallery of Art. Aus: Paolo Lecaldano (Hg.): Klassiker der Kunst. Das gemalte Gesamtwerk von Daumier. Mailand 1971. Tafel XLIV.

Das mit diesem Vorgang zusammenhängende Bildungsprogramm beschreibt Kai van Eikels (2013) in einem Aufsatz mit dem schönen Titel „Das Publikum muss weg, damit Theater sich Politik mehr als einbilden kann. Oder weniger als“ als Wandel der Kritik, die im 18. Jahrhundert die „Idee einer Würde des Zuschauers“ entwickelt habe und deren Anspruch es gewesen sei, „etwas der Verfassung des Zuschauers Gemäßes zu produzieren“ (ebd.: 3). Van Eikels zufolge ist von dieser Idee gegenwärtig wenig übrig. Daran ändert auch der an das „Theater“ herangetragene Anspruch auf die Verhandlung und Verwirklichung einer Ästhetischen Bildung erst einmal nichts, zumal die Operationalisierung des rituellen Kerns in den diversen Experimenten der avantgardistischen Theatermacher des 20. Jahrhunderts eher an einer Legitimation der gesellschaftlichen Funktion von „Theater“ durch die Wandlung des Kampfes um in einen Kampf mit dem Zuschauer interessiert war.

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Variation der Auseinandersetzungen: Der Kampf mit dem Zuschauer Die beginnende Verknüpfung von Bildungsideen mit dem Theater wurde durch die Literarisierung der Szene befördert; im Kampf um den Zuschauer bedeutet dies dessen Vereinnahmung: Man setzte ihm etwas als „Theater“ vor und hoffte – mit wechselndem Erfolg – auf dessen Einverständnis bzw. Mitwirkung. Die (moralische) Kritik am Theater wurde zur einer Kritik des Theaters; das, was auf der Bühne sichtbar wurde, war an einen Text gekoppelt und wurde damit erwart- und bewertbar im Sinne von „richtig“ oder „falsch“. Dies bedeutete aber nicht nur die Kontrolle der Affekte des Zuschauers, sondern auch eine Bändigung der Theaterproduzenten, was u.a. in der Überwindung des Stehgreifspiels, der Arbeit an einem Ensemble (anstelle des posierenden Stars und des gängigen Virtuosen) und der Ausbildung von Schauspielern zum Ausdruck kam. Neben der Etablierung der „Herren des Theaters“, die als Vorläufer der Regie als Ordnungsinstanz über die Einhaltung der Regeln von Anstand und Sitte in den Theaterbetrieb eingesetzt wurden (Heeg 2000: 174f.), sahen sich diese Maßnahmen zusätzlich durch technische und bürokratische Vorgänge flankiert: Mit Einführung der elektrischen Beleuchtung wurde es schließlich möglich, den Zuschauerraum abzudunkeln und damit das Spiel der Blicke im Theaterdispositiv zu unterbinden. So setzten sich eine Zentralisierung und Fokussierung des Blicks auf den Guckkasten als dominante Wahrnehmungsanordnung des Theaters durch und die moralischen Vorstellungen des Bürgers, der zum maßgeblichen Träger dieser Entwicklungen wurde, konnten sich in den restriktiven Theatergesetzen bestätigt sehen. Es kristallisierte sich so ein bürgerliches Theaterideal heraus, dass man als starres Ordnungsprinzip verstehen muss, an dem jeder, der im Theater anwesend war – ob nun auf der Bühne oder im Zuschauerraum – seinen fest zugewiesenen Platz hatte. Diese Entwicklung schien für die formale Aufwertung des Theaters (und seines Besucher) und seiner normativen, kulturellen Nobilitierung ebenso notwendig, wie sie für die performative, künstlerische Praxis des Theater selbst von Nachteil war: „Theater“ als Theater sieht sich zu einem Agenten einer (moralischen und literarischen) Bildungsidee verkümmert, die auf einen Großteil spezi-

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fisch theatral-performativer Strategien einer Einwirkung auf den Zuschauer verzichten musste. Die Fronten schienen geklärt. Mit der „Entdeckung des Zuschauers“ (Fischer-Lichte 1997), die eigentlich seine Wiederentdeckung und die Aufhebung der eben etablierten Regelhaftigkeit meint, beginnt der Kampf mit dem Zuschauer. Dieser findet maßgeblich in den experimentellen Arrangements der Theaterreformer statt. Hier wird der Zuschauer entweder – ob seiner durch die Konventionen erzwungenen oder freiwillig gelebten Passivität – zu einem „feindlichen“ Gegenüber, das mit brachialen Methoden verstört werden soll. Man denke in diesem Zusammenhang an die Aussagen des Futuristen Filippo Tomaso Marinetti, der den Zuschauerraum als Kampfzone ansah und der den Tumult als Qualitätssiegel der futuristischen Aktionen propagierte, den er durch das mehrfache Verkaufen eines Theatersitzplatzes, das Anbringen von Pfeffersäcken und das Abfeuern von Maschinengewehrsalven unter den Sitzen zu initiieren gedachte. Oder aber der Zuschauer wurde zu einem Komplizen bei der Erneuerung des Theaters – sei es als vereinnahmtes Objekt in den (kunstreligiösen) Soireen der Expressionisten um Herwarth Walden und Lothar Schreyer, die das Theater als Gesamtkunstwerk begriffen, oder sei es als tätiges Gegenüber, als KoProduzent von Aufführungen, die ohne ihn undenkbar waren. Mit diesen Strategien rückt Theater deutlich von der Auffassung, man habe es mit einem regulierbaren (und durch die Dominanz des Dramas reguliertes) Werk zu tun, ab – und betont demgegenüber zunehmend seinen Ereignischarakter. Auch angesichts von technischen Innovationen (z.B. der Erfindung der Drehbühne) und der Einführung von Film und Fotographie zur Dynamisierung des Blickgeschehens, arbeiteten sich die Theaterreformer an den als überkommen erfahrenen Mustern der Repräsentation und dem durch die Rampe klar gegliederten Verhältnis von Theater und Zuschauer ab, um den Zuschauer stärker in das Theatergesehen zu integrieren. Im Gegensatz zum Theater als gesellschaftliches Ereignis, wie es in den oben kurz beschriebenen Bildwerken aus dem 19. Jahrhundert zum Ausdruck kommt, wo sich das stillgelegte, bildungsbürgerliche Publikum unabhängig von den jeweiligen Darbietungen meist selbst genug war, rückt nun der Zuschauer und seine konkrete Anbindung an das Bühnengeschehen in den Mittelpunkt der Bemühungen. Mit dieser – eben auch die Theaterwissenschaft prägenden – Theateri85

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dee gehen – zumal aus Sicht einer wünschenswert normativen Pädagogisierung des Rezeptionsvorgangs – automatisch Abwehrreflexe einher: Der Zuschauer möchte individuell vielleicht gar nicht aufgewertet und wiederentdeckt werden; er beharrt auf die Verbindlichkeit des (Dramen-)Textes und wünscht sich „Werktreue“ – diese öffentlichen Diskurse können bis heute u.a. als Kämpfe des „Theaters“ mit dem Zuschauer gedeutet werden. Dabei ist die Situation des Gegenwartstheaters einigermaßen paradox: Auch wenn sich die überwältigende Mehrheit der Theaterproduktionen (im deutschen Sprachraum) immer noch an den Mustern der szenischen Repräsentation abarbeitet – man schaue dazu nur einmal in die Spielpläne der Staats- und Stadttheater, die dort ihren institutionellen Anspruch der Aufrechterhaltung eines literarisch anspruchsvollen Kanons angesichts ihrer relativen gesellschaftlichen Marginalisierung durch Casting-Shows, soziale Netzwerke und prekäre Selbst-Inszenierungen in Politik und Gesellschaft als ideologischen Rückzugsraum des „Guten, Wahren und Schönen“ formulieren –, so hat sich die Theaterlandschaft und -praxis in den letzten 25 Jahren dynamisch entwickelt und laufend zu neuen Formaten, Inhalten und Ästhetiken geführt, die in dieser Fülle zu keinem anderen Zeitraum in der Theatergeschichte zu finden sind. Aus dieser Grundkonstellation ergibt sich eine gewisse beidseitige Verunsicherung, deren heftige Ausbrüche bzw. Ausschläge man exemplarisch in den Debatten um das Regie-Theater (und die damit vermeintlich einhergehende Entmündigung bzw. Entwürdigung des Publikums) beobachten kann. Diese Entwicklung kumulierte in jüngster Vergangenheit in einer Regie-Arbeit von Jürgen Gosch, d.h. in seiner umstrittenen Macbeth-Inszenierung aus dem Jahr 2005 (Schauspiel Düsseldorf). Jene Inszenierung stand mehr oder weniger am Beginn der letzten allgemeinen öffentlichen Erregung über das (Regie-)Theater. Nun kann man sich über die interpretatorische Auslegung des Shakespearschen Dramas – und seiner szenisch sichtbar werdenden Kennzeichen – durchaus streiten; man kann sich von der Nacktheit der Darsteller, die hier in einem – für mich – offensichtlichen Kontrast zu all den Nöten und Befürchtungen einer ansteckenden Erotik des Körpers operieren, wie sie im 18. und 19. Jahrhundert noch galt und beispielhaft in der „Angst des Zuschauers vor der Schauspielerin“ zum Ausdruck kam (vgl. Kolesch 2006: 213-236) herausgefordert fühlen; man kann sich von diesem offen86

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siven Gebrauch des Körpers als Theaterzeichen gestört und irritiert sehen; man kann den Theatermachern unterstellen, gegen die Absichten des Autors gehandelt zu haben, wobei man sich darüber im Klaren sein muss, dass wahrscheinlich auch die Uraufführung des Textes zu Shakespeares Zeiten ausschließlich von Männern realisiert wurde – und hier noch viel stärkere Grobheiten performativ in Szene gesetzt wurden, um sich – wie hier bereits angedeutet – der Konkurrenz im Parkett zu erwehren. Man kann die Aufführung blöde, banal und langweilig finden; das alles ist erlaubt – und genau hierin gründen sich die Probleme, auch und gerade für das Verhältnis von Theater und den Absichten Ästhetischer Bildung. Denn der Zuschauer von heute kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass seine Erwartungen an das „Theater“ als Maschinerie der Repräsentation – von vielleicht schulischem Wissen, hier: Macbeth als Modell für die Probleme der Machtgier, der Abhängigkeitsverhältnisse von Mann-Frau bzw. Herr-Knecht, der Freundschaft etc. – erfüllt werden und dann aus einer belesenen Distanz goutiert werden können. Im Gegenteil: Theater ist mehr denn je eine Strategie der Präsenz (ob nun durch die viel beschworene und kulturkritisch modellierte Opposition zu den „Medien“ sei an dieser Stelle offen gelassen). Es macht uns sprachlos, wenn sich „Theater“ als Theater an seine (affektiven) Möglichkeiten einer Wirkung erinnert, die der russische Theatererneuerer Alexander Tairoff wie folgt beschrieben hat: „Eine Wiedergeburt des Theaters (ist) so lange undenkbar, als nicht dem Zuschauer jene aktive Rolle, die ihm einstmals zukam, wieder zurückgegeben werde, als nicht von neuem jener belebende Pulsschlag des Kulthaften im Theater wiedererwache. Solange das nicht der Fall ist, kann Theater nichts anderes sein, als ein Heiligenschein, fern, fremd und streng“ (Tairoff 1989: 145f.).

Und dieser Heiligenschein, den sich die Kritiker des Gegenwartstheaters gern aufsetzen, weil sie damit u.a. auch die Bildungsidee eines bürgerlich geprägten (und für die gesellschaftliche Legitimität unabdingbaren) Theaterverständnisses als Kulturreligion propagieren, ist sakrosankt, was auch die fundamentalistisch anmutende Heftigkeit der Debatten erklären könnte (vgl. Balme 2008: 43-52). Die Möglichkeit des Zuschauers in seiner Rezeption und

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der Zuordnung von Sinnlichkeit und Sinn vom (offenen) Prinzip eines sowohl als auch Gebrauch zu machen, wird in diesem Diskurs ersetzt durch die Situation eines interpretatorischen entweder/oder, was der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann (2008: 26) wie folgt zu fassen versucht: „Ich würde nun folgende Hypothese aufstellen: Der Zuschauer könnte [...] in ein Spiel geraten zwischen einer Haltung, die sich an der Tradition von Kunsttheater orientiert, und einer sozusagen unbestimmten Position, im günstigsten Fall einer offenen Wahrnehmungseinstellung auf etwas hin, für das er noch keinen Begriff und keine genaue Vorstellung hat. In diesem Augenblick stellt sich die Frage, inwiefern es Theater als ästhetische Begebenheit – um es auf eine Formel zu bringen, die ich für hilfreich halte – zu tun hat gerade mit einer Unterbrechung des rein Ästhetischen, dass also die ästhetische Einstellung, wenn die Gesamtkonfiguration namens Theater recht wahrgenommen werden soll, selber unterbrochen werden muss durch die ein oder andere Weise der persönliche Involvierung des Zuschauers. Worin aber besteht, positiv betrachtet, dann die Tätigkeit des Zuschauers? Wenn er die Schauspieler nicht mehr beurteilen kann nach ihrer Fähigkeit, einen Charakter zu verkörpern oder einer Rolle zu spielen, eine Verkörperung einer Figur zu leisten? Was ist dann eigentlich die Leistung des Schauspielers, und wie kann ich auf diese Leistung als Zuschauer reagieren? Wonach muss ich fragen, suchen, meine Wahrnehmung orientieren? Diese Frage werde ich hier nicht beantworten, aber ich glaube, dass genau diese oft planvoll herbeigeführte Ungewissheit heute ganz wesentlich den Umgang mit Theater prägt: Dass man nicht genau weiß, wohin die Aufmerksamkeit zu orientieren ist, und schon der Akt, auf dieses oder jenes zu achten, zur Entscheidung und zum (Mit-)Spielraum des Zuschauers wird. Es entsteht eine Verunsicherung, die zugleich große Chancen mit sich bringt. Der Zuschauer ist praktisch, mehr aber noch ästhetisch, die zentrale Frage des Theaters, seiner Praxis und seiner Theorie geworden.“

In diesem Szenario werden die mit dem Zuschauen verbundenen, mehr oder weniger fest definierten, Positionen zugunsten einer gewissen Unwägbarkeit weggeräumt. Der Zuschauer ist so im Ergebnis den Paradoxien des Zuschauens ausgesetzt, die ihn z.B. zwischen den Polen des Verstehens und des Unverständnisses, des Schönen und Hässlichen, der Lust am Blick und dem Ekel, dem Nicht-hinschauen-Können orientierungslos mäandern lassen. Hinzu kommt, dass das, was für den Vollzug der Wahrnehmung 88

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von Theater sich vielleicht noch ästhetisch klassifizieren lässt, eine deutliche Herausforderung für (ästhetische) Bildungsprozesse markiert. Worüber kann ich – z.B. als Lehrer – sprechen bzw. was kann ich vermitteln, wenn ich mich einer „planvoll herbeigeführten Ungewissheit“ ausgesetzt sehe? Kann ich dann überhaupt noch als „Ko-Produzent“ wirken, wenn nicht sichergestellt ist, was produziert werden soll? Verändert sich nicht auch die Idee von Bildung (und die mannigfaltigen Konfigurationen von „Theater“), wenn diese zunehmend mit dem Ereignis – abstrakt als Kategorie, konkret als das sich Ereignende – konfrontiert wird? Oder: Müsste sie sich nicht auch ändern?

Gewinnen und Verlieren Aus Sicht einer Schulklasse, die einen Theaterbesuch absolviert, hat das „Theater“ (und wohl auch Theater) den Kampf mit dem Zuschauer schon meist verloren, bevor eine konkrete Begegnung begonnen hat. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die Diskurse des Ästhetischen bzw. die Erwartungs- und Handlungshaltungen, die unter dem Label des Ästhetischen gefasst werden (u.a. die pädagogische Perspektive auf das, was man als kulturelle bzw. Ästhetische Bildung verstehen möchte) viel schwerfälliger (und in ihrer relativen Stabilität unattraktiver) erscheinen, als die dazu als Gegenstand und Gegenüber notwendigen performativen Praktiken. Man muss (in der Schule?) gelernt haben, dass es im „Theater“ – auch wenn man es manchmal vergisst bzw. das „Theater“ selbst diesem Vergessen Vorschub leistet – oft und unmittelbar um das betrachtende Selbst geht. Das gilt sowohl im Hinblick auf die sozialen Dimensionen dieser Handlung – man ist Teil einer besonderen bzw. verbesonderten Öffentlichkeit, die sich eine Art von Regelwerk von habitualisierten Interaktionsmustern leistet – als auch, und vielleicht brisanter, in Bezug auf die Aufführung als ästhetisches Ereignis. An wohl keinem anderen Ort wird man potentiell so radikal auf sich selbst im Sinne einer bewussten oder konstruierten Konfrontation aufmerksam gemacht, nirgendwo sonst werden die Folgeerscheinungen dieser mehr oder weniger vertrauten Begegnung mit sich deutlich – und kaum ein Ort verzeiht sowenig „Fehler“ wie dieser. Vielleicht ist das Theater dabei generell die paradoxe Oase des Scheiterns einer ins Gelingen verliebten

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Gegenwart: Sowohl derjenigen Menschen- und Weltbilder, denen wir bei ihrer Entstehung, ihren Krisen und Zerstörungen zuschauen dürfen, als auch unserer eigenen Konstitution, d.h. unserer Erwartung und Ansprechbarkeit für das, was sich uns als Darstellung zeigt und uns als Zuschauer im Publikum meint, auch dann, wenn wir uns gerade einmal nicht angesprochen fühlen. Normalerweise will das zuschauende Ich dort sinnlich, intellektuell oder ästhetisch angesprochen und unterhalten werden, es möchte vielleicht schöne Menschen in ansehnlichen Kostümen sehen, die sich in ansprechend gestalteten Räumen aufhalten; das zuhörende Ich möchte thematisch herausfordernde Texte, angenehme Stimmen und anregende Sounds oder passende Musik; das leiblich anwesende Ich möchte seinen Körper vergessen können, d.h. die Materialität seines Da-Seins ausblenden. Jedoch wissen wir, dass sich dieser Idealzustand und die damit verbundene Zufriedenheit nur äußerst selten einstellen. Die konkreten Rahmenbedingungen eines Theaterbesuchs, d.h. die Fixierung in unbequemen Sitzreihen der Theaterbauten, die aufoktroyierte Opferung eines Weltkontakts („Bitte schalten Sie Ihre Mobiltelefone ab“) oder der Umstand, Zeit als „Echtzeit“ zu erfahren, die keinen Gang zum Kühlschrank duldet etc., tun das ihrige dazu, um uns gefühlt als „Verlierer“ sitzen zu lassen. Im Gegensatz zu anderen Medien der Darstellung, die mit unserer Lebenszeit noch viel verschwenderischer umgehen als das Theater in seinem – zumal wenn es ästhetisch ambitioniert ist – „zweckfreien“ Tun, wird dieses häufig Gegenstand einer bitteren Anfeindung, die es jedoch nur manchmal verdient. In den anderen Fällen dient es lediglich der Ablenkung des sich bewusst gewordenen Ichs als Ego, das den „Kampf“ aufgegeben hat und dafür einen Schuldigen sucht. Es steht zu vermuten, dass diese Haltung häufiger vorzufinden ist; ein genauer Blick in die Besucherstatistiken des Deutschen Bühnenvereins lässt diese Annahme zu einer empirischen Tatsache werden: In den letzten 60 Jahren hat sich die Anzahl der Schauspielbesuche halbiert, auch wenn die Angebotspalette sich enorm verbreitert hat. Diejenigen, die noch ins Theater gehen, sind dabei oft in Kämpfe mit oder gegen sich selbst – sei es im Ringen mit der Müdigkeit, der fehlenden Empathie, der Langeweile, sei es im Aufbegehren gegen etwas, was es mit anschauen muss, ohne davon überzeugt zu sein – verwickelt. Darüberhinaus sind die Besucher überdurchschnittlich alt, unterdurchschnittlich 90

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migrantisch geprägt und bei weitem nicht mehr repräsentativ für das, was sich Gesellschaft nennt. Das „Theater“ führt allenthalben Rückzugsgefechte: Es müsste eigentlich um jeden Zuschauer kämpfen, um mit ihm aneinanderzugeraten, jedoch scheint es gegenwärtig zufrieden, wenn sich überhaupt ein Publikum einfindet. Wenn der Kampf um und mit dem(vor allem jungen) Zuschauer nun so aussichtslos erscheint und auch sonst viele Verlierer die Szenerie säumen, stellt sich die Frage: Wo bleibt der Gewinn? Ich habe dazu an dieser Stelle keine Antwort parat, sondern möchte mit einem Hinweis schließen: „Wenn wir Kunst als eine Option (als eine Option) betrachten, Menschen, die zu ihren Veranstaltungen kommen, Schwierigkeiten zu machen (und Kunst dies kann, weil sich in ihr ein Genießen organisiert hat, weil auch diese Schwierigkeiten ein Stück weit genießbar werden) – dann lautet die maßgebliche Frage diesbezüglich, was diese zusätzlichen Schwierigkeiten, die ich mir mit dem Besuch einer Kunstveranstaltung einhandle, für mich leichter machen. Auf diese Frage eine gute Antwort zu geben, machte eine politische Intelligenz für das Theater aus und trüge dazu bei, dass die Theatermachenden sich Politik weniger als einbilden“ (van Eikels 2013: 10).

Das gilt wohl auch für die Diskurse der Ästhetischen Bildung. Man sollte das „Theater“ als Theater noch viel ernster nehmen und vor allem dessen subversive Kraft – „als menschheitsgeschichtliche Einmalerfindung“ (Baecker 2013: 7) – verstärkt für die eigenen Anliegen nutzen.

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Das Leben einer Geisha

Vorbemerkung Im Jahre 1989 ist eine detailreiche Studie zu Funaoka Naka1, einer Geisha aus dem Bade- und Erholungsort Yugawara in der Nähe der Stadt Atami, erschienen, die auf einer äusserst einfühlsamen ethnographischen Studie von Ida Makiko beruht.2 Da das Material den Lern- und persönlichen Entwicklungsprozess einer zu diesem Zeitpunkt 83jährigen Frau nachzeichnet, stellt es ein eindrucksvolles Zeugnis nicht nur einzelner Erlebnisse und Ereignisse dar, sondern vor allem auch eine fazettenreiche Reflexion über ein ganzes Leben und das Ringen um eine von der Kunst her bestimmte Identität. Die Studie von Ida umfasst 288 Seiten, die unmöglich hier auch nur auszugsweise wiedergegeben werden können. Deshalb wähle ich als Grundlage für die Darstellung eine narrative Struktur, in der ich das Material in geraffter Form präsentiere, und füge dem Text zusätzliche Anmerkungen bei. Im Original finden sich allerdings viele Stellen, die durch eine gewisse Befremdlichkeit der Formulierung auffallen. Da diese aber die authentische sachliche und emotionale Sicht- und Urteilsweise von Funaoka Naka eindrucksvoll spiegeln, werden sie absichtlich so wörtlich wie möglich und ohne weiteren Kommentar so stehengelassen, wie sie geäussert wurden. Abrupt wirkende Themenwechsel dagegen, ebenso wie eine gewisse Willkür bei Wahl bzw. Auslassung von Topoi, liegen in meiner Verantwortung im Rahmen des Zwangs zu inhaltlicher Straffung.

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In diesem Aufsatz werden alle Namen in der japanischen Reihenfolge angegeben, also Familienname zuerst, gefolgt vom persönlichen Vornamen. Ida Makiko: Onsen Geisha Ichidai-ki (Aufzeichnung des ganzen Lebens einer geisha aus einem für seine heissen Quellen bekannten Ort), Tokyo (Kanô Shobô) 1989 (Bilder: 4, 131, 276).

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1. Der Weg zum Aka-pen

Abb. 1: Funaoka Naka

Frau Funaoka wurde als Yamaoka Naka 1907 als Tochter eines Gemüsehändlers von Monzen Nakachô in Fukagawa, einem alten Stadtviertel von Tokyo, geboren. Meine Mutter, erzählt sie, soll gerade Gemüse eingemacht haben, als sie sie gebar. Da man dazu viel Wasser braucht, war Mutters Körper kalt, und als ich herauskam, war ich ein kaltes Kind. Vater verbrauchte sein Geld zum Spielen. Mutter hielt das nicht aus, und als ich 7 Monate alt war, verliess sie mit mir das Haus. Mich gab sie einem Verwandten, dem kinderlosen Hafenarbeiter Funaoka. Als ich drei Jahre alt war verfiel dessen Frau in geistige Verwirrung;3 3

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Nach einer schweren Überschwemmung hatten die Menschen im Hafengebiet monatelang im Wasser leben müssen; die Kinder wurden während der Arbeit auf dem Rücken getragen.

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Stiefvater Funaoka arbeitete sich krank und starb dann 1915 an Vitaminmangel (Beriberi-Krankheit). Jetzt war ich alleine, und als einzige Überlebende Oberhaupt der Funaoka-Familienlinie. Ich kam bei einem Verwandten von Stiefvater unter, bis 1917 mich meine leibliche Mutter wieder aufsuchte.4 Sie besaß einen feinen, altstädtischen Sinn für Eleganz.5 Als Magd in einem Restaurant hatte sie einen Kunden namens Kasahara geheiratet. Der arbeitete im Fleischhandel6, hatte ein grosses Haus, trank und verspielte alles was er hatte. Ich war nun Schulmädchen und erbrachte recht gute Leistungen. Doch bald litt Mutter an einer Analfistel und konnte sich nach einer misslungenen Operation nicht mehr erheben. So brachte Kasahara eine junge Geliebte7 ins Haus.8 Meine arme Mutter blieb im hintersten Zimmer isoliert. Sie starb als ich 13 war, und ich ging in eine Glühbirnen-Fabrik arbeiten.9 Dann nahmen mich Kasahara und seine Geliebte mit nach Yokohama, wo er eine Grossmetzgerei errichten wollte. Doch alles war erst angedacht, als sich 1923 ein schreckliches Erdbeben ereignete. Aus den Gebäuden hingen Leichen, unter den eingestürzten Brücken lagen Leichen, im Fluss schwammen Leichen. Kasaharas Arbeitsplatz lag in Schutt und Asche. Ich musste in ein Restaurant arbeiten gehen. Der Besitzer war der Chef der Mafia (yakuza) des 4

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Hier wie während des ganzen Interviews benützt Funaoka Naka auf strengste Weise eine elegante und äusserst höflich-formelle Sprachform, die aber dennoch, vor allem mittels der Aussageabschlusselemente, eine charakteristische, fast intime Nähe zum Angesprochenen herstellt. Die Erzählerin schildert überaus genau die teils äusserst komplexen Form- und Farbkombinationen der zeitgenössischen kimono und kimono-Zubehörteile, ebenso die Frisurformen. Vermittler zwischen Viehhaltern und Schlachthof. Zu Hause hingen zum Trocknen für die Wurstherstellung Gedärme und Innerein für den medizinischen Gebrauch. Diese Stelle wirkt recht aussergewöhnlich, da Fleischkonsum in Japan zu jener Zeit eher unüblich war. Eine Frau, mit der er im Freudenbezirk von Shinagawa intim verkehrte. „Da wird man die Ehefrau von jemand, und trotzdem, ja, trotzdem, da wird man grad‘ mal krank, und im Nu kommt eine andere Frau ins Haus. Schändlich!“ Da sie sich als Oberhaupt der Funaoka-Linie weigerte, sich ins Register von Kasahara eintragen zu lassen, waren dessen Geschwister sehr erzürnt. Dies führte früh zum Entschluss von Funaoka Naka, stets für sich selber aufzukommen und nie eine Ehefrau zu werden.

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Ômori-Bezirks; er war ein guter Patron und wirkte wie ein ganz normaler, rechtschaffener Mann, der nie grob wurde oder seltsame Dinge anstellte. Doch da ich ihm dort nicht genug verdiente10, nahm mich Kasahara ins Freudenviertel von Yokohama, um mich als geisha zu verkaufen.11 Dies allerdings war nicht möglich, weil ich noch minderjährig war und die Siegel der leiblichen Eltern gebraucht hätte. Doch ich konnte eine Lizenz zum Ausüben von yûgei (von Theater- und musikalischen Künsten) bekommen. So suchte Kasahara einen Frauenhändler, der mich mit einer yûgei-Lizenz in den Badeort Yugawara verkaufte. Ich zog ins neue, rot gestrichene Freudenhaus Aka-pen ein.12 Dort gab es acht Mädchen „für alle Dienste“ und mehrere für besondere gei- (also künstlerische) Dienste. Einige von diesen waren Lehrlinge mit vierjähriger Dienstzeit, andere arbeiteten frei gegen einen Lohn, den sie mit dem Aka-pen teilten. Zwei Verträge wurden am Tag meiner Ankunft unterschrieben: einen, der besiegelte, dass das an Kasahara geliehene Geld durch meine Arbeit zurückbezahlt würde, und einen, dass ich bereit sei, jede verlangte Arbeit, einschliesslich der Prostitution, zu verrichten. Ich dachte, nun gut, damit zahle ich die Gnade (on) zurück, dass mich Kasahara ab dem neunten Lebensjahr grossgezogen hat.13 Doch was er wohl mit dem Geld gemacht, das er für mich bekam? Er hat es sicherlich in einem Jahr verschleudert.

10 Frau Funaoka fragt sich, wofür Kasahara das ganze Geld eigentlich brauchte; sie hatte auf jeden Fall keine Ahnung. Vielleicht hatte er irgendeinen Plan? 11 Hier taucht der zentrale Begriff gei auf, der einen Bestandteil von gei-sha (Person, die gei ausübt) bildet. gei bedeutet etwa: „primär leibliches Können auf hohem Niveau, das durch langes Training erworben und stets weitergeübt wird, und das eine Person mit Hilfe von quasi unfehlbarer Intuition situationsadäquat möglichst perfekt ausführt“. Frau Funaoka benutzt neben geisha auch den Begriff geigi: Frau, die bei einem Gelage die Gäste mit den gei: Musik, Gesang und Tanz unterhält. 12 Der richtige Name des Hauses war Sakaeya („Haus des Gedeihens“), doch da es rot gestrichen war, trug es den Übernamen Aka-pen (aka = rot, pen von penki, Farbanstrich). 13 Etwas später präzisiert Frau Funaoka diese Aussage wie folgt: Ich hatte meine Mutter vor Augen, wie ich sie ab meinem zwölften Lebensjahr erlebte. So hatte ich mich wohl entschieden, meine eigene Zukunft als arbeitende Frau zu gestalten. Es war also nicht bloß eine Frage der Rückzahlung von Gnade. Nein, irgendwo steckte in mir,

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So trat ich meine vierjährige Ausbildungszeit an. Der Herr des Aka-pen hatte als Kutscher gearbeitet; er war ein schlichter Bauernsohn von weit hinten im Tal. Das Geschäft führte seine Frau, eine scharfzüngige und unglaublich strenge Person. Wie ich stammte sie aus Tokyo und aus der katagi-Welt (der „ordentlichen“ Welt), und nicht aus der karyû-Welt (der „Welt von Blüten und Weidenbäumen“). Das Aka-pen war groß mit einem schönen Eingangsbereich und einem Innengarten mit Teich. Die Kunden bewunderten den Teich, vergnügten sich mit den geisha auf vornehme Weise im großen Saal oder gingen mit einem Mädchen in eines der kleinen Zimmer im oberen Stockwerk. Ich litt großen Hunger, weil wir fast nichts zu Essen bekamen, morgens eine Schale Suppe, vier kleine Gemüsescheiben und etwas Tôfu, und dann abends wieder, zwei kleine Gemüsescheiben und ganz wenig Fisch, dazu eine winzige Schale Reis; war man verspätet, gab es keinen Reis mehr. Über die Herkunft der anderen Frauen habe ich nur gemutmaßt; reden konnte man nicht darüber. Wahrscheinlich hatte zum Beispiel die ältere Schwester Hanasuke, eine sehr vornehme und attraktive, etwa vierzigjährige ehemalige geisha aus Shinbashi in Tokyo, einem Liebhaber Geld gegeben, deshalb Streit mit ihrem danna (dem Mann, der ihren Lebensunterhalt bezahlt) bekommen und sich schließlich hierher geflüchtet. Es gab noch zwei weitere Mädchen in meinem Alter, Sakae und Shimeka. Sakae hatte eine sorgfältige Ausbildung im berühmten grossen Freudenviertel Yoshiwara in Tokyo genossen, war aber schwächlich und verstarb später an Brustfellentzündung. Shimeka, die besonders gut tanzen konnte, war Tochter eines Restaurantbesitzers, und da sie nicht gekauft war, war sie Herrin über ihren eigenen Körper und arbeitete gegen Lohn. Ich selber nahm nun den Namen o-Kame14 an. Kame bedeutet „Schildkröte“, was zu mir passte, da ich hässlich war, aber in Geschichte und Legenden gab es großartige o-Kame.15 1926, als ich im dritten Ausbildungsjahr war, kam ein Freikaufsangebot von einem Holzhändler aus Tokyo glaube ich, das Gefühl, ich könne damit, endlich, einer eigenen Arbeit nachgehen. 14 Das respektbezeugende Präfix o- wurde im älteren Stil japanischer Namensgebung jeweils auch den zweisilbigen Mädchennamen vor– angestellt. 15 Dass „Schildkröte“ als Name verwendet wurde hängt vermutlich mit ihrer Symbolik zusammen, nämlich „stets von Kraft erfülltes, sehr langes Leben“.

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zwecks Heirat. Dieses Angebot wäre die letzte Chance gewesen, in die ordentliche Welt zurückzukehren, aber ich lehnte ab. Am Ort meiner Geburt wie meine Mutter ein unsicheres Leben als Ehefrau führen, das wollte ich nicht, und ich wählte ein Leben hier auf dem Land als geigi (geisha) und somit als berufstätige Frau.

2. Das Ringen um künstlerische Fertigkeit Ein gei (eine Kunst) zur Reife zu bringen war der einzige Weg, sich aus der Verpflichtung zu befreien, erotische Dienste zu erbringen. Während der Lehrzeit musste ich allerdings meinen Körper verkaufen und wurde dafür oft gegen zwei Uhr in der Früh von der Hausherrin geweckt. Ein winziger Teil dessen, was mit gei zu verdienen war, konnte man als Taschensgeld behalten, doch das durch den Verkauf des Körpers Verdiente verschwand vollständig in der Tasche des Hausherrn und war damit eine Arbeit ohne jeglichen Gewinn. Die anderen Frauen waren schon als Kinder in die „Welt der Blüten und Weidenbäume“ gekommen, sie waren erotisch und kannten sich aus; 16 ich aber stammte aus der ordentlichen17 Welt. Derjenige, der mich im mizuage-Ritual entjungferte, muss dem Hausherrn sowie den älteren geisha dafür unglaublich viel Geld bezahlt haben; ich jedenfalls sah nie etwas davon. Die Herrin des Hauses war boshaft und „geruhte, Dinge zu tun, die sich nicht

16 Der ordentliche Ausbildungsgang einer geisha sah gemäß Frau Funaoka wie folgt aus: Etwa als zehnjähriges Kind kommt man in ein geisha-Haus, wo einem einerseits gei, andererseits höfliches und elegantes Verhalten gelehrt wird. Man ist einer „älteren Schwester“ zugeteilt, darf aber noch nicht in den Unterhaltungsraum (o-zashiki), sondern passt seinen Körper erst einmal der „Luft“ der Unterhaltungswelt an. Nach einer gewissen Zeit erwerben die Kinder einen bestimmten Status, der ihnen erlaubt, einen kimono mit ganz langen Ärmeln und eine besondere Frisur zu tragen und sich hübsch zu schminken. In dieser Gestalt tritt man mit der Trommel im o-zashiki vor Kunden auf und begleitet eine „ältere Schwester“, die singt und das Saiteninstrument spielt. Dann lernt man zu den Liedern tanzen und sich am Ende ganz zu entblößen. Mit etwa 15 oder 16 folgt schliesslich das mizuage-Ritual, wodurch man zur fertigen geisha erhoben wird. 17 sukkatagi („absolut solide, rechtschaffen, anständig“).

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gehören“18. So lernte ich, über alle Dinge genaustens Buch zu führen. Die anderen Frauen waren arrogant und weigerten sich, mir Musikunterricht zu geben, da ich nicht den „ordentlichen“ Weg gekommen war. Damals gab es noch kein regionales Zentralbüro für geisha, wo ich hätte Unterricht nehmen können, und so war ich abhängig von den älteren Frauen, umsorgte sie, reinigte ihre Räume, putzte ihre Holzsandalen, kaufte ihnen mit meinem Taschengeld Kleinigkeiten. Dafür bedrängte ich sie aber, mir Musikunterricht zu geben, was sie dann wohl mit einem gewissen Gefühl des Mitleids taten. Doch ich durfte mich nicht an diejenigen „kleben“, die mir gerade ein Stück vorgespielt hatten; sie hätten mich womöglich geschlagen. Die jüngsten Frauen spielten meist die Trommel, künstlerisch im Mittelpunkt aber standen der pantomimen-artige Tanz (odori) und das shamisen-Spiel. Odori war nicht mein Ding, und so erlernte ich die Kunst des shamisen; ich wollte, dass nach dem Ende meiner Lehrzeit mein Körper mir selbst gehören soll. Das shamisen ist eine dreisaitige Laute; die Zargen des Klangkörpers sind aus Holz, dessen Ober- und Unterseite aus Katzenhaut, womit der Klangkörper wie eine Trommel innen hohl ist. Der lange Hals mit seinen drei unterschiedlich dicken Saiten aus Seide durchdringt den Klangkörper wie ein Spieß (daher die Bezeichnung „Spießlaute“ für das shamisen); sie verlaufen über einen kleinen, verschiebbaren Steg (koma) auf dem Klangkörper. Beim Spiel ragt der Instrumentenhals über die linke Schulter des auf den Knien sitzenden Spielers, während der Klangkörper auf seinem rechten Oberschenkel ruht. Da der Hals des Instruments bundlos ist, vermag der Spieler neben dem Abgreifen der Saiten mit der linken Hand auch durch unterschiedliche Rutsch- oder Klopftechniken die verschiedensten Tonfarben und –muster zu produzieren. Mit der auf der Zarge aufliegenden rechten Hand werden die Saiten etwas oberhalb der Mitte des Klangkörpers mit einem grossen

18 Sie bedrängte etwa die geisha, die sich nicht gut genug verkauften, und verweigerte ihnen angemessene Kleider; die erwachsenen geisha erhielten ihre Bezahlung nur nach härtestem Drängen, was viele dann ganz sein ließen; während der Ausbildung behielt sie das Taschengeld ein, verlangte für die kimono das Zwei- oder Dreifache von dem, was sie beim Stoffhändler dafür bezahlt hatte, ja sie schreckte auch nicht davor zurück, die Ersparnisse der geisha zu stehlen.

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Plektrum (bachi) von oben her geschlagen und von unten her gezupft. Die zahllosen feinen Unterschiede in der Herstellungstechnik und Herstellungsgröße der Einzelbestandteile eines shamisen, ebenso wie die erheblichen Unterschiede in der Singweise (grundsätzlich singt der Spieler zu seinem Spiel) je nach Überlieferungstradition, stellen ein Hauptmerkmal der shamisen-Musik dar und bestimmten seit jeher das Interesse der japanischen Bevölkerung an diesem Instrument und seinen Anwendungsfeldern. Zum Verständnis des shamisen und v.a. auch seiner akustischen Dimensionen sei auf das Internet (einschl. Youtube) verwiesen unter Stichworten wie shamisen, learning to play shamisen, bachi, koma, sawari (eine kleine Einkerbung oben am Instrumentenhals, die wesentlich dazu beiträgt, dass die dickste der drei Saiten beim Spiel unterschiedlich mitschwingt und somit den einzelnen Tonstufen eine je eigene Tonfarbe zukommt).

Abb. 2: Frau Funaoka und ein Gast beim Tanz

Es gab für mich nur einen Fluchtweg: Die Kunst, das gei. Mein Unterarm und mein Oberschenkel haben eine grosse Delle, da wo meine Hand auf dem shamisen aufliegt, und da wo das shamisen auf meinem Schenkel sitzt. Heute bin ich körperlich eins mit meinem shamisen, doch ich musste diese Kunst erst lernen. Musiknoten gab es noch nicht. Alles wurde von den älteren Schwestern mündlich weitergegeben. Dies notierte ich mir so gut es ging in ein Heft und übte es intensiv. Doch bekam ich von den 102

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anderen immer zu hören, dass man besonders die kurzen Lieder nicht lehren könne; ich solle bei den Aufführungen gut zuhören. So trug ich meine persönlichen Notizen jeweils morgens ganz früh in eines der kleinen Zimmer im oberen Stock, wo die anderen mich nicht hören konnten. Dort, mit dem Gesicht zur Wand, übte ich und nahm so die Musikstücke in meinen Körper auf.

3. Charismatische Kunden und künstlerische Reife 1928 beendete ich meine Ausbildungszeit; nun folgten zwei Jahre, in denen 50%, und wieder zwei Jahre, wo noch 30% des Lohns dem Aka-pen abzugeben waren.19 1929 wurde mir vom Aka-pen ein danna vermittelt, ein Mann also, der für meinen Lebensunterhalt bezahlt.20 Einen danna zu haben ist Teil der Arbeit, die auch darin besteht, mit ihrem gei und ihrer gesellschaftlichen Erfahrung zum Berufserfolg des Mannes beizutragen. Zudem: Wenn man jung ist, können weder Frauen noch Männer allein sein. Mein danna war ein furchtbar steifer Mensch, dessen Frau kränklich war, und ich nahm ihn vor allem deshalb zum danna, um Stellvertreterin der Ehefrau zu sein und so den Frieden in seiner Familie (katei no enman) zu wahren. Ich bekam von meinem danna eine winzige finanzielle Zuwendung; damit musste ich meinen Körper nicht mehr verkaufen. Mehr wollte ich nicht; man wird ja älter, und die Gefahr nimmt zu, verstoßen und aus dem Haus gejagt zu werden. Oder die Arbeit des danna geht schief, und plötzlich fordert er die Rückzahlung des Geldes, das er für einen ausgegeben hat. Vor allem aber bedeutet eine Abhängigkeit vom danna den Verlust des Fokus auf gei, auf das künstlerische Können, und damit auf lange Sicht den Tod, denn nach einer Zeit der Abhängigkeit von einem danna kann man nicht mehr in die Welt des gei zurück. 19 Gemäß Frau Funaoka kommen jedoch oft Angehörige der in Ausbildung Stehenden und fordern vom geisha-Haus weitere Darlehen, so dass der Status „Auszubildende“ nicht beendet werden kann. 20 Die geisha teilt ihrem Haus mit, wieviel sie vom danna monatlich will, und das Haus bekommt dafür Vermittlungsgebühren. Die geisha wurde dann entweder mekake oder aijin des danna; aijin war eine Frau, deren Nachkommen nicht ins Familienregister eingetragen wurden und die somit nichts erbten. Bei der mekake erhielt ein Sohn Vorrang in der Erbfolge gegenüber einer Tochter der Hauptfrau.

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1930 entstand in Yugawara erstmals ein kenban, eine von den Restaurants und geisha-Häusern eingerichtete Aufsichtsbehörde. Hierhin kamen Lehrer der verschiedensten gei, was mir eine systematische Weiterbildung ermöglichte, zuerst bei einem strengen Meister der Schlagzeugkunst, zu dessen Musik ich mein shamisen zu spielen hatte. Es kamen aber auch Meister unterschiedlicher Überlieferungslinien von shamisen- oder Tanzstilen.21 So verbrachte ich, wenn es möglich war, ganze Tage im kenban und lernte eine große Fülle von Musik und Musikstilen oder beobachtete den entsprechenden Unterricht für andere.

Abb. 3: Geisha aus Yugawara um 1930. Vorne links Frau Funaoka an der Trommel

Ich begegnete vielen Kunden, die zur Entwicklung meiner Kunst wesentlich beigetragen haben. Es waren Unternehmer, Politiker, Literaten, Maler, ja sogar ein kaiserlicher Prinz (der allerdings anonym kam). Diese Kunden riefen, wenn sie von shamisen-Spiel

21 Die traditionelle japanische Musik ist in zahlreiche Überlieferungslinien aufgeteilt, die sich selbst bei denselben Instrumententypen meist deutlich durch Spielweise, Tonfarbe, Rhythmus etc. unterscheiden. Zudem besteht die Musik der Saiteninstrumente stets aus Gesang und Spiel in einem; hierbei sind neben der Unterschiedlichkeit des Instrumentalen vor allem die verschiedenen Formen des Singens und der Vortragsstile zu nennen, die ihrerseits mit unterschiedlichen Textinhalten verknüpft sind.

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unterhalten werden wollten, oft nach mir.22 Die Kunden waren selbst künstlerisch hochbegabt, sie kannten zahllose Gesänge und Tänze, wie sie in den vornehmsten Vergnügungsvierteln in Tokyo aufgeführt wurden, und wollten nun auch hier musikalisch begleitet werden. Entsprechend fühlte ich mich angefeuert und war hoch motiviert. Ich wurde besonders von zwei Kunden sehr geschätzt. Einer, Ôkawa Heisaburô, war der Geschäftsleiter eines Großunternehmens. Er hatte in der Nähe für mehrere Monate eine Wohnung gemietet, in der er – krankheitshalber mehrmals im Jahr – mit seiner Zweitfrau und seiner Drittfrau und vier weiteren persönlichen und geschäftlichen Gehilfen lebte. Die Zweitfrau von Ôkawa war seine Partnerin gewesen, bevor er seine Hauptfrau heiratete, was er tat, um seiner Verpflichtung gegenüber dem Unternehmensgründer genüge zu tun, dessen Tochter sie war. Die Drittfrau von Ôkawa war eine geisha gewesen. Hauptfrauen, so sehe ich das, sind geschützt wie in einem Kokon aufgewachsen, sie können nichts außer Tee oder Blumen hinstellen. Solche Frauen taugen nichts für die Geschäftskreise, in denen Männer wie Ôkawa verkehrten; dort braucht es Ersatzfrauen, die die Gesellschaft kennen und sich unterhalten können. Große und reiche Männer dürfen so leben. Ôkawa war selbst ein guter Künstler, und wenn eine geisha ihr gei – ihre Kunst – nicht vollkommen beherrschte, durften sie nicht mehr auftreten. Für die Aufführungen, bei denen er goldene Stellschirme aufstellen und rote Satin-Teppiche für die Musiker auslegen ließ, pflegte er sich selbst ans Lesepult zu setzen. Hier hatte er einen Text aufgeschlagen, den er im utai-Stil23 sang. 22 Der Ort der musikalischen und tänzerischen Darbietungen war das zashiki (oder o-zashiki), ein grosser Raum in japanischem Stil, der mit tatami-Matten ausgelegt war. Vgl. dazu Abbildungen im Internet. 23 Die einzelnen Stile lassen sich in Worten kaum beschreiben, man kann sich aber heute durch das Internet mit ihren Charakteristika vertraut machen. Merkmale sind etwa: die stärkere Orientierung an Melodien bzw. Rezitationen, oder an Darstellungsweisen, die sich eher auf Sachverhalte oder eher auf Seelenzustände beziehen und entsprechend unterschiedliche Grade der Beschwingtheit, harte oder weiche Rhythmen, hohe, mittlere oder tiefe Stimmlage u.a. betonen. Grundsätzlich wird ein bestimmter Stil durch eine bestimmte Schule gepflegt, deren Angehörige sich darauf spezialisiert haben. Merkmale des utai-Stils finden sich v.a. unter dem Stichwort nôSpiel oder Gesang im nô-Spiel.

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Aufführungen konnten durchaus 20 Stunden dauern, und dafür ließ Ôkawa die erstklassigsten geisha aus den vornehmsten Vergnügungsvierteln in Tokyo zu sich nach Yugawara kommen. Das war Gelegenheit für mich, diese prachtvollen Frauen in ihren Vierzigern und Fünfzigern mit ihren verschiedenen Spiel- und Singstilen wie nagauta, tokiwazu oder kouta zu erleben.24 Unter den geisha vom Ort blieb bei Ôkawa nur ich übrig, dank meiner Ernsthaftigkeit und meines Fleißes; ich spielte mich nie auf, trank und rauchte nicht und lärmte nicht herum. Ich, ohne jahrzehntelange Spezialisierung auf ein bestimmtes gei, ich ländliche geisha! Doch Meister Ôkawa fand offenbar mein unreifes gei interessant, er lehrte mir viele neue Stücke und lobte und kritisierte mich bei meinem Spiel. Ein weiterer Kunde, den ich nie vergessen werde, war der Maler Takeuchi Seihô.25 Er hatte ein Atelier in Yugawara, und seine Zweitfrau war Assistentin. Auch Meister Seihô, schon über siebzig, war ein grosser Musiker und beherrschte den tiefen, kräftigerotischen gidayû-Musikstil.26 Er war aber auch ein Meister der sanften und sonoren Gesänge der jiuta-Stiltradition,27 die im Gebiet um Kyoto beheimatet sind. So hörte ich Musik, die für mich ganz neuartig war. Meister Seihô lud viele Gäste zu sich ein, so auch Kineya Rokuzaemon, Oberhaupt der nagauta-Musikstiltradition, dessen Schüler er war. Einmal bei einem Wurfspiel, das er im großen Festsaal veranstaltete, gewann ich, und das war äußerst peinlich. Nach Besprechung der Lage wurde das Spiel wiederholt, so dass der Gast, Kineya Rokuzaemon, den ersten Preis bekommen konnte. Als Gegenleistung geruhte das Oberhaupt des nagautaMusikstils mich zu bitten, einen Gesang seiner Tradition zu begleiten! Und er sagte nicht: „Spiel!“, er sagte: „Spiel bitte!“ Unerhört, ich, o-Kame, darf für das Musikstil-Oberhaupt shamisen spielen! Im normalen Leben hätte mich so etwas eine Unsumme Geld gekostet. 24 Die Frau Funaoka betreffenden Singstile sind v.a. nagauta, tokiwazu, utazawa, hauta und kouta (oder ko-uta)-Musik. Vgl. dazu die akustischen Beispiele im Internet (und Youtube). 25 Frau Funaoka benutzt für ihn seinen Künstlernamen und spricht von Meister Seihô. 26 Vgl. zu gidayû (oder gidayû-bushi) Beispiele im Internet (einschl. Youtube). 27 Vgl. zu jiuta Beispiele im Internet (einschl. Youtube).

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Meister Seihô seinerseits hatte die charakteristische MäzenenMacke, völlig willkürlich irgendwo sein Gesangbuch zu öffnen und an einem unmöglichen Ort mit seinem Gesang zu beginnen. Ich musste ihn unverzüglich auf dem shamisen begleiten können, augenblicklich und natürlich auswendig. Man wusste nie, was Meister Seihô als nächstes befiehlt, und fürchtete sich stets. Gei sei eben etwas Spontanes, meint er.

4. Gründung eines eigenen geisha-Hauses Da ich viel sparte28, konnte ich Land kaufen und mein eigenes okiya bauen, also ein Haus, von wo aus geisha in die verschiedensten Bankett-Säle gerufen wurden. Ich nannte es, in Anlehnung an meinen Vornamen Naka, Nakanoya (das „Naka“-Haus).29 Ich hatte verschiedene Mädchen zur Ausbildung bei mir. Und aus der Verkauften wurde nun auch eine Kaufende: Nach einem Jahr wurde ich gebeten, ein zwölfjähriges Kind, Sugi, zur Ausbildung zu kaufen. Sugi wurde kakae-yôjo (Mädchen, das für den Dienst im Haus adoptiert und nicht ins Familienregister eingetragen wird; ein solches Mädchen braucht dann auch keine spezielle geishaBewilligung). Doch leider war ihr Interesse an gei (Kunst) schwach, und ihr rustikaler und nicht von städtischer Kultiviertheit und Höflichkeit geprägter Hintergrund führten dazu, dass sich unsere Wege bald wieder trennten. 1937 kam wieder eine Bitte, ein Mädchen zu kaufen. Ich zahlte die gewünschte Summe, stellte aber die Forderung, sie nicht für den Dienst im Haus, sondern als echte Tochter adoptieren zu können. So kam also dieses Mädchen mit Namen Chieko zu mir.

28 Frau Funaoka verdiente um 1933 fast das Doppelte eines Bankangestellten und fast das Dreifache des Anfangsgehalts eines Primarschullehrers. Davon abzuziehen waren Gebühren für die Nutzung von Bankettsälen, sowie 10% des Lohns, der weiterhin an das Akapen ging. 29 Normalerweise sollte im neuen Namen ein Zeichenelement des Hauses enthalten sein, aus dem man stammt. Dieses Haus bezahlt dann einen Anteil an der Namenstafel und behält dafür Rechte am neuen Haus. Doch Frau Funaoka kaufte den Namen (die Namenstafel) aus ihrem eigenem Geld und konnte damit selbst über die von ihr beschäftigten Mädchen bestimmen, ohne eine Verknüpfung mit dem Sakaeya (dem richtigen Namen des Aka-pen) erkennen zu lassen.

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Chieko wurde 1948 geisha; ihr erster Auftritt war für einen Spielwarenhändler in Tokyo. Sie hat sich aber stets geschämt, dass ihre Stiefmutter Besitzerin eines geisha-Hauses war. 1953 bekam sie von einem verheirateten Mann eine Tochter, doch Chieko und ihr Kind blieben bei mir.30 Heute ist Chieko Großmutter, und ich Ur-Großmutter. Alle schauen täglich bei mir vorbei, und ich fühle mich überglücklich.31 Wirtschaftlich florierte das geisha-Viertel von Yugawara zwischen 1935 und 1941. Für 1938 zeigt das japanische Polizeiregister, dass die Freudenviertel Japans von 34 Millionen Personen besucht wurden. Entsprechend hatte die Vergnügungs- und Unterhaltungsindustrie in der Politik eine starke Lobby, die sich allen Bewegungen zur Modernisierung der sozialen Bereiche widersetzte. Es hatte sich herumgesprochen, dass ich eine vortreffliche geisha geworden sei, und so tauchten nun plötzlich Stiefmutter Funaoka Chiyo (die in geistige Verwirrung fiel, als ich drei war) bei mir auf,32 sodann die Frau des Stiefvaters Kasahara, die als einzige direkt von meinem Verkauf nach Yugawara wusste.33 Als nächstes erschienen mein leiblicher Vater und meine leibliche Schwester. Vater, der 1944 an einem Darmgeschwür starb, hatte wieder geheiratet, und ich ging ihn regelmässig in Tokyo im Spital besuchen. Vater hatte eine Adoptivtochter; sie verlachte mich aber und sagte: „Da hat der Vater diese Frau gar nicht erzogen und als geisha weggegeben, und da kommt die Dumme diesen Vater besuchen und bringt ihm Geschenke.“ Auch meine Schwester hatte von mir gehört und kam mich besuchen. Ich reagierte mit absolutem Pflichtgefühl (giri), was ich übrigens auch gegenüber meiner früheren Herrin im Aka-pen tat, ob-

30 Dass eine geisha ein Kind bekam galt als hazukashii koto, etwas worüber man sich schämen musste. 31 Frau Funaoka war mit ihrem danna schwanger geworden, weigerte sich aber, trotz ihrer Arbeit, abzutreiben, obwohl der danna das Kind gar nicht anerkannt hätte. Da der Fötus nach drei Monaten starb, bliebt sie am Ende kinderlos, und so lag ihr Chieko besonders am Herzen. 32 Ihre Verwandten wollten, dass Frau Funaoka sie nun zu sich nehme. Frau Funaoka merkt an, dass Chiyo praktisch nichts sprach und 1935 starb. 33 Frau Funaoka bemerkt, dass es mühsam war, mit ihr zu leben, und so ging sie wieder fort und starb dann wohl irgendwann.

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wohl ich für diese Frau nicht die geringste Sympathie empfand.34 Ich hielt mich strengstens an die Regeln des Begrüßens und jahreszeitlichen Schenkens – obwohl mich die Herrin immer nur betrogen hat und zu abscheulichen Diensten zwang. Aber es ging um die Rückzahlung der Gnade, dass man lebt (on-gaeshi), und das ist mit dem Stolz verbunden, der einem Menschen aus Tokyo (tôkyôkko) eigen ist. Als nun mein Vater und meine leibliche Schwester erschienen, wurde mein danna wütend: „Sie haben dich als Säugling weggegeben,“ sagte er, „sie haben sich nie um dich gekümmert.“ Doch darüber nachzudenken, warum und wieso sie jetzt auftauchten, war für mich sinnlos. Vater kam jetzt, weil er kommen wollte – mehr interessierte mich nicht. Ich interessierte mich für meine Kunst und mein Geschäft, und ich wollte meinen Weg gehen. Als ich einmal spät von der Arbeit heimkehrte, hatte mich der danna beobachtet und gab mir eine Ohrfeige. Doch als geisha bin ich frei, überall hinzugehen, wo ich gerufen werde, ich hole keine Einwilligung ein; es geht um mein gei, um mein shamisen-Spiel. Die Ausstrahlung von Erotik (iropposa), die einem während der Ausbildungszeit anerzogen wird, war mir fremd. Als ich schließlich nach einem Brand in der Nachbarschaft dem Hause des danna selbstverständlich ein „Mitgefühlgeschenk nach einem Brand“ schickte, kam es zu einer furchtbaren Szene mit seiner Frau. Nein, einen fremden Mann zu leihen, ist keine gute Sache. Dieser Mann hätte lernen sollen, geschickt mit zwei Frauen umzugehen. So gab ich ihn zurück. Meine Tage waren reich gefüllt. Am Vormittag ging ich zum Haarmacher und kümmerte mich intensiv um die komplizierten Frisuren und die hübsche und gepflegte Gestaltung der kimono der Auszubildenden. Um die Mittagszeit ging ich dann zum Musikunterricht.35 Dieser Unterricht baute auf den Grundlagen auf, die

34 Frau Funaoka sagt: „Das Einhalten von giri und meine eigenen Gefühle sind zwei völlig getrennte Sachen.“ Für Frau Funaoka war das Einhalten von giri, d.h. die gesellschaftlichen Beziehungen gesittet und höflich zu pflegen, die Grundbedingung, als anständiger und ehrenhafter Mensch (mattô na hito) seinen Weg durchs Leben zu gehen. 35 Frau Funaoka nimmt bis zu ihrem Tod Unterricht; für sie ist gei (Kunst) nie ein erreichter oder erreichbarer Zustand, sondern ein Weg „tief in etwas hinein“ (oku) hinein, den man in einer dauernden

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ich besaß, und nun begann für mich das wirkliche shugyô, d.h. der Eintritt in einen Weg der Übung, Askese und Verinnerlichung der Gesamt-Handlungsabläufe.36

Abb. 4: Frau Funaoka nimmt noch im hohen Alter Unterricht37

Ich fuhr jetzt auch regelmässig nach Tokyo, um mich in der Kunst weiterzubilden. Ich lernte den utazawa-Stil und kouta-Stile, setzte mich hinten in die Unterrichtsräume, in denen sich die besten und vornehmsten geisha der Freudenviertel von Tokyo bewegten, und lernte durch Zuhören und Zuschauen. Ich schrieb mir alles auf,

Beziehung von Lehrer zu Schüler immer weiter verfolgt. Vgl. dazu weiter unten. 36 Der Begriff des shugyô stammt aus der buddhistischen Praxis und verweist auf die nicht abschliessbare Bemühung, sich von der Fixiertheit auf die Dinge dieser Welt zu befreien und Leben an sich zu empfinden. Wir können shugyô aus historischer Perspektive durchaus als „Weg zur Erleuchtung“ bezeichnen, auch wenn heute in Japan selbst eine solche Definition wohl als zu pompös und übertrieben abgelehnt würde. 37 Blick ins Unterrichtszimmer, in welchem Frau Funaoka dem Lehrer gegenüber sitzt; das Lehrer-Schüler-Verhältnis wird dadurch verdeutlicht, dass der Lehrer auf einem Kissen sitzt, der Schüler nicht. (Es ist anzunehmen, dass sich die wegen Gegenlicht recht undeutliche Aufnahme aus Respekt vor den Anwesenden aus keinem anderen Winkel machen ließ.)

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lernte durch „Stehlen“38 und eignete mir Wissen auch über Stücke an, die ich nicht spielte. So war ich sehr glücklich. Um 15 Uhr musste ich wieder nach Hause, denn Haar und kimono der jungen geisha brauchten weitere Pflege, und bald war es Zeit, sich in den Räumen39 einzufinden, in denen die Kunden unterhalten werden wollten. Mit Ausbruch des Pazifischen Kriegs 1942 sank die Gästezahl in Yugawara. Die Vergnügungsstätten konnten nicht mehr weitermachen, und so war auch shamisen-Spiel kaum mehr möglich. Jetzt trugen wir alle monpe, einfache Hosen im Stil der Bauersfrauen. Trotzdem: Auch während der Verdunkelung kamen Gäste aus Tokyo, und ich spielte mit shinobi-koma (einem Steg für die Saiten, der den Klang stark dämpft und jeden Nachhall verhindert). 1944 musste ich Nakanoya schließen und mich nun mit Näharbeiten über Wasser halten. Von der kriegszeitlichen Nachbarschaftsorganisation wurde ich gezwungen, mit meinem Geld Staatsanleihen zu kaufen. Schließlich verdankt der Mensch sein Leben dem Staat; ich gab dem Staat alles außer meinem shamisen, doch es kam nie etwas zurück.

5.Tradition und Weitergabe der Kunst Stieftochter Chieko empfindet Hass für die Welt, in der ihre Stiefmutter aufwuchs. Deshalb, sagt sie, bin ich eine geisha ohne jede Erotik. Doch als Stiefmutter schwer erkrankte und mit dem Tod rechnete, entschloß sie sich dennoch 1948, das Erbe des Hauses anzutreten und geisha zu werden.40 Wir alle, sagt sie, ich und die vielen neuen geisha – es waren über 30 – lassen uns von Stiefmutter – wir nennen sie Mama – vewöhnen. Kunden kamen wieder; es waren oft Kleider- und Stoffhändler. Viele liebten Kunst, man

38 Lernen durch Stehlen (nusunde benkyô suru), d.h. durch Zuschauen, Zuhören und Imitieren, und nicht im Rahmen eines strukturierten oder gar verbal erläuternden Unterrichts, bildet in Japan die zentrale Form der Aneignung einer Kunst. 39 o-zashiki, grosse mit tatami-Matten belegte Räume in japanischem Stil, in denen sich die Gäste auf grossen Kissen niederlassen, ggf. an niedrigen Tischen. 40 Es war für Chieko wie ein Testament, dass Frau Funaoka sagte: „Wenn du das Gewerbe unseres Hauses fortführen willst, ist alles was du zum shamisen-Spiel brauchst, beieinander.“

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rief mich in die Unterhaltungssäle (zashiki) und die Kunden sangen manchmal bis zu vier Stunden lang. Viele der jungen Frauen jedoch, die nach dem Krieg zu uns kamen, konnten niemals geisha werden, weil sie kein gei – keinen Kunstverstand – hatten. Eine hatte einen Mann, der war yakuza (Mafia), und sie musste für ihn arbeiten. Andere waren Töchter einer geisha oder von geisha-Haus-Besitzern. Einige waren aus der Mandschurei zurückgekommen41 und unglaublich frech. Es gab geisha, die die Arbeit gleich aufgaben, bloß weil sie einen danna gefunden hatten. Einmal brachte ein Mann seine Frau mit, als er über eine Beziehung zu einer geisha verhandeln wollte. Stiefmutter, sagt Chieko, lehnte solches ab, und so blieb das Ehepaar mit uns befreundet bis zu ihrem Tod. Heute ist Stiefmutter 82. Sie arbeitet weiter, sie ist Oberhaupt ihres geisha-Hauses „Nakanoya“, und sie nimmt immer noch Unterricht. Ihr Körper hat sich dem shamisen angepasst, und ihre Kunst ist ihre Waffe, um ihr Selbst wiederherzustellen.42 In der Kunst, sagt sie, gelangt man nie ans Ende.43 Ab 1956 begannen die ersten geisha das Nakanoya zu verlassen; eine nahm Rauschgift und musste entlassen werden wegen der Brandgefahr durch ihre Zigaretten. Viele verbrachten ein unstetes Leben, hörten auf, wurden wieder geisha, eröffneten ein Café, gingen Pleite, kamen wieder als geisha zurück. Wiederum andere heirateten und wurden Ehefrauen in der „ordentlichen“ Welt. Doch wenigstens Menschenhandel gab es nach dem Krieg nicht mehr. Erfreulicherweise gibt es heute mehrere ko-kanban (Tochtergeschäfte von uns) und sogar mago-kanban (Enkelgeschäfte). Leider kommen immer mehr Personen ins Geschäft, die von der Kunst einer geisha nichts wissen. Sie sitzen vor Mikrophonen, verstehen die Gesangstexte nicht, machen Fehler – und manchmal schreit sie die alte Frau Funaoka mitten in der Aufführung an! Nein, geisha zu sein bedeutet nicht „dünn und zart“ (nayonayo) 41 Das Land Mandschukuo (Mandschurei) war ein Gebiet im Nordosten des heutigen China und stand 1932-1945 unter japanischer Kontrolle; die wichtigen Städte des alten Mandschukuo sind Changchun, Dalian, Fushun, Harbin, Jilin, Qiqihar und Mukden (heute Shenyang). 42 jiko kaifuku no buki („Waffe, um das Selbst zu restaurieren, wieder herzustellen“). 43 oku ga fukai – wörtlich: das Innere (z.B. eines grossen Hauses, Gebirges oder Waldes, hier: der Kunst) ist tief, liegt tief verborgen.

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sein, sondern „mit aller Kraft leben“ (hisshi ni ikite iku), sagt Chieko. 1981/82 brach dann unsere Arbeit ein; Grund war das Aufkommen von Karaoke. In kürzester Zeit war alles für Karaoke umfunktioniert. Vielleicht braucht es uns nicht mehr. Doch die Compagnons, die jetzt diesen Ort bevölkern, die mögen während ihrer Blüte die Kunden ansprechen, aber wenn die Blüte vorbei ist, haben sie kein gei, keine Kunst, wonach irgendjemand fragen würde. Dennoch: Wir bekommen Anfragen von Kunden, die doch noch echtes gei hören wollen, echte Kunst, nachdem diese Compagnons ohne gei wieder gegangen sind. „Geisha“ mag heute altertümlich klingen, aber gei darf nicht einfach verschwinden. So habe ich, als ich ab 1983 für vier Jahre Vorsteherin des Interessenverbands war, durchgesetzt, dass alle Beteiligten für einen Auftritt eine festgesetzte Summe bekommen, und dass die Abfuhr von Geld an das ryokan (Hotel in japanischem Stil, oft mit einem großen Saal für Unterhaltung), das kenban (die von den Restaurants und geisha-Häusern eingerichtete Aufsichtsbehörde) und das okiya (das Haus, von wo aus geisha in die verschiedensten Bankett-Säle gerufen werden) weniger als die Hälfte des geisha-Lohns beträgt. So hat die Zahl junger geisha wieder zugenommen. Eine geisha ist aber keine Lehrerin, im Gegenteil: Ich bin mit 82 immer noch Schülerin; ich lerne ständig weiter und gehe regelmässig ins kenban für Unterricht – ein Mensch darf nicht verwelken! Wiedergeboren werden möchte ich nicht wirklich, aber wenn, dann durchaus wieder als geisha. Jeden Abend vor dem Zubettgehen lese ich am Hausaltar laut die Namen der Verstorbenen, Vater, Mutter, Stiefvater, Stiefmutter, Großunternehmer Ôkawa, Maler Seihô, und für jeden schlage ich die kleine Klangschüssel. Wenn die andern im Hause den Glockenton hören, wissen sie, jetzt geht Mama ins Bett. Tochter Chieko hat alles geregelt: wenn einmal Mama in die Wildnis zurückkehrt, dann wird der Feuerwehr-Hauptmann von Monzen Nakachô das Lied des Holzflössers von Fukagawa singen, von wo sie stammte.

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Eckart Liebau

Arenen Kultureller Bildung

Dass die Kulturelle Bildung in Deutschland Konjunktur habe, ist seit gut zehn Jahren eine gängige Behauptung. Aber stimmt sie auch? Lässt sich diese These in dieser Allgemeinheit halten? Oder gibt es da auch Gegenläufiges? Und welche Verständnisse Kultureller Bildung liegen jeweils zugrunde? Wo liegen Konflikte und Widersprüche? In einer systematischen Skizze soll dieser Frage in sechs Schritten nachgegangen werden. Dabei wird um der Deutlichkeit willen bewusst eher holzschnittartig zugespitzt und argumentiert. Dass die Verhältnisse in Wirklichkeit immer wesentlich komplexer sind, muss daher im Folgenden durchgängig mitgedacht werden. Zunächst geht es um Ziele und Diskurse; dann werden die informellen, die formalen und die non-formalen Strukturen befragt, um schließlich zu den analytischen und den programmatischen Schlussfolgerungen zu kommen.

Ziele und Diskurse In Deutschland steht der Diskurs über die Kulturelle Bildung im Kontext der langen und komplexen Tradition der Diskurse zum Bildungsbegriff (zur internationalen Debatte vgl. Schonmann 2015). Auch die intensiven gegenwärtigen Debatten über die Kulturelle Bildung müssen vor dem Hintergrund dieser Tradition bzw. genauer: dieser Traditionen gelesen werden. Entscheidend nämlich ist, dass sich hierzulande seit etwa 200 Jahren ein „Kampf der drei Linien“ beobachten lässt: Aufklärung, Humanismus und Romantik bieten je eigene Zugänge zum Bildungsbegriff, die grundsätzlich in starken Spannungen untereinander stehen und die sich auch in den Debatten zur Kulturellen Bildung wiederfinden (Bilstein 2001). • Kulturelle Bildung wird als perfekter Ansatz zur Vermittlung basaler persönlicher und sozialer Kompetenzen gesehen. Kommunikationskompetenz, Kooperationskompetenz, Empa-

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thie, Verantwortung, Verlässlichkeit etc. bilden in dieser Sicht als ökonomisch und sozial nützliche Qualifikationen das entscheidende Ergebnis. Damit wird sowohl auf die utilitaristische als auch auf die emanzipatorische Tradition der Aufklärung referiert; es geht um Nützlichkeit und Brauchbarkeit, aber auch um Autonomie und Verantwortung. Auch international ist dies ein verbreiteter Ansatz; die Hoffnung auf die positiven ökonomisch nützlichen Qualifikationswirkungen als den eigentlichen Zielen Kultureller Bildung ist insbesondere in den prosperierenden modernen Gesellschaften westlichen und östlichen Typs sehr verbreitet. Kulturelle Bildung wird als notwendiger und einzig möglicher Weg zur Vermittlung der Künste um der Künste willen gesehen. Die Künste werden als in sich wertvolles System und zugleich als Sinnbereich eigenen Rechts gesehen. Es geht dementsprechend um musikalische, bildende, literarische, theatrale Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten und die entsprechenden Reflexionskompetenzen. Diese Linie folgt, alles in allem, der Tradition des (Neu-)Humanismus, die die Bedeutung der Künste als zentrales Merkmal des Humanen betont. Auch dieser Ansatz ist international in Europa und Nordamerika verbreitet; er folgt einem Muster, das insbesondere in den kulturellen Fraktionen der oberen Mittelschichten sehr verbreitet ist. Kulturelle Bildung wird als herausragender Ansatz zur Förderung der Entwicklung der Persönlichkeit, von Identität und Erfahrung unter den verwirrenden Bedingungen postmoderner Gesellschaften gesehen. Die Künste eröffnen Erfahrungen mit Kontingenz und Emergenz; sie lehren, wie man in einer widersprüchlichen und unübersichtlichen Welt (über-)leben und dabei auch mit eigenen inneren Widersprüchen und Konflikten umzugehen lernen kann. Damit werden nicht nur zukunftsbezogene Bildungsperspektiven, sondern auch und vor allem vergangenheits- und gegenwartsorientierte Orientierungen und Haltungen in den Mittelpunkt gerückt. Dabei können die Grenzen zu individual- oder auch sozialtherapeutischen Ansätzen fließend werden; Kunst kann da zum Stärkungsund Heilungsmittel werden. Diese Argumentationslinie folgt offensichtlich romantischen Mustern. Während die individuelle Perspektive besonders in Westeuropa und Nordamerika be-

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tont wird, sind sozialtherapeutische Ansätze insbesondere aus Südamerika bekannt. Natürlich lässt sich diese Liste noch erheblich erweitern. Hier geht es aber nicht um Vollständigkeit, sondern um das Verständnis der diskursiven Ausgangslage: Es ist nicht gleichgültig, sondern folgenreich, mit welchen Argumenten Ziele kultureller Bildung dargestellt und begründet werden. Und es ist nicht gleichgültig, sondern wiederum folgenreich, auf welche Argumente sich die Praxis Kultureller Bildung stützt und stützen will. Über Ziele und Begründungen herrscht auch unter Bedingungen der Konjunktur des Feldes keineswegs Einigkeit; es handelt sich vielmehr um ein Kampffeld, in dem sich mit den verschiedenen Positionen auch unterschiedliche Interessen verbinden (Liebau 2014).

2. Informelle Bildung Dass die informellen Strukturen des Alltagslebens in den primären Kontexten des Aufwachsens für jedes kleine Kind die bedeutendsten Bildungsräume darstellen, ist evident und unbestritten; seit vielen Jahrzehnten bestätigt jede einschlägige empirische Studie wieder diesen Befund. Sinneseindrücke und physische Erfahrungen prägen die basalen Formen des Geschmacks und damit der ästhetischen Unterscheidungen zwischen dem Angenehmen und dem Unangenehmen, dem Schönen und dem Hässlichen. • Dementsprechend ist der erste (und entscheidende) Kontext kultureller Bildung die Familie. Das gilt in rezeptiver wie in produktiver Hinsicht: Hören und Singen, Sehen und Malen, Fühlen und Bewegen konstituieren verschiedene Formen der Wahrnehmung und der Gestaltung. Geruch und Geschmack der Kindheit haben lebenslang Auswirkungen. Für die Entwicklung von kulturellen Gewohnheiten, von Vorlieben und Abneigungen, ist die Familie in ihrem sozio-kulturellen und sozio-ökonomischen Kontext zentral: Das ist der Startpunkt, der alles weitere zwar nicht determiniert, aber wesentlich mitbestimmt (vgl. Bourdieu 1982). • Man kann die Bedeutung der Kulturellen Bildung in den informellen Kontexten der Kinder- und Jugendkultur kaum überschätzen. Besonders in der Adoleszenz, dieser Übergangszeit zwischen Kindheit und Jugend einerseits, Jugend

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und Erwachsenheit andererseits, die Rousseau als die Zeit der zweiten Geburt beschrieben hat, hat die informelle Peergroup höchste Bedeutung. Freunde und Gleichaltrige sind dann für die Entwicklung von Dispositionen und Vorlieben entscheidend. Welche Musik, welcher Tanzstil, welche Filme, Videos, welche Kleidung, welches Styling werden bevorzugt? Dabei kann die Peergroup in informell-alltäglichen, in schulischen oder auch in non-formalen außerschulischen Umgebungen gefunden werden (Calmbach u.a. 2012). Häufig stehen die hier gepflegten kulturellen Vorlieben im Gegensatz zu den „langweiligen“ kulturellen Zumutungen, die insbesondere die Schule den Jugendlichen abverlangt (Rat für Kulturelle Bildung 2015). Ein sehr wichtiger Faktor sind, drittens, die Medien. Lesen und Schreiben sind die traditionellen Formen; Mädchen z.B. haben schon seit langer Zeit gerne Tagebuch geschrieben; und viele tun es noch. Für viele junge Leute, insbesondere für Mädchen, ist das Lesen von Büchern nach wie vor eine sehr wichtige Aktivität. Aber heutzutage dominieren dann doch die neuen Medien die Szene; Internet-Kommunikation, Gaming, Musik hören, Filme und Videos gucken, Austausch in sozialen Netzwerken bilden im Blick auf die Geschmacksbildung und zugleich den Erwerb von sozialem und kulturellem Kapital höchst bedeutsame Aktivitäten. Freilich spielen auch auf dieser Ebene nicht nur die Geschlechterdifferenzen, sondern auch und vor allem die sozialkulturellen und sozialökonomischen Differenzen eine entscheidende Rolle (vgl. ebd.).

Es ist offensichtlich, ja sprichwörtlich, dass die informellen Strukturen Orte von Konflikten und Auseinandersetzungen sind, auch und gerade im Blick auf ästhetische Normen und Präferenzen. Dabei spielt die Generationenbeziehung eine entscheidende Rolle. Auch wenn sich der klassische Generationenkonflikt in modernen Gesellschaften insbesondere in den bürgerlichen Milieus in vielen Hinsichten entschärft hat und sich die Geschmäcker der Generationen manchmal geradezu angeglichen haben, so ist doch die Grundkonstellation unverändert. Die ältere Generation übernimmt notwendigerweise Tradierungsaufgaben; es sind die Eltern, die den Kindern Geschichten vorlesen, Schlaflieder vorsingen, Papier und Stifte bereitstellen, oder auch den Fernseher oder 120

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die neuen Medien. Einseitig bleibt diese Beziehung aber schon vom Kindesalter an nicht; die Kinder sind von Anfang an aktiv an den kulturellen Interaktionen beteiligt und bilden sich in den mimetischen Prozessen der selbsttätigen Anähnlichung selbst. Und die Eltern werden erst durch die Kinder und die Kinderkultur in ihren verschiedenen Varianten nicht nur sozial, sondern auch kulturell zu Eltern gebildet (Haumann 2010). Dass diese Prozesse in den verschiedenen Milieus gerade unter Bedingungen der Globalisierung mit den entsprechenden Migrationskontexten sich in vielen Hinsichten ausdifferenzieren und die schon lange herrschenden Pluralisierungs- und Individualisierungstendenzen verstärken, darf darüber freilich nicht vergessen werden – die gesamte Entwicklung ist auch durch die Verschärfung von Ungleichzeitigkeit gekennzeichnet, auch und gerade in der Jugend- und der Medienkultur, die stark durch unmittelbar ökonomische Interessen und Akteure mitgeformt werden.

3. Formale Bildung Kulturelle Bildung in den Künsten ist in Deutschland ein fest etablierter Teil des Bildungssystems. Musik und bildende Kunst gibt es als Fächer in allen allgemeinbildenden Schulen; Literatur ist als Teil des Deutsch- und manchmal des Fremdsprachenunterrichts institutionalisiert. Und selbstverständlich gehören Vorlesen, Malen und Singen auch immer noch zum Repertoire der praktischen Frühpädagogik. • Die Kindertagesstätten, Kinderkrippe und Kindergarten, sind zwar formell nicht Teil des Bildungssystems, sondern des Sozialsystems. Tatsächlich aber wird insbesondere der Kindergarten für die 2/3- bis 5/6-jährigen zunehmend als Teil des formalen Bildungssystems gesehen und strukturiert, obwohl es nach wie vor keine Kindergartenpflicht gibt und die gesamte vorschulische Bildung in der Regel formell zum Sozial- und nicht zum Bildungssystem gehört. Aber fast alle Kinder besuchen den Kindergarten; und jedes dritte Kind wird im Kleinkindalter von Tagesmüttern oder in Kinderkrippen von Erzieherinnen betreut. Beide Institutionen bieten erste Schritte kultureller Bildung an, wenn auch auf von Fall zu Fall sehr unterschiedlichen Niveaus. Die Qualität und der Schwerpunkt hängen von den Kompetenzen und Interessen des Personals ab.

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Die Bildungspläne schließen zwar kulturelle Bildung ein, aber in der Ausbildung steht diese Dimension eher am Rand. Dementsprechend ist es dann eine Frage des persönlichen Interesses und der persönlichen Entwicklung des beruflich tätigen Personals, ob Musik, bildende Künste, Literatur, Zirkus, Tanz, Theater etc. in der Kindertagesstätte vorkommen oder nicht. Neuerdings werden hier in stärkerem Maße auch Kooperationen gesucht; dann werden Musiklehrer aus Musikschulen, Tänzer, Sporttrainer und manchmal auch bildende Künstler mehr oder weniger systematisch in die Arbeit einbezogen (vgl. Landesstiftung Baden-Württemberg 2009). Vor diesem Hintergrund ist die Quantität und Qualität des Angebots von zahlreichen Zufällen abhängig. Es gibt dabei mancherlei Hinweise darauf, dass – ganz gegen die verbreitete Rhetorik – das tatsächliche Angebot über die Jahrzehnte im Durchschnitt eher zurückgegangen ist, da die entsprechenden Fähigkeiten, Fertigkeiten und Haltungen nicht mehr selbstverständlich aus den ursprünglichen kulturellen Alltags- und Erfahrungskontexten mitgebracht werden (Bock-Famulla/Lange 2013). In mancher Hinsicht ist die Situation in der Grundschule ähnlich. Wenn Musik und bildende Kunst auch Teil des Lehrplans sind, hängen Qualität und Umfang des erteilten Unterrichts doch in hohem Maß von der Lehrerqualifikation ab, die häufig aber nur einen geringen oder gar keinen Ausbildungshintergrund hat; die Künste stehen nicht im Mittelpunkt der Lehrerbildung von Grundschullehrern. Ob und wie also Literatur, Musik, Theater, Tanz, Design (z.B. Stricken) gelehrt werden, hängt von der besonderen Situation in jeder einzelnen Schule ab. Auch hier lautet die entscheidende Frage immer: Gibt es interessierte und qualifizierte Lehrer? Oder gibt es ggf. feste, verlässliche und einschlägig qualifizierte Kooperationspartner? In allen Schulen in der Sekundarstufe sind Musik und die Bildenden Künste im Rahmen der Lehrpläne vorgesehen. Theater wird inzwischen manchmal als Fach, mehrheitlich jedoch als freiwilliges Zusatzangebot in AG-Form angeboten (vgl. Valentin 2013). Tanz und Film finden gelegentlich, Architektur findet eher selten Eingang in die Schule. Ob und in welchem Umfang die neuen inter- und transdisziplinären künstlerischen

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Formen und Medienkünste bereits Eingang in die Schule finden, ist nicht systematisch erforscht; zu vermuten sind aber sehr große Unterschiede nach Schularten und Lehrerinteressen. Der vorgesehene Unterricht in Musik und Kunst wird indessen keineswegs immer erteilt; gerade in diesen „Nebenfächern“ scheint der Unterrichtsausfall überproportional hoch zu sein. Dass es dazu keine verlässlichen Daten gibt, ist ein besonderes Ärgernis. Häufig gibt es darüber hinaus zusätzliche Angebote im Bereich der freiwilligen Arbeitsgemeinschaften (Chor, Band, Orchester, Theater, manchmal auch Literatur, Film, Zirkus ...); dabei ist das Angebot in Gymnasien im Durchschnitt erheblich breiter als in den anderen Sekundarschulen. Literatur hat nach wie vor einen festen Platz im Rahmen des Deutsch-Unterrichts; jedoch ist die Bedeutung des Deutsch-Unterrichts etwa im Vergleich zu Mathematik und Naturwissenschaften insgesamt zurückgegangen, und innerhalb des Deutschunterrichts hat der Literaturunterricht im Vergleich zum Sprachunterricht an Bedeutung verloren. Zwischen den Schularten finden sich deutliche Unterschiede. In den Gymnasien haben die künstlerischen Fächer und Bereiche erheblich höhere Bedeutung als in allen anderen Schularten der Sekundarstufe (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2015). Hier haben auch die Lehrer die formal beste Qualifikation. Insgesamt aber lässt sich in den letzten zwei Jahrzehnten eine deutliche Rückstufung der Bedeutung künstlerischer Fächer und Inhalte in den für alle Schüler verbindlichen unterrichtlichen Kernbereichen der Schule feststellen: Die Zahl der Unterrichtsstunden ist in diesen Fächern zurückgegangen und sie haben an Bedeutung für die Zertifikate (Versetzungen, schulische Abschlüsse) verloren. Diese Entwicklung wird konterkariert durch zunehmende Angebote kultureller Bildung im offenen Ganztagsbereich, die in diesem Rahmen von anderem Personal durchgeführt werden (s.u.) – eine Situation, die von den einschlägigen Fachverbänden der Lehrer aus naheliegenden Gründen sehr kritisch gesehen wird. Die Situation im formalen Bildungsbereich ist also durchaus widersprüchlich Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012). Einerseits gibt es Tendenzen zur Ausweitung künstlerischkultureller Bildung, andererseits finden sich in den Kernbereichen 123

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der Schule auch deutliche Abwertungstendenzen. Von einer durchgängigen Konjunktur dieser Bereiche im Bereich der formalen Bildung kann daher sicher nicht gesprochen werden, eher im Gegenteil. Zwar findet sich durchgängig eine politische Rhetorik, die die Bedeutung und den Wert der künstlerischen Bereiche betont, aber in der Praxis finden sich auch deutlich gegenläufige Entwicklungen. So steht interessanten neuen Entwicklungsansätzen und Modellversuchen (z.B. „Kulturschule“, „Kulturagenten für kreative Schulen“) offensichtlich ein Bedeutungsverlust der künstlerischen Bereiche in den Durchschnittseinrichtungen gegenüber.

4. Non-formale Bildung Künstlerische und kulturelle Bildung spielen in Deutschland im non-formalen Bildungsbereich eine herausgehobene Rolle. Sie zielen darauf, individuelle Bedürfnisse und Interessen und persönlichen Geschmack zu entwickeln. Hier werden Erfahrungen – rezeptive und produktive - in verschiedenen Feldern von Kunst und Kultur möglich, auch der Erwerb persönlicher Qualifikationen. In diesem Bereich gibt es vier unterschiedliche Institutionen mit ihren je spezifischen Zugängen und Räumen: • Kulturelle Einrichtungen wie Theater, Museen, Ausstellungen, Orchester, aber auch Festivals bieten heute in der Regel pädagogische Programme an, die oft von Professionellen in der künstlerischer Bildung des jeweiligen Bereichs betreut werden (Theaterpädagogen, Museumspädagogen, Orchesterpädagogen etc.). • Öffentliche Einrichtungen künstlerisch-kultureller Bildung (Musikschulen, Jugendkunstschulen, soziokulturelle Zentren, Volkshochschulen) bieten ein breites Spektrum von Kursen und Aktivitätsmöglichkeiten in den verschiedenen Künsten an, die in der Regel von einschlägig qualifizierten Lehrkräften oder hochqualifizierten „semiprofessionellen“ Laien durchgeführt werden. • Nicht kommerziell orientierte Verbände, Vereine und Clubs eröffnen Angebote, unterschiedliche Kunstformen zu erlernen und auszuüben. Hier werden die Angebote nicht nur von Professionellen, sondern häufig von besonders engagierten, mehr oder auch weniger ausgebildeten Laien organisiert und

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durchgeführt. Das Spektrum reicht dabei von den Kulturvereinen der verschiedenen Sparten (Musik, Tanz, Theater, Literatur, Film etc.) oder auch der verschiedenen Herkunftsgruppen (sozial, regional, kulturell, Migrationshintergründe) über die Jugendverbände bis zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften. Es gibt auch kommerzielle private Initiativen, die künstlerische Bildung offerieren: Private Musikschulen, Tanzschulen, Malschulen sind verbreitet. Dazu kommen gerade im Musikbereich die privaten Musiklehrer, die individuellen Instrumental- oder Gesangsunterricht anbieten (zu den Entwicklungen in den verschiedenen Bereichen finden sich jeweils einschlägige Artikel in: Bockhorst/Reinwand/Zacharias 2012).

Insgesamt gesehen hat die Expansion der Kulturellen Bildung dazu geführt, dass im außerschulischen Bereich in den meisten Großstädten inhaltlich jeder finden kann, was er sucht – auch gefördert durch Programme wie „Kultur macht stark“ (vgl. www.buendnisse-fuer-bildung.de). Ob sich die Wünsche dann auch realisieren lassen, ist freilich eine andere Frage, die vor allem an den verfügbaren ökonomischen und sozialen Ressourcen hängt; es geht da z.B. um Kosten und Transport. Dementsprechend schlagen sich auch hier die feinen und die groben MilieuUnterschiede stark nieder (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2014). In Kleinstädten oder im ländlichen Raum ist das Angebot kleiner, aber auch hier finden sich für Interessenten viele Möglichkeiten, insbesondere durch die Verbands- und Vereinskultur. Es ist offensichtlich, dass die Interessen der Anbieter keineswegs immer übereinstimmen, dass vielmehr auch und gerade in diesem Bereich stark konkurrierende Interessen im Spiel sind. Diese Interessenkonflikte, die als Kampf um die Ressourcen und damit als Kampf um die legitime Vorherrschaft mal mehr, mal weniger öffentlich ausgetragen und häufig ideologisch überlagert werden (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2013), waren insofern in den beiden letzten Jahrzehnten nicht übermäßig sichtbar, weil in dieser Zeit der gesamte Bereich der non-formalen Bildung deutlich gewachsen ist; in Zeiten und unter Bedingungen knapper Kassen können daraus jedoch starke Konflikte und Verteilungskämpfe resultieren.

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5. Entwicklungen Wie schon erwähnt ist der Anteil der künstlerischen Fächer im Curriculum der Schulen bzw. in den schulischen Lehrplänen offenkundig zurückgegangen, während man gleichzeitig einen bemerkenswerten Anstieg von Angeboten zu künstlerischer und kultureller Bildung im Bereich der non-formalen Bildung feststellen kann. Das ist eine durchaus paradoxe Entwicklung, da die Zugangsmöglichkeiten zu qualifizierter kultureller Bildung eher eingeschränkt werden, wenn sie nur noch geringere Anteile am Pflichtprogramm erhält. Im Effekt dürfte dies die Chancen auf kulturelle Bildung gerade für die Benachteiligten weiter verringern, also zur Steigerung der Milieu-Differenzen beitragen. Diese Schwächung der Kulturellen Bildung wird nicht kompensiert durch die deutliche Zunahme von Kooperationen zwischen dem formalen und dem non-formalen Sektor und das Entstehen neuer intersektoraler Bereiche. Hier entstehen vielmehr neue Strukturen anderer Art. Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Einrichtungen gehören inzwischen vielerorts zur Normalität: Lehrer der öffentlichen Musikschulen unterrichten im Kindergarten, Künstler unterrichten an Grundund weiterführenden Schulen, Schulen und Museen führen gemeinsam Projekte durch usw. usw. Mit diesen Entwicklungen zeichnet sich eine der deutlichsten Veränderungen des deutschen Schulsystems ab. Bis vor ca. zehn Jahren war es in Deutschland die Regel, dass der Schulunterricht halbtägig stattfand. Als Professionelle gab es an den Schulen nur die Lehrer, auch in den künstlerischen Fächern. Dann wurde mit einem einflussreichen politischen Programm durchgesetzt, dass mehr und mehr Ganztagsschulen angeboten werden. Dieser Transformationsprozess ist immer noch im Gang; aber er zeigt schon heute erstaunliche Ergebnisse (Fischer u.a. 2011). Auch in den Ganztagsschulen sind Lehrer nach wie vor für den Unterricht in den traditionellen Fächern zuständig. Aber es gibt bestimmte Zeiten, die von anderen Professionellen, von Künstlern oder Sozialarbeitern übernommen werden. Die neuen Kooperationsformen zwischen dem formalen und dem non-formalen Sektor schaffen neue Formen der Schulkultur. Diese neuen Formen haben auch sehr interessante politische Implikationen im Blick auf die Beziehungen zwischen den Landesregierungen auf der einen Seite und den Städten und Landkreisen auf der anderen Seite. Während die Lehrer in aller Regel vom Land bezahlt werden, wird das neue pädagogisch täti126

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ge Personal üblicherweise von den Städten oder Landkreisen bezahlt, die entsprechende Träger beauftragen (AWO, Caritas, Diakonie, freie Träger...). Während das formale Curriculum durch die Kultusministerien der Länder bestimmt wird, sind die Städte oder Kreise für die neuen Formen des Unterrichts und der Betreuung in der offenen Ganztagsschule zuständig. So werden Schulen tendenziell zu gemischten Einrichtungen; den Kommunen wächst hier nicht nur bildungspolitische, sondern auch unmittelbar pädagogische Bedeutung zu (Rossmeissl 2014). Dass damit zugleich neue politische und pädagogische Konfliktfelder verbunden sind, liegt auf der Hand. Damit öffnen die Schulen aber auch einen neuen Raum für die künstlerische und kulturelle Bildung.

6. Perspektiven Das Feld der formalen künstlerischen und kulturellen Bildung befindet sich in einem Transformationsprozess, der auf die Globalisierung reagiert (Migration, Medien, Multioptionsgesellschaft). Parallel dazu entstehen im Bereich formaler und non-formaler künstlerischer Bildung engere Verbindungen und Kooperationsformen; neue Perspektiven für die Lernenden bilden sich heraus. Es entstehen Lern- und Bildungsräume, die zusätzliche Wahlmöglichkeiten eröffnen; gleichzeitig gehen traditionelle Ressourcen verloren. Vor diesem Hintergrund ist der politische und wissenschaftliche Diskurs in Deutschland sehr auf die Frage fokussiert, wie sich neue Formen institutionalisierter Kooperation entwickeln lassen. Die „regionale Bildungslandschaft“ ist das Zauberwort, das neue Horizonte eröffnet (Deutsche Kinder- und Jugendstiftung 2012). Dabei entstehen auch Netzwerke zwischen Partnern aus kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Feldern, die es sich zum Ziel setzen, die künstlerische und kulturelle Bildung in einer Weise zu verbessern und zu bereichern, die bottomup und top-down Strategien verknüpft. Ob die Konjunktur Kultureller Bildung im non-formalen Bereich aber anhält und ob es gelingt, den Bedeutungsverlust Kultureller Bildung in den unterrichtlichen Kernbereichen der Schule aufzuhalten oder umzukehren, sind durchaus offene Fragen. Hier wird es entscheidend darauf ankommen, wer auch in der Konkurrenz mit anderen politischen Aufgaben und Anforderungen im Kampf um die knappen Mittel der kulturellen, sozialen, symbolischen und ökonomischen Ressourcen auf Dauer mobilisieren kann. 127

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Kulturelle Bildung hat ohne Zweifel rhetorische und politische Konjunktur. Ob und in welchem Ausmaß die empirischen Entwicklungen dieser Konjunktur entsprechen, sind allerdings durchaus offene Fragen. Dass es sich um ein Kampffeld handelt, ist evident. Das war in der Ästhetischen Bildung schon immer so.1 Gerade in diesem Feld bedarf es dringend auf allen Ebenen weiterer empirischer Forschung; es ist erfreulich, dass entsprechende Initiativen zu einer größeren Aufmerksamkeit geführt haben und dass nicht nur der Diskurs über die Forschung sich erheblich intensiviert hat, sondern auch die Forschung selbst. Die Gründung des „Forschungsfonds Kulturelle Bildung“2, die Einrichtung des „Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung“3 , die zu erwartende Förderrichtlinie „Forschung zur Kulturellen Bildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, auch die Gründung des „International network for research in arts education“ (inrae) mit UNESCO-orientierten Bemühungen um eine Stärkung der Forschung zur arts education (vgl.: http://www.arts-edu.org ) bilden hier wichtige Initiativen. Ein regelmäßiges nationales und internationales Monitoring zur Kulturellen Bildung wäre äußerst wünschenswert. Erst auf einer solchen Grundlage könnte ein verlässliches Bild der Situation gezeichnet werden, mit dem dann auch der Entwicklungsbedarf präziser benannt werden kann. Dass massive Unterstützungsmaßnahmen zum Ausbau und zur Verbesserung der Qualität des Angebots erforderlich sind, steht indessen schon jetzt außer Frage.

1

2 3

Das Projekt „Geschichte der Ästhetischen Bildung“ zeigt, dass in diesem Feld seit der Antike Streit an der Tagesordnung ist. Vgl. Zirfas u.a. 2009; Klepacki/Zirfas 2011; Zirfas/Klepacki/Lohwasser 2014. Vgl.: www.stiftung-mercator.de/de/projekt/forschungsfonds-kulturelle-bildung/ Vgl.: www.forschung-kulturelle-bildung.de

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Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2012): Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf, Kapitel H: Kulturelle/musisch-ästhetische Bildung im Lebenslauf. Bielefeld, S. 157-198. Bilstein, Johannes (2001): „Erziehung, Bildung, Spiel“. In: Liebau, Eckart (Hg.): Die Bildung des Subjekts. Beiträge zur Pädagogik der Teilhabe. Weinheim/München: Juventa, S. 15-71. Bock-Famulla, Kathrin/Lange, Jens (2013): Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2013. Transparenz schaffen – Governance stärken. Gütersloh: Bertelsmann. Bockhorst, Hildegard/Reinwand, Vanessa/Zacharias, Wolfgang (2012): Handbuch Kulturelle Bildung. München: kopaed (digitale Fortschreibung unter www.kubi-online.de). Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Calmbach, Marc/Thomas, Peter Martin/Borchard, Inga/Flaig, Bodo (2012): Wie ticken Jugendliche? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland. Düsseldorf: Haus Altenberg. Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (Hg.) (2012): Handbuch „Wie geht’s zur Bildungslandschaft?“. Seelze-Velber: Friedrich. Fischer, Natalie/Holtappels, Heinz Günter/Klieme, Eckhard/Rauschenbach, Thomas/Stecher, Ludwig/Züchner, Ivo (Hg.) (2011): Ganztagsschule: Entwicklung, Qualität, Wirkungen: Längsschnittliche Befunde der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG). Weinheim/Basel: Juventa. Haumann, Wilhelm (2010): Generationen-Barometer 2009: Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach. Münster: Monsenstein und Vannerdat. Landesstiftung Baden-Württemberg (Hg.) (2009): Musischästhetische Modellprojekte in Kindergärten und anderen Tageseinrichtungen für Kinder. Stuttgart. Klepacki, Leopold/Zirfas, Jörg (2011): Geschichte der Ästhetischen Bildung. Frühe Neuzeit. Paderborn: Schöningh. Rat für Kulturelle Bildung (2013): Alles Immer Gut. Mythen Kultureller Bildung. Essen.

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Rat für Kulturelle Bildung (2014): Schön, dass ihr da seid. Kulturelle Bildung: Teilhabe und Zugänge. Essen. Rat für Kulturelle Bildung (Hg.) (2015): Jugend/Kunst/Erfahrung. Horizont 2015. Kulturverständnis und Kulturinteressen von Schülerinnen und Schülern und ihre strukturellen Begegnungsmöglichkeiten mit kulturellen Angeboten. Eine Repräsentativbefragung des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD) im Auftrag des Rats für Kulturelle Bildung, ergänzt um repräsentative Ergebnisse einer parallelen IfDBevölkerungsumfrage. Essen. Rossmeissl, Dieter (Hg.) (2014): Kultur, Bildung, Stadt. Denkschrift zu Positionen und Entwicklungen für Kultur und kulturelle Bildung in Erlangen im Bereich des Referats für Kultur, Jugend und Freizeit. Erlangen. Schonmann, Shifra (Ed.) (2015): International Yearbook for Research in Arts Education. The Wisdom of the Many – Key Issues in Arts Education. Münster/New York: Waxmann. Valentin, Katrin (2013): Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Theater. Empirische Ergebnisse für die Fachdebatte und hilfreiche Reflexionen für die Praxis. Münster/New York: Waxmann. Zirfas, Jörg/Klepacki, Leopold/Bilstein, Johannes/Liebau, Eckart (2009): Geschichte der Ästhetischen Bildung. Antike und Mittelalter. Paderborn: Schöningh. Zirfas, Jörg/Klepacki, Leopold/Lohwasser, Diana (2014): Geschichte der Ästhetischen Bildung. Neuzeit, Teilband 1: Aufklärung. Paderborn: Schöningh.

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Michael von Engelhardt

Personale Identität in Bildern Zur bildnerischen Selbstdarstellung im Lebenslauf

Einleitung In der sozial- und kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Identität des Menschen kommt seit langem der Sprache eine herausgehobene Bedeutung zu.1 Damit wird der Mensch als das sprachfähige Wesen in das Zentrum der Aufmerksamkeit bei der Erörterung der Identität gerückt, während der Mensch als das bildfähige Wesen (Jonas 1961) weitgehend vernachlässigt bleibt. Der Mensch lebt nicht nur in einer Kulturwelt der Sprache, sondern zugleich auch in einer Kulturwelt der Bilder. Die Identität des Menschen wird nicht nur in der Literatur, sondern in starkem Maße gerade auch in der bildenden Kunst, in der Fotographie und im Film zum Thema gemacht. Im Alltagsleben ist nicht nur die mündliche Sprache, sondern vor allem auch die visuelle Erscheinung des menschlichen Körpers in seiner kulturellen Ausgestaltung von herausragender Bedeutung für die Wahrnehmung, Zuweisung und Darstellung von Identität. Während mit dem „linguistic turn“ (Rorty 1967) der 1960er Jahre die grundlegende Bedeutung der Sprache in den Kultur- und Sozialwissenschaften eine starke Berücksichtigung gefunden hat, erfolgt seit dem „pictural turn“ (Mitchell 1992) und dem „iconic turn“ (Boehm 1994) der 1990er Jahre eine verstärkte Hinwendung zu der ebenfalls grundlegenden Bedeutung des Bildes. Damit wird auch eine erweiterte Perspektive auf die Identität des Menschen eröffnet. Die mit der Renaissance einsetzende Herausbildung des modernen (westlichen) Subjektverständnisses geht einher mit der Herausbildung zweier charakteristischer kultureller Muster der Identitätsdarstellung im Medium der Sprache und im Medium

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Die im Text verwendeten Personenbezeichnungen schließen (wenn nicht ausdrücklich anders hervorgehoben) stets beide Geschlechter ein.

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des Bildes,2 die mit dem Wandel dieses Subjektverständnisses bis in die Gegenwart hinein ihrerseits einem Wandel unterliegen. Im Medium der Sprache handelt es sich um die schriftliche Biographie und Autobiographie (Niggl 1977; Lehmann 1988; Klein 2009) und andere schriftliche Ego-Dokumente (Brief, Tagebuch). Im Medium des Bildes handelt es sich um das Porträt und Selbstporträt der bildenden Kunst (Burckhardt 2002; Boehm 1985; Beyer 2002; Calabrese 2006) und später dann auch der Fotographie. Auch nach der Ausbreitung der Fotographie kommt der bildenden Kunst wegen ihrer besonderen Gestaltungsmöglichkeiten eine weiterhin große und zum Teil noch gesteigerte Bedeutung für die bildliche Darstellung der Identität des Menschen zu. Künstler und Laien nutzen die ästhetisch-bildnerischen Gestaltungsmöglichkeiten der Malerei, der Zeichnung, der Collage etc. für die Darstellung ihrer Identität und der Identität anderer Personen. Der vorliegende Beitrag geht von der besonderen Bedeutung dieser ästhetisch-bildnerischen Gestaltungsmöglichkeiten aus und befasst sich in theoretischer Perspektive und auf empirischer Grundlage mit der Selbstdarstellung von bildnerisch aktiven Laien. Dabei wird der Frage nachgegangen, wie weit der Wandel der Lebensphasen mit einem Wandel der bildnerischen Selbstdarstellung einhergeht. Die für die hier behandelte Thematik zentralen Begriffe „Selbst“ und „Identität“ werden in den nachfolgenden Ausführungen synonym verwendet.3 2 3

Diese mit der Renaissance einsetzende Entwicklung der Darstellung von Identität in Texten und Bildern geht auf wichtige Vorläufer in der Antike und im Mittelalter zurück. Die beiden Kategorien „Selbst“ und „Identität“ werden in der wissenschaftlichen Literatur zum Teil unterschiedlich, zum Teil synonym verwendet. Die unterschiedliche Verwendung lässt sich etwas vereinfacht in der folgenden Weise bestimmen. Während die Kategorie des Selbst auf die Person begrenzt ist (vgl. etwa Hartmann 1975), wird mit der Kategorie der Identität eine Ausweitung vorgenommen, indem die interaktive Einbindung des Menschen in seine soziokulturelle Lebenswelt berücksichtigt wird, die den Erfahrungsund Handlungszusammenhang der Person ausmacht und die sich in der Genese und Struktur der Person niederschlägt (vgl. etwa Erikson 1970). Die Kategorie des Selbst wird aber auch in diesem ausgeweiteten Sinne verwendet (vgl. etwa Mead 1986; Goffman 1967, 1968), woraus sich eine synonyme Verwendung der beiden Kategorien ergibt. In dem Zusammenhang des vorliegenden Beitrags erscheint es sinnvoll, beide Kategorien synonym zu verwenden.

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MICHAEL VON ENGELHARDT: PERSONALE IDENTITÄT IN BILDERN

Die empirische Grundlage dieses Beitrags entstammt einem interdisziplinären Forschungsprojekt (Engelhardt u.a. 2014).4 In diesem Projekt wurden u.a. Malworkshops durchgeführt, in denen malaktive Laien Bilder von sich (eigene Identität) und Bilder von anderen Personen (Identität der Anderen) erstellt haben. Die Aktivitäten des bildnerischen Gestaltens und deren Niederschlag in den Bildern wurden mit der Methode der Teilnehmenden Beobachtung erfasst (Dokumentation der äußeren Seite der bildnerischen Praxis) und anschließend in „Prozessinterviews“ mit den Bildproduzenten eingehend erörtert (Erschließung der inneren Seite der bildnerischen Praxis). Die nachfolgende Darstellung stützt sich auf die Selbstbilder von 95 Workshop-Teilnehmern beiderlei Geschlechts, die sich auf die Lebensphasen Kindheit, Jugend, junges bis mittleres Erwachsenenalter und Alter bzw. „reifes Erwachsenenalter“ (Erikson) verteilen.5 In diesem Beitrag werden die Lebensabschnitte vom jungen bis zum reifen Erwachsenenalter zusammenfassend behandelt. Die Bilder wurden einer Inhalts- und Formanalyse unterzogen, die auf die Frage ausgerichtet war, welches Identitätskonzept in ihnen zur Darstellung kommt. Bilder sind (ebenso wie Texte) eingebunden in den doppelten Bedeutungshorizont der Bildproduktion und der Bildrezeption (Gadamer, Panofsky), was insbesondere bei der hier behandelten Thematik in der Bildinterpretation zu berücksichtigen war und durch die methodische Anlage der Untersuchung auch berücksichtigt werden konnte. So ging die Bil4

5

Es handelt sich um ein Forschungsprojekt („Malen und Schreiben in der Biographie. Zur ästhetischen Gestaltung von Identität und Alterität“) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, das von der Städtler-Stiftung gefördert wurde. Neben dem Autor gehörten dem Projekt Susanne Liebmann-Wurmer, Catharina Schubach und Andreas Sontheimer an, zeitweilig waren auch Susanne Butz, Katrin Brand, Lilian Seuberling, Matthias Warstat und Mona Wirth an der Projektarbeit beteiligt. Die Ausführungen in diesem Beitrag werden alleine vom Autor verantwortet. Zu den Workshop-Teilnehmern gehörten 27 Kinder (7 bis 12 Jahre), 25 Jugendliche (16 bis 21 Jahre), 21 Person im jungen und mittleren Erwachsenenalter (31 bis 60 Jahre), 22 Personen im „reifen Erwachsenenalter“ bzw. in der Altersphase (65 bis 81 Jahre). Diese Personen haben jeweils ein Bild von sich erstellt, manche auch mehrere, sodass die Anzahl der Bilder (108) etwas die Anzahl der Personen (95) übersteigt. Die Interpretation dieser Bilder bildet die empirische Grundlage dieses Beitrags.

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dinterpretation von einer klaren Unterscheidung zwischen der Bedeutungsperspektive des (analysierenden) Bildrezipienten und der (aus dem Prozessinterview zu erschließenden) Bedeutungsperspektive des Bildproduzenten aus, um dann in die weitergehende Bildinterpretation beide Perspektiven und deren Verhältnis zueinander einzubeziehen. In die nachfolgende Darstellung können die ausführlichen Bildinterpretationen nicht aufgenommen werden. Da es um einen Überblick über das Spektrum der Identitätsdarstellungen in Bildern und deren unterschiedliche Ausprägung in den Lebensphasen des Lebenslaufs gehen soll, wird auf diese ausführlichen Interpretationen nur in der Form von Zusammenfassungen und exemplarischen Kurzcharakterisierungen zurückgegriffen. Der Beitrag gliedert sich in drei Abschnitte. In den ersten beiden theoretisch ausgerichteten Abschnitten wird zunächst das Konzept der personalen Identität dargestellt und anschließend die Tätigkeit der Bildgestaltung als Vorgang der Identitätsdarstellung näher charakterisiert. Auf dieser Grundlage befasst sich dann der dritte empirisch ausgerichtete Abschnitt mit den Bildern der Identitätsdarstellung und deren unterschiedlichen Ausprägungen in den Lebensphasen Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter. Zum Abschluss erfolgt eine kurze Zusammenfassung.

1. Personale Identität Die menschliche Identität, durch die das „Wer“ und das „Wie“ des Menschen eine Bestimmung erhalten und die im Unterschied zu der den Dingen, anderen Lebewesen und sozialen Kollektiven zugewiesenen Identität als personale Identität bezeichnet wird, bildet eine grundlegende Voraussetzung der menschlichen Existenz und des menschlichen Zusammenlebens (Luckmann 2003).6 Die Herstellung, Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung personaler Identität7 beruht auf der Fähigkeit des Menschen, sich zum Objekt seiner selbst machen zu können, und auf der damit 6

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Personale Identität bezieht sich zum einen auf die eigene Identität (Ich- oder Selbst-Identität) und zum anderen auf die Identität der Anderen. Im vorliegenden Zusammenhang geht es nur um die eigene Identität. Für einen Überblick über die einschlägigen Identitätstheorien vgl. Abels 2006; Jörissen/Zirfas 2010.

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MICHAEL VON ENGELHARDT: PERSONALE IDENTITÄT IN BILDERN

einhergehenden Fähigkeit, die soziokulturelle Lebenswelt aufnehmen, sich aus deren unterschiedlichen Perspektiven wahrnehmen, auf sie ausrichten und in ihr verorten zu können (Mead 1968; Plessner 1975; Engelhardt 1990). Auf dieser Grundlage vollzieht sich Identität als ein dreifaches miteinander verknüpftes Vermittlungsverhältnis, dessen grundlegende Bedeutung in allen klassischen Identitätstheorien (Freud, Mead, Erikson, Goffman, Habermas, Krappmann, Ricœur) hervorgehoben wird (Engelhardt 1990). Personale Identität vollzieht sich als ein leiblich-psychisches Selbstverhältnis der Person, als ein soziokulturelles PersonUmwelt-Verhältnis und als ein zeitlich-biographisches Verhältnis der Person zu der hinter ihr liegenden Vergangenheit und der vor ihr liegenden Zukunft. Die personale Identität nimmt zum einen die Ausprägung einer sozialen Identität an, in der die Zugehörigkeit der Person zu sozialen Gruppen und Kulturen, zu Geschlechtern und Lebensphasen und die Einnahme sozialer Rollen zum Ausdruck kommt. Zum anderen nimmt sie die Ausprägung einer persönlichen Identität an, in der die unverwechselbare Individualität der Person zum Ausdruck kommt (Goffman 1967). In der neueren sozialwissenschaftlichen Debatte um die personale Identität,8 die seit den 1990er Jahren auf die Phase der klassischen Identitätstheorien gefolgt ist, wird zu Recht ein Konzept der personalen Identität problematisiert, das von einer Konstanz, Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit der menschlichen Identität ausgeht – sei es als gegebene Realität oder als normative Zielsetzung. Die Moderne ist zum einen durch eine ausgeprägte Dynamik in der Biographie der Menschen (verstärkt durch gesellschaftlich-kulturelle Umbrüche und Migration) gekennzeichnet. Zum anderen ist sie gekennzeichnet durch eine fortschreitende Ausdifferenzierung der soziokulturellen Lebenswelt des Menschen in unterschiedliche gegeneinander abgesetzte Handlungsund Erfahrungsfelder und durch eine Mehrfachzugehörigkeit zu unterschiedlichen Kulturen und Milieus. Diese beiden Entwicklungen gehen einher mit der verstärkten Wahrnehmung einer Ausdifferenzierung der eigenen Person. So tritt der Prozesscharakter und die Dynamik, die Pluralität und Heterogenität, das Tentative, Vorläufige und Ungesicherte der personalen Identität 8

Vgl. z.B. Welsch 1993; Hall 1994; Gergen 1996; Keupp u.a. 1999; Straub/Renn 2002.

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zunehmend deutlicher hervor. Das wird von den Menschen in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen soziokulturellen Lebenssituation und ihrer Lebensphase sowie ihrer personalen Verfassung in unterschiedlichem Maße erfahren und auf unterschiedliche Weise verarbeitet. Die Lebenspraxis ist begleitet von vielfältigen Formen der Darstellung der eigenen Identität, mit der der Mensch seinen Mitmenschen und sich selbst gegenüber zum Ausdruck bringt, wer und wie er ist. Diese Selbstdarstellung kann mit dem Lebensvollzug so eng verbunden sein oder mit ihm zusammenfallen, dass sie nicht gesondert hervortritt und hervorgehoben wird. Die Identitätsdarstellung vollzieht sich im Alltagsleben in einem erheblichen Ausmaß als eine eingespielte Routine, mit der die Identität als eine unhinterfragt gegebene Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird. Diese eingespielte Routine löst sich aber auch immer wieder auf, wenn durch die Verarbeitung innerer und äußerer Erfahrungen eine Problematisierung und eine Um- und Neustrukturierung der personalen Identität hervorgerufen wird. Dann wird besonders explizit deutlich, dass es sich bei der Identität generell um einen Prozess und eine zu bewältigende Aufgabe handelt. Das geschieht beim Wechsel zwischen unterschiedlichen sozialen Situationen, Milieus und Kulturen, bei gesellschaftlichpolitischen Umbrüchen, bei einschneidenden Lebensereignissen und biographischen Übergängen und im Verlauf von Migrationsprozessen. Die Darstellung der Identität nimmt in der Biographie, beim Wechsel der sozialen Situationen und Interaktionspartner und in Abhängigkeit von der jeweiligen personalen Verfassung und eigenen Intention eine unterschiedliche Ausprägung an. Die in der Kindheit und im Jugendalter sich herausbildende soziale Kompetenz schließt vor allem auch die Fähigkeit zu einer entsprechend ausdifferenzierten und dynamischen Darstellung der eigenen Identität ein. In der interaktiven Verschränkung der Darstellung, Wahrnehmung und Zuweisung personaler Identität vollzieht sich der Aufbau, die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der subjektiven und intersubjektiven soziokulturellen Lebenswelt. Im Alltagsleben kommt der Sprache in der Form des selbstthematisierenden Sprechens eine wichtige Bedeutung für die Darstellung der Identität zu (Engelhardt 2011). Mindestens ebenso bedeutsam für die Identitätsdarstellung ist (oft in Verbindung mit dem Spre136

MICHAEL VON ENGELHARDT: PERSONALE IDENTITÄT IN BILDERN

chen) der visuell wahrnehmbare Leibkörper (Plessner)9 der Person (Goffman 1967, 1969; Hahn/Meuser 2002; Engelhardt 2007), der die Körpergestalt, Gesicht und Haare, Mimik, Gestik und Bewegung, Schminke, Schmuck und Kleidung (die „zweite Haut“ des Menschen) sowie Accessoires umfasst.10 Der menschliche Leibkörper ist Ausdrucksorgan und Bedeutungsträger (Douglas 1981; Lindemann 1996). Die visuell wahrnehmbare Erscheinung des Leibkörpers bringt die soziale Zugehörigkeit zu Gruppen, Kulturen, Geschlechtern etc. und die unverwechselbare Individualität der Person zum Ausdruck. Sie nimmt eine unterschiedliche Ausgestaltung im Wechsel der sozialen Situationen und des sozialen Gegenübers an und unterliegt einem grundlegenden biographischen Wandel im menschlichen Lebenslauf. Mit dem (mehr oder minder unbewussten oder bewussten) Zeigen des kulturell gestalteten Leibkörpers erfolgt eine Darstellung personaler Identität. Dem korrespondiert die Wahrnehmung bzw. Zuweisung personaler Identität durch das Sehen.11 Während die Person im Zeigen (und Gestalten) ihres Leibkörpers ihre Identität zur Darstellung bringt, vollzieht sie im Sehen ihres LeibkörPlessner (1975) hat den Menschen als das Wesen ausgewiesen, das ein Leib ist und einen Körper hat. Damit hat er die besondere Charakteristik der menschlichen Körperexistenz bestimmt. Darauf nimmt der hier verwendete Begriff des Leibkörpers Bezug. Zur grundlegenden Bedeutung des Leibkörpers für die personale Identität vgl. auch Gugutzer 2002. 10 Die Darstellung personaler Identität vollzieht sich natürlich vor allem auch durch praktisches Handeln und in die körpergebundene Darstellung, Wahrnehmung und Zuweisung von Identität sind je nach Situation neben dem Sehsinn auch die anderen menschlichen Sinne einbezogen. 11 Das Zusammenspiel von Zeigen und Sehen entspricht dem Zusammenspiel von Sprechen und Hören, dem Mead (1968) in seiner Identitätstheorie eine grundlegende Bedeutung für die soziale Konstitution der personalen Identität zuweist. Während die Person sich im Sprechen an ihr Gegenüber richtet, hört sie sich sprechen und ruft so (auf der Grundlage einer gemeinsam geteilten kulturellen Sprachwelt) bei sich die Bedeutung hervor, die die Sprachhandlung beim (hörenden) Gegenüber auslöst oder auslösen soll. Was für das Zusammenspiel von Sprechen und Hören in der sprachlich vollzogenen Interaktion (im Selbstverhältnis und im Verhältnis zum sozialen Gegenüber) gilt, gilt in analoger Weise für das Zusammenspiel von Zeigen und Sehen in der visuellen leibkörperbezogenen Interaktion.

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pers (verbunden mit den damit einhergehenden emotionalen und mentalen Vorgängen) die Wahrnehmung und die Zuweisung ihrer Identität. Indem sie die Perspektive des ihren Leibkörper sehenden sozialen Gegenübers einnimmt, kann sie ihre leibkörpergebundene Identitätsdarstellung auf die soziale Umwelt ausrichten. So realisiert sich in der Selbstdarstellung des Leibkörpers Identität als personales Selbstverhältnis und als Person-UmweltVerhältnis, in das zugleich Identität als temporal-biographisches Verhältnis eingebunden ist.

2. Bildnerisches Gestalten als Gestaltung personaler Identität In Bildern, die sich auf die eigene Person beziehen, verliert die Identitätsdarstellung den flüchtig-prozessualen Charakter des Alltagslebens und löst sich aus der Einbindung in deren praktische Lebensvollzüge. Das Anfertigen eines Selbst-Bildes ist zwar an Zeit und Ort dieses Vorgangs und die bildnerisch tätige Person gebunden, das Bild selbst besitzt aber eine von dieser Zeit-, Ortsund Personenbindung unabhängige Existenzform. Die Herauslösung des bildnerischen Gestaltens aus den Aktivitäten des Alltagslebens ermöglicht ein Innehalten und eine gezielte Beschäftigung mit der eigenen Person und ihrem Lebenszusammenhang. Das Medium des Bildes enthält ein reichhaltiges Potential der Selbstdarstellung, das weit über die visuelle Körpererscheinung der Person hinausgeht und sich auch gänzlich von dieser lösen kann. Das bildnerische Gestalten ist eine körpergebundene sinnlichmentale praktische Tätigkeit, in der das Werkzeugorgan der menschlichen Hand und das Wahrnehmungsorgan des menschlichen Auges bei gleichzeitiger (unterschiedlich stark ausgeprägter) Bewegung auch des übrigen Körpers aufs engste zusammenwirken.12 Die bildnerische Tätigkeit erfolgt in Auseinandersetzung mit inneren Vorstellungen und äußerer Wahrnehmung und unter 12 Der Leibkörper des Menschen ist primäres Sinnesorgan der Wahrnehmung, er ist primäres Werkzeugorgan des Handelns und des Herstellens von Produkten und Werken und primäres Organ des Ausdrucks und der Bedeutung (vgl. hierzu auch die von Bittner, 1985 vorgenommene Unterscheidung in „Wahrnehmungsleib“, „Werkzeugleib“ und „Ausdrucksleib“).

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Nutzung der bildnerischen Werkzeuge (Pinsel, Stift, Spachtel) und Materialien (Farbe, Bildträger) und findet ihren Niederschlag in der materialisierten Gestalt des Bildes als Träger sinnlichästhetischer Qualitäten und Bedeutungen. Die besondere Charakteristik von Selbstbildern besteht darin, dass die bildnerisch tätige Person sich selbst zum Gegenstand ihrer Darstellung macht13 und dabei jene Fähigkeit des Menschen, sich zum Objekt seiner selbst machen zu können, die konstitutiv für die personale Identität ist, zur Anwendung bringt. Die Bildgestaltung ist ein Vorgang der Selbstbegegnung, in der die Person sich mit sich selbst und ihrem Leben (eher implizit oder eher explizit) auseinandersetzt und dies in die Selbstobjektivation des Bildes überführt. Die jeweilige Selbstdarstellung ist abhängig von der Lebensphase, der Lebenssituation und der psychischen Verfassung der Person, von bewussten und unbewussten Intentionen und Selbstkontrollen und von dem je aktuellen Anlass. Die Bildgestaltung kann aus weitgehend spontanen Aktivitäten hervorgehen oder mehr oder minder stark von einer Planung und einem Entwurf angeleitet sein. Dabei kann die Person sich in einer ihr weitgehend bekannten und vertrauten Formen zur Darstellung bringen, sie kann sich aber auch selbst überraschen, auf Unbekanntes und Neues stoßen und den Vorgang des bildnerischen Gestaltens zur Selbsterforschung nutzen. So vollzieht sich in den Akten der Bildgestaltung die Identitätsvermittlung im leiblich-psychischen Selbstverhältnis der Person, die ihren Ausdruck darin findet, was die Person von sich wie im Bild zur Darstellung bringt. Das Anfertigen der Selbstbilder vollzieht sich auf der Grundlage der von der Person rezipierten Identitätsvorstellungen und der von ihr rezipierten Bildkultur und unter Anwendung und Weiterent13 In der Literaturwissenschaft wird die Autobiographie dadurch charakterisiert, dass in ihr Autor, „erzählendes Ich“ und „erzähltes Ich“ miteinander verbunden und zugleich voneinander unterschieden sind (Engelhardt 1990; Lejeune 2010). In analoger Weise lässt sich das Selbstporträt dadurch charakterisieren, dass in ihm das „bildnerisch darstellende Ich“ und das „bildnerisch dargestellte Ich“ miteinander verbunden und zugleich voneinander unterschieden sind. Die Unterscheidung zwischen Autor und „erzählendem Ich“ lässt sich für das Selbstporträt in analogerweise nicht generell übernehmen, eine entsprechende Differenzierung wird aber auch hier bedeutsam, wenn es sich um die Form des reflexiven Selbstporträts handelt.

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wicklung ihrer jeweils erworbenen ästhetisch-bildnerischen Fähigkeiten, Interessen und Vorlieben. Die Bildgestaltung erfolgt aus einer intersubjektiven Sozial-und Kulturwelt der Identitätskonzepte und der Bilder heraus, die die bildnerisch tätige Person in sich aufgenommen hat und in ihrer Selbstdarstellung anwendet. Und sie erfolgt in die intersubjektive Sozial- und Kulturwelt hinein, auf die das Bild ausgerichtet ist. In den Akten der Bildgestaltung nimmt die sich darstellende Person die Perspektive des „verallgemeinerten Anderen“ (Mead 1968) ein, die dann im Bild als „impliziter Betrachter“ (Kemp 1992; Hoffmann 2006) enthalten ist.14 Diese (mal unbewusste, mal bewusste) Ausrichtung auf ein soziales Gegenüber der Selbstdarstellung kann durch die Orientierung an konkreten Personen und Personengruppen (dem „signifikanten Anderen“, Mead 1968) als den Adressaten der Selbstdarstellung eine Spezifikation erhalten. So wird in den Akten der Bildgestaltung durch den Rückgriff auf die Sozialund Kulturwelt und durch die Ausrichtung auf sie mit der Identitätsvermittlung im Selbstverhältnis zugleich auch die Identitätsvermittlung im Person-Umwelt-Verhältnis vollzogen, aus der hervorgeht, was von der Person wie zur Darstellung gebracht wird. In den Akten der Bildgestaltung wird neben der Identitätsvermittlung im Selbstverhältnis und im Person-Umweltverhältnis immer auch die Identitätsvermittlung in der zeitlich-biographischen Dimension vollzogen, die in das Was und Wie der Selbstdarstellung eingeht. So bringen die Bilder, die in diesen Akten der Bildgestaltung entstehen, eine unterschiedliche Ausprägung personaler Identität zur Darstellung. Diese unterschiedliche Ausprägung der personalen Identität zeigt sich darin, welche Selbstcharakterisierung die Person sich gibt, inwieweit und in welcher Form sie dabei ihre Einbindung in ihre soziokulturelle Umwelt und ihre biographische Entwicklung einbezieht und wie sie sich auf den Betrachter ausrichtet.

3. Der Wandel der Selbstbilder im Lebenslauf Die Selbstdarstellungen der bildnerisch tätigen Laien, die in der Untersuchung, aus der hier berichtet wird, vorgefunden wurden, weisen eine relativ große Vielfalt auf. Darin lassen sich die unterschiedlichen Ausprägungen wiedererkennen, die das Selbstporträt in der Geschichte der bildenden Kunst bis in die Gegenwart 14 Der „implizite Betrachter“ des Bildes entspricht dem „impliziten Leser“ des Textes (Iser 1972).

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hinein angenommen hat. Dabei zeigt sich auch, dass die Entwicklungen der bildenden Kunst seit der klassischen Moderne zu einer deutlichen Ausweitung der Darstellungsmöglichkeiten personaler Identität geführt haben. In der vergleichenden Analyse der Bilder konnte herausgefunden werden, dass die Identitätsdarstellungen in den Lebensphasen des Lebenslaufs eine unterschiedliche Ausprägung annehmen. Das zeigt sich im Vergleich der Selbstdarstellungen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.15 3.1 Bilder von Kindern Die Kinder wählen in ihren Bildern durchgehend eine gegenständlich-figürliche Darstellung. Der überwiegende Teil der Kinderbilder ist durch die Charakteristika der „Schemaphase“ gekennzeichnet,16 die nach der gängigen Entwicklungstheorie des bildnerischen Gestaltens auf die vorausgegangene „Kritzelphase“ der frühen Kindheit folgt (Richter 1997; Schuster 2010), was auch dem Alter (7 bis 12 Jahre) der in die Untersuchung einbezogenen Kinder entspricht. Zum Teil zeigt sich aber auch schon eine Ablösung von dieser Entwicklungsphase des kindlichen bildnerischen Gestaltens. Von beherrschender Bedeutung ist in den Kinderbildern ihr beseelter, kulturell gestalteter Leibkörper, der den unhintergehbaren Kern personaler Identität ausmacht – als Ausgangs- und Bezugspunkt der Selbst- und Welterfahrung, des Daseins und Handelns in der Welt und der Begegnung mit den Mitmenschen. In einem besonders verbreiteten Darstellungsmuster wird (ganz in der Tradition des klassischen Porträts) der beseelte Leibkörper zum Hauptgegenstand der Darstellung gemacht und in das Zent15 Wie schon angemerkt, werden in diesem Überblick die Abschnitte des jungen, mittleren und reifen Erwachsenenalters zusammengefasst. 16 Die „Schemaphase“ ist durch die Verwendung von Schemata für die Darstellung der Motive und die Gesamtkomposition charakterisiert, die den Kindern eine Wiederholung und Erkennbarkeit des Dargestellten ermöglichen und von ihnen individuell angeeignet und variiert werden. Vorherrschend ist eine flächige (nicht räumliche) Darstellung, die Größenverhältnisse des Dargestellten richten sich nach der ihnen zugewiesenen Bedeutung. In der Regel handelt es sich um eine bunte Bildgestaltung mit einer schematischen Zuordnung der Farbe zu dem Dargestellten (z.B. Blau für Himmel, Rot für Dach) und der Verwendung von Lieblingsfarben.

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rum des Bildes gerückt. Die körperliche Erscheinung wird als abgegrenzte personale Einheit der Identität dargestellt, die frontal dem Betrachter gegenübertritt, ihn direkt aus dem Bild heraus anblickt und so eine Beziehung zu ihm herstellt. Gesichtszüge, Körperhaltung und Farbgebung bringen mehr oder minder deutlich eine innere Haltung und Charakteristik der Person zum Ausdruck. Durch die Verwendung kulturell gängiger IdentifikationsMerkmale ist die dargestellte Person meist klar als Kind und als Mädchen oder Junge erkennbar17 und erhält so mit der Zuweisung zu Lebensphase und Geschlecht eine soziale Identität. Mit zusätzlichen spezifizierenden Kennzeichen (Haare, Augenfarbe, Kleidung, Accessoires) wird die Individualität der eigenen Person verdeutlicht und deren persönliche Identität hervorgehoben. In die Darstellung sind unterschiedliche Ausschnitte des Leibkörpers einbezogen, relativ verbreitet ist die Darstellung des ganzen Körpers, zum Teil ist die Darstellung auf die Kopf-Brustpartie eingegrenzt. In jedem Fall ist das Gesicht in die Identitätsdarstellung einbezogen, das ja gemeinhin als das Zentrum der Personalität des Menschen gilt. In einem Teil der Bilder ist die Darstellung auf die eigene Person begrenzt, was sich als die Darstellung einer personenzentrierten kontextfreien Identität bezeichnen lässt. In einem anderen Teil der Bilder wird die Person innerhalb einer Umwelt dargestellt, womit eine kontextgebundene Identität zur Anschauung gebracht wird. Das wiedergegebene Bild (Abb. 1) ist ein Beispiel für eine kontextgebundene Identitätsdarstellung. Abb. 1: Mädchen, 8 Jahre 17 In allen Bildern dieser Untersuchung geht die Darstellung der Geschlechtsidentität von der Zweigeschlechtlichkeit aus, andere Möglichkeiten der Bestimmung der Geschlechtsidentität sind in ihnen nicht vertreten.

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In diesem Bild hat sich ein Kind als Kind und als Mädchen, ausgestattet mit individualisierenden Merkmalen und verortet in dem Kontext der „Welt“ dargestellt. Person, Welt und deren Verhältnis zueinander sind durch die Farb- und Formgebung klar strukturiert und in ihren Grundelementen „vollständig“ zur Anschauung gebracht, woraus sich ein harmonisch-fröhlicher Gesamtzusammenhang ergibt. Das Kind hat sich (in der unteren Hälfte des Bildes, leicht nach links versetzt) im Zentrum der Welt platziert, über sich den Himmel und die Sonne, unter sich die begrünte Erde, auf der es (leicht eingesunken) steht, neben sich die Blume (als Teil der Mit- und Nebenwelt) und vor sich (außerhalb des Bildes) den Betrachter, dem es frontal mit offenen Armen gegenübertritt und den es mit einem Lächeln (oder auch Grinsen) anblickt. Der größere Teilt der Kinderbilder zeichnet sich durch eine weitgehend statische Darstellung des beseelten Leibkörpers der Person aus. Davon unterscheidet sich eine andere Gruppe von Bildern, in denen sich das Kind in Aktion, als handelnder beseelter Leibkörper und innerhalb der Umwelt von Handlungskontexten (und zum Teil auch mit Handlungspartnern) zur Darstellung bringt. In den entsprechenden szenisch-dynamischen Aktivitätsdarstellungen ist die dargestellte Person nicht mehr mit Körperhaltung, Gesicht und Blick auf den Betrachter außerhalb des Bildes, sondern auf ihr Handeln und ihren Handlungskontext innerhalb des Bildes ausgerichtet. Die dargestellte Person gibt sich dem Betrachter in ihrem Handlungsvollzug zu erkennen. Die Kinder stellen sich in diesen Bildern mit für sie wichtigen Aktivitäten und Interessen dar, denen eine exemplarische Bedeutung für ihr Kinderdasein zukommt und mit denen ein Teilausschnitt ihrer Lebenssituation hervorgehoben wird. Das Spektrum der Aktivitäten, mit denen die Kinder sich in diesen Bildern darstellen, umfasst etwa das kontemplative Betrachten eines Baumes, das Fußballspielen oder das Fahrradfahren. In diesen Bildern kommt personale Identität als kontextgebundene Aktivitäts- und Interessenidentität zur Darstellung. Die in diesen Bildern vorgenommene Ausweitung der dargestellten Identität wird in einer weiteren Variante fortgesetzt, indem Aspekte der personalen Identität aufgenommen werden, die sich nicht mehr durch die mehr oder minder starke Konzentration auf die visuelle Erscheinung des Leibkörpers veranschaulichen lassen. Dabei werden die verschiedenen für die Person bedeutsa143

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men Aspekte als einzelne Bildelemente dargestellt und in einer Bildcollage der Selbstcharakterisierung zusammengefügt. Diese Identitätsdarstellung, die von den Kindern nur selten gewählt wird, weist voraus auf eine Ausweitung der Selbstbilder des Jugendalters. Das hier aufgenommene Bild ist ein Beispiel dafür (Abb. 2). Das sich darstellende Kind hat sich hier nicht selbst (mit seinem Leibkörper) in das Zentrum des Bildes gesetzt, sondern ein Musikinstrument, das durch Größe, Farbe und Form besonders hervorgehoben ist. Das Musikinstrument und das damit verbundene Musikspielen bilden, so lässt sich interpretieren, ein Zentrum der dargestellten Identität des Kindes, dem weitgehend symmetrisch vier kleinere Bildelemente zugeordnet sind, die auf weitere mitein der verbundene AsAbb. 2: Junge, 8 Jahre pekte der Identität verweisen. Diese Anordnung vermittelt einen in sich differenzierten und zugleich weitgehend harmonischen Gesamteindruck der Identität. Rechts oben wird als entscheidender Ausschnitt der leibkörpergebundenen Identität in wenigen Andeutungen der Kopf des Kindes ins Bild gebracht. Auf der gegenüberliegenden Seite ist in Ergänzung dazu in bunten Buchstaben sein Name wiedergegeben, das zentrale Mittel, mit dem Personen eine individuelle und geschlechtsspezifische Identifikation zugewiesen bekommen und sich selbst zuweisen. Rechts unten wird durch die blaue Note auf Musik verwiesen, womit eine verstärkende Beziehung zum Instrument im Zentrum hergestellt wird, aber auch eine darüber hinausgehende Bedeutung der Musik für die Identität der sich darstellenden Person zum Ausdruck gebracht sein kann. Links unten ist ein Buntstift dargestellt, der ins Zentrum des Bildes auf die gemalte Gitarre und darüber hinaus in diagonaler Linie auf den oben links sich befindenden Kopf ausgerichtet ist. Das kann so verstanden werden, 144

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dass das Kind damit veranschaulicht, dass in seiner Identität neben dem Musizieren auch dem Malen eine gewichtige Bedeutung zukommt, was auch durch das Bild selbst und die darin gezeigte Malfähigkeit zum Ausdruck gebracht wird. Insgesamt handelt es bei den Kinderbildern um die Darstellung unterschiedlicher Varianten einer Gegenwartsidentität, die sich auf die aktuelle Lebensphase der sich darstellenden Person bezieht und dadurch eine biographische Verortung erhält. Dabei verweist die dargestellte Gegenwartsidentität implizit immer auch auf die nicht dargestellten Lebensabschnitte der zurückliegenden Kindheit und der zukünftigen Lebensphasen der Jugend und des Erwachsenenalters. 3.2 Bilder von Jugendlichen Mit dem Übergang in das Jugendalter zeichnet sich ein grundlegender Wandel in der bildlichen Darstellung der Identität ab. In den Bildern der Jugendlichen zeigt sich ein breites Spektrum unterschiedlicher Identitätsdarstellungen, das aus einer Weiterentwicklung der Darstellungen in der Kindheit und aus der Herausbildung gänzlich neuer Darstellungsformen hervorgeht. Dieser grundlegende Wandel steht in einem Zusammenhang mit der Identitätsentwicklung beim Übergang in das Jugendalter und während des Jugendalters und der veränderten Lebenssituation im Vergleich zur Kindheit sowie den sich gleichzeitig stark ausweitenden bildnerischen Darstellungs- und Ausdruckmöglichkeiten der Heranwachsenden. In der gängigen Entwicklungstheorie des bildnerischen Gestaltens wird der Übergang aus der Kindheit in das Jugendalter vor allem als ein Übergang aus der „Schemaphase“ in die „pseudorealistische Phase“ bestimmt, die durch ein verstärktes Bemühen um eine realitätsgerechte Wiedergabe der äußeren Wirklichkeit gekennzeichnet ist. Dabei wird offensichtlich von einer Entwicklungslogik ausgegangen, die quasi automatisch auf einen eng gefassten Realismus ausgerichtet ist. Die Bilder der Jugendlichen machen deutlich, dass entgegen dieser problematischen Annahme die Lösung der Heranwachsenden aus den bildnerischen Darstellungsformen der Kindheit auf unterschiedlichen Wegen erfolgt.18 18 Zum Übergang aus der „Schemaphase“ in die „Pseudorealistische Phase“ vgl. Richter 1997, der auch ausdrücklich auf die unterschied-

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Zum einen verwenden die Jugendlichen in verschiedenartigen Ausprägungen auch weiterhin gegenständlich-figürliche Darstellungen, die neben der Orientierung an einem unterschiedlich ausgelegten Realismus auch durch expressive Ausdrucksformen und verschiedene Formen der Stilisierung gekennzeichnet sind. Zum anderen gewinnen bei ihnen nun auch reine Farb- und Formgestaltungen, losgelöst von erkennbaren Gegenstands- und Figurenbezügen eine zunehmende Bedeutung. Dabei sind gegenstandsorientierte und gegenstandsfreie Bildgestaltungen auch in Übergängen miteinander verbunden. Außerdem gewinnt die Verwendung von Symbolen und Schriftzeichen, die schon bei manchen Kinderbildern eine Rolle spielen, eine ausgeweitete Bedeutung. Insgesamt nimmt die Individualität der dargestellten Identität in den Bildern der Jugendlichen deutlich zu, was damit einhergeht, dass die mit der Darstellung verbundene Selbstinterpretation sehr viel expliziter als bei den Kindern hervortritt. Eine relevante Gruppe der Identitätsdarstellungen ist weiterhin auf den beseelten, kulturell gestalteten Leibkörper ausgerichtet. Dabei kann mit der Entwicklung entsprechender bildnerischer Fähigkeiten der Jugendlichen in verstärktem Maße die physiognomische Ähnlichkeit ihrer Person herausgearbeitet und die anatomische Richtigkeit der Körperdarstellung berücksichtigt werden, was zugleich mit einer spezifischeren Wiedergabe psychischer Haltungen und Stimmungen verbunden ist.19 Es setzt sich eine plastischkörperliche und bewegte Darstellung durch, in der die sinnlichkörperliche Identitätserfahrung veranschaulicht wird. Die auf diese Weise zur Darstellung gebrachte unverwechselbare leibkörpergebundene Individualität der persönlichen Identität ist unmittelbar verknüpft mit der Darstellung der sozialen Identität, die sich aus der Zugehörigkeit zur Lebensphase Jugend sowie zum weiblichen oder männlichen Geschlecht ergibt. Die dargestellte Person tritt als Ganzkörper- oder Kopf-Oberkörper-Porträt dem Betrachter gegenüber, blickt ihn aus dem Bild heraus direkt an oder an

lichen (keineswegs nur „realistischen“) Darstellungsformen im Jugendalter hinweist. 19 Die physiognomische Ähnlichkeit und die anatomische Richtigkeit bildeten die beiden zentralen Prinzipien der in der Renaissance entwickelten Porträtkunst, die noch durch das Prinzip der Idealisierung ergänzt wurden.

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ihm vorbei, wie in der hier als Beispiel wiedergegebenen Selbstdarstellung einer weiblichen Jugendlichen (Abb. 3). In einer entscheidenden Modifikation der Darstellung der Leibkörperidentität wird der expressive Ausdruck der psychischen Haltung und Gestimmtheit der Person so stark in den Vordergrund gerückt, dass dabei die Ausrichtung an der physiognomischen Ähnlichkeit und anatomischen Richtigkeit zurückgenommen oder gänzlich aufgegeben wird. Als ein Beispiel dafür kann das hier aufgenommene Bild gelten (Abb. 4). Abb. 3: Jugendliche, 17 Jahre

In solchen Bildern der expressiven Selbstdarstellung verliert die Orientierung an der physiognomischen Ähnlichkeit der Person zugunsten der Orientierung an ihrer psychischen Ähnlichkeit an Bedeutung, an die Stelle der anatomischen Richtigkeit tritt als charakteristisches Ausdrucksmittel die anatomische Verzerrung und in farbigen Bildern wird verstärkt die Farbe als Ausdrucksmittel der Emotionalität eingesetzt. Abb. 4: Jugendlicher, 16 Jahre

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Die Bilder heben einzelne Gesichtsausschnitte besonders prägnant hervor, bedienen sich vorgegebener kultureller Figuren (z.B. Manga) und Stilisierungen und können in surreale Darstellungen übergehen. Indem hier der Leibkörper als äußere Erscheinung der persönlichen und auch sozialen Identität zunehmend an Bedeutung verliert, tritt der Leibkörper als Medium des Erlebens und des psychischen Ausdrucks der persönlichen und auch sozialen Identität umso deutlicher hervor. Dabei kann die expressive Selbstdarstellung die Ausprägung einer nach außen gekehrten Dramatik oder die Ausprägung einer deutlichen Zurückhaltung mit allen dazwischen liegenden Abstufungen annehmen. Ebenso wie bei den Kindern kann auch bei den Jugendlichen die Darstellung auf die Person im Sinne der Darstellung einer kontextfreien Identität begrenzt sein oder aber deren Verortung in einem Umfeld im Sinne der Darstellung einer kontextgebundenen Identität einschließen. Die Verortung in einem Umfeld kann auch mit der Darstellung als handelnder Person einhergehen, womit Identität als kontextgebundene Tätigkeitsidentität veranschaulicht wird. Das mit der Kontextverortung in die Identitätsdarstellung aufgenommene Person-Umwelt-Verhältnis kann als relativ ruhig und stabil dargestellt werden.

Abb. 5.: Jugendlicher, 16 Jahre

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Es kann aber auch die mehr oder minder intensive Auseinandersetzung der Person mit ihrer Umwelt hervorgehoben werden. Damit erhält die expressive Darstellung der Person eine Fortsetzung in der expressiven Darstellung der Auseinandersetzung der Person mit ihrer soziokulturellen Lebenswelt. Das hier wiedergegebene Bild ist ein Beispiel für die Darstellung einer derartigen kontextgebundenen Identität (Abb. 5). Dieses Bild, in dem verschiedene Darstellungsmittel, Symbole und Schriftzeichen verwendet werden und das voller Anspielungen ist, lässt besonders explizit deutlich werden, dass jede Identitätsdarstellung auf einer Selbst- und Weltdeutung beruht. In dem Bild, das etwas ausführlicher behandelt werden soll, zeigt sich der Jugendliche in einer dynamischen, spannungs- und konfliktreichen Verbindung und Auseinandersetzung mit zentralen Aspekten seiner Lebenswelt, womit zugleich die ihn kennzeichnenden Erfahrungen, Aktivitäten und Interessen hervorgehoben werden. Im Zentrum des Bildes stellt er sich dar als Ausschnitt eines Baumstamms (veranschaulicht durch die Rindenstruktur), aus dem heraus (als ein Zentrum im Zentrum) klar konturiert Kopf und Gesicht hervortreten – die leibkörpergebundene Erscheinung und der leibkörpergebundene Ausdruck seiner personalen Identität. Von diesem personalen Zentrum aus sind in alle Richtungen des Bildes Verbindungen zu bedeutsamen Bereichen der Handlungs-, Erfahrungs- und Vorstellungswelt des Jugendlichen hergestellt, die im Einzelnen dargestellt werden. Von der personalen Einheit des Baumstamms ist gerade links ein Ast abgebrochen (ein sicherlich schmerzhafter Vorgang), der nun in die Tiefe fällt, auf das Schwarz am unteren linken Bildrand zu. Auf dem herabfallenden Ast sitzt ein Affe, der hinter sich eine weiße Fahne hat (wahrscheinlich eine Friedensfahne), ausgestattet mit einem Stift (wahrscheinlich ein Werkzeug des bildnerisch-künstlerischen Gestaltens) und Kopfhörern (wahrscheinlich zum Musikhören) und vor sich Bücher (wahrscheinlich zum Lesen und für das Lernen für die Schule) (Abb. 5a).

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Abb. 5a: Jugendlicher, 16 Jahre (Ausschnitt)

Der herabstürzende Affe ist, was sich natürlich nicht aus dem Bild, sondern nur aus dem zugehörigen Interview erschließen lässt, ein kleines Selbstporträt innerhalb des Gesamtporträts.20 Mit diesem kleinen Selbstporträt weist der Jugendliche (so lässt sich interpretieren) auf ein schmerzliches Ereignis (vielleicht ein gescheitertes Friedensangebot, möglicherweise an die Schule) hin und gibt sich und seiner Lebenssituation eine prägnante Charakterisierung durch die drei Bezüge auf Kunst, Musik und Schule, die in dem Gesamtporträt als deren wichtige Zentren im Einzelnen zur Darstellung kommen. Oberhalb des Baumstamms (aus dem Kopf aufsteigend oder über ihm schwebend) entfaltet sich luftig-leicht der Bereich der Kunst. Die Freiheit der Kunst ist offensichtlich verblasst, sie zerfällt in Einzelteile, und verwelkende Blumen, von einem Blitz getroffen (hier in der Bildwiedergabe nur schwer erkennbar) weisen auf Verfall hin – Ausdruck (so lässt sich vermuten) der enttäuschten, schwer zu realisierenden positiven Kunstvorstellung des Jugendlichen. In den Bereich der Kunst ist die Musik in Form einer räumlich herausgehobenen Musikbox eingefügt und bildet einen 20 In seiner Jugendgruppe hat sich jedes Mitglied einem Tier zugeordnet. Er hat für sich den Affen gewählt, weshalb er sich in dem Bild auch als Affe darstellt.

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thematischen Zusammenhang mit den Kopfhörern des kleinen Affen-Selbstporträts und der blauen bewegt-schwingenden Musikwolke mit Schriftzug und Noten, die aus dem unteren rechten Bereich des personalen Zentrums herausflattert. Während Musikbox und Kopfhörer den rezeptiven Zugang des Jugendlichen zur Musik veranschaulichen, könnte die aus dem personalen Zentrum hervorgehende Musikwolke auf eigene Musikaktivitäten verweisen, zugleich wird mit dem Schriftzug seine Zugehörigkeit zu einer spezifischen und prägnanten Musikkultur – dem Crunkcore – deutlich hervorgehoben. Gegenüber von der Abbruchstelle des herabfallenden Astes entsteigt aus dem Baumfortsatz des Kopfes ein geisterhaftes Monsterwesen (ein ihn beherrschender böser Geist?), hinter dem ein braunes Gebilde (ein Tier?) hervorragt und auf das eine Spritze gerichtet ist – ein nur von dem Jugendlichen erschließbarer Hinweis auf ein für ihn emotional bedeutsames Ereignis, das er auf diese Weise in seine Selbstdarstellung einbezogen hat. 21 Zwischen dem Monsterwesen und der Musikwolke sind zwei kleine Sterne platziert, bei denen es sich um ein in der Crunk-Kultur häufig verwendetes Zeichen handelt, wodurch die Zugehörigkeit zu dieser Kultur noch einmal zum Ausdruck gebracht wird. Zugleich stellen die beiden Sterne für den Jugendlichen ihn und seinen besten Freund dar, so dass er auch diese Freundschaft in die Selbstdarstellung einbezogen hat. Der kleine T-Blitz rechts darunter ist das von ihm verwendete Zeichen seiner Person, womit er in die Identitätsdarstellung das Kürzel seiner Selbstidentifikation aufgenommen hat. Die das Selbstbild durchgehend auszeichnende Dramatik erfährt in dem unteren Bildbereich eine deutliche Zuspitzung. Rechts unten ist die Schule in grauen Schriftzügen ins Bild gebracht. Unterhalb des Kopfes ergießt sich (vor einer grünen heraufsteigenden oder herabfließenden Masse) aus einem eingerissenen schwarzen Loch ein roter Strom, der durch die Schriftzeichen als Lebenskraft und Kreativität kenntlich gemacht ist (Abb. 5b). Lebenskraft und Kreativität des Jugendlichen werden von der Schule aus ihm heraus- und in sie aufgesogen, veranschaulicht durch das kleine Wesen am Schriftzeichen „S“ (Abb. 5c). Sie wer21 Kürzlich musste sein Haustier, eine Agame eingeschläfert werden, ein Ereignis, das ihn stark berührt hat und das er an dieser Stelle in das Bild hat eingehen lassen.

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den (so lässt sich interpretieren) in Noten, und zwar ziemlich schlechte Noten umgewandelt, dargestellt durch die roten Ziffern (zwischen 4 und 6), die aus dem Endstück eines Art Fleischwolfs am Mittelbalken des Schriftzeichens „E“ herausgeschleudert werden (Abb. 5c). So werden die schlimmen Schulerfahrungen auf drastische Weise in die dargestellte Identität des Jugendlichen eingebracht.

Abb. 5b: Jugendlicher, 16 Jahre (Ausschnitt)

Abb. 5c: Jugendlicher, 16 Jahre (Ausschnitt)

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Im Zentrum des Bildes bricht der Jugendliche mit dem Kopf aus den vielfältigen, vor allem aber einengenden, verletzenden und auszehrenden Zusammenhängen seiner Lebenssituation hervor, dem Betrachter direkt entgegen, mit einem zum Schrei weit aufgerissenen Mund: ein Schrei (so lässt sich interpretieren) der Qual und des Schmerzes, ein Schrei des Protestes und Aufbegehrens, ein Schrei nach Befreiung seiner Lebenskraft und Kreativität, die er in diese ausdrucksstarke Darstellung seiner Identität eingebracht und als Teil derselben ausgewiesen hat. Die Ausweitung der Identität in die soziokulturelle Lebenswelt wird von den Jugendlichen auch in der Form einer Bildcollage zur Darstellung gebracht, die relativ selten auch von Kindern angewendet wird (vgl. Abb. 2), bei den Jugendlichen aber ein wesentlich höheres Ausmaß an Komplexität annimmt. Dabei werden (durchaus ähnlich wie in dem gerade behandelten Bild des Jugendlichen, Abb. 5) zentrale und emotional bedeutsame Aspekte (Ereignisse, Interessen, Aktivitäten, Erwartungen) der Lebenssituation als einzelne Bildelemente (vor allem auch unter Verwendung von Symbolen und Schriftzeichen) dargestellt und zu einer Collage der aktuellen Lebenssituation zusammengefügt. Die Darstellung des Leibkörpers wird zurückgenommen und zum Teil auf einzelne ausdrucksstarke Ausschnitte reduziert (z.B. ein Augenpaar mit Tränen). Von den bisher behandelten Darstellungen personaler Identität setzt sich eine weitere Gruppe von Bildern in grundsätzlicher Weise ab. In diesen Bildern wird die Identitätsdarstellung von der Darstellung des Leibkörpers der Person und der Darstellung erkennbarer Elemente ihrer Lebenswelt vollständig abgelöst. An deren Stelle tritt die Darstellung von Landschaften, Pflanzen, Tieren, auch Häusern, durch die das Identitätsverständnis der sich darstellenden Person zum Ausdruck gebracht wird. Auf diese Weise stellt sich die Person in ihrer für sie bedeutsamen Charakteristik dar, die sich nicht aus der visuellen Erscheinung ihres Leibkörpers erschließt und weit darüber hinaus geht.22 Diese Darstellung kann (ebenso wie bei den übrigen Bildern) als Darstellung einer kontextfreien Identität auf die Person konzentriert sein oder aber als Darstellung einer kontextgebundenen Identität die Umwelt mit 22 Vgl. hierzu die Selbstdarstellung als Maschine von Francis Picabia: Le Saint des Saints. C’est de moi qu´il s´agit dans ce portrait (1915). Paris, Centre Pompidou.

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einbeziehen. In dem hier als Beispiel aufgenommenen Bild ist die Darstellung vor allem auf die Person, die sich von dem Hintergrund eines allgemeinen Umfelds abhebt, konzentriert (Abb. 6).

Abb. 6: Jugendliche, 17 Jahre

In diesem Bild erfolgt die Identitätsdarstellung in Form einer stilisierten Blüte. Die sich darstellende Person zeigt sich hier in „voller Blüte“ ( „voll erblüht“) und tritt so dem Betrachter sehr nah und offen gegenüber, als eine in Farbe und Form stark ausdifferenzierte und harmonisch gestaltete personale Einheit mit einem inneren Zentrum, nach außen abgegrenzt von einer als allgemeiner Hintergrund wiedergegebenen Umwelt und auf diese hin vielgestaltig ausgerichtet. Die Darstellung zeigt den Haupt- und Kernbereich der Person, macht aber auch durch die über die Bildränder hinausreichenden Blätter deutlich, dass ihre Ausweitung in die Umwelt über den Bildausschnitt hinausgeht. Die Identitätsdarstellung kann sich aber auch von jeglichen Gegenstands- und Figurenbezügen lösen und sich der besonderen Ausdruckskraft der reinen Farb- und Formgestaltung bedienen.23 Dafür steht das hier wiedergegebene Bild als Beispiel (Abb. 7). 23 Vgl. in diesem Zusammenhang ein bekanntes Beispiel eines Selbstporträts mit den Mitteln der abstrakten Malerei, das mit dem programmatischen Bekenntnis zu dieser Malerei als einem zentralen

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Abb. 7: Jugendlicher, 21 Jahre

In diesem Bild hat sich die Person in dem oberen rechten Bereich der Bildfläche als ein schwarzes, fein strukturiertes, mit Farbflecken durchsetztes differenziertes Gebilde dargestellt, das kaum Einblicke zulässt und das in dem weiten Feld oder Raum einer hellen und bewegten, durch zarte Farbflecken gestalteten Umwelt (aus dessen Zentrum herausgerückt) verortet ist. Die Weite der Lebensumwelt wird dadurch betont, dass sie offensichtlich über den im Bild gezeigten Ausschnitt hinausreicht und insgesamt den Eindruck einer Unendlichkeit vermittelt. Das personale Zentrum, das durch seine Gestaltung und durch seine Verortung an einen Himmelskörper denken lässt, ist mit nach außen hin immer schwächer werdenden Linien, Punkten und Farbspuren, die von ihm weg oder zu ihm hinführen, in einer Wechselbeziehung mit der Lebensumwelt verbunden. Das lässt sich als ein dynamisches und ausdifferenziertes Verhältnis interpretieren, in dem die Person (sich nach innen verdichtend) die Lebensumwelt aufnimmt und zugleich (sich nach außen ausweitend) in sie hineinwirkt. Dabei wirft diese Selbstdarstellung die Frage auf, wie weit die Aspekt der Identität verbunden ist, Kasimir Malewitsch: Selbstporträt (1915). Stedelijk Museum (Amsterdam).

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Dynamik der dargestellten Person eher durch zentrifugale Kräfte oder eher durch zentripetale Kräfte oder aber durch das Zusammenwirken beider Kräfte geprägt ist. Der bisherige Überblick ist abschließend durch eine weitere wichtige Variante der Identitätsdarstellung zu ergänzen. Alle bildnerischen Selbstdarstellungen machen durch sich selbst deutlich,24 dass es sich um eine durch die betreffende Person geschaffene Darstellung ihrer Identität handelt. Darauf kann mit unterschiedlichen bildnerischen Mitteln auch gesondert hingewiesen werden. Ganz explizit wird dies hervorgehoben, wenn das bildnerische Darstellen der eigenen Person bildnerisch dargestellt wird. Bei einer solchen reflexiven Identitätsdarstellung25 wird der Reflexivität der Identität, auf der jede Selbstdarstellung beruht, eine weitere Reflexivität hinzugefügt. Dafür steht als Beispiel das hier wiedergegebene Bild (Abb. 8).

Abb. 8: Jugendlicher, 16 Jahre

In dieser reflexiven Identitätsdarstellung wird in einer Zeichnung dargestellt, dass und wie die sich darstellende Person eine Zeichnung von ihrem Gesicht mit einem Stift in der Hand auf einem 24 Genauer gesagt, durch die Bildunterschrift. 25 Zur langen Tradition derartiger reflexiver Selbstbilder vgl. Calabrese (2006: 160ff., 248ff.).

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Blattpapier oder Zeichenkarton anfertigt. In diesem Bild werden die für jedes Selbstbild konstitutiven Elemente (als Sichtbares und als damit verbundenes Nicht-Sichtbares) zur Darstellung gebracht. Gezeigt werden das leibkörpergebundene Wahrnehmungsorgan des Auges, das leibkörpergebundene Werkzeugorgan der Hand, das bildnerische Werkzeug (des Zeichenstifts) und das bildnerische Material (des Zeichengrunds) sowie die aus dem Zusammenwirken dieser Elemente hervorgehende Selbstdarstellung. Das gerade genau gezeichnete Auge (das die bildnerisch tätige Person und den Betrachter anblickt) verweist auf das die Bilderzeugung wahrnehmende und steuernde nicht sichtbare Auge der bildnerisch tätigen Person und auf das die Bildrezeption wahrnehmende und steuernde nicht sichtbare Auge des Bildbetrachters. Die gezeichnete Hand verweist auf die nicht sichtbare Hand des Zeichners, die ihre Darstellung und das ganze Bild hervorgebracht hat. Das dargestellte Werkzeug des Zeichenstifts verweist auf das nicht sichtbare Werkzeug des Zeichenstifts, mit dem das Bild erstellt wurde, der dargestellte Bildgrund verweist auf die Materialität des realen Bildes und der dargestellte Personenausschnitt verweist auf die nicht sichtbare Person mit ihrer nicht sichtbaren Selbstwahrnehmung und Selbstvorstellung, die sie durch ihre praktischen Akte der Bildproduktion in diese Darstellung umgesetzt hat. In diesem Bild wird die leibkörpergebundene Identität (das Gesicht als wesentlicher Ausdruck der Personalität), über die die Lebensphase, das Geschlecht und die Individualität zur Anschauung gebracht werden, mit der Tätigkeitsidentität des bildnerischen Gestaltens (im Handlungsvollzug) verknüpft und in die übergeordnete reflexive Identität eingebunden, die in der Darstellung der Selbstdarstellung zum Ausdruck kommt. Ebenso wie bei den Bildern der Kinder handelt es auch bei den Bildern der Jugendlichen um die Darstellung einer Gegenwartsidentität, die auf die gegenwärtige Lebensphase der sich darstellenden Person bezogen ist und darüber eine biographische Verortung erhält und die zugleich implizit auf die nicht dargestellten vorausgegangenen und nachfolgenden Lebensabschnitte verweist.

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3.3 Bilder von Erwachsenen Der Übergang in das Erwachsenenalter (deren verschiedene Abschnitte hier zusammenfassend behandelt werden) ist mit keiner weiteren Entwicklung der bildnerischen Darstellungs- und Ausdrucksmittel verbunden. Im Jugendalter entwickeln sich all jene ästhetisch-bildnerischen Gestaltungsmittel, die dann auch im Erwachsenenalter verwendet werden.26 So findet sich bei den Erwachsenen ein vergleichbar breites Spektrum der Bildgestaltung wie bei den Jugendlichen vor. Der Wandel der Identität und Lebenssituation des Erwachsenenalters schlägt sich in einer veränderten inhaltlichen Ausgestaltung und Ausrichtung der Identitätsdarstellungen nieder. Die Leibkörperdarstellungen, die sich an der physiognomischen Ähnlichkeit der Person und der anatomischen Richtigkeit ausrichten und dabei zugleich deren psychische Stimmung und mentale Verfassung veranschaulichen, sind weiterhin bedeutsam und werden zum Teil auch weiterentwickelt. Je stärker diese Ausrichtung umgesetzt werden kann, desto deutlicher tritt die leibkörpergebundene Individualität der Person in ihrer geschlechtsspezifischen und lebensphasenspezifischen Ausprägung in Erscheinung, wie sich an dem hier als Beispiel aufgenommenen Bild erkennen lässt (Abb. 9). Ebenso bedeutsam ist auch die Form der Identitätsdarstellung, in der durch die verstärkte Ausrichtung auf den expressiven Ausdruck der Person die Orientierung an ihrer äußeren physiognomischen Ähnlichkeit und der Abb. 9: Mann, 58 Jahre anatomischen Richtigkeit 26 Die ästhetisch-bildnerischen Aktivitäten der einzelnen Personen erfahren natürlich im Verlauf ihres Lebens eine mehr oder minder stark ausgeprägte Entwicklung.

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zurückgenommen oder auch ganz aufgegeben wird. Dabei wird in den Bildern der Erwachsenen die nach außen gekehrte Dramatik des Selbstausdrucks und der Auseinandersetzung mit der Umwelt, die sich bei einem Teil der Jugendlichen zeigt, abgeschwächt und in verhaltenere Ausdrucksformen überführt. Auch die Erwachsenen verwenden ebenso wie die Jugendlichen figuren- und gegenstandsfreie Farb- und Formgestaltungen, um die Charakteristik ihrer Person und ihrer Verortung in ihrer Lebenswelt zur Anschauung zu bringen. Das Gleiche gilt für die Verwendung von Landschaften, Tieren, Gegenständen und Häusern für die visuell sinnfällige Darstellung der eigenen Identität. Damit kann dann auch die lebensphasenspezifische Ausprägung des Identitätsverständnisses besonders prägnant herausgearbeitet werden, wie an dem hier aufgenommenen Beispiel gut deutlich wird (Abb. 10).

Abb. 10: Frau, 75 Jahre

Die Person stellt sich in diesem Bild dar als ein lebendig-bewegtes Haus, gestaltet und gealtert durch die eigene Entwicklung und die äußeren Einflüsse der Umwelt, ein weitläufiges Haus mit Wohnund Wirtschaftsbereich und vielen Räumen als Ausdruck der inneren Ausdifferenzierung und mit vielen Fenstern und Türen, 159

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über die der Austausch mit der deutlich abgegrenzten Umwelt erfolgt. Das vielgestaltige und gealterte Haus als sinnbildliche Veranschaulichung der sich darstellenden Person ist leicht nach links und nach unten aus dem Zentrum des Bildes und der darin gezeigten Umwelt gerückt. Es ist einsam verortet in einer bewegten leeren Lebensumwelt, deren Ausdehnung weit über den Bildausschnitt hinausreicht. Es hat eine weite Landschaft hinter sich, einen weiten, „großen“ Himmel über sich und steht auf dem unsicheren Untergrund eines Wassers, vielleicht auch teilweise im Wasser, in das es vielleicht versinken könnte – Ausdruck der aktuellen Lebenssituation und der Zukunftsperspektive (in die das Wissen um das näher rückende Sterben möglicherweise aufgenommen ist). Das personale Zentrum des Hauses spiegelt sich in Umrissen und undeutlich in dem Wasser, womit die Selbstreflexion und die eingeschränkten Möglichkeiten einer Selbstwahrnehmung dargestellt werden. Dem Betrachter zeigt sich das personale Sinnbild des Hauses in einer gewissen Entfernung und mit geschlossenen Türen und dunklen Fenstern, die einen Einblick in das Innere verwehren. Die reflexive Identitätsdarstellung, mit der die Tatsache, dass es sich um eine Darstellung der dargestellten Person handelt, auf explizite Weise bildlich zur Darstellung gebracht wird, spielt auch bei den Erwachsenen eine Rolle, wie an dem hier wiedergegebenen Beispiel zu sehen ist (Abb. 11). In diesem Beispiel erfolgt die reflexive Identitätsdarstellung in einer doppelt gebrochenen Weise, indem das Bild ein Bild auf einer Staffelei darstellt, auf dem ein Fotoapparat wiedergegeben wird, in dessen Display die porträtierte Person dargestellt ist. So wird durch die Darstellung der Kopf-Brustansicht die körpergebundene Identität des Geschlechts, Abb. 11: Mann, 59 Jahre

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der Lebensphase und der Individualität der Person zur Anschauung gebracht und mit ihrer Tätigkeitsidentität verknüpft, indem sich die Person als malende und möglicherweise auch fotografierende Person zu erkennen gibt. Diese Charakterisierung der Identität ist eingebunden in die übergreifende reflexive Identität, die in der zweifach verschachtelten Darstellung der eigenen Darstellung zum Ausdruck gebracht wird. 27

Abb. 12: Mann, 70 Jahre

Als eine neue Variante tritt bei den Erwachsenen eine Darstellung der Identität auf, in der die Person aus verschiedenen Perspektiven zu sehen ist. Damit wird die Ausdifferenzierung der personalen Identität in der Außenperspektive zur Darstellung gebracht, die in einer Verbindung mit der Pluralität der kontextgebundenen 27

Diese Identitätsdarstellung enthält noch eine tiefere biographische Bedeutung, die sich daraus ergibt, dass die sich hier darstellende Person zunächst in ihrem Leben fotografiert hat und dann später von der Fotografie zur Malerei gekommen ist.

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Identität steht und auch als ein Gegenstück zu der Ausdifferenzierung der psychischen Binnenwelt zu verstehen ist. Dafür steht das hier wiedergegebene Bild (Abb. 12). Dieses Bild ist zugleich ein Beispiel für eine reflexive Identitätsdarstellung. Darüber hinaus wird hier die in jedem Selbstbild enthaltene Beziehung zum Betrachter oder Adressaten der Identitätsdarstellung als eine explizite Kommunikation in das Bild aufgenommen. Frontal und mit geneigter Kopfhaltung und freundlichem Gesichtsausdruck wendet sich die groß und in Nahsicht dargestellte Person direkt an den Betrachter und weist ihn (durch ein Bild im Bild hervorgehoben) mit Hand und ausgestrecktem Zeigefinger und dem Ausspruch „that’s probably me“28 auf ein weiteres Bild im Bild hin, das ihn kleiner und weiter weg gerückt im Profil zeigt. Im Hintergrund befindet sich noch ein Bild im Bild, auf dem die Person nun noch kleiner und noch weiter entfernt in frontaler Untersicht dargestellt ist. Zur Ausdifferenzierung bzw. Pluralität der Identität, die durch diese mehrfache und aus unterschiedlichen Perspektiven vorgenommene Darstellung der Person verdeutlicht wird, gehört auch der damit einhergehende Wechsel des psychisch-mentalen Ausdrucks der Person. Die Identitätsdarstellungen der Kinder und Jugendlichen sind, so wurde dargelegt, vor allem auf ihre jeweilige Gegenwart ausgerichtet. Auch in den Selbstbildern der Erwachsenen kommt der Darstellung der Gegenwartsidentität eine gewichtige Bedeutung zu, die durch die Ausrichtung auf die aktuelle Lebensphase mit einer biographischen Verortung einhergeht und die immer auch einen impliziten Verweis auf die nicht dargestellte biographische Vergangenheit und Zukunft enthält. Bei den Erwachsenen tritt nun neben diese Darstellung der Gegenwartsidentität als eine weitere wichtige Form die Darstellung einer biographisch ausgerichteten Identität, in die die temporal-biographische Dimension der menschlichen Existenz explizit aufgenommen ist und die auf das im Erwachsenenalter zunehmende biographische Bewusstsein zurückgeht. Das Aufgreifen der biographischen Dimension personaler Identität geschieht (mal konkretisierend, mal in einer eher 28 Es handelt sich sicherlich um ein Zitat des Titels des Jazzrocksongs „It's Probably Me“ (Eric Clapton), mit dem als Teil der dargestellten Identität das Bewusstsein ausgedrückt wird, dass es bei der Identitätsdarstellung immer nur um einen Versuch der Annäherung an die eigene Person gehen kann.

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allgemein Form) auf unterschiedliche Weise, indem etwa das Älter- und Altgewordensein bildlich vergegenwärtigt wird (vgl. Abb. 10), indem durch die Darstellung wichtiger biographischer Lebensereignisse und Lebensstationen das Collagebild der aktuellen Lebenssituation in das Collagebild des Lebensverlaufs überführt wird oder indem die Person sich auf einer (Lebens-)Treppe oder einem (Lebens-)Weg mit einem Abschnitt hinter und einem Abschnitt vor sich zur Darstellung bringt. Für die Darstellung der biographisch ausgerichteten Identität können auch die besonderen Möglichkeiten der figuren- und gegenstandsfernen Farb- und Formgestaltung genutzt werden. Das wird an dem hier als Beispiel aufgenommenen Bild deutlich (Abb. 13).

Abb. 13: Frau, 31 Jahre

In diesem Bild erfolgt in reichhaltigen Farben und bewegten Formen und nah an den Betrachter herangerückt die Darstellung einer Identität, die gekennzeichnet ist durch die facettenreiche Ausdifferenzierung der Person und die biographische Dynamik ihres abwechslungsreichen Lebensflusses, eines Lebensflusses mit Verzweigungen, Begrenzungen und Widerständen und einer in die

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Vergangenheit und die Zukunft reichenden Ausdehnung, die weit über den im Bild zu sehenden Ausschnitt hinausreicht.

Schluss In den Akten der bildnerischen Selbstdarstellung vollzieht sich personale Identität als Vermittlung im leiblich-psychischen Selbstverhältnis, im Person-Umwelt-Verhältnis und im temporalbiographischen Verhältnis. Das schlägt sich in einer unterschiedlichen Ausprägung der im Bild dargestellten Identität nieder, die darin zum Ausdruck kommt, welche Selbstcharakterisierung die Person sich gibt, inwieweit und in welcher Form sie ihre soziokulturelle Umwelt und die biographische Dimension ihrer Existenz mit einbezieht und in welcher Weise sie sich an den Betrachter richtet. Die ästhetisch-bildnerischen Akte der Selbstdarstellung erfolgen unter Rückgriff auf die rezipierten Identitätskonzepte und die rezipierte Kultur der Bilder und des bildnerischen Gestaltens und unter Anwendung und Weiterentwicklung der erworbenen Fähigkeiten, Interessen und Vorlieben des bildnerischen Gestaltens. Die Bildgestaltung ist eine körperliche sinnlich-mentale praktische Tätigkeit, in der das menschliche Werkzeugorgan der Hand und das menschliche Wahrnehmungsorgan des Auges sowie das menschliche Vorstellungsvermögen in der Nutzung von und in der Auseinandersetzung mit den materiellen und immateriellen Gegebenheiten des Bildmediums zusammenwirken. Diese Tätigkeit findet ihren Niederschlag in der materialisierten Gestalt des Bildes, die Träger ästhetisch-sinnlicher Qualitäten und Bedeutungen ist. Das so geschaffene Selbstbild gehört der Bildwirklichkeit als einer Wirklichkeit sui generis an, die von der außerhalb ihrer liegenden praktischen Handlungs- und Erfahrungswirklichkeit der alltäglichen Lebenswelt grundlegend unterschieden, gleichwohl aber mit ihr verbunden ist. Die Akte der Identitätsdarstellung vollziehen sich als eine konstruktiv-rekonstruktive Verarbeitung und Artikulation der Identitätserfahrung und Identitätspraxis in der alltäglichen Lebenswelt im Medium des Bildes. Und die Darstellung der Identität im Medium des Bildes kann Rückwirkungen haben auf die Identitätserfahrung und Identitätspraxis in der Alltagswelt. Das Medium des Bildes bietet reichhaltige Darstellungs- und Ausdrucksmöglichkeiten für die personale Identi-

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tät, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit den Darstellungsund Ausdrucksmöglichkeiten des Textes aufweisen (Engelhardt 2013). Die Selbstbilder umfassen ein breites Spektrum an Darstellungen, in denen die Vielfalt der unterschiedlichen Ausprägungen personaler Identität deutlich wird, die es in einer empirisch fundierten Identitätstheorie zu berücksichtigen gilt. Die bildnerischen Selbstdarstellungen der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen weisen zum einen übergreifende Gemeinsamkeiten auf, zum anderen zeigen sich in ihnen charakteristische Unterschied. In der Kindheit steht die Einheit der Person mit ihrem beseelten und kulturell gestalteten Leibköper im Zentrum der dargestellten Identität, die die Ausprägung einer kontextfreien oder kontextgebundenen Identität oder auch einer (ebenfalls kontextgebundenen) Tätigkeits- und Interessenidentität annehmen kann. Eine untergeordnete Rolle spielt die Darstellung der Identität als Collage, die mit einer Rücknahme der Bedeutung des Leibkörpers einhergeht. Bei den Selbstbildern der Kinder handelt sich um die Darstellung einer Gegenwartsidentität, in der die persönlich-individuelle Identität mit der sich aus der Lebensphasen- und Geschlechtszugehörigkeit ergebenden sozialen Identität verbunden ist. Im Jugendalter vollzieht sich eine weitreichende Veränderung und Ausweitung der verwendeten ästhetisch-bildnerischen Darstellungsmittel. Dabei weitet sich auch das Spektrum der dargestellten Identitäten in mehrfacher Hinsicht aus. In der einen Richtung erfolgt eine genauere Berücksichtigung der äußeren körperlichen Erscheinung der Person, über die auch deren psychische Charakterisierung spezifischer zum Ausdruck gebracht werden kann. In der anderen Richtung verliert die Orientierung an den Prinzipien der physiognomischen Ähnlichkeit und anatomischen Richtigkeit mit dem Hervorheben des expressiven Selbstausdrucks der Person an Bedeutung, was mit einer verstärkten Berücksichtigung der psychischen Binnenwelt und der personalen Ausdifferenzierung verbunden ist. Neben der auf die Person konzentrierten Identität im Sinne einer kontextfreien Identität, in die auch Aktivitäten und Interessen einbezogen sein können, gewinnt die Identität als Verortung der Person in ihrer Lebenswelt und als Auseinandersetzung mit ihrer Lebenswelt im Sinne einer kontextgebundenen Identität eine erweiterte Bedeutung. Dabei wird auch die Ausdifferenzierung oder Pluralität der personalen Identität, 165

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die mit der Einbindung der Person in ihre ausdifferenzierte soziokulturelle Lebenswelt einhergeht, verstärkt zur Anschauung gebracht. Zum einen bleibt die Ausrichtung der Identitätsdarstellung auf den beseelten, kulturell gestalteten Leibkörper der Person weiterhin bedeutsam und wird weiterentwickelt, zum anderen gewinnen Darstellungen an Bedeutung, die sich von dem Leibkörper gänzlich lösen. Die in den Selbstbildern der Jugendlichen generell ausgeweitete Reflexivität geht schließlich auch in die Form der reflexiven Identitätsdarstellung über, mit der explizit veranschaulicht wird, dass es sich um eine Darstellung der sich darstellenden Person handelt. Insgesamt nimmt die Individualität der dargestellten Identität deutlich zu. Die persönlich-individuelle Ausprägung der Identität ist mit der sozialen Identität der Lebensphase und des Geschlechts verbunden, was aber je nach bildlicher Darstellungsweise unterschiedlich deutlich in Erscheinung tritt. Auch bei den Selbstbildern der Jugendlichen handelt es sich vor allem um die Darstellung einer Gegenwartsidentität. Im Erwachsenenalter wird das gleiche Spektrum der ästhetisch-bildnerischen Ausdrucks- und Darstellungsmittel wie im Jugendalter verwendet, ohne dass sich eine darüberhinausgehende Weiterentwicklung ergibt. Auch das Spektrum der Identitäten bleibt im Prinzip erhalten, in deren jeweiliger inhaltlicher Ausgestaltung die spezifische Identität der Erwachsenen veranschaulicht wird. Zugleich erfährt dieses Spektrum aber auch eine entscheidende Modifikation und Ergänzung. Die Dramatik des expressiven Selbstausdrucks und der Auseinandersetzung mit der Umwelt wird zurückgenommen und die Ausdifferenzierung bzw. Pluralität der Identität in der Verankerung in der Sozialwelt nimmt zu. Darüber hinaus wird die bei den Kindern und Jugendlichen vorherrschende Darstellung der Gegenwartsidentität durch die Darstellung der biographisch ausgerichteten Identität ergänzt.

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Ambivalenzen der Bildkommunikatn Ist eine Vorherrschaft der technischen Bilder unausweichlich?

1. Dynamik der visuellen Kommunikation Die Entstehung der modernen Fotografie datiert man heute 175 Jahren zurück. Am 19. August 1839 veröffentlichte die Akademie der Wissenschaften in Paris technische Details zum neu entwickelten Verfahren der Fotografie-Technik. Dieses Datum gilt heute als die Geburtsstunde der Fotografie, auch wenn es vorher schon richtungsweisende Vorläufer-Bilder gab. Für uns ist dieses Datum ein willkommener Anlass, um eine Art Zwischenbilanz zu ziehen hinsichtlich der Frage: In welcher Weise wirken sich Existenz und Nutzung des fotografischen Bildes auf soziale Prozesse und Dynamiken aus? Welche Merkmale zeichnen das fotografische Bild aus? Was ist die besondere Ästhetik und was sind die besonderen Möglichkeiten der Fotografie? Welche Arenen der Kommunikation schafft oder befördert die Fotografie? Und wie prägt dieses Medium die Art der menschlichen Kommunikation? Ist das fotografische Bild ein Aktant, der in die Arena der visuellen Kommunikation getreten ist und sie umgeformt hat? Seit der Erfindung der Fotografie vor 175 Jahren ist die menschliche Kommunikation und sind die Ströme von Information über den Globus zweifellos sehr viel dichter geworden. Noch nie war die Kommunikation zwischen den Kulturen und Weltregionen und das Wissen voneinander so extensiv und intensiv wie heute, und das verdanken wir nicht zuletzt der Fotografie. Das fotografische Bild macht es möglich, dass wir aussagekräftige sinnliche Eindrücke von weit entfernten Weltteilen und Kulturen verschicken und erhalten können. Die Fotografie ist im Gegensatz zu Textmitteilungen in der Lage, Sprach- und Kulturgrenzen zu überschreiten, da sie auch ohne Kenntnis der fremden Sprache visuell verstanden werden kann. Eine Fotografie zu verstehen erfordert zwar Hintergrundwissen über visuelle Konventionen und Bedeutungen, ist jedoch weniger voraussetzungsvoll als sprachli-

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che Verständigung. Die globale Kommunikation ist durch das fotografische Bild sehr viel dichter geworden, auch wenn Missverständnisse gerade auch im Bildverstehen darin eingeschlossen sind. Der Globus ist viel kleiner, mit den Sinnen erfassbarer und erreichbarer geworden seit der Erfindung der Fotografie. Fotografien transportieren Botschaften vom Fotografen zum Betrachter, sie kommunizieren mit dem Betrachter. Diese Botschaften zu „lesen“ setzt voraus, dass der Betrachter die verwendete Bildsprache und die dahinterstehenden visuellen Konventionen im praktischen Sinne kennt und versteht. In einem Gedankenexperiment kann dies verdeutlicht werden: Wenn man historische Fotografien betrachtet, zum Beispiel Fotografien aus dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg, dann sind diese für heutige Zeitgenossen nicht zur Gänze und ohne Weiteres verständlich. Man benötigt historisches Kontextwissen und vor allem ein Wissen um die visuellen Konventionen der jeweiligen Zeit, um die Bilder adäquat zu verstehen und einzuordnen. Auch ein aktuelles Bild eines religiösen Festes aus Indien kann sich etwa für Europäer oder Japaner als schwer verständlich erweisen. Beide Beispiele zeigen, dass die Bildsprache, obwohl sie auf den ersten Blick evident und selbsterklärend scheint, und obwohl sie in der Tat Sprachgrenzen und -barrieren leichter zu überwinden imstande ist als Textmitteilungen, dennoch nicht als universelle Sprache im synchronen und diachrone Sinne betrachtet werden kann, sondern an bestimmte Voraussetzungen, an ein bestimmtes Wissen gebunden ist, das sich im Lauf der Zeit verändert, und je nach Kulturkontext verschieden ist. Die Fähigkeit, Bilder zu verstehen und zu interpretieren, wird nicht zuletzt auch von der Verfügbarkeit von Fotografien bestimmt. In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Verfügbarkeit und die Masse der fotografischen Bilder dramatisch gestiegen. Bis zum Beginn der 1990er Jahre war die analoge, an das Papier gebundene Fotografie noch bestimmend. Heute gibt es eine gigantische Anzahl fotografischer Bilder im Internet zu betrachten. Fotografien lassen sich zu minimalen Kosten produzieren und verbreiten, sie sind geradezu immer und überall für jeden verfügbar. Fotografien treten im digitalen Zeitalter inflationär auf; sie werden oftmals nur noch flüchtig betrachtet, und dennoch stellen sie eine der wirkmächtigsten Formen der Kommunikation dar. In der Sozialisation des Menschen steht in den ersten Monaten das Haptische als Leit172

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Sinn im Vordergrund, dann das Visuelle, und schließlich bildet sich auch die Sprachfähigkeit aus, als die komplexeste Form der menschlichen Kommunikation. Das Visuelle liegt vor der Sprache, es ist tiefer in der Persönlichkeit, im Fühlen und Denken verankert als das Sprachliche, und kann deshalb nachhaltige Wirkungen in der Wahrnehmung und ihren Strukturen entfalten. Fotografien sind so wirkmächtig, weil sie die Sinne ohne Umwege über den Verstand anzusprechen in der Lage sind. Das gilt ganz besonders, wenn Fotografien ein starkes Punktum (Barthes 1981) enthalten – dann können sie den Betrachter berühren, einen Stich, eine Wunde hinterlassen. Ein fotografisches Bild ist unter bestimmten Umständen in der Lage, eine Person zu verändern. Bilder vermögen es, Sinn und Bedeutung zu vermitteln, ohne zeitliche und räumliche Entwicklungen, ohne kausale Bezüge. Der gesamte Sinn der Aussage ist bereits im Bild vorhanden und kann mit einem Blick wahrgenommen werden. Das Moment der Fixierung, der Verdichtung von Raum und Zeit in einer figurativen Gestalt ist ein Element der Wirkungsmacht des Bildes. Im Internet sind Fotografien ein eminent wichtiges Kommunikationsmedium: Ohne Bilder ließen sich einerseits die gigantischen Informationsmengen nicht mehr transportieren; ohne Bilder gäbe es auch den hohen Grad an Emotionalisierung in der Kommunikation nicht. Die Masse der Bilder führt dazu, dass sie noch flüchtiger wahrgenommen werden, was wiederum bewirkt, dass sich die Konkurrenz um die Aufmerksamkeit des Betrachters verschärft. Ein Bild, das wahrgenommen werden will, muss heute in irgendeiner Weise besonders oder extrem sein. Technische Bilder haben heute häufig eine forciertere Ästhetik, in irgendeiner Art soll das Bild besonders authentisch sein oder Emotionen evozieren. Doch jenseits seiner Bindung an visuelle, ästhetische Konventionen und Zeitkontexte ist das fotografische Bild immer an das Reale geknüpft, und das macht seine Besonderheit im Vergleich zu anderen Bildgattungen aus (vgl. Barthes 1985). Die Fotografie wird durch einen „unbestechlichen“, nicht-subjektiven Apparat aufgenommen, als Abdruck einer realen Situation in Form einer Lichtspur. Deshalb erweckt das fotografische Bild den Eindruck von Objektivität und Authentizität. Das ist auch der Grund, weshalb fotografische Bilder vom Betrachter nicht als Bilder, sondern als „Fenster zur Welt“ (Flusser 1983) wahrgenommen werden. Der 173

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wissenschaftliche Beobachter muss diese Wahrnehmung der Fotografie allerdings in Frage stellen, denn eine Fotografie ist niemals nur ein „neutraler“ Abdruck einer Situation, sondern enthält darüber hinaus viele weitere Informationen, die nicht unmittelbar sichtbar, bzw. als im Sichtbaren verdeckt gelten können. Jede Fotografie enthält eine Wahl, sie enthält inhaltliche und ästhetische Entscheidungen: für eine bestimmte Auswahl gezeigter Objekte und ihr Verhältnis zueinander, für eine Perspektive, einen Blickwinkel, einen Standort, für spezifische technische und ästhetische Mittel. Der wissenschaftliche Betrachter eines Bildes muss deshalb immer fragen: Was will der Fotograf uns mit diesem Bild zeigen? Ist dem Fotografen das Gezeigte widerfahren oder hat er es erzeugt? Was hat er in der Situation gesehen und erlebt, und wie stellt er dies visuell verdichtet dar? Welche Mittel setzt er dafür ein? Hat er das Gezeigte bewusst arrangiert oder hat er einen günstigen Moment genutzt? Ist vielleicht etwas Zufälliges ins Bild gerutscht? Eine Fotografie ist immer als Ergebnis komplexer Interaktionsprozesse zwischen abgebildeten Personen oder Bildelementen anzusehen, an denen der/die Fotograf/in und der Apparat beteiligt sind, sowie − durch Apparat und Fotograf in der Situation gewissermaßen repräsentiert – das vorgestellte Publikum, die potentiellen Betrachter der Fotografie. Das einzelne Foto ist als Ergebnis dieser komplexen Interaktionsprozesse zu betrachten, doch durch die Beteiligung des „unbestechlichen“ Apparates wird diese prozesshafte Dynamik verschleiert und die Fotografie als Momentaufnahme objektiviert. Durch die Digitaltechnik kommt nun die die Möglichkeit hinzu, jedes winzige Detail im Bild in Farbe und in Helligkeit bearbeiten und damit das Bild für die Kommunikation verändern, gestalten oder optimieren zu können. Die Bindung an das Reale wird durch diesen Prozess geschwächt. Fotografien bilden nicht mehr unbedingt die Wirklichkeit aus einer bestimmten Perspektive ab, sie sind unter Umständen auch nachträglich gestaltete Bilder einer Realität, wie sie der Fotograf zeigen möchte. Mit den neuen technologischen Möglichkeiten verschwimmen die Grenzen zwischen Fotografie und Malerei. In der Kunst wird mit der Differenz zwischen der Fotografie und Malerei gespielt und die Möglichkeiten des Übergangs und des Verwischens gezeigt: Es gibt Gemälde, die aussehen wie Fotografien, und es gibt Fotografien, die so verfremdet wurden, dass sie aussehen wie ein gemal174

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tes, abstraktes oder auch konkretes detailreiches Bild. Im Dialog zwischen Fotografie und Malerei hat sich ein neues Feld von Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet. Für die Kunst ist dies ein Gewinn; für die öffentliche politische Kommunikation eröffnen sich mit diesen Möglichkeiten allerdings durchaus Probleme, denn der Betrachter ist geneigt, Fotografie für einen Abdruck von Realität zu halten – doch diese Perspektive ist vor dem Hintergrund der heutigen technologischen Möglichkeiten der Nachbearbeitung von Bildern mehr als fragwürdig. Ist die Fotografie erst fertig und wird sie in die Welt kommuniziert, so ist die Dynamik ihrer Entstehung und die Brillanz ihrer Bearbeitung nicht mehr sichtbar. Diese ist nur noch für den geschulten Betrachter erkennbar, für alle anderen wird die Fotografie zu einem „Fenster zur Welt“. Doch sind wir nicht nur geneigt, in den Fotografien, die uns aus entfernten Weltregionen erreichen, Wirklichkeitscharakter zuzuschreiben; darüber hinaus prägen die technischen Bilder grundsätzlich unsere Art des Sehens und der Weltwahrnehmung, sie überformen das „natürliche Sehen“ und wirken auf dieses zurück (vgl. Benjamin 2009; Raab/Soeffner 2005) und formen es fortan. Technische Bilder können Dinge und Phänomene sichtbar machen, die mit bloßem Auge nicht zu sehen sind, oder Zusammenhänge herstellen, die sich dem bloßem Auge sonst entziehen: zum Beispiel genaue Details und ihre Struktur und Ästhetik im MikroBereich zeigen oder auch Makro-Strukturen, die die Zusammenhänge der Dinge anders darstellen als es den üblichen Sehgewohnheiten und -möglichkeiten entspricht. Durch visuelle Verfremdungseffekte können Gegenstände und Menschen in einem anderen Licht, in einem anderen Zusammenhang, oder von einem anderen Blickwinkel aus gezeigt werden. Das bedeutet, dass die technischen Bilder unsere Weltwahrnehmung, unseren Zugang zur Welt formen und verändern, nicht nur allein durch die Inhalte, die dadurch erst zugänglich werden, sondern auch durch die Bildtechniken, die die Sinneswahrnehmung überformen und auf diese zurückwirken. Technische Bilder verändern die Wahrnehmung des Betrachters zur Welt oder zu bestimmten Gegenständen, und damit auch das Denken und die Emotionen des Betrachters gegenüber den gesehenen Gegenständen und Zusammenhängen.

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2. Historische Wechselverhältnisse zwischen Bildern und Texten In seiner geradezu prophetischen Schrift Für eine Philosophie der Fotografie sieht Vilém Flusser die Fähigkeit der technischen Bilder, in die menschliche Gesellschaft hineinzuwirken, als einen grundlegenden Zug der sich abzeichnenden postindustriellen Gesellschaft. Eine Auseinandersetzung mit Flussers Analyse der Fotografie als prototypische Technik der nachindustriellen Gesellschaft könnte heute hilfreich sein, die in diesem Aufsatz anfangs formulierte Frage nach der Wirkung der fotografischen Bilder auf soziale Prozesse näher zu beleuchten. Ist eine Vorherrschaft der technischen Bilder unausweichlich? Diese Frage hat auch Vilém Flusser schon umgetrieben, und an dieser Stelle wollen wir seine Argumentation nachverfolgen und diskutieren. Bilder werden, so Flusser, nach einer langen primär textorientierten Phase, die sich durch historisches Denken ausgezeichnet habe, nun zum zentralen gesellschaftlichen Kommunikationsmittel. Sie verdrängen zwar nicht die Texte und ihre Rezeption, doch sie beziehen sich auf sie; Bilder überformen und kommentieren Texte und schieben sich dadurch in den Vordergrund. Im Zuge dieser Prozesse sei eine Tendenz zur „Idolatrie“ auszumachen, denn die fotografischen Bilder „sollen Landkarten sein und werden zu Wandschirmen: Statt die Welt vorzustellen, verstellen sie sie, bis der Mensch schließlich in Funktion der von ihm geschaffenen Bilder zu leben beginnt“ (Flusser 1983: 9). Der Betrachter sieht die Bilder als „Wandschirm“, als „Fenster zur Welt“ und traut ihnen aufgrund ihrer scheinbaren „Objektivität“, für die der „unbestechliche“, weil nicht-menschliche Apparat bürgt, wie seinen eigenen Augen. Dabei sind wir aber geneigt, den magischen Charakter der fotografischen Bilder zu übersehen, der in der nichtsequentiellen Bildstruktur und der zirkulären Führung des Blickes begründet ist, sowie aus der in manchen Fällen sehr unmittelbaren Repräsentationsfunktion des Bildes (vgl. hierzu Bosch 2014a; Mitchell 2005). Der magische Charakter der Bilder wird durch den technischen Prozess ihrer Entstehung verschleiert, und deshalb wirkt die Magie der Bilder ungesehen und unreflektiert auf den Betrachter ein: „Die allgegenwärtigen technischen Bilder um uns herum sind daran, unsere ,Wirklichkeit‘ magisch umzustrukturieren und in ein globales Bildszenarium umzukehren.“ Der Betrach-

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ter vergesse laut Vilém Flusser, dass die Bilder in einem Prozess von Menschen hergestellt wurden und kann diese deshalb nicht mehr entziffern. Von nun an lebe der Mensch in der Funktion seiner eigenen Bilder: „Imagination ist in Halluzination umgeschlagen“ (Flusser 1983: 10). Das Verhältnis zwischen Texten und Bildern sieht Vilém Flusser als zentrale Frage der menschlichen Geschichte und Entwicklung an. Dieses Verhältnis zwischen Bildern und Texten stellt sich in der Historie als das eines dialektischen Wechsels, nicht selten eines Kampfes dar. Dies äußert sich zum Beispiel in den mittelalterlichen Kämpfen zwischen Bilderanbetung, Bildverehrung und ablehnung durch verschiedene Strömungen innerhalb des Christentums; auch in den anderen monotheistischen Religionen haben vergleichbare Formen der Auseinandersetzung um das Bild und den Bildgebrauch stattgefunden. Flusser bezeichnet die alten, ursprünglichen Bilder aus der Zeit vor den großen Schriftkulturen, wie zum Beispiel die frühen Höhlenzeichnungen, als „vorgeschichtlich“. Sie zeigen den Mythos in Form von visuellen Ritualisierungen. Der magische Charakter der Bilder, ihr Bezug und ihr Verweis auf die Kosmologie, werden nicht verborgen, sondern sind gewissermaßen gleichzeitig auch ihr Programm. Die neuen technischen Bilder sind im Unterschied dazu jedoch „nachgeschichtlich“; ihre Magie ist ihnen nicht mehr anzusehen, sie zielt auch nicht mehr darauf ab, „die Welt dort draußen, sondern unsere Begriffe betreffs der Welt zu verändern. Sie ist Magie zweiten Grades“ (ebd.: 16). In einem langen historischen Prozess entfaltete sich eine Wechselwirkung zwischen der Bild- und der Textkultur der Menschheit; auf die Bildkultur der Frühgeschichte folgten textbasierte Kulturen, die die Bilder erklären, „um sie ,wegzuerklären‘, doch die Bilder schieben sich wieder ins lineare, begrifflich-historische Denken, um dessen imaginative Macht zu erhöhen diesem Bedeutung und visuelle Kraft zu verleihen: „Bei diesem dialektischen Prozeß verstärken begriffliches und imaginatives Denken einander gegenseitig – das heißt: Die Bilder werden immer begrifflicher, die Texte immer imaginativer“ (ebd.: 11).

Doch die technischen Bilder, die ihrerseits meist Illustrationen von Begriffen (Texten) darstellen, tragen scheinbar ihre Bedeutung auf der Oberfläche, deshalb hat der Betrachter den Eindruck, dass sie

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nicht entziffert werden müssten – was ein fataler und folgenreicher Fehlschluss ist.

3. Das Spiel zwischen Apparaten und Menschen Am Beispiel des Fotoapparates entfaltet Vilém Flusser exemplarisch den Begriff des spätmodernen Apparates; dabei entwickelt er interessanterweise ganz nebenbei eine überzeugende Theorie der spätmodernen Arbeit. Der Fotograf, dessen Tätigkeit prototypisch für Entwicklung der spätindustriellen Gesellschaft ist, arbeitet nicht im herkömmlichen Sinne. Er stellt nicht etwas Greifbares her, sondern er erzeugt, behandelt und speichert Symbole, wie das auch vormals schon Maler, Schriftsteller, Komponisten, Buchhalter und andere Berufsgruppen taten. Diese Form der Arbeit mit und an den Symbolen breite sich aber nun mehr und mehr aus und werde exemplarisch für die nachindustrielle Gesellschaft. Gleichzeitig werde diese Tätigkeit an den Symbolen nach und nach von Apparaten strukturiert und übernommen: „Dadurch werden die derart erzeugten Informationsgegenstände immer wirksamer und weitreichender, und sie können alle Arbeit im alten Sinn programmieren und kontrollieren. Und daher sind gegenwärtig die meisten Menschen an und in arbeitprogrammierenden und arbeitkontrollierenden Apparaten beschäftigt“ (Flusser 1983: 24).

Der Mensch wird durch die Apparate von der Arbeit freigesetzt zum Spielen. Der Fotograf zum Beispiel, der wie erwähnt als prototypisch für die nachindustrielle Gesellschaft zu verstehen ist, spielt mit dem Foto-Apparat, um ihm neue Möglichkeiten zu entlocken, um Bilder herzustellen, die die Welt in dieser Weise noch nicht gesehen hat. Der Fotoapparat aber ist auf die Erzeugung einer endlichen Zahl von Fotografien programmiert – das bedeutet, auf die Realisierung von in ihm angelegten und programmierten Möglichkeiten, deren Zahl groß, aber dennoch endlich ist. Das Apparateprogramm muss reichhaltig sein, sonst wäre das Spiel uninteressant und überdies bald zu Ende. Die Möglichkeiten des Apparates müssen in dieser Logik die Fähigkeit des „Funktionärs“, sie zu übertreffen, erschöpfen. Im Akt des Fotografierens arbeiten Fotograf und Apparat gleichermaßen zusammen wie

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auch gegeneinander: „In der Fotogeste tut der Apparat, was der Fotograf will, und der Fotograf muss wollen, was der Apparat kann“ (ebd.: 33). Der Apparat unterliegt dem Zweck, „erstens, die in ihm enthaltenen Möglichkeiten ins Bild zu setzen. Zweitens, sich dabei eines Fotografen zu bedienen, außer in Grenzfällen der völligen Automation (etwa bei Satellitenaufnahmen). Drittens, die so entstandenen Bilder so zu verteilen, dass die Gesellschaft sich in einem Feedback zum Apparat verhält, das diesen befähigt, sich fortschreitend zu verbessern. Viertens, immer bessere Bilder herzustellen. Kurz: Das Apparatprogramm sieht vor, seine Möglichkeiten zu verwirklichen und dabei die Gesellschaft als Feedback für seine fortschreitende Verbesserung zu verwenden“ (ebd.: 42f.).

Hinter diesem Programm des Apparats stehen weitere Programme, durch deren gesamte Hierarchie und Organisation die Absicht strömt, „die Gesellschaft für ein Verhalten zugunsten der fortschreitenden Verbesserung der Apparate zu programmieren“ (ebd.). Während der Künstler-Fotograf (nicht der Amateurknipser, dieser folgt einfach den Programmen des Apparats) darauf abzielt, den Apparat zu überlisten und ihn seiner Absicht zu unterwerfen, zielen die Apparate darauf, menschliche Absichten in sich aufzusaugen und sie für ihre eigene Optimierung einzusetzen. Insofern sind laut Flusser die Foto-Apparate sowie die durch sie entstandenen technischen Bilder die „Vorboten der nachindustriellen Gesellschaft überhaupt“. Der Mensch werde zum „verlängerten Selbstauslöser seines Apparates“ (ebd.: 53), und der Apparat erzeuge Bilder, die den Empfänger für ein magisches Verhalten programmieren, das als Feedback wieder in die Apparatprogramme zurückfließt. Der Fotoapparat und seine Möglichkeiten stellen somit die perfekte spätmoderne Verbindung von Technik und Magie dar, zwei Elemente, die sich gegenseitig steigern und optimieren, und in diesem Zuge menschliche Absichten und menschliche Handlungsfähigkeit in sich aufsaugen. Dies bedeutet in der Konsequenz laut Flusser den Sieg der Apparate über den Menschen sowie den Sieg des rituell-magischen Verhaltens gegenüber dem kritischen Bewusstsein. Flusser demonstriert diesen Zusammenhang anhand zweier Beispiele. Zunächst betrachtet er Fotografien aus dem Libanonkrieg: Die Fotografie der Libanonszene ist ein Bild, über dessen

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Oberfläche der Blick schweifen kann, um zwischen den Bildelementen nicht historische, sondern magische Zusammenhänge herzustellen. In der Fotografie werden nicht die historischen Vorgänge im Libanon erkannt, die Ursachen haben und Folgen haben werden, sondern magische Zusammenhänge, die in situative Figurationen gegossen wurden (ebd.: 55f.). Dabei sei die Bildoberfläche „voller Götter“, alles an ihr entweder gut oder böse. Die Wirklichkeit des Libanonkrieges, und darüber hinaus alle Wirklichkeit überhaupt ist scheinbar im Bilde: „die Wirklichkeit ist ins Symbol geschlüpft, ist in das magische Universum der Bildsymbole eingegangen“ (ebd.). Das Bild wird wie jedes Bild zu einem mimetischen Modell für das Verhalten des Empfängers; dieser reagiert rituell auf die Botschaft des Bildes, „um die auf der Oberfläche kreisenden Schicksalskräfte zu beschwichtigen“ (ebd.). Vilém Flusser erläutert die rituelle Kraft des technischen Bildes weiter anhand der Werbefotografie für eine Zahnbürste: Wenn das Fotoplakat einer Zahnbürste die geheime Macht des „Karies“ bildlich heraufbeschwört, so lauert diese anschließend in der Tat auf uns: „Wir kaufen eine Zahnbürste, um rituell über die Zähne zu streichen und damit der lauernden Gewalt ,Karies‘ zu entgehen“ (ebd.: 57). Technische Bilder erzeugen und vermehren in dieser Perspektive moderne Formen der Magie. Das magische Verhalten des spätmodernen Zeitgenossen ist allerdings nicht dasselbe wie das des vormodernen Menschen, denn der spätmoderne „Funktionär“ verfügt durchaus über ein historisches, kritisches Bewusstsein, er wird nun aber durch die Bilder programmiert, dieses zu ignorieren. „Er weiß, dass im Libanonkrieg nicht Gut und Böse aufeinanderstoßen, sondern dass dort spezifische Ursachen spezifische Folgen haben.“ Dieses kritische Bewusstsein muss er allerdings unterdrücken, „denn wie sonst sollte er Zahnbürsten kaufen, Meinungen über den Libanon haben, Akten ablegen, Formulare ausfüllen […], kurz: funktionieren?“ (ebd.: 57). Die Fotografien unterdrücken das kritische Bewusstsein und lassen die stupide Absurdität des alltäglichen Funktionierens vergessen. Mehr und mehr werde dem Menschen diese Art von Bildern selbstverständlich, und damit werden diese nach und nach der bewussten Wahrnehmung und der Kritik enthoben: „Wir sind an die visuelle Umweltverschmutzung gewöhnt, und sie dringt durch unsere Augen und unser Bewusstsein, ohne wahrgenom-

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men zu werden. Sie dringt in subliminale Regionen, um dort zu funktionieren und unser Verhalten zu programmieren“ (ebd.: 60).

Die technische Erzeugung und Verteilung der Fotografien verknüpft sich mit der Magie ihrer Oberfläche und programmiert das Verhalten von Fotograf und Betrachter. Apparate wurden hergestellt, um den Menschen von der Arbeit zu emanzipieren. Statt arbeiten zu müssen, kann der Mensch nun spielen. Die Apparate wurden erfunden, „um automatisch, das heißt autonom von künftigen menschlichen Eingriffen, zu funktionieren. Das ist ihre Absicht, die sie erzeugt hat: dass der Mensch aus ihnen ausgeschaltet werde. […] Während der Mensch mehr und mehr ausgeschaltet wird, werden die Apparatprogramme, diese sturen Kombinationsspiele, reicher und reicher an Elementen; sie kombinieren immer schneller und übersteigen die Fähigkeit jedes Menschen, sie zu durchschauen und zu kontrollieren. Wer immer mit Apparaten zu tun hat, hat es mit Black Boxes zu tun, die er nicht durchschauen kann“ (ebd.: 66).

Im Ergebnis dieser Prozesse entsteht ungewollt, auf ebenso zufälligem wie dennoch zwingendem Wege, ein Foto-Universum, das keiner absichtlichen Strategie folgt, und doch den Menschen neu programmiert und determiniert. Jedes einzelne Foto ist als Bildfläche ein magisches Modell für das Verhalten seines Betrachters. Die Distribution und Anwendung der Bilder programmiert die Gesellschaft für eine fortwährende Verbesserung der Apparate: „Zusammenfassend: Das Fotouniversum ist ein Mittel, die Gesellschaft mit eherner Notwendigkeit, aber in jedem Einzelfall zufällig (also: automatisch) für ein magisches Feedback-Verhalten zugunsten eines Kombinationsspiels zu programmieren und die Gesellschaft in Würfe, in Spielsteine, in Funktionäre automatisch umzuprogrammieren“ (ebd.: 63).

Das apparatische Universum programmiert laut Flusser seine Betrachter nicht nur im Sinne der Rückkopplungsschleifen, sondern bewirkt darüber hinaus eine An-Ähnlichung des Menschen an die Apparate-Kommunikation, es „robotisiert“ Menschen und Gesellschaft. Die neuen, robotisierten Gesten sind laut Flusser in der Gesellschaft als sichtbare Phänomene schon überall zu beobachten:

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an Bankschaltern, in Ämtern, in Fabriken, in Supermärkten, im Sport und beim Tanz. Diese Beobachtung Flussers lässt sich nicht von der Hand weisen; heute sind die robotisierten Gesten, 30 Jahre nach dem Erscheinen von Flussers Analyse, in den genannten gesellschaftlichen Bereichen genauso zu beobachten wie zu Flussers Zeit. Ein aufmerksamer Zeitgenosse, der phänomenologisch beobachtet, muss gar feststellen, dass ihre Entwicklung und Verbreitung weiter fortgeschritten ist: Die robotisierten Gesten sind zu sehen bei Bankgeschäften, die mittlerweile zu großen Teilen zwischen Mensch und Apparat abgewickelt werden. Sie sind zu sehen im Arbeitsalltag von Jedermann, der mittlerweile zu großen Teilen der technisch vermittelten Kommunikation gewidmet ist. Sie sind zu beobachten in Fabriken und in Supermärkten, wo standardisierte Handbewegungen der technischen Erfassung oder Manipulation von Objekten zuarbeiten. Sie sind in der Kunst, im Sport, der in vielen Teilen apparate-vermittelt ist, und im Tanz präsent, und gelten hier vielfach als besonders modern und innovativ. Die Leistungsfähigkeit und soziale Faszinationskraft des Phänomens der robotisierten Gesten muss auch vom kritischaufmerksamen Zeitbeobachter konstatiert werden, sonst wäre ihre Verbreitung und ihr Erfolg schwerlich zu erklären.

4. Schlussfolgerungen Gibt es denn nun Auswege aus dieser in ihrer Logik zwingenden Entwicklung einer, wie aus der medienphilosophischen Analyse hervorgeht, absichtslosen, aber umso wirkungsvolleren Übernahme von Macht und Handlungskraft durch die Apparate, die zum Zwecke ihrer eigenen Vervollkommnung agieren, sowie im Interesse der sozialen Gruppen, die das Apparate-Universum kontrollieren? Flusser selbst erkennt und benennt einen möglichen Ausweg: Die Notwendigkeit einer Philosophie der Fotografie. Die Philosophie der Fotografie ist nun wieder als prototypisch für die Analyse der spätmodernen Gesellschaft zu denken. Die Aufgabe dieser Philosophie ist die Frage nach der menschlichen Freiheit in einem neuen Kontext und unter neuen Bedingungen. Die Praxis der Fotografie muss nach der Freiheit befragt werden, die in ihr möglich ist, denn die Fotografie dient hier als exemplarische, vorweggenommene Praxis einer (unserer) spätmodernen Zukunft, und die Fotografen sind bereits Menschen der apparatischen Zu-

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kunft. „Ihre Gesten sind vom Fotoapparat programmiert, sie spielen mit Symbolen, sind im ,tertiären Sektor‘ tätig, an Informationen interessiert, sie erzeugen wertlose Dinge“ (Flusser 1983: 73). Die Philosophie der Fotografie kann die Handlungsspielräume des Menschen aufzeigen: „man kann den Apparat in seiner Sturheit überlisten, […] man kann menschliche Absichten in sein Programm hineinschmuggeln, die nicht in ihm vorgesehen sind. […] Man kann den Apparat zwingen, Unvorhergesehenes, Unwahrscheinliches, Informatives zu erzeugen“ (ebd.).

Freiheit wird in diesem Sinne verstanden als Strategie, Zufall und Notwendigkeit der menschlichen Absicht zu unterwerfen. Freiheit bedeutet für den Fotografen, im Spiel mit dem Apparat gegen den Apparat zu spielen. Die Freiheitsgrade in der fotografischen Praxis analytisch zu bestimmen, bedeutet, da die Fotografen schon eine nachindustrielle Praxis entwickeln, dass die Möglichkeit für ein Modell für die Freiheit im nachindustriellen Kontext schlechthin aufscheint. Doch hier lauern Fallstricke der Argumentation, denn man muss fragen: Verwickelt das Spiel gegen den Apparat den „Funktionär“ nicht mindestens so sehr in das Geschehen wie das Spiel mit ihm? Wenn man berücksichtigt, dass das Potential an menschlicher Aufmerksamkeit, Zeit und Energie begrenzt ist, dann muss man konstatieren, dass eine negative Bindung mindestens ebenso viel Intensität erzeugt und menschliche Energien aufnimmt, wie eine positive Bindung: Hass bindet emotional mindestens ebenso stark wie Liebe an das Objekt der Affekte; Ärger über ein Objekt verbraucht einen größeren Vorrat an emotionaler Energie als Freude oder Befriedigung. Angewendet auf unsere Fragestellung würde das bedeuten: Das Spiel gegen den Apparat verwickelt den Spieler noch mehr und noch tiefer in das Universum der Apparate als es das naive Spiel mit dem Apparat tut. So sieht Günter Anders, ein Zeitgenosse Flussers, den Menschen verstrickt in nicht durchschaute Beziehungen zu Dingen und Geräten und meldet den Bedarf einer neuen „Dingpsychologie“ an, da es zu einer „Inversion“ der Beziehungen zwischen Menschen und Geräten komme. Er fragt, „ob nicht heute ein Großteil unserer emotionalen Energien unseren Apparaten gilt. Erforderlich wäre also eine spezielle […] psychologische

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Sonderdisziplin, deren erste Aufgabe darin zu bestehen hätte, unsere Beziehungen zu unserer Ding-, namentlich zu unserer Apparatewelt zu erforschen; wozu auch die Beziehungen der Dinge zu uns gehören würden“ (Anders 1980: 60).

Laut Anders ist die Alltagswelt, mit der es Menschen zu tun haben, nicht mehr länger in erster Linie eine Menschenwelt, in der es auch Dinge und Apparate gibt, sondern „eine Ding- und Apparatewelt, in der es auch Mitmenschen gibt“ (ebd.). Menschliche Aufmerksamkeit widmet sich in einem wachsenden Maße der Interaktion mit Geräten und Apparaten, und da der Vorrat an Aufmerksamkeit begrenzt ist, geht dies vermutlich auf Kosten der Interaktion mit Menschen und/oder auf Kosten des selbsttätigen Schaffens. Wir müssen also annehmen, dass das Spiel gegen die Apparate die Spieler noch stärker in das Spiel mit den Apparaten verstrickt. Es stellen sich somit einige Zweifel ein, ob der von Flusser skizzierte Weg einer Philosophie der Fotografie wirklich tragfähig ist. Doch Vilém Flusser führt noch eine zweite, stärkere Überlegung ins Feld: Für eine Philosophie der Fotografie sei es notwendig, die Bilder zu verstehen, ihre Sprache zu entschlüsseln. Nur auf diesem Wege kann ein Bewusstsein für die Bilder geschaffen werden, ihre Magie, ihre selbstverständliche, unhinterfragte Wirkung in der Gesellschaft reflexiv gebrochen werden. Diese Argumentation Flussers ist durchaus überzeugend, und so muss unser wissenschaftliches Bemühen diese Richtung einschlagen: die technischen Bilder zu verstehen und hermeneutisch entschlüsseln zu lernen. Bilder haben eine eigene Sprache, sie können nicht gelesen und interpretiert werden, wie man Texte interpretiert oder liest. Sie haben eine eigene, visuelle Struktur, die sich nicht in zeitlich aufeinanderfolgende Sequenzen gliedert. Die Struktur der fotografischen Bilder entfaltet sich im Räumlichen, alles ist auf einmal im Bild vorhanden, und der Blick kann ewig in einem magischen Zirkel über die verschiedenen Bildelemente kreisen. Diese Struktur des Bildes kann hermeneutisch entschlüsselt werden, doch muss man dabei anders vorgehen als bei einer Textinterpretation, um der „Eigenlogik“ des Bildes gerecht zu werden und den bildlichen Überschuss im Bild methodisch mit einzubeziehen (zum methodischen Vorgehen im Einzelnen vgl. Bosch/Mautz 2012b).

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Einzelne Bilder werden nur flüchtig wahrgenommen, da eine Vielzahl von Bildern auf den Betrachter einströmen und seine Aufmerksamkeit fordern. Technisch aufgenommene Bilder überschreiten dabei Kulturgrenzen; sie werden dabei nicht immer richtig verstanden, doch werden sie leichter verstanden als sprachliche Mitteilungen in einer nicht vertrauten Sprache. Gleicht sich die Bildsprache aufgrund der gestiegenen Dichte der Kommunikation an? Beeinflussen sich die visuellen Konventionen der verschiedenen Kulturen wechselseitig? Sind dabei Bewegungen der Konvergenz festzustellen? Entwickelt sich gar eine globale Bildsprache, eine lingua franca der Fotografie? In dieser Hinsicht haben wir es tatsächlich mit einer neuen Entwicklung zu tun. Einerseits ist eine Tendenz der Angleichung der Bildsprachen festzustellen, es gibt mehr und mehr auch kulturübergreifend, international, transnational lesbare Bilder, deren ästhetische Struktur von lokalen Besonderheiten „gereinigt“ wurde bzw. universelle Elemente enthält. Hinzu kommt, dass Denk- und Wahrnehmungsweisen der westlichen Welt mittlerweile in nahezu alle Kulturen des Globus eingedrungen sind und diese überformt haben. Bestimmte Bild-Konventionen sind mittlerweile für alle verständlich. Zugleich ist es aber auch so, dass die größere Zugänglichkeit zu Bildern gleichzeitig stärker über lokale Sonderformen informiert, über Abweichungen, Spielformen und Gegenentwürfe, die sich dieser allgemeinen „westlichen“ Bildsprache und ihrer Standardisierung entziehen oder sogar gezielt dagegen arbeiten. Wer nicht untergehen will in der gigantischen Bilderflut, der muss Bilder lesen können. Von Walter Benjamin stammt der Satz, dass der der Bildunkundige der Analphabet der Zukunft sein wird. Dies zeigt, wie notwendig es, ist, Kompetenzen des Bildverstehens zu entwickeln. Flussers Idee einer Philosophie der Fotografie zeigt, dass es notwendig ist, Theorien und Methoden einer Bildhermeneutik zu entwickeln, die fähig ist, Bilder in ihrer Mehrdeutigkeit zu erfassen und zu verstehen. Gerade „gute“ Fotografien mit einem starken punctum enthalten komplexe, oft auch widersprüchliche oder ambivalente Botschaften. Eine Vorherrschaft der technischen Bilder in der Arena der visuellen Kommunikation ist also nicht unausweichlich. Die Voraussetzung für die Zähmung der technischen Bilder ist aber, dass wir ihre sozialen Wirkungen ernst nehmen, dass wir die Bilder als Aktanten anerkennen (vgl. hierzu Bosch 2014b), und dass wir einen Weg und ei185

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ne Methode zum Verständnis der Bild finden, und damit mehr und mehr Menschen befähigen, Bilder genauer zu dechiffrieren, sie zu „lesen“ und in ihrer Ambiguität und visuellen Komplexität besser zu verstehen. Ist in Zukunft eine „totale“ Bildkommunikation zu erwarten, eine ständige Gleichzeitigkeit von virtueller und leiblichräumlicher Präsenz? „Google Glass“ zum Beispiel, der in einem Brillenrahmen getragene Miniaturcomputer, kombiniert aufgenommene Bilder mit Informationen aus dem Netz. Ist mit einer ständigen Inanspruchnahme und sinnlichen Überforderung des „antiquierten“ Menschen zu rechnen? Zum einen kommt es zu einer Beschleunigung und Vervielfältigung der virtuellen Welten, die eine starke Sogwirkung auf ihre menschlichen Nutzer hat. Die virtuelle Welt kennt keinen Rhythmus, keine Pause, keine leiblichen Bedürfnisse, und aufgrund der unbegrenzten Möglichkeiten und Chancen auf Kommunikation übt sie gleichzeitig einen reizvollen Sog und einen sozialen Erfolgsdruck unseres narzisstischen Zeitalters aus, denen man sich kaum entziehen kann. Doch wird zum anderen nicht ganz zufällig in der zeitgenössischen Kultur die Körperlichkeit, auch die leibliche Kopräsenz immer wichtiger. In verschiedenen Bereichen der Gesellschaft gibt es einen neuen „Kult“ um den Körper: Sport, Medizin, Anti-Aging u.v.m. Der Körper bildet den „Anker“ im Hier und Jetzt gegen den allzu starken Sog des virtuellen Netzes und der allgegenwärtigen Kommunikation. Die Herausforderung und die Entwicklung der Zukunft werden darin bestehen, virtuelle und realkörperliche Welt klug und souverän zu kombinieren. Die Entwicklung der elektronischen und visuellen Medien kann wohl nicht mehr rückgängig gemacht werden. Leibliches Geschehen und virtuelles Geschehen ist somit in einer konkurrierenden und ergänzenden Perspektive zu sehen. Die ständige Gleichzeitigkeit beider „Arenen“ kann nicht die Lösung sein, sondern eine balancierte, diachrone Kombination von leiblich-materieller Lebenswelt und virtueller Welt wird notwendig sein.

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Gert Schmidt

Das Schaufenster als Ort Ästhetischer Bildung Ein Essay

Vorbemerkung Das Wort „Schaufenster“ als Bild und Metapher ist so harmlos nicht: Anstrengungen des Gründelns und Gedankenspielens in Sachen „Schaufenster“ führen in ein weites und spannendes Wissens- und Assoziationsfeld:

Die folgende Darstellung greift nur einige wenige Ausschnitte des Assoziationsfeldes auf. Angezeigt sei als Gliederung: 1. Worüber hier keine Rede ist; 2. Worüber die Rede hier ist: I. Das Schaufenster als ästhetische Erscheinung und II. Ästhetische Wachheit und Ästhetische Bildung.

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1. Worüber hier keine Rede ist Das Wortgebilde „Schaufenster“ provoziert kultur- und sozialwissenschaftliche, aber auch psychologische Neugier bezüglich „Reinschauen“ und bezüglich „Rausschauen“. Um Exponate des „Rausschauens“ bemühen wir uns hier nicht – und auch viele Modalitäten des „Hinschauens“ (Objekte und Szenarien der Herausforderung zum „Hinschauen“) müssen außer Betracht bleiben.

Der berühmte „Fenstergucker“ in Wien und vergleichbare Dokumente aus der Kulturgeschichte, diverse und z.T. höchst informative privat-häusliche und andere private – etwa „automobile“ – Fenstergestaltungen, Altargestaltung und event-bezogene Ausstellungen und Schau-Inszenierungen, wie auch die außerordentliche Vielfalt von Zeitungsständen und Infokästen an allen möglichen Kulturstätten, werden, wie viele andere „Ansichtssachen“, im Folgenden nicht erörtert.

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GERT SCHMIDT: DAS SCHAUFENSTER

2. Worüber hier die Rede ist I. Das Schaufenster als ästhetische Erscheinung Gezeigt und kommentiert werden im Folgenden nur solche Schaufenster, die in einem engeren – wirtschaftskulturellen – Sinne: „DaSchau-Hin“–„Komm-Herein“–„Und Kaufe“– Fenster“ sind, in denen also Waren (zumeist materielle Wirtschaftsgüter – von Zahnbürsten bis zu Automobilen –, aber auch immaterielle Wirtschaftsleistungen, wie etwa Tipps für Fernreisen oder Wahrsagerei) zur Schau gestellt werden bzw. angeworben werden. Man muss kein speziell eingeübter Flaneur sein, um wahrzunehmen, dass es solche „Einkaufsschaufenster“ in außerordentlicher Vielfalt gibt: der bescheiden auftretende Vorstadtzeitungsund Schreibwarenladen gehört dazu, wie der kleine Altstadtladen und der Metzger auf dem Marktplatz, oder die Edelboutique im großstädtischen Einkaufskaree und schließlich der Showroom im Pavillon als begehbares, gewissermaßen in die dritte Dimension ausgestülptes Schaufenster.

Die obige Bilderreihe führt zu ersten Chancen einer ästhetikrelevanten typologischen Verortung von Einkaufsschaufenstern:

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Angezeigt ist zunächst eine „Steigerung“ bezüglich des Formates: Das zunächst „schlichte“ Schaufenster am Bau, mehr oder minder bescheiden eingefügt in die Baufassade, wird in einer ersten Steigerung fassadendominant, um in einem nächsten Steigerungsschritt die Fassadenfunktion gänzlich zu übernehmen: Das Einkaufsschaufenster ist die Fassade, resp. die Fassade ist ein „Schaufenster“.

Die notierte Ausbreitung des Schaufensters als Fassade und insbesondere die Ausgestaltungen von „Schaufenstern“ provozieren Ästhetik-Diskussionen1, können doch Schaufenster als schön, anregend, protzig, langweilig, ätzend-provokativ, gar verletzend beur1

Ästhetik (von altgriechisch aísthesis „Wahrnehmung“, „Empfindung“) war bis zum 19. Jahrhundert vor allem die Lehre von der wahrnehmbaren Schönheit, von Gesetzmäßigkeiten und Harmonie in der Natur und Kunst. Ästhetik bedeutet wörtlich: Lehre von der Wahrnehmung bzw. vom sinnlichen Anschauen. Ästhetisch ist demnach alles, was unsere Sinne bewegt, wenn wir es betrachten: Schönes, Hässliches, Angenehmes und Unangenehmes. Eine Lehre, die sich nur mit schönen Dingen beschäftigt, heißt Kallistik. Alltagssprachlich wird der Ausdruck ästhetisch heute meist als Synonym für schön, geschmackvoll oder ansprechend verwendet. In der Wissenschaft bezeichnet der Begriff die gesamte Palette von Eigenschaften, die darüber entscheiden, wie Menschen Gegenstände wahrnehmen (vgl. WIKIPEDIA, Mai 2014).

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teilt werden; angeschaut werden in Kaufschaufenstern ja durchaus nicht nur die angeworbenen und evtl. auch begehrten Waren, sondern allerlei „Beiwerk“ – von schmückenden Blümchen bis zu staatspolitischen „Denkmälern“. Schaufenster können denn als Erzählungen decodiert werden – und sie sollen ja beim Beschauer auch „Erzählungen“ (Einbildungen, Erinnerungen, Visionen, Phantasien!) erzeugen. Schaufenster sind aber auch Gegenstand öffentlicher Wahrnehmung – und als solche mit Blick auf Normen- und Werte-Bezüge durchaus „empfindlich“ kontextualisiert; in sog. modernen säkularen Gesellschaften ist zwar vieles, aber auch dort ist nicht alles „erlaubt“ mit Blick auf das Erscheinungsbild von Gegenständen und projizierten Verhaltensweisen. Dies gilt auch für die Nutzung ästhetischer Animation als Kauf-Anreiz.

Dem Historiker und dem vergleichend forschenden Kultur- und Sozialwissenschaftler sind Schaufenster geeignetes „Material“ für das Studium des Verkaufens als Kultur. Die „hungrig“ beäugte aufgestapelte Salami in einem Schaufenster nach der Einführung der DM in Deutschland 1948 verweist den Betrachter auf einen anderen zeitgenössischen Kontext als das „Terror“-Schaufenster eines Brillenhändlers im Jahre 2002; und die üppige Bürstensammlung im Schaufenster eines traditionellen kleinen Stadtgeschäftes ver195

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traut auf bescheideneren ästhetischen Kaufanreiz als die „Schaustellung“ im Fenster einer Parfümerie am „Valentins-Tag“. Es wird „Waren-Wahrnehmung“ an Ästhetischen Bildungsanspruch gekoppelt: Drapierte Rasierpinsel verknüpfen, ästhetisch vorgetragen, Wellness mit Nostalgie, die aufgelegten Taschenmesser mit Horngriff vermitteln ästhetisch Alpenblick und Naturgenuss und die aufgebauten Flacons zielen ästhetisch präpariert auf „Dufterlebnis als irdisches Glück“. Der käufliche Gegenstand zeigt sich ästhetisiert als Verfügung von „Funktion“ und „Fiktion“ – ästhetische Wahrnehmung wird erkennbar als Superadditum. In diesem Sinne hat Martin Seel in Anlehnung an den Klassiker der Theorie der Ästhetik Gottlieb Baumgarten (1750) formuliert: „Hier wird nicht etwas als etwas bestimmt, es wird in der Fülle seiner Merkmale vernommen.“ Vergleichbar heißt es bei Immanuel Kant in der „Kritik der Urteilskraft“ (1787) „Das ästhetische Erscheinen ist ein Gegenstandin-seinem-Erscheinen, ästhetische Wahrnehmung ist Aufmerksamkeit für dieses Erscheinen.“ Die „ästhetische Erscheinung“ produziert „ästhetisches Denken“ und provoziert schließlich – eingelassen/entlassen in die Realität gesellschaftlicher Produktions- und Herrschaftsverhältnisse – eine „Kritik der Ästhetik“. Kauf-Schaufenster sind, gesellschaftstheoretisch eingefangen, „Entfaltung“ von Ästhetik in den thematischen Spannungsfeldern u.a. von Schönheit und ökonomischem Profit, von Genuss und Verführung und von Authentizität und Schein. Hierüber sind „Schaufenster mit ökonomischer Absichtserklärung“ dann auch gerne bearbeitete Gegenstände von Kulturkritik und „kritischer“ Gesellschaftstheorie. Der allgemeinen Ästhetik-Theorie lassen sich für weiterführende Beobachtungsanstrengung ein paar systematische Differenzierungen entnehmen. Es kann Wahrnehmung grundsätzlich auf zweierlei Weisen erfolgen: 1. Ich nehme den Gegenstand oder das Ereignis analytisch in seinem So-sein wahr, d.h. ich vermesse, beobachte, beschreibe ihn. Ich behandle ihn so wie ein Kommissar ein Fundstück beim Tatort betrachten würde. 2. Ich nehme den Gegenstand oder das Ereignis ästhetisch wahr. Dabei entdecke ich, dass die Welt reicher ist als alles, was in Begriffen ausgedrückt werden kann. 196

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Zu unterscheiden ist zwischen rein begrifflicher Wahrnehmung (Sosein) und ästhetischer Wahrnehmung. Innerhalb der ästhetischen Wahrnehmung gilt es noch zu unterscheiden zwischen drei Dimensionen des Erscheinens der Objekte: Das bloße Erscheinen, das atmosphärische Erscheinen und das artistische Erscheinen.

In Kauf-Schaufenstern ist – zumal in Regionen kapitalistischer Geschäftskultur – das bloße Erscheinen des Produktes selten; atmosphärische Aufladung erst macht das Fenster zum attraktiven Schaufenster: die undekoriert aufgestapelte Wurst im Schaufenster gehört in die Notzeit (hier schafft gewissermaßen der Gegenstand „Wurst“ bereits die nötige Anreiz-Atmosphäre!) und allenfalls noch ins konkurrenzbefreite dörfliche Szenario von WarenAnzeige. Selbst im von Marketing-Raffinement wenig belasteten realen Sozialismus wurden Waren – wenngleich mit bescheidenem Aufwand – ästhetisch eingebettet. Atmosphärisches Erscheinen ist denn wichtige Voraussetzung für erfolgreiche Präsentation von Produkten als Ware auf dem Markt.

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Das hochpreisige Antiquariat an der oberen Lexington Avenue in New York City vertraut gänzlich auf die „eigen-artige“ ästhetische Atmosphäre der ausgestellten Edel-Stücke – durchweg DesignerStücke: Art Deco Möbel, Koffersets, Aluminium Flugzeug- und Automodelle, die jeweils einige 1000$ kosten etc.; im Schaufenster von Harrods in London verschwinden die ausgestellten Einzelprodukte gewissermaßen in der Inszenierung von Atmosphäre und im Designershop in der Bleekerstreet im Greenwich-Viertel in New York City wird zur Halloween-Zeit das „Kleine Schwarze“ in ästhetisierter Friedhofsatmosphäre getragen. Zuweilen schließlich erreichen Kaufschaufenster auch den ästhetischen Status des artistischen Erscheinens: Die Ware „erscheint“ als Kunstwerk – wie im unten gezeigten Beispiel des bei Harrods, London zum Kauf angebotenen Damenschuhs. Von dort ist es nur ein kleiner Sprung (bzw. ein fließender Übergang) zur Anpreisung von Kunst als Ware, hier das Beispiel des Angebotes einer Mickey Maus Statue in einer Münchner Galerie.

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II. Ästhetische Wachheit und Ästhetische Bildung Schaufenster werden nicht von jedem passierenden Passanten bemerkt; sie sind „Beschauungsangebot“; und Schaufenster werden in unterschiedlicher Motivationslage der Schauenden zu verschiedensten Zwecken, mit wechselnder Aufmerksamkeit oder Neugier betrachtet: „Ästhetische Wachheit [ist] eine jederzeit naheliegende Möglichkeit, aber kein permanenter Zustand des bewussten Daseins der Menschen“ (Martin Seel). Des klassischen Flaneurs „ästhetische Wachheit“ ist anders gelagert, als die des spezifisch vorbereiteten einkaufsentschiedenen Kunden, der im Schaufenster nur noch einmal einen kurzen Blick aufs begehrte Produkt (im Grenzfall lediglich mit dem Interesse an Preisvergleich!) werfen will, oder jene, eines aus fernen Landen angereisten Touristen, der die allgemeine Farbenpracht, oder das Fehlen einer solchen, als „fremde Welt“ erfährt. Das Erwecken ästhetischer Wachheit und – hiermit verknüpft – die Chance der Wirkung des Fensters als Ort Ästhetischer Bildung kann im Kontext von potentiellem „Kauf-Schauen“ auf sehr verschiedene Weise erfolgen: Die Entdeckung eines „schönen Stückes“ im Schaufenster ist eine Möglichkeit; die Bewunderung eines besonders gefälligen oder auffälligen – im doppelten Wortsinne „bestechenden“ – Arrangements geht darüber hinaus; und die Attraktion durch eine besondere grafische Gestaltung simpler Rabatt-Ziffern ist eine weitere Möglichkeit. Die mit Billboards bestückten Häuserfronten einer Einkaufsstraße – Champs-Élysées in Paris oder 5th. Avenue in New York (hier im Bild) repräsentieren schließlich – bis hin zum Anspruch auf den Status eines „Schaufensters der globalen Warenwelt“ – elaborierte Ansichts-Flächen als Orte Ästhetischer Bildung.

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Mit dem Stichwort „Ästhetische Bildung“ werden verschiedene human- und sozialwissenschaftliche Forschungs- und Reflexionsdisziplinen angesprochen: den Fragestellungen und Problemfokussierungen von stärker normativ argumentierenden Pädagogen steht die forciert wertungsabstinente empirisch-analytische Orientierung mancher Soziologen gegenüber. Ein Blick auf die Begriffsarbeit bei Kaspar Spinner öffnet das oben angedeutete Spannungsfeld: Spinner fixiert zunächst als allgemeine Zielsetzung von Ästhetischer Bildung: „Mit den Sinnen wahrnehmen, Staunen, Aufmerksamkeit, Beachtung des Besonderen, Imagination, Subjektivität und Verfremdung“; um sodann zu vertiefen: „Durch Ästhetische Bildung werden […] die Sinne geöffnet für intensive, verweilende Wahrnehmung. Gegen die Zersplitterung in Einzelwissen setzt Ästhetische Bildung auf die wechselseitige Bereicherung der verschiedenen Sinneswahrnehmungen und der mit ihnen verknüpften Imaginationen. [...] Ästhetische Wahrnehmung ist kein passives Hinnehmen, sondern Zuwendung zum wahrgenommenen Gegenstand. Die Rolle, die die Imagination dabei spielt, zeigt, dass immer auch ein Mitschaffen im Spiel ist“ (Kaspar Spinner).

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GERT SCHMIDT: DAS SCHAUFENSTER

Ästhetische Bildung wird in unseren konkurrenzbestimmten Marktgesellschaften mit zum Teil erheblichem Aufwand warenökonomisch in Anspruch genommen. Das moderne Schaufenster reflektiert auf Ästhetische Bildung – manchmal plump-opak, manchmal riskant-aggressiv Grenzen allgemeiner Akzeptanz abschätzend, zuweilen auch hinterlistig-raffiniert; Marktsituation zwingt zur „Besonderung“ – zum „Auffallen“.

Die Verständigungsformel „Schönheit“ – in der Alltagswelt allzu rasch unkompliziert mit „Ästhetik“ identifiziert – gerät in Not und wird überformt von höchst elastischen Qualifizierungen der „Attraktivität“ im Sinne erfolgreicher Vermarktungschance: Die schlichte Formel: „Hässlichkeit verkauft sich schlecht“ zeigt sich dabei durchaus „aufgebrochen“ und innovativ neu relationiert. Nicht selten reüssiert auf dem Markt beabsichtigte Auffälligkeit – auch „Grenzwertigkeit“ und gezielte „Grenzüberschreitung“ – gegenüber geltender ästhetisch-ethischer Normierung sog. guten Geschmacks. Es gibt die wirtschaftliche Erfolgschance des Skandals. Ästhetische Bildung als Transmissionsriemen, als Instrument, als Medium polit-ökonomischer Interessendurchsetzung bewährt sich denn immer wieder auch als riskante Vorstellung. 201

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Wirksam werden Kauf-Schaufenster als Orte Ästhetischer Bildung last not least zuweilen intendiert, aber häufig auch nicht-intendiert – als im erweiterten Sinne Schaufenster gesellschaftlicher Zustände; d.h. Kaufschaufenster zeigen sich in gesellschaftlichen Umwelten – und ihre Wirkung wird – harmonisch-ergänzend oder auch spannungsvoll-widersprüchlich – von der jeweiligen materialen und sozialen Umwelt mitgeprägt. Kauf-Schaufenster sind dann auch Schaufenster von/für Gesellschaftsgeschichte – man kann auch assoziieren: „Schaufenster verraten Gesellschaft“.

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Das akute Geschehen vor dem Schaufenster manipuliert den Show-Impact des Fensters, und ein blindes, „leeres“ Schaufenster kann eine Aussage sein für die aktuelle oder schon lange anhaltende ökonomische Misere im Stadtviertel oder für eine gegenwärtige Wirtschaftskrise.

Schaufenster sind in vielfältiger Weise Symbole sozial-ökono mischer und sozialkultureller Wirklichkeit, und als solche werden Schaufenster auch zu Schauplätzen kollektiven Konfliktes und zu Aussagen zur Gesellschaftsgeschichte – insbesondere als, über höchst verschiedene Motivlagen von Protesthandeln erzeugte, Zerstörung. „Schaufenster in Scherben“ können via spezifische Formen „negativer Ästhetik“ immer wieder auch Zeitzeugen bzw. Zeitzeugnisse sein von Unfällen, Erdbeben, Hurrikans u.ä. – aber eben auch von rassistischem Hass oder antikapitalistischem Aufruhr. Einer kurzen Betrachtung wert sind auch die Variationen und künftige Möglichkeiten von Schaufenstern mit Blick auf die Gestaltungs-Technik und absehbare Entwicklungen von Präsentations-Technologie: Für die Form der Waren-Auslage und die Anschauungsmöglichkeiten von Kauf-Produkten seitens des potentiellen Kunden bieten sich neue technikbasierte Optionen an: Bildschirme mit interaktiven Programmen und Hologramme „aktivie-

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ren“ und „dynamisieren“ gewissermaßen das klassische „statische“ Auslage-Schaufenster. Das Kaufschaufenster an der Straßenfront übernimmt Qualitäten des heimischen Computerbildschirmes; der Kunde wird eingeladen mithilfe einer speziellen App auf seinem I-Phone/Smartphone das Schaufenster kurzfristig seinen Interessen entsprechend zu gestalten – wobei es eine pragmatische Entscheidung ist, welche Manipulationen dann nur auf dem Smartphone möglich sein werden, und welche Veränderung der interessierte – oder verspielte – Kunde/Betrachter auch im Großschaufenster selbst wird erzeugen können.

 

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Lars Allolio-Näcke

Palliativstationen Über das Entstehen einer neuen ars moriendi1

Die jüngste Einführung palliativer Medizin in das Curriculum der Medizinerausbildung, die Einführung der Zusatzweiterbildung in die (Muster-)Weiterbildungsordnung des Deutschen Ärztetages (2003) und ihre Ausweitung auch auf „normale“ Arztpraxen, sowie die damit einhergehende flächendeckende Einrichtung von Palliativstationen in Deutschland stellt aus meiner Sicht eine Herausforderung an alle Gruppen dar, die in irgendeiner Art in Kontakt mit diesen Stationen treten: sei es als Patient, als Angehöriger oder als Teil des klinischen Personals. Herausforderung meint hier zweierlei: Erstens den Umgang mit Sterben und Tod neu zu erlernen, diesen zum Menschen gehörenden Lebensabschnitt als solchen zuzulassen, und damit an der Etablierung einer neuen ars moriendi mitzuwirken. Zweitens eine ästhetische Herausforderung, die im Sinne des griechischen aísthesis sowohl das Gute wie das Schöne, also ethische wie ästhetische Aspekte umfasst. Im letzteren Falle geht es meines Erachtens aber nicht nur um den Aspekt des Schönen an sich, sondern um eine umfassende Ästhetische Bildung. Dabei soll in diesem Artikel deutlich werden, in welche „Arena“ Ästhetischer Bildung wir uns begeben, nämlich in das „Kampffeld“ zwischen konventionellem Krankenhaus und Hochleistungsmedizin vs. Hospiz – zwischen beiden versucht sich die Palliativstation zu positionieren, ohne sich schlicht auf eine der beiden Seiten schlagen zu können und zu wollen.

1

Der Beitrag geht auf einen gemeinsam gehaltenen Vortrag mit Frau Dr. Birgitt van Oorschot zurück, der im Rahmen der Ringvorlesung Arenen der Ästhetischen Bildung am Interdisziplinären Zentrum Ästhetische Bildung (FAU) gehalten wurde.

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Geschichte und Terminologie „Hospiz“ entstammt dem lateinischen hospitium, das mit „Herberge“ übersetzt werden kann. Wie der Name sagt, geht es bei der Hospizbewegung um die Beherbergung und Pflege von Menschen mit finalen Diagnosen. Dies ist auch mit dem Begriff „Sterbebegleitung“ gemeint, der häufig synonym verwendet wird. Im Mittelalter in allen Städten zu finden, war das Hospitium2 (später Hospital als Vorläufer des Krankenhauses) eine Beherbergungsstätte für Bedürftige, Fremde und Kranke. Der Normalfall war, dass man nicht alleine starb, selbst wenn man arm und bedürftig war. Der Tod gehörte selbstverständlich auch zum Leben (Dinzelbacher 1993) und gerade in den reichen Familien entwickelte sich eine weit verbreitete ars moriendi, in der man sich selbstverständlich auf den Tod vorbereitete, sich mit dem Lebensende auseinandersetze und dieses gemeinsam mit der Familie „feierte“; im Fall von Herrschern auch öffentlich im Angesicht des Volkes (ebd.: 245f.). Der Tod war im wahrsten Sinne des Wortes ein ständiger Begleiter des Lebens, etwa durch Krankheiten wie Pest und Typhus. Dies ging sogar soweit, dass man auf Friedhöfen wohnte, dort Volksfeste feierte (ebd.: 251) und Leichenteile mit sich führte, da diese Glück bringen sollten (das berühmte „Daumen drücken“ geht darauf zurück). Kulturelle Überlieferungen dieser Praxis sind nicht nur die Totentanz-Fresken, wie bspw. in der Abteikirche La Chaise-Dieu oder auf dem Camposanto in Pisa, sondern auch die „Jeder-Mann“-Schauspiele (Passionsschauspiele) sowie die „Conflictus-Literatur“ (Streitgespräche zwischen Mensch und Tod) (Schadewaldt 1984).

Abb. 1: Bernd Notke, Danse Macabre

Mit der Auslagerung der Friedhöfe aus den Innenstädten der mittelalterlichen Städte verschwanden nicht nur Krankheiten aus den 2

Im Deutschen findet sich eher die Bezeichnung „Siechenhaus“.

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LARS ALLOLIO-NÄCKE: PALLIATIVSTATIONEN

Städten, sondern auch die Toten und die Erinnerung an sie; die viel eingeübte ars moriendi verschwand nach und nach aus den Köpfen und den Körpern. Seither starb man anonym, versteckt und privat (Kessel 1993: 265ff.). Im 19. Jahrhundert wird der Gedanke der Beherbergung wieder aufgegriffen und es entstehen die ersten Hospize. Auch wenn in den öffentlichen Diskursen lange Zeit nicht präsent, gibt es schon seit mehr als 150 Jahren eine Gegenbewegung zur klassischen Apparatemedizin, die das Sterben von Menschen akzeptiert, statt auf Austherapierung bis ans Lebensende zu setzen. Diese Gegenbewegung lässt sich mit dem Motto einer Vorreiterin der Palliativmedizin, Cicely Saunders auf den Begriff bringen: „Hugh person, low technology“. Diese Bewegung ist unter dem Namen „Hospizbewegung“ bekannt; weniger bekannt ist, dass das erste „moderne“ Hospiz bereits 1842 in Lyon, Frankreich entstand, gefolgt vom Our Ladies Hospice in Dublin, Irland und 1905 vom St. Joseph Hospice, in London, Großbritannien. London ist auch der Ort, wo das erste stationäre Hospiz 1967 eröffnet wird (St. Christopher Hospice), dem erst 1986 in Deutschland ein weiteres folgt. Während Hospize zumeist private oder in kirchlicher Hand befindliche und auf Pflege und Begleitung spezialisierte Einrichtungen sind, so finden sich in Deutschland auch professionalisierte, auf medizinische Versorgung spezialisierte Palliativstationen in Krankenhäusern. Die erste Station dieser Art wurde 1983 in Aachen eröffnet, heute gibt es mehr als 231 Palliativstationen an deutschen Krankenhäusern. Das Wort „palliativ“ im Wort Palliativmedizin geht auf das lateinische Wort pallium (Mantel) bzw. palliare (mit einem Mantel umhüllen) zurück, dass die Funktion und Aufgabe beschreibt, die der Palliativmedizin innerhalb des Faches zukommt: Symptomlinderung und Verbesserung der Lebensqualität von schwerstkranken PatientInnen oder von PatientInnen mit finalen Diagnosen. Im Gegensatz zum Hospiz ist die Verweildauer der PatientInnen hier sehr kurz, da es hier nicht um Beherbergung, sondern um die Linderung von Schmerzen oder anderen Symptomen geht, mit dem Ziel, dass die PatientInnen in ihr „normales“ Leben, z.B. in ihre Familie zurückkehren und dort sterben können. Allerdings ist die Sterberate auf einer Palliativstation nicht gering, immerhin sterben rund 40% der PatientInnen auf der Station, statistisch mehr als eine Person am Tag – und schon deshalb müssen sich die 207

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Palliativstationen von „normalen“ Krankenhausstationen unterscheiden; sie etablieren implizit damit eine neu entstehende ars moriendi. Während im Hospiz viele Dinge des gewohnten Alltags möglich und selbstverständlich sind, gelten auf Palliativstationen spezielle bauliche und hygienische Vorgaben, die für alle Stationen eines Krankenhauses vorgeschrieben sind; hinzukommen Brandschutz- und Besucherregelungen. Diese Aspekte gilt es bei der Aufgabe zu berücksichtigen, Lebensqualität zu sichern und zu verbessern, wobei psychologische und spirituelle Aspekte ebenso einbezogen werden müssen wie soziale Dimensionen, die etwa nahestehende Personen und Verwandte betreffen. Vieles kollidiert hier mit den Krankenhausregeln, etwa das geliebte Haustier, dass aus hygienischen Gründen nicht überall geduldet wird. Wie solche Fälle gehandhabt werden und wie sich – trotz der Krankenhausumgebung – psychosoziale, spirituelle, rituelle, ästhetische und Alltag herstellende Aspekte in eine Palliativstation integriert werden können, ist der Ausgangspunkt unseres Interesses. Die diesbezüglichen ersten Forschungsergebnisse sollen hier vorgestellt werden.

Methodologische Anmerkungen Die zugrundeliegenden Fotoserien (hier in Auswahl) entstanden mit freundlicher Genehmigung und Unterstützung der jeweiligen Klinikleitungen bzw. LeiterInnen der Palliativstationen in zwei Privatkliniken im Freistaat Thüringen und zwei Universitätsklinika im Freistaat Bayern.3 Es handelt sich dabei um eine Auswahl, die auf persönlichen Kontakten beruht. Eine Zufallsauswahl ist an dieser Stelle auch nicht erforderlich, da es uns nicht um Ver3

Ich danke hiermit Dr. med. Beate Will, Leitende Ärztin, Klinik für Palliativmedizin, Zentralklinik Bad Berka GmbH, Dr. med. Sabine Sonntag-Koch, Leitende Ärztin, Abteilung Palliativmedizin und Schmerztherapie, HELIOS Kliniken Erfurt GmbH, Prof. Dr. med. Christoph Ostgathe, Leiter der Palliativmedizinischen Abteilung, Universitätsklinikum Erlangen sowie Dr. med. Birgitt van Oorschot, Leitende Oberärztin, Interdisziplinäres Zentrum für Palliativmedizin, Klinik für Strahlentherapie, Universitätsklinikum Würzburg für die Unterstützung und den Zugang zu den Palliativstationen. Mein Dank gilt auch den Leitungen der Krankenhäuser für die Genehmigung zur Teilnahme an unserem kleinen Forschungsprojekt.

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LARS ALLOLIO-NÄCKE: PALLIATIVSTATIONEN

gleichsstudien, sondern um die Erhebung von wünschenswerten qualitativen Kriterien für die Gestaltung von Palliativstationen ging. Diese Kritierien haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern können und sollen die Basis für weitergehende Empfehlungen sein. Den Hintergrund für unsere Untersuchungen und für die Idee, die ästhetische Gestaltung von Palliativstationen zu untersuchen, bildet eine seit Mai 2011 von der Bauministerkonferenz herausgegebene Planungshilfe für die baulich-funktionalen Anforderungen für Palliativstationen (vgl. ARGEBAU 2011). Diese Planungshilfe wurde zwischen 2009 und 2011 von der Fachkommission Bau- und Kostenplanung der Bauministerkonferenz der Länder erarbeitet, in der Bauingenieure und Architekten in Vertretung der Bundesländer arbeiteten. Das Ziel der Planungshilfe sind Hinweise und Empfehlungen für die bauliche und strukturelle Planung einschließlich von Ausstattungsmerkmalen palliativmedizinischer Einrichtungen auf der Basis von Auswertungen bisher gebauter Palliativstationen (ebd.: 4). Dabei entstand eine Planungshilfe, die sowohl wirtschaftliche und prozessorientierte Aspekte sowie pflegegerechte Entwurfslösungen für Krankenhausbaumaßnahmen ermöglichen soll. Mit den ärztlichen Leitungen und Verwaltungsvertretern der 21 ausgewerteten Palliativstationen wurden Interviews geführt, die in die Auswertung einflossen (ebd.: 34). Wie bei staatlichen Baumaßnahmen üblich, konzentrieren sich die Qualitätsmerkmale auf die „festen Bauteile wie Mauern, Wände, Fußböden“; d.h. die Einrichtung bzw. innenarchitektonischen Aspekte sind eher zufällig berücksichtigt. Hinzu kommt, dass in der Arbeitsgruppe die „Nutzerperspektive“ nicht repräsentiert war, d.h. ÄrztInnen, Pflegende, MitarbeiterInnen psychosozialer Berufsgruppen oder gar PatientInnen kamen nicht zu Wort (ebd.: 2). Dies erklärt, warum diese Planungshilfe – so gut und informativ sie auch ist – nicht in der Lage ist zu vermitteln, was die ästhetischen Dimensionen von Palliativstationen konkret ausmacht. Ein Beispiel: „Der Innenbereich der Palliativstation ist adäquat der hier betreuten Palliativpatienten und ihrer Angehörigen zu gestalten. Einerseits sind alle Möglichkeiten eines Krankenhauses zur Verfügung zu stellen, andererseits gilt es, die räumliche Gestaltung wohnlicher und die Atmosphäre ruhiger auszubilden. Das Ziel, der Station einen besonders angenehmen Charakter zu verleihen, ohne die hygienisch-

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pflegerischen Anforderungen zu vernachlässigen, wird durch haptisch angenehme Oberflächen erreicht“ (ebd.: 18).

Was man sich unter einer „wohnlichen Gestaltung“ bzw. unter einer „haptisch angenehmen Oberfläche“ vorstellt, wird individuell stark variieren, so dass diese Formulierung als Planungshilfe zwar taugt, in der praktischen Umsetzung aber nicht brauchbar ist. Deshalb erschien uns der Zugang über (fotografische) Beispiele besser geeignet, Empfehlungen zur ästhetischen Gestaltung von Palliativstationen abzuleiten. Darüberhinaus zeigen die Beispiele Formen von best practice, die einer erneuten Planungshilfe beigefügt werden könnten bzw. sollten. Die meisten der derzeit in der Planungshilfe vorhanden Abbildungen von acht verschiedenen Palliativstationen sind zu diesem Zwecke völlig ungeeignet, da sie eher wie Pressefotos wirken, die zu Werbezwecken aufgenommen wurden. Sie muten daher entweder wie ein Hotelkatalog an oder zeigen Fotos von PatientInnen, die wenig von der ästhetischen Gestaltung der Räumlichkeiten sichtbar machen. Zudem sind sie lediglich illustrierend, jedoch nicht bewertend, so dass sie als Handlungsanleitung unbrauchbar sind. Bei der ästhetischen Beurteilung der Gestaltung der Palliativstationen kann man nicht auf eine Lehrbuch oder eine Methode zurückgreifen. Sie gibt es schlicht nicht. Selbst im Standardwerk Einführung in die psychologische Ästhetik (Allesch 2006) lassen sich keine wahrnehmungspsychologischen Begründungen finden, auf die sich ein Urteil stützen kann. Insofern greife ich bei meinen Überlegungen einerseits auf Interviews mit PatientInnen und andererseits auf die eigene ästhetische Wahrnehmung zurück. Schließlich soll die Analyse nicht dazu dienen, die hier zu vergleichenden Stationen in gut und schlecht gestaltete einzuteilen; alle Stationen haben Vor- und Nachteile. Vielmehr soll der Vergleich eben jene best practices herauszuarbeiten ermöglichen, nämlich anschaulich zu zeigen, was mit den oben zitierten „Anregungen“ gemeint sein sollte. Bei der Beurteilung zu berücksichtigen ist weiterhin, dass sich die Palliativstationen in unterschiedlicher Trägerschaft befinden, was Auswirkungen auf die konkrete Gestaltung der Stationen hat – je nachdem wie hoch der ökonomische Faktor gewichtet wird. Das ist bei einem privaten Träger immer eher der Fall, als etwa an einem Universitätsklinikum, wie man auf den Fotos sehen kann. Es soll daher nicht darum gehen,

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LARS ALLOLIO-NÄCKE: PALLIATIVSTATIONEN

unrealistische Gestaltungsanforderungen aufzustellen, die die privaten Träger gar nicht erfüllen können, wenn sie annähernd wirtschaftlich arbeiten wollen (die empfohlenen 8-10 Betten pro Station sind vielleicht kostendeckend, aber nicht gewinnbringend einzurichten); sondern es geht darum, Anstöße zu geben, wie man auch bei begrenzten Ressourcen möglichst optimale Ergebnisse erzielen kann.

Eingangsbereich, Flur und Farbkonzept Beginnen wir den Rundgang im öffentlichen Bereich: Eingangsbereich, Flur und Farbkonzept. Die folgende Tabelle sowie einige exemplarische Fotos sollen anschaulich verdeutlichen, wie ich vorgegangen bin und auf welche Aspekte ich Wert gelegt habe, um somit zu ästhetischen Urteilen zu kommen. Bad Berka

Uniklinikum Würzburg

Uniklinik Erlangen

Separat gestaltet

Kein zentraler Ein-

Treppenhaus bereits gestal-

Großräumig hell,

als Aufenthalts-

gangsbereich, es

tet, allerdings kein zentraler

kein Aufenthalts-

raum und Gesel-

dominiert die Weite

Eingangsbereich, Blumen

bereich, sondern

ligkeitsraum

des Wintergartens

empfangen einen am Ein-

Empfangsbereich,

Aquarium, viele

mit vielen Pflanzen;

gang, harmonieren mit

dezente Präsenz

Pflanzen;

Zentralbereich ist

Bild/ Farbkonzept

des Todes – bren-

Im Mittelpunkt

das Stationszim-

nende Kerze als

dominiert das

mer, dezente Prä-

Signal für das Per-

Sterben auf der

senz des Todes

sonal

Helios Klinikum Erfurt

Eingangsbereich

Station Freundlich gestal-

Freundlich gestal-

Farbkonzept mit Bildgestal-

Großzügig, viele

tet, mit regionalen

tet, mit wechseln-

tung und Blumen

Pflanzen; gemalte

Plakaten gestaltet,

den Ausstellungen

Bilder an der

damit man an die

verschiedener

Wand; kein Unter-

Stadt erinnert

Künstler; ein Blu-

schied in den Bo-

wird – Teppich im

menstrauß als Mit-

dengestaltung wie

Gegensatz zu den

telpunkt, Teppich

in der Farbgestal-

Zimmern

im Gegensatz zu

tung zu den Zim-

den Zimmern

Flur

mern

Nur für den Flur

Durchgehend für

Einheitliches Farbkonzept

Durchgehendes

vorhanden

Flur und für die

durch farbige Wände (bis

Farbkonzept von

Zimmer

hin zur Individualisierung,

erdfarbenen bis

da kein Zimmer dem ande-

gelb-rötlichen Tö-

ren gleicht), Verbindungs-

nen

Farbkonzept

elemente zw. Zimmern und Fluren sind die Ornamente als Blickangebot

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Was sagen nun die Empfehlungen der ARGEBAU zu diesen Bereichen? Leider sehr sehr wenig, was – wie schon ausgeführt – auf die Zusammensetzung und die strukturelle Verankerung der Projektgruppe in den Bauministerien zurückzuführen ist. Die Planungshilfe konzentriert sich im Wesentlichen auf die PatientInnen, gibt entsprechend Empfehlungen für die PatientInnenzimmer und nur wenige für die gesamte Station. In diesem Sinne findet man lediglich die schon zitierte Formulierung der „wohnlich räumlichen Gestaltung und der ruhigen Atmosphäre mit haptisch angenehmen Oberflächen“; des Weiteren liest man: „[e]ine warme und freundliche Farbgebung verbessert das Behaglichkeitsgefühl. Sie schafft eine belebende Umgebung, die zur psychischen Stabilisierung der Patienten und Angehörigen beitragen kann. […] Entsprechend der Nutzung können verschiedene warme und haptisch angenehme Bodenbeläge eingesetzt werden. […] Die Fußböden müssen qualitativ hochwertig und leicht zu reinigen sein. […] Die öffentlichen Bereiche sind ansprechend zu gestalten“ (ebd.: 18).

Allerdings – und das wird hier vernachlässigt – ist gerade der Eingangsbereich psychologisch extrem wichtig, denn er vermittelt einen ersten – und meist bleibenden – Eindruck. Zudem kann man sehr oft sagen, dass der Eingangsbereich mehr über die Station und die Abläufe aussagt, als man auf den „ersten Blick“ meint. So wirken lebende Pflanzen oder sogar Blumen – wie auf allen Stationen gesehen – der Erwartungshaltung entgegen mit der ein/e „normale/r“ Patientin oder Angehörige/r auf eine Palliativstation kommt. Denn sie signalisieren: Hier wird nicht gestorben, sondern gelebt! Dagegen hat ein den Mittelpunkt des Eingangsbereiches einnehmendes Erinnerungsbuch an die Verstorbenen inkl. Ritual genau eine Verstärkung des Sterbevorurteils zur Folge. Wenn dann auch noch dieser Bereich aus Mangel an weiteren Räumlichkeiten zum zentralen Aufenthalts- und Geselligkeitsbereich wird, mag man sich das Ausmaß zur Geselligkeit vorstellen, das sich hier einstellt; und eine wahrnehmbare wohnlich-angenehme Atmosphäre wird dort auch kaum entstehen. Allerdings soll dies kein Votum dafür sein, die Präsenz des Todes nicht zu thematisieren, dies kann jedoch, wie auf einem Foto aus Erlangen zu sehen ist (s.u.), auf andere, dezentere Weise geschehen, z.B. durch eine

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brennende Kerze4 im Eingangsbereich, die allen Besuchern signalisiert, dass heute jemand gestorben ist; oder man kann für jeden Verstorbenen eine Blume kaufen, die, bis sie verwelkt ist, neben den frischen Blumen in der Vase verbleibt. Wichtig erscheint mir der Empfangsbereich auch als erster Begegnungsort mit einer Palliativstation kommt. Das Maß an Verunsicherung, das einen eingreift, wenn man das erste Mal auf eine solche Station kommt, ist wohl recht hoch; und diese Verunsicherung kann man selbst dann verspüren, wenn auf der Station keine Angehörigen oder Freunde liegen, die man besucht. Ein Empfangsbereich, an dem ich in der Regel eine Person antreffen kann, die mich annimmt, anspricht und mir den Weg weist, entlastet. Wirkt dieser Bereich hell, Licht durchflutet und freundlich, z.B. weil er Pflanzen enthält oder ein einer „warmen“ Farbe gestaltet ist, so trägt dies sicher weiter zur Entlastung bei. Nicht immer lässt sich ein solcher Eingangsbereich baulich realisieren, etwa wenn bereits bestehende Stationen umfunktioniert bzw. umgestaltet werden, um den Anforderungen zu genügen; ebenso wie nicht immer die räumliche Kapazität vorhanden sein dürfte, um alle zusätzlichen wünschenswerten Räume bereitzustellen. Insofern sind Kombinationen der Empfehlungen Lösungen der Wahl. Betrachtet man die Flure, so ähneln sich diese weitgehend: großzügig und farbig, mehr oder weniger Pflanzen; Bilder an den Wänden, die von den Patienten selbst stammen, über Wechselausstellungen professioneller Künstler und Skulpturen bis hin zu Plakaten reichen. Wirkliche Unterschiede gibt es nur beim Fußbodenbelag: Einmal sind die Flure mit Teppich, dann wiederum mit Parkett oder Linoleum ausgekleidet. Alle drei Varianten finden sich ex- oder implizit in den Empfehlungen der ARGEBAU, jedoch nicht für den Flur. Hier findet sich die Empfehlung den Fußbodenbelag „entsprechend der Nutzung zu wählen, z.B. Parkett in den Patientenbereichen, Teppichboden im Raum der Stille“ (ebd.: 18). Wie funktional Teppich im Flurbereich ist, kann wohl diskutiert, dass er i.d.R. jedoch zu einer wohnlichen Atmosphäre beiträgt, nicht bestritten werden. Einen ähnlichen Effekt wird man auch mit Parkett erreichen; Linoleum erschient zwar aus hygieni4

Aus Gründen des Brandschutzes ist eine brennende Kerze umstritten, wird aber auf fast allen Stationen praktiziert.

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schen Gründen gut geeignet, um jedoch eine wohnliche angenehme Atmosphäre und eine dezidiert zum übrigen Krankenhaus andere Gestaltung zu erreichen, ist es ungeeignet. Wichtiger als die gerade diskutierten Punkte erscheint mir aber der Aspekt, ob das Konzept der Flurgestaltung in die anderen Räume, insbesondere in die PatientInnenzimmer hineinreicht oder nicht. An diesem Punkt „hängt“ – so meine ich – die Entwicklung eines Gefühls, „zu Hause zu sein“; oder der Schein des Andersseins bleibt und das Eingehen auf die Bedürfnisse der PatientInnen löst sich hinter der PatientInnenzimmertür auf. Auch hier finden sich beide Varianten.

In Erlangen und Bad Berka findet sich ein durchgehendes Farbkonzept von erdfarbenen bis gelb-rötlichen bzw. grün-blauen Tönen (Bild 1 + 2), die von der Wandbemalung bis hin zu Gardinen reichen. In Würzburg finden wir das gleiche Konzept, wobei mit den Ornamenten (Bild 3 + 4) auch Übergangs- und damit Durchlässigkeitsformen vom Flur zum PatientInnenzimmer geschaffen wurden.

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Die Farbgestaltung geht sogar soweit – wie dies auch die ARGEBAU fordert (ebd.: 18), die Zimmer zwar in einem allgemeinen Farbkonzept zu gestalten, jedoch so individualisiert, das kein Zimmer dem anderen gleicht – eine einfache, aber wirkungsvolle Variante der Personalisierung des Raumes. In Erfurt sind die Zimmer zwar freundlich, hell und farbig gestaltet (Bild 5), ein erkennbares Gesamtfarbkonzept allerdings gibt es nicht. Das Zimmer wirkt – insbesondere durch die StandardEinbaunasszelle – dann doch wieder wie ein „normales“ Krankenhauszimmer, zumal sich die farblich gestaltete Wand nicht im Blickfeld, sondern hinter dem/der Patient/in, in seinem/ihrem Blickfeld stattdessen eine weiße Wand liegt. Der erkennbare Bruch zwischen „wohnlicher, warmer Atmosphäre“ und dem recht kühl gestaltetem Patientenzimmer wird auch nicht durch den in etwa gleicher Farbe gestalteten Fußboden kompensiert; denn der liegt in der Regel nicht im Blickfeld des/der Patienten/in und Angehörigen und bietet als Linoleum wohl auch dürtigere ästhetische Erfahrungen im Vergleich mit denen, die die Flurgestaltung möglicht macht.

Das Patientenzimmer Es kann sehr einfach sein, ein PatientInnenzimmer zu personalisieren und somit eine angenehme Atmosphäre herzustellen; man braucht keinesfalls Einbaukühlschrank und Tresor vorzuhalten, wie es die ARGEBAU (ebd.: 20) vorschlägt; eine Palliativmedizinische Abteilung ist nämlich kein Hotel. Stattdessen geht es um Kleinigkeiten, die es zu beachten gilt, und die mit wenig oder kaum finanziellem Aufwand realisiert werden können. Das Wichtigste ist, dass PatientInnen persönliche Gegenstände und Dinge in diesem Zimmer haben können, Dinge, die sie mit ihrem geregelten Alltagsleben, mit schönen Momenten und Erinnerungen verbinden. Ist dies gewährleistet, kann man kaum noch

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etwas falsch machen – aber dass man es kann, soll im Folgenden gezeigt werden. Wenden wir uns zunächst dem Naheliegenden – im Wörtlichen Sinne – zu: dem Nacht- oder Beistelltisch. Üblicherweise sind diese Tische hygienisch sauber zu halten, Persönliches ist in einer Schublade oder einem Fach zu verstauen und die Tischfläche oberhalb freizuhalten. Auf Palliativstationen ist man da großzügiger (Bild 6). Nicht nur, dass es erwünscht ist, die Dinge nahe bei sich zu haben, die einem ein heimisches Gefühl verleihen, wie z.B. Bilder von Angehörigen und Haustieren, Lieblingsgetränke und -speißen etc.; es sind auch Dinge erlaubt, die im „normalen“ Patientenzimmer nichts zu suchen haben, z.B. das Glas Wein am Abend, das man gern trinkt. Ein üblicher Nachtisch ist jedoch i.d.R. sehr klein, weswegen die meisten Zimmer zusätzlich Tische enthalten, auf denen ebenfalls persönliche Gegenstände Platz haben können. Platziert man diese nahe am PatientInnenbett, können sie den Nachtschrank sogar ersetzen. Gern angenommen wird die Möglichkeit nicht nur eigene Nachtwäsche tragen zu dürfen, sondern auch eigene Bettwäsche mitzubringen und in dieser zu schlafen. Nicht alle Palliativstationen lassen dies zu; Grund hierfür sind die Kosten, die bei der Reinigung entstehen, wenn keine Standardwäsche verwendet wird. Dass man Angehörigen das Waschen überlassen kann, ist den betreffenden Krankenhäusern noch nicht in den Sinn gekommen. Und so ist das wie bei den meisten Dingen: Verbieten ist immer der einfachste Weg, statt kreativ nach Lösungen zu suchen, die kostenarm oder sogar kosten neutral zu realisieren wären. Wenden wir uns nun dem bettferneren Dingen zu: Interessanterweise finden sich in vielen der besuchten PatientInnenzimmer direkt im Blickfeld des liegenden bzw. leicht im Bett lehnenden Patienten der Feuermelder (Bild 7). Nun mag man sich streiten, ob dieser zur Beruhigung des/der PatientInnen beiträgt, wahrnehmungspsychologisch hat er da nichts zu suchen, ebenso wie man 216

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davon abgekommen ist, den Fernseher im direkten Blickfeld zu montieren. Ins Blickfeld der PatientInnen gehören Sichtanreize und keine Sichtzwänge. Ebenso sollten nackte Wände, egal wie einfarbig sie gestaltet sind, vermieden werden – insbesondere dann, wenn Sie im Rücken des/der PatientInnen liegen, denn dann haben sie keine Funktion für ihn oder sie, sondern sind Schmuck für das Personal und den Besuch. Auch in einer Phase, in der ein/e PatientIn auf den Tod „zugeht“, sind Anreize von außen sehr wichtig, sie halten quasi den Kopf „in Bewegung“, denn er/sie hat immer etwas zu tun – statt bei einer weißen Wand einfach abzuschalten und wegzudösen. Ein simples, schönes und wirksames Bsp. findet sich in Würzburg (Bild 3 + 4). Ein anderes ist das Aufhängen eigener Bilder, was bisher noch nicht auf allen Stationen gegeben ist. Dabei ist der Vorschlag der ARGEBAU durchaus hervorzuheben, eine Bilderleiste als Umlaufleiste zu realisieren – so erweitert sich das Blickfeld und der/die Patient/in wird aktiviert, sich – sofern er/sie kann – zu bewegen. In dem gleichen Sinne wäre das Aufstellen eines Radios oder CD-Spielers wünschenswert – möglichst nicht als Multifunktionsgerät am Bett, wie es derzeit Mode ist. Hören ist ein Erlebnis, das Raum braucht. Die kopfhörerbetriebenen Multifunktionsgeräte am Bett sind sicherlich lärmvermeidend – nur sollte man fragen, wer davor bewahrt werden soll. Zum Blickfeld ist zu ergänzen, dass dieses nicht nur die Wand gegenüber betrifft, sondern insbesondere auch die Decke. Nur eine von vier Decken war gestaltet (Bild 8), obwohl mit hoher Wahrscheinlichkeit der Anteil der PatientInnen, die liegen (müssen), höher sein dürfte, als derjenige, der im Bett sitzt. Diese Decke war auch die Einzige, die „Lichtspiele“, also ein Abdimmen des Lichtes, und das An- und Ausschalten von verschiedenen Einzelelementen u.a. 217

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ermöglichte. Ansonsten dominierte eher grelles gleisendes Licht; in Bad Berka sogar im direkten Blick des/der Patienten/in, so dass er/sie sich aktiv aus dem Lichtkegel wegdrehen muss, um nicht in die Lampe hineinzuschauen. Warum das in diesem speziellen Falle so ist, ist jedoch dem Umstand geschuldet, dass ein Teil der Patienten hier auf eine dunkle Steinwand schaut, während in allen anderen Fällen die PatientInnen helle und weite bzw. direkte Sicht ins Grüne und damit Lebendige haben. Schließlich erfüllen diese Räume auch psychosoziale und spirituelle Bedürfnisse. Für ersteres bietet jede der untersuchten Stationen eine Möglichkeit für Angehörige zu übernachten: sei es in Form eines Beistellbetts (Erfurt, Würzburg), in Form eines sich im gleichen Raum befindlichen Schlafsofas (Erfurt, Bad Berka) oder auch in Form ein separaten Raums, denn nicht jeder Angehöriger möchte neben einer/einem Sterbenden einschlafen (Erlangen). Es kommt nicht selten vor, dass einzelne Angehörige oder Familien insbesondere die letzten Tage mit der/dem Sterbenden verbringen; dann werden Geschichten ausgetauscht, Gebete gesprochen oder man sucht einfach nur Nähe. Nur in einer Station waren religiösen Elemente sichtbar angebracht. Im katholischen Würzburg hing in jedem Zimmer ein Kreuz, das aber nicht den Gekreuzigten trug. Dennoch ist die Praxis, die in allen drei anderen Fällen zur Anwendung kam, aus Gründen der religiösen Neutralität dieser Gestaltung vorzuziehen: In der Regel besucht der/die Krankenhausseelsorger/in den/die Patientin am Bett und fragt, ob ein religiöses Symbol gewünscht wird. Ist dies der Fall, gibt es einen Platz, dieses an der Wand aufzuhängen oder auf dem Tisch aufzustellen.

„Wohnzimmer“ und Raum der Stille Schon aus der Aufstellung der Nutzungsmöglichkeiten des „Wohnzimmer-Raumes“, die durch die ARGEBAU empfohlen werden: 1. Aufenthalt und Kommunikation von Patienten, Angehörigen und Pflegekräften; 2. Abhalten von Gruppentherapien; 3. Zubereitung von Speisen; 4. Ausrichten kleiner Feiern; 5. Fernsehen und Musik hören.

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wird deutlich, dass das „Wohnzimmer“ kein Wohnzimmer im herkömmlichen Wortsinn, sondern ein Aufenthalts- bzw. Multifunktionsraum ist. Insofern bestehen hier sowohl vielfältige Möglichkeiten, den Raum zu gestalten, aber auch nur wenige, um den Raum wirklich „wohnlich“ zu gestalten; dies gelingt bei kleineren Räumen deutlich besser als bei größeren, auch wenn hier dann die Betonung auf dem „Wohn-“ statt auf dem „Aufenthalt“saspekt liegt. Sicherlich sollte man der ARGEBAU folgen, wenn sie eine Kinderspielecke und verschiedene, kombinierbare Sitzgruppen (siehe Erlangen) fordert. Die Kinderspielecke würde ich persönlich als mobile anlegen; nicht jedes Ereignis, das in diesem Raum stattfindet, sollte angesichts von Kinderspielzeug stattfinden. Interessanter erscheint mir der Raum der Stille zu sein, den es nur in den Universitätsklinika gab, der jedoch eine sehr wichtige Bedeutung hat und insofern auf jeder Palliativstation vorhanden sein sollte. Auch beim Raum der Stille hält sich die ARGEBAU ungewöhnlich zurück, wenn sie als einzige ästhetische Empfehlung angibt: „Als Platz und Gelegenheit für Spiritualität ist der Raum stimmungsvoll zu gestalten und auszustatten (Licht, Wandund Deckenbehänge, Sitzgelegenheiten etc.)“ (ebd.: 21). Das ist natürlich für eine Raum, der: 1. Andachtsraum; 2. Therapieraum (Klang- und Musikraum; Entspannungs- und Lichtraum); 3. Verabschiedungsraum von der/dem Toten; 4. Raum für Personalgepräche

sein soll, sehr wenig an Empfehlung. Auf den Fotos der beiden Räume aus Erlangen und Würzburg (Bild 9 + 10) kann man die ersten drei Nutzungsvorschläge sehr gut realsiiert wiederfinden, die vierte weniger, was aber eher daran liegt, dass die Räumlichkeiten im Übrigen sehr großzügig bemessen sind und es ein separates geeignetes Personalzimmer gibt.

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Personalgespräche bedeuten hier nicht, jemanden zu loben oder zu rügen, sondern diese Gespräche dienen dem Personal, um z.B. ritualisiert von jüngst Verstorbenen Abschied zu nehmen oder in der Teamsitzung Probleme mit bestimmten Patienten bzw. deren Krankheiten zu besprechen. Der Raum der Stille ist dieser Raum ein Raum für alle: Patienten, Angehörige und Personal. Er ist ein Rückzugsraum und trotz seiner Titulierung als „Raum der Stille“ im Wesentlichen ein Kommunikationsraum: zwischen Patient und Angehörigen, um gemeinsam über die schwierige Situation und Zukunft zu reden, zwischen Patient und Seelsorger oder Psychologen, zwischen dem Personal, um Trauer zu verarbeiten usw. Was die ästhetische Gestaltung anbetrifft, sind Erlangen und Würzburg sehr gute Beispiele. Die Vorhänge nehmen die Ecken und Kanten aus dem Raum und können (Bild 11), sofern man möchte, auch ganz um einen herum geschlossen werden. Das Licht ist im Gegensatz zu anderen Räumen eher gedämpft, es können bunte Lichter angemacht und Musik eingespielt werden. Was ich in beiden Räumen vermisst habe, war eine Gelegenheit sich hinzulegen, allerdings sind die Räume auch nicht so großzügig, dass ein Bett oder Sofa Platz hätte; und je größer der Raum ist, desto weniger Geborgenheit vermittelt er, so dass man ihn dann wieder teilen müsste. Insofern dient wohl der Fußboden als Liegefläche, denn der Raum kann beheizt und gekühlt werden. Allerdings sind beide Bodenbeläge m.E. nicht geeignet, um zum Hinlegen einzuladen – die ARGEBAU schlägt hier Teppichboden vor. Wenden wir uns einem letzten mit diesem Raum verbundenen Thema zu: dem Umgang mit Abschied und Trauer. Dieses Thema ist – neben dem Primat des Patientenwillens, so die ARGEBAU – der zweite wichtige ethische Aspekt, der mit der hier entstehenden ars moriendi verbunden ist. Neu an Stationen für Palliativmedizin ist, dass sie einen Modus des Umgangs mit Abschied und Trauer gefunden und diesen fest in ihren Ablauf integriert haben.

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Zu unterscheiden sind dabei Rituale, die das Personal, Rituale, die die Angehörigen, sowie Rituale, die beide Gruppen betreffen. Die Rituale des Personals zielen auf die Psychohygiene der Beschäftigten, denn an einem Platz zu arbeiten, wo täglich Menschen sterben, ist keine leichte Aufgabe. So ist es auf den hier untersuchten Palliativstationen üblich, jeder verstorbenen Person mit einem kleinen Ritual zu gedenken und diese zu verabschieden. So treffen sich die Beschäftigten der Station in Erfurt einmal in der Woche zu einem Meeting, bei dem von den in der Woche Verstorbenen Abschied genommen wird. Zu diesem Ritual gehören das Anzünden einer Kerze, die Rezitation eines Gedenkspruchs und das Verlesen der Namen der Verstorbenen. Zudem wird für jeden Verstorbenen eine weiße Rose im Eingangsbereich in eine Vase gestellt und diese verbleibt dort, bis sie verwelkt ist. Im Anschluss wird der Kopf der Rose in einer sichtbaren Vase aufgehoben (Bild 12). Mit dieser sichtbaren Geste wird der „stille“ Abschied quasi in die Öffentlichkeit getragen, sodass auch die Angehörigen am Abschied teilhaben können. Diese wiederum tragen, wenn sie möchten, ihre Worte des Trauerns aber auch Wünsche und Worte der Dankbarkeit in ein Gedenkbuch ein (Bild 13), das wiederum während des Personalrituals im Zentrum der Gruppe auf dem Tisch liegt, ebenso wie die bereits erwähnte Rose. Neben diesem zeitnahen Ritual veranstalten die untersuchten Palliativstationen ein bis vier Mal im Jahr eine offizielle Gedenkfeier, zu der alle Angehörigen eingeladen werden. In Erfurt werden dann die getrockneten Rosenköpfe einzeln entnommen und der Name des Verstorbenen verlesen, um damit den mit dem Ritual auf der Station begonnenen Prozess der Trauer abzuschließen. Diese Gedenkfeiern werden gern angenommen. Problematisch erweisen sie sich im Osten der Bundesrepublik, wenn die Ze221

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remonien von Geistlichen durchgeführt werden oder wenn die Rituale in einer Kirche bzw. Kapelle stattfinden. Nicht immer sind Nicht-Gläubige bereit, sich christlichen Ritualen zu unterwerfen. Ähnliche Probleme können entstehen, wenn andere Konfessionen beteiligt sind; bspw. zunehmend der Islam. Eine Lösung, die in Bad Berka gefunden wurde, ist, die Trauerfeier nicht von einem Geistlichen, aber in einer entwidmeten Kirche durchzuführen; hiermit geht man quasi einen Kompromiss ein. In Würzburg sind die Probleme ganz anders gelagert, denn dort kommen nun auch die „Gastarbeiter“ der 1960er und 1970er Jahre mittlerweile auf die Palliativstation. Bisher ist das Gedenkritual hier ein ökumenischer Gottesdienst. Eine zukünftige Herausforderung wird es deshalb sein, hier ein Ritual zu entwickeln, dass es ggf. erlaubt, es weiterhin christlich zu vollziehen; dieses müßte allerdings so gestaltet werden, das es inklusiv ist und andere Gruppen, wie bspw. Muslime, nicht ausschließt.

Fazit Palliativmedizin und Palliativstationen verändern langsam aber merklich unseren gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod. Während das Hospiz kaum in die öffentliche Wahrnehmung tritt, rücken die Palliativstationen zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit wie der Privatpersonen – oftmals dann, wenn es um die Frage einer Patientenverfügung geht. Viele Angehörige – die PatientInnen ohnehin – sind i.d.R. froh und dankbar, auf den Palliativstationen ihren Verwandten und Freunden nahe sein zu können. Sie nehmen die dort neu entstehende ars moriendi und die Angebote der Stationen gerne an. Durch die Präsenz des Personals und die medizinische Versorgung kann meist der Todeszeitpunkt gut eingegrenzt und eingeschätzt werden, so dass die Wahrscheinlichkeit, dass Angehörige die Sterbenden im Augenblick des Sterbens begleiten können, recht hoch ist. Durch die sedierende Wirkung vom schmerzlindernden Medikamenten (z.B. Morphium) kann sichtbares Leiden „ummantelt“ werden und steht nicht zentral im Bewusstsein von Patient/in und Angehörigen. Sodann wird auch die Möglichkeit, für PatientInnen Leidens- und Sterbeprozesse durch Unterlassen von medizinischer oder anderer Hilfe zu verkürzen (Präambel der Grundsätze der Bundesärztekammer zur Ärztlichen Sterbebegleitung, 2004), unser Verhältnis zum

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Sterben bzw. zum Tod nachhaltig verändern. Schließlich nehmen Angehörige wie Personal an neu etablierten Ritualen teil, die dem/der Verstorbenen gedenken und eine (gemeinsame) Trauerphase erlauben. Wie gezeigt, bleibt diese Verbindung auch über den realen Tod hinaus bestehen; sei es als Eintrag in das Erinnerungsbuch der Stationen für das Personal oder als gemeinsames Abschiedsritual der Angehörigen der in einem Zeitraum Verstorbenen. Dem Tod bzw. dem Sterben wird so zwar nicht der Schrecken genommen, aber er bzw. es rückt damit wieder in ein beherrschbares und wohl auch ertragbares Verhältnis.

Literatur ARGEBAU (2011): „Planungshilfe. Palliativstationen. Baulichfunktionale Anforderungen. Abschlussbericht Mai 2011“. Online-Publikation: http://www.bauministerkonferenz.de/ IndexSearch.aspx?method=get&File=b8a84yy3y8b984808abb4 yb8y9ya8ayyb9y884b94ya2a0a149a2a2a3484b80b8y0zkz0h33p 0wc0ewitr02ndvx0 (Stand: 13.10.2014). Bundesärztekammer (2004): „Grundsätze der Bundesärztekammer zur Ärztlichen Sterbebegleitung“. Online-Publikation: http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/sterbebegl eitung_17022011.pdf (Stand: 13.10.2014). Dinzelbacher, Peter (1993): „Sterben/Tod: Mittelalter“. In: Ders. (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. Stuttgart: Alfred Kröner, S. 245-260. Kessel, Martina (1993): „Sterben/Tod: Neuzeit“. In: Dinzelbacher, Peter (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. Stuttgart: Alfred Kröner, S. 260-274. Schadewaldt, Hans (1984): „Bilder vom Tod. Meditationen über Totentänze“. In: Winau, Rolf/Rosenmeier, Hans Peter (Hg.): Tod und Sterben. Berlin: De Gruyter, S. 77-101.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

PETER ACKERMANN Prof. em. für Japanese Studies, FAU LARS ALLOLIO-NÄCKE Akad. Rat für Ev. Theologie, FAU AIDA BOSCH Prof. für Soziologie, FAU MICHAEL VON ENGELHARDT Prof. em. für Soziologie, FAU KONRAD KLEK Prof. für Kirchenmusik, FAU ECKART LIEBAU Prof. em. für Pädagogik, FAU ECKHARD ROCH Prof. für Musikwissenschaft, Universität Würzburg GERT SCHMIDT Prof. em. für Soziologie, FAU ANDRÉ STUDT Akad. Rat für Theater- und Medienwissenschaft, FAU JÖRG ZIRFAS Prof. für Erziehungswissenschaft, Universität zu Köln

Informationen zum Interdisziplinären Zentrum Ästhetische Bildung an der Friedrich-Alexander Universität ErlangenNürnberg (FAU) finden Sie auf: http://www.iz.aesthetische.bildung.phil.uni-erlangen.de

Ästhetik und Bildung Peter Bubmann, Hans Dickel (Hg.) Ästhetische Bildung in der Erinnerungskultur 2014, 208 Seiten, kart., 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2816-6

Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Lust, Rausch und Ekstase Grenzgänge der Ästhetischen Bildung 2013, 208 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2308-6

Günter Gödde, Jörg Zirfas (Hg.) Takt und Taktlosigkeit Über Ordnungen und Unordnungen in Kunst, Kultur und Therapie 2012, 308 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1855-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Ästhetik und Bildung Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Die Bildung des Geschmacks Über die Kunst der sinnlichen Unterscheidung 2011, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1746-7

Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Dramen der Moderne Kontingenz und Tragik im Zeitalter der Freiheit 2010, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1436-7

Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Die Sinne und die Künste Perspektiven ästhetischer Bildung 2008, 276 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-910-7

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