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German Pages 180 [184] Year 2016
Oliver Fohrmann Im Spiegel des Geldes
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Oliver Fohrmann
Im Spiegel des Geldes Bildung und Identität in Zeiten der Ökonomisierung
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Inhalt
Einleitung | 9 Kapitel 1 – Kurze Geschichte der Bildung | 17 Imago Dei – Der Bildungsbegriff vom Mittelalter über Humboldt bis heute – Von der Halbbildung zur Unbildung – Bildung und Ausbildung
Kapitel 2 – Die Ökonomisierung der Bildung | 27 Humboldts scheinbare Rückkehr – Semantische Verschiebungen – Das sakrale Wesen des Geldes – Das Prinzip der Abstraktion – Symbolik und Diabolik – Laute und Schrift – Medien
Kapitel 3 – Die Geburt der Wissenschaft aus dem Geist des Geldes | 41 Geld als Geist der Logik: Naturwissenschaften – Geld als Geist der Wirtschaft: Wirtschaftswissenschaften – Die Rolle der Gleichgewichtstheorie – Die Bedeutung der Effizienz
Kapitel 4 – Bildung, Wirtschaft und Literatur | 55 Die Literarizität der Wirtschaft – Poesie des Geldes – Begriffsbeglaubigungen – Tauschen und täuschen – Fiktion und Realität
Kapitel 5 – Die Entstehung des Geldglaubens | 65 Die Entstehung der Moderne – Geld als Kredit – Symbolische Nachbildungen – Das System Wirtschaft – Kapitalismus
Kapitel 6 – Die Geldes-Ebenbildlichkeit des Menschen | 73 Vom Imago Dei zum Imago Pecuniae – Metaphysik des Geldes
Kapitel 7 – Geld als Gott, Kapitalismus als Religion | 79 Wirtschaft als gute und schlechte Religion – Geld als Fetisch – Vermögen und Schöpferkraft
Kapitel 8 – Die Neuschaffung der Welt zum Bilde des Geldes | 87 Technik und Geld als Körper und Geist einer neuen Welt – Neoliberalismus – Problematik der Rahmenbedingungen
Kapitel 9 – Theorie der Geldbeglaubigung | 99 Vom frühen zum Neuen Neoliberalismus – Ökonomismus
Kapitel 10 – Bildung (in) der Postmoderne | 103 Das Anthropozän – Entdifferenzierungen – Stratifizierte Gesellschaft – Generative Metaphern als Vehikel der Ökonomisierung – Akademischer Kapitalismus – Geldförmigkeit des Bildungswesens
Kapitel 11 – Zombifizierte Bildung | 119 Humboldt als Untoter – Die Aktualität des Zombiemotivs
Kapitel 12 – Einsamkeit und Freiheit | 123 Bildung als Ichwerdung – Humanismus – Neue Bildungsbegriffe und ihre Ökonomisierbarkeit
Kapitel 13 – Der Wert des Eigenen und des Fremden | 135 Inflationen – Eigenwert und Eigentum – Kunst und Wirtschaft – Kunst als Trophäe des Geldes – Bewertung und Verwertung von Bildung
Kapitel 14 – Das Ich und das Geld | 145 Komplementarität von Ich und Geld – Das Ich in der Philosophie – Breithaupts Ich-Effekt des Geldes – Der Ich-Begriff in der Moderne
Kapitel 15 – Auf dem Weg zu einer Kulturwissenschaft der Wirtschaft | 157 Literatur als Garant der Ichwerdung – Ökonomik als Theologie – Bedingungsloses Grundeinkommen als Neo-Rahmenbedingung – Die Neudefinition von Begriffen
Kapitel 16 – Gute Bildung | 167 Neue Aufklärung – Suchen und Finden – Aneignung des Fremden – Ideologien – Selbstbestimmung – Die Unzeitgemäßheit der Universität – Kultur der Stille
Literatur | 177
Einleitung
»Der platteste Topos linker wie rechter Kulturkritik wird so plausibel und wahr wie nie zuvor: die Universität wird ganz und gar zu einer ökonomischen Veranstaltung.«1 So drückt der Germanist Jochen Hörisch eine brisante aktuelle Entwicklung im Bildungswesen aus. Auch Schulen sind davon betroffen. Bildungseinrichtungen aller Art orientieren sich in ihren Handlungsabläufen und Selbstverständnissen an Institutionen aus einem ganz anderen Bereich: der Wirtschaft. In der Tat erscheint diese Erkenntnis ziemlich platt, nicht sehr originell, vor allem nicht sehr neu. Sie wird seit mindestens 200 Jahren auf vielerlei Weise formuliert. Oft wird behauptet, Humboldt, als Sinnbild für eine Universität, die gerade keine ökonomische Veranstaltung ist, sei tot. Das soll heißen, dass das von Wilhelm von Humboldt vertretene (neu-)humanistische Bildungsideal nicht mehr gültig sei. Wir wollen mit dieser Studie eine davon leicht abweichende These stützen: Humboldt ist nicht nur tot, sondern untot. Sein Bildungsideal ist in der Tat nicht mehr gültig, es sieht aber so aus als ob. Die vorliegende Studie möchte im Detail begründen, dass das heute vorherrschende, im Sinne des obigen Zitats ganz und gar ökonomisierte Bildungsideal nicht einfach ein Gegenentwurf zu dem ist, was Humboldt vertrat, zum Ideal der humanistischen Bildung, es ist insbesondere nicht einfach Ausbildung. Ausbildung wird klassischerweise zu recht als das Andere der humanistischen Bildung verstanden. Ausbildung ist und war immer eine ökonomische Veranstaltung. Hätten Schulen und Universitäten nur den Anspruch, der Ausbildung zu dienen, wäre Humboldt in der Tat tot. Andererseits erscheint es aber, vorsichtig formuliert, auch nicht mehr wirklich angemessen, hier noch von Lebendigkeit zu sprechen. Die These Bildung hat sich offenbar mit ihrer Antithese Ausbildung zu etwas 1 | J. Hörisch: Die ungeliebte Universität, S. 57.
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Im Spiegel des Geldes
Neuem synthetisiert. Dieses Neue steht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit. In der Synthese erkennen wir das, was wir Bildung zum Bilde des Geldes nennen wollen. Die landläufige Unterscheidung zwischen Bildung und Ausbildung greift hier zu kurz. Man muss tiefer graben in den Bedeutungsschichten des Begriffs der Bildung, um zu verstehen, wie und inwiefern aus Humboldt gewissermaßen ein Zombie werden konnte – ein Wesen, das weder tot noch lebendig und zudem nicht besonders sympathisch ist. Nun fördert eine Archäologie des Bildungsbegriffs allerhand zutage, darunter einen in jedem Sinne wesentlichen Punkt: die Verwurzelung des Begriffs in der sakralen Sphäre. Gerade diese Eigenschaft hat nun alles andere als zufälligerweise der Bildungsbegriff mit dem der Wirtschaft gemein. Bildung und Ökonomie sind Kinder der Religion. Wie Geschwister versuchen sie, sich sowohl voneinander abzugrenzen als auch sich gegenseitig zu stützen und voneinander zu profitieren. Sie sind Konkurrenten und Partner, sie wären vor allem nicht dieselben ohne den jeweils anderen. Auch der Humboldt’sche Bildungsbegriff wäre nicht der, der er ist, ohne die moderne kapitalistische Wirtschaft. Und doch ist die Gesellschaft heute mehr eine Wirtschaftsgesellschaft als eine Bildungsgesellschaft, geschweige denn Gelehrtenrepublik. Eine Kultur des Geldes, das wir als den Geist der Wirtschaft verstehen werden, breitet sich grenzüberschreitend auf immer mehr außerwirtschaftliche Bereiche aus, erfasst und höhlt insbesondere die akademische Kultur aus. Im Verhältnis zur Bedeutung des Geldes für unsere heutigen Gesellschaften wird viel zu wenig das Wesen des Geldes reflektiert, weshalb wir diesem Thema breiten Raum widmen. Dabei wird die Dominanz des Mediums Geld über andere Medien sichtbar und mit ihr die Verwirtschaftlichung aller gesellschaftlicher Teilbereiche, die die Ausdifferenziertheit der modernen Gesellschaft bedroht. Gerade in der ökonomischen Transformation des Bildungswesens spiegeln sich gesamtgesellschaftliche Entdifferenzierungs- und Entgrenzungstendenzen, die nicht sofort auffallen, weil formal alles beim Alten bleibt, weil die Diskurse und Symbole des Humanismus weiterhin bestehen, weil nach außen hin Schulen und Universitäten das sind, was sie immer waren. Aber der König ist nackt. Bildung basiert längst ganz und gar auf einem Ökonomismus, der den Vorteil hat, so abstrakt zu sein, dass er selbst noch im Gewand seiner Antithese daherkommen kann. Man muss sehr genau hinsehen, um beide noch voneinander unterscheiden zu können.
Einleitung
Wir werden im Folgenden im Detail zu klären haben, warum das so ist und werden bei diesen begriffsarchäologischen Tiefenschürfungen auf ungewöhnliche Einsichten stoßen. Uns wird sich nicht weniger als ein neuer Gott offenbaren, nämlich das Geld. Wir werden es also mit einer Religion zu tun bekommen, der Wirtschaft. Und wir werden die dazugehörige Theologie entschlüsseln, die Ökonomik. Wir werden im Zuge alldessen sogar eine neue Theorie aufstellen können, die man »Beglaubigungstheorie des Geldes« nennen könnte und die in Kurzform besagt: Wir wirtschaften heute nicht mehr, um Güter herzustellen, sondern um Geld zu beglaubigen. Ein kurzer Blick in die neuere Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik wird diese Theorie erhärten, in der wir gleichzeitig den wahren Kern des heute herrschenden Neoliberalismus erkennen – ganz im Unterschied zum frühen, originalen Neoliberalismus aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Als Bild des Geldes scheint Wirtschaft Selbstzweck geworden und seine der Gesellschaft, inklusive Bildungswesen, dienende Rolle verloren zu haben. Die Griechen und Römer hatten ihre vielen Götter. Dann kam mit Christentum, Islam und Judentum der Monotheismus. Im Abendland ließ die christliche Glaubenskraft mit dem ausgehenden Mittelalter langsam nach. Heißt das aber, dass man mit der Zeit immer weniger geglaubt hat oder kann es nicht auch heißen, dass man immer mehr an etwas anderes geglaubt hat als an den christlichen Gott? Vielleicht ist Glaube an sich ja eine anthropologische Konstante und man kann gar nicht nicht oder auch nur mehr oder weniger glauben.2 Man könnte dann mit Umberto Eco fragen: Woran glaubt, wer nicht glaubt? Die Antwort, die wir hier bekräftigen möchten, lautet: Ans Geld. Das ist kein falsches Pathos, sondern nüchterne Wissenschaft. Es zeigt sich schlicht und ergreifend, dass Wirtschaft und Bildung Themen sind, über die man, wenn man ihr Wesen wirklich erfassen will, auch religiös sprechen muss. Denn von der Religion kommen sie her und sie haben ihre Herkunft nie ganz verdrängen können; sie verleugnen sie bisweilen oder sind sich ihrer nicht ganz bewusst, aber das führt nur dazu, 2 | Auch für Peter Sloterdijk spielt sich der Bedeutungsverlust der Religionen nicht im luftleeren Raum ab: »Im Grunde beobachtet man, dass die Religionen in dem Maße für die Mehrheit der Menschen an Bedeutung verloren haben, wie die Erschließung der Gesellschaft durch andere Medien zugenommen hat.« P. Sloterdijk/T. Macho: Gespräche über Gott, Geist und Geld, S. 100.
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Im Spiegel des Geldes
dass sie sich im Unbewussten umso störungsfreier entfalten kann. In der allgemeinen Wahrnehmung wird die Gesellschaft aktuell als von einer Wirtschaftskrise befallen wahrgenommen. Im Zuge dessen ist die Beschäftigung mit den Grundlagen von Wirtschaft wieder mehr in Mode gekommen. Insbesondere Kulturwissenschaftler befassen sich mit diesem bisher dort eher unpopulären Thema verstärkt. Neuere Veröffentlichungen betonen mit Vorliebe den Aspekt des Religiösen, der bei der Beschäftigung mit dem, was Wirtschaft ist und was sie ausmacht, bisher zu sehr vernachlässigt wurde. In einer immer mehr vergeistigten Wirtschaft, in der immaterielle Güter und symbolisches Kapital aller Art relevanter werden, gerät folglich auch das immer mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit, was den Geist der Wirtschaft eigentlich ausmacht: Geld. Die Finanzwirtschaft gewinnt schließlich, gelinde gesagt, gegenüber der Realwirtschaft an Gewicht. Von der Mainstream-Wirtschaftswissenschaft, der Ökonomik 3, zu unrecht banalisiert, ist das Geld aber als Geist der Wirtschaft zum Geist der Gesellschaft geworden. Sollte der Begriff Ökonomismus als Beschreibung einer herrschenden politischen Ideologie oder Geldkultur angemessen sein, wäre alles andere auch verwunderlich. Dass man Geld aber inzwischen in einem umfassenden Sinne als Gott bezeichnen kann, ist zunächst weniger offensichtlich und erweist sich doch als begründet. Normalerweise heißt es bei Gläubigen: Wer Gott liebt, liebt die Menschen, denn sie sind Gottes Schöpfung. Entsprechend könnte man sagen: Wer Geld liebt, liebt die Wirtschaft, denn sie ist des Geldes Schöpfung. In Zeiten von Entdifferenzierungen und Entgrenzungen aber werden diese Sätze tendenziell kongruent, denn aus ökonomistischer Sicht sind Menschen ja primär Wirtschaftssubjekte. Wir werden feststellen, inwiefern und wie sehr die Wirtschaft allerdings ein Geschöpf des Geldes ist und wie folgerichtig unter Voraussetzung des Ökonomismus daraus der Schluss ist, dass das Geld auch die materielle und immaterielle Welt kreiert, den Menschen eingeschlossen. Ohne Ökonomismus würden wir nicht derart rasant ins Zeitalter des Anthropozän schlittern, in die techno-ökonomische Neuschaffung der Welt – oder eben Neu-Bildung der Welt.
3 | Im deutschen Sprachgebrauch hat sich neben dem Namen »Ökonomik« als Bezeichnung für die Lehre bzw. Wissenschaft der Wirtschaft (der Ökonomie) noch der Name »Volkswirtschaftslehre« erhalten, früher sagte man »Nationalökonomie«.
Einleitung
Denn auch im Bildungsbegriff steckt Göttliches. Das Bild, um das es hier geht, war ursprünglich kein anderes als ein Imago Dei. Bildung ist die Spiegelung, die Reflexion, im Bilde eines Gottes, die eigene Seele ein subjektiver Spiegel der göttlichen Natur. Bildung ist somit immer auch symbolische Nachbildung. Das war nie anders, geändert haben sich nur die Götter. In Zeiten des Ökonomismus ist Bildung daher die Reflexion im Imago Pecuniae. Der (Neu-)Humanismus hingegen setzt auf das Bild des Ichs, auf das Selbstbild, in dem der sich Bildende sich spiegelt. Das ist inhaltlich etwas fundamental anderes, aber formal oder strukturell dasselbe. Es ist gerade die hochgradige Strukturähnlichkeit von Humanismus und Ökonomismus, die die Sache so spannend macht. Denn in gewisser Weise kehrt der Bildungsbegriff im Ökonomismus ja wieder zu seinen Imago-Dei-Wurzeln zurück und könnte in anderer Hinsicht kaum weiter davon entfernt sein. Menschen, die sich im Geld spiegeln, werden zu Wirtschaftssubjekten; Menschen, die sich in ihrem Ich spiegeln, werden hingegen zu selbstbestimmten Individuen. Soweit nichts Neues – der Kern unserer Argumentation besteht aber in der Erkenntnis, dass in einer entgrenzten Wirtschaftsgesellschaft der Spiegel des Geldes infolge dessen Abstraktheit allgegenwärtig ist, so dass er Begriffe umdefinieren, semantisch verschieben kann. Individualität etwa wird verstanden als egoistische ökonomische Vorteilssuche. Es zeigt sich, dass die Worte Humboldts sich frappierend leicht neu lesen und als das Gegenteil von dem verstehen lassen, was sie ursprünglich bedeuten sollten. Man kann (neu-)humanistische Schriften vielfach geradezu als Programmatiken des Ökonomismus lesen – wir werden das ausführlich anhand von zahlreichen Beispielen durchexerzieren. Die formalen Ähnlichkeiten täuschen über die inhaltlichen Unterschiede hinweg. In dem Sinne geistert Humboldt als Zombie umher, als eigener Körper mit fremdem Geist. Es ist der Körper (die Symbolik) des Humanismus, aber der Geist (die Semantik) des Ökonomismus. Aber keine Symbolik ohne Diabolik: Bei diesem Wesen muss es mit dem Teufel zugehen, der für den Christen in etwa der gefallene Engel sein dürfte, der der Ökonomismus für den Humanisten ist. So bewahrheiten sich die Worte des spanischen Schriftstellers Ricardo Menéndez Salmón: »Der Kapitalismus ist eine Religion, in der der Glaube, der Kredit, Gott ersetzt hat. Oder anders gesagt: Wenn die reine Form des Vertrauens das Geld ist, dann ist der Kapitalismus eine Reli-
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gion, deren Gottheit das Geld ist.«4 Zuvor heißt es: »Denn das Geld ist der wahre Stein der Weisen des alchimistischen Traums, das Aleph des Stammes, der Gott, der alle anderen Götter auslöscht.«5 Ein prominentes Opfer ist der humanistische Bildungsbegriff. Unsere Beglaubigungstheorie des Geldes wird es uns erlauben, diese Aussagen zu begründen. Naturgemäß werden wir bei all diesen intellektuellen Abenteuern interdisziplinär vorzugehen haben, denn wie soll eine entgrenzte Gesellschaft anders als mithilfe einer entgrenzten Wissenschaft verständlich werden? Darin liegt die große Schwäche der heutigen Wirtschaftswissenschaft: Sie will eine alle Lebensbereiche umfassende Wirtschaft mit rein naturwissenschaftlicher Methodik untersuchen, wobei geistes- und kulturwissenschaftliche Aspekte unter den Tisch fallen – eine angesichts der kulturellen Bedeutung der Wirtschaft und ihrer ins Religiöse reichenden Hochgeistigkeit kaum noch angemessene Vorgehensweise. Eine Wissenschaft, die den Anspruch erhebt, alle menschlichen Handlungen erklären zu können, muss auch alle Methoden zulassen. Wir plädieren daher auch für die Schaffung einer kulturwissenschaftlichen Wirtschaftswissenschaft, die zusätzlich zur Ökonomik universitäre Disziplin werden sollte, so wie es vor ihr mit der kulturwissenschaftlichen Religionswissenschaft der Fall war, die sich zusätzlich zur Theologie etabliert hat. Wenn Wirtschaft in gewissem Sinne Religion ist, liegt das auf der Hand. Es geht auch um nicht weniger als eine ökonomische Aufklärung, ebenfalls nach dem Vorbild der theologischen. Wir überlegen, was Bildung ist und was sie sein sollte. Unabhängig von Religion und zuallererst Wirtschaft lassen sich diese Fragen heute nicht beantworten. Wir legen als Gesellschaftstheorie die Systemtheorie zugrunde, die durch ihre Abstraktheit den Vorteil hat, die verschiedensten Bereiche miteinander verbinden zu können. Dadurch ist sie fast schon als Königsweg zu interdisziplinären Analysen zu bezeichnen. Sie hat aber auch Nachteile: Als Theorie der Moderne tut sie sich in ihrer Grundform schwer mit aktuellen postmodernen Tendenzen und mit der Erklärung der ökonomistischen Ideologie. Es gibt aber Erweiterungen der Systemtheorie, die wir erwähnen wollen und die diesem Umstand angemessen Rechnung tragen. Auch die historischen Entwicklungen des Bildungsbegriffs und unserer heutigen neoliberalen Geldkultur dürfen dabei nicht 4 | R. Menéndez Salmón: Über den Kapitalismus als Religion, S. 204. 5 | Ebd., S. 202.
Einleitung
zu kurz kommen. Besonders ausführlich müssen wir die Genealogie des Geldes behandeln, um zu verstehen, wie es Gott ersetzen konnte, und wie aus der Bildung zum Bilde des Ichs eine solche zum Bilde des Geldes werden konnte.
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Kapitel 1 Kurze Geschichte der Bildung
Bildung heißt, sich in seinem Selbstbild zu spiegeln. Dieser Individuationsprozess ist gleichzeitig eine Sozialisation. Von diesem Grundgedanken ausgehend hat an der Schwelle zur Moderne der deutsche Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt ein ganzes Bildungssystem entworfen. In Deutschland ist der Name Humboldt zum Symbol eines entsprechenden Bildungsideals geworden, das in ähnlicher Weise auch in vielen anderen Ländern existiert. Doch was heißt das genau, sich in seinem Selbstbild zu spiegeln, zu einem Ich zu werden, wie es auch häufig formuliert wird? Und sind diese Abläufe heute noch von Relevanz? Immerhin ist es inzwischen schon fast zur Standard-Klage oder -Feststellung geworden, dass »Humboldt tot« sei, wie beispielsweise vom Politiker Jürgen Rüttgers 1997 öffentlich verkündet. So viel lässt sich schon jetzt sagen: Solche Ausrufe und die neueren Reformen im Bildungswesen haben zumindest bei vielen dazu geführt, sich den Inhalt des Humboldt’schen Bildungsbegriffs, von dem wieder so häufig die Rede ist, erneut in Erinnerung zu führen. Man wollte schließlich wissen, wer oder was denn da nun eigentlich gestorben sei, aber offenbar dennoch so lebendig ist, dass an den Tod immer wieder eigens erinnert werden muss – oder das zumindest posthum eine solche Strahlkraft hat, dass die Diskussionen nicht abreißen: eben das Humboldt’sche Bildungsideal. Wir wollen uns im Folgenden noch einmal auf besondere Art mit der Frage befassen, was es damit auf sich hat und uns dabei auf das heutige deutsche Bildungswesen beziehen. Aber anders als üblich werden wir nicht nur den »Tod Humboldts«, nicht nur die Nicht-Mehr-Gültigkeit des mit seinem Namen verbundenen Bildungsideals beweinen, sondern darüber hinaus zeigen, dass Humboldt so tot gar nicht ist, von Lebendigkeit allerdings auch nicht wirklich die Rede
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sein kann. Nein – Humboldt ist, um im Bild zu bleiben, am besten mit dem Begriff »untot« zu beschreiben. Er begegnet uns heute als Wiedergänger in einer ökonomisierten Form. Doch der Reihe nach. Was ist unter dem Bildungsbegriff, der in Deutschland so eng mit dem Namen Wilhelm von Humboldts verbunden ist, genau zu verstehen? Sein für uns entscheidender Gehalt liegt vielleicht sogar weniger im Beitrag der Person Humboldt als in seinen theologischen Ursprüngen. Der Begriff »Bildung« entstammt einem religiösen Kontext, der Mystik Meister Eckarts (1260-1327/8). Die unio mystica mit Gott kann ihm zufolge der Mensch durch Bildung erreichen, weil Gott, wie in der Genesis 1,27 geschrieben steht, »den Menschen ihm zum Bilde« geschaffen hat. Gemäß dieser Imago-Dei-Lehre ist der Mensch das Abbild Gottes, seine Geburt ist eine Bildwerdung Gottes, die er passiv erleidet, er wird von Gott diesem nachgebildet. Das geschieht, indem er Zeit seines Lebens das Bild Gottes in seiner Seele tragen wird und gemäß dieser Mystik sich seiner irdischen, kreatürlichen Wirklichkeit entbilden und sich durch Verschmelzung seiner Seele mit Gott in diesen einbilden wird. Bildung ist hier eine Vergöttlichung, eine Annäherung des Abbilds Mensch an das reine bildlose Original Gott, die durch dessen Gnade möglich wird. Sich diesen religiösen Ursprung des Begriffs der Bildung zu vergegenwärtigen, ist deshalb wichtig, weil Bildung sich heute im Kontext des Ökonomismus abspielt, einer am Geld hängenden Ideologie, deren strukturelle Ähnlichkeit zur humanistischen Bildungsideologie eben damit zusammenhängt, dass diese wie der Ökonomismus religiösen Ursprungs ist und davon letztlich immer nur vergeblich zu abstrahieren sucht. In den auf das Mittelalter folgenden Jahrhunderten hat sich der Bildungsbegriff zwar säkularisiert und erweitert doch ist diese theologische Unterfütterung nie ganz verloren gegangen. Zunächst gilt es festzuhalten, dass Bildung bereits im Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts um ein aktivisches Element angereichert wurde, indem der Mensch als Subjekt entdeckt und mit der Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und -bestimmung ausgestattet wurde. Immer mehr ist er es selbst, der durch eigene Aktivität sich seinem Gott nachbildet und immer weniger kann er dabei auf einen göttlichen Automatismus vertrauen. Im Späthumanismus des 17. Jahrhunderts entwickelt Francis Bacon die Idee, durch naturwissenschaftliche Experimente die von Gott geschaffenen Naturgesetze ergründen zu können und sich Gott auf diese Weise anzunähern.
Kapitel 1 – Kurze Geschichte der Bildung
Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts betont Vernunft und Mündigkeit, das Selbstdenken und Handeln aus eigenem Antrieb nach logischen Gesichtspunkten. Nach Kant ist Bildung Aufklärung. Noch im neuhumanistischen 19. Jahrhundert, dem »Jahrhundert der Bildung«1, wird Humboldt schreiben, dass der sittliche Mensch sich »durch das Anschauen der höchsten idealischen Vollkommenheit im Bilde der Gottheit« bilde.2 In seiner berühmten Untersuchung »Einsamkeit und Freiheit« beschreibt Helmut Schelsky dieses Bildungsideal folgendermaßen: »Daß gelehrte Bildung der Weg zur Tugend, das Studium der Wissenschaften und Künste ein Gott gefälliger und notwendiger Weg zur Glückseligkeit sei, ist schon die Summe der humanistischen Lebensweisheit«.3 Zum Heilsanspruch der Bildung gesellt sich jedoch nun auch ein Leistungsanspruch an das neu entdeckte Individuum, das sich selbst – sein Ich – bilden muss durch Reflexion und Auseinandersetzung mit sich und der Welt und gegen ein gesellschaftliches Nützlichkeitsdenken. Die für das Zeitalter der Aufklärung übliche Verschulung der universitären Bildung wird nun zurückgewiesen. Und es wird nun ganz explizit auf den Herrschaftsanspruch der Bildung von denjenigen rekurriert, die gesellschaftlich aufsteigen wollen oder ihren höheren sozialen Status absichern wollen. Schon Francis Bacon hatte erkannt, dass Wissen Macht ist. Das Bildungsbürgertum entsteht, in Abgrenzung vom Wirtschaftsbürgertum, das damals zunächst einen geringeren Status hatte. Auch Manfred Fuhrmann beschreibt in seinem Buch »Bildung – Europas kulturelle Identität« die Herausbildung dieser zwei bürgerlichen Richtungen im 19. Jahrhundert, allerdings bezeichnet er die Wirtschaftsbürger als Philantropinisten, für die der materielle Nutzen des Lernens an erster Stelle steht mit dem Ziel, ein nützliches Glied der Gesellschaft zu werden, wohingegen bei den Bildungsbürgern, die bei Fuhrmann unter der Bezeichnung Neuhumanisten kursieren, die Entfaltung der Persönlichkeit an erster Stelle steht.4 Durch eine Orientierung an der Antike kann eine ideale Gesinnung angestrebt werden anstatt eines Krämergeistes. So wird die Universität zur »Institution der sich selbst bildenden Individualis1 | Vgl. Reinhart Koselleck: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. 2 | Wilhelm von Humboldt: »Über Religion«, in Wilhelm von Humboldt: Werke, hg. von A. Flitner und K. Giel (1960), Bd. 1, S. 25, zitiert nach R. Koselleck: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. 3 | H. Schelsky: Einsamkeit und Freiheit, S. 18. 4 | M. Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität, S. 28.
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ten«5, denn Bildung ist etwas, was man mit und für sich selbst macht, ein »produktives Selbstdenken der Wahrheit«6, allerdings in einer nur dafür existierenden akademischen Gemeinschaft, in der der Mensch sich geistig über sich selbst und die Welt erheben kann, »in einer Lebensform der sozialen Einsamkeit und der bürgerlichen und damit zugleich geistigen Freiheit«7. Niemand kann einem den Bildungsprozess und die Wahrheitsfindung abnehmen, insofern ist der sich Bildende einsam und frei. Wäre er das nicht, handelte es sich um Ausbildung. Diese ist zweckgerichtet und zielt nicht auf die Bildung des Ichs, sondern auf die Ausbildung des Subjekts, des äußeren Zwängen Unterworfenen. Die neuhumanistische Universität aber strebt die Ichwerdung durch Wissenschaft an: »Der Universität ist vorbehalten, was nur der Mensch durch und in sich selbst finden kann, die Einsicht in die reine Wissenschaft. Zu diesem Selbstaktus im eigentlichen Verstande ist notwendig Freiheit und hülfreich Einsamkeit, und aus diesen beiden Punkten fließt zugleich die ganze äußere Organisation der Universitäten.« 8
So lautet das berühmte Zitat von Wilhelm von Humboldt. Im 20. Jahrhundert setzt sich die wirtschaftsbürgerliche Richtung gegenüber der bildungsbürgerlichen durch, der Fuhrmann nur noch eine Liebhaberrolle von wenigen zuspricht. Heute aber, so die Kernaussage unserer vorliegenden Studie, haben wir es mit ganz neuen Aspekten der Beziehung von Wirtschafts- und Bildungsbürgertum zu tun. Das Wirtschaftsbürgertum hat das Bildungsbürgertum nicht nur besiegt, sondern besetzt. Es hat sich dessen Begriffe semantisch verschoben einverleibt. Bildungsbürgerlichkeit ist zur reinen Hülle von Wirtschaftsbürgern geworden. Doch bevor dieser Gedanke im Detail entwickelt wird, sollte zunächst die rudimentäre Entwicklung des Bildungsbegriffs fortgesetzt werden. Schon jetzt ist klar geworden, dass dieser Vorgang kein linearer ist, sondern sich im Laufe der Zeit vielmehr verschiedene, auch sich widersprechende Vorstellungen herausgebildet haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es vor allen das Element der Kritik, um das der Bildungsbegriff erweitert wird. Seitdem ist Kritischsein angesagt. Ideologien, Herrschafts- und Abhängigkeitsver5 | H. Schelsky: Einsamkeit und Freiheit, S. 55. 6 | Ebd., S. 55. 7 | Ebd., S. 55 8 | Von Humboldt zitiert nach ebd., S. 56.
Kapitel 1 – Kurze Geschichte der Bildung
hältnisse sind zu entlarven. Bildung soll in allen möglichen Lebensbereichen Emanzipation und Freiheit ermöglichen. Seit den Sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat der Bildungsbegriff ebenso wie die Sozialwissenschaften insgesamt eine empirische Wende erlebt, eine Hinwendung zur Messbarkeit, verbunden mit einer noch näher zu beleuchtenden Ökonomisierung. Die in den Sechziger Jahren ausgerufene Bildungskatastrophe verlief nach dem aktuellen Muster. Bildung stand bereits im Schatten der Wirtschaft. Ein hohes Bildungsniveau war von nun an primär aus wirtschaftlichen Gründen erstrebenswert. Bildung erhielt immer mehr die Bedeutung von Ausbildung. Für die aktuelle Periode gilt dies in gewisser Weise noch; was sich aber geändert hat, ließe sich durch Ersetzung des Worts »primär« im vorletzten Satz durch »singulär« ausdrücken. Wenn man aber einmal eine so klare, reduzierte Definition von einem Begriff und seiner gesellschaftlichen Rolle hat, formieren sich die vernachlässigten Konnotationen in Gegenbewegungen. Das gilt auch und insbesondere für einen so vielseitigen und abstrakten Begriff wie Bildung. Hier ist die Stelle erreicht, wo wir etwas genauer einsteigen sollten. Zu der erwähnten Zeit, ab Mitte des 20. Jahrhunderts, und im Zuge der kurz angerissenen Diskussionen, wurde der neuhumanistische Bildungsbegriff des 19. Jahrhunderts häufig als nicht mehr gültig bezeichnet. Emblematisch für diese Haltung ist das 2006 von Konrad Paul Liessmann erschienene Buch »Theorie der Unbildung«. Das ist eine Anspielung auf Adornos 1959 erschienene »Theorie der Halbbildung«. Diese konnte, so Liessmann, immerhin noch Bezug nehmen auf einen vollwertigen Bildungsbegriff wie den neuhumanistischen. Die oberflächlichen Wissenseinheiten, zu denen Bildung damals schon verkommen sei, hätten noch im Schatten der echten Bildung gestanden. Heute in der »Wissensgesellschaft« aber sei eben dieser vollwertige Bildungsbegriff ganz verloren gegangen, so dass die Wissenspartikel nur noch als Unbildung bezeichnet werden können. Liessmann: »›Unbildung‹ meint demgegenüber, daß die Idee von Bildung in jeder Hinsicht aufgehört hat, eine normative und regulative Funktion zu erfüllen. Sie ist schlicht verschwunden.«9 Heute schließlich, so wollen wir argumentieren, ist Bildung in jenem Sinne zwar einerseits tatsächlich verschwunden, aber andererseits inzwischen als ökonomisierter Wiedergänger zurückgekehrt. Nicht zufällig spielt die Figur des Zombies in der aktuellen intellektuellen Diskus9 | K.P. Liessmann: Theorie der Unbildung, S. 70.
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sion eine so große Rolle. Sehen wir uns dazu exemplarisch einige Aspekte des klassischen neuhumanistischen Bildungsbegriffs und seiner Weiterentwicklungen genauer an. Da ist einmal dessen zentrale Forderung, den ganzen Menschen mit Charakter und Persönlichkeit zu bilden, und eben nicht nur Wissenspartikel und Informationen zu sammeln und auf Knopfdruck wiedergeben zu können. Das ist ein bekannter und alter Gedanke, der dadurch aber an seiner Richtigkeit nichts eingebüßt hat. Es reicht nicht, Goethes Faust nur gelesen zu haben, seine Inhalte und den Entstehungskontext zu kennen, sondern man muss ihn verinnerlichen, die eigenen Werte und sein Handeln an ihm ausrichten. Man muss sich von den humanistischen Werten der Weltliteratur verändern lassen, anstatt sie einfach zu kennen und mit ihnen rein äußerlich umzugehen. Genau darin liegt dann auch das Versäumnis des promovierten Germanisten Joseph Goebbels, der häufig als Argument dagegen angeführt wird, dass die Beschäftigung mit humanistischen Bildungsinhalten sich positiv auf Charakter und Persönlichkeit auswirke. Ein weiteres Argument, auch nicht ganz ohne Bezug zum Dritten Reich, zweifelt an den Segnungen speziell des Kanonischen am humanistischen Bildungskanon, da hier eine fremde, fragwürdige weil autoritär auferlegte Auswahl von Bildungsinhalten stattgefunden hat, die erwarten lassen könnte, dass auch nach ihnen gebildete Charaktere am Ende fremdbestimmt und autoritär geführt sein könnte. An dieser in den Nachkriegsjahren populären These fällt im Übrigen ihre Konformität zu der erwähnten Behauptung Liessmanns auf, dass zu jener Zeit noch ein vollwertiger Bildungsbegriff zumindest im Hintergrund vorhanden gewesen sei, an dem man sich implizit ausgerichtet habe. Denn auffällig an antiautoritären Argumentationen wie der obigen ist ja ihr Vertrauen auf das Vermögen von Autoritäten, überhaupt noch etwas bewirken und bilden zu können. Liessmann würde folglich heute wohl ausgehend von seiner behaupteten Abwesenheit überhaupt jeder Bildungsmacht darauf verweisen, dass die Kanonproblematik inzwischen hinfällig sei. Wenn es Bildung sowieso nicht mehr gibt, braucht man sich über den richtigen Weg zu ihr auch keine Gedanken mehr zu machen. Man macht sich aber auch heute noch Gedanken, und zwar über Wege wie Ziele von Bildungsprozessen. Und es handelt sich nicht um irgendwelche Gedanken ohne Bezug zum klassischen Bildungsbegriff, sondern es sind sogar formal die gleichen wie die, die sich schon Humboldt machte. Humboldt wird de facto, nicht nicht, sondern neu gelesen
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– ob das absichtlich geschieht oder nicht, sei zunächst dahingestellt. Dem inzwischen – da ist Liessmann zuzustimmen – verdrängten Bildungsbegriff wird so, formal, zur Wiederkehr verholfen, und wie es in solchen seit Freud bekannten Fällen üblich ist, ist diese Wiederkehr des Verdrängten von Momenten des Unangenehmen nicht frei. Glauben wir Autoren wie Liessmann oder auch Krautz10, haben die Bildungseinrichtungen nicht mehr das Ziel, Menschen zu bilden, sondern Produktionsfaktoren. Sie sollen mit einem praxisorientierten Handlungswissen versorgt werden, das später im beruflichen Alltag in Unternehmen oder (inzwischen unternehmerisch geführter) staatlicher Verwaltung direkt anwendbar ist. Man lernt beispielsweise in Psychologie oder Kulturwissenschaft, wie Werbung funktioniert und kann dieses Wissen später bei der Tätigkeit in einer Marketingabteilung anwenden. Oder man lernt in Romanistik Sprache und Kultur Frankreichs kennen, um später in einem deutsch-französischen Unternehmen binationale Teams zu leiten oder als Kulturattaché für das Auswärtige Amt zu arbeiten. Es hat einen gewissen, wenn auch hochgeistigen, aber handwerklichen Charakter. Es ist das, was man im Deutschen traditionell eigentlich »Ausbildung« nennt und heute unter dem Begriff »Kompetenz« subsumiert, worunter ganz allgemein die Fähigkeit verstanden wird, in der realen Welt Probleme zu lösen. Es fehlt ein Moment der Reflexivität, ein Bezug des Gelernten zu einem selbst, die Möglichkeit, sich davon verändern zu lassen und darauf auf bauend ein eigenes Weltbild zu bauen. Es fehlen die Ideen des Selbstzwecks und der Selbstbildung im Sinne von Selbstschaffung und Ichwerdung, die eher in die Kunst verweisen als in ein Spiel nach Regeln, wie es in Technik und Wirtschaft üblich ist. Natürlich ist beides nicht getrennt, natürlich kann ich Dinge, die ich für Unternehmen lerne, auch für mich lernen, aber es ist dennoch ein Unterschied, ob man primär mit dem Anspruch auf Selbstbestimmung oder auf Fremdbestimmung an die Bildung herangeht. Auch ob es wirklich der Endzweck von Bildung ist, Probleme zu lösen, muss hinterfragt werden. Ist vielleicht der Gedanke der Vervollkommnung des Ichs doch der bessere Referenzpunkt, von dem aus Bildung zu denken ist und auf dessen Boden dann auch Problemlösekompetenz besser gedeihen kann? In noch drastischerer Ausdrucksweise als Liessmann und Krautz fasst der Soziologe Ulrich Beck die Verdrängung der Bildung durch die 10 | Vgl. J. Krautz: Ware Bildung.
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Ausbildung und die Ökonomisierung des Bildungswesens durch die Politik zusammen: »Die staatliche Reglementierungswut gegenüber den Universitäten hat zu einem regelrechten McKinsey-Stalinismus geführt. Die Hochschulen werden auf das Niveau von Fachhochschulen gedrückt. Ich halte diese Reform für den Tod unserer Universitäten.«11 Wir wollen in dieser Studie hingegen argumentieren, dass die Universitäten nicht tot sind – sondern eben untot. Die ökonomistischen Reformen der letzten Jahrzehnte haben die Universitäten nicht getötet, sondern zombifiziert. Bildung wird nicht einfach zu dem degradiert, was bisher Ausbildung war, sondern sie wird umdefiniert. Ihr Körper bekommt einen neuen Geist, den des Geldes. Exemplarisch zeigt sich das besonders deutlich in Leitbildern von Handelshochschulen, also Einrichtungen, von denen man meinen könnte, die seien eindeutiger als andere in der Kategorie »Ausbildung« anzusiedeln und hätten, mehr als etwa Universitäten, das klare Ziel, in Produktionsprozessen direkt einsetzbare Arbeitskräfte auszubilden, Studierende also schlicht employable zu machen. Sehen wir uns dazu als Beispiel das Leitbild der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) an. Dort heißt es: »Die Absolventen der DHBW überzeugen als selbstständig denkende und verantwortlich handelnde Persönlichkeiten mit kritischer Urteilsfähigkeit in Wirtschaft und Gesellschaft.«12 Ist das nicht ein Satz, den Humboldt sofort unterschreiben würde? »Selbstständig denken« – und nicht Wissenspartikel auswendig lernen. »Verantwortlich handeln« – und nicht nach Schema F diese Wissenspartikel auf immer gleiche Weise anwenden. »Persönlichkeiten« – nicht verdinglichte Produktionsfaktoren. Und sogar noch »kritische Urteilsfähigkeit«, womit ja der Hauptaspekt der Bildungsdiskussion der Nachkriegszeit aufgenommen wird. Ist das nicht die Bildung, die Liessmann und Krautz meinen – Bildung im besten Sinne und gerade nicht Ausbildung? Hier geht es ganz offensichtlich nicht um das bloße Sammeln von zusammenhangslosen Informationen, um ein »flüchtiges Stückwerkwissen«13 als bloßen Rohstoff für Arbeitsprozesse, sondern um ein Individuum, das seine Potenziale entfalten und 11 | Zitiert nach K.J. Sakkas: Verwaltete Bildung? Die Bologna-Reform und die Geisteswissenschaften, S. 18. 12 | Vgl. www.dhbw.de/fileadmin/user/public/Dokumente/Schrifterzeugnisse/ DHBW_Leitbild.pdf, S. 4. Letzter Aufruf am 04.02.2016. 13 | K.P. Liessmann: Theorie der Unbildung, S. 53.
Kapitel 1 – Kurze Geschichte der Bildung
ein selbstbewusster Teilnehmer am Gemeinwesen werden soll. Humboldt wollte den Menschen durch Bildung »aus der Barbarei in die Zivilisation, aus der Unmündigkeit in die Autonomie«14 führen. Ist dieses Ziel nicht ziemlich deckungsgleich mit dem Ziel des DHBW-Leitbilds, wo ja auch die Gesellschaft direkt erwähnt ist? Die Antwort ist: Ja – symbolisch gesehen. Auf der Wortebene, der Ebene der sprachlichen Symbole, ist unsere Handelshochschule tatsächlich ganz nahe am Humboldt’schen Bildungsideal. Mit dem Symbolischen aber geht das Diabolische einher und selbstständiges Denken muss nicht gleich selbstständigem Denken sein, wie sich im Folgenden herausstellen wird.
14 | Ebd., S. 54.
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Kapitel 2 Die Ökonomisierung der Bildung
Wenn Liessmann (eher für die Universitäten) und Krautz (eher für die Schulen) beklagen, dass Bildung von Ausbildung verdrängt worden sei, übersehen sie, dass die verdrängte Bildung inzwischen »untot« als Ausbildung zurückgekehrt ist, wie auch das obige Leitbildzitat zeigt. Man sollte daher, anstatt zwischen Ausbildung und Bildung zu unterscheiden, besser zwischen zwei Arten von Bildung unterschieden, nämlich der Bildung zum Bilde des Ichs und derjenigen zum Bilde des Geldes, zu der sich Bildung und Ausbildung inzwischen synthetisiert haben. Beginnen wir zunächst mit dem Geld und kommen wir später zum Ich. Was ist unter beiden genau zu verstehen, was ist ihr Wesen? Was haben sie gemeinsam, worin unterscheiden sie sich? Wie lässt sich aus ihnen ein Bild machen? Wenn man Geld und damit auch Ökonomie und Ökonomismus, inklusive der Ökonomisierung des Bildungsbereichs, verstehen will, reicht die herkömmliche Ökonomik als heute noch einzig gängige Wirtschaftswissenschaft als Bezugsquelle von Erkenntnissen nicht aus. Das wird an verschiedenen Stellen deutlich. Es reicht nicht aus, Geld auf seine drei Funktionen Zahlungs-, Wertauf bewahrungs- und Rechenmittel zu reduzieren. Erst die Beschäftigung mit der Genealogie des Geldes macht das Wesen des Geldes verständlich und das beruht namentlich auf seiner religiösen Herkunft. Die drei Funktionen kann es nur erfüllen, wenn bestimmte Glaubens- und Vertrauensvoraussetzungen erfüllt sind, über die wir uns heute kaum noch im Klaren sind und die Ökonomen meistens ignorieren. In seinem Buch »Mehr!« erläutert der Philosoph Christoph Türcke ausführlich die historische Entwicklung dessen, was wir heute als Geld verwenden, wie es zu dem wurde, was es ist. Ausgangpunkt ist für Türcke der Schrecken. Die werdende Menschheit ist äußeren, spon-
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Im Spiegel des Geldes
tanen und diffusen Naturgewalten hilflos ausgeliefert. Sie reagiert darauf im Kollektiv, da sie sich noch nicht als Individuen erlebt, Individualität hat sich erst später entwickelt. Im Kollektiv verarbeiten und lindern die frühen Menschen das Erlebnis der zerstörerischen Naturgewalt, die über sie hereinbricht, durch Wiederholung an Teilen ihres Kollektivs. So wie auch heute noch Kriegstraumatisierte in ihren nächtlichen Träumen ihre Schreckenserlebnisse wiederholen, wiederholte auch das frühmenschliche Kollektiv Naturgewalten an sich selbst und machte das Schreckliche so vertraut und fassbar. Die künstlich wiederholte Naturgewalt macht das originale Schreckenserlebnis wieder gegenwärtig, wieder präsent (repraesentare) – es repräsentiert das Original als Bild, indem es ihm gleicht und es dabei begleicht, also aus der Welt schafft oder zumindest erträglicher macht. Das ist auch die Grundbedeutung des Äquivalents. Dieser ursprüngliche Wiederholungszwang von Naturgewalt bahnt sich schließlich eine innere Zufluchtstätte; der mentale Raum entsteht. Türcke nennt diesen Vorgang die Menschwerdung im engeren Sinne. Das halluzinatorische Nacherleben des Schreckens ist aber mehr als bloßer Wiederholungszwang, denn es suggeriert eine höhere imaginäre Macht, die die Wiederholung zu verlangen scheint und durch die die Wiederholung der Gewalt zur Opferung wird, mit der man die Forderung dieser höheren Macht erfüllt und insofern die Schuld begleicht, die darin besteht, die erlebte Naturgewalt am eigenen Kollektiv wiederholt zu haben. Die Begleichung von Schuld wird ein Symbol für die Begleichung von Schrecken. Dabei machen die Menschen zum ersten Mal die Erfahrung des »Nie genug«, denn natürlich hören die Naturgewalten durch die Opferungen nicht auf, Schrecken zu verbreiten, auch wenn dieser dadurch leichter zu ertragen sein mag. Aus der Erfahrung des »Nie genug« ergibt sich nun ein Motiv, das Türcke »Priesterlist« nennt und das bis heute fortlebt: Profanisierung durch Abstraktion. Wenn Menschenopfer sowieso nie genug sind, warum dann nicht etwas anderes Wertvolles opfern, um sich bei der Gottheit zu entschulden? So entstand das Tieropfer, nach Türcke das erste Realäquivalent: »Die erste Gleichsetzung von Verschiedenem ist die von Mensch und Tier.«1 Dass der Mensch nicht mehr Seinesgleichen schlachtete, sondern tierischen Ersatz, war ein Sakrileg, denn man speiste die Gottheit mit weniger ab als ihr zustand. Aber das funktionierte, und im Laufe der Zeit wurde die Erinnerung daran, dass das Tieropfer eigentlich 1 | C. Türcke: Mehr!, S. 45.
Kapitel 2 – Die Ökonomisierung der Bildung
das Menschenopfer nur repräsentierte, verdrängt, bis später irgendwann Münzen, auf denen Opfertiere aufgeprägt waren, das Tieropfer ersetzten. Dann wiederum ersetzten die Scheine die Münzen und die Computerbits die Scheine. Jedes Mal war der Grund, dass Entschuldungen durch die neue Geldform wesentlich vereinfacht wurden. Dabei wurde das Opfer immer abstrakter und die Opferung immer profaner; sie fand in immer weltlicheren Sphären statt. Auch Christina von Braun beschreibt in ihrem Buch »Der Preis des Geldes«, dass Geld aus dem Opferkult entstand. Sie setzt aber etwas andere Akzente. Der Hauptunterschied zu Türcke besteht darin, dass von Braun den Grund für die Opferung nicht in der psychologischen Reaktion auf den Naturschrecken sieht, sondern als Entschädigung für den Eingriff der Menschen in Gottes Schöpfung. Als die Menschheit sesshaft wurde und begann, Landwirtschaft zu betreiben, weil sie sich vom Jagen und Sammeln nicht mehr ernähren konnte, begann sie auch, Opferkulte zu zelebrieren. Als der Mensch das Land nämlich vorfand, war es noch kein Nutzland, sondern Teil von Gottes Schöpfung und damit quasi in Gottes Besitz. Um es zu Nutzland machen zu können, musste der Mensch es sich überhaupt erst einmal aneignen und dafür folglich in Gottes Schöpfung eingreifen. Erst dann konnte er es nach seinen Zwecken gestalten. Für diesen Eingriff muss Gott aber mit einem Opfer entschädigt werden. Warum das und warum hatten Jäger und Sammler vorher noch nicht das Bedürfnis zu opfern? Weil mit der Sesshaftigkeit des Menschen die Notwendigkeit entstand, eine Gesellschaft zu bilden, um sich wirksam gegen Bedrohungen des besetzten Territoriums wehren zu können. Dieses Bedürfnis hatte der nomadenhafte Jäger und Sammler noch nicht; er ist bei Konflikten und Bedrohungen einfach weitergezogen. Der sesshafte Mensch aber braucht zum Überleben eine schützende und sein Territorium verteidigende Gemeinschaft und diese konstituiert er auch durch Tauschen. Er macht die Erfahrung, dass Tauschen ihn auf eine nicht-triviale Weise mit anderen verbindet, ja dass die Kategorien »ich« und »der andere« durch Tausch überhaupt erst entstehen. Denn Tauschvorgänge folgen einer bestimmten Regel: Man kann nur tauschen, was verschieden aber gleichwertig ist. Mit Tausch ist immer ein Äquivalententausch gemeint. So wird eine eigentümliche Konstellation aus Verschiedenheit und Gleichheit geschaffen, die die Gemeinschaft, die ursprünglich ein reines Kollektiv war, veränderte. Konkret sind die zu tauschenden Dinge
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verschieden, aber abstrakt sind sie gleich. Konkret hat ein Sack Weizen mit einem Hufeisen nichts zu tun, abstrakt aber haben sie den gleichen Wert, wenn sie gegeneinander getauscht werden. Wenn ein Bauer und ein Schmied das tun, unterwerfen sie sich automatisch unter das abstrakte Gesetz der Wertgleichheit, denn sonst würden sie nicht tauschen. Sie müssen in Gedanken, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind, von der Verschiedenheit der Tauschobjekte abstrahieren und ihre Wertgleichheit gelten lassen. Diese Unterworfenheit aber macht sie erst zu Subjekten (sub: unter, iactus: geworfen) und erst als solche sind sie in der Lage, eine Gesellschaft aus Individuen zu konstituieren, die damit immer schon eine Tauschgesellschaft ist, denn Subjekte haben als solche immer die Gemeinsamkeit, Tauschende zu sein. Weil der Tausch aber eben nur Sinn macht, wenn die zu tauschenden Objekte verschieden sind, sind die Tauschenden einer »Ich-habe-was-du-nicht-hast«-Logik unterworfen; einer ist eben der Bauer und der andere der Schmied und das macht beide zu Individuen und gibt ihnen eine Identität. Beim Äquivalententausch gilt der gleiche Wert für die Tauschobjekte, sie sind wertmäßig gleichgültig, eben äquivalent. Sie sind gleichgültig aber auch gegenüber ihrer konkreten Natur im Sinne von: Es ist egal, ob man einen Sack Weizen gegen das Hufeisen tauscht oder eine Flasche Wein. Wenn Dinge Tauschobjekt werden, wird von ihrem Gebrauchswert abstrahiert. Dieses funktionalistische Motiv, dass nicht die Sache selbst zählt, sondern vielmehr ihr abstrakter Wert für ein Fremdziel, ist für die Wirtschaft konstitutiv und begegnet uns in der folgenden Diskussionen um Ökonomismus und Ökonomisierung immer wieder. Aber der Abstraktionsvorgang hat damit natürlich erst begonnen. Denn Tauschvorgänge sind noch einmal um eine Abstraktionsstufe aufgestiegen, wenn man gegen Geld tauscht. Nun ist ein Sack Weizen nicht mehr gleichwertig mit einer anderen Sache, sondern mit dem Abstraktum Geld, das von vornherein schon Tauschmittel ist. Bei geldvermittelten Tauschvorgängen abstrahiert man vom konkreten Gebrauchsobjekt zum abstrakten Tauschobjekt und bemisst dieses dann noch mit einem noch abstrakteren Geldwert. Schon hier begegnet uns Geld als Symbol, das völlig verschiedene Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, zusammenfügt, indem es ihnen den gleichen (Geld-)Wert gibt. Geld ist aber eben auch, wie Hörisch2 schreibt, die Abstraktion der Abstraktion. Und 2 | J. Hörisch: Tauschen, sprechen, begehren, S. 49.
Kapitel 2 – Die Ökonomisierung der Bildung
deren Abstraktheit steigt im Laufe der Zeit darüber hinaus sogar noch an, denn Geld existierte zunächst in Form von Edelmetallmünzen oder anderen Kleinteilen mit intrinsischem Wert und machte dann eine Entwicklung über Papiergeld hin zur heutigen Form als Computerbits durch. Geld ist durch seine ungeheure Abstraktheit geradezu der Inbegriff von Abstraktion. Türcke liefert hier eine sehr gute Definition: »Abstrahere heißt abziehen. Das Begehren, die Aufmerksamkeit, die emotionale Besetzung von ihrem unmittelbaren Objekt abziehen, sie auf ein anderes verschieben, einen Repräsentanten dieses Objekts, der es vertritt oder ersetzt – und diesen Repräsentanten für wichtiger nehmen lernen als das, was er repräsentiert: das ist die energetische Elementarbewegung der Abstraktion.« 3
Im Geld hat sie vorerst ihre Vollendung gefunden. Mit der zunehmenden Abstraktheit des Geldes aber ist seine Profanisierung verbunden und die Ausdifferenzierung profaner Gegenstücke zur Sakralsphäre, aus der das Urgeld, das Menschenopfer, stammt. Der Königshof war die erste profane Kopie des Tempels. Im Tempel wurden die Opfergaben von Mitgliedern einer Gemeinschaft auf bewahrt und von Priestern verwaltet. Das waren vor allem Figuren aus Edelmetall, die glänzten wie die Sterne und von dieser Astralästhetik ihren Wert bekamen (Gold repräsentierte die Sonne und war über Jahrtausende 13,3 mal mehr wert als Silber, das den Mond repräsentierte, der während eines Sonnenumlaufs 13,3 mal um die Erde läuft). Priester stellten die Figuren für Opferwillige her, die sie in einem Ritus opferten und dafür den Priestern wieder übergaben, die die Figuren im Tempel auf bewahrten und für neue Opferungen wieder verwendeten.4 Denn die Nachfrage nach Opferfiguren aus Edelmetallen war so groß, dass die Priester mit der Produktion nicht nachkamen. Das führte wieder zu einem Profanisierungsschritt: Man nahm Edelmetallmünzen als Opfergabe, weil an Figuren nicht genug vorhanden war und Münzen praktischer sind. Bis auch viel später die inzwischen zu Geld gewordenen Münzen für das viel profanere Handelsaufkommen nicht mehr ausreichten und praktisch und transportabel genug waren, so dass man zu Papiergeld überging und danach zu den noch flexibleren Computerbits. 3 | C. Türcke: Mehr!, S. 107 [Herv. i. O.]. 4 | Aus solchen Handlungen entstanden Türcke zufolge Urlohn und Urzins (ebd., S. 91ff.).
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Doch zunächst kopierte der Königshof den Tempel nebst seinem Schatz, den Opfergaben. So wie diese der Gottheit gehörten, gehörte, was der Königshof enthielt, dem König. So entstand Eigentum: »Profanes Eigentum verdankt seine Unantastbarkeit der Aura des Tempelschatzes.«5 Wenn wir später über die Bildung des Ichs sprechen, werden wir daran denken müssen, dass das Eigentum, das was den Menschen eigentümlich ist, diesen sakralen Bezug besitzt. Ebenso wie die Figur des Königs, der obwohl weltlicher Herrscher noch unter dem Schutz der Gottheit stand. Als nächster Profanisierungsschritt folgt die griechische Polis. Hier hatten ausgewählte freie Bürger ein Mitbestimmungsrecht am Gemeinwesen, und zwar diejenigen, die über ein Haus, oikos, verfügten, dessen Vorbild der Königshof war. Die Hausbesitzer, auch zuständig für die Verwaltung des Hauses, die oikonomia, waren sozusagen jeweils kleine, dezentrale Könige. Diese Häuser sind gleichsam die Vorläufer von Unternehmen. Ihre produktiven Überschüsse etwa an Nahrungsmitteln konnte man mit einem obelos erwerben, einem Fleischspieß, das ursprünglich zur Teilnahme am Opferschmaus berechtigte (irgendwann war man dazu übergegangen, die geopferten Tiere auf einem Opferfest zu verspeisen), und das dann, profanisiert, zum Symbol für das Fleisch und die Teilnahme am Opferschmaus wurde. Polis und Oikos, Politik und Ökonomie, sind also im Schulterschluss aus der sakralen Sphäre hervorgegangen. »Bürgerliche« Politik beruhte immer auf dem oikos, von dem man gegen Entrichtung eines obelos Güter bekam. Später wurde der obelos zu Münzen profanisiert, durch die erst Händler- und Geldverleihertum entstehen konnten. Aber schon der obelos war nur noch ein Symbol für das Fleischstück, das ursprünglich während des Opferfestes darauf aufgespießt war, und das Fleischstück war wiederum ein Symbol für die Zugehörigkeit zur Opfergemeinde. Wenn für den obelos wiederum Münzgeld ein Symbol wird, setzt sich der Profanisierungsprozess durch Abstraktion fort, soweit, dass man heute den Eindruck hat, Geld sei lediglich ein Zeichen für den Wert von Gütern. Aber so wie einst dadurch, dass der obelos mit dem darauf aufgespießten Fleisch das symbolon, das Zusammengefügte, wurde und durch Profanisierung der obelos zum Symbol für das Fleischstück werden konnte, wurde einige Profanisierungsschritte später auch Geld zum Symbol. Symbole sind eine Untergruppe der Menge der Zeichen. Manche Zeichen sind auch Symbole. 5 | Ebd., S. 96.
Kapitel 2 – Die Ökonomisierung der Bildung
Sie können in sozialen Beglaubigungsprozessen aus Ikonen entstehen.6 Ikonen sind Zeichen, wo zwischen dem, was sie bezeichnen, und ihnen selbst ein gewisser Ähnlichkeitsbezug herrscht, der dann, wenn aus ihnen ein Symbol wird, verloren geht und durch eine soziale Konvention ersetzt wird, so dass eine Gemeinschaft an die Gültigkeit des Symbols glaubt. Luhmann drückt dies so aus: »Ein Symbol ist nicht nur ein Zeichen (wie zum Beispiel ein Wort). Es bezeichnet nicht nur, es bewirkt die Einheit.« 7 Zum Beispiel könnte ein Rolls Royce ein Ikon und dann ein Symbol für Reichtum, aber nicht für Armut sein, weil er selber die Eigenschaft hat, teuer zu sein. Das Faszinierende ist nun, dass Symbole die Fähigkeit haben, Gemeinschaften zu stiften, eben weil sie auf sozialen Konventionen beruhen. Ein Rolls Royce wäre ein geeignetes Clubsymbol für einen Reichenclub, weil die Clubmitglieder ihren Reichtum, eine ihnen wichtige und positive Eigenschaft, im Rolls Royce symbolisiert sehen können. Zu anderen Trägern des Symbols bzw. Menschen, die dieses Symbol als angemessen empfinden und dies kundtun, wird dadurch eine positive Beziehung aufgebaut. Das Symbol enthüllt quasi, dass die sich von ihm als angemessen repräsentiert Zeigenden ähnliche Wertvorstellungen haben, so dass sich leichter ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln und der Reichenclub tatsächlich entstehen kann. So wie also Geld Güterwerte bezeichnet, können Symbole Wertvorstellungen symbolisieren. Und jetzt kommt der entscheidende Schritt: Ist der Reichenclub zustande gekommen, wird dadurch gleichzeitig das Symbol wiederum beglaubigt. Der Glaube kann nicht obwohl, sondern faszinierenderweise gerade weil er letztlich auf einem Zirkelschluss beruht, seine Wirkungskraft entfalten: Weil der Club zustande gekommen ist, hat die Verwendung des Symbols offenbar reale Auswirkungen gehabt und das Symbol besitzt damit eine Kraft, wirklich die Realität so zu verändern, wie es ohne es nicht passiert wäre. Auf einem solchen Zirkelschluss basiert auch die Beglaubigung des Geldes. Weil alle an den Wert des Geldes glauben, kann es seine Funktionen, beispielsweise als Zahlungsmittel, erfüllen – und weil jeder sieht, dass es das kann, glaubt jeder an seinen Wert. Nun zeigt sich, dass mit einer Symbolik, die etwas zusammenführt, eine Diabolik, die etwas trennt, verbunden ist. Diese Verbindung ist nicht zufällig, wie schon Luhmann erkannte: »Das, was verbindet, und das, was 6 | Vgl. R. Keller: Zeichentheorie, S. 160ff. 7 | N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 235.
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trennt, wird aneinander bewußt. Zunächst bilden Symbolik und Diabolik eine unlösbare Einheit, das eine ist ohne das andere nicht möglich.« 8 Die griechische Vorsilbe sym bedeutet »zusammen«, während dia »getrennt« bedeutet. »Bolisch« stammt vom griechischen Wort ballein, was in etwa »werfen« oder »fügen« bedeutet. Das Symbolische also fügt etwas zusammen, während das Diabolische etwas trennt. Von dem Reichenclub sind Arme, die sich vom Symbol nicht symbolisiert sehen, ausgeschlossen. Vom tatsächlichen Opferfest waren diejenigen, die nur einen obelos bekamen, mit dem sie im oikos »einkaufen gehen« konnten, ausgeschlossen.9 Für uns ist entscheidend, dass das Symbol Geld, das reale Güter symbolisiert (durch soziale Konventionen), inzwischen selbst als originale Realität fungiert, die ihrerseits von realen Gütern bezeichnet wird, die dabei zum Bild10 des Geldes nachgebildet werden. Diesen Gesamtprozess wollen wir »symbolische Nachbildung« nennen. Übrigens leitet sich das Wort »Geld« etymologisch vom germanischen Wort gelt ab, was »Götteropfer« bedeutet. Wie von Braun11 erklärt, hat das Opfersymbol bis heute in den Währungszeichen wie € oder S|| überlebt. 8 | N. Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 258f. Vgl. auch D. Thomä: Symbolisches und Diabolisches. 9 | Ein anderes Beispiel für Symbole sind die love locks, die an Pariser Seinebrücken befestigt werden: Das sind Umhängeschlösser, auf denen die Namen von Liebespaaren stehen, möglichst eingraviert. Man befestigt sie am Brückengeländer und wirft danach den Schlüssel in die Seine. Wenn die Eigenschaften dieses Symbols auf das Symbolisierte, das Liebespaar, übergehen, stabilisiert das deren Beziehung, geschlossen (wie das Schloss) in Liebe (in Paris, der Stadt der Liebe), nicht ohne weiteres aufbrechbar (schweres eisernes Schloss), auch weil der Schlüssel (das Wissen um eine Trennung des Zusammenschlusses) unwiederbringlich im Fluss versenkt (freiwillig der Anwendung entzogen) wurde. Hier symbolisiert das Symbol Schloss genau ein Paar (oder eine Familie, wenn an dem großen Schloss noch ein gleich aussehendes kleines hängt), das zahlreiche Eigenschaften des Symbols übernehmen und so seine Beziehung stabilisieren kann, was wiederum das Symbol beglaubigt, was wiederum die Beziehung stabilisiert usw. Gleichzeitig werden andere Personen von der Beziehung, diabolisch, ausgeschlossen. 10 | Ein Bild ist ein Beispiel für ein Ikon. Vgl. C.S. Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen, S. 64ff. 11 | C. von Braun: Der Preis des Geldes, S. 50.
Kapitel 2 – Die Ökonomisierung der Bildung
Die zwei Striche verweisen jeweils auf die Hörner eines Stiers, der ein bevorzugtes Opfertier war. Der Stier wird damit zum Symbol nicht nur von Opferung. Denn man könnte ja auch andere Tiere opfern, solange es sich um Nutztiere handelt, denn geopfert werden muss, von Braun zufolge, immer etwas vom Menschen Geschaffenes, weil nur das den Eingriff des Menschen in Gottes Schöpfung symbolisiert. Der geopferte Stier wird auch zum Symbol von Abstraktion, worin ein weiterer Ähnlichkeitsbezug zum abstrakten Geld besteht. Denn ein Stier ist ein besonders leidenschaftliches, emotionales, triebgesteuertes Tier – bis heute Symboltier von Börse und Finanzwelt. Es zu opfern bedeutet eine symbolische Kastration, wie sie mit jedem Abstraktionsvorgang verbunden ist, weil von Sinnlichkeit und Emotionalität abstrahiert wird. Erinnern wir uns an den fundamentalen Abstraktionsvorgang der Verwandlung eines Gebrauchsobjekts in ein Tauschobjekt. Um mit abstrakten Objekten umzugehen, muss man Gefühle und Sinnlichkeit opfern. Dafür aber ermöglichen die abstrakten Objekte immer etwas, was ohne Abstraktion nicht möglich wäre, wie Tauschvorgänge, durch die man in den Besitz von Dingen kommen kann, die man sonst nicht bekommen würde. Mithilfe von Abstraktion lassen sich die eigenen körperlichen Grenzen überschreiten. Abstraktion ermöglicht Transzendenz. Der Tausch bzw. das Opfer begründen damit nicht nur Geld, sie lassen sich auch als Basis von Abstraktion überhaupt verstehen. Jede Abstraktion schließt eine symbolische Kastration, eine Exkarnation, eine Entleibung, eine Entmaterialisierung, eine Opferung der Sinnlichkeit ein. Erst der Verzicht auf sinnliche Potenz ermöglicht geistige Potenz. Auf diese Weise ist auch das Alphabet entstanden. Von Braun schildert die Entstehung des Buchstabens A als Stilisierung eines Stierkopfes.12 Die abstrakten Schriftzeichen, die erst mühsam in einem rationalen Prozess unter Verzicht auf die Sinnlichkeit und Körperlichkeit gesprochener Worte erlernt werden müssen, verleihen im Gegenzug Fähigkeiten, die man ohne sie nicht hätte. Zum Beispiel kann man mit noch nicht Geborenen kommunizieren, indem man ihnen Schriftstücke hinterlässt. Gleiches gilt, nebenbei bemerkt, auch für das Geld, das man für noch nicht Geborene ansparen kann, denen man so Tauschvorgänge ermöglichen kann. Ebenso kann man Geld sparen und damit später etwas kaufen, was heute noch gar nicht produziert worden ist, oder man kann über einen Kredit 12 | Ebd., S. 59.
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heute etwas kaufen und das Geld dafür erst in der Zukunft verdienen. Abstraktion transzendiert die rein körperlichen Möglichkeiten. Sie verweist, indem sie zeitliche Hürden überwinden kann, auf die Ewigkeit. Wir haben es hier mit frühen Beispielen für Medien zu tun. Wie Hörisch in seiner Mediengeschichte13 ausführlich und anschaulich darlegt, werden im Zeitverlauf Medien immer abstrakter. Die ersten Medien, Laute, sind noch mit den Sinnen zu erfahren. Sie aufzuschreiben und dadurch über Raum und Zeit kommunizierbar zu machen, erfordert dann aber Abstraktion. Man muss den Sinn der Schriftzeichen erst mühsam zu verstehen lernen, also schreiben und lesen lernen. Laute sind also sinnlich, Schrift ist sinnhaft. Es muss von den Sinnen auf den Sinn umgestellt werden. Und dass Abstraktion eng mit dem wirtschaftlichen Kontext verbunden ist, liegt ja nicht nur daran, dass sie bei der Verwandlung eines Gebrauchs- in ein Tauschobjekt notwendig im Spiel ist, sondern auch an der schon erwähnten Relevanz, die sie bei der Entstehung der Schrift spielt. Ist Schrift an sich aus der verwaltungstechnischen Notwendigkeit entstanden, ökonomische Vorgänge (und zwar anfangs Opfergaben im Tempel) aktenkundig zu machen, ist die abstraktere phonetische Schrift im Zuge des Umgangs mit dem abstrakteren Tauschmittel Geld entstanden. Auch der Ursprung der sinnlichen, körperlich spürbaren Laute, der gesprochenen Worte hingegen wird häufig im religiösen Kontext verortet. Im Hinduismus gilt der Urklang Om als die Silbe, aus der das ganze Universum entstanden ist. Und noch die Metapher, die Naturwissenschaftler benutzen, um den Anfang des Universums zu benennen, bezeichnet hörbare Laute: Urknall. Im Johannesevangelium heißt es: »Am Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott. Und das Wort war Gott.« Damit kann nur das gesprochene, klangliche Wort gemeint sein, was nichts daran ändert, dass aus dem Christentum eine Buchreligion wurde, die auf dem geschriebenen Wort basiert, denn verwendet wurde das griechische Alphabet, das im Unterschied zum arabischen und hebräischen Alphabet, die beide ursprünglich Konsonantenalphabete waren, auch die Vokale verschriftlichte. Dadurch kam es anders als bei den Konsonantenalphabeten nicht zu einer Komplementarität von Oralität und Schriftlichkeit, sondern zu einer Dominanz des Textes über das gesprochene Wort.14 Vor 13 | J. Hörisch: Eine Geschichte der Medien, S. 95. 14 | Vgl. C. von Braun: Der Preis des Geldes, S. 110.
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allem liegt mit dem Vorgang der Verschriftlichung des Wortes ein weiteres frühes Beispiel für die Verknüpfung von Religion und Wirtschaft vor. Was nun die Zahl angeht, beruht sie von Anfang an auf dem Prinzip der Abstraktion und hat keine gesprochenen, lauthaften, sinnlichen Vorgänger so, wie das geschriebene Wort sie im gesprochenen Wort hat. Die immer schon abstrakte Zahl steht von Anfang an im wirtschaftlichen Kontext und der dort entstehenden Notwendigkeit des Zählens. Dessen ungeachtet sei an den Satz erinnert, der dem Mathematiker Leopold Kronecker zugeschrieben wird: »Die natürlichen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk.« Offenbar gibt es auch im numerischen Bereich das Bedürfnis nach einem religiösen Ursprung. Das Wort (in seiner gesprochenen sinnlichen wie in seiner geschriebenen abstrakten Variante) und die Zahl – diese beiden Elemente bilden einen Gegensatz, der im Laufe der Jahrhunderte nicht verloren ging und der uns heute noch im Unterschied zwischen den sich gegenseitig so fremd erscheinenden Kulturen der Geistes- und Kulturwissenschaft auf der einen und der Naturwissenschaft auf der anderen Seite begegnet, inklusive der Frage nach der Zugehörigkeit der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Abstrakt und schriftlich erscheinen beide, Wort wie Zahl. Den Ursprung des gesprochenen Worts, der Laute, liegt genauso im Religiösen wie der Ursprung des geschriebenen Worts, das aus der in ökonomischen und damit numerischen Tauschvorgängen entstandenen Abstraktionsfähigkeit der Menschen hervorgeht, deren Ursprung in der Verwaltung des Tempels durch Priester liegt. Die Ökonomie ist »die Mutter aller, nämlich der alphabetischen wie der numerischen Abstraktionen«15. Schreiben ging also aus dem Zählen hervor, nicht umgekehrt. Aber die Ökonomie hat selbst eine Mutter: die Religion. Ökonomie ist aus der Sakralsphäre hervorgegangen. Für die spätere Diskussion von Bildungsbegriffen, insbesondere des individualistischen, auf Ichwerdung ausgerichteten Bildungsbegriffs, ist außerdem von Bedeutung, dass die religiös-ökonomische Sphäre nicht nur als Quelle von Abstraktion, Schriftlichkeit und Geld gelten kann, sondern auch als solche von selbstbewusster Subjektivität.16 Wir haben schon erörtert, wie beim Äquivalententausch die »Ich-habe-was-du-nichthast«-Logik identitätsstiftend wirken kann. Man ist verschieden vom an15 | J. Hörisch: Eine Geschichte der Medien, S. 95. 16 | Ebd., S. 103ff. und ausführlich in J. Hörisch: Tauschen, sprechen, begehren.
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deren, weil man etwas Verschiedenes zum Tauschen hat – sonst würde der Tausch keinen Sinn machen. Die Tauschobjekte sind aber wertmäßig gleich, äquivalent. Das wiederum verbindet die Tauschenden, es stiftet Intersubjektivität. Aber ähnlich verfährt die Schrift: Auch sie homogenisiert Äußerungen verschiedener Epochen, Vergangenheit und Gegenwart. Wie Geld schaltet sie, wie Hörisch es luhmännisch ausdrückt, Inklusion über Exklusion.17 Dass Tauschende wie schriftlich ungleichzeitig miteinander Kommunizierende nichts gemeinsam haben, ist ihre Gemeinsamkeit. Die Verbindung von Gemeinsamem und Trennendem, von Symbolik und Diabolik, liegt im Kern von Abstraktionsprozessen. Geschriebene Wörter, Schriftzeichen aber sind natürlich auch etwas, womit sehr häufig Geldzeichen, Münzen wie Scheine, beschriftet werden. Der Name der Gemeinschaft, in der das Geld gilt, anstatt des Herrscherbildes, der schon erwähnte Doppelstrich in den Währungszeichen anstatt des Stieropfers, die Aufschrift »In God we trust« auf den Dollarnoten, die auf eine anderweitig beglaubigte höhere Gemeinschaft stiftende Macht verweist – sie alle sind beglaubigte abstrakte Symbole, aber auch Symbole für Abstraktion, denn ihre Eigenschaft ist ja, dass sie selbst durch Abstraktion entstanden sind. Darin liegt ihr ursprünglicher Ähnlichkeitsbezug zur Abstraktion. Und damit machen sie die Münze oder den Schein, auf die sie aufgedruckt sind, allgemein zu einem Symbol für Abstraktion und Tausch. Wenn das Symbol dann tatsächliche Tauschvorgänge vermittelt, wird es genau dadurch wiederum beglaubigt. Tauschen und täuschen sind verwandt. Wenn wir tauschen, täuschen wir uns über die Verschiedenheit der wertgleichen Tauschgüter hinweg. Geld täuscht uns die Gleichgültigkeit der Güter vor. Außerdem symbolisiert Geld aufgrund seiner hohen Abstraktheit keinerlei Einschränkungen des Tauschs oder der Tauschobjekte; man kann also – und muss können – alles gegen alles tauschen, um das Geld zu beglaubigen. Jetzt kommt noch hinzu, dass Geld auch ein Wertmaßstab ist. Dass es größere und kleinere Geldscheine und Münzen gibt, ist symbolisch für das Mehr oder Weniger, das Geld numerisch exakt bezeichnet. Wertmaßstab zu sein, impliziert trivialerweise auch die Eigenschaft der Knappheit des Geldes. Wenn ich etwas messen will, muss ich einen knappen Maßstab anlegen; ein Meter darf nur genau so lang sein wie beispielsweise das Pariser Urmeter. Und Geld ist per Definition knapp, es ist als knappes 17 | J. Hörisch: Eine Geschichte der Medien, S. 108.
Kapitel 2 – Die Ökonomisierung der Bildung
Gut geschaffen worden, sonst würde es keinen Sinn machen. Aus seiner Knappheit gepaart mit seiner Eigenschaft der Universalität (man kann damit alles bezeichnen und somit bewerten), folgt sofort seine enge Verbindung zum Begriff der Effizienz. Da man sein Geld für verschiedene Dinge ausgeben kann, kommt man um Optimierungen nicht herum. Man wird immer die zur Auswahl stehenden Güter vergleichen und das beste auswählen. Die »Mehr-oder-Weniger«-Logik ist dem Geld konstitutiv eingeschrieben. Und das von Beginn an: Die frühen Menschenopfer, als deren symbolischer Ersatz Geld sich entwickelt hat, waren für die opfernde Gemeinde, wie Türcke ausführt, die »schlechterdings Schätzenswerten«, weil sie »durch ihren Tod die Schuld der anderen begleichen«.18 Nach Türcke stecken in dieser Wertschätzung, die sich auf das Geld übertragen hat, von Beginn an die beiden Bedeutungen, die wir dem Begriff »Schätzung« heute noch geben: (qualitative) Hochschätzung und (quantitative) Taxierung. So ist das Geld zum Schätzenswerten geworden, aber so wurde ihm auch die Mehr-oder-Weniger-Logik eingeprägt, denn die schon erwähnte Priesterlist, die darin besteht, auf immer abstraktere, symbolischere Opfergaben umzustellen, beruht ja auf der Erfahrung, dass sowieso nie genug geopfert werden kann, der Naturschrecken hörte nie auf. Dass man einer Gottheit daher auch nie genug opfern kann, blieb dem aus dem Opfer entstandenen Geld nach all den Abstraktionsschritten und Profanisierungen der Jahrtausende als Vermehrungsimperativ eingeschrieben.
18 | C. Türcke: Mehr!, S. 42.
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Kapitel 3 Die Geburt der Wissenschaft aus dem Geist des Geldes
Erinnern wir uns an die Aussage, dass Geld der Inbegriff von Abstraktion sei. Gilt auch die Umkehrung? Ist auch Abstraktion der Inbegriff von Geld? Jochen Hörisch verweist in seinem Buch »Tauschen, sprechen, begehren« auf den von der akademischen Philosophie aufgrund der Unreinheit seiner Theorien, ihrer mangelhaften Einordbarkeit in akademische Kategorien, ihrer andererseits also eigentlich wohlverstandenen Interdisziplinarität, vernachlässigten Wirtschaftsphilosophen Alfred Sohn-Rethel, der auf Karl Marx basierend über den Zusammenhang zwischen Geld und abstraktem Denken nachgedacht hat. Ihm zufolge ist nicht Geld eine Folge abstrakten Denkens, sondern umgekehrt. Durch geldvermittelten Äquivalententausch hat der Mensch gelernt, abstrakt zu denken. Hörisch erwähnt in diesem Zusammenhang auch ein Zitat aus Nietzsches »Genealogie der Moral«: »Man hat keinen noch so niedrigen Grad von Zivilisation aufgefunden, in dem nicht schon etwas von diesem Verhältnisse (zwischen Käufer und Verkäufer) bemerkbar würde. Preise machen, Werte abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen – das hat in einem solchen Maße das allererste Denken im Menschen präokkupiert, daß es in einem gewissen Sinne das Denken ist.«1
Musste der Mensch schon abstrakt denken können, um Tauschobjekten Werte zuweisen zu können, oder hat er, indem er dieses implizit tat, das abstrakte Denken beim Tauschen sozusagen nebenbei gelernt? Wahrscheinlich machen wir nicht viel falsch, wenn wir davon ausgehen, dass wir es hier mit einem Henne-Ei-Problem zu tun haben und dass die Ab 1 | Nietzsche zitiert nach J. Hörisch: Tauschen, sprechen, begehren, S. 30f.
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straktheit des Geldes und die des Denkens wechselwirkend aneinander und wohl auch an weiterem gewachsen sind. Ihre Urzelle aber haben beide, dieser Denktradition folgend, im Tausch, der zum Überleben der sesshaften Menschheit notwendig wurde. Denn im Tausch, und nicht etwa im Dialog werden, wie Hörisch schreibt,2 die Tauschenden »auf eine eigentümlich automatisierte und schlechthin verbindliche Form von Intersubjektivität verpflichtet« und bilden so Gesellschaften, wie wir es oben beschrieben haben. Ein Dialog, der Gedanke drängt sich auf, müsste also schon als Tausch von Gedanken gedacht werden, wenn man ihm eine soziale Relevanz zuschreibt. Jedenfalls lässt sich unser Denken als nach dem Bilde des Tausches verstehen, und da dieser immer mehr über Geld vermittelt ist, denken wir demnach immer mehr nach dem Bilde des Geldes, und da dieses immer abstraktere Formen annimmt, denken wir immer abstrakter. Die Denkform wird aus der Warenform, die die knappen Tauschobjekte beim Tausch ja annehmen, abgeleitet und dann mit Geld, einem künstlich knapp gehaltenen Medium, mit einem numerischen Maßstab gemessen – so wie es für mathematisch-naturwissenschaftliche Denkformen konstitutiv ist, die das zahlenmäßig erfassbare logisch-formale Denken kultivieren. »Logik ist das Geld des Geistes; und Geld […] der Geist der Logik.«3 Dies ist eine Formulierung, die schon Marx benutzte. Mit anderen Worten: Geld, also die Abstraktion der Abstraktion, abstrahiert von den Unterschieden zwischen abstrakter, weil entsinnlichter Denkform und der ja auch immer schon vom Gebrauchswert abstrahierten Warenform. Im Geld fließt in einem zweistufigen Prozess beides zusammen. Wenn wir abstrakt denken, haben wir zunächst eine Entsinnlichung der Denkobjekte betrieben, weil wir abstraktes Denken überhaupt erst als Vernachlässigung des Gebrauchswerts von Tauschobjekten durch deren Transformation in Waren kennengelernt haben. Wir verzichten auf den sinnlichen Genuss des Trinkens des Weins, den wir stattdessen (im doppelten Sinne) nüchtern in ein Tauschobjekt verwandeln. Unsere entsinnlichten abstrakten Gedanken sind als solche insofern (nicht Waren, aber) warenförmig, von ihrem sinnlichen Gebrauchswert enthoben. Und wenn wir dann auf der zweiten Stufe Waren, also auf ihren Tauschwert reduzierte Gegenstände, über Geld vermittelt tauschen, lernen wir, diesen 2 | Ebd., S. 32. 3 | Ebd., S. 36.
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ihren Wert exakt messbar und damit numerisch ausdrückbar zu machen. Unsere mit numerischer Messbarkeit operierenden abstrakten Gedanken sind insofern geldförmig. Das mathematisch-naturwissenschaftliche Denken ist auf diese Weise nach der Sohn-Rethel’schen Logik im Geld fundiert. Wie man Längen in Metern misst, hätten wir demzufolge daraus gelernt, dass wir zunächst Werte in Geldeinheiten gemessen haben. Ein Zusammenhang von Geld und logisch-abstraktem Denken ist durchaus auch historisch naheliegend, denn dieses entstand gleichzeitig mit den ersten Münzprägungen um 680 v. Chr. in Griechenland. Das gemünzte Geld wird damit auch, wie Hörisch nicht zu erwähnen vergisst,4 zur Scheidelinie zwischen Mythos und Logos, zwischen mythischem und logisch-rationalem Denken. Im Mythos wird das Unsichtbare, das NochNicht-Abstrahierte noch mitgedacht, im Logos nicht mehr. Der Gedanke, dass allerdings der Logos so unmythisch wiederum auch nicht ist, eine Kernaussage der Kritischen Theorie, wird uns im Folgenden bisweilen begegnen. Erinnern wir uns an den Zusammenhang von Geld und Schrift: Man findet in der Literatur verschiedene Datierungen, aber zumindest in zeitlicher Nähe zum Aufkommen von Geld und abstraktem Denken sowie ebenfalls in Griechenland, also auch in räumlicher Nähe, und schließlich auch phänomenologisch damit eng verbunden, ist das Aufkommen des ersten vollständig ausgebildeten phonetischen Alphabets mit 24 Buchstaben, das auch die Vokale verschriftlicht.5 Die Schrift entstand, und zwar eine solche, wie wir sie heute noch benutzen, eine die anders als Hieroglyphen aus abstrakten Lautzeichen besteht. Die Entstehung der abstrakten Schrift hängt mit der Entstehung des abstrakten Geldes zusammen. Die Entstehung der Schrift überhaupt – als erste Schrift gilt die sumerische Keilschrift um 3400 v. Chr. – aber spielte sich auch im ökonomischen Kontext ab: Die ersten überlieferten Zeugnisse sind Eigentumsverträge, Steuerbescheide oder Quittungen.6 Die Abstraktheit von Schrift wie Wirtschaft war damals noch nicht so ausgeprägt wie später, aber der Bezug von Schrift und Wirtschaft, von Wort und Zahl und ganz allgemein abstraktem Denken überhaupt ist von Anfang an gegeben. Der Ursprung des geschriebenen Wortes und damit auch Literatur liegt insofern ganz wesentlich im ökonomischen und damit auch numerischen Bereich. Zahl 4 | Ebd., S. 50. 5 | J. Hörisch: Eine Geschichte der Medien, S. 97. 6 | Ebd., S. 96.
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und Wort, Wirtschaft und Literatur werden sich ausdifferenzieren und stark voneinander abgrenzen, aber gewisse strukturelle Ähnlichkeiten durch ihre Abstraktheit und Symbolhaftigkeit immer behalten und darin liegen auch die Grundlagen von Bildungsprozessen. Es ist nicht zuletzt auch die abendländische Philosophie, die wie Türcke es ausdrückt, »geldgestützt« 7 entstanden ist: »Sobald die Münze als allgemeines Äquivalent wahrnehmbar wurde, worin virtuell alle Gebrauchsgüter enthalten sind, verhalf sie einigen hellen Köpfen nahezu umgehend zur Vorstellung eines allgemeinen, ursprünglichen Stoffs, worin der ganze Kosmos sein Bestehen und seinen Anfang hat.« 8 Für Türcke ist das Münzgeld der Dünger, der das philosophische Denken auf dem Boden des allgemeinen Treibens und Handelns auf der Agora hat gedeihen lassen.9 Wie die Priester das Volk um ein Heiligtum versammelten, versammelten Philosophen Schüler um ihre Lehren, welche immer individueller wurden, weil philosophische Gedanken wie Münzgeld sich infolge ihrer Abstraktheit auf alles beziehen können. Wenn wir von Humboldt später die Forderung von Bildung durch Wissenschaft vernehmen, wobei ja mit Wissenschaft im Wesentlichen Philosophie gemeint war, sollten wir diesen nicht ganz irrelevanten Aspekt nicht aus den Augen verlieren, dass hier ein A-priori-Bezug von Bildung und Geldförmigkeit hergestellt werden kann und dass sich eine solche Humboldt’sche Bildung wie auch die Philosophie im Allgemeinen gerade deshalb immer mehr von Geld und Wirtschaft abgrenzen wollen, es verachten. Aber es ist ein Unterschied, ob etwas aus dem Geist des Geldes entsteht, oder ob es um des Geldes willen betrieben wird. Es sollte noch einige Jahrhunderte dauern, bis das formal-abstrakte logisch-rationale Denken sich umfassend entfalten konnte. Erst in der Neuzeit differenzierten sich die mathematischen Naturwissenschaften aus, die das Prinzip der Bewertung realer Objekte mit Zahlenmaßstäben grundsätzlich anwendeten. Nun zeichnen sich Naturwissenschaften aber nicht nur durch numerische Messungen aus, sondern viel stärker noch durch das Experiment. Erst dieses verleiht ihnen ihre spezifische Identität. Das Experiment ist in den Naturwissenschaften die höchste Entscheidungsinstanz über das, was als Wahrheit gelten darf. Eine naturwissen7 | C. Türcke: Mehr!, S. 123. 8 | Ebd., S. 117f. 9 | Ebd., S. 122.
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schaftliche Erkenntnis wird erst durch die experimentelle Bestätigung zu einer solchen, nicht schon durch rein mathematische Deduktion. Der Naturwissenschaftler beobachtet also gar nicht direkt die Natur, sondern ein Experiment und das ist nicht ganz das gleiche. Ein Experiment ist nämlich ein künstlich arrangierter, konstruierter Ausschnitt aus der Natur, wo von Einflüssen, die für die gerade bearbeitete Fragestellung nicht interessieren, bereits abstrahiert wurde. Der Naturwissenschaftler untersucht immer schon eine Abstraktion der Natur und versieht diese mit Formeln und Zahlen. Dieses Prinzip ist uns bereits bekannt, wir müssen nur an die doppelte Abstraktion des Geldes denken. Auch Geld bemisst nicht den originalen Gebrauchsgegenstand, sondern immer schon das abstrakte Tauschobjekt. Wegen dieser formalen Ähnlichkeit von Naturwissenschaft und Geld eignen sich beide zur gegenseitigen Beglaubigung. Sie symbolisieren sich. Auch die Naturwissenschaften lassen sich schließlich sehr leicht als eine Reaktion auf den Naturschrecken verstehen. Die Angst vor der Natur lässt sich bändigen, indem man versucht, sie zu verstehen, ihre Gesetze herausarbeitet. Wie die Urvölker, die den Naturschrecken durch Wiederholung der Naturgewalten an ihrem Kollektiv in Form von Opferungen verarbeiten und damit symbolisch kontrollieren, tun dies auch Naturwissenschaftler durch Wiederholung der Naturvorgänge im Experiment und deren Beschreibung mit mathematischen Symbolen, die ebenso wie das Geld, das die Opferungen ersetzte, im Laufe der Zeit immer abstrakter wurden. Beide Fälle basieren auf dem Glauben, dass man mit Symbolen der Natur Herr wird. Und wenn man erst einmal glaubwürdiges Geld geschaffen hat, lässt sich sein Wert sehr gut für wirtschaftliche Tauschvorgänge benutzen. Auf die gleiche Weise lassen sich die Naturgesetze für technische Anwendungen nutzen. So entsteht die neue techno-ökonomische Welt. Technik und Wirtschaft basieren gleichermaßen im Glauben und der Erfahrung, dass man damit die Angst vor der Natur bändigen kann. Die Naturwissenschaften sind nur eine andere, aber strukturhomologe Herangehensweise an den Umgang mit dieser Angst als die Religion. Technik und Wirtschaft behalten diese Strukturhomologie bei, wenn sie den Glauben an den Wert der jeweiligen Zeichensysteme für ihre Zwecke ausnutzen. Auch historisch sind Technik und Wirtschaft nicht unabhängig voneinander. Gegen Ende des Mittelalters waren die ersten Banken entstanden. Das Wesen des Geldes, seine Abstraktheit und numerische Messfähigkeit
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hat das Denken beeinflusst und so wiederum das Geld beglaubigt. Denn man sah, dass das Geld als Tauschmittel funktionierte, also musste an dem, was es symbolisierte, eben Abstraktheit und numerische Messfähigkeit, etwas Wahres sein. Gleichzeitig verblasste die Glaubenskraft des Christentums mit Gott als geistiger Kraft und deren Auswirkungen auf die Lebenswelt und man stellte fest, dass Geld diese Fähigkeit ebenfalls besaß. Ein wichtiges Argument für den Zusammenhang zwischen Geld und Naturwissenschaften aber haben wir oben schon aufgeführt. Es besteht in der dem Geld nachgebildeten Methodik der Naturwissenschaften. Nicht die originale Realität wird betrachtet, sondern eine künstlich geschaffene, eben das Experiment und das ist es, was vermessen wird und woraus Erkenntnisse gezogen werden. Im Experiment hat man von störenden Einflüssen abstrahiert, so wie man beim Tauschobjekt schon von seinem Gebrauchswert abstrahiert hat und das Tauschobjekt ist es, welches vom Geld bewertet wird. Es ist immer schon ein abstraktes Objekt, auf das man sich bezieht und mit einem Wertmaßstab belegt und das man nur allzu leicht mit der originalen Welt verwechselt. So lässt sich argumentieren, dass die Überzeugung, dass man trotzdem auf diese Weise Erkenntnisse über die Natur als originale Welt gewinnen kann, dadurch bestärkt wird, dass man durch das tägliche selbstverständlich gewordene Erleben des erfolgreichen Funktionierens des Geldes als Tauschmittel dessen Prinzip, sich auf schon abstrakte Objekte zu beziehen und sie mit einem Wertmaßstab zu belegen, verinnerlicht hat. Es ist doch keineswegs selbstverständlich, an die Wahrheitsfähigkeit der Naturwissenschaften zu glauben, wenn man weiß, dass sie die originale Realität nur experimentell vermittelt beobachten können, und dass ihr Grundprinzip nicht die Abbildung, sondern die Konstruktion10 der Welt ist. Dazu passt auch, dass diese Überzeugung erst zu jenem historischen Zeitpunkt des ausgehenden Mittelalters und dann mit so breitem und nachhaltigem Erfolg entsteht, dass man in ihr einen Reflex auf das sich ebenso plötzlich ausbreitende Geldwesen und auch einen wechselseitigen symbolischen Beglaubigungsprozess von Wirtschaft und Naturwissenschaften sehen kann. Beide folgen gleichermaßen einer jeweils 10 | »Wir erkennen, was wir machen« nennt Schelsky den Abschnitt in seinem Buch, in dem er die Methodik der Naturwissenschaften beschreibt, die er von der introspektiven und reflektierenden Philosophie abgrenzt (H. Schelsky: Einsamkeit und Freiheit, S. 141).
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eigengesetzlichen Sachlogik. Unabhängig vom forschenden Menschen verfolgt die naturwissenschaftliche Forschung die Klärung der aus der Wechselwirkung von Theorie und Experiment sachlogisch aufkommenden Fragen, wobei nur das als (vorerst) gesicherte Erkenntnis gilt, was experimentell bestätigt wird. Insofern läuft naturwissenschaftliche Forschung autonom ab. »Welches ist nun aber die ›Methode‹, die die ›Eigengesetzlichkeit‹ des Gegenstandes aufschließt? Es ist die der Konstruktion des Gegenstandes. In der modernen Naturwissenschaft hat sich als erstem Wissensgebiet die entscheidende Wahrheit des modernen Wissens zur Geltung gebracht, daß wir erkennen, weil wir konstruieren.«11
Wenn aber die Naturwissenschaften den Gegenstand, den sie erforschen, selbst konstruieren, sind sie von Anfang an Technik. Das gelungene Experiment wird mit der technischen Beherrschung des Gegenstandes schlicht identisch und muss später in Produktionsprozessen nur noch wiederholt werden. So nimmt naturwissenschaftliche Forschung Arbeitscharakter und Betriebsförmigkeit an. Insofern der Naturwissenschaftler bei seiner Arbeit »der Sache dient«, liegt sogar eine weitere formale Übereinstimmung mit dem Humboldt’schen Bildungsideal vor, demzufolge sich die Lehrenden und Lernenden in einer Gemeinschaft versammeln, um der höheren Sache Wissenschaft zu dienen. Auch ein Naturwissenschaftler könnte sich also zum neuhumanistischen Bildungsideal bekennen, aber eben nur symbolisch, denn beim Dienst an der Wissenschaft wird gerade nicht das Ich gebildet, nicht die Individualität gesteigert, sondern den Gesetzen der Naturwissenschaft gefolgt. »Die Ausschaltung der Person in den Naturwissenschaften hebt die Personhaftigkeit des Erkennens, die in der ›philosophischen Wissenschaft‹ noch dominiert, praktisch auf; […] damit wird allerdings auch die entscheidende Bildungsvoraussetzung des idealistischen Universitätsideals, daß die wissenschaftliche Erkenntnis unmittelbar die Versittlichung der Handlungsmotive der einzelnen Person leiste, in dieser Wissensform außer Kraft gesetzt.«12
11 | Ebd., S. 142. 12 | Ebd., S. 144.
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Was erforscht werden muss, folgt aus dem schon Erforschten und nicht aus den Interessen unabhängiger Individualisten – genauso wenig wie das, womit Unternehmen Geld verdienen können. Außerdem war Geld damals, am Ende des Mittelalters, noch von außen formal mit materiellen Werten wie Gold gedecktes Geld. Herrscher und Gemeinschaften haben es als gültig erklärt und seinen Wert garantiert. Geld war noch nicht rein selbstbezüglich wie heute. Es gab damit einen externen Bezug des Geldes, eine exogene Beglaubigungsinstanz und es gab die Vorstellung, dass das Geld in einem proportionalen Verhältnis zu den realen Gütern steht. Man ist von einem Eins-zu-EinsBezug von Geldzeichen und Bezeichnetem ausgegangen, einer besonderen Form einer adequatio rei et intellectus. Genau dieses strukturalistische Prinzip finden wir nun aber auch in den Naturwissenschaften, die diesen externen Bezug in Gestalt des Experiments ebenfalls aufweisen. Man kann Erkenntnisse über die Natur nicht nur durch Denken, Deduzieren und Formelumformungen gewinnen, sondern – das ist der Wesenskern der Naturwissenschaften – man muss sie im Experiment nachprüfen. Erst das Experiment entscheidet über die Gültigkeit von Aussagen. Entsprechend entscheidet der Herrscher über die Gültigkeit von Geld. Ein Herrscher kann zwar nicht alleine das Geld beglaubigen, es bedarf immer auch immanenter Beglaubigungsprozesse. Wenn wirklich niemand das Geld als Zahlungsmittel anerkennt, wird der Herrscher auch unter Androhung der Todesstrafe das nicht nachhaltig ändern können. Genauso aber verhält es sich mit den Naturwissenschaften. Wenn wirklich niemand glaubt, dass deren mathematische Formeln etwas mit der Natur zu tun haben, dann werden noch so viele Experimente daran nichts ändern können. Um das faszinierende Phänomen des Glaubens kommt man nicht herum – faszinierend, weil es doch eigentlich gar nicht selbstverständlich, sondern höchst verwunderlich ist, dass man mit einem fast wertlosen Stück Metall oder Papier wertvolle reale Güter erhält und dass eine mathematisch formulierte Formel der Physik mit dem Alltagserleben etwas zu tun haben soll. Damit dieser Glaube aufrecht erhalten wird, muss das mit dem Symbolisierten ursprünglich in einem Ähnlichkeitsverhältnis stehende Symbol immer wieder per Zirkelschluss beglaubigt werden, in dem das Symbolisierte dem Symbol nachgebildet wird. Die Nachbildung »beweist« dann die Kraft des Symbols und beglaubigt es so. Die Formel-Symbole der Physik haben mit der Zeit ihre Gültigkeit und Akzeptanz erhöht, indem die Natur ihnen durch Technik nachge-
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baut wurde. Entsprechend hat das Tauschsymbol Geld mit der Zeit seine Gültigkeit und Akzeptanz erhöht, indem es die Gesellschaft durch Sozialtechnik nachgebaut hat, wie wir im Folgenden genauer erkennen werden. Übrigens lässt sich leicht überlegen, dass die Strukturähnlichkeit zwischen Wirtschaft und Naturwissenschaften auch in poststrukturalistischen Zeiten anhält, wenn naturwissenschaftliche Formelzeichen wie Geldzeichen frei zu flottieren beginnen und der Eins-zu-Eins-Bezug zwischen Zeichen und Bezeichnetem aufgehoben wird. Die Geschichte des Zusammenhangs zwischen Geldbeglaubigung und abstraktem Denken hat bekanntermaßen mit der Schaffung der Naturwissenschaften keineswegs ihr Ende gefunden, sondern erst richtig begonnen. Mit der Moderne entsteht ab dem 18. Jahrhundert, um zunächst im Bereich der Wissenschaft zu bleiben, die Wirtschaftswissenschaft. Sie bezeichnet sich zwar bis heute als aus der Moralphilosophie hervorgegangen, steht aber methodisch überwiegend hinter den Naturwissenschaften. Am deutlichsten wird dies in der neoklassischen, mathematisch formulierten Gleichgewichtstheorie, die nach wie vor die Kerntheorie der Ökonomik ist.13 Sie ist die große Erzählung der Ökonomik. Rein begrifflich verfasst, ohne jeden empirischen Bezug erzählt sie die Geschichte einer auf Produktions-, Verteilungs- und Konsumprozesse reduzierten Gesellschaft aus »Unternehmen« und »Haushalten«. Die Handlungen aller Akteure dieser stilisierten, holzschnittartigen, nicht in Schriftzeichen, sondern in mathematischen Zeichen verfassten Fantasiegesellschaft bestehen nur aus einer einzigen Tätigkeit: Sie optimieren Tauschvorgänge. Die Unternehmen maximieren Gewinn, die Haushalte Nutzen. Unter einer Reihe von weiteren Annahmen tritt allein durch die unabhängigen und rein eigennützigen Optimierungsbestrebungen der Akteure über Preisanpassungen (»Marktkräfte«) ein Zustand ein, in dem der Nutzen bzw. Gewinn jedes Akteurs maximal wird und alle Ressourcen der Gesellschaft optimal genutzt werden. Jedes Individuum und die Gesellschaft als Ganzes wirtschaften effizient, das heißt zielmaximal bei gegebenen Mitteln bzw. mittelminimal bei gegebenen Zielen. Damit nimmt die Gleichgewichtstheorie den zentralen Gedanken Adam Smiths (1723-1790) auf, durch den dieser zum offiziellen Begründer der modernen Wirtschaftswissenschaften aufstieg, obwohl es durch13 | Diese Theorie ist ausführlich dargestellt in O. Fohrmann: Die Wirtschaft und das Wirtschaftliche.
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aus Vorgänger gab wie Bernard Mandeville (1670-1733), der in seiner Bienenfabel den Gedanken kollektiver Tugend durch individuelles Laster schon verarbeitet hat. Die Gleichgewichtstheorie kultiviert damit in völligem Bruch mit bis dahin vorherrschenden christlichen Soziallehren, denen zufolge die avaritia (Gier) noch eine Todsünde war, die moralische Besetzung von egoistischem Immer-Mehr-Haben-Wollen als positiv und gesellschaftlich wünschenswert. Wie soll man sich diesen Bruch erklären, wenn nicht als Ablösung eines Glaubens durch einen anderen? Hätte die Glaubenskraft des Christentums unverändert weiter bestanden, insbesondere bei den in den Wirtschaftseinrichtungen Tätigen, hätte man mit einem ständigen Gewissenskonflikt zwischen eigenem egoistischen Verhalten und christlichen Moralvorstellungen zu kämpfen gehabt. Hier ist der christliche Glaube durch den Glauben ans Geld ersetzt worden. Die auf dem Effizienzbegriff beruhende Gleichgewichtstheorie ist nämlich alles andere als eine überholte Theorie des 19. bzw. 20. Jahrhunderts, als sie als Markttheorie formuliert wurde. Der zentrale Begriff der Effizienz macht die Ökonomik überhaupt erst zu einem eigenständigen Fachgebiet. Auf Grundlage des Effizienzbegriffs kann man genuin ökonomisches Wissen überhaupt erst produzieren. Darüber hinaus darf man wohl nicht ganz zu Unrecht davon ausgehen, dass das, was aus Universitäten und Hochschulen an ökonomischem Wissen in die Gesellschaft hineinsickert, im Wesentlichen aus den Kernaussagen der Gleichgewichtstheorie besteht, denn alle Wirtschaftsstudierenden kommen in den Anfangssemestern mit ihr in Berührung, bevor sie sich im weiteren Verlauf des Studiums auf Inhalte spezialisieren, die meist betriebswirtschaftlich ausgerichtet sind, da die übergroße Mehrheit der Wirtschaftsstudierenden BWL studiert. Die meisten wirtschaftswissenschaftlich Ausgebildeten kommen mit neueren volkswirtschaftlichen Richtungen wie Verhaltensökonomik oder experimenteller Wirtschaftsforschung nicht in Berührung. Und selbst, wenn die Ökonomen auf Forderungen nach mehr Interdisziplinarität reagiert haben, basieren auch die neueren Ansätze immer auf dem Effizienzbegriff. So nicht vorzugehen, hieße schlicht, keine Ökonomik zu betreiben; auf die Idee individueller Optimierung kann man nicht verzichten, ohne die Identität der Ökonomik ganz aufzugeben. Die umfassenden empirischen und ökonometrischen Arbeiten der Ökonomen beispielsweise erfassen einerseits eine inzwischen immer schon von der Theorie vorgestaltete Welt und sind methodisch in der mathematischen Statistik anzusiedeln. Ökonomisch werden
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sie erst, wenn die Annahme der Optimierung, das Streben nach Effizienz, ins Spiel kommt. Ökonomen beobachten nicht einfach Handlungen, sondern interpretieren sie immer schon als effizient oder untersuchen, wie man sie bei vorgegebenen Mitteln und Zielen effizient gestalten kann. Die direkt und ohne Empirie aus dem Effizienzbegriff heraus entwickelte Gleichgewichtstheorie wird oft als »Modell der Wirtschaft« bezeichnet, das rein positivistisch das Verhalten von Wirtschaftssubjekten in Produktions-, Verteilungs- und Konsumeinrichtungen nachbildet. Dabei wird übersehen, dass die Wirtschaftssubjekte weitgehend durch diese Theorie überhaupt erst zu solchen geworden sind. Aber selbst trotz des Einwands, dass dies nicht die Schuld der Theorie sei, sondern einer gesellschaftlichen Dynamik geschuldet, die nicht Zweck und Absicht dieser positiven Theorie sei, lässt sich ein Kritikpunkt gegen die Leugnung der Normativität der ökonomischen Theorie vorbringen. Denn schon der Begriff »Modell« deutet doch auf einen normativen Charakter hin, in dem das Vorbildhafte, eben der Modellcharakter, mitschwingt. Hier zeigt sich noch einmal mustergültig die typische, um nicht zu sagen modellhafte, Vorgehensweise der Ökonomik. Es werden Begriffe abstrakt (um-)definiert, von schon vorhandenen Bedeutungen wird abgesehen. Die Ökonomik basiert immer schon auf einer künstlichen, selbst geschaffenen abstrakten Begriffswelt, deren Worte zwar aus der Lebenswelt stammen, aber immer etwas Abstrakteres, Umdefiniertes bedeuten. Die Ökonomik basiert auf diesen Begriffen wie die Physik auf dem Experiment. Nicht die Wirklichkeit, sondern die abstrakt geschaffene Zwischenwelt wird untersucht. Auch die Historiker gehen so vor, da sie nicht die Geschichte an sich, sondern Quellen und Überlieferungen als Zwischeninstanz behandeln. Ähnlich verhält es sich mit der Literaturwissenschaft, aber mit einem wichtigen Unterschied: Die Literaturwissenschaft untersucht zwar auch nicht die Wirklichkeit, sondern die Literatur als Zwischeninstanz, aber anders als in den Naturwissenschaften, der Ökonomik und der Geschichte, würde sie auch nie etwas anders als das behaupten. Nirgends sind Realität und Fiktion so klar und sauber getrennt wie in der Literaturwissenschaft. In den anderen genannten Wissenschaften verschwimmen Realität und Fiktion – und das schon alleine aus begrifflichen Gründen. Die Geschichtswissenschaft müsste eigentlich Überlieferungs- oder Quellenwissenschaft heißen, die Naturwissenschaften müssten eigentlich Experimentalwissenschaften heißen. Und bei den Wirtschaftswissenschaften schließlich sind die Grenzen zwischen Realität (lebenswelt-
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liche Wirtschaft) und Fiktion (abstrakte Modellbegriffe) durch deren gegenseitige Beeinflussung so verschwommen, dass man sie als eine Begriffswissenschaft der Wirtschaft bezeichnen könnte. Insofern als sie mit ihren Begriffen und Annahmen rein menschliche Konstrukte untersucht, ähnelt sie der Literaturwissenschaft, weil auch Literatur etwas rein vom Menschen Geschaffenes ist. Literatur wie Wirtschaft sind folglich beide poetisch. Nur dass es sich bei ersterer um eine sprachliche Poesie handelt und bei letzterer um eine monetäre. Im ersten Fall ist die Sprache das Medium, das den Kontakt zur Welt vermittelt, im zweiten Fall ist es das Geld. Welches Medium man bevorzugt, ist eine Frage des Vertrauens, ja des Glaubens. Die einen Menschen denken die Welt von der Sprache her; am Anfang war das Wort und aus sprachlichen Konstrukten entstehen neue Gedanken und neues Leben inkarniert sich. Die anderen denken die Welt vom Geld her, der Möglichkeit, Dinge zu vermessen, zu bewerten und so Äquivalente zu schaffen. Geld zu vermehren ist ihnen zufolge der Antrieb, durch den Neues in die Welt kommt, nicht nur Materielles, auch Geistiges. Auf die Wissenschaft projiziert, ergibt sich die Ausdifferenzierung in Geistesund Naturwissenschaften – und die Sozialwissenschaften inklusive der Wirtschaftswissenschaft zwischen beiden Stühlen. Beide Wissenschaftskulturen erheben Anspruch, die Welt alleine ganz erfassen zu können. Auch Wirtschaft kann als Literatur verstanden werden, ebenso Literatur als Wirtschaft. Von einem (vermutlich erstrebenswerten, aber vielleicht utopischen?) Gleichgewicht zwischen beiden Poetiken wie zwischen beiden Wissenschaftskulturen wird man aktuell kaum sprechen können, eher von einer Schieflage, denn heute liegt durch eine Asymmetrie zugunsten der Naturwissenschaften und der techno-ökonomischen Bildung zulasten der Geisteswissenschaften, freier Intellektualität und der echten Humboldt’schen Bildung der Schwerpunkt einseitig. Die Poesie der Sprache verliert im Vergleich zur Poesie des Geldes an Bedeutung, ebenso wie schöne Literatur im Vergleich zu funktionalistischen Berechnungen,14 und Sprache wird gleichzeitig noch umdefiniert, indem 14 | Das zeigt sich beispielsweise an einem Fall, auf den Türcke hinweist: Der Ökonom Thomas Piketty hat in seiner viel beachteten Studie »Das Kapital im 21. Jahrhundert« laut Türcke offensichtliche und weitgehend seit den 1970er Jahren bekannte Ergebnisse dargestellt, die aber heute »wie eine grundstürzend neue Idee aufgenommen« (C. Türcke: Mehr!, S. 379) werden, weil sie erstmals umfas-
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sie als rein funktionalistisch verstanden wird. All das wirkt sich auf die Bildungswelt aus, zum Beispiel, indem im Zuge der Umstellung von Bildung auf Kompetenzen »Lesekompetenz« nicht mehr nur anhand von Goethes Werken, sondern prinzipiell auch mithilfe von Bedienungsanleitungen von Waschmaschinen ausgebildet werden kann.
send mit Zahlen unterfüttert sind, »und Zahlen sind das einzige, was Ökonomen noch existentiell erregt« (ebd., S. 431).
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Kapitel 4 Bildung, Wirtschaft und Literatur
Es lohnt sich, die Beziehung von Bildung, Wirtschaft und Literatur ausführlicher zu behandeln, weil sich herausstellen wird, dass diese drei Bereiche heute in der Postmoderne mehr denn je verschränkt sind. Das eine ist ohne das andere gar nicht verstehbar. Wir haben schon angedeutet: Insofern der Literaturwissenschaftler immer weiß, dass Hexen und Einhörner nur in der Literatur existieren und nicht als materielle Wirklichkeit, geht der Ökonom im Allgemeinen nicht davon aus, dass effiziente Zustände oder Investitionen nur in der Begriffswelt vorkommen. Einen Sonderfall stellt in der Wissenschaft in diesem Zusammenhang lediglich die Mathematik dar, die als rein konzeptionelle Disziplin, die nur Gedankenkonstrukte thematisiert, das Problem der Beziehung von Realität und Fiktion umgehen kann. Die Ökonomik hingegen lebt vermutlich geradezu, ebenso wie Wirtschaft und Technik im Allgemeinen, von der Verwischung von Realität und Fiktion. Der Germanist Fritz Breithaupt liefert dazu in seinem Buch »Der Ich-Effekt des Geldes« die entscheidenden Gedanken. Im Zentrum des Buchs steht der spannungsreiche Zusammenhang des Begriffs des Ichs und des Geldes. Da Humboldt Bildung als Ichwerdung verstand, wird der Unterschied zwischen einer Bildung zum Bilde des Ichs und derjenigen zum Bilde des Geldes hier sehr deutlich erkennbar werden. Denn Kritik am ökonomisierten Bildungsbetrieb ist zwar ein weites Feld, aber eines haben doch die verschiedenen Kritiker gemeinsam: die Vorstellung, dass Bildung etwas Individuelles sein sollte, etwas, was das Ich schult, was man mit sich selbst macht. Selbstbildung, Ichwerdung, eigene Interessen verfolgen, sich selbst in den Bildungsinhalten spiegeln – diese Dinge sind es vor allem, die verloren gehen, wenn Bildung ökonomisch umdefiniert wird oder ganz zur Berufsausbildung
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verkommt und zu Fremdzwecken erfolgt. Es ist daher sinnvoll, die Begriffe Ich, Selbst und Andere genauer unter die Lupe zu nehmen und herauszuarbeiten, wie sie sich im Laufe der Zeit entwickelt haben, wie sie sich zum Geld und anderen wirtschaftlichen Begriffen positionieren. Die Rolle der Literatur besteht nach Breithaupt grundsätzlich darin, Begriffe durch Narrativierungen zu institutionalisieren, und das heißt nicht zuletzt auch: zu beglaubigen. Sie ist daher für die rein begrifflich verfasste Wirtschaft ebenso zentral wie für Bildung als Ichwerdung, die auf dem Begriff des Ichs beruht. Breithaupt grenzt zunächst die Begriffe »Selbst«, »Subjekt« und »Ich« voneinander ab.1 Unter Selbst versteht er eine von Natur aus vorhandene Grundlage von Identität, »sei’s eine gottgegebene Seelensubstanz, eine emotionale Grundstimmung oder ein unmittelbares Bewusstsein«2 . Ein Subjekt ist auf die Herrschaft von Objekten ausgerichtet und für unsere Zwecke zweitrangig, da es seine individuelle Identität nicht reflektiert. Das Ich aber ist der wichtigste Begriff, denn selbst Breithaupt, obwohl es in seinem Buch nicht direkt um Bildung geht, positioniert das Ich dort, »wo der Bildungsweg zur Vollendung gekommen ist«.3 Das Ich ist der Kern der Individualität und das, was gebildet werden soll, nicht das Selbst, erst recht nicht das Subjekt. Das Ich ist allerdings schwer zu fassen, es ist eben nie ganz gebildet, sondern bleibt immer ein Bildungsziel, das nie ganz erreicht wird, da der Bildungsweg nie zur Vollendung kommt. Es deckt sich damit formal mit der Imago-Dei-Bildung des Mittelalters, derzufolge man sich Gott nachbildete, natürlich ohne ihn je zu erreichen. Das Ich ist schwer dingfest zu machen, es bleibt übrig, wenn man das Selbst als Täuschung entlarvt hat oder sich als Subjekt von Herrschaftsmechanismen erkannt hat. »Das bin nicht ich«, »in diesem Beruf sehe ich mich nicht«, »das ist nichts meins« oder ähnliche Sätze kennen wir und sie sind viel leichter zu formulieren als ihre positiven Varianten, als zu sagen, was wir denn sind, wo wir uns beruflich sehen oder was denn unseres sei. Und dennoch wäre es viel zu leichtfertig zu behaupten, dass das Ich nur eine Illusion sei und man es deshalb nicht weiter zu beachten brauche. Das Ich ist zwar zunächst ein reiner Begriff, aber das sind die Begriffe der Wirtschaft, wie Effizienz und viele weitere, die wir noch er1 | F. Breithaupt: Der Ich-Effekt des Geldes, S. 13. 2 | Ebd., S. 13. 3 | Ebd., S. 14.
Kapitel 4 – Bildung, Wir tschaf t und Literatur
wähnen werden, auch. Für alle Begriffe gilt gleichermaßen: Sie streben nach Realisierung, nach Institutionalisierung in der realen Welt, nach Inkarnation, nach Materialisierung, um sich zu beglaubigen. Verbum caro factum est. Ausgehend von Luhmanns Systemtheorie und Foucaults Diskursanalyse beschreibt Breithaupt detailliert, wie aus Begriffen Realität werden kann. Um sich zu manifestieren, um sich zu beglaubigen, erhebt ein Begriff, der übrigens Breithaupt zufolge immer seinen strukturellen historischen Ursprung in dem Überbegriff »Gott« hat, Anspruch auf Geltung und Legitimität. Dazu setzt er menschliches Verhalten in Gang, das, wie wir hinzufügen können, wiederum den Begriff beglaubigt – der Zirkelschluss, dem wir schon häufig begegnet sind und den Breithaupt als Institutionalisierungszyklus bezeichnet. Gerechtigkeit beispielsweise soll von Richtern hergestellt werden, Effizienz von wirtschaftenden Menschen oder das Ich in einem Bildungsprozess. Somit ist ein Begriff immer eine Anleitung und eine Forderung zur Herstellung ihm entsprechender Verhaltensweisen und letztlich von Objekten, die sich wiederum im Begriff verdichten, ohne diesen Prozess genau festzulegen und ohne dem Begriff jemals vollständig zu entsprechen, was nicht möglich wäre. Niemand kann einfach »gerecht« sein. Ein Richter kann durch eine Verurteilung nicht abschließend einfach Gerechtigkeit herstellen und niemand kann einfach »effizient« handeln, denn was effizient ist, hängt von der Vorgabe von Zielen und Mitteln ab und die lassen sich nie messerscharf voneinander abgrenzen, das heißt definieren. Entsprechend ist auch das Ich nicht einfach irgendwann endgültig vorhanden. Ein Begriff lässt sich nie abschließend direkt realisieren, sondern ist immer auf Beglaubigung angewiesen, indem in einem Zirkelschluss das vom Begriff ausgelöste Verhalten den Begriff wieder manifestiert. Im Zuge seines Beglaubigungsprozesses greift der Begriff auf die reale Welt zu und verändert diese bis hin, wie man sich leicht vorstellen kann, zu dem, was wir gesellschaftliche und techno-ökonomische Neuschaffung genannt haben. Es ist nach Breithaupt ein dreistufiger Prozess: Der Begriff wird, erstens, in einzelne Teilbegriffe zerlegt, dann werden, zweitens, diese Einzelteile in eine Ordnung zueinander gebracht und dann kommt, drittens, die Narrativierung ins Spiel, das ist die Anwendung der geordneten Einzelbegriffe auf einen Einzelfall. Diese Narrativierung liefert eine Ersatznarration, eine Ersatzbegründung für den Begriff, denn der Begriff als solcher ist eben nicht direkt realisierbar. Die Ersatznarration lenkt von
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dieser nie ganz vorhandenen Entsprechung von Begriff und Realität ab, also davon, dass der Begriff letztlich immer unverstehbar bleiben wird, und entschärft dadurch außerdem den Zwang, der von dem Begriff ausgeht, ihn mit entsprechendem Verhalten zu manifestieren – Breithaupt spricht von dem Zwang, ein Ich zu sein, man könnte von dem heute kaum zu leugnenden Zwang sprechen, effizient zu handeln. Bei der Begriffsbeglaubigung durch Ersatznarrationen wird nun gleichzeitig ein spezifisches Wissen erzeugt und vor allem neue Begriffe. Wir wollen nun, um noch einmal die begriffliche Verfasstheit der Wirtschaft zu unterstreichen, zeigen, wie gut sich Breithaupts Institutionalisierungszyklus auf den wirtschaftlichen Bereich anwenden lässt und wie sich auf diese Weise das bewerkstelligen lässt, was oben schon anklang, wie nämlich aus dem reinen Begriff der Effizienz das spezifische Wissen »Ökonomik« mit all den zugehörigen Begriffen wie Nutzen, Gewinn, Investition, Angebot, Nachfrage oder vor allem Markt entsteht.4 Die erste Stufe des Beglaubigungs- oder Institutionalisierungszyklus von Begriffen – die Zerlegung in einzelne Teilbegriffe – besteht für den Begriff Effizienz schlicht in der Aufspaltung in die Teilbegriffe »Ziel« und »Mittel«. Effizienz ist definiert als Zielmaximierung bei Mittelvorgabe bzw. Mittelminimierung bei Zielvorgabe. Damit liegt auch schon die zweite Stufe auf der Hand: Die Teilbegriffe lassen sich durch eine Optimierung unter Nebenbedingungen in eine Ordnung zueinander bringen. Auf der dritten Stufe erfolgt die Narrativierung durch Anwendung auf einen Einzelfall. Dabei kann es sich natürlich um alles handeln, was als Ziel bzw. Mittel auffassbar ist, ein effizienter Produktionsprozess in einem Unternehmen oder ein effizientes Studium an einer Universität. Aber schon hier zeigt sich, wie sehr das Etikett »effizient«, das sich leicht aussprechen lässt, von den betrachteten Mitteln und Zielen abhängt. Effizient zu studieren kann bedeuten, in der Regelstudienzeit die besten Noten zu erzielen, aber auch so wenig wie möglich zu lernen, um gerade noch zu bestehen. Man kann die Geschichte vom effizienten Studium für diesen oder für jenen Einzelfall erzählen. Eine endgültige Effizienz schlechthin gibt es nicht. Wer von Effizienz spricht, bezieht sie immer schon stillschweigend auf bestimmte Ziele und Mittel. Werden diese im Gespräch nicht geklärt, redet man leicht aneinander vorbei oder merkt nicht, dass der hoch gehaltene Begriff eigentlich leer ist und erzeugt 4 | Vgl. dazu im Detail O. Fohrmann: Die Wirtschaft und das Wirtschaftliche.
Kapitel 4 – Bildung, Wir tschaf t und Literatur
so – einmal mehr – eine Pseudo-Objektivität. Wenn die ökonomische Theorie Aussagen über Effizienz macht, und zwar solche über effiziente Produktion, Verteilung und Konsum von Gütern, dann immer für eng vorgegebene Outputziele und Mittelinputs, die eine modellhafte Reduktion der Realität bedeuten und die daher Erzählungen sind von einer Modellwelt, in der es nur die in der Erzählung vorkommenden Mittel und Ziele gibt und von anderem abstrahiert wurde. Wo sind in der Realität schon Ziele und Mittel eindeutig vorgegeben und von nicht betrachteten anderen Zielen und Mitteln eindeutig abgrenzbar? Der Begriff Effizienz lässt sich nicht einfach realisieren und dingfest machen. Bei der Erzählung der Effizienz im Rahmen der ökonomischen Theorie, ausgehend von Produktions- (Gewinnmaximierung) und Konsumeffizienz (Nutzenmaximierung) eines Individuums bis hin zur gesamtgesellschaftlichen Produktions-, Verteilungs- und Konsumeffizienz entstehen all die Begriffe, die aus dem Wirtschaftsbereich bekannt sind, und das spezifische Wissen um sie, das schließlich zu einer ganzen Wissenschaft wird. Werden die Ersatznarrationen – die Modelle der Ökonomen – ernst genommen, wird die Realität entsprechend gestaltet, das Handeln wird an die Geschichten angepasst. Verhalten, das den Begriff manifestieren soll, wird in Gang gesetzt. Mithilfe dieser kommunikativen Praktiken wird das Verhältnis des Ausgangsbegriffs Effizienz zum von ihm ausgelösten Verhalten stabilisiert und letztlich institutionalisiert. Es entstehen in der realen Welt entsprechende Institutionen: Unternehmen, Haushalte, Börsen, Märkte, Banken. Die reale Welt wird also verändert, man kann sagen: neu geschaffen. Das ist die wahrhaftige Poesie des Geldes. Und es ist eben die Poesie des Geldes, nicht die der Effizienz. Wir sind zwar von dem Begriff der Effizienz ausgegangen und haben um ihn herum Ökonomik und Wirtschaft aufgebaut, aber wir müssen noch berücksichtigen, dass Breithaupt Begriffe immer als von dem Überbegriff »Gott«, dem »Begriff der Begriffe«, abstammend versteht. Auch dieser lässt sich in Teilbegriffe aufspalten, die sich zueinander in Beziehung setzen und durch Ersatznarrationen beglaubigen lassen. Für den heute sich immer mehr ausbreitenden Bereich der Wirtschaft aber hatten wir schon die Ersetzung Gottes durch das Geld postuliert. Wir haben Wirtschaft und Ökonomik als aus dem Geist des Geldes stammend beschrieben. Das deckt sich mit der Struktur Breithaupts. Man könnte es vielleicht so formulieren: Geld ist der Gott, Effizienz ist der Papst unter den Begriffen. Ähnlich wie man die Institutionen der katholischen Kirche und
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ihre Lehre, die Theologie, vom Papst her denken könnte, folgen die Wirtschaftstheorie und ihre realen institutionellen Inkarnationen (oder Materialisierungen) aus dem Begriff Effizienz. Ökonomik ist die Theologie zur Beglaubigung des Geldes. Begriffe aber sind immer mehr als die Realität. Dass Begriff und Realität nie deckungsgleich sein können, muss für die Begriffsbeglaubigung jedoch verschleiert werden. Luhmann5 sieht in der Ersatznarration ein Ritual, das den Zweck hat, das Unverstehbare am Begriff zu bannen und eben abzulenken von der nie ganz vorhandenen adequatio rei et intellectus. Luhmann verwendet hierfür den Begriff der Kommunikationsvermeidungskommunikation: Die Deckungsungleichheit zwischen Begriff und Realität zu kommunizieren, muss vermieden werden, ebenso wie der Umstand, dass das vom Begriff ausgelöste Verhalten den Zweck hat, den Begriff zu beglaubigen. Je mehr die reale Welt dann zum Bilde des Begriffs gebildet wird, desto glaubhafter wird der Begriff, desto mehr passen die von ihm geforderten Gesetze zu den nun entstandenen Notwendigkeiten und Sachzwängen der realen Welt. Nun wird klarer, wie der Literatur der Verdienst zukommt, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden. Denn dass Literatur rein begrifflich verfasst ist, ist klar. An ihr lässt sich erleben, dass Begriffe nie deckungsgleich mit der Realität sind, ja wie ihre Poesie diese erst schafft. Literatur deckt die Kommunikationsvermeidungskommunikation auf. Wirtschaft als Literatur zu begreifen, ist daher auch ein Akt der Aufklärung – über ihre begriffliche Verfasstheit und damit über ihre vermeintlichen Sachzwänge, ihre häufig leeren Begriffe und ihre Macht, dem Geld und somit ein den Personen, die davon besonders viel haben, gefälliges Verhalten auszulösen. Wer die Poesie der Literatur kennt, erkennt die Poesie des Geldes, seine Fähigkeit, Welt und Menschen nach seinem Bilde zu bilden. Den Vorwurf der zumindest billigenden Inkaufnahme begrifflicher Unklarheit werden sich die Diskurse von Technik und Wirtschaft gefallen lassen müssen. Die Ökonomik etwa spricht von Unternehmen und Haushalten und meint damit keine konkreten realen Einrichtungen, sondern immer schon prädefinierte, abstrakte Begriffe. Diese Begriffsverwirrung steht in einem strukturellen Bezug zum Unterschied zwischen dem konkreten Gebrauchsgegenstand und der abstrakten Ware, zu der jener durch Tauschvorgänge wird, wie wir gesehen haben. Wer zwischen beiden kei5 | N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 235.
Kapitel 4 – Bildung, Wir tschaf t und Literatur
nen Unterschied sieht, wird vermutlich auch den Unterschied zwischen der Neudefinition von Begriffen durch Naturwissenschaft und Ökonomik und ihrer ursprünglichen Bedeutung nicht wahrnehmen (wollen). Da Ökonomik und Wirtschaft im Tausch basieren, bleibt auch der Unterschied zwischen konkretem Gebrauchsgegenstand und abstrakter Ware erhalten. Der Tausch mithilfe von Geld setzt dieser Abstraktion noch eine weitere Abstraktionsstufe auf und lässt den Unterschied zwischen der Ware und dem Wahren noch mehr verschwimmen.6 Deutlich wird dieses Prinzip zum Beispiel dann, wenn im Alltag vom Bestmöglichen, vom Optimum oder sogar optimum optimorum gesprochen wird. Nehmen wir ganz allgemein irgendeinen Zustand, von dem behauptet wird, er sei für Individuen und Gesellschaft der bestmögliche und daher wünschenswerteste. Normalerweise schließt eine solche Aussage auch Gerechtigkeitsaspekte welcher Art auch immer ein. Denn dass ein individuell und kollektiv angestrebter Zustand ausgerechnet ungerecht sein soll oder Gerechtigkeit überhaupt keine Rolle spielen soll, das passt doch schon mit dem Alltagsverständnis der Begriffe »optimal«, »bestmöglich« oder »wünschenswert« nicht zusammen. Ökonomen verstehen aber genau das unter dem Begriff »Optimum«, nämlich dass zum Beispiel von Gerechtigkeitsaspekten abstrahiert wurde. Solange man rein in der künstlichen Begriffswelt verweilt, ist das unproblematisch. Ökonomen haben aber ja gerade den Anspruch, Aussagen und Handlungsempfehlungen für die lebensweltliche Realität herzuleiten, für die echte, sinnliche, konkrete Welt und nicht für die abstrakte Begriffswelt. Wir finden das Motiv der wahren Welt und der warenförmigen Welt und das immer vorhandene Grundproblem der unsauberen Abgrenzung zwischen beiden damit auch hier wieder. Manager, also Menschen, die auf Basis der ökonomischen Theorie handeln und deren Aufgaben zumindest dem Anspruch nach darin bestehen, von einem gedachten Außen, etwa aus der Politik, vorgegebene Ziele effizient zu erreichen,7 weisen gerne darauf hin, dass die ökonomische Theorie eine reine Effizienztheorie sei und sie daher für Gerechtigkeit nicht zuständig seien. Insbesondere dem Vorwurf mangel6 | Am deutlichsten wird dieser Unterschied wohl beim so genannten ältesten Gewerbe der Welt. Dass zwischen der Ware Liebe und der wahren Liebe ein Unterschied besteht, ist besonders einsichtig. 7 | Zur problematischen Abgrenzung von Politik und Wirtschaft, also aus Sicht der Wirtschaft von »außen« und »innen«, siehe Kapitel 8.
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hafter Gerechtigkeit lässt sich so begegnen. Da aber die ökonomischen Handlungen in der Realität stattfinden und nicht nur in der Begriffswelt, müssen sie sich auch ganzheitlich und nicht nur ökonomisch beurteilen lassen können. Bei nicht klar abgegrenzter fiktionaler Begriffswelt und Realität werden sich daher auch die Begriffe »ungerecht« und »außergerecht« nicht klar abgrenzen lassen. Anders gesagt: Das Argument, es gehe in der zur Debatte stehenden Situation gar nicht um Gerechtigkeit, diese sei außen vor, bietet, weil das nur für die Begriffswelt gilt und nicht für die lebensweltliche Realität, ob gewollt oder nicht, ein Schlupfloch für Ungerechtigkeit. Durch die beschriebenen mit Tausch und Geld verbundenen Abstraktionsvorgänge leben Wirtschaft und Ökonomik geradezu von der Vermischung von Fiktion und Realität, die durch Marketing und Werbung noch absichtlich direkt verstärkt wird. Tauschen heißt immer auch täuschen. Literatur und Literaturwissenschaft reagieren nun auf diesen Umstand, indem sie sich auch mit dem Täuschen befassen, aber auf genau entgegengesetzte Weise, nämlich indem – wie schon ausgeführt – Fiktion und Realität so weit wie möglich klar voneinander unterscheidbar bleiben. Ein Roman ist zunächst eindeutig Fiktion, ein vom Autor produziertes künstliches Werk. Der Wert einer bestimmten Geldanlage, die man vornimmt, kann sich ebenso als Fiktion erweisen, aber damit rechnet man nicht ohne Weiteres und das ist a priori nicht so klar. Mehr noch: Der aktuelle Tauschwert wirkt sich auf den Gebrauchswert aus. Der Wirtschaft kann nur daran gelegen sein, den Tauschwert der Ware als den wahren Wert erscheinen zu lassen, den Gebrauchswert also zur Fiktion werden zu lassen und ihn stattdessen mit dem Tauschwert zu identifizieren. Das vergrößert die Zahl der Tauschvorgänge und lässt das Geld umlaufen und Zahlungen auf Zahlungen folgen, was Tauschwerte aufrechterhält. Wenn Immobilien beispielsweise nicht gekauft werden, um sie als Wohnungen zu gebrauchen, sondern als Spekulationsobjekte zu tauschen, ist das der Fall. Dabei können Wertgegenstände einen hohen Tauschwert bekommen, obwohl der zugrunde liegende Gebrauchswert längst Fiktion geworden ist, ein in Finanzkrisen und bei Spekulationsblasen übliches Phänomen. Dass Fiktives verhandelt wird, ist in der Wirtschaft im Allgemeinen nicht so offensichtlich wie in der Literatur, denn die Wirtschaft braucht die Fiktionen, um Zahlungen anzuregen, wofür es nötig ist, nicht zu kommunizieren, dass es sich um Fiktionen handelt. Hingegen kann in der Literatur die Fiktion Fiktion bleiben. Der Wirtschaft ist insofern
Kapitel 4 – Bildung, Wir tschaf t und Literatur
wenig an der Aufklärung über den Glauben an ihre Fiktionen gelegen, schon daher konfligiert sie mit dem modernen Bildungsbegriff. Was für den Tauschwert von Objekten und die Fiktionen der Wirtschaft gilt, gilt auch für Geld an sich. Es hat inzwischen eine Abstraktionsstufe erreicht, auf der es nur noch durch den Glauben an seine Deckung gedeckt ist. Es gibt kein Naturgesetz, das Geld darin hindert, seinen Wert verlieren zu können. Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl beschreibt in seiner Habilitationsschrift »Kalkül und Leidenschaft« 8, welche Entwicklung das Geld seit 300 Jahren durchlaufen hat, um diese höchste Abstraktionsstufe zu erreichen und wie Literatur zu einem rein selbstbezüglichen Zeichensystem zu werden. Wir folgen dieser Argumentation im nächsten Kapitel.
8 | Vgl. J. Vogl: Kalkül und Leidenschaft, Kapitel 4 und 5.
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Im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, war das Denken in bestimmter Weise von den Naturwissenschaften geprägt, so wie wir es oben auch beschrieben haben. Die Wirtschaft stellte man sich wie einen Blutkreislauf oder einen Wasserkreislauf vor, wie ein beständiges Fließen. Alles ist ständig in Bewegung, aber Naturgesetzen folgend. Es war das Zeitalter der Physiokratie, der Herrschaft der Natur(gesetze). Wenn man die Naturgesetze kannte, konnte man die Natur nachbauen, was die auf Naturwissenschaften beruhende Technik bis heute tut. Für das 18. Jahrhundert nennt Vogl das Beispiel der französischen Gärten und deren Wasserkreisläufe. Die Gärten sind wie eine zweite Natur, eine künstlich vom Menschen geschaffene, in der wie im Experiment alles kontrolliert, verordnet und arrangiert nach den Gesetzen der Natur abläuft. Wenn es zu keiner Stauung des Wassers an einer Stelle kommt, fließt der Kreislauf im Gleichgewicht kontinuierlich vor sich hin. Gleiches gilt für den Blutkreislauf. Eine Beeinflussung von außen kann diese Gleichgewichte der Kreisläufe nur stören. Auch die Wirtschaft stellte man sich so vor, bekannt geworden ist der berühmte Wirtschaftskreislauf des Physiokraten François Quesnay. Die Waren und ebenso das Geld zirkulieren in einem jeweils geschlossenen Kreislauf, der Stauungen zum Ausgleich bringt. Eine Anhäufung von Geld an einer Stelle und ein Mangel an anderer gleichen sich in dieser Vorstellung automatisch aus, man muss nur für eine reibungslose Zirkulation sorgen. Überschüsse und Mängel an Geld bzw. Gütern sind in dieser Vorstellung unnormale Ausnahmen, da der Kreislauf wie ein System kommunizierender Röhren gedacht wurde. Geld war außerdem ein rein repräsentatives Zeichen für Güter, die Beziehung zwischen beiden wurde als proportional gedacht. Man konnte sich nicht vor-
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stellen, dass es Geld geben könnte, das keine Güter bezeichnet und nur ein referenzloses, frei flottierendes bzw. rein selbstbezügliches Zeichen sein könnte. Das Bild der Wirtschaft war das einer mechanischen Apparatur, die Fülle und Mangel durch Tausch zum Ausgleich brachte. Das Maß dieser Wirtschaft war die Bedürfnisbefriedigung. Richtig arrangiert zirkulieren Geld und Güter kontinuierlich im Gleichgewicht und befriedigen dabei alle Bedürfnisse. Später im 19. Jahrhundert hingegen änderten sich diese Vorstellungen. Und man kann den Bruch zwischen beiden Weltbildern, der auch die Grenze zwischen der Ära der Aufklärung und der Romantik des 19. Jahrhunderts markiert, sinnbildlich sogar auf den Tag genau angeben, wie Vogl erläutert:1 26. Februar 1797. Das ist der Tag, an dem das britische Parlament beschloss, die Deckung des umlaufenden Papiergeldes in England aufzuheben. Um den Krieg gegen Frankreich zu finanzieren, hatte der britische Staat Papiergeld in Umlauf gebracht, das mengenmäßig das Münzgeld um ein Vielfaches übertraf. Nun hatte aber die Aufkündigung der Deckung in keiner Weise die befürchteten negativen Konsequenzen. Das Geld wurde nicht wertlos; man konnte weiterhin wie gewohnt damit bezahlen, obwohl klar war, dass die Zentralbank es im Zweifelsfall nicht gegen reale Wertträger eintauschen würde. In Frankreich kam es zeitgleich zum entgegengesetzten Szenario. Dort hatte die Revolutionsregierung 1793 als Assignaten bezeichnete Anleihen als Geld eingeführt, die offiziell sehr wohl gedeckt waren, vor allem mit von der Kirche konfisziertem Territorium. Genau diese Vorgehensweise stellte sich aber als Problem heraus, denn mit den Assignaten lag ein Geld vor, das gleichzeitig Zahlungsmittel und Anleihe war. Die Möglichkeit, es als territoriale Anleihe zu verwenden, war als Stabilitätsanker des Geldes gedacht, führte aber umgekehrt dazu, dass das Vertrauen in den Wert des Geldes geschwächt wurde. Geld funktioniert viel besser, wenn klar ist, dass man es nie gegen Territorium oder andere vermeintliche Stabilitätsanker eintauschen kann, wenn es eine ins Unendliche gerichtete Zahlungskette zu generieren verspricht. Außerdem war klar, dass das Territorium als Stabilitätsanker so stabil auch wiederum nicht ist, denn wenn alle gleichzeitig ihr Geld gegen Territorium eintauschen würden, wären diese Ansprüche gar nicht erfüllbar gewesen. Geld funktioniert besser als reines Vertrau1 | Die Bedeutung dieses Datums wird beispielsweise auch betont von D. Schnaas: Kleine Kulturgeschichte des Geldes.
Kapitel 5 – Die Entstehung des Geldglaubens
en, wenn man sieht, dass der Tauschpartner bereit ist, das Geld gegen reale Wertträger anzunehmen, obwohl er genau weiß, dass er zunächst nur wertloses Papier bekommt. Wenn alle sehen, wie alle darauf vertrauen, dass stoffwertloses Geld Wert hat, dann hat es auch Wert, denn dann ist das Vertrauen offensichtlich begründet. Wenn ein Tauschpartner Geld annimmt, glaubt er daran, später dafür reale Wertträger zu bekommen, er gibt seinem Tauschpartner also Kredit (credere). Durch Deckungen wie bei den französischen Assignaten wird dieser Glaube höchstens geschwächt, denn an Territorium braucht man nicht zu glauben, man hat es ja greif bar vor sich, man kann ja wissen, dass es existiert. An das ins Unendliche reichende Versprechen des Geldes auf weiteres Geld aber muss man glauben, denn die Unendlichkeit hat man nicht greif bar vor sich. Das englische Papiergeld nach 1797 war hingegen reines Kreditgeld. Es war materiell ungedeckt und damit immer zugleich Zahlungsmittel und Kredit. Es funktionierte als Tauschmittel gerade dadurch, dass man beim Gelderhalt den realen Gegenwert nicht erhält, sondern das Versprechen, ihn später zu erhalten. Man kann nun fragen, wieso das überhaupt möglich wurde. Wieso »funktionierte« diese Selbstbezüglichkeit des Geldes? Was machte den Glauben an den Wert des Geldes glaubwürdig? Der Zirkelschluss, dass das Papiergeld als Geld funktionierte, weil man an seinen Wert glaubte, und man deshalb bereit war, daran zu glauben, wäre nicht so wirksam, wenn Geld nicht in der religiösen Sphäre entstanden wäre und man sich in Jahrtausenden daran als immer abstrakteres Symbol für Opfergaben in Entschuldungsprozessen gewöhnt hätte. Der so wichtige Abstraktionsschritt hin zum nur durch Glauben gedeckten Papiergeld wurde im damaligen England speziell auch deshalb möglich, weil dahinter, wie Türcke ausführt,2 ein neu entstandenes reiches Bürgertum mit Nationalbewusstsein stand, das dem immer mehr vom Parlament abhängigen König im Krieg gegen Frankreich mit Geldanleihen half, woraus sich die erste Zentralbank entwickelte. Der Glaube ans Geld hat also vom Glauben an den Staat profitiert, obwohl der Staat den realen Wert des Geldes nicht garantieren kann. De facto beglaubigt sich das Geld selbst. Geld wird aber nicht trotz, sondern gerade wegen der fehlenden externen Deckung wirksam und nunmehr durch den glaubwürdigen unendlichen Aufschub der Einlösung auf eine offene Zukunft hin gedacht. 2 | C. Türcke: Mehr!, S. 277ff.
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Diese Auffassung unterscheidet sich jedoch fundamental von den Geldvorstellungen des 18. Jahrhunderts. Geld ist nun nicht mehr ein Güteräquivalent, das spiegelbildlich zu den Waren zirkuliert, sondern es ist ein Zeichen, das dadurch seinen Wert bekommt, dass es immer weitere Zahlungen ermöglicht. Geld wird grenzenlos und selbstreferenziell. Externe Beglaubigungsinstanzen können es nicht mehr beglaubigen. Der Gedanke des automatischen Ausgleichs zwischen Fülle und Mangel und damit der Befriedigung der Bedürfnisse durch einen stauungsfreien Kreislauf, der für das 18. Jahrhundert kennzeichnend war, wird nun im 19. Jahrhundert von der Vorstellung eines dauernden Ungleichgewichts zwischen Überfluss und Mangel ersetzt. Es erfolgt kein Ausgleich zwischen beiden und keine vollständige Bedürfnisbefriedigung mehr, denn das ist jetzt nicht mehr der primäre Sinn wirtschaftlicher Tätigkeit. Dieser besteht vielmehr darin, Geld zu übertragen und Zahlungen durch Zahlungen zu ermöglichen. Schuld und Tilgung werden ebenso wenig wie Bedürfnis und Befriedigung wie in einem System kommunizierender Röhren tendenziell ausgeglichen, sondern müssen in der Summe dauerhaft unausgeglichen bleiben. Nur das ständige Vorliegen von Überschüssen und Knappheiten aber garantiert diese ständige Unausgeglichenheit, weil es zu immer weiteren Tauschhandlungen anregt, die aber nun nicht mehr zur Bedürfnisbefriedigung stattfinden, sondern zur Aufrechterhaltung des unendlichen Zahlungsstromes. Der Kredit, den man mit jeder Geldzahlung einräumt, wäre nicht glaubwürdig, wenn man nicht davon ausgehen könnte, dass alle Bedürfnisse zusammen grundsätzlich unstillbar wären und es auch in Zukunft noch sein werden, denn die Tilgung aller Kredite, aller Schulden, die durch die Geldschöpfung in Form von Geld vorliegen, findet ja erst im Unendlichen statt. Die Vorstellung maßvoller Bedürfnisse im 18. Jahrhundert weicht derjenigen des grenzenlosen Verlangens, der Gier. Die christliche Sünde der avaritia wird zur wirtschaftlichen Tugend, weil die Beglaubigungsbestrebungen nicht mehr dem christlichen Gott gelten, sondern dem Geld, das immer Kredit ist und dem der Vermehrungsimperativ eingeschrieben ist. Und geglaubt wurde an diesen Kredit, an das neue ungedeckte Papiergeld auch noch aus einem bestimmten Grund, der einmal mehr zum Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Literatur führt und darüber hinaus noch wieder einmal zum Motiv der Strukturähnlichkeit dieser beiden Bereiche. Christina von Braun zufolge lässt sich die überraschende Akzeptanz des ungedeckten Papiergeldes auch darauf zurückführen,
Kapitel 5 – Die Entstehung des Geldglaubens
dass die Menschen durch Literatur auf die Akzeptanz abstrakter Zeichensysteme mental und körperlich vorbereitet waren.3 Die Substanzlosigkeit des Geldes, seine reine Zeichenhaftigkeit, an die man glauben muss, war ihnen aus der Literatur bekannt. Die allgemeine Alphabetisierung begann in Europa um 1800 und fällt somit in dieselbe Epoche wie das individualistische Bildungsideal und das Aufkommen der auf das Individuum rekurrierenden freien Marktwirtschaft. Das Lesen von Literatur wurde immer mehr zu einer zurückgezogenen Einzeltätigkeit. Das Geld wie das Buch schufen »Mauern ums Ich«4 und damit genau um den Adressaten von Bildungsprozessen. Von Braun zielt daher in genau die gleiche Richtung wie Breithaupt mit der Vorstellung, dass Ich und Geld sich gegenseitig beglaubigen: »Denn nicht nur das zeichenhafte Geld verlangt nach Glaubwürdigkeit, auch die Literatur kann nur dann bestehen, wenn alle an sie glauben. Mit diesem gemeinsamen Dilemma konfrontiert, entdecken Geld und Literatur, dass sie einander stützen können.«5 War Geld im 18. Jahrhundert noch repräsentatives Zeichen für Güter, wird es im 19. Jahrhundert zusätzlich zu einem Medium, zu etwas, was Übertragungen leistet und dadurch, nicht durch Bedürfnisbefriedigung, erhält es das aufrecht, was die Systemtheorie später das »Kommunikationssystem Wirtschaft« nennen wird. Die Geldübertragungen durch Zahlungen werden dann zur Anschlusskommunikation. Der Sinn der Wirtschaft, ihre Seele wenn man so will, liegt nicht mehr im Tausch zur Bedürfnisbefriedigung, sondern im Kredit zur Geldbeglaubigung, denn durch den Kredit wird Anschlusskommunikation möglich und das System Wirtschaft erhält sich selbst und schafft sich selbst immer wieder neu, was in der Systemtheorie »Autopoiesis« genannt wird.6 Die Elemente 3 | C. von Braun: Gefühltes Geld. Literatur und Finanzmarkt, S. 30f. 4 | Ebd., S. 31. 5 | Ebd., S. 35. 6 | Was die Systemtheorie jedoch nicht verrät, ist, warum das der Fall ist. Folgt man Türcke, kann man die Systemtheorie als Neuauflage des Hegelschen Weltsystems begreifen, welches hingegen einen übergeordneten Drahtzieher besitzt, den Weltgeist. Dieser aber ist schlicht das Geld bzw. die dahinter stehenden Entschuldungsbestrebungen der Menschen, die für ihr Seelenheil nie genug opfern können und dadurch den Geldumlauf und Geldwert aufrecht erhalten (C. Türcke: Mehr!, S. 203ff.). Auf die gesellschaftstheoretischen Konsequenzen daraus, dass Geld für die Systemtheorie aber nur ein Medium unter anderen ist und nicht diese
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des Systems erzeugen die Elemente des Systems. Die Wirtschaft selbst wird daher nun nicht mehr als Mechanismus verstanden, sondern als Organismus, dessen Teile nicht mehr in einer linearen Ursache-WirkungsBeziehung miteinander stehen, sondern aufeinander ein- und zurückwirken. Steuernde und gesteuerte Größen fallen zusammen. War im 18. Jahrhundert noch der Kreislauf das Paradigma der Wirtschaft, ist es nun der Regelkreis. Dieser wird durch das Fortbestehen von Überschüssen und Knappheiten mehr angeregt als durch deren Ausgleich. Die Krise, im 18. Jahrhundert noch Ausdruck schlechter Regulierung des Kreislaufs, wird nun zum Normalfall, zur Voraussetzung einer gut funktionierenden Wirtschaft, denn Probleme, Ungleichgewichte und Katastrophen erzeugen Zahlungen, die das System Wirtschaft aufrechterhalten, weil sie das selbstreferenzielle Geld beglaubigen, indem sie suggerieren, dass auch in Zukunft weitere Zahlungen folgen werden. Ungleichheit wird nicht als skandalös empfunden, sondern als Notwendigkeit zur Beglaubigung des Geldes, da auch sie eine Voraussetzung für weitere Täusche und Zahlungen in der Zukunft ist. Und da Geld nicht mehr repräsentatives Zeichen für Güter ist, kann man nun für Geld an sich arbeiten, nicht mehr für die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung, sondern für eine aufgeschobene. Geld kann Selbstzweck werden. Wir haben hier das für das Zeitalter der Romantik im 19. Jahrhundert typische Phänomen des autonom gewordenen Zeichensystems, das sich vom Bezeichneten abhebt, und können daher noch den typisch romantischen Überschwang als im Geld fundiert begreifen bzw. diese Phänomene als aufeinander einwirkend und miteinander wechselwirkend. Geld, das sich derart selbstbezüglich verhält, das investiert wird, um sich selbst zu vermehren, heißt »Kapital«. Mit dem 19. Jahrhundert beginnt das Zeitalter des Kapitalismus. Nun wird auch klarer, wie sehr die Ökonomik primär im Geld fundiert ist und nicht in der Knappheit oder anderem. Als selbstreferenzielle Wissenschaft, die sich auf ihre eigenen, selbst definierten Begriffe stützt, haben wir sie schon als dem Geld nachgebildet bezeichnet. Selbst definiert werden in der Ökonomik aber nicht nur Begriffe, sondern ganze Aussagen. Ein Beispiel: Eine der Grunddefinitionen, die Studierende des ersten Semesters in einer der ersten Ökonomikvorlesungen lernen, lautet: »Die Menge aller Bedürfnisse ist per Definition unendlich.« Eine Wissenzentrale Rolle als Motor der ganzen Gesellschaft spielt, werden wir im Kapitel 10 eingehen.
Kapitel 5 – Die Entstehung des Geldglaubens
schaft, die das voraussetzt, ist immer schon eine Wissenschaft zum Bilde des Geldes. Sie kann zu keinen anderen Erkenntnissen führen als zur Aufrechterhaltung eines ständigen Ungleichgewichts zwischen Überfluss und Knappheit. Sie ist zur Begrenzung der Bedürfnisse prinzipiell unfähig. Sie hat gar nicht die Absicht, Bedürfnisse zu befriedigen, sondern Zahlungsketten zu generieren und zu rechtfertigen und dadurch Geld zu beglaubigen, um weitere Zahlungsketten zu generieren. Die Befriedigung einzelner Bedürfnisse ist höchstens ein willkommener Nebeneffekt.7 Eine Wirtschaft, die auf Basis der Ökonomik gestaltet wird, ist zu ständigem Wachstum verdammt, das zum Allheilmittel aller Probleme wird. Eine Gesellschaft, die durch keine anderen Werte als den Geldwert zusammengehalten wird, muss ihre Politik auf eine Beglaubigung des Geldes hin ausrichten und kann deshalb auch von nichts anderem als Wachstum sprechen, auch wenn sie schon im Überfluss8 lebt und mit problematischen sozialen, psychologischen und ökologischen Nebenfolgen des immer mehr nur zur Beglaubigung des Geldes befeuerten Wachstums konfrontiert ist. Wir haben gesehen, dass Tauschakte prinzipiell Gesellschaft konstituieren können. Einer individualisierten Gesellschaft, die sich anders als durch Tauschakte nicht mehr zu konstituieren weiß, bleibt daher nur das Ziel der Geldbeglaubigung, denn das zieht Zahlungsketten und damit Tauschakte nach sich. Die Ökonomik ist die ideale Ideologie dieser Gesellschaft, ihre »wissenschaftliche« Rechtfertigung. Und sie trägt dadurch, dass sie dem Geld nachgebildet ist, also dessen Form besitzt, noch zusätzlich zur Beglaubigung des Geldes bei, indem sie als Symbol für Geld dienen kann. Ihre Zirkelschlüsse und Tautologien entsprechen genau der Selbstreferentialität des Geldes.
7 | Damit liegt einmal mehr der schon erwähnte für die Wirtschaftswelt typische funktionalistische Fremdzweckcharakter vor. Man tut etwas, an dem man nicht um seiner selbst willen interessiert ist, sondern um damit ein anderes Ziel zu erreichen. Schon die alte Idee der individuellen egoistischen Handlungen, die kollektiv nützliche Ziele erreichen, ist so gestaltet. 8 | Der Überfluss ist nicht zuletzt eine Folge des Geldglaubens und des Denkens der Wirtschaft vom Geld her. Daraus, dass für jeden nie genug Geld da ist (weil es von der Zentralbank knapp gehalten werden muss, um seinen Zweck zu erfüllen, und jeder immer mehr Geld haben will), wird geschlossen, dass auch nie genug Güter da sind und deshalb immer mehr produziert werden muss.
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Besonders deutlich wird das im von ihr propagierten Konzept des Marktes. Nicht nur, dass Preise, also Geldbeträge, als zentrale Steuerungsinstanz, als Unsichtbare Hand, die gesamte Wirtschaft regeln, ist bemerkenswert, sondern auch, wie diese Preise zustande kommen, nämlich durch Angebote und Nachfragen, die ihrerseits wiederum von den Preisen abhängen. Der Markt ist durch diesen Selbstbezug das perfekte Symbol des Geldes. Beide beglaubigen sich zirkulär gegenseitig wie love lock und Liebesbeziehung. Die Ökonomik bekommt so den Charakter einer Pseudowissenschaft, einer Lehre, eines Dogmas zur Beglaubigung des Geldes, politisch geschützt, da sie auch zur Gesellschaftskonstitution beiträgt. Sie unterscheidet sich formal durch nichts von einer Theologie, nur dass hier kein Gott, sondern Geld beglaubigt wird, oder, wenn man so will, Geld als Gott fungiert. Die Werte dieser säkularen Religion bestehen schlicht im Geldwert. Wäre die Ökonomik eine intellektuell freie, offene und an einem höheren Wahrheits- und Erkenntnisbegriff als Geldbeglaubigung orientierte Wissenschaft, würde sie nicht potenzielle Ergebnisse von Forschungsprozessen schon als deren Voraussetzung definieren, wie dass Bedürfnisse unendlich sind oder Märkte gut sind für Wirtschaft und Gesellschaft.
Kapitel 6 Die Geldes-Ebenbildlichkeit des Menschen
Es geht also, was die Triebkraft des Handelns angeht, seit Beginn der kapitalistischen Ära in der Wirtschaft und in der Wirtschaftsgesellschaft eher um Geld als um Güter. Es geht genauer um ungedecktes Geld, an dessen Wert man glauben muss und das allein schon deshalb immer Kredit ist. Der Glaube wiederum verweist ins Unendliche, da die Zahlungskette, die das System Wirtschaft aufrecht erhält, notwendigerweise unendlich ist. Denn wenn bekannt wäre, dass zu einem bestimmten endlichen Zeitpunkt die Zahlungskette unterbrochen würde, das Geld also seinen Wert verlieren würde, dann würde es schon vor diesem Zeitpunkt seinen Wert verlieren, denn es ist seinem Wesen nach Kredit. Wenn man nicht mehr glauben kann, dass es in Zukunft noch einen realen Gegenwert bezeichnen wird, dann tut es dies heute schon nicht mehr. Jeder endliche Zeitpunkt eines Wertverlusts bedeutet daher schon einen vorherigen Wertverlust und so weiter zurückgehend bis heute. Geld wäre jetzt nichts mehr wert, wenn wir wüssten, dass es irgendwann nichts mehr wert sein wird. Wir müssen also davon ausgehen, dass es immer etwas wert sein wird. Daraus ergibt sich ein Paradox: Auch wenn wir wissen, dass die Welt endlich ist, vertrauen wir doch auf das Unendliche. Und damit rückt der Glaube ans Geld tatsächlich in die Nähe der Religion, die, wie beispielsweise der Philosoph Markus Gabriel ausführt, eine Rückbindung aus dem Unendlichen an uns selbst ist.1 Ausgangspunkt Gabriels ist der Gedanke, dass der Mensch wissen will, wer er ist. Gabriels Überlegungen decken sich hier mit den Ausführungen des Soziologen Christoph Deutschmann,2 der 1 | Vgl. M. Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt, Kapitel V. 2 | Vgl. C. Deutschmann: Geld – die verheimlichte Religion unserer Gesellschaft?, S. 255ff.
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ebenfalls beschreibt, wie der Mensch nach Selbsterkenntnis strebt und die Frage nach seiner Identität stellt. Beantworten lässt sie sich Deutschmann zufolge nur durch Spiegelung an anderen Individuen. Um zu erfahren, wer man ist, muss man den Umweg nehmen über andere und sich auch mit dem Bild auseinandersetzen, das die anderen von einem haben. Mit diesem Bild wird man sich insbesondere dann identifizieren, wenn damit Anerkennung verbunden ist. Schon hier zeigt sich jedenfalls der Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Bildung; wir bilden uns, wenn wir uns selbst erkennen, einem Bild nach. Deutschmann führt diesen Gedanken auch in Bezug auf die ganze Menschheit aus: Die habe auf der Suche nach ihrer kollektiven Identität jedoch keine andere Menschheit gegenüber, in der sie sich spiegeln könne, und müsse sich deshalb ein im doppelten Sinne überweltliches Gegenüber vorstellen und somit einen Gottesstandpunkt einnehmen. Aber auch ein Individuum möchte nicht bloß kontextabhängige Anerkennung von Mitmenschen, wie Deutschmann es nennt, sondern Anerkennungswürdigkeit »gemäß allgemeinen ethischen Normen«3. Um diese aber zu erlangen, muss die Spiegelung nicht in konkreten Mitmenschen in konkreten Kontexten erfolgen, sondern am allgemeinsten Wesen, das diese allgemeine Anerkennungswürdigkeit bieten kann, nämlich Gott. Was ist der Mensch? Was ist die Gesellschaft? Die Beantwortung dieser Fragen erfordert überweltliche Figuren, in denen man sich spiegeln kann, auch wenn die moderne Religionskritik des 19. Jahrhunderts, wie Deutschmann erklärt, solche überweltlichen Figuren längst als Projektionsfläche des Menschen entlarvt hat, »des sich selbst nur noch nicht bewussten wahren Schöpfers«4. Trotzdem ist das menschliche Bedürfnis nach Selbsterkenntnis und Anerkennung geblieben. Da nun aber der religiöse Spiegel dafür nicht mehr zur Verfügung steht, weil als menschliches Konstrukt entlarvt, müssen sich, so Deutschmann im Rückgriff auf Plessner, Individuen und Gesellschaft neue Spiegel suchen: »naturwissenschaftliche, anthropologische, politische, soziologische«5. Die Verwendung solcher Spiegel bezeichnet Gabriel nun wiederum als schlechte Religion, als Fetischismus: »Der Fetischismus identifiziert ein Objekt als den Ursprung von allem und versucht, aus diesem Objekt die Identitäts3 | Ebd., S. 256. 4 | Ebd., S. 257. 5 | Ebd., S. 258.
Kapitel 6 – Die Geldes-Ebenbildlichkeit des Menschen
muster zu entwickeln, denen alle Menschen Folge leisten sollten.«6 Dabei frage der Fetischismus nicht, warum dieses Objekt eigentlich so begehrenswert ist, er sei aber meistens, so Gabriel in Bezug auf Nietzsche, verbunden mit einer behaupteten Einsicht in eine »Hinterwelt«, eine metaphysische Struktur, die erklärt, wie die gedeutete Welt, in der wir leben, zustande kommt, wobei »Hinterwelt« zugleich die wörtliche Übersetzung des Begriffs »Metaphysik« aus dem Griechischen ist. Was Gabriel aber, trotz seiner ausführlichen Entlarvung des naturwissenschaftlichen Weltbilds als Fetischismus, außer acht lässt, ist dass der eigentliche Fetisch unserer heutigen Gesellschaft doch wohl eher noch als im naturwissenschaftlichen Weltbild vielmehr im Geld bestehen dürfte.7 Naturwissenschaften kann ich ignorieren, Geld nicht. Und so bezeichnet auch Deutschmann das Geld als den Spiegel, in dem sich die Gesellschaft als Ganzes reflektiert und man möchte hinzufügen: viele Individuen ebenso. Sich im Spiegel sehen und sich an seinem Bild bilden. Die Reflexion des eigenen Bildes ermöglicht Identität, Anerkennung und Menschwerdung. Bildung ist auch heute noch Menschenbildung, aber als Spiegel verwenden wir inzwischen hauptsächlich den größten Fetisch unserer Zeit: Geld. Die Imago-Dei-Theorie, derzufolge der Mensch sich durch Bildung Gott nachbildet und annähert, müsste in Imago-Pecuniae-Theorie umbenannt werden. Vom Bildnis Gottes wird der Mensch zum Bildnis des Geldes. Woran erkennen wir, dass der Mensch sich tatsächlich zum Bilde des Geldes bildet? Die historische Grundlage für diesen Vorgang sieht Deutschmann im religiös entzauberten 19. Jahrhundert, als die menschliche Arbeitskraft warenförmig wurde und der Begriff der Arbeit im Sinne 6 | M. Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt, S. 190. 7 | Gabriel zeigt damit eine für die akademische Philosophie typische Verhaltensweise, die auch Hörisch nicht entgangen ist: »Die These von der Macht des Geldes, Bewusstsein, Abstraktion, Denken, ja Transzendentalsubjekte freizusetzen, ist eine der schärfsten unter allen philosophiekritischen Thesen. In der akademischen Philosophie hat sie, gerade weil sie auf den schwarzen Fleck philosophischer Selbstbeobachtung verweist, bis heute wenig Aussicht auf Gehör; wer sie vorträgt, gehört a priori zu den Außenseitern des institutionalisierten Philosophiebetriebs.« (J. Hörisch: Mein, nicht dein, S. 95) Wir haben den Ursprung der Philosophie im Münzgeld, zumindest deren eng aufeinander bezogene Entwicklung, sowie den Umstand, dass der Philosophie das eher peinlich ist, in Kapitel 3 schon erwähnt.
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von Erwerbsarbeit, wie wir ihn heute verwenden, entstand: »Erst durch die Verwandlung der freien Arbeitskraft in eine Ware ist Arbeit zu einer reflektierbaren und disponiblen Größe geworden.«8 Hiermit dürfte der erste bedeutende Schritt vorliegen auf dem Bildungsweg des Menschen hin zur Geldes-Ebenbildlichkeit. Und das deshalb, weil Erwerbsarbeit der erste und wichtigste Beglaubigungsakt des seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ungedeckten Papiergeldes ist. Hierzu schreibt Binswanger: »Das Papiergeld bekommt einen echten Goldgleichwert erst dann, wenn es sich materialisiert, wenn es produktiv eingesetzt, wenn es auf Gewinn oder Zins hin angelegt oder, wie man sagt, investiert wird, wenn es also seinen Gold- oder seinen Geldwert dem Material mitteilt.«9 Geist muss sich materialisieren, um sich zu beglaubigen. Das Wort muss Fleisch werden. Nicht umsonst verweist der Medientheoretiker Jochen Hörisch immer wieder auf die Analogien der beiden »ontosemiologischen Leitmedien« christliches Abendmahl und Geld.10 Beide beinhalten eine Transsubstantiation, sie verwandeln (semiologische) Zeichen in (ontisches) Bezeichnetes, Sema in Soma. Das Abendmahl verwandelt Brot und Wein in Leib und Körper Christi und Geld verwandelt Papier oder Computerbits in Güter. Geld muss Kapital werden und investiert werden, um sich durch menschliche Arbeit zu beglaubigen. Die menschliche Arbeitskraft wird so zur Ware und der davon untrennbare Mensch beginnt sich ebenfalls als Ware zu verstehen, als Tauschmittel, dessen universale Ausprägung das Geld ist. Denn so wird das Geld als wirksame metaphysische Kraft beglaubigt, da es offensichtlich in der Lage ist, die reale Welt bis ins Innere der Menschen zu beeinflussen. Symbol und Symbolisiertes beglaubigen sich gegenseitig wie love lock und Liebesbeziehung. Heute sind wir auf diesem Bildungsweg schon viel weiter fortgeschritten und haben uns den Eigenschaften des Geldes im Zuge des Beglaubigungsprozesses noch weiter angepasst. Da ist zum einen seine Unverbindlichkeit, seine Fähigkeit, sich auf alles beziehen zu können, alles damit kaufen zu können, auch in Zukunft, alle möglichen Projekte und Unternehmungen damit auf bauen zu können, auch wenn sie noch gar 8 | C. Deutschmann: Geld – die verheimlichte Religion unserer Gesellschaft?, S. 258. 9 | H.C. Binswanger: Geld und Magie, S. 29. 10 | Vgl. J. Hörisch: Kopf oder Zahl, und Mein, nicht dein.
Kapitel 6 – Die Geldes-Ebenbildlichkeit des Menschen
nicht bekannt sind. Diese Eigenschaft hat der Mensch übernommen in der Forderung, möglichst flexibel, mobil, ohne feste Bindungen zu leben und bezüglich jedes inhaltlichen Kontextes handeln zu können, und zwar möglichst wie das Geld abstrakt, abstrahiert von Emotionen, Sinnlichkeit und Ressentiments. Die Eigenschaft beispielsweise, ein auf die akademische Welt fixierter Mensch zu sein, ein homo academicus, wäre dafür hinderlich, man muss jederzeit auch in anderen gesellschaftlichen Kontexten gleichermaßen handlungsfähig sein, was nur möglich ist, wenn man formal-abstrakt gebildet ist. Konkrete inhaltliche Bildung verleiht spezifische Eigenschaften, die vom Abstraktum Geld höchstens zufällig und temporär symbolisiert werden und ist deshalb keine Bildung zum Bilde des Geldes. Wer formal gebildet ist, bindet sich nicht an bestimmte Inhalte, sondern kann diese jederzeit wechseln, wie es das Geld mit dem von ihm Bezeichneten tut. Solche »Kompetenzen« sind viel wichtiger als Faktenwissen. Manager tun schließlich genau das; sie können (heute mehr denn je) im Prinzip jeden Arbeitsplatz ausfüllen, in jeder Firma, in jeder staatlichen Einrichtung, unabhängig von der konkreten inhaltlichen Arbeit. Manager arbeiten abstrakt wie das Geld, in ihrer standardisierten Sprache, Verhaltensweise und Kleidung von Persönlichem und Eigenem abstrahierend, in ihren Ansichten und Meinungen immer gerade das vertretend, was dem Funktionieren des Gemanagten und damit letztlich der Vermehrung des Geldes dient. Außerdem quantifizieren sie gern möglichst alles, bis hin zum Glück. Darin spiegelt sich die Quantifizierbarkeit des Geldes. Die Werte der Manager bestehen schlicht im Geldwert. Ein Manager fühlt sich erst unter Zeitdruck richtig wohl; Zeit muss knapp sein wie Geld. Je mehr in einer Gesellschaft mit Geld bewertbar ist, desto mehr wird jede Erwerbsarbeit in ihr zu Management und die in Bildungsprozessen erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten zu Humankapital, dem monetären Kapital also direkt nachgebildet. Bildungsinhalte, mit denen man auf dem Arbeitsmarkt nichts anfangen kann, die man folglich nicht investieren oder letztlich in irgendeiner Form in Geld konvertieren kann, zählen dann nicht mehr. Die Vorstellung, dass sie einen Eigenwert haben und damit andere Werte als Geldwerte repräsentieren können, ist dem Kapitalismus und seinem Imago-Pecuniae-Bildungsideal fremd. Nichts anderes als diese Vorstellungen verbergen sich hinter dem heute so beliebten Begriff der »Kompetenzen«.
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Kapitel 7 Geld als Gott, Kapitalismus als Religion
Wir haben es also mit einer Metaphysik des Geldes zu tun, das als Fetisch aus einer Hinterwelt heraus, um noch einmal diesen Begriff von Nietzsche zu verwenden, Denken und Handeln steuert und sich durch symbolische Nachbildung beglaubigt. Insbesondere in den Ohren von Theologen klingen solche Gedanken vertraut. Christoph Fleischmann zeigt in seinem Buch »Gewinn in alle Ewigkeit«, wie der Kapitalismus sich aus dem Christentum entwickelt hat. Von Walter Benjamin ist die Formulierung des im Christentum parasitären Kapitalismus überliefert;1 demzufolge hat jenes diesem als Wirt gedient. Das kann in dem Sinne gemeint sein, dass der Kapitalismus seine Inhalte zunächst in christlichen Formen verbreitet hat, dass also sich bei der historischen Entwicklung des Kapitalismus aus dem Christentum die Glaubensinhalte zwar ändern, die metaphysische Konstruktion, die Denkform des Glaubenssystems, jedoch konstant bleibt. Und diese metaphysische Konstruktion ist eben, auch Fleischmann zufolge, der von uns schon mehrfach beschriebene Rückschluss von der Welt auf Gott, von der wahrgenommenen Schöpfung auf den als wahr genommenen Schöpfer. Fleischmann beschreibt, wie sogar schon das Christentum selbst aus der griechischen Philosophie, insbesondere der Stoa, sich auf diese Weise entwickelt hat. Von der vernünftigen Ordnung der Welt wird auf einen vernünftigen Gott, den göttlichen Logos geschlossen. Man erkennt Gott an den Werken seiner Schöpfung. Fleischmann stellt die berechtigte Frage, ob das Christentum »auf Dauer hätte überzeugen können, wenn nicht ab dem 4. Jahrhundert Europa mehr und mehr wirklich eine christlich geordnete Welt geworden wäre
1 | Vgl. W. Benjamin: Kapitalismus als Religion.
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– mit einem Papst an der Spitze und einem Kaiser von Gottes Gnaden, eingeteilt in ein christlich interpretiertes Standesmodell«.2 Die christlich geordnete Welt beglaubigt die dazugehörige Religion. Man sah ja, dass die Welt so war, wie man sie sich vorstellte, so wie man sieht, dass die Liebesbeziehung zusammenhält wie das love lock oder dass Menschen abstrakt, flexibel und umtriebig sind wie das Geld. Es ist diese metaphysische Konstruktion, der Christentum und Kapitalismus gleichermaßen verhaftet bleiben, und die auch der Neo-Stoiker Adam Smith seinen liberalen wirtschaftlichen Vorstellungen zugrunde legte. Die Natur sei von Gott weise eingerichtet und eine natürliche Freiheit könne daher am besten eine Entfaltung von Wohlstand garantieren. So wie mit der Welt Gott beglaubigt werden kann, kann auch mit Wirtschaft das Geld beglaubigt werden. So wie das Christentum sich die Welt nach seinen Vorstellungen ordnete und die Menschen zum Bilde Gottes bildete – nämlich in Form des Zirkelschlusses Welt-Gott-Welt, wodurch wiederum die Religion beglaubigt wird usw. – so tut dies auch der Kapitalismus, nur dass es hier das Geld ist, das als metaphysischer Begriff, als Transzendentalsubjekt, als Weltgeist, die Gesellschaft steuert, dessen göttliche Qualitäten aber kaum allgemein zu Bewusstsein gekommen sind und das vermutlich gerade deshalb umso effizienter als Transzendentalsubjekt fungieren kann. Geld beglaubigt sich über den entsprechenden Zirkelschluss Welt-Geld-Welt. Allerdings würden wir es uns viel zu leicht machen, wenn wir Geld als reinen Fetisch abtun würden und damit als das, was Gabriel schlechte Religion nennt. Da Gabriel uns nicht vorenthält, was er auf der anderen Seite unter guter Religion versteht, können wir auch diesen Begriff mit Geld und Wirtschaft in Beziehung setzen. Gute Religion kennzeichne, dass sie nicht-fetischistisch ist und gerade von der Annahme befreien will, es gebe einen verehrungswürdigen Gegenstand. Stattdessen suche gute Religion nach »Spuren von Sinn im Unendlichen«3. Gabriel definiert Gott als »die Idee, dass das Ganze sinnvoll ist, obwohl es unsere Fassungskraft übersteigt.«4 Wir haben schon gesehen, dass wenn der Mensch sich fragt, wer er ist, er sich in einer überweltlichen Figur spiegelt. »Wenn wir uns fragen, 2 | C. Fleischmann: Gewinn in alle Ewigkeit, S. 186. 3 | M. Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt, S. 195. 4 | Ebd., S. 194f.
Kapitel 7 – Geld als Gott, Kapitalismus als Religion
was das Ganze eigentlich soll, gehen wir zunächst auf eine maximale Distanz und schauen das Universum, die Welt, die Realität gleichsam von oben oder von außen an«5, schreibt Gabriel. Bei der Frage nach unserer Identität, der Suche nach unserem Ich, nehmen wir zunächst zu uns eine Distanz ein, weil wir uns in einer bestimmten Weise verloren haben müssen; sonst wäre die Frage danach, wer wir sind, die Suche nach dem, was Menschsein bedeutet, kaum verständlich. Dabei machen wir die Erfahrung, dass diese Distanz nicht endlich ist, sondern dass ihr vielmehr aus prinzipiellen Gründen keine Grenzen gesetzt sein können. »Im Nachvollzug dieses Gedankens machen wir die Erfahrung einer radikalen, letztlich frei schwebenden Kreativität«.6 Weiter heißt es: »Die menschliche Freiheit besteht deswegen auch und vor allem darin, dass wir auf nichts Bestimmtes festgelegt sind, dass es eine Vielzahl möglicher Festlegungen gibt. Das ist nicht nur Quelle von Unsicherheit, sondern auch die Quelle des Fortschritts.« 7 Die Religion ist nun diese Rückbindung (religio) an uns aus dem Unendlichen. Es ist also ein Verhalten von uns selbst zu uns selbst. Dass wir dazu in der Lage sind, nennt Gabriel im Rückgriff auf Kierkegaard Geist. Um uns auf diese Weise selbst beobachten und mit uns beschäftigen zu können, uns reflektieren zu können, müssen wir uns also schon immer in gewisser Weise fremd sein, und darin liegt letztlich der Grund, dass es uns möglich ist, uns anderen Personen, dem Fremden, gegenüber zu öffnen. Bei der Rückbindung aus dem Unendlichen passiert genau das, wir erfahren menschliche Freiheit, dass alles auch anders möglich wäre, wir erfahren Kontingenz. Kierkegaard definiert Gott sogar als die Tatsache, »daß alles möglich ist«.8 Auch Hörisch sieht den Sinn der Religion in Kontingenzbewältigung.9 Wenn wir uns fragen, warum alles so ist, wie es ist oder warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, brauchen wir eine »ultimativ starke Größe, die noch dazu taugt, als Grund des Grundes zu fungieren – Gott
5 | Ebd., S. 178. 6 | Ebd., S. 178. 7 | Ebd., S. 197. 8 | Kierkegaard zitiert nach ebd., S. 208. Im Original befindet sich dieses Zitat allerdings in einem Roman von Kierkegaard: Søren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, Düsseldorf: Diederichs 1957, S. 36. 9 | Vgl. J. Hörisch: Man muss dran glauben, Kapitel 2.
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bzw. das Göttliche.«10 Gott ist totaliter aliter, »das bzw. der ganz andere«11, der »dafür verantwortlich [ist], dass nicht alles ganz anders ist, als es ist«12 . Denn dass es so ist und nicht anders, ist eben Gottes Wille. Aufgrund dieser Beschreibungen und Begründungen von Religion von Gabriel und Hörisch aber liegt deren Bezug zur Wirtschaft, liegt die Göttlichkeit des Geldes auf der Hand. Denn die Tatsache, dass alles möglich sei, nach Kierkegaard also Gott, gilt ebenso – auf eine bestimmte, noch näher zu beleuchtende Weise, die Hörisch als »diskontiert«13 bezeichnet – auch für Geld, denn »dies Metall lässt sich in alles wandeln«14. Weil Geld so hochgradig abstrakt ist, lässt es sich in jedes Gut eintauschen, auch wenn dieses noch gar nicht produziert oder noch nicht einmal erfunden ist. Aber genau deshalb ist Geld mehr als ein Tauschmittel. Es kann als Wertauf bewahrungsmittel fungieren, was ihm laut Binswanger einen sakralen Charakter verleiht.15 Denn solches Geld, das man übrig hat und sparen kann, wird Vermögen. Nicht zufällig hat das Wort Vermögen in der deutschen Sprache zwei Bedeutungen, eben die des Geldbesitzes, aber auch die des Könnens. Man vermag eben mit Vermögen Dinge zu tun, die man sonst nicht tun könnte. Wir haben es mit einer Form von Potenz zu tun. Deutschmann spricht hier von einer »universalen Fähigkeit«16. Man kann alles kaufen, was nicht heißt, dass man das tatsächlich tut – ganz im Gegenteil: Gekaufte Güter sind schnell konsumiert, ihre Faszinationskraft lässt nach. Der berauschende Reiz des Geldes liegt vielmehr im Kaufen-Können. Dem Geld wohnt eine »eigentümliche Faszination inne, gerade solange man es nicht ausgibt«17. In der Dispositionsfreiheit liegt der innere, der sakrale Wert, den das Geld seinem Besitzer vermittelt. Es ermöglicht Disposition letztlich über Menschen, zwar zunächst in Form ihrer »Arbeitskraft«, die aber mit ihnen untrennbar verbunden ist, 10 | Ebd., S. 24. 11 | Ebd., S. 24. 12 | Ebd., S. 24. 13 | Ebd., S. 25. 14 | Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, Vers 5782. 15 | H.C. Binswanger: Die Glaubensgemeinschaft der Ökonomen, S. 129. 16 | C. Deutschmann: Geld – die verheimlichte Religion unserer Gesellschaft?, S. 241. 17 | Ebd., S. 243.
Kapitel 7 – Geld als Gott, Kapitalismus als Religion
insbesondere in höheren, weniger handwerklichen Berufen. Man könnte also sagen, Geld als Vermögen ist die Abstraktion eines Tauschmittels, aber die Konkretisierung von Macht. Geld ist denkbar konkreteste Macht. Seine Eigenschaft als Tauschmittel ist dadurch, dass es Vermögen werden kann, so sehr verallgemeinert worden, dass es Macht und damit ein Zweck werden kann, in der politischen Sphäre sogar der Zweck schlechthin. So überschreitet Geld ganz von alleine die Grenze der wirtschaftlichen Sphäre und wirkt eigendynamisch maßgeblich in die politische hinein. Hörisch würde dies als einen Beleg für die Unreinheit des Geldes ansehen, auf die er an verschiedener Stelle hinweist.18 In Deutschmanns Worten: »Wenn ich nur genug Geld habe […], kann ich alles, was die Menschheit kann; ich kann alle Güter der Welt und noch dazu Schönheit, Gesundheit, Intelligenz, Bildung kaufen, eines Tages sogar vielleicht persönliche Unsterblichkeit, wie uns die Biotechnologie-Propheten versprechen. Alles könnte anders werden, die Frage ist nur noch mit welchen Kosten und welchen Gewinnen. Das führt manchmal zu einer rauschhaften Übersteigerung des Selbstwertgefühls des Vermögensbesitzers, die ihn den Unterschied zwischen seinen durchaus begrenzten persönlichen Fähigkeiten und dem grenzenlosen Potenzial des Geldes vergessen lässt. Was mein Geld kann, das kann und bin ich.«19
So hat Geld direkten Zugriff auf unsere Identität und nimmt den Platz des überweltlichen Wesens ein, von dem oben die Rede war und das die Rolle des Spiegels spielt, den der Mensch sich bei seiner Identitätssuche vorhält. Es beantwortet die Frage nach der Identität schlicht mit: Wir sind, was wir haben und arbeiten. Durch Arbeit aber können wir alles Mögliche herstellen, die unglaublichsten Dinge, die heute noch kaum vorstellbar sein mögen. Das liegt an unserer Kreativität, an unserer Schöpferkraft, die für Innovationen aller Art sorgen kann. Geld als Vermögen kann in Vermögen und damit in Kreativitätsentfaltung investiert werden und wird so zu Kapital. Das Kapital erhält auf diese Weise Zugriff auf unsere Kreativität, die wir als innovative Wirtschaftssubjekte arbeitend erfahren 18 | Vgl. J. Hörisch: Man muss dran glauben, Kapitel 2, und Tauschen, sprechen, begehren. 19 | C. Deutschmann: Geld – die verheimlichte Religion unserer Gesellschaft?, S. 247f. [Herv. i. O.].
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und zwar durchaus in einer »radikal, letztlich frei schwebenden« Weise, um die angeführten Worte Gabriels noch einmal zu zitieren, die dieser jedoch in rein religiösem Kontext geäußert hat. Wir erfahren laut Gabriel diese so qualifizierte Kreativität bei unserer Spiegelung im Unendlichen, wenn wir bei unserer Identitätssuche auf Distanz zu uns selbst gehen. Dabei sind wir auf nichts Bestimmtes festgelegt, sondern erfahren vielmehr die Vielzahl möglicher Festlegungen, die Gabriel im oben angeführten Zitat zudem als Quelle des Fortschritts bezeichnet. Überhaupt könnte man meinen, der Philosoph Gabriel zitiert hier aus einem Wirtschaftslehrbuch, aber er spricht in rein religiösem Kontext. Die Wirtschaft hat die Eigenschaften der Religion. Die Tatsache, die Kierkegaard als Gott definiert hat, »dass alles möglich ist«, erfahren wir auch in der Wirtschaft beim Umgang mit Geld. Fortschritt durch Kreativität, durch Kreation, durch Schöpfung, all das erleben wir in der Wirtschaft wie in der – nach Gabriel guten – Religion. Noch deren Distanzierung vom Fetisch – der schlechten Religion – finden wir in der Wirtschaft wieder, denn deren Priesterkaste, die Ökonomen, stellt gerade nicht das Geld in den Mittelpunkt. Sie betont stets die Realwirtschaft, trotz der Bedeutung, die die Finanzwirtschaft inzwischen erlangt hat, und sogar so weit gehend, dass Kapital in Lehrbüchern oft nur als Realkapital erwähnt und das Geld vernachlässigt wird, ja als Geist, als Logos der Wirtschaft, gar nicht reflektiert wird. Gerade durch diese Verschleierung der Bedeutung des Geldes aber erfährt es eine umso größere Fetischisierung. Legen wir Gabriels Ausführungen über Religion zugrunde, handelt es sich beim Geld also um eine Form guter ebenso wie schlechter Religion. Wie passt das zusammen? Wie können sich diese gegensätzlichen Eigenschaften im Geld vereinen? Meine These hierzu lautet, dass Wirtschaft nicht einfach strukturhomolog zur Religion ist, dass Geld nicht einfach religiöse Qualitäten hat und nicht einfach eine »diskontierte« Form Gottes darstellt, sondern eine Neuschaffung Gottes. Wir haben es mit einer Wiedergeburt Gottes aus dem Geist des Ökonomismus zu tun. Diese neue Religion ist eine Synthese aus Gabriels guter und schlechter Religion, die sich wie These und Antithese verhalten. Wir schaffen eine neue Welt, eine neue Natur, in der Geld nicht nur göttliche Eigenschaften besitzt, sondern den Platz Gottes einnimmt. Wir kennen diese neue Welt, die neue Natur, seit langem; sie ist einerseits das Geschöpf der Naturwissenschaften, die nach Naturgesetzen technisch neu geschaffene Welt, von der hier schon die Rede war. Sie ist andererseits die Gesellschaft. Die neue, zweite Natur,
Kapitel 7 – Geld als Gott, Kapitalismus als Religion
»die wir Gesellschaft zu nennen uns angewöhnt haben«20, ist, da sie zum Bilde des Geldes mithilfe von Ersatznarrationen geschaffen wurde, auch vom Geld her lesbar: »Geld strukturiert diese zweite Natur, Geld reduziert viele der überkomplexen Entscheidungsmöglichkeiten in dieser zweiten Natur auf übersichtliche Dimensionen.«21 Schließlich jedoch greift Geld auch auf die materielle Welt zu, in der es seine kreierten Begriffe auch materiell zu institutionalisieren versucht. Geld – gemeint ist der an Geld glaubende Mensch – versucht, »im Buch der ersten Natur nicht nur zu lesen, sondern es neu zu schreiben«22 . Der Mensch will folglich die Natur nicht nur wahrnehmen, sondern sie im Geiste des Geldes über Begriffsbeglaubigungen durch Ersatznarrationen neu schaffen. »An die Stelle der nachgemachten, der zweit(rangig)en, der abkünftigen tritt die gemachte Natur, die der ersten Natur vormachen soll, wie sie eigentlich auszusehen habe.«23 Eritis sicut Deus – das sind nicht nur die Worte der Schlange beim Sündenfall (1. Mose 3,5), sondern auch die Empfehlung, die Mephistopheles seinem Schüler gibt.24 So reflektiert Goethe in seinem Faust die mit der Geldsymbolik einhergehende Diabolik.
20 | J. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 69. 21 | Ebd., S. 69. 22 | Ebd., S. 70. 23 | Ebd., S. 70. 24 | Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil, Vers 2048.
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Kapitel 8 Die Neuschaffung der Welt zum Bilde des Geldes
Die neue Welt ist uns in Kapitel 5 im Zusammenhang mit dem von Joseph Vogl erwähnten Beispiel der französischen Gartenkunst als künstlich geschaffene zweite Natur auf Basis der Naturgesetze schon begegnet. Wir haben anhand eines dreistufigen Institutionalisierungszyklus gesehen, wie sie aus reinen Begriffen geschaffen werden kann. Wenn es aber wahr ist, dass die Physik die Ökonomik der Natur und die Ökonomik die Physik der Gesellschaft und damit auch der sozialen Individuen ist,1 dann legt dies den Gedanken nahe, dass wenn die Physik die Grundlage technischer Neuschöpfungen sein kann, die Ökonomik die Grundlage sozialtechnischer Neuschöpfungen sein kann, etwa einer Tauschgesellschaft, in der Menschen ihre Individualität primär aus der Spiegelung am Geld schöpfen. Mit Physik kann man die materielle Welt als technische Welt neu erschaffen, mit Ökonomik die dazugehörige geistige Welt. Beide funktionieren nach festgelegten Gesetzen, den Naturgesetzen und den ökonomischen Gesetzen. Der Geldgeist der Ökonomik ist dabei nicht ohne Auswirkungen auf den Geist der Technik; will man einem Roboter selbstständiges Denken und Handeln beibringen, kann das nur durch die Programmierung ökonomischen Effizienzdenkens geschehen, denn dieses stellt eine objektive, zahlenmäßig erfassbare Moral dar. Es lässt sich auch so formulieren: Technik ist die neue Natur und Wirtschaft die neue Kultur des Menschen. In ihr ist Religiosität nicht abgeschafft, überwunden oder irgendwie irrelevant geworden, sondern neu erfunden. Sogar einen Gott gibt es in dieser künstlichen neuen, berechenbaren Welt: Geld. Ökonomik ist ihre Theologie, der (Neo-)Libera1 | Vgl. Philip Mirowski: More Heat Than Light: Economics as Social Physics, Physics as Nature’s Economics.
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lismus ihre politische Glaubenslehre. Und Technik ist immer weniger etwas vom Menschen Abgetrenntes, etwas Äußeres, was ihm das Leben erleichtert. Der Mensch wird einerseits immer abhängiger von Technik, aber vor allem wird sein Körper immer mehr mit Technik verbunden. Er kann sein Aussehen mit plastischer Chirurgie verändern, sich Computerchips implantieren und sich mit dem Internet verbundene Brillen aufsetzen, die mehr sehen als das bloße Auge. Er kann rund um die Uhr Werte wie Puls oder verbrauchte Kalorien messen und sich auf diese Weise wie Maschinen selbst optimieren, ja sich im Geiste des Geldes neu schaffen. So spielen technisierter Körper und ökonomisierter Geist zusammen. Auch die Diskussionen um den Posthumanismus zielen darauf ab. Der neue Mensch ist das Produkt von Technik und Wirtschaft – und nicht nur von Technik allein, wie reine Naturalisten behaupten würden, eine These, die angesichts der Bedeutung der Wirtschaft in heutiger Zeit nicht ausreichen dürfte. Das Bildungsideal des neuen Menschen ist der »neue Humboldt«, die ökonomisierte Bildung, die wir oben ausgeführt haben, in der der echte Humboldt sich symbolisch wiedergefunden hätte, die ihm aber bei genauem Hinsehen teuflisch erschienen wäre, denn die (schöne?)2 neue Welt ist von der ersten diabolisch getrennt. Schelsky hat schon 1962 in seinen Überlegungen zum Bildungsthema auf ein »neues metaphysisches Verhältnis des Menschen zur Welt und zu sich selbst«3 hingewiesen, das sich mit der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation über die Erde verbreitet. »Denn diese technische Welt ist ihrem Wesen nach Konstruktion, und zwar die des Menschen selbst; in ihr tritt der Mensch sich selbst als wissenschaftliche Erfindung und technische Arbeit gegenüber.«4 Bei der »Konstruktion einer neuen Welt […] wird der Mensch mehr und mehr sein eigener sachlicher Erkenntnis-
2 | Carl Amery bemerkt dazu: »Insgesamt sind wir, ohne es wirklich zu merken, etwa zu vier Fünfteln dem Endpunkt des dystopischen Zukunftsromans von Aldous Huxley, Schöne neue Welt, nahe gerückt. Fast alle unsere Moralvorstellungen und technischen Manipulationsmöglichkeiten, von Promiskuitätsritualen über kommerziell angepassten Hedonismus und standardisiertes Freizeitverhalten bis zur Menschenanfertigung in der Retorte, entsprechen den Verhältnissen von Huxleys Warnerzählung.« (C. Amery: Global Exit, S. 72 [Herv. i. O.]) 3 | H. Schelsky: Einsamkeit und Freiheit, S. 164. 4 | Ebd., S. 164.
Kapitel 8 – Die Neuschaffung der Welt zum Bilde des Geldes
gegenstand und sein eigenes technisches Handlungsobjekt«.5 Das ist aber etwas völlig anderes als Ichwerdung, nämlich das Gegenteil: die Unterwerfung unter naturwissenschaftliche Sachlogiken und auf diesen beruhende geldgesteuerte Produktionsprozesse. Schon damals sah Schelsky: »Es wird wissenschaftlich heute ja nicht nur ›Natur‹ neu- und umgeschaffen, sondern diese Art der wissenschaftlichen Produktion richtet sich längst auf eine Umkonstruktion und technische Beherrschung des Menschen selbst in seinen leiblichen, sozialen und seelischen Bezügen, und diese ›künstliche‹ Veränderung des Menschen erweist sich mehr und mehr als die Voraussetzung des Fortschritts der Natur- und Gütertechniken.« 6
Und zur seelischen Umkonstruktion, so möchte man aus heutiger Sicht hinzufügen, gehört inzwischen wesentlich die Religion, der Glaube ans Geld. Jedenfalls zeigt sich hier, dass es wenig ratsam erscheint, Naturalismus von Ökonomismus zu trennen. Denn so weit, dass der Mensch sich auch seine Moral, seinen Glauben, sein Bildungsideal techno-ökonomisch neu schafft, konnte oder wollte Schelsky damals noch nicht gehen. Für ihn ist die Naturwissenschaft noch das andere der geistig und sittlich läuternden Kraft, die das Ich bilden kann. Für ihn stehen Philosophie und Religion noch in einer »defensiven Auseinandersetzung mit diesem neuen technischen Selbstbezug des Menschen« 7. Er hielt noch fest an einem nur aktualisierten Humboldt’schen Bildungsideal, wenn er schreibt: »Die geistige und moralische Bewältigung der so universal aufgefaßten Technik stellt das zentrale Bildungsproblem der Universität in unserer Zeit dar.«8 Heute würde man diesen Satz ökonomisiert verstehen: Die techno-ökonomische Neuschaffung des Menschen ist die Bildung unserer Zeit. Während Schelsky noch meinte: »Aus dem Wissens-Charakter der modernen Natur- und Sozialwissenschaften ist ein verbindlicher Bildungsgehalt daher nicht mehr ableitbar«9, gilt heute de facto das umgekehrte: Die introspektive Reflexion des neuhumanistischen Bildungsideals wird einfach mit der Selbst5 | Ebd., S. 164. 6 | Ebd., S. 164. 7 | Ebd., S. 165. 8 | Ebd., S. 165. 9 | Ebd., S. 167.
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betrachtung durch die techno-ökonomische Brille, mit Selbstoptimierung, gleichgesetzt. Der neue Menschentyp, dessen Heraufkunft auch Alfred Weber schon sah,10 vergisst dabei die Kultur seiner Ahnen, weil er gar nicht auf die Idee kommt, dass diese anders gewesen sein könnten als er selbst. Ihre Worte, Begriffe und Symbole benutzt er selbst schließlich auch, nur ihrer diabolischen Andersheit ist er sich nicht bewusst. Und so folgert Schelsky 1962: »Die neuen ›technischen‹ Wissenschaften haben noch kein verbindliches wissenschaftliches Bildungsideal durchgesetzt.«11 Genau in dem Punkt sind wir heute weiter. Konfrontiert sind wir heute mit dem neuen techno-ökonomischen Bildungsideal, das den Menschen körperlich und geistig ad imaginem pecuniae bildet. Noch Zukunftsmusik ist die Frankenstein ähnliche Neuschöpfung eines menschlichen Wesens, an der aber gearbeitet wird. In technischen Magazinen ist häufig in variierter Weise das Bild anzutreffen, auf dem der Finger einer ausgestreckten Roboterhand den Finger einer menschlichen Hand berührt. Das Bild ist Michelangelos »Erschaffung Adams« nachempfunden, dessen Original sich an der Decke der Sixtinischen Kapelle im Vatikan befindet und das Gott zeigt, wie er durch die Berührung von Adams Finger dem ersten Menschen Leben einhaucht. Auf den neueren Variationen ist der Mensch Gott und Adams Hand ist eine Maschinenhand. Der Mensch spielt also Gott und erschafft eine neue Welt der Technik über die Hand12, nicht über den Kopf – der Traum der Ingenieure und Naturwissenschaftler, denn in der neuen materiellen Welt sind sie es, die die Macht haben, weil sie ihre Gesetze am besten kennen und anwenden können. Vorerst aber begnügt man sich damit, den existierenden Menschen umzubilden in ein sich selbst optimierendes biologisches Wesen, das sich politisch (neo)liberal organisiert. Der Neoliberalismus ist dabei nicht ein zufälliges politisches Ordnungssystem, sondern die ideologische Grundlage und politische Motivation des neugebildeten Menschen. Man kann sich das leicht klarmachen, wenn man die historische Entwicklung des Neoliberalismus betrachtet. Dieser Begriff ist in den 1930er Jahren von liberalen bürgerlichen Kreisen geprägt worden als Reaktion auf die autoritären, zentralplanerischen 10 | Ebd., S. 169. 11 | Ebd., S. 170. 12 | Über die Bedeutung des Handmotivs im Wirtschaftlichen vgl. J. Hörisch: Man muss dran glauben, S. 81ff. und S. 109ff.
Kapitel 8 – Die Neuschaffung der Welt zum Bilde des Geldes
Wirtschaftssysteme der kommunistischen und faschistischen Diktaturen. Der Begriff ist sowohl eine Anknüpfung als auch eine Neuformulierung des Liberalismus, der seit Beginn der Moderne über das 19. Jahrhundert hinweg der Wirtschaft zugrunde lag, zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber durch Krisen in Misskredit geraten war angesichts der sozialen Verwerfungen, der vor allem in Deutschland als Trauma erlebten Hyperinflation, der Weltwirtschaftskrise und des zwar immer erwarteten, aber nie eingetretenen Gleichgewichts auf dem Arbeitsmarkt. Im Zuge der Gründung der Bundesrepublik war es nicht selbstverständlich und erst recht nicht verfassungsmäßig vorgegeben, dem neuen Staat ein liberales Marktwirtschaftssystem als Wirtschaftsordnung zugrunde zu legen und geschah nur durch den knappen Wahlsieg der CDU bei den ersten Bundestagswahlen. Die neoliberalen Ideen wurden so zur Grundlage des in Deutschland von Vertretern der Freiburger Schule wie Walter Eucken so bezeichneten Ordoliberalismus bzw. der von Alfred Müller-Armack so bezeichneten Sozialen Marktwirtschaft. Liest man die theoretischen Grundlagenwerke der Vertreter dieses frühen deutschen Neoliberalismus, die in der Zeit um den Zweiten Weltkrieg entstanden, wird sehr deutlich, wie man sich vom tatsächlich erlebten Liberalismus des 19. Jahrhunderts distanziert, um jedoch dessen Grundidee zu retten und zur Grundlage einer künftigen Wirtschaftsordnung zu machen. Schon der Titel etwa des Buchs des frühen Neoliberalen Alexander Rüstow zeigt dies: »Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus«. Interessant ist an diesem Buch vor allem die über weite Strecken erfolgende theologische Argumentation. So setzt Rüstow beim »deistischen Neustoizismus«13 Adam Smiths an und dessen »metaphysischen, subtheologischen Voraussetzungen«14, von denen wir oben schon sprachen. Die Welt werde von der weisen und regelnden Vorsehung eines mächtigen und gütigen Gottes beherrscht. Smith war der optimistischen Ansicht, dass metaphysische Kräfte für das gute Funktionieren der Wirtschaft sorgen würden, wenn man ihnen dazu nur die Freiheit ließe. Er vertrat damit die Gegenposition der vor ihm in der Zeit des Absolutismus herrschenden ökonomischen Denkschule der Physiokratie, die von einer ordre naturel, also ebenfalls von einer der Natur innewohnenden gesetzlichen Ordnung ausging, aber durchaus der Meinung war, dass der ab13 | A. Rüstow: Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus, S. 46. 14 | Ebd., S. 45.
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solutistische Herrscher der Verwirklichung dieser Ordnung nachhelfen müsse. Smith wollte solches Nachhelfen unterlassen sehen, er hielt die metaphysische Kraft der natürlichen Ordnung für stark genug, von alleine zu einem guten Zustand zu führen. Genau diese Position ließ sich aber angesichts der Krisen und erfahrenen Probleme des Wirtschaftsliberalismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht mehr aufrecht erhalten. Rüstow verweist nun auf zwei mögliche theologische Reaktionen auf eine solche Diagnose, dass eine angenommene gottgewollte Ordnung sich in der Realität nicht einstellt. Entweder man verstärkt noch einmal den Glauben an die menschliche Marktwirtschaft als göttliche Planwirtschaft, das hieße in diesem Falle, die als naturgemäß gedachte Ordnung der Wirtschaft noch weniger durch Eingriffe zu stören, oder man hilft der Verwirklichung dieser Ordnung in der Praxis von außen wieder etwas mehr nach und erkennt wie die Physiokraten an, dass die natürliche oder göttliche Ordnung der Hilfe eines externen Verwirklichers bedarf, der die Menschen zu ihr hin erzieht und bildet. Mitte des 20. Jahrhunderts konnte man sich nur für diese letzte Option entscheiden. Die Neoliberalen betonten daher das Konzept der Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Sie sind die Form, in der die Politik der freien Marktwirtschaft dabei hilft, ihre positiven Wirkungen zu entfalten. Diese Rahmenbedingungen beinhalten nun auch, systemtheoretisch gesprochen, das ganze Umfeld der Wirtschaft. Ethische, religiöse Fragen und solche der sozialen Integration einer Gesellschaft sind somit in das Umfeld der Wirtschaft verlagert. Die Wirtschaft wird einerseits mit solchen Problemen nicht belastet, aber auch andererseits daran gehindert, solche außerökonomischen Aufgaben zu übernehmen. Wirtschaft hatte in den Augen der frühen deutschen Neoliberalen auch keineswegs die zentrale Stellung in der Gesellschaft, die sie in Zeiten des Liberalismus hatte. Sie hatte vielmehr eine rein dienende Rolle zu übernehmen, was ein Zitat Rüstows an anderer Stelle zum Ausdruck bringt: »Wir sind der Meinung, daß es unendlich viele Dinge gibt, die wichtiger sind als Wirtschaft: Familie, Gemeinde, Staat, alle sozialen Integrationsformen überhaupt bis hinauf zur Menschheit, ferner das Religiöse, das Ethische, das Ästhetische, kurz gesagt das Menschliche, das Kulturelle überhaupt. Alle diese großen Bereiche […] sind wichtiger als die Wirtschaft. Aber sie alle können ohne die Wirtschaft nicht existieren; für die alle muß die Wirtschaft das Fundament, den Boden be-
Kapitel 8 – Die Neuschaffung der Welt zum Bilde des Geldes
reiten. Primum vivere, deinde philosophari. Wenn die Wirtschaft nicht dafür sorgt, dass die materiellen Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens gegeben sind, können alle diese Dinge sich nicht entfalten. D.h., alle diese überwirtschaftlichen Dinge haben Forderungen an die Wirtschaft zu stellen. Die Wirtschaft hat diese Forderungen zu erfüllen, sie hat sich in den Dienst dieser Forderungen zu stellen. Es ist der eigentliche Zweck der Wirtschaft, diesen überwirtschaftlichen Werten zu dienen.«15
Ökonomismus, also die Übertragung wirtschaftlicher Prinzipien wie Konkurrenz und Wettbewerb auf außerwirtschaftliche Bereiche hinaus, haben die frühen deutschen Neoliberalen ausdrücklich abgelehnt und bereits im religiösen Bereich angesiedelt. In den 1970er Jahren schrieb Wilhelm Röpke: »Ökonomismus, Materialismus und Utilitarismus haben in unserer Zeit vereint zu einem Kult der Produktivität, der materiellen Expansion und des Lebensstandards geführt, der aufs neue beweist, daß alles Absolute, Unbegrenzte und Unmäßige vom Übel ist. Dieser Kult des Lebensstandards ist selbstverständlich ein Sehfehler der Seele von geradezu klinischem Charakter, eine unweise Verkennung der wahren Rangordnung der Lebenswerte und eine Erniedrigung des Menschen, die er auf Dauer kaum ertragen wird.«16
Auch Rüstow betonte schon in den 1940er Jahren, dass »die Wirtschaft um des Menschen willen [da ist], und nicht der Mensch um der Wirtschaft willen – was ist das für eine Zeit, in der eine solche Selbstverständlichkeit ausgesprochen werden muss!«17 Die Marktwirtschaft von außerwirtschaftlichen Aufgaben entlasten und dafür sorgen, dass die »Marktkräfte« ihre effizienten Wirkungen frei und ungestört entfalten können, dafür sollte der Staat als Marktpolizei sorgen, etwa indem »Behinderungskonkurrenz« unterdrückt und 15 | Alexander Rüstow: Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit, zitiert nach H. Lampert/A. Bossert: »Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union«, S. 437. 16 | Wilhelm Röpke: Jenseits von Angebot und Nachfrage, zitiert nach H. Lampert/A. Bossert: »Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union«, S. 393. 17 | A. Rüstow: Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus, S. 142f.
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»Leistungskonkurrenz« gefördert wird, wie Rüstow es bezeichnet. Auch dürfe der Staat nun, anders als im Liberalismus, in die Wirtschaft direkt eingreifen, aber »nicht entgegen den Marktgesetzen und unter Störung der Marktstruktur, sondern unter Aufrechterhaltung der Marktstruktur und in der Wirkungsrichtung der Marktgesetze«18, also marktkonform. Marktkonform sind solche Eingriffe des Staats in die Wirtschaft, die nicht die Marktkräfte stören, also den Preismechanismus des Marktes, der angetrieben von den individuellen Optimierungsbestrebungen von Nutzen und Gewinn für die Angleichung von Angebots- und Nachfragemenge aller Güter sorgen soll. Die Güterpreise sollen wie vom alten Liberalismus gedacht als Knappheitsindikatoren fungieren, Angebot und Nachfrage koordinieren und über die geldlichen Anreize Menschen motivieren, wirtschaftlich tätig zu werden. Die Preise sind auch im Neoliberalismus die metaphysische unsichtbare Hand des Marktes, an die weiterhin geglaubt wird, auch wenn sie so schwach ist, dass man ihr unter die Arme greifen muss und die nicht auf den ersten Blick ganz offen legt, dass es letztlich die arbeitenden Menschen sind, die Angebot und Nachfrage überhaupt erst entstehen lassen. Ein starker Staat also, der die Wirtschaft einerseits begrenzt, damit sie den Menschen dient und nicht umgekehrt, und andererseits der freien Entfaltung der Marktkräfte und damit der Geldvermehrungsanstrengungen der arbeitenden Menschen durch Rahmenbedingungen nachhilft und so aktiv dafür sorgt, dass die vom Liberalismus behaupteten wohlfahrtsförderlichen Effekte wirksam werden können. Diese zwei in der Theorie so vielversprechend klingenden Kennzeichen des frühen Neoliberalismus bzw. der Sozialen Marktwirtschaft erweisen sich jedoch, wie nicht zuletzt die Geschichte der Bundesrepublik zeigt, in der Praxisumsetzung als nicht ganz unproblematisch, und das aus verschiedenen Gründen. Einer davon liegt im Begriff der Rahmenbedingung selbst. Für Physiker, die Elementarteilchen in Potenzialtöpfen untersuchen, mag dieser Begriff eingängig sein, sie sprechen meist von Randbedingungen statt Rahmenbedingungen. Und auch Systemtheoretiker sind gewohnt, Systeme und deren Umfeld, also quasi deren Rahmen, zu betrachten. In beiden Fällen handelt es sich um Abstraktionen. Der Physiker mag in der Lage sein, unter Laborbedingungen ein Teilchen in einem Behälter einzurahmen (obwohl wegen des Tunneleffekts nicht einmal das in vollem Um18 | Ebd., S. 146.
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fang gilt), und auch in der sozialen Theorie kann man sich vorstellen, dass man etwa innerhalb eines gesetzlichen Rahmens frei seinen Geschäften nachgehen kann, aber in der konkreten Praxis ist man immer Agierender in mehreren Systemen. Nur ein einfaches Beispiel: Kündigungsschutz. Ist dies ein wirtschaftliches oder ein politisches Phänomen? Gehört es in den Rahmen der Wirtschaft oder in diese direkt? Ein Mitarbeiter, dem ein Unternehmen kündigen will, stellt für es einen Kostenfaktor dar, ist also Teil der unternehmerischen Optimierungskalküle und damit des innersten Kerns der Wirtschaftssphäre, deren freie Entfaltung ja gerade das Ziel der ordoliberalen Politik ist. Gerade die nur an Preisen orientierten freien Optimierungskalküle der Wirtschaftsakteure sollen ja die Ursache der effizienzsteigernden Wirkung sein; auf sie zu verzichten, hieße, ganz auf Liberalismus zu verzichten, wohingegen das ganze neoliberale Projekt ja gerade darauf abzielt, die Vorteile des Liberalismus zu erhalten. Dennoch gibt es Kündigungsschutz als politische Rahmenbedingung, denn vor allem in einer Erwerbsarbeitsgesellschaft sind Kündigung und Arbeitslosigkeit mindestens so politisch wie wirtschaftlich. Eine hohe Arbeitslosigkeit und damit mangelnde Teilhabe an der Erwerbsgesellschaft ist auch politisch nicht wünschenswert. Mit der Mündigkeit und demokratischen Einbindung eines Bürgers, der sich nicht einmal selbst ernähren kann, ist es nicht weit her. Das bleibt wiederum nicht ohne Folgen für sein Vertrauen in Staat und Gesellschaft. So entsteht ein Konflikt zwischen der politischen Wünschbarkeit und der wirtschaftlichen Zurückweisung eines Kündigungsschutzes und zugleich ein Beispiel dafür, dass Wirtschaft und Politik nicht so ohne Weiteres voneinander abgrenzbar sind, wie es eine Theorie der Rahmenbedingungen suggerieren könnte. Liest man die Werke der frühen Neoliberalen wie Rüstow, Eucken oder Röpke, gewinnt man den Eindruck einer gewissen Naivität, was diese strikte Abgrenzbarkeit von Wirtschaft und Politik angeht. Oder es zeigt sich ein Widerspruch zwischen der in den obigen Zitaten geforderten dienenden Rolle der Wirtschaft und der nun aber erhobenen Forderung nach der ihr zu dienen habenden Politik. Und selbst, wenn man die Existenz und Wirksamkeit von Rahmenbedingungen anerkennt, wird man zugeben müssen, dass auch wenn sie nicht direkt in den Preismechanismus eingreifen, sie dennoch von diesem nicht ganz unabhängig sind. Denn Form und Inhalt sind nicht unabhängig voneinander, auch wenn sie sich begrifflich unterscheiden lassen. Nicht jeder Inhalt passt in jede Form. Durch entsprechende Ge-
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staltung der Form lässt sich auch der Inhalt gestalten. Wenn beispielsweise eine Universität die Stellenvergabe an Wissenschaftler von betriebswirtschaftlichen Kennzahlen wie Drittmitteleinwerbung abhängig macht oder die Weiterbeschäftigung von Dozenten von Evaluationsergebnissen, ist der Inhalt der wissenschaftlichen Forschung bzw. der Lehre formal nicht direkt tangiert, aber der Wissenschaftler bekommt den Anreiz, diejenige Forschung durchzuführen, die mehr Drittmittel einbringt und der Dozent wird dazu angereizt, sich gute Evaluationsergebnisse auch durch großzügige Notenvergabe zu sichern und auf diese Weise zur Entwertung der Abschlüsse beizutragen. Gerade die Vorstellung, dass Bildungs- bzw. Wissenschaftsmanager sich nur um die Form der Bildung bzw. Wissenschaft kümmern, lenkt davon ab, dass sie indirekt sehr wohl einen Einfluss auf die Inhalte haben. Und so verhält es sich auch allgemein mit Rahmenbedingungen und insbesondere mit denen der Wirtschaft. Direkt greift der Staat nicht über Rahmenbedingungen in die freien Optimierungskalküle der Wirtschaft ein, indirekt kann er das aber absichtlich oder unabsichtlich sehr wohl tun. Er kann Bürokratie so weit steigern, dass viel Arbeitszeit der Unternehmen gebunden wird, was Arbeitskosten und letztlich auch Produktpreise nicht unberührt lässt auch wegen der Wettbewerbsnachteile gegenüber Unternehmen in Staaten mit weniger Bürokratie. Rahmenbedingungen, wie Ordoliberale sie sich vorstellen, sind daher nie nur politisch, sondern immer auch wirtschaftlich. Den Konflikt zwischen Politik und Wirtschaft kann der Neoliberalismus nie ganz aufheben. Ganz im Gegenteil führt er im Laufe der Zeit durch die gedankliche Verbindung beider Sphären zu einer Vermischung und entzieht damit der Grundlage des frühen Neoliberalismus, der ja gerade auf der Trennung von wirtschaftlichen Akteuren und politischen Rahmensetzern beruhte, tendenziell den Boden. Aber noch einen tieferen Grund gibt es dafür, dass Rahmenbedingungen und das von ihnen Eingerahmte nicht so unabhängig sind wie ein Elementarteilchen vom Potenzialtopf. Und das hängt mit einer allgemeinen Entdifferenzierung der Gesellschaft zusammen, mit dem Übergang der Moderne in die Postmoderne. Diese Entdifferenzierung führt dazu, dass die Grenzen zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen und ihrer Umwelt, und das heißt nichts anderes als ihren Rahmenbedingungen, zerfließen. Wir werden dieses Phänomen in Kapitel 10 ausführlich behandeln. Noch ein weiterer Aspekt wurde von den Vordenkern des Neo- bzw. Ordoliberalismus unterschätzt, nämlich die Gestaltungsmacht des Staa-
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tes überhaupt. Er soll die freie Entfaltung der Wirtschaft und der Bildung garantieren, für soziale und körperliche Sicherheit und Gesundheit sorgen, eine funktionierende Infrastruktur organisieren und vieles mehr. All das bedeutet, selbst wenn es untereinander konfliktfrei realisierbar wäre, eine Menge Arbeit und hohe Kosten. Dass der Staat tendenziell überfordert sein könnte mit den Forderungen, die von allen Seiten an ihn gestellt werden, und zwar bereits von ihrer Menge, geschweige denn ihren Widersprüchen und Konflikten untereinander, ist ein Gedanke, der sich in den Werken der frühen Neoliberalen selten findet. Das hat sich offenbar erst im Laufe der Zeit herausgestellt. In den Fünfziger und Sechziger Jahren mit ihrem für heutige Verhältnisse immensen Wirtschaftswachstum fielen diese Probleme kaum ins Gewicht. 1966 erlebte die Bundesrepublik die erste Rezession und Arbeitslosigkeit. Die staatliche Reaktion darauf stand zunächst ganz im Einklang mit seiner vom Ordoliberalismus zugewiesenen Rolle als Rahmengesetzgeber, der für das Funktionieren der Wirtschaft zu sorgen hat. Darunter kann man keynesianische Politik verstehen. Der Staat kurbelt die Wirtschaft mit Konjunkturpaketen an, auch wenn er dafür neue Schulden aufnehmen muss. In der Bundesrepublik wurde dafür 1967 das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz erlassen, das eine Globalsteuerung der Wirtschaft vorsah. In »konzertierten Aktionen« sollten Staat und Wirtschaft am gleichen Strang in die gleiche Richtung ziehen. Das bedeutet aber auch, dass beide Sphären sich immer mehr aneinander annähern, sich quasi als Schicksalsgemeinschaft verstehen. Eine solche Konstellation ist tendenziell eher nicht im Sinne der Erfinder der Idee des Primats des Staates vor einer begrenzten und dienenden Wirtschaft, wie sie sich in den obigen Zitaten der Vertreter des frühen Neoliberalismus finden lässt. Mit der durch die Ölkrisen noch verstärkten Stagflation der Siebziger Jahre geriet das Modell der Globalsteuerung durch konzertierte Aktionen endgültig in eine Krise. Die Probleme auf der Angebotsseite der Wirtschaft ließen sich durch Nachfrage steigernde Maßnahmen nicht lösen. Die keynesianische Politik verpuffte in hoher Inflation, ohne die Produktion der Realwirtschaft zu stimulieren und dadurch die Arbeitslosigkeit zu senken. Das machte den Weg frei für die Neuen Neoliberalen der Chicago School um Milton Friedman, die sich als angebotsorientiert verstanden. Dieses harmlos klingende Wort hat es in sich: Es heißt, die Wirtschaft von den Anbietern, den Unternehmen, her zu denken. Die frühen Neoliberalen hatten sich über den Unterschied zwischen nachfrage- und
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angebotsorientierter Wirtschaftspolitik wenig Gedanken gemacht, weil der Konflikt zwischen beiden in einem Weltbild, in dem Wirtschaft und Politik deutlich voneinander abgrenzbar sind und die Politik als gestaltungsmächtiger angenommen wird, als sie tatsächlich ist, kaum von Bedeutung ist. In der früh-neoliberalen Vorstellung einer politisch geordneten Wirtschaft profitiert deren Angebotsseite ebenso wie die Nachfrageseite von der Konstellation aus ökonomischer Freiheit innerhalb des politischen Rahmens durch die Vermeidung monopolistischer und anderer Verkrustungen. In der lebensweltlichen Realität führt das Konzept der Rahmenbedingungen durchaus zu Konflikten zwischen angebots- und nachfrageorientierter Schwerpunktsetzung, wie wir es am Beispiel des Kündigungsschutzes schon dargelegt haben. Wenn nun jahrzehntelang die Nachfragepolitik die Oberhand hat und in die Krise gerät wie in den Siebziger Jahren, ist es naheliegend, es mit Angebotspolitik wie Deregulierungen zu versuchen, was seitdem tatsächlich versucht wird und vor allem von den Regierungen unter Thatcher und Reagan vorangebracht wurde. Da Wirtschaft und Politik sowieso eng verflochten waren, war der endgültige Schritt vom Primat der Politik hin zum Primat der Wirtschaft kein großer mehr. Dabei braucht nur der Begriff der Rahmenbedingung nun auch explizit als der Wirtschaft helfend statt sie begrenzend interpretiert zu werden. Inzwischen herrscht jedoch eine gewisse Übereinstimmung darin, dass natürlich beide Seiten der Wirtschaft, Angebot und Nachfrage, wichtig sind und daher von der Politik in einem ausgewogenen Verhältnis berücksichtigt werden sollen.
Kapitel 9 Theorie der Geldbeglaubigung
Soweit die konventionelle Erzählung. Auf der Grundlage einer Beglaubigungstheorie des Geldes aber stellt sich die Geschichte anders dar. Es wird Abstand genommen von der Fixierung auf Angebot und Nachfrage, die die ökonomische Theologie nahe legt, und stattdessen auf die metaphysische Größe Geld als Triebkraft menschlicher Handlungen geschaut. In der Krise war in den Siebziger Jahren in diesem Denken nicht die Angebots- oder Nachfrageseite der Ökonomie, sondern die Beglaubigung des Geldes. Und das bedeutet zweierlei, nämlich erstens den Geldwert und zweitens, und dies vor allem, Geld als metaphysisches Abstraktum. Der erste Fall, die Geldwertentwertung, zeigte sich einfach in der hohen Inflation der Siebziger Jahre. Geld ist hier ein Symbol für den Wert von Gütern. Damit verbunden aber bestand, zweitens, auch die Gefahr der Entwertung des Konzeptes des Geldes an sich, des Glaubens an »das Geld« als herrschendes Ordnungsprinzip. Geld ist hier ein Bild für Reichtum, Macht, Anerkennung und vieles andere. Der Satz »Geld regiert die Welt« drohte quasi zu einer literarischen Anekdote zu werden. Für »das Geld« besteht immer die Gefahr, dass es seine Macht verliert und damit sein Besitzer sein Vermögen, seine Macht über andere Menschen, über deren »kreatives Vermögen«1.
1 | C. Deutschmann: Geld – die verheimlichte Religion unserer Gesellschaft?, S. 254. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kapitel 7.
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Mit Geld verhält es sich ähnlich wie mit Zeit, worauf Hörisch hinweist: »Die Zeit schlechthin gibt es nicht – sowenig, wie es das Geld gibt. Es gibt Münzen, Scheine, Schecks und Wechsel, aber nicht das Geld. Es gibt Zeitpunkte, Zeiträume, Epochen, Lebensdaten, Anlagezeiten und Kreditfristen, aber ›es gibt‹ nicht die Zeit als solche (jedenfalls nicht in der Weise, wie es Seiendes gibt).« 2
Ähnliches gilt für die Welt als Supergegenstand, den es Markus Gabriel zufolge aus grundsätzlichen logischen Überlegungen nicht geben kann, im Unterschied etwa zu Polizeiuniform tragenden Einhörnern auf der Rückseite des Mondes, die es zumindest in Gedanken widerspruchsfrei geben kann.3 Trotzdem verwenden wir den Begriff der Welt, selbst Gabriel tut das, einfach als Synonym für Universum oder schlicht das, was uns umgibt und von dem wir den Eindruck eines Ganzen haben. Diese metaphysischen Großkonzepte haben trotz ihrer existenziellen Probleme zudem noch den Vorteil, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stiften. Der Staat kann, indem er sich des Geldes bedient, Legitimation und Integration erwirken. Der Glaube an »das Geld«, auch wenn dies eine philosophisch problematische Kategorie sein sollte, beruht jedenfalls auf einer zirkulären Logik, wie wir das am Beispiel der love locks und vieler anderer Beispiele schon durchexerzierten. Man glaubt ans Geld, weil es herrscht, und es herrscht, weil man daran glaubt. Es reicht nicht aus, nur eine Seite dieses Zirkels zu betrachten, man braucht beide. Für die Gesellschaft heißt das: Damit der Staat vom Geld beglaubigt werden kann, muss auch er das Geld beglaubigen. Und das tut er auch dadurch, dass er sich dem Geld nachbildet. Die geldregierten Märkte und der Staat haben sich, wie wir ausgeführt haben, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr angeglichen. Es ist der Menschentyp des Managers entstanden, der sich mit dem Typ des Bürokraten vermischt hat. Die staatliche Verwaltung erinnert heute in Zeiten des New Public Managements mindestens so an Unternehmensführung, wie Unternehmen hierarchisch planwirtschaftlich geführt werden. Die Unternehmen sind mindestens so bürokratisch wie der Staat unternehmerisch ist. Eine Grenzziehung zwischen den beiden Kategorien »bürokratisch« und »unternehmerisch« ist wie so viele Grenzziehungen in entdifferenzierenden Zeiten eher fragwürdig ge2 | J. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 159 [Herv. i. O.]. 3 | M. Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt, S. 23.
Kapitel 9 – Theorie der Geldbeglaubigung
worden, denn im Manager ist beides vereint, so wie im Geld beides vereint ist. Wie sich einmal mehr zeigt, ist die Figur des Managers eine Nachbildung des Geldes, der ad imaginem pecuniae gebildete Mensch. Er und das Geld beglaubigen sich gegenseitig. Denn auch Geld ist bürokratisch und unternehmerisch. Auch Geld herrscht und ordnet und eröffnet dem kreativen Geist gleichzeitig neue zukunftsorientierte Entfaltungsmöglichkeiten. Geld ist politisch nicht rechts oder links, sondern beides gleichzeitig. Es folgt der linken Alle-oder-keiner-Logik ebenso wie der rechten Esreicht-nicht-für-alle-Logik. Es ist so abstrakt, dass es alle gleich behandelt, weil von Unterschieden wie Herkunft oder Geschlecht abstrahiert wird, aber es ist knapp und nicht gleich verteilt und begünstigt denjenigen, der mehr davon hat. In den Siebziger Jahren nun ist, wie wir gesehen haben, der Glaube ans Geld in eine Krise geraten. Die Beglaubigung des Geldes wurde aus verschiedenen Gründen prekär. Der wichtigste Grund ist die seit Ende der Sechziger Jahre in der westlichen Welt um sich greifende Wachstumsschwäche. Eine nicht wachsende Wirtschaft kann aber nicht als Beglaubigungsinstanz des Geldes verwendet werden. Denn Geld will sich infolge der endlosen Entschuldungsbestrebungen der Menschen grundsätzlich vermehren, deshalb wird es als Kapital investiert. Ohne Wachstumsaussichten wird es keine Investitionen und damit neue Kaufartikel geben und das wird den Wert des Geldes, der aus dem Vermögen erwächst, damit etwas kaufen zu können, schmälern. Wirtschaftswachstum braucht also jeder, auch derjenige, der sich gar keine neuen Dinge kaufen will, der aber Geld besitzt, denn Wachstum beglaubigt sein Geld und damit sein Vermögen im doppelten Sinne, das heißt auch die Macht, die er über andere Menschen hat. Deswegen hatten insbesondere die Geldbesitzer in den Siebziger Jahren ein Interesse an einer neuen Wirtschaftspolitik, die angebots- und wachstumsorientiert ist und nicht nachfrage- und sozialstaatsorientiert. Denn es handelte sich damals nicht nur um eine vorübergehende Wachstumsschwäche, die mit staatlichen Konjunkturmaßnahmen therapierbar sein könnte, sondern es wurde materielles Wachstum – und damit die primäre Beglaubigungsquelle des Geldes – an sich in Frage gestellt. Der Club of Rome veröffentlichte 1972 seine berühmte und ängstlich rezipierte Studie »Grenzen des Wachstums«. Gleichzeitig wurde das Bretton-Woods-System fester Wechselkurse mit Anbindung der westlichen Währungen an den Dollar, der wiederum an die amerikanischen Goldreserven gekoppelt war, aufgegeben. Geld war
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damit endgültig auch offiziell und explizit völlig frei und nicht einmal mehr symbolisch vom Gold gedeckt. Noch dazu wurde es im Zuge der Kreditkartenverbreitung und Digitalisierung immer abstrakter. Das Geld war damals also aus mehreren Gründen verstärkt auf der Suche nach neuen Instanzen, die es durch symbolische Nachbildung beglaubigen konnten, denn die alten versiegten tendenziell bei gleichzeitig steigendem Beglaubigungsdruck. Das Geld begann mehr und mehr, sich die Welt und damit auch die Menschen nach seinem Bilde zu bilden, so dass der typische Zirkelschluss möglich wurde, von der Geldförmigkeit der Welt auf die Macht des Geldes zu schließen, die wiederum darin besteht, die Welt geldförmig zu gestalten. Deshalb die Deregulierungen auf den Finanzmärkten und in der Realwirtschaft. Deshalb vermischen sich Politik und Wirtschaft unter dem Leitstern des geldförmigen Managements, das die Politik wirtschaftlich macht und die Wirtschaft politisch. Das ist der eigentliche Inhalt des Neuen Neoliberalismus: Geldbeglaubigung. So kommt die Beglaubigungstheorie des Geldes zu ihrer Berechtigung: Spätestens seit den Achtziger Jahren wirtschaften wir immer weniger, um Güter und Dienstleistungen herzustellen, und immer mehr, um Geld zu beglaubigen. Und da der Begriff des Wirtschaftlichen sich inzwischen auf alle Lebensbereiche ausgedehnt hat, stellen sich diese immer stärker in den Dienst der Geldbeglaubigung – in der Hoffnung, selbst vom Geld beglaubigt zu werden, denn es handelt sich ja um einen zirkulären Prozess, in dem sich Symbol und Symbolisiertes gegenseitig beglaubigen. Das Bildungswesen ist dafür nur ein Beispiel. Mensch und Welt werden vom Imago Dei zum Imago Pecuniae. Und die Ökonomik als Wissenschaft wird über die Sozialwissenschaften hinaus zur Leitwissenschaft. Sie dient dem Geld am meisten. Sie ist dessen direkte Theologie. Nicht zuletzt indem sie die Aufmerksamkeit auf Gütertauschmärkte lenkt, hält sie das Geld im Umlauf, wobei es immer wieder als Kapital investiert wird, um neue Güter zu produzieren. Gleichzeitig lenkt sie davon ab, die Beglaubigung des Geldes zu reflektieren und so Aufklärung über die verborgenen metaphysischen Kräfte der Gesellschaft und die Fiktionen der Ökonomie zu ermöglichen – einer Gesellschaft, die um ihre Funktionalität zu steigern, entsprechend von der Civitas Dei zur Civitas Pecuniae geworden zu sein scheint.
Kapitel 10 Bildung (in) der Postmoderne
Hier wird also der Traum aller Religionen und Glaubenssysteme Wirklichkeit. Hier hat wirklich Gott sich seine Welt erschaffen, wobei es sich bei Gott natürlich schlicht um das Geld handelt. Im Kapitalismus vollendet sich das Christentum. Wenn stimmt, was Walter Benjamin vermutete, nämlich dass der Kapitalismus ein Parasit des Christentums sei,1 dann hat der Parasit den Körper seines Wirtes komplett unter seine Kontrolle gebracht und den Geist umprogrammiert, wie bei einem Menschen, den man einer Gehirnwäsche unterzieht. Der Körper, die Denkform, das metaphysische Gerüst des Kapitalismus sind diejenigen des Christentums. Der Kapitalismus benutzt die gleichen (symbolischen) Begriffe (Erlös, Messe, Kredit …) wie das Christentum, hat sie aber umdefiniert und meint damit (diabolisch) etwas anderes. Denn um eine Neuschaffung der Welt handelt es sich, wie wir gesehen haben. Die Kreativität, die (göttliche) Schöpferkraft des geldgläubigen Menschen und die daraus erwachsende Innovationskraft der Wirtschaft, von der im Sinne von Schumpeters schöpferischer Zerstörung so viel die Rede ist, sorgt eben nicht nur dafür, Zahlungsketten aufrecht zu erhalten, systemtheoretisch ausgedrückt für Anschlusskommunikation zu sorgen, sondern auch dafür, Geld zu beglaubigen, indem man es sich in realen Gegenwerten inkarnieren lässt. Dabei aber schafft man erst die dem Geld nachgebildete techno-ökonomische Welt. Diese neue Welt nach den Gesetzen von Technik und Wirtschaft hat aber, was schon kurz anklang, auch eine politische Dimension; in ihr werden die Zusammenhänge des Liberalismus, seine Kausalitäten, sein Menschenbild, seine theologischen Grundlagen zu Naturgesetzen. Was in der originalen ersten Welt noch 1 | Vgl. Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion.
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Kultur war, wird in der künstlichen zweiten Welt zu Natur.2 Begriffliche und soziale Konstrukte werden ökonomisiert und naturalisiert. Die neue Welt wird von Vorstellungen aufrecht erhalten, die der Mensch zum Bilde des Geldes geschaffen hat und die daher wie Naturgesetze erscheinen. Die Smith’sche Naturtheologie wird zur naturwissenschaftlichen Wirtschaftswissenschaft und diese wiederum zur politischen Ordnungsideologie. In ihr gibt es nun tatsächlich die von Smith voreilig behaupteten verborgenen Kräfte der Natur, denn die neue Welt ist mit diesen Kräften als Gesetze konstruiert worden. Metaphysik wird zur Physik der neuen Welt. Die anfänglich metaphysische Vorstellung von Kräften, die für die Menschheit alles zum Guten wenden und in einen Zustand von Harmonie und Wohlstand führen, wird zum grundsätzlichen Credo der neuen Welt. Wer als Kollektiv oder Individuum zu Wohlstand gekommen ist, hat alles richtig gemacht, und wer das nicht geschafft hat, hat sich nicht ausreichend an die wirtschaftlichen Gesetze gehalten und trägt dafür selbst die Verantwortung. Denn Wohlstand und Harmonie entstehen aus Handlungen, die aus dem Glauben an Geld erwachsen und dabei gleichzeitig die Welt geldförmig umgestalten – die materielle Welt, indem sie sie technisch nach den Gesetzen der Naturwissenschaften (deren abstrakte Gestalt wir bereits nicht unwesentlich als vom Geld verursacht verstanden haben) bildet, und die geistige Welt, indem sie sie ökonomisch nach den Gesetzen der liberalen Wirtschaftswissenschaft, der Ökonomik, bildet. Torpediert wird das Credo an individuellen Wohlstand durch marktgesetzkonformes Handeln natürlich durch ein zu großes Ungleichgewicht bei der Geldverteilung in einem Kollektiv, insbesondere, wenn dieses nicht durch Arbeit, sondern durch Vererbung zustande gekommen ist. Durch Arbeit kann man Geld leichter beglaubigen als durch Erbschaften. Wirtschaftsliberale Gesellschaften wie die USA haben daher auch tendenziell eine höhere Erbschaftssteuer, denn sie sind sich bewusst, dass der Glaube ans Geld, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt ermöglicht, bei zu anstrengungslosem Einkommen Einzelner geschwächt wird. Dazu passt auch, dass die USA wörtlich die Neue Welt sind, eine Einwanderungsgesellschaft, die die verschiedenen Kulturen, die unter ihrem 2 | So sieht es auch Safranski: »Der Mensch ist von Natur aus auf Künstlichkeit, also auf Kultur und Zivilisation angewiesen. Als das nicht festgestellte Tier, gestaltet er – durch Kultur also – seine Natur, die kulturelle zweite Natur.« (R. Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?, S. 9 [Herv. i. O.])
Kapitel 10 – Bildung (in) der Postmoderne
Dach Platz finden, durch einen abstrakten gemeinsamen Wert, den das Geld repräsentiert, integriert. Doch trotz einer hohen Erbschaftssteuer wird auch in den USA die Schere zwischen Arm und Reich größer und gefährdet den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die techno-ökonomisch neu geschaffene Welt wird bevölkert von in Effizienzkategorien denkenden homines oeconomici mit optimiertem Körper und Geist. Physik, Chemie und Biotechnologie formen den Körper, geldförmige Ökonomik den Geist und die Seele. Indem diese Wissenschaften die von ihnen selbst definierten Objekte untersuchen, werden sie immer glaubwürdiger, da sie sich diagnostisch und prognostisch immer besser bewähren. Sie schaffen immer mehr die Welt, die sie zu untersuchen vorgeben. In dieser neuen Welt gilt der Liberalismus per Konstruktion, ein Neoliberalismus, der den vielleicht doch nicht so natürlich gegebenen Marktkräften nachhelfen müsste, wird überflüssig. Der liberale Glaube erhält den Status, den jeder Glaube stets anstrebt, den der Wahrheit. Wenn sich der Neue Neoliberalismus seit den Achtziger Jahren vorgenommen hat, eine solche neue Welt zu erschaffen, verleiht das dem Begriff Neoliberalismus eine neue Bedeutung. Es geht dann dabei nicht mehr um einen neuen, verbesserten Liberalismus oder eine erneute Rückkehr des Liberalismus, sondern schlicht um den alten Liberalismus, aber in einer neuen Welt. Entsprechend würde es sich beim Neobürgertum, von dem häufig die Rede ist, um das altbekannte Bürgertum in einer neuen, techno-ökonomisierten Neo-Welt handeln. Denn der Geldgeist der Ökonomik, der Theologie des Geldes, ist als solcher wiederum der Geist der Naturwissenschaften, die parallel zur kapitalistischen Wirtschaftsweise als deren Ursache und Wirkung zugleich auch nach Art des bei Beglaubigungsprozessen üblichen Zirkelschlusses entstanden. Die Schaffung einer neuen Welt kann überhaupt nur von einer Naturwissenschaft als Bauplan und der Ökonomik als zugehöriger Theologie ausgehen, denn sie erst sind in der Lage, für die semantischen Verschiebungen zu sorgen, die die Übertragung der Begriffe der ersten in die zweite Welt ermöglichen. Das liegt an ihrer speziellen, reduktionistischen Methodik, die darin besteht, zunächst Begriffe zu definieren und auf deren Basis axiomatisch-deduktiv zu arbeiten. Die Basis beim Bau einer neuen Welt ist dieses grundsätzliche Verfahren einer begrifflichen Neudefinition. Am Beispiel des Begriff des Erwartungswerts3 lässt sich 3 | O. Fohrmann: Die Wirtschaft und das Wirtschaftliche, S. 44ff.
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vorführen, wie etwa Mathematiker dabei vorgehen: Sie verwenden bisweilen Alltagsbegriffe, entledigen sie ihrer sich historisch ausgebildeten Bedeutungsvielfalt und beziehen sie einzig auf ein bestimmtes mathematisches Objekt. Dieser Reduktionismus bedeutet nicht, dass die Alltagsbedeutung immer verkürzt werden muss; sie kann durchaus auch erweitert werden. So bezeichnen beispielsweise Physiker auch solche Bewegungen als Beschleunigungen, die in der Alltagssprache Bremsungen genannt würden. Die den Naturwissenschaften methodisch nachgebildete Ökonomik, bei der die Geldbeglaubigung nicht nur über ihre Form, sondern auch über ihren Inhalt erfolgt, dehnt dieses Prinzip von der Natur auf die Kultur aus und damit auf Bereiche, in denen der Mensch eine größere Entscheidungsfreiheit hat und nicht nur Naturgesetzen unterworfen ist. Die Ökonomik, die den Anspruch hat, wahrheitsfähige Aussagen über den wirtschaftenden Menschen zu treffen, kann sich von kulturellen Aspekten nicht befreien, da menschliche Handlungen vom kulturellen Kontext bedingt sind. Das gilt schon für die einfachste und früheste Form von Kultivierungen, die zudem wieder in den Bereich der Wirtschaft fällt, nämlich die Landwirtschaft. Wir haben schon festgestellt, dass sich die Notwendigkeit, Landwirtschaft zu betreiben, in dem Moment einstellt, in dem Menschen sesshaft werden und dass mit diesem Schritt die in phänomenologischem Zusammenhang stehenden Tauschhandel und Opferungen und damit auch beides erleichterndes Geld in Verbindung gebracht werden können. Die Landwirtschaft ist nun ein gutes Beispiel dafür, wie in der Wirtschaft Natur und Kultur zusammenfinden. Man kultiviert zielorientiert den Acker, ist dabei aber nicht unabhängig von Naturgesetzen. Dabei gestaltet man natürlich die Welt viel mehr als in nomadenhaften Lebensweisen, man verändert nachhaltig die Schöpfung Gottes, den man mit Opferungen dafür entschädigen muss, was direkt in die Tauschwirtschaft führt: Getauscht werden Opfer gegen die Erlaubnis des Natureingriffs bzw. als Entschuldung. In diesen praktischen Fragestellungen gründen letztlich die funktionalistischen Technik- und Wirtschaftswissenschaften. Beide haben von Anfang an das gemeinsame Ziel der Umgestaltung der Welt, ihrer Rekreation auf Basis naturwissenschaftlicher Methodik im Geiste des Geldes. Daraus folgt zweierlei: Erstens ist die neue Welt nicht ein Zustand, der irgendwann erreicht wird, sondern ein ständig ablaufender Prozess, der immer schon mit Geld verbunden war, weil er auf der Tauschlogik sess-
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hafter Gesellschaften basiert. Zweitens sind die Naturwissenschaften und die daraus abgeleiteten Technik- und Wirtschaftswissenschaften als programmatische Grundlage geradezu prädestiniert als wissenschaftliche Beschreibung dieses Umgestaltungsprozesses. Denn sie definieren die Welt zunächst neu und arbeiten dann mit an diese Begriffe angepassten Experimenten, die wiederum als Modell für die Welt, als Vorlage zu deren natürlicher und kultureller Umgestaltung, dienen. In den Naturwissenschaften sind dies reale Experimente, in der Ökonomik Gedankenexperimente oder heutzutage in der experimentellen Wirtschaftsforschung auch künstliche Nachbildungen von lebensweltlichen wirtschaftlichen Entscheidungssituationen, in denen das Verhalten von Menschen ähnlich wie bei Versuchstieren beobachtet wird. Ihre geistige Form beziehen alle diese Experimentierweisen vom Geld, seinen Eigenschaften ist ihre abstrakte, funktionale, logisch-rationale Struktur nachgebildet. Wie Geld sind Experimente ein Medium, über das auf die Welt zugegriffen wird. Wenn sich dieses Schema bis ins Hochgeistige erstreckt, sind wir beim Thema Bildung angelangt, denn die Umgestaltung macht vor dem Menschen nicht Halt, der gerade im Bildungswesen mit semantischen Verschiebungen konfrontiert ist. So kommt es zur Bildung ad imaginem pecuniae. In die aktuelle Diskussion haben diese Überlegungen längst Eingang gefunden. Jens Jessen beschreibt in seinem Artikel »Der neue Mensch« in der Wochenzeitung »DIE ZEIT« einen solchen zum Bilde des Geldes und damit im techno-ökonomischen Geist neu gebildeten Menschen, technisch aufgerüstet mit »sinnesschärfenden, kognitionsverbessernden Chips«, selbstoptimiert und »die kapitalistische Arbeitswelt als die neue Natur, die nicht beeinflusst werden kann« annehmend.4 In der neuen Welt wird, wie wir ausgeführt haben, das kulturelle Konstrukt Ökonomie zum naturgegebenen Faktum. Ob gewollt oder nicht – der naturwissenschaftliche denkende Mainstream der Ökonomen arbeitet an der Bildung einer solchen neuen Welt und ihrer Bewohner, von der ZEIT-Autor Jessen befürchtet, dass sie vor allem der Erzeugung des idealen Angestellten dienen könnte, dem das, was heute noch die Natur ist, etwa durch Social Freezing oder Sterbehilfe nicht mehr in die Quere kommt, ebenso wenig wie soziale und kulturelle Herkunft oder gar Geschlecht. Es ist Jessen zufolge eine vom Menschen, nicht mehr von Gott geschaffene Welt; wir haben sie 4 | J. Jessen: »Der neue Mensch«.
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als vom Geld geschaffen bezeichnet (wobei natürlich immer gemeint ist: vom an Geld glaubenden Menschen) und wir hatten schon festgestellt, dass Geld sich aus kulturellen Kategorien wie Herkunft oder Geschlecht in der Tat wenig macht, aus Employability und Anpassungsfähigkeit an Arbeitgeber hingegen viel – zumindest wenn es sich um Erwerbsarbeit handelt, der Liturgie der Geldreligion.5 Der Mensch als Roboter und der Roboter als Mensch sind das Ideal. Mit dieser neuen Welt beginnt das vom Menschen selbst geschaffene Erdzeitalter, das Anthropozän. Diese Neuschaffung des Menschen impliziert also mehr als nur eine Vergesellschaftung, mehr als eine Sozialisierung, denn sie greift auf Natürliches zu, auf die menschlichen Körper. Sie macht bei Geistigem nicht halt, weshalb es auch nicht sinnvoll ist, Ökonomismus und Naturalismus voneinander fernzuhalten. Der Begriff der Begriffe, das Geld, inkarniert sich letztlich im menschlichen Körper. Christina von Braun entfaltet diesen Gedanken in ihrem Buch ausführlich. Dabei ist es kein neues Phänomen, dass Geld nicht nur auf den Geist der Menschen, sondern auch auf ihre Körper zugreift. Von Braun führt die Beispiele Sklaverei, Prostitution und Söldnertum an. Doch schon von einfachen Büroangestellten wird körperliche Fitness verlangt und womöglich eine gewisse Attraktivität, nicht nur um Krankheitsausfälle zu verringern, sondern als symbolischer Ansporn zur Geldvermehrung durch Anregung eines Willens zur Zielerreichung. Am Ende ihrer Studie stellt von Braun die Frage, ob es mit einer geldinduzierten Reproduktionsmedizin möglich sein wird, zwei menschliche Arten zu schaffen, einen körperlich und geistig optimierten Herrenmenschen und eine in jeder Hinsicht unterlegene DienstbotenArt.6 Sie geht damit noch weiter als nur bis zur Schaffung eines perfekten Angestellten und denkt das Thema Menschenbildung ad imaginem pecuniae konsequent zu Ende. Am Ende dieses Bildungsprozesses auf der ideologischen Basis des Neuen Neoliberalismus mit seinem Bestreben, Geld als Gott zu beglaubigen, steht somit eine mindestens in Oben und Unten gespaltene Gesellschaft in einer Welt, in der Oben und Unten nicht mehr nur als soziale Konvention gelten kann, der man prinzipiell durch Umverteilung von Geld begegnen könnte, sondern als natürlich, als von der Natur de facto vorgegebene objektive Realität. Für eine solche Gesellschaft ist aber auch 5 | Vgl. R. Menéndez Salmón: Über den Kapitalismus als Religion, S. 204. 6 | C. von Braun: Der Preis des Geldes, S. 357ff.
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wiederum das Adjektiv »stratifikatorisch« oder »stratifiziert« angebracht. Moderne Gesellschaften zeichnen sich jedoch dadurch aus, sich so gerade nicht titulieren lassen zu müssen. Nach Luhmann, der mit seiner Systemtheorie die führende Gesellschaftstheorie der Moderne vorgelegt hat, sind stratifizierte Gesellschaften ein Kennzeichen der Vormoderne. Die Moderne zeichnet sich vielmehr durch eine funktional ausdifferenzierte Gesellschaft aus. In einer vom Geld geschaffenen, ökonomistischen, stratifizierten Gesellschaft aber, in der alles letztlich Wirtschaft ist und in wirtschaftliche Begriffe gefasst wird, steht das Funktionssystem Wirtschaft nicht mehr gleichberechtigt neben den anderen Teilsystemen der Gesellschaft. Geld ist nicht mehr nur ein Medium unter vielen. Es geht sogar um mehr als nur um die Dominanz des Teilsystems Wirtschaft – um so viel, dass man von einer entdifferenzierten Gesellschaft sprechen muss, die wiederum ein Kennzeichen der Postmoderne 7 ist. Ginge es nur um die Dominanz, könnte man noch nicht wirklich von einer Postmoderne sprechen, sondern höchstens von einer Krise der Moderne. Dass es jedoch in der Tat beim Ökonomismus, wie er heute auftritt, um mehr geht als nur um die reine Dominanz der Wirtschaft, dass Wirtschaft und Wirtschaftlichkeit tendenziell nicht mehr nur primär, sondern singulär werden, ist leicht ersichtlich. Luhmann selbst hat beschrieben, wie die moderne ausdifferenzierte Gesellschaft in eine Krise geraten kann. Er verstand darunter die umfassende Besorgnis über die Dysfunktion eines dominanten gesellschaftlichen Teilsystems, wobei dasjenige System gegenüber anderen dominiert, das die höchste Versagensquote, das höchste Ausfallrisiko hat.8 Der Ausfall eines Funktionssystems nämlich ist für eine funktional ausdifferenzierte Gesellschaft fatal, da jedes System seine spezifische Funktion für die Gesellschaft erfüllt und alle Systeme strukturell aneinander gekoppelt und aufeinander angewiesen sind. Es gilt aber: Je unwahrscheinlicher die Leistung, je voraussetzungsvoller die Errungenschaft ist, die ein System für eine Gesellschaft erbringt, desto höher ist dessen Ausfallrisiko, desto mehr dominiert es die anderen Systeme. Seit Beginn der Moderne trifft 7 | Der Begriff Postmoderne wird unterschiedlich verwendet. Nach Luhmann kann man ein Kennzeichen postmodernen Denkens in funktionaler Entdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme sehen (N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1145). 8 | Ebd., S. 769f.
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dies wohl am meisten für das System Wirtschaft zu. Die moderne Gesellschaft ist von Anfang an durch Ökonomisierung und Dominanz der Wirtschaft gekennzeichnet gewesen. Aber die Tatsache der Dominanz eines Systems ist noch sehr viel weniger als eine gesellschaftliche Entdifferenzierung. Dass einige Systeme dominanter sind als andere, ist eine fast triviale Eigenschaft moderner Gesellschaften, weil alle Systeme für das Funktionieren der Gesellschaft zwar unverzichtbar, aber nicht gleichermaßen wichtig sind. Alle Systeme sind zwar funktional, aber manche sind funktionaler als andere. In der Wirtschaft jedoch ist Funktionalität durch die hohe Abstraktheit des Geldes und die herausgehobene Position des Begriffs Effizienz ja quasi zum System geworden. Wenn man will, dass etwas funktioniert, wird man vorzugsweise Manager konsultieren, nicht Künstler, Politiker oder Sportler. In der Neuzeit vollbringt die Wirtschaft die unwahrscheinlichsten und voraussetzungsvollsten Leistungen – und dennoch kann sie trotz ihrer Dominanz aus Sicht Luhmanns, aus Sicht der Theorie der Moderne, nie die Funktionen anderer Systeme erfüllen. Mit noch so viel Geld beispielsweise könne die Wirtschaft nicht die Funktion des Systems Wissenschaft erfüllen, Wahrheiten zu produzieren.9 Ökonomismus bedeutet aber heute nicht mehr nur die Dominanz des Systems Wirtschaft, sondern die Unterwanderung anderer Systeme durch das System Wirtschaft. In den meisten Fällen müsste man allerdings genauer vom Sich-Unterwandernlassen durch Wirtschaft zur Steigerung der eigenen Funktionalität sprechen. Jedenfalls ist diese Unterwanderung mit dem herkömmlichen systemtheoretischen Instrumentarium nicht zu beschreiben. Strukturelle Kopplungen etwa oder re-entrys erfassen dieses Phänomen nicht. Es lässt sich indes die Systemtheorie erweitern und damit der Schritt in eine funktional entdifferenzierte Postmoderne auch auf Basis dieser Theorie der Moderne tun. Erste theoretische Arbeiten dafür liegen vor. Einen interessanten und viel versprechenden Weg geht beispielsweise Krönig,10 der den Ökonomismus mithilfe generativer Metaphern erklärt und begreif bar macht. Dabei fällt zunächst auf, dass das Objekt Metapher in diesem Zusammenhang wieder auf die begriffliche Verfasstheit der Wirtschaft verweist, ihre literarische Natur, die Strategie, mit Ersatznarrationen ihre Begriffe zu beglaubigen. Einmal mehr sind Li9 | Ebd., S. 763. 10 | Vgl. F.K. Krönig: Die Ökonomisierung der Gesellschaft.
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teraturwissenschaftler geeignete Ansprechpartner für die Untersuchung sozioökonomischer Phänomene. Am wichtigsten ist jedoch, dass sich herausstellt, dass das, was uns jetzt als generative Metaphern begegnet, in ganz engem Zusammenhang steht zu dem, was wir als symbolische Nachbildung hier schon verhandelt haben. Den Begriff der generativen Metapher hat der amerikanische Philosoph Schön geprägt.11 Zur Veranschaulichung hat er ein eindruckvolles und bekannt gewordenes Beispiel aus dem Bereich des Ingenieurwesens gebraucht. Bei der Herstellung von Pinseln aus synthetischen Borsten konnten Ingenieure trotz minutiöser Nachahmung der Naturborsten lange nicht die Funktionalität von Naturhaarpinseln erreichen. Pinsel aus synthetischen Borsten erreichten erst die Qualität von Naturhaarpinseln, als man sich bei ihrer Konstruktion weniger vom Gedanken der exakten Nachahmung des Naturhaars leiten ließ, sondern von der Idee, dass man beim Malen die Farbe nicht auf die Leinwand pinselt, sondern pumpt. Pinsel funktionieren wie Pumpen, man drückt quasi beim Malen die Farbe aus den Borsten auf die Leinwand. Erst als man den Pinsel funktional als Pumpe verstand, konnte man Kunsthaarpinsel herstellen, die so gut waren wie Naturhaarpinsel, indem man bei der Herstellung das Prinzip einer Pumpe zugrunde legte. Die Pumpe ist die generative Metapher des Pinsels. Aus der funktionalen Perspektive der Ingenieure ist der Pinsel eine Pumpe. Aus der Perspektive des Malers kann er weiterhin ein Pinsel sein. Für unsere Bildungsthematik ist dieses Beispiel natürlich sehr interessant. Wie Pinsel und Pumpe verhalten sich auch Universität und Unternehmen zueinander. Die Bildungsmanager, ihrer Natur nach Sozialingenieure, sind offenbar der Meinung, dass die Universität funktional gesehen besser als Unternehmen verstanden werden sollte. Gemäß dieser Logik müsste die Universität als Universität besser funktionieren, wenn sie als Unternehmen geführt und verwaltet wird und damit letztlich der Geld- und Effizienzlogik unterworfen wird. Ist das der Fall? Bleibt vor allem die Universität für die in ihr Lehrenden und Lernenden eine Universität in dem Maße, wie der Pinsel für den Maler ein Pinsel bleibt und nur für den Ingenieur zur Pumpe wird? Zur Beantwortung dieser Fragen ist es hilfreich, sich die Wirkungsweise generativer Metaphern genauer anzusehen. Im Falle der Pinsel ist 11 | Donald A. Schön: Generative Metaphor: A Perspective on Problem-Setting in Social Policy, in: Andrew Ortony (Hg.), »Metaphor and Thought«, S. 137-163.
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das relativ einfach. Wenn man weiß, dass ein Maler mit seinen Bewegungen die Farbe eigentlich auf die Leinwand pumpt, kann man die Anordnung der synthetischen Borsten so wählen, dass sie die Farbe zwischen sich halten und sie beim Druck auf die Leinwand wie durch Kanäle herausfließen kann. Das ist der Pumpeffekt. Aber wieso funktioniert eine Universität besser, wenn man sie als Unternehmen versteht, sie mit wirtschaftlichen Begriffen beschreibt, ihre Mitglieder als auf Effizienz hin Handelnde versteht, mit einem Wort: sie ökonomisiert? Das zu verstehen, hilft die Systemtheorie. Auf ihrer Basis lässt sich untersuchen, wie sich das System Wirtschaft mit anderen Systemen so in Beziehung setzt, dass sich ein Ökonomismus, wie wir ihn heute ja nicht nur im Bildungswesen erleben, ergibt. Mit einem herkömmlichen systemtheoretischen Instrumentarium ist das nicht möglich, weil der Ökonomismus die Grenze zwischen Moderne und Postmoderne (im Sinne einer entdifferenzierten Gesellschaft) überschreitet. Krönig schlägt daher vor, generative Metaphern als Nebencodierungen in die Systemtheorie einzubauen und diese dadurch zu erweitern. Dabei handelt es sich nicht um Zweitcodierungen, die Luhmann selbst ausgiebig verwendet hat, sondern um ein neues Phänomen, das in Luhmanns Theorie der Moderne nicht behandelt wird. Zweitcodierungen sind einfach ein anderer Ausdruck der Codierung eines Systems, eine andere Formulierung der Erstcodierung. Beispielsweise könnte das System Kunst mit dem binären Code »stimmig/unstimmig« codiert werden, aber auch mit »schön/unschön«. An der Struktur der Systeme ändert das nichts. Ein anderes Beispiel, das Luhmann auch verwendet, ist der Zweitcode »haben/nicht haben« anstatt des Erstcodes »zahlen/nicht zahlen« für das System Wirtschaft. Nebencodierungen aber sind ganz anderer Art. Mit ihnen lässt sich der Code eines Systems in ein anderes einführen. In der klassischen Systemtheorie ist eine solche Verbindung zweier Systeme über Nebencodierungen nicht vorgesehen. Systeme sind dort operativ geschlossen und differenzieren sich aus sich selbst heraus, autopoietisch, aus. Sie sind offen nur in dem Sinne, dass sie auf Impulse anderer Systeme, ihrer Umwelt, angewiesen sind. Beispielsweise hält sich das System Wirtschaft durch Zahlungen, die immer wieder weitere Zahlungen ermöglichen, autopoietisch und operativ geschlossen am Leben; damit gezahlt wird, muss aber aus der Umwelt der Wirtschaft ein Grund dafür vorgegeben werden, etwa Durst aus dem physischen System eines menschlichen Körpers, der dann durch den Kauf von Getränken gestillt
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wird – ein Vorgang der wiederum vom Wirtschaftssystem nur als Zahlung wahrgenommen wird. So sind Systeme strukturell aneinander gekoppelt und nur in diesem Sinne offen. Nebencodierungen jedoch durchbrechen dieses Schema und öffnen Systeme nun auch für die Codes anderer Systeme. Dabei wirken Nebencodierungen als generative Metaphern. Als solche kann der Code eines Systems in ein anderes eindringen. Dabei zeigt sich, »daß die Nebencodierung durch metaphorische Umdeutung des eigenen Codes Systeme in einen Abstand zu ihrer eigenen Funktion bringen kann«12 . Das geschieht, wie Krönig ausführlich erklärt, auf genau die Weise, die wir als symbolische Nachbildung behandelt haben. Durch einen zirkulären Prozess – Breithaupt nannte ihn Institutionalisierungszyklus – beglaubigen sich Metapher und Metaphorisiertes. Beides wird dabei verändert, genau so, wie wir es für den Reichenclub beschrieben haben, der einen Rolls Royce als Symbol wählt oder für das eine Liebesbeziehung symbolisierende love lock. Dadurch unterscheidet sich eine generative Metapher von einer Metapher im klassisch-antiken Sinn.13 Bei dieser wird etwas noch nicht allein dadurch verändert, dass es metaphorisiert wird. Einen Wolf als Metapher des Menschen zu nehmen oder Blumen als Metapher für Frauen, verändert jeweils beide nicht. Ganz anders verhält es sich, wenn man Wirtschaftliches als generative Metapher für Bildungskonzepte verwendet. Das Bildungs- und Erziehungssystem ist passenderweise auch das Beispiel, anhand dessen Krönig die Wirkungsweise generativer Metaphern eindrucksvoll zeigt. Es wird der Begriff der Effizienz, der Papst unter den Wirtschaftsbegriffen, von Qualitätsmanagern als digitalisierter Code »besser lernen/schlechter lernen« in das Bildungs- und Erziehungssystem eingeführt. Dabei zeigt sich nicht unerwartet, dass es »zu einer völligen Verschiebung von Erziehungszielen«14 kommen kann. Lehrende und Lernende werden durch die Ökonomisierung durch eine Brille betrachtet, durch die sie als effizient handeln sollende Kunden und Dienstleister erscheinen. Forscher werden zu Wissensproduzenten. Bildung wird zur Ausbildung. Ichwerdung wird zur Subjektformung. Man kennt dieses Phänomen aus der Sozialpolitik, wo Arbeitsämter zu -agenturen werden und arbeitslose Bürger nicht mehr von dem Gemeinwesen, dem 12 | F.K. Krönig: Die Ökonomisierung der Gesellschaft, S. 131. 13 | Ebd., S. 54ff. 14 | Ebd., S. 109.
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sie angehören, Unterstützung bekommen, sondern Kunden von Dienstleistern für Gegenleistungen Dienste erwerben. Dieser kulturelle Unterschied ist der Kern des Ökonomismus. Beschreiben lässt er sich mit generativen Metaphern und symbolischen Nachbildungen, die gleichzeitig erlauben, sich ein vollständiges Bild davon zu machen, wie hier zunächst scheinbar nur mit Begriffen gespielt wird, diese aber natürlich – sonst würde man es ja nicht tun – die Realität verändern sollen. Nur kann man nicht oft genug auf die mit der Symbolik verbundene Diabolik hinweisen. Da der Ökonomismus in allen Bereichen auftritt, wird er totalitär und führt in eine entdifferenzierte Gesellschaft. Darin liegt die Problematik des Neuen Neoliberalismus. Er totalitarisiert die ursprüngliche Idee des Neoliberalismus, die auf der Idee von Rahmenbedingungen basierte, letztlich dahin gehend, diese nicht nur in den Dienst der Wirtschaft zu stellen, sondern sie de facto abzuschaffen, so dass letztlich alles Wirtschaft ist, da bevorzugt mit wirtschaftlichen Begriffen metaphorisierbar. Genau an der Stelle liegt der Unterschied zwischen differenziert und entdifferenziert. So kommt es ausgehend vom Bildungsbereich von der »völligen Verschiebung von Erziehungszielen« aufgeklärter moderner Individuen über die Ausbildung des perfekten Angestellten hin zur Schaffung eines körperlich und geistig optimierten Menschen in einer entdifferenzierten, postmodernen, restratifizierten und posthumanistischen Gesellschaft mit körperlich und geistig suboptimalen Menschen in den unteren Schichten. Kurzum: Eine ökonomistisch unterwanderte und umgedeutete Erziehung und Bildung trägt zur Bedrohung der funktionalen Ausdifferenzierung und damit des Wesens der modernen Gesellschaft bei. Sie verschärft noch den Luhmann’schen Krisenbegriff einer schlichten Dominanz des Wirtschaftssystems, denn sie beschwört die Gefahr einer postmodernen entdifferenzierten Gesellschaft herauf. Deren Eigenschaften ähneln der vormodernen Gesellschaft, das gilt vor allem im Hinblick auf ihre Stratifikation. Diese, so Luhmann, »beruht auf akzeptierten Reichtumsunterschieden.«15 Dafür sei erforderlich, »daß die Oberschicht relativ klein ist und sich trotzdem behaupten kann.«16 Später wird Stratifikation definiert: »Wir […] sprechen von Stratifikation, wenn und soweit sich Teilsysteme der Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt einer Rangdifferenz 15 | N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 680. 16 | Ebd., S. 680.
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im Verhältnis zu anderen Systemen ihrer gesellschaftsinternen Umwelt ausdifferenzieren.«17 Schließlich: »[…] Stratifikation entsteht […] durch Ausdifferenzierung und Schließung der Oberschicht.«18 Natürlich ist damit zuerst an Adel zu denken, der ein gutes Beispiel dafür abgibt, wie sehr sich unsere Gesellschaft wieder – nur mit ökonomischem Vorzeichen – stratifiziert. Die Privilegien des klassischen, prämodernen Adels sind zwar abgeschafft, aber im Grunde nur ersetzt durch Neo-Privilegien eines Neo-Adels, der wie so oft, wenn die Vorsilbe »neo« verwendet wird, einfach die ökonomisierte Form der alten Version ist. Auch der Adel hat sich ökonomisiert und ist zum Geldadel geworden. In einer vom göttlichen Geld her neu geschaffenen Welt hat er schlicht die Privilegien, die der alte Adel als gottgegeben beansprucht hat. In der neuen Welt sind die Privilegien geldgegeben. Die ökonomische Nebencodierung der gesellschaftlichen Funktionssysteme spritzt das Gift der Effizienz, die Logik des Geldes, in Bereiche, wo diese nicht unbedingt hingehört. Wer auf Effizienz abzielt, optimiert ständig sein Denken und Handeln, unterwirft es einer Mehr-oder-weniger-Logik, die sich von einer So-oder-anders-Logik unterscheidet. Er wird alles auf Zahlen abbilden, für alles Kennziffern finden. Wahrheit beispielsweise wird so letztlich zu einer numerisch messbaren Größe, für die »Mehr ist besser« gilt, wie beim Geld. Das ermöglicht die symbolische Nachbildung des Geldes (zum Beispiel ECTS-Punkte oder ausgefeilte Benotungssysteme) und die beschriebenen Beglaubigungszyklen. So geraten Mensch und Welt in den Spiegel des Geldes und da Geld ungleich verteilt ist, zementiert sich eine neue stratifikatorische Gesellschaft. Daran ist nicht nur die soziale Ungerechtigkeit problematisch, sondern dass alles nicht Geldförmige zugunsten einer monetären Monokultur tendenziell ausstirbt und höchstens in einer ökonomisierten Form zurückkehrt; dabei ist humanistische Bildung nur ein Beispiel von vielen. Eine funktional ausdifferenzierte Gesellschaft lässt sich nicht von einem obersten Prinzip wie Gott oder Geld herleiten. Natürlich würde auch hier Geld als Input in Wissenschaft und Politik fließen, diese dadurch aber noch nicht entgegen der wissenschaftlichen Eigenlogik von einem effizienten Output abhängig machen. Die heute von Managern so geschätzte Outputorientierung aller Handlungen, gerade auch im Bildungs17 | Ebd., S. 685. 18 | Ebd., S. 686.
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wesen, führt aber direkt in den Ökonomismus und seinen Effizienzwahn oder ist schon dessen Folge. Outputorientierte Forschung und Lehre haben aufgehört, sich am humanistischen Leitbild individueller Bildung zu orientieren, wenn auch nach außen hin alles zunächst beim Alten zu bleiben scheint. Die Aushöhlung – sie wird sich als Zombifizierung herausstellen – findet innerlich statt. Auf Basis vorgegebener Inputs ist eine wahre Bildung möglich, ebenso wie eine freie Forschung und eine eigengesetzlich ablaufende Wissenschaft. Outputorientierung aber bremst all dies und damit auch langfristig die gesellschaftliche Funktionalität dieser Bereiche, denn deren Dynamik beruht gerade auf ihrer Eigenschaft, ihren Output nicht planen zu können. Eine moderne Dynamik weicht so einem rasenden postmodernen Stillstand, einer von einem grenzenlosen und immer mehr als leer und scheinhaft erkannten Geldvermehrungsimperativ ausgelösten und zunehmend als sinnlos empfundenen Überforderung der Menschen. In einer ausdifferenzierten Gesellschaft hingegen wären Wahrheit und Macht im Allgemeinen nicht geldförmig und damit auch keine symbolische Nachbildung des Geldes und könnten zu dessen Beglaubigung nicht verwendet werden. Unabhängig vom Beglaubigungszwang des Geldes würden sie auch ihrerseits nicht vom Geld beglaubigt werden und sich so nicht automatisch bei Reicheren konzentrieren und dadurch die stratifizierte Gesellschaft zementieren. »Denn stratifikatorische Differenzierung ermöglicht Ressourcenkonzentration in der Oberschicht des Systems, und dies nicht nur in einem ökonomischen Sinne, sondern auch in den Medien Macht und Wahrheit.«19 Eigentlich zeichnen sich funktional ausdifferenzierte Gesellschaften dadurch aus, dass ihre Funktionssysteme lediglich gleich strukturiert sind, dass sie nur in ihrer Ungleichheit gleich sind. Alle Systeme aber auf Effizienz und Geldförmigkeit und damit am Wirtschaftssystem auszurichten, entdifferenziert die Gesellschaft und führt sie von der Moderne in die Postmoderne, deren Wesen im Geld liegt. Mit Geld als immer schon Vorhandenem liegt aber ein ontologisches Weltbild vor, wie es für die Vormoderne typisch ist. Luhmann spricht hier von alteuropäischer Semantik, die in einer modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft überholt sein sollte.20
19 | Ebd., S. 708. 20 | Ebd., S. 893ff.
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Ein solches ontologisches Weltbild ist der Ökonomismus geradezu parademäßig, inklusive seines politischen Arms, des Neuen Neoliberalismus. In der neuen vom ontologisch vorausgesetzten Geld her geschaffenen Welt ist die Gesellschaft entdifferenziert auf Geld hin ausgerichtet. Ökonomische Begriffe schaffen durch Ersatznarrationen eine ökonomische Realität. Auch der Soziologe Richard Münch weist in seiner Untersuchung »Akademischer Kapitalismus« darauf hin: »Die Ökonomie schafft sich durch einseitige politische Beratung ihre eigene ökonomische Realität, um nun erst recht zur Erklärung dieser Realität gebraucht zu werden. Wenn Wissenschaft in Ökonomie transformiert wird, braucht man die Ökonomie, um zu erklären, wie Wissenschaft funktioniert. Betrachtet man die funktionale Differenzierung als eine Errungenschaft der Moderne, dann ist dieser Vorgang nicht weniger als eine Überwindung der Moderne und ein Übergang in eine Postmoderne, die nur noch von einem Funktionssystem beherrscht wird: der Ökonomie. Man kann diesen Vorgang als Entdifferenzierung und als Kolonisierung aller gesellschaftlichen Funktionsbereiche durch die Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie und die Begrifflichkeiten des ökonomischen Denkens, in vulgärer Gestalt durch die Phrasen der Management-Rhetorik interpretieren […].« 21
Die ökonomische Umdeutung und Neuschaffung von Begriffen und daraus Dingen und Menschen durch ein zirkuläres Hin und Her bedeutet natürlich einen Verlust all dessen, was durch ökonomische Brillen nicht wahrnehmbar ist. Die originalen Begriffe, Dinge und Menschen sind aber ihren ökonomisierten Versionen formal so ähnlich, dass man beide möglicherweise auf den ersten Blick gar nicht unterscheiden kann, so dass der Verlust zunächst gar nicht wahrgenommen wird. Wir haben anfangs dafür schon Beispiele genannt, etwa die aktuellen Formulierungen von Bildungsansprüchen durch Handelshochschulen, die zunächst den Eindruck erwecken, geradezu von Humboldt persönlich formuliert worden sein zu können. Man könnte den Eindruck einer Renaissance der Humboldt’schen Ideale haben, wenn nicht bei genauerem Hinsehen diese Neugeborenen sich als rein ökonomistische Reduktionen entpuppen würden, die eher dem exakten Gegenteil von dem entsprechen, was Humboldt anstrebte. Sie sind nach der Methodik der Naturwissenschaften und deren illegitimen Kindes Ökonomik geschaffene techno-ökonomische 21 | R. Münch: Akademischer Kapitalismus, S. 70f.
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Ideale. Was aber geschieht mit all den Begriffsbedeutungen, die bei den mit den techno-ökonomischen Bildungsprozessen einhergehenden begrifflichen Umdefinitionen und semantischen Verschiebungen unter den Tisch fallen? Sind sie Opferungen, wie sie in sesshaften Gesellschaften immer schon mit Bewirtschaftungen einhergingen? Wo bleiben etwa die historisch entwickelten Bedeutungen, die im Wort »Erwartungswert« stecken, wenn es auf die mathematische Bedeutung des Mittelwerts einer Zufallsvariablen reduziert wird? Was geschieht mit dem Ich, wenn es auf ein Selbst oder Subjekt, insbesondere ein Wirtschaftssubjekt reduziert wird? Löst sich das alles in nichts auf, vertrocknet die Welt letztlich zu einer technisierten künstlichen Umgebung und der Mensch zu einem Roboter, der mit der Vielfalt an kulturellen Dimensionen nichts mehr anfangen kann, solange es sich nicht um die Vielfalt bei der Auswahl von Zahnpastasorten im Supermarkt handelt?
Kapitel 11 Zombifizierte Bildung
Es ist wohl kaum ein Zufall, dass Literatur und Filme über Zombies und Untote in der heutigen Zeit einen Boom erleben, ebenso wie die Metapher des Zombies selbst. Die Abstraktheit des Geldes und des Kapitalismus und die »verborgenen« Gesetze, nach denen er abläuft, sind ein guter Nährboden für metaphorische Zuschreibungen aus dem Bereich des Unheimlichen. Schon Marx bezeichnete Kapitalisten als Vampire, die den Arbeitern mit ihrem Blut die Lebenskraft aussaugen.1 Auch die Debatte um den Politiker Franz Müntefering, der Finanzinvestoren als Heuschrecken bezeichnete, die Unternehmen abfressen und dann weiterziehen, ist bekannt. In jüngster Zeit sind es aber vor allem die Zombies, die mit dem Kapitalismus in Zusammenhang gebracht werden, und zwar von dessen Gegnern wie Befürwortern.2 Drei Aspekte sind es im Wesentlichen, die im Allgemeinen mit Zombies verbunden werden: Erstens handelt es sich bei ihnen um Menschen ohne Seele und Bewusstsein, um einen rein biologisch funktionierenden Körper ohne Geist. Zweitens werden Zombies oft als Wiedergänger gesehen, als Untote oder Scheintote, die aus dem Reich der Toten in das der Lebenden zurückkehren und dort entweder für Unheil sorgen, oder, drittens, um dort als folgsame Arbeitssklaven mit »Kadavergehorsam« beliebig ausgebeutet werden zu können. In jedem Falle leben Zombies nicht wirklich, vielmehr vegetieren sie dahin. In einem solchen Zustand scheinen einige Ökonomen auch Unternehmen, Banken und sogar Staaten zu sehen. In ihrem Artikel über Zombies und Kapitalismus führt Jeanette Ehrmann die Zitate »Entweder rette ich Zom1 | Karl Marx: Das Kapital. Band 1. Dritter Abschnitt: Die Produktion des absoluten Mehrwerts, S. 247. 2 | Vgl. Jeanette Ehrmann: Working Dead. Walking Debt.
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bie-Länder oder Zombie-Banken« und »Zombie-Staaten am Rande der Euro-Zone« von namhaften deutschen Ökonomen auf.3 Unternehmen, Banken und Staaten ohne Geld sind wie Menschen ohne Geist, Zombies eben. Dass Geld der Geist der Wirtschaft ist, wird hier wieder einmal deutlich. Mit der zum Zombie-Motiv gehörenden Geistlosigkeit lässt sich trefflich spielen. Mit dem neoliberalen Arbeitsregime etwa und seinen totalitären Rundumkontrollen, seinem harten künstlichen Wettbewerb und seiner expliziten Forderung, alles und noch sich selbst als geldwerte Ressource zu verstehen, geht eine massive Ökonomisierung einher, die wir als eine Art Geld-Religion beschrieben haben. Man muss an Geld wie an einen Gott glauben, um sich von der heutigen Arbeitswelt in Unternehmen, die zudem insgesamt kaum mehr absetzbaren Überfluss produzieren, genauso wie im die Unternehmen anhimmelnden Öffentlichen Dienst, angesprochen zu fühlen und so etwas wie eine intrinsische Motivation für die Arbeit zu entwickeln. Dabei verweist die im Arbeitsalltag häufig eingeforderte Wendung der intrinsischen Motivation, etwa verbunden mit der Klage, dass ein Großteil der Angestellten innerlich gekündigt habe oder nur noch »Dienst nach Vorschrift« mache, schon auf die neue, die geldförmige techno-ökonomische Welt. Denn die intrinsische Motivation der Erwerbsarbeitswelt ist die Motivation der Geldvermehrung, zu der Menschen eigentlich von den Umständen gezwungen werden. Diesen Zwang und diese Umstände nicht zu sehen, von ihnen zu abstrahieren, heißt bereits Bezug zu nehmen auf eine Welt, in der Menschen so ökonomisiert sind, dass sie auch ohne Zwang Geldvermehrung betreiben, weil sie sich etwas anderes entweder gar nicht mehr vorstellen können oder es ihnen sinnlos erscheint. Die intrinsische Motivation, die Selbstführung, wird naturalisiert. Die mit dem Geist des Geldes zu dessen Beglaubigung immer einhergehende Kultur der Geldvermehrung ist in der neuen Welt zur Natur geworden. Der Zwang, in dieser neuen, techno-ökonomischen Welt zu leben, in der das Geistige nur noch aufs Geld bezogen ist und jeder andere Geist verloren geht, kann freilich als »geistlos« und damit zombiehaft erlebt werden, insbesondere wenn man sich in einer Umgebung wie beispielsweise einer Universität befindet und einen vielleicht im Sinne Humboldts 3 | Ebd., S. 23. Vgl. auch das SPIEGEL-Titelthema »Das Zombie-System« in der Ausgabe 43/2014.
Kapitel 11 – Zombifizier te Bildung
akademischen Geist erwartet, aber stattdessen beispielsweise Studierende antrifft, die mehr mit Notenoptimierung als mit neuhumanistischen Bildungszielen beschäftigt sind und in ihr Humankapital investieren mit dem einzigen Ziel, dieses später in Unternehmen zur Geldvermehrung und -beglaubigung einzusetzen. Oder entsprechende Professoren, die in einer Universität nur eine Berufsvorbereitungsanstalt sehen und jede Selbstreflexion und fremdzweckfreie Wahrheitssuche entweder verteufeln oder, eleganter, als ihr Gegenteil deklarieren. Sie können einem nicht techno-ökonomisch vorgeprägten Blick wie Zombies erscheinen oder wie die im Gleichschritt marschierenden Arbeiter im Film »Metropolis« von Fritz Lang. Umgekehrt würden wahrscheinlich echte Humboldtianer einem in der neuen Welt Verwurzelten wie Zombies erscheinen, da sie den Geist des Geldes vermissen lassen, und das zeigt, warum dieses Motiv so umfassend ist und von allen Milieus eingesetzt werden kann. Ein weiterer häufiger Adressat der Zombie-Metapher sind Menschen, die ganz aus der Gesellschaft herausfallen und etwa in Blechhütten dahinvegetieren, also gerade keine Arbeiter oder Angestellten sind. Und so finden sich, metaphorisch gesprochen, Zombies im ganzen gesellschaftlichen Spektrum vom Slumbewohner bis zum Top-Manager. Infolge der Ausdifferenzierung und Individualisierung der Gesellschaft kommen einem die Vertreter anderer gesellschaftlicher Subsysteme wie geistlose Untote vor. Die Entdifferenzierung hin zu einer reinen Wirtschaftsgesellschaft verstärkt diesen Eindruck noch. Für unser Anliegen ist das Zombie-Motiv im Sinne von Untoten vor allem interessant, weil sich mit ihm die Wiederkehr des Verdrängten eindrucksvoll veranschaulichen lässt, wie wir es am Beispiel Humboldts unternommen haben. Wo bleiben, so hatten wir oben gefragt, die den techno-ökonomischen Abstraktionsprozessen zum Opfer fallenden Begriffsbedeutungen? Was geschieht mit dem vom Reduktionismus Reduzierten? Ist es wirklich so einfach, diese Welt in eine techno-ökonomische zu verwandeln? Offenbar ist mit diesem Prozess die Entstehung von Gespenstern und Untoten verbunden, die man nicht loszuwerden scheint. Geist, von dem abstrahiert wurde, löst sich eben nicht in Luft auf, sondern geht als Gespenst umher, und Körper, denen man den Geist ausgetrieben hat, erscheinen als Untote. Der Humboldt’sche Bildungsbegriff erscheint als ein solcher Untoter, dem der originale Geist ausgetrieben wurde und dem nun ein fremder Geist, der Geldgeist, eingehaucht wird. Symbolisch, auf der Wortebene, hat man es mit den Gedanken und Ideen Humboldts
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zu tun, aber eigentlich sind sie es nicht, denn der Geist ist ein anderer, und darin besteht das Diabolische, das vom Original Getrennte. Es geht im Bildungswesen mit dem Teufel zu, so wie es seit Erfindung des ungedeckten Papiergeldes, der Geldscheine, des Schein-Geldes Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Teufel zugeht, was Goethe sehr schnell erkannte und in seinem Faust-Drama thematisierte, das sich leicht folgendermaßen interpretieren lässt: Die Geldwirtschaft in Reinkultur ist ein Pakt mit dem Teufel, dem man seine Seele verkauft. Für die semantische Verschiebung des Bildungsbegriffs in Richtung einer Ökonomisierung, die man nach dem bisher Gesagten als Zombifizierung bezeichnen könnte, sind oben schon einige Zitate von Humboldt beispielhaft angeführt worden. Kommen wir auf die schon erwähnte Unterscheidung des Bildungs- vom Wirtschaftsbürgertum zurück und formulieren wir die Übernahme von jenem durch dieses so: Die Bildungsbürger sind von den Wirtschaftsbürgern zombifiziert worden. Ihre bildungsbürgerliche Hülle ist beseelt von einem wirtschaftsbürgerlichen Geist. Der Geist der Bildungsbürger ist tot, nur ihre Körper wandeln noch stumpfsinnig umher. Pikant ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass Zombies ursprünglich – so auch in dem ersten Klassiker aller Zombiefilme, »White Zombie« von Victor Halperin (1932) – in den untoten Zustand versetzt wurden, um sie als Arbeitssklaven zu verwenden. Die Verwendung des Wortes Bildung dafür, dass für Humankapital, materielle Nützlichkeit und reine Beschäftigungsfähigkeit anstatt für Entfaltung der Persönlichkeit, ideale Gesinnung, Ichwerdung und Mündigkeit gesorgt wird, diese Zombifizierung, steht ja schließlich nicht zuletzt auch im Dienst der so genannten Employability, die man eben auch als eine Art Bildung verstehen kann, als Schaffung des perfekten, körperlich und geistig optimierten Angestellten bzw. neoliberalen Staatsbürgers, der alle seine Probleme selbst löst und, da er das Ich nicht gebildet hat, nicht unbedingt einen Unterschied macht zwischen wirklich seinen Problemen und solchen, die von anderen an ihn herangetragen werden. Aus der neuhumanistischen Innengeleitetheit des Menschen wird die neoliberale Regierung des Selbst.
Kapitel 12 Einsamkeit und Freiheit
Nach Klärung des gesellschaftlichen Bodens, auf dem Bildung heute steht, der Probleme, mit denen sie konfrontiert ist, muss es nun natürlich auch endlich um den Inhalt des humanistischen Bildungsbegriffs gehen nebst seiner semantischen Umdeutungen ins Ökonomistische. Wir wollen dies anhand einiger exemplarisch ausgewählter bekannt gewordener Texte zum Thema Bildung, von denen diejenigen von Humboldt nur ein Teil sind, noch einmal detaillierter aufzeigen. So soll klarer werden, was Bildung zum Bild des Ichs von Bildung zum Bild des Geldes unterscheidet. Nehmen wir als Einstiegsbeispiel Schillers berühmte Unterscheidung zwischen dem Brotgelehrten und dem philosophischen Kopf.1 Für den Brotgelehrten, der nur studiert, weil ihm das für seinen späteren Beruf Vorteile bringt, sind Wissenschaft und Bildung ein Mittel zum Zweck. Für den philosophischen Kopf gilt das Umgekehrte. Er will die Wissenschaft erweitern, weil er die Wahrheit liebt. »Durch immer neue und immer schönere Gedankenformen schreitet der philosophische Geist zu höherer Vortrefflichkeit fort, wenn der Brotgelehrte in ewigem Geistesstillstande das unfruchtbare Einerlei seiner Schulbegriffe hütet.«2 Schiller spricht noch von einem dritten Typ, nämlich vom philosophischen Kopf, der zu einem Leben als Brotgelehrter gezwungen wird. Ihn wird seine Berufswissenschaft anekeln, ihm wird seine Arbeit, sobald sie für ihn keine neuen Einsichten mehr bereithält, zwecklos erscheinen. Möglicherweise interessanter als die Feststellung, dass diese Figuren als solche offenbar bis heute überlebt haben, ist der Versuch, auch sie einmal durch die ökonomische Brille zu betrachten. Dass auch sie uns als 1 | Schiller zitiert nach H. Schelsky: Einsamkeit und Freiheit, S. 61. 2 | Ebd., S. 62.
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ökonomisierte Wiedergänger begegnen, dürfte ihre eigentliche Aktualität ausmachen. Dabei wird deutlich, dass der Brotgelehrte, »dem es bei seinem Fleiß einzig und allein darum zu tun ist, die Bedingungen zu erfüllen, unter denen er zu seinem Amte fähig und der Vorteile desselben teilhaftig werden kann, der nur darum die Kräfte seines Geistes in Bewegung setzt, um dadurch seinen sinnlichen Zustand zu verbessern und eine kleinliche Ruhmsucht zu befriedigen« 3,
dass also dieser Brotgelehrte zu Schillers Zeiten das Feindbild der an Wissenschaft Glaubenden gewesen sein mag, seine ökonomisierte Version jedoch heute analog das Feindbild der an Wirtschaft Glaubenden ist. Der ominöse »Dienst nach Vorschrift«, vor dem die Unternehmen solche Angst haben, bedeutet die gleiche innere Distanziertheit hier der Sache der Geldvermehrung für die Firma wie dort der Erkenntnisvermehrung für die Wissenschaft. Weder der wissenschaftliche noch der wirtschaftliche Brotgelehrte interessieren sich für die Sache, die sie nur für einen Fremdzweck betreiben und nicht um ihrer selbst willen. Für den philosophischen Kopf hingegen ist die Sache ein Symbol seiner selbst, für sie zu arbeiten heißt, für sich zu arbeiten. So ist das ökonomisierte Pendant zu ihm der unternehmerische Kopf. Beide Köpfe bauen sich ihre Gedanken- bzw. Unternehmenswelt und wenn beide Innovationen einstürzen und neu errichtet werden müssen, ist das keine Katastrophe, denn so wie der philosophische Kopf »die Wahrheit immer mehr geliebt«4 hat als seine Ideengebäude, so hat seine Neufassung, der unternehmerische Kopf, das Geld immer mehr geliebt als sein Unternehmen. »Die Ablehnung des Berufsstudiums, der Prüfungen und festen Lehrpläne, die Forderungen nach ständiger forschender Veränderung des Wissens, die Erkenntnis des ›Ganzen‹, die sich als Harmonie in der Person des Gelehrten auswirkt«5, all das begegnet uns ökonomisch verstanden in der Wirtschaftswelt heute wieder. Auch dort sind Prüfungsergebnisse letztlich zweitrangig, was zählt, ist das Ausmaß der Geldgläubigkeit, die Geldvermehrungskompetenz, die Lust, sich der Sache (dem Unternehmen) zu widmen und in diesem Ganzen aufzugehen. 3 | Schiller zitiert nach ebd., S. 61. 4 | Schiller zitiert nach ebd., S. 62. 5 | Ebd., S. 62.
Kapitel 12 – Einsamkeit und Freiheit
Der Brotgelehrte und der philosophische Kopf mögen wie These und Antithese zum »lebenslang Lernenden« synthetisiert worden sein, doch auch diese Figur wird wieder zur These, denn sie hat zwei Seiten, es gibt sie in primär humanistischer und primär ökonomistischer Ausprägung. Beiden geht es »um eine normative Grundstimmung des Lebens, um die Vermittlung einer prinzipiellen Lebenseinstellung, sozusagen um eine idealistische Imprägnierung des menschlichen Charakters.«6 Schelsky findet dafür den Begriff der Sittlichkeit, der ökonomisch gelesen zeigt, wie moralisch Ökonomie ist. »Daß die sittliche Vervollkommnung des Menschen ein absoluter und von Zeitumständen unabhängiger Anspruch an den Menschen ist und in eben jener prinzipiellen Innenleitung des Menschen, in einem Handeln allein nach der Richtschnur verinnerlichter Werthaltungen, zu bestehen habe, ist die Grundüberzeugung dieses Bildungsideals« 7,
schrieb Schelsky über den Humanismus – man muss sich unter Innenleitung nur die Regierung des Selbst vorstellen und unter Wert den Geldwert, schon ist der Humanismus zum Ökonomismus zombifiziert. Einmal mehr zeigt sich so die Strukturähnlichkeit zwischen Bildung durch Wissenschaft und Ausbildung durch Wirtschaft, die heute zur Bildung zum Bilde des Geldes synthetisiert sind. Die erwähnte normative Grundstimmung des Lebens hat Humboldt in seiner schon erwähnten berühmten Formel »Einsamkeit und Freiheit« auf den Punkt gebracht. Gemeint war die »geistige Selbsttätigkeit des Menschen« 8, seine »intellektuelle Selbsterziehung«9. »[N]ur so kann dem Menschen seine Handlungsselbständigkeit, seine Autonomie, bewußt werden, die sowohl eine umfassende Verantwortung für das Ganze, aber zugleich unendliche Freiheit des Denkens und Handelns ist.«10 Das gilt aber auch für die Ich-AG. Was Neuhumanisten und Ökonomisten ebenso auf der Wortebene gemeinsam haben, ist, dass sie die Universität als »die
6 | Ebd., S. 63. 7 | Ebd., S. 64. 8 | Ebd., S. 64. 9 | Ebd., S. 64f. 10 | Ebd., S. 65.
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Im Spiegel des Geldes
Institution der Selbsterziehung und Selbstversittlichung schlechthin«11 sehen. Die Lehrenden sollen das eigene Lernen der Studierenden anleiten – ein Motiv, das uns heute als Selbstlernkompetenz der Lernenden und Moderatoren- oder Lerncoachrolle der Lehrenden in ökonomisierter Form wieder begegnet. Für die Universität ist das scheinbar ein Glück, sie kann die Relevanz ihrer Mission ökonomistisch umgedeutet nach wie vor behaupten. Aber dennoch ist fraglich, ob eine Gesellschaft, die Intellektualität und Ichwerdung im humanistischen Sinn zur Privatsache erklärt, anstatt sie in ihrer Mitte an Universitäten zu pflegen und somit einen Ausgleich zu Entdifferenzierungstendenzen und ökonomistischer Monokultur zu schaffen, sich selbst einen Gefallen tut, insbesondere, wenn sie ihren ökonomistischen Utilitarismus als humanistischen Idealismus ausgibt. Dass »die akademische Welt in vielerlei Hinsicht zu einem getreuen Spiegelbild der modernen Wirtschaftsgesellschaft«12 geworden ist, hat Schelsky schon 1962 gesehen. Er sah die Gefahr, dass »hinter der Fassade einer aufrechterhaltenen alten Universitätsidee«13 in Wirklichkeit den Interessen der Wirtschaft gedient wird. Jetzt, über ein halbes Jahrhundert später, verwischt beides. Die Interessen der Wirtschaft werden mit den Interessen der Universität identifiziert. Die Differenz zwischen beiden wird, eingebettet in allgemein-gesellschaftliche Entdifferenzierungstendenzen, aufgehoben. Natürlich hat sich der Begriff der humanistischen Bildung seit Humboldt weiterentwickelt; der Aspekt der sozialen Unterscheidbarkeit durch Bildung, der Aufstiegswille des Bürgertums durch Bildung oder auch die Forderung nach einer kritischen Haltung sind schon erwähnt worden. Bekannt geworden sind in diesen Jahren im Zusammenhang mit dem Thema Bildung die Ausführungen des Philosophen Peter Bieri. Auch an ihnen lässt sich das Phänomen der Zombifizierung eindrucksvoll studieren. In seinem Artikel »Wie wäre es, gebildet zu sein?«14 gestaltet Bieri den Begriff der Bildung einerseits konkreter, aber andererseits abstrakter aus als Humboldt und nennt neun zentrale Antworten auf die Titelfrage: 11 | Ebd., S. 65. 12 | Ebd., S. 159. Vgl. auch S. 161: »In der Tat nehmen die Strukturähnlichkeiten der inneren Verhältnisse der Universität mit der westlichen Wirtschaftsgesellschaft in erstaunlichem Maße zu.« 13 | Ebd., S. 161. 14 | P. Bieri: Wie wäre es, gebildet zu sein?
Kapitel 12 – Einsamkeit und Freiheit
Bildung sei Weltorientierung, Aufklärung, historisches Bewusstsein, Artikuliertheit, Selbsterkenntnis, Selbstbestimmung, moralische Sensibilität, poetische Erfahrung und leidenschaftlich. Natürlich führt Bieri aus, was er darunter im Einzelnen versteht. Für unsere Zwecke ist wiederum von Bedeutung, dass diese konkreten Ausprägungen von Bildung sich auch wiederum ökonomisch umdeuten lassen. Auch hinter ihrer Symbolik steckt eine Diabolik. Auch sie kann man zombifizieren, indem man aus ihnen den wahren Geist der Bildung austreibt. Rein symbolisch ließe sich auch mit ihnen der techno-ökonomisch optimierte Mensch oder auch nur das neoliberale Subjekt, der perfekte Angestellte bzw. Problemlöser bilden. Auch dieser soll weltoffen und neugierig sein und von den Profis lernen. Auch er soll aufgeklärt sein und sich nicht als Spielball unternehmensfremder Interessen missbrauchen lassen und kritisch sein – dies vor allem. Die kritische Haltung, die in der Nachkriegszeit im Westen als Reaktion auf Diktaturen Teil des Bildungsfelds wurde, ist eine der Hauptforderungen des wirtschaftlichen Milieus, umgedeutet natürlich zu einer Kritik im Sinne der Geldvermehrung der Gruppe, des Teams, des Unternehmens, zu dem man gehört. Alles was ihr nicht optimal dient, ist zu kritisieren. Noch die ironische, spielerische Einstellung gegenüber der eigenen Kultur, das Bewusstsein von deren historischer Kontingenz und damit das, was Bieri unter historischem Bewusstsein versteht, gehört heute in ökonomisierter Form in Managerkreisen nicht nur zum guten Ton, sondern zu den zentralen Voraussetzungen. Es ist einerseits dem seit dem Zweiten Weltkrieg steigenden Einfluss der Spieltheorie in der Ökonomik zu verdanken, dass ökonomisches Handeln heute weitgehend als Spiel verstanden wird, bzw. Spiel als generative Metapher für Wirtschaft Verwendung findet, um die Funktionalität des wirtschaftlichen Menschen zu steigern. Andererseits hat dies vermutlich weiter zurückreichende und ins Politische weisende Gründe. Dass in Wirtschaft und Politik Rollen gespielt werden, ist jedem bewusst. Es geht vielmehr darum, wie gut die Rollen gespielt werden. Die Handlung in dem, was man meist abschätzig Staatstheater nennt im Sinne des repräsentativen Handelns eines Politikers, ist nicht nur sprachlich verwandt mit dem wirtschaftlichen Handel. Um tauschen zu können, muss man täuschen. Wir hatten hier schon eine Verbindung zur Literatur erblickt, die Realität nicht abbildet, sondern vortäuscht und sich dessen bewusster ist als die tauschend täuschenden Akteure in der Wirtschaft. Denn getauscht werden von der sinnlichen Na-
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tur der Güter abstrahierte Tauschgüter, eigens dafür, also letztlich zum Zwecke der Geldvermehrung funktional geschaffene Produkte. Werbung und Marketing haben die Aufgabe, uns genau über diese Erkenntnis zu täuschen. Es wird ein originales Gut vorgetäuscht, das aber doch eigentlich ein Tauschgut ist und in dessen Besitz man nur auf geldvermittelte Weise, das heißt unter Einsatz des Mediums Geld, kommt. Auch wenn der gekaufte Wein so gut schmeckt wie der selbst angebaute, so ist man dennoch, um den ersteren zu erlangen, gezwungen, geldvermittelt mit einer numerisch messbaren Welt in Kontakt zu treten. Die Eigenschaften des Geldes, sein Angewiesensein auf symbolische Beglaubigung, seine Wachstumsdynamik, seine Abstraktheit, seine exakte numerische Messbarkeitsfähigkeit, machen sich mindestens bemerkbar, wenn nicht selbständig. Das Wirtschaftliche als das eigentlich Sekundäre, das gegenüber all den anderen gesellschaftlichen Bereichen die zweite Geige zu spielen hätte,15 wird zum Primären. Hörisch sieht in »der wachsenden Herrschaft des Sekundären« gar ein Kennzeichen der Neuzeit.16 Man muss bereit sein oder zumindest glaubhaft vortäuschen, etwas Fremdes als Eigenes anzunehmen, etwas Sekundäres zum Eigentlichen, zum Primären zu machen.17 Zu einer Sache oder zu Personen gesellt sich jetzt die Rolle, die sie in einer geldvermittelten Welt spielen. Personen spielen die Rolle des Tauschenden, sie täuschen die Identität des Tauschenden vor. Für die Politik einer modernen Gesellschaft gilt Analoges; nur das Medium ist hier Macht anstatt Geld. Politik und Wirtschaft müssen täuschen, um zu funktionieren, die Wirtschaft tut dies lediglich auf eine spezielle Weise, nämlich indem sie tauscht. Ist Bildung im Sinne von Aufgeklärtheit und historischem Bewusstsein vorhanden, sind diese Umstände bekannt. Es geht dann nur noch darum, wie gut getäuscht wird. Denn wie gut man eine Rolle spielt, das wiederum ist tatsächlich echt. Das Spiel ist als Spiel ernst. Das lässt sich mit Maßstäben bemessen, ja geradezu wettbewerbsmäßig organisieren und damit in eine Form bringen, die sich nach inzwischen bekannter Weise einmal mehr dafür eignet, Geld symbolisch zu beglaubigen und 15 | Erinnert sei an das Zitat des frühen Neoliberalen Rüstow in Kapitel 8. 16 | J. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 331. 17 | Türcke zeigt anhand des Geiseltauschs, wie die »beiderseitige Bereitschaft, sich so zu verhalten, als ob das Fremde dem Eigenen gleich wäre«, eine Urvoraussetzung dafür ist, dass Geld historisch entstehen konnte (C. Türcke: Mehr!, S. 57).
Kapitel 12 – Einsamkeit und Freiheit
ihm so Macht zu verleihen. Gemäß der Beglaubigungstheorie des Geldes, der Idee der symbolischen Nachbildungen zu dessen Bilde, handeln wir in Wirtschaft und sich daran orientierender Politik, indem wir beides als Spiel nach Regeln verstehen, sei es als Mannschaftssport für Teambegeisterte oder als Punktejagd für Einzelsportler. Hauptsache, es lässt sich etwas optimieren unter Rahmenbedingungen. Noch die langweiligste und unangenehmste Arbeit wird so zum spannenden Sport. Raumzuteilungen werden an Universitäten heute von der »Hörsaal-Task-Force« erledigt; jeder Hausmeister wird so Mitglied einer Elitekampftruppe zum Wohle der Menschheit. Die geldförmige Sportler- oder Spielerrolle (im Management häufig mit generativen Metaphern aus dem Militärbereich versehen) täuscht über die schlichte Arbeiteridentität hinweg und wirkt leistungserhöhend. Eine mit den generativen Metaphern Spiel oder Militär versehene Wirtschaft funktioniert offenbar besser. Bildung im Sinne von Aufgeklärtheit und historischem Bewusstsein nach Bieri würde bedeuten, sich dieser Tricks bewusst zu sein, gedankliche Unbestechlichkeit zu besitzen und sich nicht zum Spielball anderer Interessen machen zu lassen. Genau diese Art der Bildung lässt sich aber eben auch ökonomistisch umdeuten als Aufgeklärtheit über die Spielregeln und Bewusstsein und Annahme der Spielerrolle in einer neuen Welt, in der sich das Spiel als natürliche Realität inkarniert hat. In Wirtschaft und Politik ist schließlich das, was woanders Täuschung sein mag, echt. Etwas kann wissenschaftlich falsch sein, aber politisch wahr. Putzfrauen zu Feen zu erklären oder Hausmeister zu Elitesoldaten kann kulturell heuchlerisch sein, aber wirtschaftlich authentisch, da leistungssteigernd und daher effizient. In einer techno-ökonomischen neuen Welt geht der Spielcharakter verloren, er wird naturalisiert. Ernste Arbeit wird zum Spiel verklärt und aus dem Spiel wird neuer Ernst. Auch Artikuliertheit ist für Bieri eine Ausprägung von Bildung. Darunter versteht er, sich von Bildung innerlich und handlungswirksam verändern zu lassen, differenzierter zu empfinden und nicht nur Wortfetzen nachzuplappern. Ein Gebildeter ist von einem Bildungsspießer zu unterscheiden. Das alles dürfte jeder Ökonomist und Manager, in seinem Sinne verstanden, sofort unterschreiben. Weiterhin versteht Bieri Bildung als Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung. Dazu gehört, sich in seinem Denken, Fühlen und Wollen zu verstehen und sich davon ausgehend selbst zu schaffen und zu bauen. Einem bekannten Satz George Bernard Shaws zufolge bedeutet Leben nicht, sich zu finden, sondern sich
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zu schaffen, das heißt seine eigene Identität in einem ständigen Prozess von Selbstbewertungen zu schaffen, eben zu bilden. Das entspricht dem Humboldt’schen Bildungsbegriff der Ichwerdung, geht aber nicht ohne die Beeinflussung anderer – man muss allerdings lernen, entfremdende und nicht entfremdende Beeinflussungen anderer zu unterscheiden. Leicht lässt sich all dies ins Ökonomistische übersetzen – man muss sich nur selbst als Wirtschaftssubjekt interpretieren, sich als homo oeconomicus verstehen. Der Hausmeister, der sich eine Identität als Mitglied einer Task Force von Facility Managern gebildet hat, wird es vielleicht als entfremdend empfinden, schlicht als Hausmeister tituliert zu werden. Wenn er die Spannung zwischen dem Eigenen und dem Fremden jedoch furchtlos aushält, besitzt er das, was Bieri moralische Sensibilität nennt, die er auch zu den Bildungsausprägungen zählt. Aber auch die Wirtschaft, indem sie Geldvermehrung gebietet, besitzt eine eigene Moral. Auch moralische Sensibilität ist also eine leicht ökonomisierbare Bedeutung von Bildung. Es ist dann eben schlicht unmoralisch, da in gewissem Sinne effizienzmindernd, den Hausmeister Hausmeister zu nennen – ihn dagegen mit Hungerlöhnen abzuspeisen nicht unbedingt, denn das ist nicht Teil der Ziel-Mittel-Konstellation und daher für diesen speziellen Effizienzbegriff irrelevant. Bieris zwei letzte Antworten auf die Frage, was Bildung sei, sind besonders interessant. Genauso leicht lassen sie sich ökonomistisch interpretieren und zu einem wirtschaftlichen Verständnis hin umdeuten. Denn dass »poetische Erfahrungen« Teil von humanistischen wie ökonomistischen Bildungsprozessen sein können, hat schon der Vergleich von Wirtschaft und Literatur gezeigt. Der griechische Wortursprung poiesis bedeutet »Erschaffung«. Wir haben die Poesie des Geldes schon kennen gelernt und gesehen, wie Wirtschaft und Literatur mithilfe ihrer jeweiligen Zeichensysteme neue Welten schaffen können. Wie seit 200 Jahren vor allem Geld unsere Welt schafft, wie Geldbeglaubigung zur Keimzelle erst des Handels, dann des Handelns geworden ist, ist die poetische Erfahrung der Moderne. So lässt sich Bieri auch an dieser Stelle ökonomistisch interpretieren, auch wenn er sich mit Bildung als poetischer Erfahrung wohl eher auf den humanistischen Bildungsbegriff bezieht, da er Bildung hier wie schon Humboldt als Selbstzweck bezeichnet und als poetische Erfahrung natürlich die »gesteigerte Erfahrung von Gegenwart«18 durch 18 | P. Bieri: Wie wäre es, gebildet zu sein?, S. 239.
Kapitel 12 – Einsamkeit und Freiheit
Kunst und Musik meint, die Bieri als eine Dimension des Glücks bezeichnet. Glück wiederum ist aber ein Begriff, der heute wie kein anderer von den Ökonomisten für sich beansprucht wird. Denn mit Glück liegt ein Begriff vor, der sich leicht als diffus-ideologisches Endziel menschlichen Handelns identifizieren lässt. Jeder strebt nach Glück, jeder hat also ein Ziel und dafür Mittel und Ressourcen zur Verfügung und ist damit automatisch immer schon homo oeconomicus. Wenn wir Glück als das Endziel des Handelns begreifen, sind wir augenblicklich ökonomisiert. Daher wundert es nicht, dass sich innerhalb der Ökonomik die Glücksforschung immer weiter ausbreitet. Dass man Glück nicht planvoll ansteuern kann, wie Bieri bemerkt,19 dass es vielmehr »huckepack auf unseren Projekten«20 reise, wird ökonomische Glücksforscher kaum stören, denn Ökonomen wie Naturwissenschaftler definieren sich schließlich die Begriffe, wie sie sie brauchen. Glück als generative Metapher eines effizient zu erreichenden, aber anders schwer zu fassenden Ichs zu verwenden, ist offenbar besonders funktional. Bleibt in Bieris Abhandlung noch die leidenschaftliche Bildung: »Der Gebildete ist an seinen heftigen Reaktionen auf alles zu erkennen, was Bildung verhindert.«21 Natürlich gilt das für alle Arten von Bildung, die humanistische wie die ökonomistische. Es würde jeden Rahmen sprengen, hier alle veröffentlichten Aussagen von echauffierten Bildungsmanagern aufzuführen, die sich gegen die angeblich idealistischen, weltfremden, romantischen, ewiggestrigen und Sachzwänge verkennenden Vorstellungen derer richten, die noch an eine andere Poesie glauben als die des Geldes. So lässt sich auch an Bieris Ausführungen zur Bildung der Gegensatz Ökonomismus versus Humanismus verdeutlichen und wieder einmal wird klar, dass dieser Gegensatz gerade wegen der hohen formalen Ähnlichkeit zwischen beidem so pikant ist. Worte können wie Geld eben nicht nur Verschiedenes, sondern auch Gegensätzliches bezeichnen (das Wort Bildung ist dafür nur ein Beispiel) und haben doch so viele formal gleiche Eigenschaften. Zum Beispiel können sie inflationär verwendet werden. Bevor wir uns diesem Gedanken zuwenden, sei noch ein repräsentatives 19 | Ebd., S. 238. 20 | So die Formulierung von B. Rössler: Autonomie, Glück und der Sinn des Lebens, S. 263. 21 | P. Bieri: Wie wäre es, gebildet zu sein?, S. 239.
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Beispiel für die Gegensätzlichkeit angeführt, das aus dem Bildungsbereich stammt. Im Zuge der Kompetenzorientierung innerhalb der Ökonomisierungswelle der Bildung ist auch der gymnasiale Mathematikunterricht reformiert worden. Das Verständnis von Mathematik wie dasjenige jedes Faches bemisst sich in der neuen Logik daran, wie in konkreten Handlungen mit Mathematik umgegangen wird, wie sie auf konkrete Probleme angewandt wird. Der Sinn, Mathematik zu lernen und zu betreiben, ist nun ein funktionaler. Es geht darum, Probleme zu lösen und damit um die Kernkompetenz von Managern, nicht von Gelehrten oder Intellektuellen. Man lernt mathematische Inhalte in (betriebs-)wirtschaftlicher bzw. managerialer Form, wobei die Problemlösekompetenz primär ist. Mathematik wird von Anfang an als funktionale Hilfswissenschaft erfahren, nicht mehr als formale Geistesbildung. Man könnte vielleicht sagen: Was Latein für das Medium Sprache ist und für sprachvermittelten Kontakt des Individuums zur Welt, ist Mathematik entsprechend für zahlenvermittelten Weltkontakt, wie in Kapitel 2 angedeutet; noch direkter als das Wort entstand die Zahl im ökonomischen Kontext und ist im Geld basiert. Beide Fächer sind insofern geeignet, den Gegensatz zwischen Wort und Zahl, zwischen Sprache und Geld zu symbolisieren. In Gemeinschaften sprachvermittelter individueller Weltbeziehungen steht das Wort am Anfang, in solchen geldvermittelter Art die Zahl. Ob die Poesie des Geldes, die sich in der Wirtschaft ausdrückt, der Poesie der Sprache, die sich in der Literatur ausdrückt, funktional überlegen ist, wie Hörisch in seinem Buch »Kopf oder Zahl – die Poesie des Geldes« diskutiert, ist eine andere Frage. Für selbstzweckhafte formale Geistesbildung taugt das Wort wie die Zahl, auf welche literarischen und wirtschaftlichen Probleme auch immer das Gelernte später angewandt wird. Mit Latein wie Mathematik, um nur diese zu nennen, lässt sich gleichermaßen der Selbstzweckcharakter der Bildung zum Individuum unterstreichen und verwirklichen – ebenso wie er sich negieren lässt, indem beide Fächer nur unter Nützlichkeitserwägungen für Fremdzwecke betrachtet werden. Es wäre falsch, Bieris »gesteigerte Erfahrung von Gegenwart« etwa durch die Eleganz eines Lösungsweges, die Kohärenz eines Beweisgangs, die interne Stimmigkeit mathematischer Formelkonstellationen, kurz die Schönheit der Formeln, die wie jede ästhetische Erfahrung das Leben als Selbstzweck erlebbar werden lässt, als träumerisch-romantisch zurückzuweisen, weil gerade sie Persönlichkeitsbildung ermöglichen könnte. Der reformierte schulische Mathematikunterricht aber führt nun auch dem
Kapitel 12 – Einsamkeit und Freiheit
Anspruch nach diese Zurückweisung aus. Um es exemplarisch zuzuspitzen: Anstatt »Kurvendiskussion« lautet nun »Handytarife« das Unterrichtsthema. Um das Problem der Wahl des passenden Handytarifs zu lösen, müssen zwar Funktionsgraphen erstellt und diskutiert werden, aber eben auch darum und nicht mehr als Selbstzweck. Auch hier wird das eigentlich Sekundäre zum Primären. Gebildet wird letztlich auch hier der homo oeconomicus, der lernt, an ihn von sich oder anderen gestellte Probleme zu lösen, in dessen Bildung ein nicht marginales Element der Unterwerfung unter Fremdzwecke direkt eingeschrieben wird, und die schon deshalb nur symbolisch Bildung ist, weil sie so heißt, während sie auf diabolische Weise etwas ganz anderes ist als Bildung, nämlich Ausbildung. Für Latein ist dies noch selbstverständlicher; die antiken Werke sind ja geradezu das (neu-)humanistische Standardbeispiel für ästhetische Bildung, so wie es die Grammatik des Lateinischen für formale Bildung ist. Aber gerade Latein muss seine Existenz als Schulfach immer wieder unter Nützlichkeitsaspekten rechtfertigen, etwa als Lernerleichterung für die romanischen Sprachen. Die eigentliche Nützlichkeit ist aber eine dialektische; sie liegt in der konkreten Unnützlichkeit für Fremdzwecke, die Selbstreflexionsflächen für individuelle Bildung bietet.22 In einer Gesellschaft, in der Wirtschaft das Sekundäre wäre, wie es frühe Neoliberale wie Röbke und Rüstow sich vorstellten,23 in der alles wichtiger wäre als Wirtschaft, wäre auch eine formale wie ästhetische Selbstbildung wichtiger als Wirtschaft, zumal Inhalte der humanistischen Bildung ja auch sekundär zu Berufszwecken eingesetzt werden können. Der Vorrang der Bildung zum Ich bedeutet ja nicht die Aufgabe der Ausbildung zu Fremdzwecken, sondern kann diese mit abdecken. Die Unternehmen müssten sich mit gebildeten Menschen begnügen, anstatt zu meinen, sie sich nach ihren vermeintlichen Bedürfnissen ausbilden zu können, ohne Rücksicht auf Individualität im Sinne von Ichwerdung nehmen zu müssen – und dies dabei gerade dadurch besonders wirkungsvoll zu verschleiern, es semantisch umgedeutet immer wieder zu behaupten. Selbst, wo es nicht darum geht, den perfekten Angestellten zu bilden, sondern die Ausbildung zum Problemlöser im Sinne eines Empowerment erfolgt, das dazu befähigt, selbstverantwortlich und selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen (wo es also um Politisches 22 | Vgl. N. Ordine: Von der Nützlichkeit des Unnützen. 23 | Vgl. die Zitate in Kapitel 8.
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statt um Wirtschaftliches geht), geht diese Ausbildung auf Kosten der Erfahrung des eigenes Lebens als frei und selbstzweckhaft. Aus dieser grundlegenden Freiheit der Moderne heraus sollten Selbstermächtigungen erwachsen, nicht als Imperativ einer ökonomistischen Gesellschaft, die nur Kontrollkosten sparen will und die zudem ausblendet, wie stark Empowerment von der Anfangsausstattung an Kapital aller Art abhängt.
Kapitel 13 Der Wert des Eigenen und des Fremden
Dass also Mathematik ein unverzichtbares Schulfach ist, darüber sind sich Humanisten wie Ökonomisten einig (Latein hat es diesbezüglich schwerer), wenn auch aus gegensätzlichen Gründen. Die symbolische Gleichheit sollte aber nicht über die diabolische Verschiedenheit beider Bereiche hinwegtäuschen. Doch nicht nur verwenden sie gleiche Begriffe mit unterschiedlichen Bedeutungen, sie haben in der Neuzeit, verdichtet im Begriff Bürgertum, geradezu eine Symbiose gebildet. Ihre Komplementarität wurde in diesem Begriff aber eben nur scheinbar aufgehoben. Die Diabolik zwischen Wirtschafts- und Bildungsbürgertum kann vom gemeinsamen Symbol »Bürgertum« nicht beseitigt werden. Vielmehr hat sie sich im Laufe der letzten 200 Jahre immer weiter ausdifferenziert. Warum aber ist das Wirtschaftsbürgertum so stark geworden und das Bildungsbürgertum so schwach? Wie kam es, dass wir heute sogar feststellen müssen, wie das Wirtschaftsbürgertum das Bildungsbürgertum absorbiert hat, ausgesaugt hat, in seinem Körper zombiehaft weiterlebt, also das stattfindet, was man Ökonomisierung der Bildung nennt? Eine entscheidende Rolle bei dieser zugegebenermaßen großen Frage kommt jedenfalls dem Phänomen zu, das man in der Wirtschaft Inflation nennt, und das – wenn die Prämisse der hohen formalen Ähnlichkeit von Wirtschaft und humanistischer Bildung richtig ist – auch im Bildungsbereich gleichermaßen anzutreffen sein sollte. Und in der Tat: Inflation stellt sich als weiteres Paradebeispiel heraus für die symbolische Gleichheit und diabolische Verschiedenheit von Bildung und Wirtschaft, von Humanismus und Ökonomismus.
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So wie in der Wirtschaft bei einer Entwertung des Symbolsystems Geld von Inflation gesprochen wird, so kann man auch bei Entwertung des Symbolsystems der Bildung von Inflation sprechen. In beiden Fällen liegt die Situation vor, dass das Bedeutende immer weniger und bei einer Hyperinflation quasi nichts mehr bedeutet. Ganz allgemein verwendet Luhmann den Begriff der Inflation für alle symbolischen Medien. Inflation ist nach Luhmann verbunden mit der »Entwertung der Symbole«, die dadurch entsteht, dass Medien mehr zu bezeichnen vorgeben, als sie tatsächlich bezeichnen. Bei Deflation ist es entsprechend umgekehrt.1 Bei Inflation versprechen die Medien mehr als sie halten. Der Geldschein im Falle von totaler Inflation bedeutet keine reale Gütermenge mehr, weil man mit ihm nichts mehr kaufen kann, er hat seinen Wert verloren. Er hält sein Versprechen, Tauschmittel zu sein, nicht ein. Sema und Soma, Zeichen und Bezeichnetes, fallen auseinander. Der (Geld-)Schein trügt. Entsprechend bei einer Inflation im Bildungswesen: Die symbolischen Wertträger der Bildung werden wertlos. Das können die Werke von Homer oder Goethe sein, das kann eine Sprache sein, ein mathematisches Thema, sogar ein physikalisches Experiment oder ein ökonomisches Modell. Eine Inflation im Bildungswesen löst nun all diese Dinge natürlich genauso wenig auf wie eine Inflation in der Wirtschaft das Geld auflöst, nur wird ihnen eben kein Wert mehr zugeschrieben. Was den Wert angeht, wird es hilfreich sein, eine Unterscheidung zwischen Eigen- und Fremdwert zu treffen. Mit Eigenwert ist gemeint, dass die Realien ihren Wert nicht aus einer fremden Sphäre beziehen, sondern aus der eigenen. Der Eigenwert von Wirtschaftsgütern beispielsweise ist aus wirtschaftlicher Sicht der Geldwert, das was bei Inflationen wie 1923 in Deutschland verloren geht. Der Eigenwert von Bildungsträgern wird entsprechend humanistisch zu fassen und noch detaillierter aufzuschlüsseln sein. Der politische Wert, den beide Zeichensysteme haben, ihre Bedeutung für den gesellschaftlichen Status und Macht etwa, wäre für den Wirtschafts- wie für den Bildungsbereich jeweils ein Fremdwert. Geld und Bildung können dafür ein Symbol sein. Denn Symbole schaffen ja gerade die Einheit von Verschiedenem. Das für die Erörterung des Ökonomismus im Bildungswesen und ebenso für viele andere Zwecke so zentrale Phänomen der symbolischen Nachbildung operiert daher mit Fremdwerten. Und dass wiederum das Phänomen der symbolischen 1 | N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 382f.
Kapitel 13 – Der Wer t des Eigenen und des Fremden
Nachbildung so zentral, so verbreitet in allen Bereichen ist, verwundert in unserer von Entgrenzungen und Entdifferenzierungen aller Art gekennzeichneten Epoche wenig. Nur sind die Entgrenzungen eben nicht symmetrisch, sondern von einer klaren Dominanz der Ökonomie geprägt. Es ist vor allem das Geld, das symbolisch nachgebildet wird. ECTS-Punkte im Bildungswesen etwa sind geldförmig, C steht schließlich für credit. Es wird zwar alles auch verwissenschaftlicht, ästhetisiert, kulturalisiert und jedes noch so kleine Unternehmen hat inzwischen eine eigene Philosophie. Aber Geld ist der Boden, auf dem das alles steht, weil Geld der letzte verbliebene gesellschaftlich verbindliche Gott ist. Das Symbol Geld ist selbst zum Symbolisierten geworden – zum ursprünglichsten Original. Will man etwas beglaubigen – und was sonst tut man, wenn man ihm Wert zuschreibt? – ist daher bevorzugt Geld symbolisch nachzubilden, indem man Symbole des Geldes bildet. Wie zentral dieser Vorgang ist, lässt sich auch an der Bedeutung des Begriffs Vertrauen ablesen, der heute in allen Bereichen als die wesentliche Ressource deklariert wird. Vertrauen, Glaubwürdigkeit zu schaffen, ist scheinbar auch in der Politik eine Hauptaufgabe geworden. Da an nichts so sehr geglaubt wird wie an Geld, lässt sich am besten bei ihm Glaubwürdigkeit abzweigen, wenn man symbolisches Nachbilden so metaphorisieren will. Dass die aktuellen Reformen im Bildungswesen nach Jahrzehnten ergebnisloser Reformanstrengungen nach zahlreichen beklagten »Bildungskatastrophen« erstmalig erfolgreich waren, dürfte neben ihrer überfallartigen und mit schönen doppeldeutigen Worten verkleideten Implementierung diesen einen Grund haben: Sie waren glaubwürdig, man vertraute ihnen, weil man Geld vertraute und weil sie entweder direkt auf Geld rekurrierten (zum Beispiel Drittmittel) oder Geld symbolisch nachbildeten und es damit repräsentierten (zum Beispiel ECTS-Punkte). Was den eigenen Gott repräsentiert, ist glaubwürdig, dem vertraut man. Wer aber an etwas anderes glaubt als an Geld, hatte mit diesen Reformen seine Probleme, allen voran dasjenige eines Gefühls von Entfremdung. Denn mit Nutzen für berufliche Erwerbstätigkeit, also letztlich mit Geld, lässt sich wahre Bildung nur fremdbeglaubigen. Gleiches gilt für den Nutzen für die europäische Integration, der einzigen neben Geld nennenswerten Glaubwürdigkeitsquelle für die Bildungsreformen (Stichwort Bologna-Prozess), die aber bei genauer Betrachtung mit Geld in engem Zusammenhang steht. Wie Geld ist auch Europa zumindest im Moment noch ein relativ abstrakter Begriff. Wie sich die Europäische Union in
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Zukunft entwickeln soll, lässt sich momentan noch relativ frei ausmalen. Manche erwarten ein sozialstaatliches, andere ein marktorientiertes Europa; manche sehen eine eher föderale, andere eine eher zentralistische Gemeinschaft usw. Insgesamt ist Europa bislang ein relativ positiv besetzter Begriff, weil es noch nicht so konkret ausgestaltet ist wie die Nationalstaaten. Jeder konnte und kann noch an das Europa glauben, das er sich wünscht. Die Bildungsreform mit Europa in Verbindung zu bringen, mit der Aussicht, das europäische Zusammenwachsen damit zu stärken, wirft also ein gutes Licht auf die Reformen. Nun ist interessant, dass jedoch auch die Beglaubigung der europäischen Integration Anleihen beim Geld vornimmt. Auf den Euro-Scheinen sind fiktive Korrelate europäischer Architektur abgebildet. Das europäische Geld, die europäische Gesellschaft und die europäische Architektur sollen sich gegenseitig schaffen und beglaubigen. Schon die Amerikaner hatten sich schließlich in der Gründungsphase der USA den Glauben an Gott für die Beglaubigung des Geldes zunutze gemacht, indem sie die Dollarnoten mit der Aufschrift »In God we trust« versahen. »We« – das ist die damals neu zu gründende amerikanische Gesellschaft, für deren Zusammenhalt der Glaube an Gott wie der ans Geld durch gegenseitige Beglaubigung sorgen sollen. Es verwundert daher kaum, dass freie Marktwirtschaft und freies Unternehmertum, die beide auf Papiergeld basieren, einen derart zentralen Platz in der amerikanischen Gesellschaft einnehmen. Die Neue Welt ist insofern eine in nicht geringem Maße aus dem Geiste des Geldes geschaffene neue Welt. Von Braun zufolge verdanken die europäischen Nationen ihre Entstehung allerdings dem Buchdruck.2 Sie hätten sich also auf andere Weise als die USA gebildet. Und Bildung ist auch das, was Fuhrmann »Europas kulturelle Identität« nennt.3 Und damit meint er sehr viel mehr, als dass Studierende für ein Semester im Ausland einem von Erasmus-Koordinatoren speziell für sie konzipierten Kursprogramm folgen. Das Fundament der europäischen Kultur ist für Fuhrmann die Kultur der Antike. Mit antiker Dichtung gibt es tatsächlich schon längst so etwas wie europäische Dichtung. Zur europäischen Identitätsbildung Wirtschaft zu verwenden, heißt also vielmehr auf Fremdbeglaubigung zu setzen, als dies die Verwendung von klassischen Bildungsinhalten hieße. Wenn diese Europas 2 | C. von Braun: Der Preis des Geldes, S. 234. 3 | Vgl. M. Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität.
Kapitel 13 – Der Wer t des Eigenen und des Fremden
kulturelle Identität ausmachen, sollten sie im europäischen Einigungsprozess zumindest im Bildungswesen auch eine Rolle spielen. Eigenbeglaubigungen haben gegenüber Fremdbeglaubigungen den besonderen Vorteil, dass sie identitätsstiftend wirken und Selbstzweckerfahrungen ermöglichen. Durch Eigenbeglaubigung wird das Eigene überhaupt erst geschaffen, das dann durch die Aneignung des Fremden wachsen kann. Wäre Bildung nichts Eigenes, wäre sie einfach Politik oder Wirtschaft. Hätte Wirtschaft nicht die Identität, effizientes Handeln unter Knappheitsbedingungen zu sein, wäre sie einfach Politik, Sport, Kunst oder noch anderes. Die wichtigste Eigenschaft des Geldes nämlich besteht in seiner Knappheit. Es wäre komplett sinnlos, wenn es nicht künstlich der knappen Gütermenge angeglichen wäre. Knappheit aber ist der Grundbegriff der Ökonomik, der Grund dafür, auf Effizienz zu achten. Deshalb konnten wir die Effizienztheorie, mit anderen Worten die ökonomische Theorie, als symbolische Nachbildung des grundsätzlich knappen Geldes begreifen. Wenn etwas also aus Knappheitsgründen einen Wert hat, hat es einen ökonomischen Wert. Wer etwas als wertvoll bezeichnet, weil es knapp ist, bewegt sich vollständig in der ökonomischen Sphäre, argumentiert rein ökonomisch – auch wenn er Aussagen etwa über den Bildungsbereich macht. Das Argument, man habe es in Zeiten der Massenuniversität4 notgedrungen mit einer Verflachung des Bildungsniveaus zu tun, spielt die fremden gegen die eigenen Werte aus. Wertverluste durch Vermassungen sind ein ökonomischer Vorgang. Wer bei Entwertungsphänomenen zuerst an Vermassungen denkt, liefert damit immer schon ein Paradebeispiel für ökonomistisches Denken. Er identifiziert Wert mit von Knappheitsrelationen bestimmten Preisen. Was weniger knapp ist, 4 | Im Übrigen handelt es sich, wie man schon bei Schelsky nachlesen kann, um ein sehr altes Argument, das schon lange vor Humboldt zum Standardinventar der Klagen über das Bildungswesen gehörte: »Dabei ist der Vorwurf, daß die Universitäten an der Überflutung von Studierenden litten, eine alte Klage in der deutschen Universitätsgeschichte. Man spricht im 16. und 17. Jahrhundert bis hin zur Wende ins 18. Jahrhundert überall von immensen Studentenzahlen; erst seit dem Siebenjährigen Krieg gingen die Hörerzahlen zurück. […] Die Klage über die ›Vermassung‹ der Universität ist also ebensowenig neu wie die Ansicht, daß das Stipendienwesen zuviel und falsche junge Leute an die Universität führe; die Politik der ›Entrümpelung‹ der Universität hat auch ihre Tradition.« (H. Schelsky: Einsamkeit und Freiheit, S. 22).
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was jeder haben kann, ist weniger wert. Was Inflation in der Wirtschaft, also Geldwertentwertung betrifft, ist dies das entscheidende, weil eigene, eigentliche Argument. Den besonders imperialistischen Ökonomisten, den Monetaristen, gilt folglich diese ökonomische Wertbestimmung auch als alleinige Inflationsursache.5 Nichts kann den Geldwert so sehr beglaubigen, wie die ur-eigenste Eigenschaft des Geldes: die Knappheit. Sie erzeugt den Eigenwert des Geldes. Dass die Zentralbank nicht zuviel Geld in Umlauf bringt, ist wenn nicht die einzige so doch die entscheidende Maßnahme zur Inflationsvermeidung. Allerdings liegt hier eine Tautologie vor: Damit Geld knapp sein kann, muss es dem Wert der Menge aller Güter entsprechen, der aber selbst bereits in Geld gemessen wird. Berücksichtigt man dies, hat Geld überhaupt keinen Eigenwert. Sein Wert entsteht durch Beglaubigungsprozesse auf Basis von Zirkelschlüssen. Ein besonders deutliches Beispiel für den Unterschied zwischen Fremd- und Eigenwert liefert die Kunst. Weil ein Kunstwerk einzigartig und damit maximal knapp ist, kann es aus ökonomischen Gründen abhängig von der Nachfrage beliebig wertvoll werden, also einen hohen Fremdwert erhalten. Gleichzeitig entzieht es sich dadurch aber der Ökonomie, denn was einzigartig ist, ist gerade nicht austauschbar, es hat kein Äquivalent. Die Einzigartigkeit eines Kunstwerks wird also einerseits ökonomisch begründet, transzendiert aber andererseits auch die Ökonomie. Das Kunstwerk erhält seinen Wert von der Ökonomie, die aber in Äquivalenten denkt und deshalb eigentlich Einzigartigkeit ausschließt. Wenn man mit Kunst wirtschaftet, wie zum Beispiel Kunsthändler es tun, verliert die Kunst ihre Einzigartigkeit, die sie von der Wirtschaft erhalten hat. Über den künstlerischen Wert, den Eigenwert der Kunst, der vielleicht in einer bestimmten Art der Wahrnehmung, Ästhetik oder emotionalen Reaktion liegt, ist damit noch nichts gesagt. Man sollte also denken, dass wenn ein Kunstwerk von allen als schlecht, hässlich und überflüssig und als frei von künstlerischem Eigenwert empfunden würde, auch der ökonomische Fremdwert kaum besonders hoch werden dürfte. Zu beobachten ist faszinierenderweise das Gegenteil:6 In den 1970er Jahren, zu genau dem Zeitpunkt, als Geld seine Deckung in einem zumindest formal bestehenden Goldstandard verlor und völlig frei flottierte, 5 | Milton Friedman bringt das in dem ihm zugeschriebenen berühmten Satz »Inflation is always and everywhere a monetary phenomenon« auf den Punkt. 6 | Dies führt Türcke aus: C. Türcke: Mehr!, S. 309ff.
Kapitel 13 – Der Wer t des Eigenen und des Fremden
als der Neue Neoliberalismus aufkam mit, wie wir oben dargelegt haben, seiner zentralen Aufgabe der Geldbeglaubigung, auch durch symbolische Nachbildung aller Art, als also die Selbstreferenzialität des Geldes maximal wurde, änderte sich im Zuge dessen auch die Bedeutung der Kunst, ein ebenso abstrakter und symbolischer Bereich wie die Geldwirtschaft. Die avantgardistische Kunst verblasste. Sie hatte sich einst von der traditionellen Kunst absetzen wollen, in der sie ein Opfer des »bürgerlichen Vermessungsbetriebs« 7 sah. In unseren Termini können wir es so formulieren: Der Wert traditioneller Kunst lag einerseits in einem Eigenwert, der vielleicht in etwa in der Bedeutung eines Kunstwerks, in den von ihm ausgelösten Emotionen bestand. Und er lag andererseits in einem geldwerten Fremdwert, der gekoppelt war an eher objektive Größen wie die handwerkliche oder technische Meisterschaft des Künstlers. Je mehr solche Kunst nun zu einer Handelsware wird, desto mehr verschiebt sich das Verhältnis hin zum Fremdwert. Das damit verbundene Gefühl der Entfremdung kritisierten die Avantgardisten und machten mit Kunstwerken auf sich aufmerksam, die überdeutlich den Eigenwert von Kunst betonten, das was Kunst eigentlich ausmacht: die subjektive Bedeutung und emotionale Besetzung des Kunstwerks. Türcke nennt eine monochrome Leinwand, ein auf den Kopf gestelltes Pissoir und eine Fettecke als Beispiele für avantgardistische Kunst. Für sie gibt es keine objektiv plausiblen Qualitätsmessungskriterien mehr. Die auf Messbarkeit beruhende Ökonomisierung der Kunst, die ihr einen fremden Geldwert zumessen zu können glaubt, wurde so infrage gestellt. Gerade diese Auflehnung gegen Maß und Messbarkeit und die Betonung des künstlerischen Eigenwertes aber machte nun die avantgardistische Kunst in den 1970er Jahren interessant für den Kunstmarkt, für die Ökonomie des Neuen Neoliberalismus. Wir haben argumentiert, dass dieser sich dadurch auszeichnete, dass er Geldbeglaubigung als primäres Ziel jeder menschlichen Tätigkeit setzte und damit auch Wirtschaft entgrenzte. Wie aber kann man seine Macht und Stärke wirkungsvoller beglaubigen als durch einen Sieg über seinen stärksten Gegner? Wenn Geld es schafft, seine größten Feinde zu besiegen, dann ist sein Wert glaubwürdig. Weil sie sich gegen Ökonomisierung wendete, ist die avantgardistische Kunst die perfekte, eindrucksvolle Trophäe des Ökonomismus. Ihre Werke erzielen inzwischen Höchstpreise, »weil sie das einzige 7 | Ebd., S. 312.
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Kunstkriterium, das der Markt noch übrigließ, erfüllt haben: das Trophäenkriterium« 8. Das heißt aber auch: Die Fremdbeglaubigung ist total und als solche auf den ersten Blick gar nicht mehr erkennbar, denn wo ist noch der Unterschied zwischen affirmativer und subversiver Kunst, wenn sie sich von dem, was sie am meisten kritisiert, in den Dienst stellen lässt? Ökonomisierte Bereiche verlieren tendenziell ihren Eigenwert. In einer ökonomisierten, entdifferenzierten Gesellschaft zählt nur noch ein Wert: der Geldwert. Nicht nur für die Kunst, sondern für alle Bereiche außer Wirtschaft ist das aber ein Fremdwert. So werden alle gesellschaftlichen Bereiche zur Geldbeglaubigung dienstbar gemacht. Ein ungedecktes, frei flottierendes, körperloses Geld, das göttlichen Charakter bekommt und sich zu inkarnieren versucht, in der Kunst, in der Technik, aber auch in menschlichen Körpern, bedarf seiner Beglaubigung gleichzeitig immer mehr. Auch für den Bildungsbereich gilt das. Bildung geldförmig zu organisieren und damit ihre formale Struktur dem Geld symbolisch nachzubilden, mag ihr pathetisch gesagt das Gesicht eines neuen Gottes geben, aber hat das ihr Eigene damit keineswegs geschaffen. Durch Elitisierung, wie sie explizites Kennzeichen der Exzellenzinitiative ist, also durch eine Art Verknappung von Bildungsprozessen, mag der Bildungsbereich eine Steigerung an Wertschätzung erfahren, aber das ist ein ökonomischer Wert, ein Fremdwert. Wenn hingegen der Eigenwert der Bildung verloren geht, heißt das schlicht Folgendes: Man kann immer noch Gedichte von Goethe auswendig lernen, aber sie bedeuten nichts Humanistisches mehr. Sie helfen nicht mehr bei der Ichwerdung, man kann sich in ihnen nicht mehr reflektieren. Man wertschätzt sie nicht mehr als klassisches Bildungsgut; vielleicht nimmt man sie nicht einmal mehr ernst und trägt sie höchstens wie Markenprodukte als Symbol für seinen gesellschaftlichen Status vor sich her. Es kommt zu der Situation, die Liessmann und Krautz beklagen (siehe Kapitel 1), nämlich dass nur noch Wissenspartikel ausgetauscht werden, dass nur noch Faktenwissen zu Fremdzwecken stur gepaukt wird. Dann ist natürlich auch der Lateinunterricht sinnlos, wenn nur blind Vokabeln und Grammatikregeln gelernt werden, ohne dass all das an sich etwas bedeutet. Die Liessmann’schen Wissenspartikel sind schließlich nichts anderes als die Naturalien der Bildung – das was in der Wirtschaft die realen Güter sind, die bei einer Hyperinflation un8 | Ebd., S. 314.
Kapitel 13 – Der Wer t des Eigenen und des Fremden
bewertet gegeneinander getauscht werden. Der Kartoffel entspricht die Lateinvokabel, dem Kartoffelauflauf die lateinische Satzstruktur. Der Tomate entspricht die mathematische Variable, dem Tomatensalat die quadratische Gleichung, dem Kochrezept die Lösungsformel. Wenn wir uns aber im Bereich der Werte bewegen, müssen wir insbesondere fragen, was etwas für die eigene Sphäre bedeutet und nicht nur für die fremden, denn eine moderne Gesellschaft ist eigentlich eine ausdifferenzierte. Ein Unternehmen macht aus Tomaten Tomatensalat und hat so einen monetären Mehrwert geschaffen – nur um ihn geht es in der Wirtschaft, nicht um den kulinarischen Mehrwert, der wäre ein Fremdwert. In der Wirtschaft handeln wir, weil wir vom Geldwert her denken und diesen vermehren wollen. Alles andere ergibt sich aus dieser Grundmotivation. Im Bildungswesen, das selbst auf universitärem Niveau immer mehr zur Berufsausbildung verkommt, zur Ausbildung perfekter Angestellter und selbstoptimierter Problemlöser, und das diese Ausbildung in Bildung umdefiniert, tun wir das inzwischen auch, nur ist dort der Geldwert eigentlich ein Fremdwert. Geld ist nur ein Symbol für den Wert von Bildungsinhalten, wenn diese ihm nachgebildet werden. Wer heute als Lehrer oder Dozent tätig ist, merkt sicher bisweilen, dass das Engagement von Schülern und Studenten sprunghaft steigt, sobald der Nutzen für den späteren Job erkennbar wird, wie sich die jetzige Mühe einmal in Geld auszahlen wird. Wenn klar ist, was man damit später einmal verdienen kann, sind plötzlich auch Lateinvokabeln wieder wertvoll. Aber Geld ist ein Fremdkörper im Bildungswesen und dürfte eigentlich nur als Rahmenbedingung damit überhaupt in Kontakt kommen. Seine Fähigkeit zur Fremdbeglaubigung erzeugt nur Glauben an die ökonomische Form von Bildung, nicht an den humanistischen Inhalt. Sie zombifiziert letztlich, wenn sich ihr nicht eine Eigenbeglaubigung hinzugesellt. Denn darin bestand ja gerade das Wesen der Zombies: im Körper ohne eigenen Geist. Wie Zombies wandelt eine humanistisch leere und nur aus dem ökonomischen Körper bestehende Bildung umher. Auch von dem mit akademischen Titeln verbundenen gesellschaftlichen Status und der politischen Macht kann Bildung nur fremdbeglaubigt und damit zombifiziert werden, wenn es keine Eigenbeglaubigung gibt, die auf diese Weise verstärkt werden könnte. Wenn dieses Eigene, die Identität, aus fremden gesellschaftlichen Bereichen zusätzlich beglaubigt und bestärkt wird, umso besser. Die eigentliche Beglaubigung aber bleibt die Eigenbeglaubigung, diejenige aus der eigenen Rationalität he-
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raus. Nicht durch Verknappung wird Bildung wertvoller, sondern indem man sie darin bestärkt, das zu sein, was sie ist. Der eigene und damit eigentliche Wert der Bildungsnaturalien, der Wissenspartikel oder auch gewonnener Erkenntnisse ist nicht in Geld zu messen. Was aber ist jener wahre Wert der Bildung? Wir haben ihn schon als humanistisch bezeichnet und mit Ichwerdung in Verbindung gebracht. Man kann sich nur selbst bilden. Und mit »sich selbst« ist eben nicht der perfekte Angestellte und selbstoptimierte Problemlöser gemeint. Menschen dazu zu degradieren, heißt im besten Fall, sie auszubilden. Bildung hingegen meint, sein Ich zu bilden und das heißt, es zu schaffen durch Ichreflexion an selbst gewählten Bildungsinhalten. Wenn wir Eigenes gebildet haben, können wir auch dem Fremden gegenübertreten und es uns aneignen, wenn wir wollen. Dann hilft uns das Fremde dabei, wir selbst zu sein, anstatt uns zu zombifizieren, dann verstärkt sich die eigene Identität. Dann bleibt Wirtschaft eine generative Metapher, die funktional hilft, aber Bildung nicht aushöhlt. Das Eigene durch Aneignung des Fremden bilden – ein Bildungswesen, das diesen Grundsatz ernst nimmt, bewertet die potenziellen Werteträger von Bildung wie Sprachen, Literatur, mathematische Objekte, ja selbst noch ökonomische Modellkonstrukte, anstatt sie zu verwerten. Die Schule könnte einem verschiedene von diesen Werteträgern vorführen, damit sich jeder den für sich passenden heraussuchen und an der Universität vertiefen kann. Dass mit einer solchen humanistischen Bildung auch Wissen einhergeht, das man für berufliche oder andere Fremdzwecke verwenden kann, ist ein zusätzlicher Ansporn, um das Eigene zu bilden. Eine Wirtschaft, die dem Menschen diente, wie die originalen Neoliberalen es noch forderten, würde das genau so sehen, anstatt ihre Bedürfnisse auch in fremden Bereichen für primär zu halten.
Kapitel 14 Das Ich und das Geld
Doch was ist nun endlich dieses Ich, das da gebildet werden soll? Dieser Begriff lässt sich leicht in den Mund nehmen, aber bei genauerer Betrachtung umso schwerer greifen. Wir haben Identität schon auf ökonomische Weise als aus Tauschvorgängen entstanden begreifen können. Beim Äquivalententausch sind die Tauschenden in ihrer Ungleichheit gleich. Jeder hat andere Güter, die aber wertmäßig gleich sind. Die Keimzelle von Abstraktion und Identität ist aus dieser Sicht die wirtschaftliche Sphäre. Auch der Begriff des Ichs wäre demnach von Beginn an mit der wirtschaftlichen Sphäre verbunden. Das Ich ist das Eigene, das Eigentümliche – das Eigentum, ein Begriff, der wiederum ins Wirtschaftliche verweist und seine Aura, wie Türcke herleitet,1 wiederum in der sakralen Sphäre hat, nämlich in der Aura des Tempelschatzes, der durch Opfergaben der Glaubensgemeinschaft zustande kam. Auch in der Philosophie, die wie wir schon bemerkt haben, häufig Bezüge in die ökonomische Sphäre vernachlässigt, spielt der Ich-Begriff seit Jahrhunderten eine große Rolle. In seinem Buch »Ich ist nicht Gehirn« skizziert der Philosoph Markus Gabriel einige Meilensteine des Ich-Begriffs in der Philosophiegeschichte. Nachdem das Ich im Zuge der ImagoDei-Vorstellung des Meister Eckhart erstmals Erwähnung fand, war es vor allem der viel zitierte Satz von Descartes, »Ich denke, also bin ich«, in dem das Ich eine Rolle spielt. Darauf rekurriert Ende des 18. Jahrhunderts der »fast vergessene Großmeister der Ich-Philosophie«2, Johann Gottlieb Fichte, mit seiner Vorstellung des Ichs als Wissens-Subjekt: Wer etwas weiß, ist ein Ich. Im beginnenden 20. Jahrhundert wird Sigmund Freud 1 | C. Türcke: Mehr!, S. 96. 2 | M. Gabriel: Ich ist nicht Gehirn, S. 222.
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seine berühmten Begriffe Ich, Über-Ich und Es entwickeln. Von diesen dreien zeichnet sich das Ich vor allem durch Rationalität aus. Wer ein Ich ist, kann seine Einstellungen zu sich selbst und zu anderen durch Gründe stützen und rechtfertigen.3 Er kann sich als bewusst und selbstbewusst erleben. Letztlich zielt Markus Gabriel darauf ab, zu verdeutlichen, dass das Ich keine biologische Sache ist. Unser Anliegen ist darüber hinaus zu verdeutlichen, dass das Ich keine ökonomische Sache ist. Das Ich ist nicht auf naturwissenschaftlich beschreibbare Dinge wie das Gehirn reduzierbar, wenn auch diese biologischen Grundlagen natürlich zur Menge der Voraussetzungen gehören, ohne die ein Ich nicht existieren könnte. Genauso aber verhält es sich mit den ökonomischen Voraussetzungen. Das Ich mag im ökonomischen Kontext entstanden sein, aber es ist so wenig auf ein Wirtschaftssubjekt reduzierbar wie auf ein Gehirn. Ökonomische Sachzwänge können die Willensfreiheit der Menschen letztlich genauso wenig aushebeln wie die Gültigkeit der Naturgesetze dies kann. In einer faszinierenden und ausführlichen Kulturgeschichte schildert Fritz Breithaupt in seinem schon erwähnten Buch »Der Ich-Effekt des Geldes« die Entwicklung des Ich-Begriffs konkret und für unsere Zwecke besonders zielführend im Bezug zum Geld.4 Mit dem Aufkommen der Moderne wird die mittelalterliche Imago-Dei-Vorstellung des Ichs zunehmend als nicht ausreichend empfunden und die Versuche, das Ich anders zu greifen und dingfest zu machen, mehren sich. Es taucht sehr rasch ein Motiv auf, das von der Suche nach dem Ich so schnell nicht mehr zu trennen sein wird: die Projektion des Ichs auf Eigentum. Aber der Begriff des Eigentums stellt sich als ebenso flüchtig heraus: Was ist wirklich mein Eigentum? Mein Körper? Diesen nahe liegenden Gedanken hatte im 17. Jahrhundert John Locke und sah im eigenen Körper das erste natürliche Eigentum. Was sollte einem mehr gehören als der eigene Körper? Aber wie verhält es sich dann mit der an den Körper gebundenen Arbeitskraft? Sie wird von der Gesellschaft gebraucht und beispielsweise nicht unabhängig von einer politischen Ordnung eingesetzt. Damit wird aber ein Teil des eigenen Körpers abhängig von sozialen Übereinkünften und ist nicht mehr ganz unter eigener Kontrolle. Nicht einmal der eigene Körper 3 | Ebd., S. 246f. 4 | Die folgenden Ausführungen folgen im Wesentlichen F. Breithaupt: Der IchEffekt des Geldes.
Kapitel 14 – Das Ich und das Geld
taugt damit grundsätzlich als Projektionsfläche des Ichs, als Eigentum. Rousseau schließlich entlarvt den Begriff des Eigentums an sich als Fiktion. Ein eigenes Grundstück etwa gehört nicht nur einem selbst, sondern auch etwa zu einem Staat. Wenn man aber das Ich nicht ausschließlich am Eigentum festmachen kann, weil sich dies als nicht wirklich eigentümlich herausstellt, woran dann? Man muss dazu wissen, dass die Suche nach einem Ich – Breithaupt spricht von dem Zwang, ein Ich sein zu müssen – seit dem 18. Jahrhundert immer verbreiteter war. Man könnte die Epoche des Sturm und Drang geradezu als Epoche der Individualität bezeichnen im Sinne jedoch einer Suche nach Individualität, gekennzeichnet durch die Erfahrung ihrer Abwesenheit. Das Ich wird als Unabhängigkeit und Autonomie imaginiert, die beschworen werden und die jeder haben soll, die aber immer abwesend bleiben. Denn all die individuellen Erfahrungen, die man gemacht zu haben beweisen muss, wenn man behauptet, sein Ich gefunden zu haben, sagen letztlich über das Individuum doch nichts aus. Zeittypisch ist, durch Extremtourismus, romantische Liebe, Selbstmord, durch eigenständige Reaktion auf Kunstwerke oder durch Eigentumserwerb sein Ich zu beweisen und dingfest zu machen. Doch stellt sich all dies als Ersatznarration zur Beglaubigung des Ichs heraus – nach dem Schema, das wir Breithaupt folgend schon auf den Begriff Effizienz angewandt haben. Die Ersatznarrationen dämpfen den Zwang, ein Ich zu suchen, weil sie suggerieren, es gefunden zu haben. Will man das Ich aber wirklich begreifen, stellt es sich, wie Effizienz und wie jeder Begriff, als flüchtig heraus. Selbst wenn man durch Projektion auf materielles Eigentum Eigentümer seines Ichs zu sein scheint, sagt das noch nicht, worin das Ich tatsächlich besteht. Und selbst wenn man durch individuelle Projektion auf Kunstwerke sich selbst als Bild des Kunstwerks empfindet und den Selbstzweckcharakter der Kunst so auf sich abbildet, handelt es sich doch letztlich hierbei wie im Falle des Eigentums nur um eine Projektion. Wieder lässt sich das Ich nur als narrativ zu beglaubigende Fiktion begreifen. Der entscheidende Einschnitt in der historischen Entwicklung des Ich-Begriffs findet Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der romantischen Epoche statt. Breithaupt datiert deren Beginn auf den Moment, in dem auch das ungedeckte Papiergeld die Bühne der Geschichte betritt: 1797. So wie die Romantik insgesamt als Reaktion auf den neuen Geldglauben verstanden werden kann, macht auch der Ich-Begriff eine
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symbiotisch am Geld hängende Entwicklung durch. Im Zeitalter der Romantik differenziert sich die Struktur aus, die wir auch heute noch als kennzeichnend für das Verhältnis von Wirtschaft und Bildung beschrieben haben: ihre Strukturähnlichkeit, aufgrund derer sich beide Bereiche so vortrefflich symbolisch beglaubigen können, und ihre andererseits völlige innere Verschiedenheit, die sie sich gegenseitig so diabolisch erscheinen lässt. In der Romantik werden Geld und Ich strukturhomolog. Die Zäsur, die die Entstehung des ungedeckten Papiergeldes – die Erfahrung, dass Geld gerade dann am besten funktioniert, wenn es nicht materiell, sondern nur durch Glauben gedeckt ist – im Denken der Menschen hinterlassen hat, ist kaum zu überschätzen und in Kunst und Literatur immer wieder reflektiert worden. Goethes Faust ist da nur das prominenteste Beispiel. Was die Romantiker am Ende erkennen und was für sie ein Skandal ist, mit dem sie zu kämpfen haben, ist die Geldförmigkeit des Ichs, der Umstand, dass das Ich keinesfalls das ganz und gar Andere des Geldes ist – ja dass Geld womöglich sogar das bessere Ich ist, weil es reiner und abstrakter ist. Bildung, der Prozess der Ichwerdung, stellt sich als struktureller Abklatsch von Kapitalbildung, dem Prozess der Geldwerdung, heraus. Denn ungedecktes Papiergeld hat die teuflische Eigenschaft, sich scheinbar selbst vermehren zu können – grenzenlos. Wir haben bei der Beschäftigung mit Vogls Buch »Kalkül und Leidenschaft« (siehe Kapitel 5) schon erfahren, dass Geld und Wirtschaft seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr als geregelter Kreislauf zur Bedürfnisbefriedigung veranschaulicht werden kann, sondern als sich durch Zahlungen selbst erhaltendes System, das auf Kredit beruht und daher auf die offene Zukunft hin ausgerichtet ist. Aus der Gleichgewichtsorientierung der Wirtschaft wurde eine Wachstumsorientierung. Der 1797 entdeckte Glaube an das Papiergeld läutete das auf Kredit beruhende Zeitalter des Kapitalismus ein; seitdem ist Geld und dessen Vermehrung, mithin Kapital, das oberste Prinzip des Wirtschaftens, das sich bis heute auf alle möglichen Bereiche ausgedehnt hat. Das ans Geld gekoppelte Ich hat sich dazu völlig parallel entwickelt und den Geldglauben gestützt und sich vom Geldglauben stützen lassen. Man muss davon ausgehen, dass ohne den neuen, von den Romantikern, allen voran Humboldt und Fichte, eingeführten Bildungsbegriff der Ichwerdung der Kapitalismus niemals so erfolgreich geworden wäre und umgekehrt. Wenn wir uns bilden, beglaubigen wir Geld und lassen uns vom Geld beglaubigen.
Kapitel 14 – Das Ich und das Geld
Denn ausgehend von der Ende des 18. Jahrhunderts bekannten Erfahrung, dass das Ich nicht so leicht zu (be-)greifen ist und als Fiktion erscheint, konstruierten die Romantiker das Ich als Projekt, sie verschoben die Ich-Findung in die Zukunft an das Ende eines Bildungsprozesses. Man kann sein Ich deshalb nicht greifen, weil es immer am Werden ist. Das Ich dingfest zu machen, ist nun auch gar nicht mehr das Ziel, der Weg dahin ist vielmehr das Ziel. Dieser Bildungsweg führt Humboldt und Fichte zufolge über die reine Wissenschaft, die damals noch Philosophie war. In Humboldts Worten: »Daher hat der Universitätsunterricht keine Gränze nach seinem Endpunkt zu, und für die Studirenden ist, streng genommen, kein Kennzeichen der Reife zu bestimmen.«5 Der Bildungsweg wird zu einer Art romantischer Wanderung inklusive Blick von oben auf ein intellektuelles Nebelmeer. Durch Selbstreflexion, Selbstbezüglichkeit und Steigerung potenziert sich das Ich wie das Geld ohne endgültiges Ziel. Seit der Romantik ist das Ich wie das Geld das Potenzial seiner Vermehrung in einem dynamischen Wachstumsprozess. Wachstum wird zum Selbstzweck und zum eigentlichen Ziel des Wirtschaftens wie der Bildung – und in beiden Fällen möglich durch Tauschprozesse. Geld wird durch Tauschprozesse, in denen Mehrwerte geschaffen werden, mehr wert. Das Ich wird sich entsprechend nur durch Offenheit gegenüber dem, was es noch nicht ist, ausdehnen können. Was es noch nicht ist, das Fremde, wird so zur Wachstumsbedingung des Eigenen. Wir sind diesem Motiv in der Systemtheorie als strukturelle Kopplung operativ geschlossener Systeme begegnet und bei dem Gedanken, dass Fremdbeglaubigungen Eigenbeglaubigungen unterstützen können. So ist die Ich-Bildung auch ein Prozess der Sozialisation – und auch darin gleicht es dem Geld, das durch kooperative Tauschvorgänge gesellschaftsbildend wirkt. Aber die Romantiker sind eben auch beunruhigt von der Selbstreflexivität des Geldes, von seiner Fähigkeit, sich in Zirkelschlüssen selbst beglaubigen zu können. Denn kann es nicht sein, dass das Ich möglicherweise vom Geld kontrolliert wird, dass der Prozess der Individuation, die Bildung des Ichs, vom Geld angeleitet wird? Ist es nicht letztlich das Geld, das die Menschen in diesen Bildungsprozess zwingt und zu endlosem 5 | Wilhelm von Humboldt: Ueber die mit dem Koenigsbergischen Schulwesen vorzunehmenden Reformen, in: »Der Königsberger und der Litauische Schulplan«, in: W. von Humboldt: Werke in fünf Bänden, Band IV.
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Wachstum durch Selbstreflexion verurteilt? Denn Geld ist schließlich abstrakter als das Ich; mit dem Geld anderer Leute kann ich etwas anfangen, mit ihrem Ich nicht. Ist Bildung nur eine nützliche Illusion zur Geldbeglaubigung bzw. eine Unterwerfung unter Geldherrschaft? Im Teufelspakt findet dieses Dilemma der Romantik seinen Ausdruck. Geld oder Ich – woran will man seine Seele hängen, woran will man mehr glauben, was stiftet mehr Sinn? Breithaupt beschreibt in diesem Zusammenhang die romantische Erfindung der Nostalgie, die den Eindruck der Romantiker kultiviert, Geld und Ich seien in einem Teufelspakt vermischt worden, nachdem sie in einem früheren Zustand noch getrennt waren. Nostalgie entsteht als Sehnsucht nach jener Zeit vor dem Teufelspakt zwischen Ich und Geld. Unter anderem diese Bedeutung dürfte Nostalgie bis heute behalten haben: Die Sehnsucht nach der Zeit vor der Ökonomisierung, wobei diese Zeit jedoch gar nicht so leicht definierbar ist. Am Ende, so Breithaupt, sahen die Romantiker Geld überall und keinen anderen Ausweg, als allenthalben Begrenzungen zu fordern. Wenn man Geld und Wirtschaft schon nicht entkommen kann, auch nicht durch Bildung, dann muss man sie wenigstens zu begrenzen versuchen. Die der Romantik folgende Epoche in der Geschichte des Ich-Begriffs datiert Breithaupt auf 1848 bis 1871. In ihr kommt es zu einer weiteren interessanten Konstellation zwischen den Begriffen Ich und Geld. Sie ist die Geburtsstunde des homo oeconomicus, der die Erkenntnis, dass man Geld und Wirtschaft nicht entkommen kann, noch verschärft, indem er von vornherein alle Handlungen wirtschaftlich interpretiert. Allem, was jemand tut, wird Selbstinteresse unterstellt. Jede Handlung wird als von Vorteilsdenken verursacht entlarvt. Die Inkarnation der ökonomischen Begrifflichkeiten hat in dieser Zeit ihre wesentlichen Impulse bekommen. Es wird einfach überall wirtschaftlich motiviertes Handeln unterstellt und damit eine Ersatznarration geschaffen, die die wirtschaftlichen Motivationen letztlich erst in der realen Welt verankert. Der homo oeconomicus ist also ein Beobachter, ein Interpret von Handlungen und Motivationen als wirtschaftliche. Er erst schafft die ökonomistische Sichtweise auf die Welt, indem er jede Handlung als ökonomische Geschichte erzählt. Was Menschen auch tun, geschieht aus Sicht dieses Beobachters als angetrieben von Selbstinteresse. Das Ich wird zum Selbst umgedeutet. Menschen nehmen eine Ich-bin-was-andere-in-mir-sehen-Logik an, die auch heute noch verbreitet ist. Der homo oeconomicus, der Beobachter des Selbstinteresses, implementiert so, vielleicht ohne es zu wollen, end-
Kapitel 14 – Das Ich und das Geld
gültig Geld als Universalmacht der Gesellschaft, in der die Eigenschaften des Geldes wie Geschichtslosigkeit, Zukunftsfixiertheit oder Aktivität Paradigma werden. Er schafft sich über ökonomische Ersatznarrationen zur Begriffsbeglaubigung seinen Gott – und lässt dennoch gleichzeitig eine Nische für das vermeintlich wahre Ich. Denn der homo oeconomicus, wenn er überall Selbstinteresse diagnostiziert, sieht sich selbst als außenstehender Beobachter. Er, der allen ein unbewusstes Befolgen ökonomischer Gesetze unterstellt, handelt selbst scheinbar frei und diesen Gesetzen nicht unterworfen. Er bewahrt die Vorstellung eines von Geld und Wirtschaft freien Ichs auf und schafft damit einen neuen menschlichen Typus: den Intellektuellen. War in der Romantik noch der Künstler die Idealgestalt des Ichs, so ist das ab Mitte des 19. Jahrhunderts der Intellektuelle. Nur im Beobachten kann man noch Ich sein. Als Gegenüber des Intellektuellen erweist sich der Unternehmer. Beide sind – nach dem immer gleichen Schema – formal so gleich und inhaltlich so verschieden. Beide produzieren Neues, der Intellektuelle aber im Geiste des Ichs, der Unternehmer explizit im Geiste des Geldes. Dass der Intellektuelle aus dem homo oeconomicus hervorgegangen ist, ist ein weiteres Beispiel für die Verwurzelung des Logos, des abstrakten Denkens in der Ökonomie. So wie das Ich zum Selbst wird, wird auch der Bildungsbegriff ökonomisiert; Bildung wird Selbstwerdung. Selbstinteresse wird als lernbar verstanden. Doch hier handelt es sich mehr um die Ausbildung des Selbst als um die Bildung des Ichs. Noch ein Vergleich bietet sich an: Ausgebildet werden kann der Akademiker bzw. sein strukturelles Pendant, der Manager. Beide sollen Erlerntes anwenden. In ihnen steckt ein Element der Abhängigkeit. Gebildet werden kann hingegen der Intellektuelle bzw. sein strukturelles Pendant, der Unternehmer. Beide sind selbstständig und unabhängig, sie üben nicht nur einen Beruf aus, sondern fühlen eine Berufung. Sie sind Pioniere, die Neues schaffen, anstatt Altes zu verwalten. Aber der Akademiker und der Intellektuelle orientieren sich am Ich, der Manager und der Unternehmer am Geld als Begriff der Begriffe. So kann es leicht zwischen beiden Gruppen zum Glaubenskampf um den wahren Gott kommen. Diese Epoche mitten im 19. Jahrhundert dürfte mithin die eigentliche Geburtsstunde der ökonomischen Wissenschaft sein, wie wir sie heute betreiben: als Theologie, als Hinführung zum Geldglauben. Wenn man den wichtigsten Gedanken bei alldem vergisst, dass es nämlich der Beobachter ist, der die ökonomische Welt erst erschafft, indem er sie so
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beschreibt, bekommt man den Eindruck, das Geld agiere eigenständig. Nur so wird es überhaupt möglich, Geld zu vergöttlichen oder auch nur »das Kapital« als Akteur anzusehen, wie Marx es damals tat. Es ist daher wichtig, wenn nicht der wichtigste Gedanke überhaupt in der Diskussion des Ökonomismus, sich zu vergegenwärtigen, dass es Zuschreibungen von Beobachtern sind, die im Geld einen Akteur sehen, die ihm einen Vermehrungs- oder Erhaltungsdrang unterstellen, die sagen, es würde »arbeiten«. Genauso ist die Geldförmigkeit der Welt eine solche Zuschreibung: die Unterstellung, dass wenn nicht Geld direkt, dann eben anderes vermeintliches Kapital selbstinteressiert maximiert wird: Ruhm, Ehre, Anerkennung, Libido usw. Die Literaturwissenschaft ist prädestiniert, auf die konstruktivistische Natur der Beobachtungen hinzuweisen, weil sie an einen Weltzugang über konstruierte Zeichen- und Symbolsysteme, Literatur eben, gewöhnt ist. Der Beobachter, der Ökonom, ist also zunächst der homo oeconomicus, nicht der in der Wirtschaft Handelnde. Luhmann wird in der Systemtheorie beide Typen dadurch unterscheiden, dass er Beobachter ersten und zweiten Grades einführt. Ein Unternehmer oder ein Investor beispielsweise wären Beobachter ersten Grades. Sie beobachten die Handlungen anderer und ziehen daraus für ihre eigenen Handlungen Schlüsse. Der homo oeconomicus, der Beobachter zweiten Grades, dagegen beobachtet den Beobachter ersten Grades, interpretiert sein Handeln ökonomisch und schafft so das ökonomische Weltbild, das allgemein vermittelt, geglaubt und als Handlungsgrundlage verwendet wird. So werden Begriffe Realität. Durch solche Naturalisierungen wird die neue techno-ökonomische Welt geschaffen und für alternativlose Wirklichkeit gehalten. Als Beobachter dritten Grades sehen wir schließlich diesem ganzen Geschehen zu. Die nächste Entwicklungsepoche des Ich-Begriffs legt Breithaupt in die Zeit von 1871 bis 1900. Es ist die Epoche der Reinheit, nach der jeder gesellschaftliche Bereich strebt. Die Politik will nur politisch sein, die Wirtschaft nur wirtschaftlich usw. In der Ökonomik etwa wird die reine ökonomische Theorie entwickelt, die noch heute als Theorie des Allgemeinen Gleichgewichts didaktische und ideologische Grundlage des Ökonomikstudiums ist und deren zentraler Effizienzbegriff der Ökonomik als eigenständige Wissenschaft ihre Identität gibt. Gereinigt von allem nicht Wirtschaftlichen will sich die Wirtschaft zu jener Zeit als rein wirtschaftlich, als rein auf Effizienz hin ausgerichtet, verstehen. Die
Kapitel 14 – Das Ich und das Geld
Ökonomik wird zur Effizienztheorie. Autonomie und das Fernhalten von Fremdeinflüssen ist das Gebot der Stunde. Das heißt aber auch, dass jede Sphäre von nun an sich in eine Art Form und Inhalt spaltet; Breithaupt nennt diese zwei Komponenten stattdessen Ort und Akt. Jedenfalls wird klar, dass zwischen Wirtschaft und dem Wirtschaftlichen unterschieden werden muss, zwischen Politik und dem Politischen, zwischen Kunst und dem Künstlerischen usw. Wirtschaft kann politisch sein – oder wie Breithaupt es ausdrücken würde: Der Akt der Politik kann am Ort der Wirtschaft stattfinden. In der Vorstellung der damaligen Zeitgenossen soll das nicht sein, jede Sphäre soll für sich selbst sein. Doch natürlich erweisen sich die Sphären als unrein, als nicht abgrenzbar. Dem entspricht die Ländermetapher: Deutschland und Frankreich mögen politisch klar abgrenzbar sein, aber Deutschland ist immer auch ein bisschen französisch und Frankreich deutsch, was immer diese beiden Begriffe konkret bedeuten mögen. Das heutige postmoderne Zeitalter der Globalisierung zeichnet sich gerade durch solche Entgrenzungen aus. Die Idee der Reinheit der Sphären ist inzwischen passé, gerade die Ökonomie wird schon damals als grenzüberschreitend und dominant wahrgenommen. Für die Zeit um 1900 diagnostiziert Breithaupt entsprechend die endgültige totale Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Bereiche. Dass es etwas nicht vom Geld Durchdrungenes geben könnte, wird zur Illusion, zum Wunschtraum. Wieder wird versucht, durch Projektion auf Eigentum das Ich dingfest zu machen, in der damaligen Epoche bevorzugt auf Wohneigentum, aber auch das eigene Haus (oikos) lässt sich nicht im Außerökonomischen verorten, höchstens als Projektion, solange es sich im Bau befindet. Es bleibt nun nichts anderes mehr übrig, als das Ich innerhalb der Ökonomie zu suchen, sei es als Phantom, von dem man akzeptiert, dass man es nicht dingfest machen kann oder nur als Maske, mit der man das Sich-Bewegen in der Gesellschaft als Rollenspiel verstehen kann – so erklärt sich, dass damals gesellschaftliche Typen wie zum Beispiel der Angestellte oder der Chef entstehen, auf die man die eigene Identität projiziert. Wer am besten seine Rolle spielt, ist nach jenem Verständnis am meisten bei sich. In den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts schließlich setzt sich endgültig das durch, womit wir uns hier auseinandersetzen: Die Symbole Ich und Geld werden selbst symbolisiert oder eben repräsentiert. Das kultische Element in die Wirtschaft wird endlich erkannt. Es sind auch die Jahre, in denen Walter Benjamin sein berühmtes Fragment »Kapitalismus als Religion« veröffentlicht, in
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dem er den Kapitalismus als Kultreligion bezeichnet und damit den Zeitgeist trifft. Das Ich mag nicht greif bar sein, aber es ist kultisch in einem Repräsentanten verehrbar, in einem Film- oder Opernstar, in erfolgreichen Sportlern und am Ende auch in einem politischen Führer. Noch heute repräsentiert eine demokratische Regierung das Volk nicht nur im Sinne, dass es dessen Willen ausführt, sondern auch symbolisch, etwa durch eine transparente Architektur von Regierungsgebäuden, den Besuch des Regierungschefs von großen Sportevents, Kranzniederlegungen oder dem Vorbildcharakter von Politikern. An der prinzipiellen totalen Ökonomisierung ändert das wenig. Der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg attestiert Breithaupt die offene Ökonomisierung der Individualität, die Projektion des Ichs nun vor allem auf die Rolle des Konsumenten. Jetzt werden sogar Firmen und Waren individualisiert, bei Starbucks etwa trägt der Kaffee den eigenen Namen – es sei denn, man gibt absichtlich einen falschen Namen an. Was ändert das? Dass das Ich nur eine Projektion, Rolle oder Maske ist, dass die Identität flüchtig ist, scheint so akzeptiert zu sein wie die ökonomisierte Welt als zweite Natur, wie die Herrschaft des vergöttlichten Geldes. Je est un autre. Wirtschaft und Politik sind zu Spielen geworden; über Medien vermittelt sehen wir der Welt bei ihren Problemen zu wie Touristen, die in einem Reisebus durch ein armes Land fahren. Als Tourist wollen wir individuell sein und sind doch nur ein Punkt in der Masse der Individualtouristen. Von Authentizität spricht jeder, die Tourismusindustrie etwa muss sie garantieren, aber Authentizität können wir sowenig dingfest machen wie das Ich. Auch sie ist ein industrielles Produkt, eine Fiktion, die denen als real erscheint, die die allumfassende Vermitteltheit der Welt durch Geld übersehen, die die Narrative, die Geschichten, die die Wirtschaft erzählt, für Realität halten, die die neu geschaffene techno-ökonomische Welt mit dem Original verwechseln, wie wenn jemand einen Roman mit einem Tatsachenbericht verwechselt oder den Beobachter ersten mit demjenigen zweiten Grades. Müssen wir das Ich also als Illusion verbuchen? Und damit die Idee der (Neu-)Humanisten, dass selbstständige Individuen sich durch wissenschaftliche Forschung zu sittlicher und geistiger Vervollkommnung und damit immer mehr zur Individualität hin steigern können? Ganz im Gegenteil, das Ich mag zunächst eine Fiktion sein, aber das ist Geld auch. Aus Fiktionen wird Realität. Es kommt auf die Narration an, darauf, wie man über die Dinge redet. Gerade in Zeiten, in denen der Geld-
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glaube an seine ökologischen, kulturellen und sozialen Grenzen stößt, kann Bildung zum Ich und das Ideal einer Gesellschaft freier und dadurch verantwortlicher Individuen ein Ausweg sein, ein Gegengewicht zu gesellschaftlichen Entdifferenzierungstendenzen und monetärem Totalitarismus und Ökonomismus. Denn darauf, dass die Individualität in der modernen Gesellschaft nicht mehr wie in der vormodernen, stratifizierten Ständegesellschaft von der Zugehörigkeit zu einem Stand, einer Familie, einer Zunft oder ähnlichem festgelegt wird, sondern eher in der Koordination verschiedener Rollen besteht, die man in den einzelnen Gesellschaftsbereichen spielt, hat schon Luhmann hingewiesen. Das Individuum befindet sich der Systemtheorie zufolge in der Moderne nicht mehr direkt inkludiert, sondern außerhalb der Gesellschaft (Inklusion durch Exklusion), es muss ein gesellschaftlich unabhängiges Ich herstellen, das in den verschiedenen Gesellschaftsbereichen in jeweils partikulärer Funktion erscheint.6 Die Notwendigkeit, ein Ich zu bilden, kennzeichnet also gerade die Moderne, wie auch Breithaupt feststellt. Die für die Moderne gesellschaftstauglichen Menschen werden gebildet, indem man ihnen die Möglichkeit der Ichwerdung gibt, wie sie an der Schwelle der Moderne von Humboldt und anderen formuliert wurde. Intellektuelle Freiheit zur Ichwerdung zur Privatangelegenheit zu erklären, wie es heute de facto geschieht, ist nicht nur unsozial, weil sie Einigen vorenthalten bleibt, sondern verkennt auch, dass Ichwerdung in der Moderne die Form der Sozialisierung ist. Das Ich nimmt an der Gesellschaft teil, indem es in freier Selbstbestimmung seine verschiedenen Rollen koordiniert. Bildung heißt daher immer noch, sich zu schaffen, und wenn man in der Imago-Dei-Tradition auf das Bildmotiv rekurrieren will, könnte man sagen: zum Bilde seines Gottes, der nur in ökonomistischen Kreisen das Geld ist. Darin mag eine gewisse Gefahr der Selbstdeifikation liegen, aber auch die Chance der Sozialisation, gerade deshalb muss dieser Vorgang im gesellschaftlichen Rahmen, in Schulen und Universitäten, ablaufen und nicht als reine Privatsache. Dass der Mensch sich selbst als Gott setzt, ist im Übrigen eher das Vorgehen der Naturalisten, die die Welt technisch neu schaffen, inklusive menschlichen Körper und Geist – erinnern wir uns an die Nachbildungen von Michelangelos Gemälde aus der Sixtinischen Kapelle, in denen der Mensch Gott ersetzt und der Roboter den ersten Menschen Adam (siehe Kapitel 8). Die Bildung des 6 | Vgl. N. Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus.
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Ichs aber überhöht den Menschen nicht zu Gott und erniedrigt ihn auch nicht zum Tier. Sie ist humanistisch und gibt die Idee freier Individuen nicht auf, zu der auch all die oben beschriebenen Vorstellungen gehören, die sich im Ich-Begriff im Laufe der Zeit verdichtet haben: Die Möglichkeit, sich selbst zu schaffen, sich in dem zu spiegeln, was andere in einem sehen oder in seinem Eigentum, dass man durch die Welt gehen und nach Symbolen suchen kann, von denen man sich repräsentiert fühlt, und zwar durch die geistige wie die materielle Welt, dass man überhaupt frei entscheiden kann. Ich-Bildung sollte Kernaufgabe des Bildungswesens bleiben und seinen Eigenwert ausmachen. Niemandem sollte das Symbol, in dem man sich reflektieren und bilden will, von dem man sich repräsentiert fühlt, vorgeschrieben werden, denn diese Repräsentationen machen Momente, die man nur selbst erlebt haben kann, die original sind und nicht schon Zeichen, symbolisch wieder gegenwärtig (re-präsent). Schon gar nicht sollte die Repräsentation eines originalen Ich-Erlebnisses auf eine perfide Art als das Gegenteil dessen, was sie ist, ausgegeben werden. Denn dass der Geist des Geldes und der Effizienz das gesamte Bildungswesen durchdrungen haben, ist das eine, aber dass dies in Gestalt des Humboldt’schen Bildungsideals daherkommt, ist tatsächlich ein Missstand, den man benennen muss. Ein ökonomisierter Humboldt ist ein zombifizierter Humboldt. Hier wird menschliche Unfreiheit als Freiheit bezeichnet. Wahre Freiheit aber heißt, das Leben als eine Repräsentation selbst erlebter, originaler Momente leben zu dürfen.
Kapitel 15 Auf dem Weg zu einer Kulturwissenschaft der Wirtschaft
Dass die Gesellschaft Freiräume braucht vom Geldesdienst, ist ein Gedanke, der immer häufiger zu vernehmen ist. Einer vermeintlichen Gefahr von Selbstdeifikation mit Gelddeifikation zu begegnen, dürfte kaum der richtige Weg sein. Zunächst einmal gilt es zu erkennen, dass wir uns im wirtschaftlichen Bereich auf religiösem Terrain bewegen. Die Wirtschaft und das Wirtschaftliche hängen am Geld, und dieses ist eben nicht einfach nur aus profanen Tauschhandlungen entstanden, sondern in der religiösen Sphäre. Es basiert auf Glaube und Vertrauen mehr als auf Tauscheffizienz. Seine religiöse Herkunft ist keineswegs inzwischen irrelevant geworden, sondern erklärt ganz im Gegenteil, wie Wirtschaft und wirtschaftliches Denken überhaupt funktionieren. Man versteht Wirtschaft und damit die Wirtschaftsgesellschaft und Phänomene wie Ökonomismus und all das, was dies konkret bedeutet (die Allmacht der Banken, die Geldförmigkeit des Denkens, den Wachstumswahn usw.) nicht, wenn man, wie die Ökonomen es tun, Geld nur als Zahlungsmittel, als Schleier über der Realökonomie, als wirtschaftliches Gleitmittel versteht. Ökonomik ist immer schon ein Blick auf die Welt durch die Brille des Geldes. Eine kulturwissenschaftliche Wirtschaftswissenschaft kann hier einen Ausgleich schaffen. Bildungsprozesse auf ihrer Basis würden nicht automatisch zum Bilde des Geldes bilden, sondern – warum nicht als Ideal – zum Bilde des Ichs. Nach alldem, was zur Beziehung von Wirtschaft und Literatur gesagt wurde, bieten sich Literatur und Literaturwissenschaft geradezu als ideale Disziplin an, um Wirtschaft zu untersuchen. Literatur vermittelt die Welt sprachlich über das Medium der Schrift und nicht über Geld und grenzt Zeichen und Bezeichnetes sauber voneinander ab. Andererseits haben wir die enormen Strukturähnlichkeiten zwischen
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Wirtschaft und Literatur. Dazu gehört auch der Umstand, dass beide sich auf alles beziehen können und daher von Natur aus grenzüberschreitend sind und prädestiniert zur Vermittlung einer entgrenzten Welt über Narrationen. Literatur macht die Grenzüberschreitungen des Geldes sichtbar und verständlich. Christina von Braun bringt es auf den Punkt: »Sie [die Literatur] ist das Beste, vielleicht sogar das einzige Mittel, das uns verbleibt, ihrem Alterego, dem Geld, beizukommen. Gerade weil Literatur und Geld eine so enge gemeinsame Geschichte verbindet, bietet die Literatur auch die idealen Voraussetzungen, um das Geld als das darzustellen, was es ist: ein von Menschen erfundenes Schriftsystem. Im Faust II richtet sich Mephistopheles zum Abschluss des zweiten Akts an das Publikum mit den Worten: ›Am Ende hängen wir doch ab/von Kreaturen, die wir machten.‹ Es stimmt, Menschen haben das Geld gemacht, und sie hängen nun am Tropf dieser ihrer Erfindung. Aber die Menschen haben auch die Literatur geschaffen – und sie bietet ihnen die Möglichkeit, schöpferisch und reflexiv mit ihren Schöpfungen umzugehen.«1
Eine Gesellschaft, in der es moralisch weniger geboten ist, sich und die vom Geld neu geschaffene Welt in literarischen Werken zu reflektieren und sich so zum selbstbestimmten, verantwortlichen, mündigen Bürger zu bilden, als zu konsumieren, um Geld zu beglaubigen, muss sich früher oder später selbst den Boden unter den Füßen wegziehen. Es kommt zu den beschriebenen Entdifferenzierungsphänomenen und damit auch zu einer streng hierarchischen Gesellschaft, in der Geld die im Extremfall einzige Ordnungskraft ist, weil es das einzige Zeichensystem ist, dem noch Wert zugeschrieben wird. Denn bei all den postmodernen Entwertungsprozessen ist doch auffällig, dass der Geldwert in den letzten Jahrzehnten trotz expansiver Geldpolitik der Zentralbank erstaunlich konstant geblieben ist. Die postmoderne Skepsis bezüglich Metaphysik scheint diejenige des Geldes nicht mit einzubeziehen. Thematisiert werden von postmodernen Intellektuellen alle möglichen Entgrenzungserscheinungen, aber relativ selten die immer schwerer überwindlichen Grenzen zwischen Arm und Reich, Unten und Oben, Zugehörigen und Ausgegrenzten. Die Ungleichheit aber torpediert letztlich selbst die Grundfesten des Kapitalismus, von dem inzwischen ja selbst Marxisten
1 | C. von Braun: Gefühltes Geld. Literatur und Finanzmarkt, S. 43 [Herv. i. O.].
Kapitel 15 – Auf dem Weg zu einer Kultur wissenschaf t der Wir tschaf t
überzeugt sind, dass man ihn vor sich selbst retten müsse.2 Eine nach Vermögen und Einkommen geschichtete Gesellschaft, in der Oben und Unten, Reiche und Arme sich immer weiter voneinander entfernen, stellt eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt dar und nicht zuletzt auch für ein kapitalistisches Wirtschaftssystem die falsche Anreizstruktur. Warum für Geld arbeiten, wenn andere ein Vielfaches davon einfach so bekommen? Hier zeigt sich noch einmal die sinkende Relevanz der ökonomischen Theorie, die von Anfangsausstattungen weitgehend abstrahiert und Tauschprozesse in den Mittelpunkt des Interesses stellt. Für die Ökonomik ist es, anders als für eine kulturwissenschaftliche Wirtschaftswissenschaft, ein Problem, dass immer deutlicher wird, wie es in der neu geschaffenen techno-ökonomischen Welt vor allem auf das ankommt, was man einfach so bekommt, was man hat, und nicht auf das, was man sich erarbeitet. In einer von Geld und Technik neu geschaffenen stratifizierten Gesellschaft, in der die funktionale Ausdifferenzierung in den Hintergrund getreten ist, die Ökonomie über generative Metaphern die Teilsysteme ausgehöhlt hat und die Wirtschaft zum alleinigen System sich emporschwingt, dort ist natürlich auch das für den ursprünglichen Neoliberalismus zentrale Konzept der Rahmenbedingungen in dem Sinne hinfällig, dass die einzelnen Teilsysteme füreinander keine Umwelt mehr darstellen. Rahmen und Eingerahmtes sind nicht mehr voneinander abgrenzbar. Die Politik etwa ist nicht mehr die Umwelt der Wirtschaft, sie ist selber Wirtschaft. Wir haben oben schon gefragt: Sind Kündigungsschutz oder Mindestlohn politische Rahmenbedingungen oder wirtschaftliche Kalkulationsgrößen? Um das Konzept der Rahmenbedingungen in die neue Welt hinüberzuretten, wäre daher zu überlegen, ob dieses Konzept nicht inzwischen auch besser in Geldgestalt vorzustellen ist. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist die logische Konsequenz einer postmodernen Gesellschaft, die aus dem industriellen Zeitalter in eine neue techno-ökonomische Realität übergegangen ist und offenbar eine kohärente Möglichkeit, das Konzept des Sozialstaats und der Rahmenbedingungen in die neue Welt herüberzuretten. Damit würde auch individuelle Bildung erleichtert, da die Sorge um die bloße Daseinssicherung entschärft wäre sowie der Druck der Bildungsanstalten, sich nur noch der Berufsausbildung zu widmen. 2 | So zumindest Slavoj Žižek in DIE ZEIT, Nr. 27/2015 vom 02.07.2015.
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Eine weitere wesentliche Voraussetzung für Bildung würde den Menschen mit einem bedingungslosen Grundeinkommen zumindest ansatzweise zur Verfügung gestellt: Muße. Damit ist nicht Erholungsurlaub gemeint, schon gar nicht solcher mit Konsumcharakter aus Tourismuskatalogen, sondern konzentrierte Tätigkeit in einer selbst gesetzten Aufgabe auf ein selbst gestelltes Ziel hin. Wahre Bildung ist heute schon deshalb nicht mehr möglich, weil Lehrende und Lernende wie Manager – Stichwort »rasender Stillstand« – unter dem ständigen Druck eines an objektiv messbaren Outputgrößen orientierten Erfolgs arbeiten müssen. Sie müssen entweder direkt Geld vermehren (etwa durch Drittmitteleinwerbung) oder geldförmige3 Größen wie ECTS-Punkte. In jedem Fall ist das Geld die handlungsauslösende Bezugsgröße. Dass genau das nicht der Fall sei, war früher der Grund, Professoren etwa ausreichend zu alimentieren und Studierende mit Stipendien auszustatten. Man sollte sich gerade über Geld keine Gedanken machen müssen, um sich in Muße seinen Aufgaben zu widmen und wissenschaftliche Ergebnisse nicht vom Geld beeinflussen zu lassen – aber auch, um die »Liebe zur Sache« entwickeln zu können, und sich von ihr und nicht vom Geld auch im späteren Berufsleben leiten zu lassen. Schon Fichte forderte ein bedingungsloses Grundeinkommen avant la lettre: »Sicherung vor jeder Sorge um das Äußere, vermittelst einer angemessenen Unterhaltung fürs Gegenwärtige, und Garantie einer gehörigen Versorgung in der Zukunft«4 – und das nicht aus Gründen der sozialen Sicherheit, sondern um sich in Muße seiner Sache widmen zu können. Heute braucht man für die Begründung eines bedingungslosen Grundeinkommens auf solche Argumente des deutschen Idealismus gar nicht mehr zu rekurrieren, da sich die Forderung danach inzwischen viel besser mit der Notwendigkeit von Neo-Rahmenbedingungen begründen lässt, wie oben geschehen.
3 | Hörisch bemerkt dazu: »Selbst dort, wo die Reden über und an Universitäten nicht direkt Geld zum Thema haben, werden diese Diskurse immer geldförmiger. Man spricht über das Auf und Ab einzelner Universitäten und Institute auf dieser oder jener Rankinglist wie über das Auf und Ab von Börsenwerten.« (J. Hörisch: Das Geld der Wissenschaft, S. 80) 4 | Fichte zitiert nach H. Schelsky: Einsamkeit und Freiheit, S. 83.
Kapitel 15 – Auf dem Weg zu einer Kultur wissenschaf t der Wir tschaf t
Der Begriff der Muße5 übrigens ist nur ein Beispiel von vielen Begriffen, die heute in zombifizierter, ökonomisierter Form umhergeistern. Der Humboldt’sche Bildungsbegriff ist ein prominentes Beispiel, das wir ausführlich behandelt haben. Robert und Edward Skidelsky nennen in ihrem Buch »Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens« weitere Begriffe wie Gesundheit, Sicherheit, Respekt, Persönlichkeit, Harmonie mit der Natur und Freundschaft, deren wahre, nicht ökonomisierte Bedeutung wir heute erst wieder lernen müssen. Zum Thema Bildung schreiben sie: »Gegenwärtig vermittelt unser Bildungssystem, das ja vor allem die Schüler für den Arbeitsmarkt fit machen soll, lediglich das Wissen und die Fertigkeiten, die dafür nötig sind. In der Zukunft dagegen, stellen wir uns vor, findet Bildung in dem Bewusstsein statt, dass die Menschen einen immer kleineren Anteil ihrer wachen Stunden auf das ›Arbeitsleben‹ verwenden und eine der Hauptaufgaben darin besteht, sie zu unterrichten, wie man ein erfülltes Leben jenseits des Arbeitsmarkts führt.« 6
So lässt sich vielleicht die alles andere als überholte Bildung zum Ich in etwas weniger pathetischer und idealistischer Weise ausdrücken, insbesondere im Hinblick darauf, wie die Skidelskys betonen, dass die Menge der Erwerbsarbeit infolge einer immer besseren Versorgungslage abnehmen dürfte, dass sie zumindest nicht nur für Wachstum als Selbstzweck 5 | Für Brotbeck ist Bildungskultur schöpferische Muße. Konzentration und Freigabe sind dafür nötig. »Es geht um das freie Zusammenspiel von Sinnmomenten, die sich auf den ersten Blick auszuschließen scheinen, aber in Wirklichkeit eine schöpferische Polarität darstellen: Gestalten und Geschehenlassen, Treue zum Bewährten und Vertrauen ins Unentschiedene, Intuitionsvermögen und Situationsliebe, Selbstständigkeit in der Gedankenbildung und liebevolles Sich-Hineinleben in das sozial-kulturelle Umfeld von freiem Tun und tätiger Gelassenheit.« (S. Brotbeck: Lichthöfe des Möglichen, S. 52) Schon für Humboldt war Muße für Professoren notwendig und sollte von Lehre nicht unterbrochen werden: »Das Universitätslehren ist ferner kein so mühevolles Geschäft, daß es als eine Unterbrechung der Muße zum Studium und nicht viel mehr als ein Hilfsmittel zu demselben gelten müsse.« (Von Humboldt zitiert nach H. Schelsky: Einsamkeit und Freiheit, S. 75) 6 | R. und E. Skidelsky: Wie viel ist genug?, S. 272.
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– oder wie wir sagen würden, zur Geldbeglaubigung – erfolgen sollte. Die Skidelskys übrigens sehen als Voraussetzung für ein Umdenken ebenfalls »die Autorität und Inspiration, die nur Religionen zu transportieren vermögen« 7. Die religiöse Aufgeladenheit des Geldes hingegen erwähnen sie an der Stelle zwar nicht, aber deutlich wird wieder, dass das Gebiet der Religionen bei dieser Thematik nicht zu vernachlässigen ist. In einer kulturwissenschaftlichen Wirtschaftswissenschaft wäre neben Literatur auch Platz für das Thema der Religiosität, von der die Ökonomik abstrahiert und uns so die Kernerkenntnisse über die wahre Natur von Geld und Wirtschaft vorenthält. Ökonomik vermittelt Geldglauben, gebildet werden sollte aber das Ich, nicht das Wirtschaftssubjekt. Eine Wirtschaftswissenschaft, die den religiösen Kern von Geld und Wirtschaft anerkennt, wäre auf Basis dieser Religiosität auch in der Lage, die von den Skidelskys erwähnte Autorität und Inspiration zu vermitteln, die ein »gemeinsames Wohl« jenseits von reinen Geldgesellschaften denkbar machen. Infolge der Ideologiegeladenheit bis Religiosität der Wirtschaft ist folglich für diesen Bereich eine ähnliche Entwicklung wie im Religionsbereich wünschenswert, nämlich dass sich zur Glaubenslehre eine säkulare wissenschaftliche Disziplin gesellt, dass sich zur Ökonomik eine geistes- und kulturwissenschaftliche Wirtschaftswissenschaft gesellt, wie sich eine derartige Religionswissenschaft auch zur Theologie gesellt hat. In einer solchen neuen Wirtschaftswissenschaft wäre Interdisziplinarität zentral, Literaturwissenschaft hätte aus den genannten Gründen einen besonders hohen Stellenwert. Weil Selbstreflexion mehr zählen würde als Geldreflexion, hätte eine solche Wissenschaft der Wirtschaft die Chance, wieder humanistisch zu sein. Die Diabolik aber, wie wir festgestellt haben, liegt gerade darin, dass das Wirtschaftssubjekt sich als Ich tarnt. Wie können wir lernen, beides besser voneinander zu unterscheiden? Nach Schelsky zielt Bildung auf »jenes Leben des Geistes, das ein Leiden an der Zeit und ein Abenteuer des Geistes zugleich ist« 8. Sie erfordert »den Lebensentschluß, die Welt zu vervollkommnen durch eine innere Vervollkommnung seiner selbst«.9 Wie können wir heutzutage diesen Worten noch eine andere Bedeutung verleihen als eine ökonomistische und ihnen damit ihren ursprünglichen 7 | Ebd., S. 295. 8 | H. Schelsky: Einsamkeit und Freiheit, S. 223. 9 | Ebd., S. 223.
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Sinn zurückgeben? Denn zum Beispiel auf einen Manager, der sich der Geld-Ideologie verschreibt, treffen diese Worte mit anderer Semantik genauso zu. Wie müsste man sie interpretieren, wenn sie stattdessen auf die Ich-Ideologie zutreffen sollen? Welche Worte müsste man finden, um die so strukturähnlichen Phänomene Humanismus und Ökonomismus klar voneinander anzutrennen, so dass nicht alles auf diabolische Weise sofort auch ökonomisch verstanden werden kann wie in den vielen Beispielen, die wir in dieser Studie angeführt haben? An dieser Stelle erweist sich, was sich die ganze Zeit über schon abzeichnete und was Christina von Braun in ihrem obigen Zitat ausdrückte: Es ist vor allem die Literatur, die prädestiniert ist, um diese Fragen zu klären. Sie kann – bei solchen komplizierten Fragen einfacher noch als Filme oder andere Kunstwerke – den Unterschied zwischen Humanismus und Ökonomismus literarisch nachbilden und damit nicht nur erlebbar, reflektierbar und intellektuell nachvollziehbar, sondern auch handfest und greif bar machen. Ein Beispiel, in dem genau dieses geschieht, ist der Roman »Frühling der Barbaren« von Jonas Lüscher.10 In einer Szene trägt die Lehrerin Pippa, die an die Kraft der Poesie glaubt, auf der Hochzeit ihres Sohnes den Gästen, hauptsächlich neureiche Yuppies aus dem Finanzwesen, junge Bankmanager aus der Londoner City, ein buddhistisches Gedicht vor. Sie hat zunächst die völlige Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer: »Wie junge Hunde, die auf einen saftigen Knochen spekulierten, wie Gläubige, die die weisen Worte von den Lippen des Predigers tranken, blickten sie zu ihr hoch. Pippa schrieb es der Kraft der Poesie zu, weil sie nicht wusste, dass diese jungen Leute genau darauf konditioniert waren, selbstsicheren Leuten zu lauschen, die etwas zu verkünden hatten. Bankdirektoren, die ihre Gewinnziele bekannt gaben, Teamleitern, die die Tageslosung beschworen, Investmentgurus, die mit Headsets ausgestattet Erfolgsrezepte ins Auditorium warfen, Professoren, die ihnen mathematische Modelle erklärten, Unternehmensberatern, die neue Strategien anpriesen, Personal Trainers, die Durchhalteparolen und Tipps zur geistigen und körperlichen Fitness von sich gaben. Es kümmerte sie nicht, wer, es kümmerte sie nicht, was, es ging um eine bestimmte Haltung dessen, der da sprach. Selbstsicherheit, Präsenz, eine gewisse Lautstärke, ein Siegerlächeln und gute Kleidung 10 | Ich danke den Organisatoren und Teilnehmern der Konferenz »Wirtschaftskrisen in der Literatur« vom 20.-22. März 2015 in Koblenz für viele wertvolle Anregungen, darunter den Hinweis auf diesen Roman.
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halfen auch, dann waren sie bereit zu lauschen und frenetisch zu applaudieren. Selbst wenn ihnen ein Gedicht eines alten buddhistischen Beatniks und Tiefenökologen präsentiert wurde, selbst dann.«11
Diese Menschen sind imagines pecuniae. Sie sind das Paradebeispiel für Absolventen eines Bildungssystems, das zum Bilde des Geldes bildet. Zu lernen, so zu denken, zu fühlen und zu handeln wie sie – das ist Bildung in Zeiten der Ökonomisierung. Wie das Geld, mit dem man alles bezeichnen und bewerten kann, sind auch diesen Jungmanagern spezifische Inhalte egal, sie sind flexibel, »offen für alles«, sie halten sich »alle Optionen offen«. Sie setzen Inhalte gleich, so wie Geld verschiedenste Gegenstände gleich setzt, indem es ihnen den gleichen Wert zuschreibt. So werden Inhalte gleich gültig – und gleichgültig. Die Form zählt, die Effizienz, die Optimalität, die Fähigkeit, sich jeder neuen Situation sofort anpassen zu können, sich vom Geld vorschreiben zu lassen, was als das Eigene zu gelten hat. Genauer gesagt: Die Form ist der Inhalt der Manager, und zwar die Geldform. Kleidung, Auftreten und Sprache müssen glänzend sein, makellos und glatt wie Münzen. Solche pekuniäre Haltung erweckt Vertrauen, das sie vom Geld quasi anzapfen kann, weil sie ihm symbolisch nachgebildet ist. Gleichzeitig beglaubigt sie ihrerseits wiederum das Geld und gibt dem Geldgläubigen das Gefühl, seinem Gott gedient zu haben, ein Gefühl von Trost, Sinn und Sicherheit. Was auch immer gesagt wird, wird automatisch zu weisen12 Worten eines Priesters, wenn es nur auf diese suggestive Weise präsentiert wird. Wir haben es hier mit einer sektenartigen religiösen Gemeinschaft zu tun, die den klassischen Religionsgemeinschaften in nichts nachsteht, die vielmehr deren getreues Abbild ist, womöglich deren historischer Nachfolger. Nicht die Kraft der Poesie oder die Kraft irgendeiner heiligen Schrift hält sie zusammen, sondern die Kraft des Geldes, das für sie poetisch und heilig ist. Wie einen Pawlowschen Hund konditioniert das Geld den Geist der so Gebildeten auf geldförmige Äußerlichkeiten aller Art. Bei Menschen 11 | J. Lüscher, Frühling der Barbaren, S. 84. 12 | Die Mitglieder des Sachverständigenrats zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung werden gemeinhin als die fünf Wirtschaftsweisen bezeichnet. Es dürfte kaum einen anderen gesellschaftlichen Bereich geben, in dem der Begriff der Weisheit noch gängig ist. Verkleidet als vermeintliche Ironie wirkt er umso überzeugender.
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aber von Konditionierung zu sprechen, erinnert eher an ihre animalische Seite als an ihre hochkulturelle. Ein Abgerichtet-, ja Programmiertwerden zielt nicht gerade auf die Vorstellung selbstbestimmter Individualität. Hier zeigt sich das Übergewicht der naturwissenschaftlich-technischen Sichtweisen im wirtschaftlichen Umfeld, die im Menschen schon immer eher das Tier als das Kulturwesen gesehen haben. Dieser Biologismus gepaart mit ökonomischem Effizienzdenken, das ist das Bildungsideal der ökonomistischen Epoche des Anthropozän. Sein Ziel: Der techno-ökonomisch neu geschaffene posthumanistische Mensch 2.0. Die Menschen ständig zu unterhalten, sie wie bei Seifenopern ständig bei der Stange zu halten, obwohl es eigentlich um nichts geht, sie ständig zu verführen, ihnen wie Eseln die Möhre vor die Nase zu halten, oder eben wie Hunden einen Knochen, damit sie »aus eigenem Antrieb« einfach immer weiter, schneller und mehr arbeiten, das wird zu Schlüsselkompetenzen der Lehrenden im ökonomistischen Bildungswesen mit seinem Erziehungsziel Geldes-Ebenbildlichkeit. Hier zeigt sich auch, wie sehr sich die Überlegungen Christina von Brauns darüber, wie Geld auf menschliche Körper zugreift, bewahrheiten. Geld beeinflusst nicht mehr wie noch von Fritz Breithaupt für die jeweiligen Zeitabschnitte des 19. und 20. Jahrhunderts beschrieben, nur die freie Persönlichkeit der Menschen, ihr Ich, sondern es ist heute in der Lage, »seine eigenen Persönlichkeiten zu fabrizieren«13, und das heißt in unserer Terminologie: sie sich zu seinem Bilde zu bilden. Von Braun zufolge eignet sich das Geld quasi über die menschlichen Körper jene Lust an, die ihm als Abstraktum, als knapp gehaltenes Nichts fehlt. Es inkarniert sich nicht nur in avantgardistischer Kunst (siehe den Gedankengang dazu in Kapitel 13), sondern auch in menschlichen Körpern und Seelen. »Das Geld fordert Askese, die symbolische Kastration. Sie ist die Voraussetzung für die Fruchtbarkeit des Geldes, aber eben auch für seine Sexualisierung. Die Sexualisierung des Monetären und die Monetarisierung des Sexuellen sind die Trumpfkarten des Geldes beim Poker um die menschliche Psyche.«14 Ihren körperlichen Ausdruck findet diese monetäre Sexualisierung in den »geschmeidigen« Körpern mit »seidiger« Haut der Jungmanager, von denen Lüscher in seinem Roman spricht, und die auch fast nackt noch den Eindruck erwecken, als würden sie eine Uni13 | C. von Braun: Der Preis des Geldes, S. 333. 14 | Ebd., S. 334.
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form tragen. Ihren geistigen Ausdruck findet die monetäre Sexualisierung in all den diabolischen Zugriffen auf Seele, Ideale und Werte, die wir schon angeführt haben. Auch Bildungsinhalte müssen heute »sexy« präsentiert werden, oder etwas feiner ausgedrückt: »spannend«. Und all das ist inzwischen so weit avanciert, dass es in Gestalt von freier Individualität daherkommt und am Ende doch nur die Gestalt des Geldes ist.
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Wie müsste es anders sein? Wie müsste Bildung in einer vom Geld durchdrungenen Welt stattdessen aussehen? Sie müsste zunächst vor allem auf der Erkenntnis basieren, dass Moderne und noch mehr Postmoderne sich einen gewaltigen blinden Fleck der Geldgläubigkeit leisten, dass das Thema Religion sich nicht mit der Aufklärung erledigt hat, sondern nur der Gott gewechselt hat und heute Geld heißt. Immer noch zählt das, »was geschrieben steht«, gibt es Kirchen, Theologie, Priester und Liturgie. Nur dass die Kirchen jetzt Shoppingcenter oder Bürohochhäuser sind, transparent und luftig wie das große Nichts, das Geld – und schon bei Kirchen galt, je höher desto besser, desto näher an Gott. Nur dass die Theologie jetzt Ökonomik heißt und die Priester Ökonomen und Unternehmensberater. Nur dass die Liturgie jetzt Erwerbsarbeit heißt. Wenn Wachstum und Arbeitsplätze Selbstzweck sind und sich die Bedürfnisse für das Produzierte erst künstlich schaffen müssen, und wenn die Welt-Volkswirtschaft ein Weltsystem mit dem Weltgeist Geld ist, der Gott ersetzt, dann ist Wirtschaften immer auch und in unseren Breiten immer mehr Gottesdienst. Das zu erkennen, ist der erste Schritt hin zu einer Neuen Aufklärung1 über den Ökonomismus und seine Strukturähnlichkeiten zum Humanismus. Damit verbunden ist das Zugeständnis, dass das Ideal einer Humboldt’schen Bildung freier Individualität, des Ichs, eben weitgehend hyperinflationär verpufft und unter der Hand durch ökonomistische Ideale ersetzt worden ist. Gute Bildung klärt über die Suchtgefahren dieses polit-religiösen Opiums des Ökonomismus auf, nicht zuletzt dadurch, dass Wirtschaft als das gelehrt wird, was sie ist: ein Kulturphänomen, das mit rein naturwissenschaftlicher Methodik nicht voll erfassbar wird. 1 | Sie wird zum Beispiel auch gefordert von H. Geißler: Sapere Aude!
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Zur Aufklärung über die Geldgläubigkeit gehört demnach die Erkenntnis, dass vieles, was als individuelle Bildung beschrieben wird, noch lange nicht Bildung im humanistischen Sinne sein muss. Ein so genanntes Ich kann auf vielerlei Weise entstehen, auf Basis verschiedenster Narrationen. Im Ich spiegelt sich die Gesellschaft und so wie die Gesellschaft aus verschiedenen Sphären besteht, gilt das auch für das Ich. Jeder ist immer alles: ökonomisch, politisch, künstlerisch, sportlich, human usw. Frei und selbstbestimmt zu sein, bedeutet, diejenige Sphäre in sich durch Geschichtenerzählen und Begriffsbeglaubigung zu bilden, die man selbst wählt, die die eigene Stimme einem mitteilt, und die die Realität verändert oder neu schafft. So wird man im humanistischen Sinne der, der man sein möchte. Es ist nicht einzusehen, warum das, was man sich auf diese Weise zuschreibt, immer primär das Ökonomische sein soll. Auch das Ich ist ausdifferenziert in verschiedene Sphären. Wir haben insbesondere das ökonomistische Ich kennengelernt, das man vielleicht in Kurzform in dem Satz »Ich tausche, also bin ich« zusammenfassen kann, um auf die berühmte Aussage Descartes’ anzuspielen, mit dem dieser eine andere, nämlich philosophische Begründung des Ichs lieferte: Ich denke, also bin ich. Entsprechend lässt sich das Ich auch religiös begründen: Ich glaube, also bin ich. Naturalisten hingegen würden wohl »Ich habe ein Gehirn, also bin ich« bevorzugen. Eine nicht zu vernachlässigende Rolle bei jeder Ichwerdung dürften auch zwischenmenschliche Beziehungen spielen: Ich bekomme Anerkennung von anderen, also bin ich. Das Ich des Humanisten aber ist dasjenige, das wir in den Mittelpunkt stellen: Ich erkenne mich selbst und kann frei bestimmen, wer ich sein möchte, also bin ich. Wenn wir uns daran erinnern, dass Bildung ein Prozess ist, bei dem man sich in einem Bild spiegelt, können sich Individuen nach diesem humanistischen Ich-Begriff bilden, indem sie zum Beispiel sich in Symbolen, von denen sie sich selbst repräsentiert fühlen, reflektieren. Diese Symbole, etwa die Begriffe einer Ersatznarration, wählen sie mehr und mehr selbst, nachdem anfangs in der Schule dafür kulturelle Errungenschaften der eigenen und fremder Gesellschaften noch von anderen für sie ausgewählt worden sind. Bildung sollte Menschen zu Suchern und Findern von zu beglaubigenden Symbolen ihrer selbst machen. In ihnen kann man sich reflektieren und sich so selbst erkennen, wobei diese Selbsterkenntnis genauer eine Selbstschaffung ist, eine Kreation, eben eine Bildung. Es geht darum, selbst zu entscheiden, an welches Adjektiv man ein «-istisch« anhängen möchte. Man kann beispielsweise nicht
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nicht ökonomisch denken und handeln, aber das heißt noch lange nicht, dass man ökonomistisch denkt und handelt. Was jedoch glitzernde Diamanten, glänzende Münzen, Gold und Silber, reflektieren, ist eben nicht das wahre Ich, sondern die Verheißung der universalistischen Potenz des Geldes zum Preis der eigenen Seele.2 Sie ökonomisieren anstatt zu humanisieren. Der leere Glanz des Geldes mag in bestimmter Weise schön sein, aber es ist dasjenige Schönheitsideal, dem auch die geschmeidigen Jungmanager mit der seidig schimmernden Haut aus Lüschers Roman nachstreben.3 Die Schönheit kraftvoller Poesie, einer antiken Sprache, der großen Kunstwerke der Menschheit oder sogar eines physikalischen Experiments oder ökonomischen Modells ist aber nicht mit Hochglanzbroschüren oder aufgetakelten Power-Point-Präsentationen zu erfassen; an sie muss man im Bildungssystem herangeführt werden, am besten von einem echten Menschen und nicht von einer Videoaufnahme am Computer. Für sie kann man nicht »fit« gemacht werden, höchstens aufnahmebereit. Sie entwickelt sich, oder auch nicht, aus dem Samen (lat. semen), den die Bildungseinrichtungen höchstens legen können, und von dem das Seminar seinen Namen hat. Ein echter Schönheitssinn nimmt den Eigenwert von Menschen und Dingen wahr, nicht den Geldwert. Ein gutes Bildungssystem hat so viel philosophische Substanz, dass es auf den richtigen Umgang mit Begriffen achtet und den Unterschied lehrt zwischen Muße und Erholungsurlaub, Freundschaft und Networking, Harmonie mit der Natur und effizientem Ressourcenverbrauch, um nur einige der Skidelsky’schen Grundbegriffe für ein gutes Leben zu nennen. Ein gutes Bildungssystem bildet Menschen, keine Götter, nicht humane Tiere, schon gar nicht Produktionsfaktoren, auch wenn diese Menschen später in einem Teil ihres Lebens als Produktionsfaktoren wirken. Es gibt Menschen einen Eigenwert und nicht einen Geldwert, auch wenn Menschen später mit ihrer Arbeitskraft Geld verdienen. Mit Blick auf einen 2 | Erzählungen der Romantik wie »Der Runenberg« von Ludwig Tieck oder »Die Bergwerke zu Falun« von E.T.A. Hoffmann und viele andere geben darüber Auskunft, wie verführerisch aber letztlich tragisch es ist, sich im glitzernden und funkelnden Gold und Geld zu spiegeln und dabei den Sinn für die reale Welt und andere als monetäre Werte zu verlieren. 3 | Was Schönheit gemäß diesem Ideal ist, lässt sich übrigens genau berechnen: bestimmte Gesichtssymmetrien, Augenabstände usw. Per Computersimulation lässt sich so der »schönste«, der optimal schöne, Mensch kreieren.
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solchen Bildungsbegriff ist Humboldt nicht veraltet, sondern aktueller denn je, denn er gab ja damals schon die Antwort auf die Frage, wie Bildung in der gerade entstehenden modernen Geldgesellschaft aussehen sollte. Er ist schon eine Reaktion auf den aufkommenden Geldglauben, gewissermaßen dessen alter ego. Er ist die andere Seite der Medaille der Kapitalbildung. Wenn Fritz Breithaupts These, dass Ich und Geld symbiotisch vereint sind und sich gegenseitig stützen, nur ansatzweise stimmt, sollten folglich sogar das Geldsystem und die Wirtschaft ein Interesse an Ich-Bildung haben. Dass man dabei nicht mehr so vorgehen muss wie im 19. Jahrhundert, dass die Gesellschaft sich weiter entwickelt hat, versteht sich von selbst. Aber das Prinzip guter Bildung wird dadurch nicht falsch, es muss nur aktualisiert werden. Aktualisiert – nicht pervertiert. Im 19. Jahrhundert suchte man noch nach Idealgestalten in der Antike, die als Spiegelbild der Ichwerdung gelten konnten; bis heute haben Hellenismus und Italiensehnsucht in Deutschland als Synonym für Bildung überlebt. Der altphilologische Kanon war integraler Bestandteil jedes Bildungsweges, beginnend mit dem Erlernen der griechischen und lateinischen Sprache im Gymnasium, womit der Zugang zu den alten Werken vorbereitet wurde. Aber das Reservoir an instruktiven Kunstwerken oder Möglichkeiten, sich durch Reisen zu bilden, ist inzwischen größer. Man muss nicht mehr nur aus der Antike schöpfen. Wichtig ist nur, dass als Idealgestalt nicht immer nur der homo oeconomicus dient, oft in Form des so genannten unternehmerischen Selbst, ein Konzept, das auf Foucault4 zurückgeht und später von Bröckling5 aufgegriffen wurde. Diesen Menschentyp haben wir nicht einfach als Tatmenschen, sondern ausführlich als gläubigen Anhänger der Geldreligion entlarvt, als zum Bilde des Geldes gebildeten Menschen, der nicht der eigenen Stimme folgt, sondern dem verführerischen Ruf des Geldes, und dem mit einer Neuen Aufklärung zu begegnen wäre.
4 | Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt: Suhrkamp 2006, S. 313. Dort heißt es: »Im Neoliberalismus [ist] der Homo oeconomicus […] ein Unternehmer, und zwar ein Unternehmer seiner selbst […], der für sich selbst sein eigenes Kapital ist, sein eigener Produzent, seine eigene Einkommensquelle.« Zum Neoliberalismus siehe Kapitel 8. 5 | Vgl. U. Bröckling: Das unternehmerische Selbst.
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Nun zeigt sich, dass Aufklärung über nicht als solche wahrgenommenen Glaubenssysteme zwar eine leicht erhobene Forderung ist, dass man es dabei aber leicht mit dem psychologischen Standardmotiv zu tun bekommt, demzufolge man bei anderen immer seine eigenen Fehler kritisiert. Deshalb muss ganz klar sein, dass es sich bei einer wie auch immer gearteten Aufklärung über das Glaubenssystem des Ökonomismus um eine Aufklärung aus Sicht eines anderen Glaubenssystems handelt. Religiosität an sich kann man nicht abschaffen, schon gar nicht in der heutigen hochgradig vergeistigten Welt. Eine Kritik am Glaubenssystem des Ökonomismus ist vor allem eine Kritik am Inhalt des Ökonomismus als politische Ideologie, nicht an der Tatsache, dass man es überhaupt mit einem Glaubenssystem zu tun hat. Ein solches ist auch der Humanismus in nicht geringerem Maße. Nur die Entscheidung, woran man glauben will, sollte eine freie Gesellschaft jedem Einzelnen überlassen. Dafür sind die Glaubenssysteme als solche anzuerkennen, als Logiken (logos), die die Erscheinungen (idea) in bestimmter Weise ordnen und interpretieren und deshalb auch Ideologien genannt werden können, mit denen sich Politik immer zu legitimieren sucht. Es ist der große blinde Fleck der Moderne zu glauben, dass Religionen sich nach dem Zeitalter der Aufklärung erledigt haben, und in den jetzigen Tagen ist dieser blinde Fleck noch dadurch gewachsen, dass angenommen wird, auch Ideologien hätten sich überholt und man lebe im postideologischen Zeitalter. Ein großer Irrtum, der nicht unschuldig daran sein dürfte, dass die eine große Ideologie des Ökonomismus sich so ungehindert ausbreiten und gleichzeitig ihre Kritiker als Ideologen diffamieren konnte. Natürlich kann Aufklärung nur mithilfe von Begriffen stattfinden, also sprachlichen Symbolen. Symbole aber beruhen auf sozialen Beglaubigungsprozessen, über die wiederum aufgeklärt werden kann, und so weiter ad infinitum. Wie Geld reicht auch Bildung ins Unendliche. In den Bildungsbereich einer ausdifferenzierten Gesellschaft gehört eigentlich: die Ideologie des Humanismus mit ihrem Ideal der Ich-Bildung. Dass auch Bildung in der Sakralsphäre verwurzelt ist, sieht man an ihrer Herkunft als Imago Dei, aber auch an ihrem Verweis ins Unendliche und daran, dass der Bildungsprozess einem Ablauf folgt, wie wir ihn in Kapitel 7 für Religionen beschrieben haben: Man geht zu sich auf Distanz, um sich dann in einer Rückbindung (religio) wieder an sich anzunähern. Ähnlich beschreibt Bieri den Bildungsprozess: »Vertrautes wird verfremdet, um es später, wenn es transparenter geworden ist,
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erneut zu etwas Eigenem, Vertrauten zu machen.«6 Man müsse einen Schritt hinter die begriffliche Routine zurücktreten und sich fragen, womit man es wirklich zu tun hat, was man wirklich davon versteht, worauf es basiert. Auch a priori Fremdes, Dinge die Angst machen, wie der Naturschrecken, den Türcke als Ursache aller Religion sieht, lassen sich beherrschen, indem man sie sich, etwa naturwissenschaftlich verfremdet, wieder aneignet. Die abstrakten Modelle der Ökonomik wiederum sind das Paradebeispiel für die Verfremdung von Alltagserfahrungen mit Geld und Wirtschaft, die jeder von Kindheit an hat, und gerade deshalb ist die Ökonomik ein so wirksames Mittel zur Bildung – ad imaginem pecuniae allerdings. Die Religiosität der Wirtschaft ist im Prinzip in gleicher Weise geeignet, Ängste und Unsicherheiten zu bekämpfen wie alle Religionen und Ideologien, indem Fremdes sich angeeignet wird. Die Bildung zum Ich geht auch so vor: »Bildung besteht auch hier darin, das Fremde als solches zu kennen und anzuerkennen, um sich dann ausdrücklich mit denjenigen Mustern des Denkens und Handelns zu identifizieren, die das eigene Verständnis von Vernunft definieren.« 7 Diese Bildung aber befreit den Menschen, während der Ökonomismus ihn unterwirft. Denn dieses »eigene Verständnis von Vernunft« ist hier eben nicht von Priestern einer Geldtheologie bestimmt, sondern selbst, in Selbstbestimmung. »Selbstbestimmt ist unser Leben, wenn es uns gelingt, es innen und außen in Einklang mit unserem Selbstbild zu leben – wenn es uns gelingt, im Handeln, im Denken, Fühlen und Wollen der zu sein, der wir sein möchten. Und umgekehrt: Die Selbstbestimmung gerät an ihre Grenzen oder scheitert ganz, wenn zwischen Selbstbild und Wirklichkeit eine Kluft bleibt.« 8
Man kann sich also nicht mit allen »Mustern des Denkens und Handelns« identifizieren, sondern nur mit denen, die dem Selbstbild entsprechen. Bildung ist daher, wie Religion, immer auch Kontingenzbewältigung (siehe Kapitel 7). Zu ihr gehört ein Sinn für Alternativen, das Wissen um das Vorhandensein mehrerer Möglichkeiten. Deshalb ist beispielsweise Kunst für Bildungsprozesse so wichtig, denn sie zeigt alternative Sichtweisen auf Vertrautes auf, welches sie entfremdet und welches man sich 6 | P. Bieri: Wie wollen wir leben?, S. 68. 7 | Ebd., S. 70. 8 | Ebd., S. 13.
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in Auseinandersetzung mit ihr selbstbestimmt wieder aneignen kann. Das Leben stößt einem nicht mehr einfach nur zu, ist nicht mehr alternativlos, man bekommt Einfluss auf das, was einen prägt, und kann mitentscheiden darüber, wovon man sich prägen lassen will. In einem nie abgeschlossenen Prozess wird man sich immer wieder selbst zum Thema, fragt sich immer wieder, wer man ist und was einem wichtig ist, indem man sich bei allem, was einem begegnet, fragt, ob man sich davon repräsentiert fühlt bis hin zur Frage des Glaubens. Für ein Bildungswesen, dem eine solche Selbstbestimmung des Individuums am Herzen liegt, hieße das beispielsweise auch, auf Entschleunigung zu setzen, etwa auf Bücher anstatt auf neue mikroelektronische Medien, die durch permanente Vernetzung und den Imperativ der Akkumulation symbolischen Kapitals in sozialen Netzwerken dem Individuum keine Luft mehr lassen zum Atmen und ein wunderbares Vehikel der Bildung ad imaginem pecuniae sind. Türcke bringt es auf den Punkt: »Maschinell angefachte Konzentration schlägt in ›konzentrierte Zerstreuung‹ um. Die in langen Jahrtausenden errungene Fähigkeit, Gefühle, Vorstellungen und Gedanken seßhaft werden zu lassen, bei etwas zu verweilen, sich in etwas zu versenken, wird durch eine mikroelektronische Kultur untergraben, die durch ständige ruckartige Unterbrechung ein systematisches Aufmerksamkeitsdefizit erzeugt.« 9
Geld und Wirtschaft spielen in einem guten Bildungsprozess nur als Rahmenbedingungen, als Umwelt, eine Rolle. Zumindest sind sie nicht primäre Reflektionsinstanz. Eine künstlich geschaffene relative Unabhängigkeit vom Geld in Form eines bedingungslosen Grundeinkommens oder zumindest völlig anderer Arbeitszeitmodelle wäre daher hilfreich für eine solche Bildung zum Ideal des Ichs. Es würde eine stützende und zugleich entlastende Rahmenbedingung darstellen und dabei noch einige sozialpolitische Probleme lösen. Lehrende und Lernende würden sich nicht in fremdlogischen Wettbewerben in Kompetenzsimulation aufreiben müssen, sondern könnten in »der konzentrierten und kontemplativen Atmosphäre einer klösterlichen Abgeschiedenheit, in der Reflexion, Besinnung, Auseinandersetzung und die Wertschätzung von Kultur und
9 | C. Türcke: Mehr!, S. 418.
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Geist noch stattfinden könnte«10, eine wissenschaftliche Gemeinschaft bilden, in der »ein Schenken aus Dankbarkeit, Verbundenheit und Verpflichtung, eine kollektive Erkenntnissuche und Produktion eines Kollektivgutes, ein produktiver Wettbewerb um Qualität und Priorität ohne Sieger und Besiegte«11 angestrebt wird. Nicht Informationsmanagement, Rangordnungen und Performanzprofile zählen hier, sondern die ständige Suche nach Wahrheit auf unterschiedlichen, individuellen und jeweils mehr oder weniger erfolgreichen Wegen der Ichwerdung. Da Bildung wie Geld religiösen Ursprungs ist, sollten sich Universitäten nicht scheuen, sich als säkulare Klöster zu verstehen, als Orte der Muße und des Geistes in einer auf Geld basierenden Welt. Klöster sind die institutionelle Grundform abendländischer Bildung.12 Hier könnten Neugier und Wissensdurst in wohlverstandener Einsamkeit und Freiheit kultiviert und befriedigt werden und der ganze geistige Kosmos als Sinn, sinnvoll und sinnlich, erlebt werden, im Ursinn der Begriffe Ästhetik und Schönheit. »Eine solche Universität würde zu ihren europäischen Wurzeln zurückkehren und sich einem Zeitgeist verwehren, der glaubt, ohne Geist auskommen zu können. Erst von einer solchen Universität wären dann jene Reflexionen, jene kritischen Impulse, jene streitbaren Debatten zu erwarten, die sie wieder zu Brennpunkten der intellektuellen und damit gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung machte und nicht zu Agenten und Erfüllungsgehilfen ökonomischer und bürokratischer Interessen degradierte. Erst eine solche Universität dürfte sich wieder Universität nennen.«13
Es mag ungewohnt und unzeitgemäß erscheinen, Wirtschaft und Bildung in religiöse Begriffe zu packen, wie wir es in der vorliegenden Studie getan haben. Aber es ist der Weg, den Kern der Problematik zu erfassen, weil beides tief in der religiösen Sphäre verwurzelt ist und ohne sie nicht verständlich wird. Außerdem ist Unzeitgemäßheit für eine Bildungsein10 | K.P. Liessmann: Das Kloster, S. 111. 11 | R. Münch: Akademischer Kapitalismus, S. 47. 12 | H. Schelsky: Einsamkeit und Freiheit, S. 84. 13 | K.P. Liessmann: Das Kloster, S. 113. Natürlich kommt der Zeitgeist nicht wirklich ohne Geist aus, wie Liessmann behauptet, sondern er besteht im Geldgeist. Viel wird von der Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften gesprochen, aber wenig von der Einführung des Geldgeistes in diese.
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richtung eher ein Indiz dafür, dass sie es mit guter Bildung ernst meint. Hörisch zufolge sollte sie zum Selbstbild der Angehörigen einer Universität gehören, die er als Alma mater von der (Fach-)Hochschule abgrenzt: »Sollte man ein und nur ein Kriterium angeben, das verläßlich die Alma mater von der Hochschule scheidet, so wäre es dieses: daß die Alma mater ihr feudales Recht auf Unzeitgemäßheit selbstbewußt in Anspruch nimmt, während die Hochschule angestrengt dem Stand der Dinge nachhechelt.«14 Eine feudale Souveränität und Unbedingtheit der Universität zu fordern, mag vermessen erscheinen, aber was ist das schon im Vergleich zur Neo-Feudalität des Ökonomismus, der aktuellen politischen Legitimationsideologie, die die ganze Gesellschaft entdifferenziert? Eine Universität jedenfalls, die die Hyperaktivität des Geldes imitiert, wird ihre Stärken nicht entfalten und sich nicht ausdifferenzieren können. Sie bleibt Erfüllungsgehilfe ökonomischer und bürokratischer Interessen anstatt Impulsgeber intellektueller und gesellschaftspolitischer Debatten, die die Grundlage wahren gesellschaftlichen Fortschritts sind. Sie ökonomisiert anstatt zu humanisieren. Sie ist Arbeitsplatz für Wissensmanager anstatt Ort der Muße, Kirche des Geldglaubens anstatt klösterliche Heimat selbstbestimmter intellektueller Individuen. Sie gibt Menschen einen in Äquivalenten ausdrückbaren Wert, anstatt ihnen Würde zu geben, die auf der Freiheit des Ichs beruht. Man kann eine solche Universität nicht mehr lieben,15 sich mit ihr nicht mehr identifizieren, sich in ihr nicht mehr finden; sie repräsentiert nur noch Fremdes, das man sich nicht aneignen kann, ohne die eigene Stimme und Würde zu missachten. Sie ist keine Mutterseele (Alma mater) mehr, die bei der Ichwerdung hilft. Diese Seele hat sie an den Teufel verkauft. Identifizieren und wiederfinden allerdings kann man sich in den Worten von Peter Bieri, wenn man auf Begriffe wie Ich, Selbstbestimmung und gute Bildung Wert legt. Bieri, der mit seinen zahlreichen theoretischen Werken und Romanen die hier verhandelte Problematik immer wieder aufgenommen und in vielen Facetten beleuchtet hat, betont die Wichtigkeit einer Kultur, für deren Pflege Universitäten und in gewissem Umfang auch Schulen eigentlich verantwortlich sein sollten. Er tut dies mit für die vorliegende Studie repräsentativen Worten, die deshalb zu ihrem Abschluss taugen: 14 | J. Hörisch: Die ungeliebte Universität, S. 118. 15 | So die Kernaussage von J. Hörisch in ebd.
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»Zu laut ist die Rhetorik von Erfolg und Mißerfolg, von Sieg und Niederlage, von Wettbewerb und Ranglisten – und das auch dort, wo sie nichts zu suchen hat. Die Kultur, wie ich sie mir wünschte, wäre eine leisere Kultur, eine Kultur der Stille, in der die Dinge so eingerichtet wären, daß jedem geholfen würde, zu seiner eigenen Stimme zu finden. Nichts würde mehr zählen als das; alles andere müsste warten.«16
16 | P. Bieri: Wie wollen wir leben?, S. 34.
Literatur
Amery, Carl: Global Exit. Die Kirchen und der Totale Markt, München: btb Taschenbuch 2004. Bieri, Peter: Wie wäre es, gebildet zu sein?, in: H. Hastedt (Hg.), »Was ist Bildung? Eine Textanthologie«, Stuttgart: Reclam 2012, S. 228-240. Bieri, Peter: Wie wollen wir leben?, München: dtv 2013. Binswanger, Hans Christoph: Geld und Magie. Eine ökonomische Deutung von Goethes Faust, in: K.P. Liessmann (Hg.), »Geld – Was die Welt im Innersten zusammenhält?«, Philosophicum Lech, Band 12, Wien: Zsolnay 2009, S. 20-40. Binswanger, Hans Christoph: Die Glaubensgemeinschaft der Ökonomen, 2. Aufl., Hamburg: Murmann 2011. Benjamin, Walter: Kapitalismus als Religion, Gesammelte Schriften, Band VI, Frankfurt a.M., 1985. Breithaupt, Fritz: Der Ich-Effekt des Geldes. Zur Geschichte einer Legitimationsfigur, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2008. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Berlin: Suhrkamp 2007. Brodbeck, Karl-Heinz: Philosophie des Geldes, in: W.D. Enkelmann/B.P. Priddat (Hg.): »Was ist? Wirtschaftsphilosophische Erkundungen«, Reihe Wirtschaftsphilosophie, Band 3.1, Marburg: Metropolis 2014, S. 45-76. Brotbeck, Stefan: Lichthöfe des Möglichen. Miniaturen zur Bildungskultur, in: P. Kovce/B.P. Priddat (Hg.): »Die Aufgabe der Bildung. Aussichten der Universität«, Marburg: Metropolis 2015, S. 45-60. Deutschmann, Christoph: Geld – die verheimlichte Religion unserer Gesellschaft?, in: K.P. Liessmann: »Geld – Was die Welt im Innersten zusammenhält?«, Philosophicum Lech, Band 12, Wien: Zsolnay 2009, S. 239-263.
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X-Texte zu Kultur und Gesellschaft Stefanie Graefe Burnout Unglückliche Arbeitskämpfe im flexiblen Kapitalismus Oktober 2016, ca. 200 Seiten, kart., ca. 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2614-8
Fatima El-Tayeb Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft September 2016, ca. 130 Seiten, kart., ca. 16,99 €, ISBN 978-3-8376-3074-9
Uwe Becker Die Inklusionslüge Behinderung im flexiblen Kapitalismus 2015, 208 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3056-5
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X-Texte zu Kultur und Gesellschaft Lars Geiges, Stine Marg, Franz Walter Pegida Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? 2015, 208 Seiten, kart., farb. Abb., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3192-0
Gabriele Winker Care Revolution Schritte in eine solidarische Gesellschaft 2015, 208 Seiten, kart., 11,99 €, ISBN 978-3-8376-3040-4
Les Convivialistes Das konvivialistische Manifest Für eine neue Kunst des Zusammenlebens (herausgegeben von Frank Adloff und Claus Leggewie in Zusammenarbeit mit dem Käte Hamburger Kolleg/ Centre for Global Cooperation Research Duisburg, übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer) 2014, 80 Seiten, kart., 7,99 €, ISBN 978-3-8376-2898-2
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X-Texte zu Kultur und Gesellschaft Heidrun Friese Flüchtlinge: Opfer – Bedrohung – Helden Zur politischen Imagination des Fremden
Hans-Willi Weis Der Intellektuelle als Yogi Für eine neue Kunst der Aufmerksamkeit im digitalen Zeitalter
September 2016, ca. 130 Seiten, kart., ca. 17,99 €, ISBN 978-3-8376-3263-7
2015, 304 Seiten, kart., 22,99 €, ISBN 978-3-8376-3175-3
Anselm Böhmer Bildung als Integrationstechnologie? Neue Konzepte für die Bildungsarbeit mit Flüchtlingen August 2016, ca. 120 Seiten, kart., ca. 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3450-1
Ferdi De Ville, Gabriel Siles-Brügge TTIP Wie das Handelsabkommen den Welthandel verändert und die Politik entmachtet (übersetzt aus dem Englischen von Michael Schmidt) Mai 2016, 176 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3412-9
Stine Marg, Katharina Trittel, Christopher Schmitz, Julia Kopp, Franz Walter NoPegida Die helle Seite der Zivilgesellschaft? März 2016, 168 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3506-5
Jürgen Manemann Der Dschihad und der Nihilismus des Westens Warum ziehen junge Europäer in den Krieg? 2015, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3324-5
Dierk Spreen Upgradekultur Der Körper in der Enhancement-Gesellschaft 2015, 160 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3008-4
Jürgen Manemann Kritik des Anthropozäns Plädoyer für eine neue Humanökologie 2014, 144 Seiten, kart., 16,99 €, ISBN 978-3-8376-2773-2
Ilja Braun Grundeinkommen statt Urheberrecht? Zum kreativen Schaffen in der digitalen Welt 2014, 192 Seiten, kart., 21,99 €, ISBN 978-3-8376-2680-3
Karin Harrasser Körper 2.0 Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen 2013, 144 Seiten, kart., 17,99 €, ISBN 978-3-8376-2351-2
Imke Schmincke, Jasmin Siri (Hg.) NSU-Terror Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis, Kontexte, Diskurse 2013, 224 Seiten, kart., 22,99 €, ISBN 978-3-8376-2394-9
Frank Adloff, Volker M. Heins (Hg.) Konvivialismus. Eine Debatte 2015, 264 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3184-5
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