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German Pages 317 [318] Year 2023
Christina Saal Der Mensch in Zeiten des Umbruchs
Tillich Research
Tillich-Forschungen Recherches sur Tillich Edited by Christian Danz, Marc Dumas, Verna Ehret, and Werner Schüßler
Volume 24
Christina Saal
Der Mensch in Zeiten des Umbruchs Paul Tillich und Rollo May im interdisziplinären Gespräch
ISBN 978-3-11-078032-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078058-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078067-3 ISSN 2192-1938 Library of Congress Control Number: 2022948947 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort
Die vorliegende Studie stellt eine geringfügig überarbeitete Fassung meiner im Sommersemester 2021 von der Theologischen Fakultät Trier angenommenen Dissertation dar. Angeregt und betreut wurde die Arbeit von Prof. Dr. Dr. Werner Schüßler, an dessen Lehrstuhl ich von 2015 bis 2021 als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig sein durfte. Für zahlreiche kritische Anmerkungen und weiterführende Hinweise während des gesamten Entstehungsprozesses sowie für das Erstgutachten gilt ihm mein besonderer Dank. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Johannes Brantl für die Erstellung des Zweitgutachtens. Ein Wort des Dankes für die gemeinsame Tätigkeit am Lehrstuhl für Philosophie und die Unterstützung auf vielerlei Art und Weise möchte ich an Silvia Marx richten. Ingrid Embach, Pauline Adams, Anika Hallet, Alexander Hallet, Stephanie Kloidt und Dr. Markus Held danke ich für die sorgfältigen Korrekturen und gewinnbringenden Rückfragen. Und mein Dank gilt Jutta Gerardy, die mich auf ihre ganz besondere Weise während meiner Zeit an der Theologischen Fakultät begleitet hat. Für die Aufnahme der Studie in die Reihe Tillich Research/Tillich-Forschungen/Recherches sur Tillich möchte ich Prof. Dr. Christian Danz (Wien), Prof. Dr. Marc Dumas (Sherbrooke, Kanada), Prof. Dr. Verna Ehret (Erie, USA) und Prof. Dr. Dr. Werner Schüßler (Trier) sowie Dr. Albrecht Döhnert und dem Verlag Walter de Gruyter (Berlin/Boston) danken. Dem Bistum Magdeburg sowie dem Bistum Trier bin ich für das Gewähren eines großzügigen Druckkostenzuschusses zu Dank verpflichtet.
Magdeburg, Januar 2023
https://doi.org/10.1515/9783110780581-202
Christina Saal
Inhalt Einleitung | 1 1 2
Der Mensch in Zeiten des Umbruchs | 1 Forschungsüberblick und Methodik der Arbeit | 4
Erster Teil:
Biografie, Werk und zeitgeschichtliche Entwicklungen
Rollo May | 11 1 1.1 1.2
Leben und Werk | 11 „A Friend to Man“ | 11 Werkgeschichtliche Entwicklungen | 15
2 2.1 2.1.1 2.1.2
Existentialistischer Zwischenruf | 18 Ausgangssituation und Entwicklungen in den USA | 18 Kritik an einem mechanistischen Psychologieverständnis | 18 Ein europäisches Pendant: Viktor E. Frankls Charakterisierung der Psychologie als depersonalisierend | 20 Die „Dritte Kraft“ und die Orientierung am europäischen Existentialismus | 22
2.1.3
3 3.1 3.2 3.3
Existentielle Psychotherapie | 28 Das neue Prinzip der existentiellen Psychotherapie: Den Menschen als Sein verstehen | 28 Die Entwicklung eines sense of being als Ziel der Psychotherapie | 31 Existentielle Psychotherapie heute | 35
Exkurs: Carl Rogers als Kontrastfolie | 36 4 4.1 4.2
Philosophische Einflüsse | 40 William James und der Pragmatismus als Vorläufer des existentiellen Ansatzes in den USA | 41 Søren Kierkegaard – Ein religiöser Denker | 44
VIII | Inhalt
4.3 4.4 4.5 4.6 4.7
Friedrich Nietzsche und die Lebensphilosophie als Vorläufer der Existenzphilosophie | 45 Sigmund Freuds Beitrag zur Überwindung der Fragmentierung des Menschen im 20. Jahrhundert | 46 Karl Jaspers – Psychiater und Philosoph | 48 Martin Heidegger als ‚Eckstein der existentiellen Psychotherapie‘ | 49 Jean-Paul Sartre als „psychologischer Interpret Heideggers“ | 50
Paul Tillich | 53 1
Leben und Werk: „Auf der Grenze“ | 53
2
Auf der Grenze von Philosophie, Theologie und Tiefenpsychologie | 56 Tillichs Wahrnehmung der Situation in den USA | 56 Die „anthropologische Fundierung“ seiner Theologie | 58 Von ersten existenzphilosophischen Schritten zum ,existenzialistischen Jahrzehnt in Amerika‘ | 64
2.1 2.2 2.3
3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3
Tillichs „anthropologisch gewendete“ Existentialontologie als Anknüpfungspunkt für die existentielle Psychotherapie | 68 Die ontologische Grundstruktur: Die Korrelation von Selbst und Welt | 69 Die ontologischen Elemente | 72 Individualisation und Partizipation | 73 Dynamik und Form | 74 Freiheit und Schicksal | 76 Endlichkeit als „grundlegender Charakter menschlicher Existenz“ | 77
Rollo May und Paul Tillich | 81 1
Paul Tillich: Lehrer und Freund | 81
2
Der soziokulturelle Kontext in den USA | 83
Inhalt | IX
Zweiter Teil: Interdependenzen Angst | 91 1 1.1 1.2
Die Bedeutung der Angst | 91 Angst als Grundproblem des Menschen | 91 Die Pionierarbeit von Søren Kierkegaard und Sigmund Freud | 93
2 Angst bei Rollo May und Paul Tillich | 97 2.1 Rollo May | 98 2.1.1 Mays Dissertationsschrift | 98 2.1.1.1 Motivation der Abfassung | 98 2.1.1.2 Aufbau und entscheidende Aspekte | 99 Kurt Goldstein: Angst als eine Reaktion des ganzen Organismus | 100 Die Bedeutung eines historischen Bewusstseins für das Verständnis gegenwärtiger Formen der Angst | 103 2.1.2 Die Rolle der Angst für die Person | 105 2.1.2.1 Angst als Reaktion auf den drohenden Verlust von Werten | 105 2.1.2.2 Das Selbst | 107 2.1.3 Werkgeschichtliche Entwicklungen | 109 2.2 Paul Tillich | 110 2.2.1 Angst und Mut im Denken Paul Tillichs | 110 2.2.2 Ontologie der Angst | 112 2.2.2.1 Angst ist das „Gewahrwerden der eigenen Endlichkeit“ | 112 2.2.2.2 Die Korrelation von Angst und Mut in den Kategorien des Seins | 114 2.2.3 Ontologie des Mutes: Selbstbejahung trotz der Drohung des Nichtseins | 117 2.2.3.1 „Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein“ | 118 2.2.3.2 „Der Mut, man selbst zu sein“ | 120 3 3.1 3.2 3.3
Zwischen Unausweichlichkeit und Bedeutsamkeit: Interdependenzen in der Beschäftigung mit Angst | 122 Die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit | 123 Kreativität als Ausdruck des Selbst | 126 Psychotherapeutische und medizinische Einflüsse | 128
4
Das ‚Zeitalter der Angst‘: Eine bleibende Zeitdiagnose | 131
X | Inhalt
Freiheit | 135 1 1.1 1.2
Angst und Freiheit – zwei Seiten einer Medaille | 135 Angst vor der Freiheit | 135 Flucht vor der Freiheit aus Angst vor der Freiheit | 136
2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.2.1 2.2.2
Freiheit bei Rollo May und Paul Tillich | 139 Rollo May | 141 Innere Freiheit | 142 ‚Freiheit des Handelns oder existentielle Freiheit‘ | 145 ‚Freiheit des Seins oder essentielle Freiheit‘ | 146 Werkgeschichtliche Entwicklungen | 150 Paul Tillich | 152 Die Freiheitsthematik im Denken Paul Tillichs | 152 Freiheit als das „wesentlichste Merkmal des Menschen“ | 154
3 3.1 3.2 3.3
Die Polarität von Freiheit und Schicksal: Interdependenzen in der Beschäftigung mit Freiheit | 156 Die Begriffe Polarität und Paradox | 156 Schicksal als die Totalität menschlichen Seins | 158 Freiheit als Selbstzentriertheit | 161
4 4.1 4.2 4.3
Ist Freiheit nur eine Illusion? | 164 Endliche Freiheit | 164 ‚Verantwortete Freiheit‘ | 167 Die Abschaffung des Schicksals? | 169
Das Dämonische | 171 1
Ein strittiger Begriff | 171
2 Das Dämonische bei Rollo May und Paul Tillich | 172 2.1 Rollo May | 172 2.1.1 Der schizoide Mensch | 174 2.1.2 „Der verdrängte Eros“ | 176 2.1.3 Eros ist ein Dämon | 178 2.1.4 Stadien des Dämonischen | 180 2.1.4.1 Unpersönliche Besessenheit | 180 2.1.4.2 Integration durch Benennung | 180
Inhalt | XI
2.1.4.3 2.1.5 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3
3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2
Dialog als Möglichkeit der Integration und Personalisierung | 182 Werkgeschichtliche Entwicklungen | 183 Paul Tillich | 183 Das Dämonische als eine Schlüsselkategorie im Denken Tillichs | 183 Religionsphilosophische Überlegungen: Das Dämonische als Widerspruch | 187 Ontologische Überlegungen: Das Dämonische als das selbstständige Hervorbrechen des Abgrundes | 190 Genie und Madman: Interdependenzen in der Beschäftigung mit dem Dämonischen | 193 Das Dämonische in der Kunst | 193 Dialektik des Dämonischen | 196 Schöpferisch und zerstörerisch bzw. konstruktiv und destruktiv | 196 Gut und Böse | 199
Exkurs: Liebe | 203 1
Liebe bei Rollo May und Paul Tillich | 203
2
Entwicklungen hin zu einer Ontologie der Liebe: Interdependenzen in der Beschäftigung mit der Liebe | 207 Qualitäten der Liebe | 207 Liebe als Wiedervereinigung des Getrennten im Sinne der Polarität von Individualisation und Partizipation | 211
2.1 2.2
Macht | 213 1
Was ist Macht? | 213
2 Macht bei Rollo May und Paul Tillich | 214 2.1 Rollo May | 214 2.1.1 Ein psychotherapeutisches Verständnis der Macht | 214 2.1.1.1 Die Frage nach dem Woher von Aggression und Gewalt | 214 2.1.1.2 Macht als Aktualität | 215 2.1.1.3 Macht als Potentialität | 217
XII | Inhalt
2.1.2 2.1.2.1 2.1.2.2 2.1.2.3 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2 2.2.2.3
Leben als Konflikt zwischen Macht und Machtlosigkeit | 219 Der sense of significance | 219 Machtlosigkeit | 220 Aggression und Gewalt als Auswege aus dem Gefühl der Machtlosigkeit | 223 Werkgeschichtliche Entwicklungen | 224 Paul Tillich | 226 Der Begriff der Macht im Denken Paul Tillichs | 226 Macht und Sein | 228 Sein ist Macht zu sein | 228 Macht worüber? | 230 Der Aufweis der Seinsmächtigkeit in der Begegnung | 232
3 3.1 3.2 3.3
Interdependenzen in der Beschäftigung mit der Macht | 233 Macht und Liebe – und Gerechtigkeit | 233 Ontologie der Macht | 236 Nietzsches ‚Wille zur Macht‘ | 238
4
Black Lives Matter | 241
Mythos | 243 1
‚Vom Mythos zum Logos‘ | 243
2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3
Mythos bei Rollo May und Paul Tillich | 244 Rollo May | 244 Amerika – das Land der Mythen | 244 Der mythenlose Mensch des 20. Jahrhunderts | 248 Die Entwicklung der Psychotherapie als eine Folge des Mangels an Mythen | 249 Werkgeschichtliche Entwicklungen | 251 Paul Tillich | 252 Der Mythosbegriff im Denken Paul Tillichs | 252 Mythos als Sprache der Religion | 254 Eine symbolisch-realistische Theorie des Mythos | 257
2.1.4 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 3 3.1
Mythen sind zu Geschichten verbundene Symbole: Interdependenzen in der Beschäftigung mit dem Mythos | 258 Mythos und Symbol | 258
Inhalt | XIII
3.1.1 3.1.2 3.2
4
Das Verhältnis von Mythos und Symbol | 258 Das Symbol im Unterschied zum Zeichen | 260 Die Bedeutung von Mythos und Symbol für die conditio humana | 264 Der Ruf nach Mythos und Symbol als ein wiederkehrendes Moment | 267
Abschließende Überlegungen | 269 Abkürzungen, Quellen- und Literaturverzeichnis | 273 Personenregister | 295 Sachregister | 301
Einleitung Zum wirklichen Leiden, zur Hölle wird das menschliche Leben nur da, wo zwei Zeiten, zwei Kulturen und Religionen einander überschneiden. […] Es gibt nun Zeiten, wo eine ganze Generation so zwischen zwei Zeiten, zwischen zwei Lebensstile hineingerät, daß ihr jede Selbstverständlichkeit, jede Sitte, jede Geborgenheit und Unschuld verlorengeht.1 Hermann Hesse
1
Der Mensch in Zeiten des Umbruchs
Umbrüche und Zeiten des Übergangs erfährt sowohl der Mensch im Laufe seines Lebens als auch die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte immer wieder. Beides stellt Mensch und Menschheit vor Herausforderungen. Phasen des Umbruchs und des Übergangs werfen die Frage danach auf, woran der Mensch sich orientieren kann, welches die tragenden Werte sind, die die Erfahrung von Sicherheit und Sinn ermöglichen. Die Reflexion dieser Fragen ist Gegenstand der Philosophie und Theologie ebenso wie der Psychologie. Zwei Denker unterschiedlicher Fachdisziplinen, die sich mit den Fragen und Problemen der Menschen in Zeiten des Umbruchs und des Übergangs auseinandersetzen, sind der deutsch-amerikanische evangelische Theologe und Philosoph Paul Tillich und der amerikanische Psychotherapeut Rollo May. Beide reagieren mit ihren Reflexionen auf Erfahrungen, die sie in ihrem eigenen Leben und ihrer eigenen Zeit gemacht haben. Europa und Amerika sehen um 1900 einer Zukunft technischen Fortschritts und wirtschaftlicher Prosperität entgegen. Dieser Hoffnung werden die Menschen in Europa mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 und in Amerika mit dem Börsenkrach von 1929 beraubt. Das neue Jahrhundert, dessen Beginn Tillich auf diese beiden Ereignisse datiert, fängt auf beiden Kontinenten mit einer Katastrophe an, die die Menschen mit einem Gefühl der Orientierungslosigkeit zurücklässt.2 Das beginnende 20. Jahrhundert präsentiert sich als radikaler Umbruch, dem weitere Katastrophen und Umbrüche folgen sollen. Diese Erfahrungen haben Einfluss auf das Selbstverständnis des Menschen: Im Gegensatz zum Selbstverständnis des Menschen des 19. Jahrhunderts, der nach Tillich sowohl an den technischen als auch an den menschlichen und moralischen Fortschritt glaubte, zeigt sich ihm zufolge im 20. Jahrhundert in Literatur, Kunst und Dichtung „eine Auffassung menschlichen Daseins, die
|| 1 HESSE, Der Steppenwolf, 31. 2 Vgl. GW III 182. https://doi.org/10.1515/9783110780581-001
2 | Einleitung
nicht auf das ideale Wesen des Menschen blickt, sondern auf seine vergängliche, tragisch-zerrissene, schuldbeladene Existenz und insbesondere auf seine Existenz in der gegenwärtigen industriellen Gesellschaft“.3 Nie zuvor, schreibt Max Scheler, ist „der Mensch sich so problematisch geworden […] wie in der Gegenwart“.4 Der Mensch „hat seine sinnhafte Welt verloren“.5 Das Dilemma, in dem sich der Mensch im 20. Jahrhundert ebenso wie in vorherigen Zeiten des Umbruchs befindet, bringt der Psychiater, Psychotherapeut und Schriftsteller Irvin Yalom pointiert ins Wort, wenn er fragt: „Wie findet ein Wesen, das Sinn braucht, Sinn in einem Universum, das keinen Sinn hat?“6 Diese Dilemmasituation drücken ebenso die eingangs zitierten Zeilen Hermann Hesses aus, der auch als „Dichter der Krise“7 bezeichnet wird. Hesse fängt darin die Stimmung einer ganzen Generation ein. Der Mensch des 20. Jahrhunderts scheint in eine Art ‚Dazwischen‘ geraten zu sein: Er steht zwischen dem „‚nicht mehr‘ und ‚noch nicht‘“.8 Den Zustand des Dazwischen bezeichnet der Theologe Markus Vogt als charakteristisch für Zeiten des Übergangs: Das Alte ist nicht mehr und das Neue noch nicht, alles ist in Bewegung. Demgegenüber zeichnet sich seiner Definition zufolge ein Umbruch dadurch aus, dass er gewaltsam und radikal geschieht.9 Beides kommt im 20. Jahrhundert zusammen. „Der Mensch in der Mitte des 20. Jahrhunderts hat nicht nur eine Reihe schwerster Katastrophen hinter sich, er lebt auch weiter in einer Situation, die mit möglichen Katastrophen geladen ist. Statt von Fortschritt spricht er von Krise.“10 Begriffe wie Umbruch und Übergang, die Erfahrung der Sinnlosigkeit sowie das Gefühl des Dazwischen provozieren die Frage danach, was der Mensch ist und wie man in solchen Zeiten Mensch wird, ebenso wie die Frage nach dem Platz des Menschen in der Welt. Arbeiten wie Max Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), Helmuth Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch
|| 3 Ebd., 186. 4 SCHELER, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 14. 5 EW XVI 195. Siehe auch FRANKL, Das Leiden am sinnlosen Leben, 13. 6 YALOM, Existenzielle Psychotherapie, 499. 7 FREEDMAN, Hermann Hesse, 6. Joseph Mileck verweist auf Hesses Interesse an der Psychoanalyse, was erklärt, warum Rollo May in seinen Werken immer wieder auf Hesses Werke zurückgreift. Siehe dazu MILECK, Hermann Hesse, 96–103. 8 EW V 218f. Siehe auch JASPERS, Einführung in die Philosophie, 80: „Jetzt aber leben wir in einem Zeitalter der furchtbarsten Katastrophen. Es scheint, als ob alles, was überkommen ist, eingeschmolzen werden sollte, und doch ist der Grund eines neuen Baus noch nicht überzeugend sichtbar.“ 9 Vgl. VOGT, Wandel als Chance oder Katastrophe, 16. 10 GW III 182.
Der Mensch in Zeiten des Umbruchs | 3
(1928) oder Arnold Gehlens Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), die nicht zufällig gerade in dieser Umbruchserfahrung entstehen und die mit ihren Reflexionen eine philosophische Anthropologie begründen, machen diesen Umstand ansichtig. Ähnlich zeigen die existentialistischen Schriften etwa von Martin Heidegger, Karl Jaspers, Peter Wust, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir oder Simone Weil, dass sich die Frage nach dem Menschen in den Vordergrund drängt. Paul Tillich und Rollo May knüpfen an diese Reflexionen an. Sie setzen sich mit den zeitgenössischen Denkern und Denkerinnen auseinander ebenso wie mit Kunst und Literatur und entwickeln vor diesem Hintergrund in ihren Werken eigene Ansätze. Beide Denker eint, dass sie der Betrachtung des Menschen eine herausragende Stellung in ihren Arbeiten einräumen. Dabei kreisen sie auch immer wieder um den Menschen, der an der Zeit des Umbruchs und der fehlenden Orientierung leidet und den May als schizoid charakterisiert, d.h. er zeichnet sich durch Kontaktlosigkeit, durch Vermeidung näherer Beziehungen sowie einem Unvermögen zu fühlen aus.11 „Der schizoide Mensch“, schreibt er, „ist das natürliche Produkt des technischen Menschen“.12 Er ist das Ergebnis der Fortschrittsgläubigkeit und des technischen Fortschritts des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Bei allen thematischen Gemeinsamkeiten und Überschneidungen nehmen Tillich und May ihre Zeit jedoch aus unterschiedlichen geografischen Perspektiven sowie vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen Professionen wahr.
|| 11 Vgl. MAY, Love and Will, 16: “My term ‘schizoid,’ in the title of this chapter, means out of touch; avoiding close relationships; the inability to feel. I do not use the term as a reference to psychopathology, but rather as a general condition of our culture and the tendencies of people which make it up.” Der Psychoanalytiker Fritz Riemann beschreibt den schizoiden Menschen wie folgt: „Nach unseren früheren Beschreibungen wären also die schizoiden Persönlichkeiten – um ihr grundlegendes Problem hervorzuheben – diejenigen, welche, von der Seite der Angst her gesehen, die Angst vor der Hingabe am intensivsten entwickeln und zugleich, von der Seite der Grundimpulse her gesehen, den Impuls zur ‚Eigendrehung‘, das hieße psychologisch also: zur Selbstbewahrung und Ich-Werdung gleichsam verabsolutieren, überwertig leben. Wie wird es sich auswirken, wenn ein Mensch, die Hingabeseite vermeidend, vorwiegend die Selbstbewahrung zu leben versucht? Sein Streben wird dann vor allem dahin gehen, so unabhängig und autark wie möglich zu sein oder zu werden. Auf niemanden angewiesen zu sein, von niemandem abhängig, niemandem verpflichtet zu sein, ist hier entscheidend wichtig. Damit entsteht aber eine Kluft, ein Abstand, eine Distanz zum Mitmenschen, weil jede Nähe als Gefährdung jener Unabhängigkeit und jenes Distanzbedürfnisses erlebt wird.“ (DERS., Grundformen der Angst und die Antinomien des Lebens, 20). 12 MAY, Love and Will, 17. Siehe auch JASPERS, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 125.
4 | Einleitung
2 Forschungsüberblick und Methodik der Arbeit In den Texten des amerikanischen Psychotherapeuten Rollo May begegnet den Leserinnen und Lesern in den zumeist populärwissenschaftlich verfassten Schriften zahlreiches philosophisches Gedankengut. Der Einfluss Paul Tillichs ist dabei unverkennbar, bislang jedoch wenig erforscht. Noch weniger beachtet als der Einfluss Tillichs auf May sind allerdings die Spuren, die Mays Denken in den Werken Tillichs hinterlassen hat. Seit Tillichs Emigration in die USA ist Rollo May für ihn ein wichtiger Kontakt in den Bereichen der Psychologie und Psychotherapie, mit denen Tillich in den USA in einen intensiven Austausch tritt. In einem ersten Teil nimmt die vorliegende Arbeit diese Entwicklungen in den Blick. In Form eines biografischen Überblicks führt sie in das Denken Rollo Mays und Paul Tillichs ein. Dabei fokussiert sich die Darstellung auf solche Aspekte, an denen Anknüpfungspunkte für einen Dialog der beiden Denker erkennbar werden. Aus diesem Grund steht bei May dessen Auseinandersetzung mit dem ursprünglich europäischen existenzphilosophischen Denken im Zentrum. Die Darstellung Tillichs konzentriert sich überwiegend auf die Zeit nach seiner Emigration in die USA. In einem weiteren Schritt werden die Überlegungen der beiden Denker zusammengeführt und in die zeitgeschichtlichen sowie gesellschaftlichen Gegebenheiten eingeordnet. Eine Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur zeigt, dass es im USamerikanischen Raum im Bereich der Psychologie und Psychotherapie ein ausgeprägtes Interesse an der Verbindung zwischen Rollo May und Paul Tillich gibt, wobei der Fokus dabei eindeutig auf dem Einfluss Tillichs auf May bzw. die Psychologie und Psychotherapie liegt. Die Gründe dafür dürften verschieden gelagert sein: Zum einen stellt Rollo May seine Beziehung zu Paul Tillich wesentlich offensiver heraus und führt ihn regelmäßig als Gewährsmann an. Das ist insofern nicht verwunderlich, als Tillich in den USA zu einem der bedeutendsten Denker seiner Zeit avancierte. Zum anderen ist Tillichs Denksystem zu dem Zeitpunkt, an dem May seine Publikationstätigkeit gerade erst beginnt, bereits weit fortgeschritten, weshalb der Einfluss des Älteren auf den Jüngeren naheliegt. „Tatsächlich“, schreibt Clement Reeves, „erinnert Mays Terminologie regelmäßig an die Tillichs – zum Beispiel Zentriertheit, Mut, Intentionalität, Vitalität, Angst vor der Bedeutungslosigkeit, und die vier Arten der Liebe.“13 Oftmals reicht diese Nähe bis hin zu wörtlichen Übereinstimmungen in Mays Konzepten und Begrifflichkeiten. Der Austausch mit Paul Tillich scheint für May || 13 REEVES, The Psychology of Rollo May, 253.
Forschungsüberblick und Methodik der Arbeit | 5
hinsichtlich seiner eigenen Profession eine grundlegende Bedeutung zu haben. Die Dissertationsschrift von Clement Reeves von 1974 mit dem Titel Psychotherapy in Search of Theoretical Foundations: The Ontological Approach of Rollo May14, die er später in überarbeiteter Fassung 1977 unter dem Titel The Psychology of Rollo May. A Study in Existential Theory and Psychotherapy veröffentlicht hat, weist Mays Anliegen auf, seinem psychotherapeutischen Arbeiten eine grundlegende Struktur im Sinne einer Lehre vom Menschen zu geben. Der späteren Fassung ist ein Kommentar Mays angehängt, in dem dieser zu den Thesen Reeves eigens Stellung bezieht. Für die Auseinandersetzung mit Mays Konzepten liefert dieser Kommentar eine wichtige Hilfestellung. Eine direkte Gegenüberstellung von May und Tillich bietet die Dissertationsschrift von Curtis Bryant von 1983 mit dem Titel The Confluence of Thought between Paul Tillich and Rollo May. An Examination of Dialogue between Psychology and Religion.15 Ähnlich wie die vorliegende Arbeit führt Bryant zunächst in das Denken von May und Tillich ein. Im Hauptteil der Arbeit bringt Bryant in Form eines Dialogs, den er zuvor als die grundlegende Methode in Tillichs Arbeiten herausstellt, May und Tillich unter dem Gesichtspunkt des wechselseitigen Einflusses von Psychologie und Religion ins Gespräch. Was Bryant damit meint, wird aber nicht ganz ersichtlich. Wahrscheinlich denkt er dabei an die Methode der Korrelation, die Tillich in den religionsphilosophischen Diskurs eingebracht hat. Die existenzphilosophische Prägung Mays durch Tillich wird in der Literatur auch immer dann thematisiert, wenn der von May mitbegründete existentielle psychotherapeutische Ansatz zur Grundlage einer Beschäftigung mit May gemacht wird. Gleiches gilt für den Aufweis der ontologischen Aspekte in Mays Konzepten. Auffallend ist, dass sich die Beschäftigung mit dem Denken Mays und damit auch der Aufweis des Einflusses Tillichs auf May auf den amerikanischen Raum und vorwiegend auf den Bereich der Psychologie bzw. Psychotherapie beschränkt. Letzteres erklärt, warum auch die ‚North American Paul Tillich Society‘ die Verbindung zwischen Paul Tillich und Rollo May eher ausklammert. Im deutschsprachigen Raum wird Rollo May bisher nur wenig wahrgenommen. In Bezug auf die enge Verbindung zwischen Paul Tillich und Rollo May finden sich größtenteils nur einzelne Hinweise. Eine Ausnahme bildet die Dissertation von Helmut Elsässer von 1973 mit dem Titel Paul Tillichs Lehre vom Menschen als Gespräch mit der Tiefenpsychologie. Elsässer weist darin anhand von Tillichs Beschäftigung mit der Angst die Nähe seines Denkens mit der existentiellen
|| 14 REEVES, Psychotherapy in Search of Theoretical Foundations; DERS., The Psychology of Rollo May. 15 BRYANT, The Confluence of Thought between Paul Tillich and Rollo May.
6 | Einleitung
Psychotherapie auf. Dabei geht er insbesondere auf die Werke Mays ein, der als einer der Hauptvertreter dieser Richtung gilt.16 Auch die kürzlich publizierte Dissertation von Sabine Joy Ihben-Bahl mit dem Titel Angst und die eine Wirklichkeit. Paul Tillichs transdisziplinäre Angsttheorie im Dialog mit gegenwärtigen Emotionskonzepten widmet der Beziehung zwischen Paul Tillich und Rollo May sowie ihrem intellektuellen Dialog eine etwas ausführlichere Behandlung.17 An diese bisher recht vereinzelten Hinweise knüpft diese Arbeit an, mit dem Ziel, den Einfluss der beiden Denker aufeinander systematisch darzustellen. Dabei kann auch die vorliegende Arbeit eine vollständige und erschöpfende Diskussion aller gemeinsamen Themenfelder und Aspekte ihres Denkens nicht leisten und fokussiert sich daher auf solche Aspekte, in denen die Nähe beider Denker zueinander besonders deutlich und gewinnbringend ist. Dabei werden sich auch immer wieder die Grenzen zeigen, an die die beiden Denker in ihrem interdisziplinären Dialog stoßen, was bisweilen zu Missverständnissen und Fehldeutungen der Kategorien des jeweils anderen führt. Durch die systematische Aufarbeitung des wechselseitigen Einflusses der beiden Denker will die vorliegende Untersuchung eine weitere Perspektive in die Rezeption der Texte Paul Tillichs einbringen. In der breiten Überschneidung der Themen bei Tillich und May wird deutlich, wie anschlussfähig das Denken Tillichs über die Grenzen von Philosophie und Theologie hinaus ist. Anders als in den Arbeiten von Elsässer und Ihben-Bahl nimmt die vorliegende Arbeit über das Thema der Angst hinaus weitere Themen in den Blick: Freiheit, das Dämonische, Liebe, Macht und Mythos. In Abgrenzung zu den beiden Dissertationen von Reeves und Bryant, die bereits zu Mays Lebzeiten verfasst wurden, werden auch dessen späte Schriften berücksichtigt. Die Wahl der Themen orientiert sich an den Werken Mays The Meaning of Anxiety, Freedom and Destiny, Love and Will, Power and Innocence. A Search for the Sources of Violence und The Cry for Myth. Daraus lassen sich die oben bereits genannten Themen ableiten. Während die Zuordnung der Themen zu den Werken meist offensichtlich ist, sticht das Dämonische heraus. Dieses und auch die Darstellung der Liebe geht auf Love and Will zurück. Anders als es der Titel der Schrift Love and Will vermuten lässt, ist der thematische Schwerpunkt in der vorliegenden Untersuchung folglich ein anderer. Das lässt sich mit der offensichtlichen Nähe des dort behandelten Phänomens des Dämonischen zu Tillichs entsprechendem Konzept erklären. Mit Blick auf den Aufweis wechselseitiger Einflüsse ist das Dämonische deshalb einer eigenen Betrachtung wert, wenngleich sich das Thema darüber hinaus für eine || 16 ELSÄSSER, Paul Tillichs Lehre vom Menschen als Gespräch mit der Tiefenpsychologie. 17 IHBEN-BAHL, Angst und die eine Wirklichkeit.
Forschungsüberblick und Methodik der Arbeit | 7
zeitgenössische Einordnung, wie es sich für die restlichen Themen anbietet, weniger eignet. Aus der dargestellten Auswahl der Themen ergibt sich, dass für den Aufweis der Interdependenzen ein werkgeschichtliches Vorgehen gewählt wird, das den Akzent auf die Werke Mays legt. Diese Schwerpunktsetzung ist dem Versuch der Eingrenzung der vorliegenden Arbeit auf die wichtigsten Interdependenzen geschuldet. Der Fülle an Schriften Tillichs steht eine weitaus überschaubarere Anzahl an Werken von Rollo May gegenüber, bei denen auffallend ist, dass sie bereits im Titel auf Aspekte verweisen, die teilweise sogar Schlüsseltheoreme in Tillichs Denken darstellen. Der Aufweis der Interdependenzen zwischen Paul Tillich und Rollo May ist Gegenstand des zweiten Teils der Arbeit, der sich in fünf Kapitel sowie einen Exkurs gliedert. Die Kapitel folgen einer einheitlichen Struktur. Während eine kurze Hinführung in das Thema einleitet, schließt sich daran eine Darstellung des jeweiligen Themas zunächst bei May und dann bei Tillich an. Obwohl es denkbar wäre, aufgrund Tillichs Rolle als Lehrer und Ideengeber zunächst jeweils mit einer Darstellung der Themenkomplexe in dessen Schriften zu beginnen, geht die vorliegende Arbeit den umgekehrten Weg und stellt zunächst Mays Überlegungen zu den verschiedenen Themenkomplexen dar, bevor auf Tillich eingegangen wird und die Wechselwirkungen zwischen den beiden Denkern herausgearbeitet werden. Hinter diesem Vorgehen steckt folgende Überlegung: Im Gegensatz zu Paul Tillich ist Rollo May im deutschsprachigen Raum wenig bis gar nicht bekannt. Aus diesem Grund soll das Denken Rollo Mays ausführlicher dargestellt werden, womit der Fokus der vorliegenden Arbeit stärker auf May gerichtet ist. Daraus ergibt sich auch, dass mit Blick auf die Diskussion der einzelnen Themen bei Tillich nur jene Aspekte ausgeführt werden, die dem Aufweis der Interdependenzen zwischen Rollo May und Paul Tillich dienen. Für die Genese sowie die einzelnen Facetten der Themen bei Paul Tillich wird auf die Sekundärliteratur verwiesen, die sich bereits intensiv und differenziert mit den in dieser Arbeit behandelten Themen beschäftigt hat. Dabei sind vor allem die im Anschluss an die Jahrestagungen der Deutschen PaulTillich-Gesellschaft entstandenen Sammelbände sowie entsprechende wissenschaftliche Qualifikationsschriften zu nennen.18 Dort, wo es sich anbietet, endet das Kapitel mit dem Versuch einer Aktualisierung des Themas sowie einem Aufweis des Beitrags, den Tillichs und Mays Konzeptionen für eine aktuelle Auseinandersetzung leisten können.
|| 18 Die Sekundärliteratur zu Tillich ist äußerst umfangreich. Christoph Schwöbel zufolge „sind wahrscheinlich über keinen Theologen des 20. Jh.s mehr wissenschaftliche Untersuchungen publiziert worden.“ (DERS., Tendenzen der Tillich-Forschung, 167).
8 | Einleitung
Im Hinblick auf May erfolgt die Untersuchung auf Grundlage der englischen Originaltexte.19 Der Darstellung Tillichs liegen hauptsächlich die Texte in der Fassung der von Renate Albrecht herausgegebenen Gesammelten Werke sowie den Ergänzungs- und Nachlassbänden zugrunde. Der Rückgriff auf die englischen Originaltexte erfolgt lediglich an einzelnen Stellen. Die hinführenden und abschließenden Überlegungen, die um den Aufweis der Interdependenzen eine Klammer bilden, ordnen Tillich und May in den Kontext jener Denker und Denkerinnen ein, die sich in Zeiten des Umbruchs und Übergangs die Frage nach dem Menschsein und der Möglichkeit der Menschwerdung gestellt haben. Die bleibende Relevanz der Theorien Mays und Tillichs wird dabei deutlich werden.
|| 19 Die im Haupttext angeführten Übersetzungen sind, wenn nicht anders angegeben, von mir. Gleiches gilt für die Sekundärliteratur.
| Erster Teil: Biografie, Werk und zeitgeschichtliche Entwicklungen
Rollo May There are hermit souls that live withdrawn In the place of their self-content; There are souls, like stars, that dwell apart, In a fellowless firmament; There are pioneer souls that blaze their paths Where highways never ran; – But let me live by the side of the road And be a friend to man.1 Sam Walter Foss
1 Leben und Werk 1.1 „A Friend to Man“ Rollo Reese May – geboren am 21.04.1909 in Ada, Ohio und verstorben am 22.10.1994 in Tiburon, Kalifornien – wächst als zweites von sechs Kindern auf.2 Seine Kindheit und Jugend sind geprägt vom religiösen Eifer der Eltern und einer wenig intakten Familie. Während sein Vater Earl May beruflich viel unterwegs ist, bringt „Matie“ Boughton May die Erziehung der sechs Kinder schier an den Rand der Verzweiflung – im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie litt an Depressionen.3 Auch während der Anwesenheit des Vaters ist das Familienleben geprägt von Auseinandersetzungen. May sieht sich früh großen Erwartungen an ihn ausgesetzt; seine Mutter gibt ihm den Namen des tugendhaften Helden eines Kinderbuchs des 19. Jahrhunderts und erhofft sich von ihm, die Liebe zu bekommen, die sie bei ihrem Mann Earl so schmerzlich vermisst.4 Zudem erfährt May in seinem Vater einen Vertreter des Antiintellektualismus, der den psychischen Zusammenbruch der älteren Schwester als Folge ihrer Bildung ansieht.5 Robert H. Abzug, Professor für Geschichte und Amerikastudien, der sich mit Rollo May im Kontext seiner Forschungen hinsichtlich des Einflusses von Religion und Psychologie auf die Struktur amerikanischer Kultur und Erfahrungen beschäftigt und kürzlich eine May-Biografie mit dem Titel Psyche and
|| 1 FOSS, The House by the Side of the Road. Zit. nach ABZUG, Rollo May as Friend to Man, 18. 2 Vgl. SCHNEIDER, May, Rollo Reese, 315. 3 Vgl. ABZUG, Rollo May as Friend to Man, 18f. 4 Vgl. ebd., 19. 5 Vgl. MAY, Paulus, 13. Siehe auch CARVALHO, Rollo R. May (1909–1994), 8. https://doi.org/10.1515/9783110780581-002
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Soul in America. The Spiritual Odyssey of Rollo May6 veröffentlicht hat, misst dem familiären Drama eine entscheidende Bedeutung in der Persönlichkeitsprägung Mays bei: Sein ganzes Leben suchte er seine Seele von den Albträumen der Kindheit zu reinigen. Er würde bewirken, dass andere sich besser fühlten, selbst wenn er seinen eigenen inneren Frieden suchte. Er würde sein eigenes Leiden als Quelle für Einsicht nutzen, seinen eigenen Kampf als ein Spiegel(bild) der Menschheit.7
Nachhaltig prägend für Mays Denken und Arbeiten sind die Jahre nach Erlangung seines Bachelor of Arts in Anglistik mit den Nebenfächern Griechische Geschichte und Literatur im Jahre 1930 am Oberlin College, die er in Europa verbringt.8 Das eigentliche Interesse des jungen Amerikaners galt schon zu dieser Zeit der Psychologie, weshalb er sich auch zunächst für dieses Fach einschreibt. Aber als er feststellen muss, dass er hier mehr über Tauben und Hunde als über den Menschen lernt, verwirft er die Psychologie als Hauptfach und wählt stattdessen Englische Literatur.9 Während einer auf das Studium folgenden dreijährigen Lehrtätigkeit am Anatolia College in Tessaloniki kommt May einerseits mit der Kunst und Kultur sowohl des antiken als auch des gegenwärtigen Griechenlands und weiteren Ländern Europas in Berührung und andererseits mit der Individualpsychologie Alfred Adlers.10 Beides hinterlässt bei ihm Spuren. „Europa“, so schreibt er in seiner sehr persönlich gefärbten TillichBiografie Paulus. Reminiscences of a Friendship, „bedeutete für mich in diesen frühen 30ern nicht nur eine physische Emanzipation, sondern ebenso eine neue spirituelle und intellektuelle Freiheit.“11 Während seines Aufenthaltes in Griechenland erfährt May eine Phase der absoluten Einsamkeit, die schließlich zu einem nervlichen Schwächeanfall führt und ihn für einige Zeit ans Bett fesselt –
|| 6 ABZUG, Psyche and Soul in America. 7 ABZUG, Rollo May as Friend to Man, 19: “All his life he sought to purge the nightmares of childhood from his soul. He would make others feel better even as he sought his own inner peace. He would use his own pain as the source of insight, his own struggle as a mirror for humankind.” 8 Vgl. ROGERS, Dialogues, 229. 9 Vgl. SCHNEIDER/GALVIN/SERLIN, Rollo May on Existential Psychotherapy, 425. 10 Vgl. MAY, Paulus, 2. Siehe auch REEVES, The Psychology of Rollo May, 252: Trotz großer Bewunderung für die Theorien Adlers übte May später Kritik an dessen Generalisierungen und Vereinfachungen. Siehe dazu auch EWEN, An Introduction to the Theories of Personality, 38; RATTNER, Klassiker der Tiefenpsychologie, 28; SPIEGELBERG, Phenomenology in Psychology and Psychiatry, 159. 11 MAY, Paulus, 2.
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eine Zeit, in der er realisierte, dass er in seinem Leben etwas fundamental ändern muss.12 Wieder zurück in den USA, schreibt sich May 1933 am Union Theological Seminary in New York ein, weniger mit dem Ziel, Prediger zu werden, sondern vielmehr um auf einer tieferen Ebene die Frage nach dem Menschen zu stellen.13 Aufgrund familiärer Angelegenheiten unterbricht May sein Studium nach einem Jahr und kehrt zurück nach Ohio, wo er eine Stelle als psychologischer Berater am Michigan State College annimmt.14 Über die dort gemachten Erfahrungen mit Blick auf seine Tätigkeiten als Berater schreibt May in seiner ersten Publikation The Art of Counseling. How to Gain and Give Mental Health.15 Schließlich nimmt er sein Studium am Union Theological Seminary wieder auf und schließt es 1938 mit dem Bachelor of Divinity cum laude ab.16 Die hier zu verortende Begegnung mit dem gerade aus Deutschland emigrierten Paul Tillich eröffnet Mays Denken abermals eine neue Dimension. Auf die Tragweite der Begegnung, die Anlass und Inhalt dieser Arbeit darstellt, soll an späterer Stelle eigens eingegangen werden. Die auf Mays Studienabschluss folgende Tätigkeit als Geistlicher (minister) in einer Gemeinde in Montclair, New Jersey,17 charakterisiert Carvalho als desillusionierend.18 Offensichtlich hatte er sich von dem Amt des Geistlichen erhofft, mehr für die Menschen seiner Gemeinde tun zu können.19 Vielleicht ahnte May schon damals, was er zu einem späteren Zeitpunkt in seinem Leben hinsichtlich seiner Motivation, Psychotherapeut zu werden, sagt: Für ihn ist es nicht die Religion oder Philosophie, sondern die Psychotherapie, „wo sich Menschen offenbaren“ und wo sie „zeigen, was sie in ihren Herzen haben.“20 Folglich schreibt sich May an der Columbia University in New York ein, um dort 1949 als erster Kandidat in klinischer Seelsorge mit einer Arbeit über die Bedeutung der Angst summa cum laude promoviert zu werden.21 Die Erkrankung an Tuberkulo-
|| 12 Vgl. SCHNEIDER/GALVIN/SERLIN, Rollo May on Existential Psychotherapy, 425. Siehe auch SCHNEIDER, May, Rollo Reese, 315f. 13 Vgl. ROGERS, Dialogues, 229. 14 Vgl. ebd. Siehe auch MAY, Paulus, 6. 15 Mit einer Einleitung von Dr. Harry Bone, New York/Nashville 1939. 16 Vgl. CARVALHO, Rollo R. May (1909–1994), 8. 17 Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 253. 18 Vgl. CARVALHO, Rollo R. May, 8. 19 Vgl. ROGERS, Dialogues, 230. 20 MAY, The Human Dilemma, 16:21–16:26. 21 Vgl. MAY, Paulus, 21. Siehe auch REEVES, The Psychology of Rollo May, 252, ABZUG, The Deconversion of Rollo May, 60.
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se während der Abfassung seiner Dissertation zwingt ihn zu einem Sanatoriumsaufenthalt und schärft sein Denken hinsichtlich zweier Erfahrungen: Zum einen eröffnet sich ihm durch die unmittelbare Konfrontation mit der Angst vor dem eigenen Tod eine neue Dimension des existentiellen Erlebens seiner selbst. Zum anderen erschließt sich May durch die Auseinandersetzung mit der erkenntnistheoretischen Beschreibung des Phänomens Angst bei Freud und der erkenntnispraktischen Schilderung Kierkegaards die Notwendigkeit der Verbindung von Theorie und existentiellem Erleben des Menschen,22 eine Erkenntnis, die sein späteres Wirken nachhaltig prägen wird, indem es ihm ein Bewusstsein für das Anliegen des Existentialismus eröffnet.23 1952 wird May Mitglied des William Alanson White Institutes,24 was ihn mit seinem eigenen Psychoanalytiker Erich Fromm, mit Harry Stack Sullivan, Frieda Fromm-Reichmann und Clara Thompson in Kontakt bringt, die alle am „Aufbau der ‚kulturellen Schule‘“ mitwirken, „welche das Seelenleben des Menschen aus dem Zusammenwirken von Individuum und Gesellschaft – und nicht durch eine Freudsche ‚Triebmythologie‘ – zu interpretieren unternimmt“.25 Neben seiner Beschäftigung als praktizierender Psychologe und der Veröffentlichung zahlreicher Bücher und Aufsätze lehrt May an bedeutenden amerikanischen Universitäten wie Harvard, Yale, Princeton, Columbia, Dartmouth, Vasser, Oberlin, der New York University und der New School for Social Research.26 Zudem wird er Mitglied in der American Psychological Association, Verwalter der American Foundation for Mental Health, Vorstandsmitglied der Direktoren der Manhattan Society for Mental Health, Präsident der New York State Psychological Association, des National Council of Religion in Higher Education und des William Alanson White Institute of Psychiatry, Psychoanalysis, and Psychology. May erhält u.a. die Ehrendoktorwürde des Oberlin College und den Dr. Martin Luther King Award, den Ralph Waldo Emerson Award for Human Scholarship, den American Psychological Association’s Award für hervorragende Beiträge zur Wissenschaft und Profession der klinischen Psycholo-
|| 22 Vgl. MAY, The Discovery of Being, 14f. 23 Vgl. MAY, The Emergence of Existential Psychology, 2f. 24 Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 257. 25 RATTNER, Klassiker, 748. – Eine Schwäche der „kulturellen“ Schule sieht May jedoch in ihrem Hang zum Konformismus, die ihm zufolge auf das Fehlen einer „adäquaten Idee vom Wesen des Menschen“ zurückgeht. Vgl. MAY, Psychology and the Human Dilemma, 116f. Auf die Tatsache, dass Fromm Mays Therapeut war, verweist Carl Rogers in ROGERS, Dialogues, 231. 26 Vgl. EWEN, An Introduction, 382.
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gie und schließlich die Goldmedaille für eine herausragende Karriere in der Psychologie.27 Rollo Reese Mays Biografie zeigt die Vielschichtigkeit seiner Person. „Klammert man die abstrakten Kategorien Philosoph, Therapeut, Aktivist, Geistlicher, Wissenschaftler und Theoretiker aus“, so Robert H. Abzug in seinem Beitrag Rollo May as Friend to Man, „dann bleibt Rollo Reese May als Helfer und Heiler.“28 May, dessen Leben von Kindheit an von Bedrohungen seines Daseins geprägt ist, macht es sich ein Leben lang zur Aufgabe, den Menschen seiner Zeit Möglichkeiten gelingenden Lebens aufzuzeigen. Diese Tatsache erklärt die Bedeutung des eingangs zitierten Gedichts von Sam Walter Foss, das an der Pinnwand von Mays Büro hing und das sein Bestreben, an der Seite des Menschen zu arbeiten, zusammenfasst. Dementsprechend gedachte May auch, die in den 1980er Jahren geplante Autobiografie (die letztlich jedoch nie erschienen ist) mit dem Titel The Wounded Healer zu überschreiben29 – ein Titel, den der niederländische Priester und Psychologe Henri Nouwen in seinem 1972 veröffentlichten Werk mit Blick auf eine notwendige Charakterisierung des geistlichen Amtes angesichts der Bedürfnisse der Gesellschaft seiner Zeit verwendet.30
1.2 Werkgeschichtliche Entwicklungen In der Auseinandersetzung mit den Werken des amerikanischen Psychotherapeuten muss beachtet werden, dass es sich bei seinen Schriften hauptsächlich um populärwissenschaftliche Abhandlungen handelt, mit dem Anspruch, angereichert von Fallbeispielen aus seiner therapeutischen Tätigkeit, die Themen seiner Beschäftigung einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen. Eine Ausnahme stellt Mays Dissertationsschrift dar, in der er sich mit Theorien der Angst auseinandersetzt und die später unter dem Titel The Meaning of Anxiety veröffentlicht wurde.31 Rollo May selbst äußert sich in Clement Reeves Schrift The Psychology of Rollo May. A Study in Existential Theory and Psychotherapy32 zu der Frage nach Adressaten und angestrebter Wirkung seiner Schriften wie folgt:
|| 27 Vgl. CARVALHO, Rollo R. May, 14f. Siehe auch REEVES, The Psychology of Rollo May, 263. 28 ABZUG, Rollo May as Friend to Man, 19. 29 Vgl. ABZUG, Rollo May as Friend to Man, 19. 30 NOUWEN, The Wounded Healer. Ministry in Contemporary Society. 31 Vgl. MAY, Paulus, 21. 32 Clement Reeves bietet hier eine ausführliche Bibliografie der Werke Mays bis zum Jahr 1977. Vgl. DERS., The Psychology of Rollo May, 311–324.
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Erstens schreibe ich nicht für meine Psychologenkollegen und andere Kollegen. Es scheint mir immer eine Zeitverschwendung und eine Verleugnung der Weisheit, die unsere Disziplin der Psychologie vorleben sollte, nur für die begrenzte Anzahl von Kollegen zu schreiben. Ich schreibe für intelligente, aufgeschlossene, fragende, motivierte Laien. […] Meine Schriften sind ein Versuch, das, was ich auf meinen Reisen in die Tiefenpsychologie des Menschen gelernt habe, einem größeren Publikum – jenem Publikum, das sich auf intelligente Weise darum bemüht, sich selbst und den Platz und die Funktion des Menschen in der Welt zu verstehen – zu interpretieren.33
Seine Schriften gelten folglich jenen, die selbst in der Haltung des Fragens und Suchens sind, und weniger jenen, die, wie May selbst, dem Fragenden und Suchenden auf dem Therapeutenstuhl gegenübersitzen. In diesem Anliegen versteht sich May Dantes Vergil, dem Wegbegleiter Dantes in der Göttlichen Komödie, verpflichtet.34 Werkgeschichtlich lassen sich drei Phasen im Denken Mays ausmachen. Einer ersten „religiösen“ Phase sind die beiden ersten Veröffentlichungen zuzuordnen: The Art of Counseling aus dem Jahre 1939, ursprünglich mit dem Untertitel How to Give and Gain Mental Health, den May bei der zweiten Auflage streichen lässt, und The Springs of Creative Living. A Study of Human Nature and God aus dem Jahre 1940, von der May später keine Neuauflage mehr zulässt und die deshalb vergriffen ist.35 In besonderer Intensität fließen in dieser ersten Zeit Mays eigene Biografie und sein Anliegen, dem Menschen seiner Zeit zu helfen, ineinander. May, der gerade das Studium der Theologie am Theological Seminary beendet hat und eine erste Stelle als Berater (counselor) in einer Gemeinde beginnt, zeichnet hier das Bild eines Beraters, das stark von der Überzeugung einer notwendig religiösen Dimension im Prozess des „Heilens“ und der Persönlichkeitsentwicklung geprägt ist.36 Zu diesem Zeitpunkt hat er noch nicht mit
|| 33 MAY, Reflections and Commentary, 296f.: “First, I do not write for my fellow psychologists and other colleagues. It always seemed to me a waste of time, and a denial of the wisdom our discipline of psychology should exemplify, to write only for the limited number of one’s colleagues. I write for intelligent, open-minded, questioning, motivated lay people. […] My writings are an endeavor to interpret to a larger public – that public which is intelligently concerned with understanding themselves and the place and function of human beings in the world – what I have learned in my journeys into the depth-psychology of human beings.” 34 Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 296f. 35 Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 15. Recht schnell nach Erscheinen seiner zweiten Schrift The Springs of Creative Living. A Study of Human Nature and God verhindert May den erneuten Druck. Den Grund dafür sieht Robert H. Abzug in dem stark autobiografischen Charakter der Schrift. Siehe ABZUG, The Deconversion of Rollo May, 62. 36 Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 15. Diese Beobachtung teilt auch Irvin Yalom. Siehe hierzu SERLIN, In memoriam: Remembering Rollo May, 273.
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dem Studium an der Columbia University begonnen. Dennoch ist in dieser ersten Schaffensphase Mays späteres Denken und therapeutisches Verständnis schon im Keim enthalten. Mit der Veröffentlichung seiner ersten wissenschaftlichen Arbeit, der Doktor-Dissertation im Jahre 1950, vollzieht sich in seinem Denken eine „ontologische Wende“37, welche seine zweite Schaffensphase kennzeichnet. Im letzten Großkapitel der Dissertation Anxiety and the Development of the Self und der darauf folgenden Veröffentlichung Man’s Search for Himself (1953) zeichnet sich diese Werkphase besonders durch die Auseinandersetzung mit dem Denken der Existenzphilosophie und der Frage nach Sein und Existenz aus. Bereits die Titel der in diese Zeit fallenden Schriften lassen den nun mit aller Dynamik auftretenden neuen Ansatz deutlich werden: The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology und Contributions of Existential Psychotherapy38, The Emergence of Existential Psychology und Existential Bases of Psychotherapy39 sowie Psychology and the Human Dilemma (1966)40, das eine Sammlung von Essays darstellt.41 Auffallend ist die hohe Redundanz der Themen dieser zweiten Werkphase Mays. Von der hier vorgeschlagenen Kategorisierung als ‚ontologisch‘ sind die beiden Veröffentlichungen Symbolism in Religion and Literature (1960), eine von May herausgegebene Sammlung mit Beiträgen von Paul Tillich, Werner Heisenberg u.a., und Dreams and Symbols (1968), herausgegeben zusammen mit Leopold Caligor, die auch in diese Zeit fallen, ausgenommen. Mit ihrer Fokussierung auf das Symbol scheinen diese Werke ein Produkt der Beschäftigung Mays mit einem gesonderten Interessensschwerpunkt zu sein. An diese erkenntnistheoretische Grundlegung schließt sich eine dritte und letzte „praktische“ Phase an, die sich als Anwendung des in der zweiten Phase entwickelten Ansatzes auf gesellschaftliche und in der Therapiepraxis Mays zu || 37 “In these months [sc. gemeint sind die Monate seiner Tuberkuloseerkrankung und der in dieser Zeit stattfindenden Beschäftigung mit dem Denken der Existenzphilosophen sowie Freuds und Tillichs], the Rollo May most familiar to us took shape. One need only compare his virtually unknown book The Springs of Creative Living (1940), written just before his crisis, with either The Meaning of Anxiety (1950) or Man’s Search for Himself (1953) to understand the full dimension of transformation.” (ABZUG, Rollo May as Friend to Man, 20). 38 In: Existence. A New Dimension in Psychiatry and Psychology (1958). 39 In: Existential Psychology (1960). Eine Sammlung von Beiträgen des Symposium on Existential Psychology aus dem Jahre 1959, das mit einer abschließenden ausführlichen Bibliografie den existentiellen Ansatz für interessierte Studierende erleichtern soll. Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 315. 40 Dt. Übersetzung: Antwort auf die Angst. Leben mit einer verdrängten Dimension. Aus dem Amerikanischen von S. Schaup, Frankfurt a.M. 1984. 41 Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 314.
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beobachtende Phänomene charakterisieren lässt. In diese Zeit fallen die Werke Love and Will (1969)42, Power and Innocence (1972), The Courage to Create (1972), Paulus. Reminiscences of a Friendship (1972), Freedom and Destiny (1981), The Discovery of Being (1983)43, My Quest for Beauty (1985) und The Cry for Myth (1991). Die Tatsache, dass May in seinen Werken aufgrund seiner umfassenden literarischen und künstlerischen Bildung und seines Interesses an Philosophie und Religion die Erfahrungen der klinischen Psychotherapie mit den alltäglichen Anliegen und Fragen des Menschen und der Gesellschaft zu verbinden weiß, macht ihn zusammen mit Erich Fromm zu einem der meist gelesenen amerikanischen Psychologen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.44 Besonders zu nennen ist hier Love and Will, ein Werk, das zu einem nationalen Bestseller avancierte und für das May 1970 den Ralph Waldo Emerson Award für bedeutende Beiträge zur Interpretation der Bedingungen des Menschseins gewinnt.45
2 Existentialistischer Zwischenruf 2.1 Ausgangssituation und Entwicklungen in den USA 2.1.1 Kritik an einem mechanistischen Psychologieverständnis Rollo May prägte die Psychologie seiner Zeit mit einem ganz eigenen Ansatz, den er seinem breiten Interesse an Welt und Umwelt des Menschen, an Kultur, Literatur und Philosophie zu verdanken hat.46 Der amerikanischen Psychologie in den 1950er Jahren, die in ihrer Methodenzentriertheit und einem starren Festhalten an Techniken lediglich auf eine Verhaltensänderung abzielt, hält May eine zu kurz gedachte Vorgehensweise vor:
|| 42 Hierzu gibt es zwei Übersetzungen ins Deutsche: Liebe und Wille. Aus dem Amerikanischen von B. Stein (= Edition Humanistische Psychologie) und: Der verdrängte Eros. Aus dem Amerikanischen von J. Wagner. 43 Dt. Übersetzung: Sich selbst entdecken. Seinserfahrungen in den Grenzen der Welt, München 1990. 44 Vgl. ROGERS, Dialogues, 231. 45 Vgl. CARVALHO, Rollo R. May (1909–1994), 12. Der Ralph Waldo Emerson Award wird von der Phi Beta Kappa Society verliehen für wissenschaftliche Studien, die einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis des Menschen beitragen. Zum Ralph Waldo Emerson Award vgl.: https://www.pbk.org/Book-Awards [aufgerufen am 03.07.2022]. 46 Vgl. RATTNER, Klassiker der Tiefenpsychologie, 769.
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Im Gegensatz zu Richtungen in der Psychologie, die in Theorien über Konditionierung, Verhaltensmechanismen oder instinktive Antriebe münden, behaupte ich, dass wir tiefer als diese Theorien gehen müssen und die Person, das menschliche Wesen, mit dem all diese Dinge geschehen, entdecken müssen.47
Ein lediglich mechanistisches Verständnis von Psychotherapie betrachtet nach May das vorherrschende Problem isoliert von der ganzen Person und von ihrer gesellschaftlichen Einbindung und stellt das Individuum bei einer nächsten Krise vor die gleichen Probleme, die schließlich nach einer erneuten Therapie verlangen.48 Die Ablehnung der scheinbaren Berechenbarkeit des Menschen, die Gegenstand der beiden „führenden ideologischen Schulen“, des wissenschaftlich-positivistischen Behaviorismus und der Freudschen Psychoanalyse49, ist, weist eine gewisse Nähe zu dem Protest der existentialistischen Denker gegen das rationalistische Denken der Neuzeit auf. Dabei gilt es jedoch deutlich zu machen, dass die Kritik nicht den Erkenntnissen Freuds gilt, misst May doch dem Bewusstmachen des Unbewussten im Menschen einen entscheidenden Beitrag zur Überwindung der Fragmentierung des Menschen seiner Zeit bei.50 Sie gilt vielmehr jenen Tendenzen, die die Psychotherapie als eine Anwendung von Techniken begreifen, mit denen Symptome isoliert geheilt werden können; ein Verständnis von Psychotherapie, das an den Errungenschaften Freuds und Jungs vorbeigeht.51 Diese Entwicklung ist wohl der Tatsache geschuldet, dass, wie May zu berichten weiß, in der Mitte der 1930er Jahre in den USA die Lehren Freuds, Jungs, Adlers oder Ranks nicht einmal Teil des Psychologiestudiums und selbst bei Dozenten sogar die Namen jener großen Psychologen weitestgehend unbekannt sind.52 Gleichzeitig gilt die Kritik aber auch der Tendenz, Freuds Lehre vom Unbewussten als Universalerklärung zu verstehen.53 Seine differenzierte Sicht verdankt May seinem Aufenthalt in Europa und damit ein-
|| 47 MAY, The Discovery of Being, 10: “In contrast to the psychologies that conclude with theories about conditioning, mechanisms of behavior, and instinctual drives, I maintain that we must go below these theories and discover the person, the being to whom these things happen.” Siehe auch DERS., Freedom and Destiny, 137; SCHNEIDER, May, Rollo Reese, 316; SCHNEIDER/GALVIN/SERLIN, Rollo May on Existential Psychotherapy, 419f. 48 Vgl. SCHNEIDER/GALVIN/SERLIN, Rollo May on Existential Psychotherapy, 419f. 49 Vgl. YALOM, Existenzielle Psychotherapie, 30. Zur Ausrichtung des behavioristischen Ansatzes siehe WATSON, Psychology as the Behaviorist Views it, 158–177; BERGIUS, Art. Behaviorismus, 817f. 50 Vgl. MAY, The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology, 35. 51 Vgl. SCHNEIDER/GALVIN/SERLIN, Rollo May on Existential Psychotherapy, 419f. 52 Vgl. ebd., 425f. 53 Vgl. MAY, The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology, 5.
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hergehend der Auseinandersetzung mit europäischem Gedankengut. Vor diesem Hintergrund charakterisiert er die amerikanische Psychologie seiner Zeit als „naiv und simplifizierend“, indem sie genau das ausklammert, was das Leben ausmacht. Er war auf der Suche nach einer Umgebung, in der man über Themen wie „die Bedeutung der Verzweiflung, Suizid und normale Angst“ diskutieren und ihre „Gegenspieler“ entdecken konnte: „Mut, Freude und die Intensität zu leben“.54 Die Kritik Mays an der zeitgenössischen amerikanischen Psychologie deckt sich mit Beobachtungen Tillichs, der bei seiner Ankunft in den USA eine fehlende Kenntnis und ein fehlendes Verständnis der in Europa beheimateten existentiellen Strömung beklagt. Beispielhaft führt Tillich an, dass ein Ausdruck für Angst als existentielles Moment im Amerikanischen schon rein sprachlich fehlte.55 2.1.2 Ein europäisches Pendant: Viktor E. Frankls Charakterisierung der Psychologie als depersonalisierend Die Kritik Mays ähnelt weitgehend jener Viktor E. Frankls an der Psychologie seiner Zeit. Eine überzeugende Darstellung sowie eine Einbettung dieser Kritik in die weitere zeitgenössische Anthropologie bietet Marc Röbels Dissertation Staunen und Ehrfurcht. Eine werkgeschichtliche Untersuchung zum philosophischen Denken Peter Wusts in einem zweiten Teil mit dem Titel Die Wiederentdeckung des „ganzen Menschen“.56 Röbel stellt die Kritik Frankls in den Kontext der Kritik Peter Wusts und weiterer Denker an dem rein „naturwissenschaftlich geprägten“ medizinischen Denken und Forschen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.57 Frankl führt er als Vertreter einer Psychologie an, der in der Auseinandersetzung mit Alfred Adler und Sigmund Freud in seiner eigenen Profession die Tendenz der Depersonalisierung aufgrund der Überbetonung des Technisch-Mechanistischen wahrnimmt.58 Mit dieser Kritik verbindet ihn ein
|| 54 Vgl. MAY, Paulus, 2. 55 Vgl. EW XVI 2f. Siehe auch MAY, The Discovery of Being, 48. 56 Vgl. RÖBEL, Staunen und Ehrfurcht, 147–197. 57 Ebd., 148. Siehe auch ebd., 151–161. 58 Vgl. RÖBEL, Staunen und Ehrfurcht, 151-154. Siehe auch FRANKL, Der unbewusste Gott, 10; DERS., Ärztliche Seelsorge, 327–336; 320f.: „Nie kommt es auf eine Technik an, sondern immer nur auf denjenigen, der die Technik handhabt, auf den Geist, in dem sie gehandhabt wird. Und so gibt es denn auch einen Geist, aus dem heraus eine psychotherapeutische Technik auf eine den Patienten ,depersonalisierendeʻ Art und Weise gehandhabt wird, indem hinter der Krankheit nicht mehr die Person, vielmehr in der Psyche nur noch Mechanismen gesehen werden: der Mensch wird reifiziert – er wird zur Sache gemacht – oder gar manipuliert: er wird Mittel zum Zweck.“ Siehe auch DERS, Zur geistigen Problematik der Psychotherapie, 43–54.
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weiteres „europäisches Pendant“, nämlich Ronald D. Laing, der mit seinem Hauptwerk The Divided Self einen existentiell-phänomenologischen Ansatz vorstellt, der im Therapiegeschehen das Gegenüber als Person wahrzunehmen sucht, statt es lediglich als Organismus zu betrachten.59 Frankl würdigt das Verdienst der Psychotherapie in der Aufdeckung seelischer Ursachen hinter physischen Symptomen, fordert darüber hinaus aber, einen weiteren Schritt zu tun und den Bereich des Geistigen prinzipiell mit einzubeziehen.60 Darin sieht er den entscheidenden Unterschied zwischen seinem eigenen Ansatz und dem der Psychotherapie: „In ihrer Spezifikation als Psychoanalyse bemüht sich die Psychotherapie um Bewußtmachung von Seelischem. Die Logotherapie bemüht sich demgegenüber um Bewußtmachung von Geistigem.“61 Die „geistige Not“62 seiner Zeit zeigt sich für ihn vor allem in der Sinnlosigkeit bzw. dem Verlust eines Sinnbezugs. Ein solches Gefühl ist Frankl zufolge nicht selten ein Auslöser für jene Form der Neurose, die er als ‚noogene Neurose‘ bezeichnet.63 In Abgrenzung zu Nicolai Hartmann und Max Scheler, die das Leibliche, das Seelische und das Geistige mithilfe des Bildes von Stufen bzw. Schichten voneinander unterscheiden, sucht Frankl den Menschen im Sinne der von ihm entworfenen Dimensionalontologie als „vieldimensionale Einheit“64 zu verste-
|| 59 Vgl. LAING, Das geteilte Selbst, 19–31, bes. 26: „Als Organismus gesehen kann der Mensch nichts anderes sein als ein Komplex von Dingen, von Neutren (its), und die Prozesse, die letztlich einen Organismus umfassen, sind Es-Prozesse. Es gibt da die allgemeine Illusion, daß man sein Verstehen einer Person irgendwie vergrößert, wenn man ein personales Verstehen dieser Person in die unpersönlichen Begriffe einer Sequenz oder eines Systems von Es-Prozessen übersetzen kann. […] Es sollte beachtet werden, daß ich hier nichts gegen den Gebrauch von mechanischen oder biologischen Analogien als solche einwende noch in der Tat etwas gegen den intentionalen Akt, den Menschen als eine komplexe Maschine oder als ein Tier zu sehen. Meine These beschränkt sich auf die Behauptung, daß eine Theorie über den Menschen als Person ihr Ziel verfehlt, wenn sie zu einer Darstellung des Menschen als einer Maschine oder des Menschen als eines organismischen Systems von Es-Prozessen wird.“ Ronald D. Laing entwickelt seinen Ansatz in der Tradition des Existentialismus, zeigt aber zugleich auf, dass es zahlreiche Divergenzen zu Kierkegaard, Jaspers, Heidegger, Sartre, Binswanger und Tillich gibt. (Vgl. DERS., Das geteilte Selbst, 9f.). 60 Vgl. FRANKL, Ärztliche Seelsorge, 332; 335. Siehe auch DERS., Theorie und Therapie der Neurosen, 150; 162. 61 FRANKL, Ärztliche Seelsorge, 356. Frankl ergänzt: „Wobei sie in ihrer Spezifikation als Existenzanalyse darum bemüht ist, im besonderen das Verantwortlichsein – als Wesensgrund der menschlichen Existenz – dem Menschen zum Bewußtsein zu bringen.“ 62 Ebd., 335. 63 Vgl. ebd., 322. 64 GÖRGEN, Pathodizee statt Theodizee?, 167; 169–177.
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hen, wobei dem Geistigen in der Konstituierung des Menschen eine entscheidende Rolle zukommt.65 May hat eine ähnliche Kritik an Freud und Adler geübt. Bei aller Parallelität lässt sich bei May jedoch ein Unterschied im Ursprung der Kritik ausmachen: Auch wenn es ihm letztendlich um eine Kritik an der Verwissenschaftlichung und der damit verbundenen Reduktion seiner Profession geht, so weitet er diese jedoch nicht in andere Bereiche der Medizin aus, sondern verknüpft sie eng mit den kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten und Entwicklungen seiner Zeit. 2.1.3 Die „Dritte Kraft“ und die Orientierung am europäischen Existentialismus Zusammen mit Rollo May erheben sich auch in den USA Ende der 1930er und in den 1940er Jahren – zunächst noch nicht systematisch – weitere Stimmen gegen die Engführung der beiden vorherrschenden Schulen des Behaviorismus und der Psychoanalyse. Als Vertreter sind hier Gordon Allport, Henry Murray und Gardner Murphy, George Kelly, Abraham Maslow und Carl Rogers zu nennen. „Sie hatten das Gefühl, daß diese beiden ideologischen Persönlichkeitsansätze einige der wichtigsten Qualitäten ausschlossen, die das menschliche Wesen ausmachen – zum Beispiel Wahl, Werte, Liebe, Kreativität, Selbstbewußtheit, menschliches Potenzial.“66 Diese Themen sollten in der sich in den 1950er Jahren neu gründenden Schule der „Humanistischen Psychologie“, die sich als „Dritte Kraft“67 neben der behavioristischen und analytischen Schule versteht, einen Ort finden.68 – Ähnlich wird die von Viktor E. Frankl begründete Richtung der Logotherapie und Existenzanalyse ebenfalls als eine dritte Kraft verstanden, die neben der Psychoanalyse Freuds und der Individualpsychologie Alfred Adlers die sogenannte ‚Dritte Wiener Schule‘ bildet.69 – Das in den 1960er Jahren von den Gründern der Association for Humanistic Psychology70 ins Leben gerufene Journal of Humanistic Psychology, zu deren Herausgebern neben Carl Rogers, Lewis Mumford, Kurt Goldstein, Charlotte Bühler, Abraham Maslow, Aldous Huxley und James Burgental auch Rollo May zählt71 und das die Themen
|| 65 Vgl. FRANKL, Ärztliche Seelsorge, 347–351. 66 YALOM, Existenzielle Psychotherapie, 30. 67 Ebd. 68 Vgl. ebd. Siehe auch RATTNER, Klassiker der Tiefenpsychologie, 748; NOYON/HEIDENREICH, Existenzielle Perspektiven in Psychotherapie und Beratung, 47. 69 Vgl. RÖBEL, Staunen und Ehrfurcht, 153. 70 Siehe dazu ROGERS, Dialogues, 231. 71 Vgl. YALOM, Existenzielle Psychotherapie, 30.
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der neuen Schule in den Fokus stellt, dient als eine wesentliche Quelle für Person und Werk Rollo Mays. Die Gegenkultur der 1960er Jahre, die die amerikanische Gesellschaft als „Zwangssystem“ versteht und sich diesem durch die Radikalisierung der „Kultur der Spontaneität“ der 1950er Jahre entgegenstellt,72 bewirkt schließlich eine Auffächerung der Schule der Humanistischen Psychologie in eine Vielzahl von Strömungen, die nicht mehr den gleichen Geist in sich tragen – eine Entwicklung, die May, Rogers und Maslow, die die humanistische Psychologie anfänglich intellektuell prägten, Abstand nehmen lässt.73 Die in der Literatur zu findende Charakterisierung Mays als Vertreter der „existenziell-humanistischen Therapie“74 macht seine Auseinandersetzung mit den Themen der Strömung des Existentialismus in Europa deutlich. Dennoch überträgt May nicht einfach den europäischen Ansatz auf die Psychologie in den USA; vielmehr sucht er nach einer Anschlussfähigkeit, die die Kultur und die Erfahrungen der amerikanischen Gesellschaft in den Fokus nimmt. In diesem Sinne schreibt er: Ich möchte gleich zu Beginn meine Ansichten zu dem, was man Existenzpsychologie und Psychiatrie nennt, verdeutlichen. Trotz meiner Ausbildung innerhalb der neofreudianischen, interpersonalen Schule, war ich mein ganzes Leben davon überzeugt, dass die Natur des Menschen selbst als Grundlage unserer Wissenschaft und Kunst der Psychotherapie verstanden werden muss. In den existentiellen Strömungen unserer Kultur, ob in der Literatur, Kunst, Philosophie oder Wissenschaft, geht es immer um dieses Grundverständnis. Deshalb habe ich diese Entwicklungen geschätzt, lange bevor ich etwas über zeitgenössische existentielle Psychiatrie in Europa gehört hatte. Trotzdem bin ich kein Anhänger des existentialistischen Kults im europäischen Sinne. Ich denke, dass wir in Amerika Ansätze entwickeln müssen, die unserer eigenen Erfahrung eigen sind und dass wir entdecken müssen, was wir in unseren historischen Situationen brauchen. Dies ist in meinen Augen die einzig mögliche ‚existentielle‘ Haltung.75
|| 72 Vgl. FLUCK, II. Kultur, 797. 73 Vgl. YALOM, Existenzielle Psychotherapie, 32f. 74 NOYON/HEIDENREICH, Existenzielle Perspektiven in Psychotherapie und Beratung, 48. 75 MAY, Psychology and the Human Dilemma, 87: “I would like to make clear at the outset the relation of my views to what is called existential psychology and psychiatry. I am trained in psychoanalysis in the neo-Freudian, interpersonal school, but all my life I have been one who believes that the nature of man himself must be understood as a basis for our science and art of psychotherapy. The existential developments in our culture, whether in literature, art, philosophy, or science, have precisely as their raison d’être the seeking of this understanding of man. Therefore I valued these developments long before I heard about contemporary existential psychiatry in Europe. But I am not an existentialist in the cultist European sense. I think that we in America have to develop approaches that are indigenous to our own experience, and that we must discover what we need in our historical situations – an attitude in itself which, in
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Trotzdem beargwöhnt man diesen Zweig, der einen neuen Weg sucht, indem er sich gegen ein etabliertes System auflehnt und den Krisen der Zeit stellt. Bis in die späten 1950er und frühen 1960er Jahre war der existentielle Ansatz, der in der europäischen Psychiatrie und Psychoanalyse schon seit einigen Jahrzehnten eine herausragende Position einnimmt, May zufolge in den USA noch wenig bekannt. Obwohl der Ansatz „eine tiefe innere Verwandtschaft zum amerikanischen Charakter und Denken“76 hat, was sich etwa in der Nähe zum Denken William Jamesʼ, einem Hauptvertreter des amerikanischen Pragmatismus der ersten Stunde, ausdrückt, zeigt sich gleichzeitig eine große Abneigung gegenüber diesem europäischen Ansatz. Der entscheidende Widerstand drückt sich in der Befürchtung aus, die existentielle Analyse stelle einen Übergriff der Philosophie auf die Psychiatrie dar und habe nicht viel mit Wissenschaft zu tun.77 Letztlich ist es aber das Anliegen der Begründer der existentiellen Bewegung in den USA, nicht weniger, sondern sogar in einem größeren Maße empirisch zu sein.78 Macht es sich jedoch die existentielle Psychotherapie, wie May es formuliert, zur Aufgabe, Empirie und Ontologie zu vereinen, wird die Angewiesenheit auf die Philosophie schon deutlich. Mit der Ontologie befindet sie sich mitten im Raum der Philosophie.79 Das Verhältnis beider Disziplinen drückt May wie folgt aus: Der existentielle Ansatz „befasst sich mit psychologischen Kategorien – ‚Erfahrung‘, ‚Angst‘, ‚Wille‘ und so weiter – aber er beschäftigt sich mit diesen Aspekten des menschlichen Lebens auf der tieferen Ebene der ontologischen Realität.“80 Gordon Allport macht darauf aufmerksam, dass die amerikanische und die britische Psychologie in der Tradition John Lockes stehe und der Idee, dass der
|| judgment, is the only ‘existential’ one.” Die Einführung der existentiellen Psychoanalyse in Amerika stellte sich jedoch als schwierig heraus. Zum paradoxen Verhältnis der amerikanischen Psychologie und Psychiatrie zur europäischen Existenzanalyse vgl. DERS., Psychology and the Human Dilemma, 128–137. 76 MAY, The Discovery of Being, 13. Siehe auch DERS., The Emergence of Existential Psychology, 4f.; COOPER, Existential Psychotherapy, 239. Cooper verweist auf das zeitgleiche Aufkommen des existentiellen Ansatzes im Vereinten Königreich, vertreten durch Ronald D. Laing. 77 Vgl. MAY, The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology, 7. 78 Vgl. ebd., 8. 79 Vgl. ebd., 36: “Existential psychotherapy is the movement which, although standing on one side on the scientific analysis owed chiefly to the genius of Freud, also brings back into the picture the understanding of man on the deeper and broader level – man as the being who is human. It is based on the assumption that it is possible to have a science of man which does not fragmentize man and destroy his humanity at the same moment as it studies him. It unites science and ontology.” 80 MAY, The Emergence of Existential Psychology, 9.
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Verstand eine tabula rasa sei, wonach unsere Erkenntnis allein auf der äußeren und inneren Sinneswahrnehmung beruhe, was erkläre, warum ihr der Behaviorismus, Reiz-Reaktions-Systeme und die Erkenntnisgewinnung anhand der Arbeit mit Tieren näher liege. Abgrenzend dazu ordnet er die europäische Psychologie der Tradition Gottfried Wilhelm Leibnizʼ zu, der in seiner Monadenlehre und der damit verbundenen Lehre von den eingeborenen Ideen das Entscheidende als schon im Menschen angelegt verstehe.81 Eine detailliertere Analyse der Gründe eines erschwerten Zugangs zu „einer der ältesten und am weitesten verbreiteten Form der therapeutischen Praxis“ bietet Mick Cooper in dem von Jay L. Lebow herausgegebenen Sammelband Twenty-First Century Psychotherapies. Contemporary Approaches to Theory and Practice.82 Neben der philosophischen Grundlage nennt Cooper vor allem die Schwierigkeit einer klaren Definition des existentiellen Ansatzes aufgrund der vielen unterschiedlichen Ausprägungen sowie das Fehlen eines Katalogs an Techniken, auf den die Therapeuten und Therapeutinnen jenes Ansatzes jedoch bewusst verzichten, verstehen sie diesen doch eher als eine Haltung, mit dem sie ihren Patienten und Patientinnen begegnen, und weniger im Sinne einer klar systematisierten Schule.83 Eben diese Offenheit charakterisiert Cooper aber
|| 81 Vgl. ALLPORT, Becoming, 7–17. Diese Überlegung passt zu Mays Hinweis auf eine prinzipielle Neigung zur Technik, wie sie ihm zufolge in der amerikanischen Gesellschaft zu finden ist. Daraus schließt er auf eine eher ungeduldige Haltung gegenüber einer notwendigen Beschäftigung mit den Grundlagen, auf denen alle technischen Erwägungen basieren müssen. Vgl. MAY, The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology, 9 und DERS., Psychology and the Human Dilemma, 131–134. 82 Vgl. COOPER, Existential Psychotherapy, 237–276. 83 Vgl. ebd., 237: “Despite being one of the oldest and most widespread forms of therapeutic practice, existential psychotherapy is, perhaps, one of the least well understood. A number of reasons exist for this. First, being derived from philosophical, rather than psychological roots, existential psychotherapeutic texts such as Binswanger’s (1963) Being-in-the-World or Laing’s (1969) Self and Others are often as complex and challenging as the continental philosophical writings on which they are based. Second, because of this philosophical groundings, existential psychotherapists have tended to be much better at articulating the theoretical tenets of their approach than its actual concrete practices. Third, there is enormous diversity across the various branches of existential psychotherapy: Indeed, it is much more meaningful to talk of existential psychotherapies […] than of a singular existential approach. Hence, there is no one definable set of core beliefs, values, or practices that characterizes this approach. Fourth, existentialism is, to a great extent, a critical and reactive style of thinking rather than a proactive one. Consequently, existential therapists are often much better at saying what they don’t do than what they do do. Finally, as we see later, there is considerable emphasis in the existential approach on the uniqueness of each individual client, practitioner, and therapeutic relationship. Hence, existential therapists have often been reluctant to systematize their approach and
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auch als Stärke und Chance des Ansatzes, da dadurch eine gewisse Wahl geeigneter Techniken möglich ist.84 Trotz einer gewissen Pauschalität in den Begründungen trifft Cooper sicherlich den Kern einer möglichen Kritik, die sich in einer sperrigen und teilweise nur schwer verständlichen Grundlegung des existentiellen Ansatzes finden ließe. Stellenweise ist es äußerst schwierig, den Texten existentieller Therapeuten zu folgen, besonders wenn sie sich einer philosophischen Terminologie bedienen und deren Herleitung und Bedeutung nicht differenziert darlegen. Im Gesamtkontext der humanistischen Psychotherapie, die sich in unterschiedlichste Zweige ausdifferenziert, zeichnet sich der existentielle Zweig in Anlehnung an die Themen des Existentialismus durch die Beschäftigung mit der Erfahrung des Todes, des Schmerzes und der menschlichen Begrenztheit aus.85 Irvin D. Yalom versteht die Entwicklungen in der US-amerikanischen Psychologie analog zu der Bewegung, die von ‚existentiellen Analytikern‘ in Europa initiiert wurde. Hier sind namentlich Ludwig Binswanger, Medard Boss, Eugene Minkowsky, Victor Emil von Gebsattel, Roland Kuhn, Igor Alexander Caruso, Frederik Jacobus Johannes Buytendijk, Gustav Bally und Viktor E. Frankl zu nennen, die unabhängig voneinander in Abgrenzung zu Freuds deterministischem Vorgehen die Erfahrungswelt der Patienten in den Mittelpunkt der Therapie stellen.86 Es ist Rollo May, der mit seinem 1958 zusammen mit Henri Ellenberger und Ernest Angel herausgegebenen Werk Existence: A New Dimension in Psychiatry and Psychology die soeben angeführten Denker in der USamerikanischen Psychologie bekannt gemacht und die existentielle Psychologie eingeführt hat.87 Dass diese in den USA zunächst kaum Beachtung finden, liegt
|| lay down a particular set of guidelines for practice, let alone manualize their way or working.” Siehe auch MAY, The Emergence of Existential Psychology, 15. 84 Vgl. COOPER, Existential Psychotherapy, 237. 85 Vgl. SCHNEIDER/KRUG, Existential-Humanistic Therapy, 5. 86 Vgl. YALOM, Existenzielle Psychotherapie, 28f.; MAY, The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology, 4f. Siehe hierzu auch COOPER, Existential Psychotherapy, 239–242. 87 Vgl. YALOM, Existenzielle Psychotherapie, 29. Siehe auch SCHNEIDER, May, Rollo Reese, 316. Herbert Spiegelberg schreibt dazu in seinem historischen Überblick über die Phänomenologie in Psychologie und Psychiatrie 143f.: “The chief milestone in the development of American phenomenological and existential psychology and psychiatry was the publication in 1958 of the volume, Existence: A New Dimension in Psychiatry and Psychology (note the order) edited by Rollo May, Ernest Angel, and Henri F. Ellenberger. Prior to it there had been only sporadic spurts of what was mostly grassroots phenomenology, with eclectic loans from the scant sources then available in translation from the German and French philosophical and psychological world. The main living connection with these European roots was Paul Tillich. With the
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vor allem am Fehlen geeigneter Übersetzungen und kritischer Auseinandersetzungen.88 In einer Rezension zu dem genannten Sammelband von 1958 äußert sich Carl Rogers kritisch hinsichtlich des Anliegens, den existentiellen Therapieansatz sowie die wichtigsten Schriften der existentiellen Denker Europas in den USA bekannt zu machen. Während er die beiden einleitenden Kapitel Mays als bemerkenswert und brillant charakterisiert, sieht er den Ertrag der Übersetzungen der europäischen Originalstimmen als eher gering, zeichnen sich diese doch durch eine Schwerfälligkeit und eine fehlende Nachprüfbarkeit aus.89 Letzteres ist auch ein Defizit einiger Texte Mays, der zahlreiche Querverbindungen zu anderen Denkern andeutet, ohne die Quellen genau zu nennen. Eine Erklärung dafür, dass der psychologische Ansatz, der mit May und anderen Einzug in die US-amerikanische Psychologie gefunden hat, zunächst ein so hohes Maß an Ablehnung erfährt, bietet Roy J. de Carvalho: „Das psychologische Denken Rollo Mays steht an der intellektuellen Kreuzung der humanistischen Psychologie und der europäischen existentiellen und phänomenologischen Psychologie.“90 Ähnlich sieht es auch Irvin Yalom, Mays bekanntester Schüler und Verfasser sowohl eines Handbuchs zur existentiellen Psychotherapie als auch populärer Romane wie Und Nietzsche weinte und Die SchopenhauerKur, wenn er meint, dass sein Lehrer seiner Zeit weit voraus war.91 Als den hier beschriebenen Grenzgänger und Wegbereiter hat sich May auch immer selbst verstanden.92
|| appearance of May’s volume the climate changed rapidly.” (SPIEGELBERG, Phenomenology in Psychology and Psychiatry, 143f.). Spiegelberg sucht mit seinem Werk die Entwicklung vor der Veröffentlichung von Mays Existence darzulegen. Vgl. DERS., Phenomenology in Psychology and Psychiatry, 144. 88 Vgl. YALOM, Existenzielle Psychotherapie, 29. 89 Vgl. ROGERS, The Way to Do is to Be, in: American Psychologist 4 (1959) 196–198. Hier abgedruckt in ROGERS, Dialogues, 232–236. 90 CARVALHO, Rollo R. May (1909–1994), 10. 91 Vgl. SERLIN, In memoriam, 272. 92 Vgl. SCHNEIDER/GALVIN/SERLIN, Rollo May on Existential Psychotherapy, 426.
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3 Existentielle Psychotherapie 3.1 Das neue Prinzip der existentiellen Psychotherapie: Den Menschen als Sein verstehen In seinem Werk Existence. A New Dimension in Psychiatry and Psychology93 sowie in dem drei Jahre später publizierten Sammelband Existential Psychology94 bietet May eine Darstellung von Anliegen und Themen der existentiellen Psychotherapie95. In der wiederholten Abgrenzung zu den bereits erwähnten vorherrschenden Strömungen der Psychoanalyse sowie des Behaviorismus betont er, dass dieser neue Ansatz die Errungenschaften Freuds nicht verwirft – die Aussagekraft von Dynamiken und das notwendige Studieren spezieller Verhaltensmuster in deren berechtigten Anliegen und Kontexten sind nach May nicht zu leugnen. Demgegenüber betont die existentielle Psychotherapie aber, dass alles Wissen über Triebe, Dynamiken und Verhaltensmuster nur bedeutsam und aussagekräftig ist, wenn es im Kontext der ganzen Person betrachtet wird.96 „Der fundamentale Beitrag der existentiellen Psychotherapie“, schreibt May, „ist das Verständnis des Menschen als Sein. […] Der unterscheidende Charakter der existentiellen Analyse ist folglich, dass sie sich mit Ontologie, der Wissenschaft vom Sein, und mit Dasein, der Existenz dieses bestimmten Wesens, das dem Therapeuten gegenübersitzt, befasst.“97 May charakterisiert den neuen Ansatz mit bedeutungsgeladenen Begriffen wie Sein, Ontologie, Dasein, Existenz. Obwohl viele seiner Kollegen und Kolleginnen Mays Ansichten hinsichtlich der
|| 93 Siehe hier vor allem die einleitenden Beiträge The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology (3–36) und Contributions of Existential Psychotherapy (37–91). 94 Siehe hier die Beiträge The Emergence of Existential Psychology (1–48) und Existential Bases of Psychotherapy (72–83). 95 25 Jahre nach dem Erscheinen des Standardwerks Existenzielle Psychotherapie von Irvin Yalom äußert dieser sich kritisch zu der Bezeichnung „existentielle Psychotherapie“. In seinem Nachwort zur vierten Auflage heißt es: „[…] ich benutze heute den Begriff ,existenzielle Psychotherapeutenʻ nur sehr selten und spreche lieber von ,existenziell sensiblenʻ, ,existenziell orientiertenʻ oder ,existenziell gestimmtenʻ Therapeuten. Ich glaube nicht, dass existenzielle Therapie eine eigenständige, unabhängige ideologische Schule sein kann. Man kann angehende Therapeuten nicht von Anfang an zu existenziellen Therapeuten ausbilden, sondern sollte ein volles, abgerundetes psychotherapeutisches Ausbildungsprogramm durch existenzielle Sensibilität quasi veredeln.“ (YALOM, Existenzielle Psychotherapie, 632). 96 Diesen Hinweis bringt May in verschiedenen seiner Werke: Contributions of Existential Psychotherapy, 37; Existential Bases, 72; The Emergence of Existential Psychology, 9; The Discovery of Being, 15. 97 MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 37.
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Schwäche der gängigen Strömungen teilen, stoßen sie sich aufgrund solcher Begriffe wie Sein und Nichtsein an der Terminologie des existentialistischen Zugangs, der nach ihnen „hoffnungslos vage und verwaschen“ sei. May hält dem entgegen, dass ohne eine Vorstellung von Sein und Nichtsein „nicht einmal die am häufigsten verwendeten psychologischen Mechanismen“ verstanden werden können.98 Erst viel später, als es in Europa der Fall war, war in den USA so etwas wie ein „ontologischer Hunger“ (ontological hunger) zu spüren, der allmählich die „Verdrängung des ontologischen Sinnes“ überwunden hat.99 Die erst später einsetzende Auseinandersetzung mit der ontologischen Frage führt May auf die günstigen Ausgangsbedingungen Amerikas zurück: „Unsere enormen Ressourcen und unsere geographische Lage haben uns vor den tragischen Erschütterungen des Daseins bewahrt, die den europäischen Völkern, ob sie es wollten oder nicht, die ontologische Frage aufgedrängt und sie gezwungen haben, sich mit Angst, Tod und anderen existentiellen Nöten auseinanderzusetzen.“100 Für seine englischsprachige Leserschaft weist May auf die terminologischen Schwierigkeiten des Begriffs Sein im Englischen hin, da mit being generell ein statisches Moment verbunden ist und mit a being lediglich eine spezielle und in sich geschlossene Entität bezeichnet wird. Aus diesem Grunde schlägt er das Nomen potentia und das Verb becoming als im Englischen adäquate Ausdrücke vor, beinhalten diese doch eher das, was Dasein (Heidegger) bzw. Existenz (Jaspers) bei den Existenzphilosophen meint, nämlich Existenzwerdung als Prozess.101 In Abgrenzung zu den im Fokus der psychoanalytischen Betrachtung stehenden Triebe, Instinkte und Mechanismen definiert May Sein als das, was nach der Analyse dieser Aspekte noch übrigbleibt. Sein ist das, „was diese grenzenlos komplexe Sammlung deterministischer Faktoren zu einer Person konstituieren, der Erlebnisse widerfahren und die, egal wie winzig es auch ist, ein Moment der Freiheit besitzt, um sich bewusst zu werden, dass diese Kräfte auf sie einwirken. Deshalb ist das der Bereich, wo er, der Mensch, nie bloß eine Sammlung von Trieben und festgelegten Verhaltensmustern ist.“102 Sein ist
|| 98 MAY, The Discovery of Being, 16. Siehe auch DERS., The Emergence of Existential Psychology, 15f. 99 MAY, Psychology and the Human Dilemma, 130. 100 Ebd., 133. 101 Vgl. MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 41; 71. Bezüglich der terminologischen Schwierigkeiten in der englischen Sprache siehe MAY, The Emergence of Existential Psychology, 34f. 102 MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 41. Auffallend ist hier die Orientierung an der Wortwahl Sartres in Das Sein und das Nichts, der ähnlich anführt, dass das Entschei-
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demnach für May „das einzigartige Muster an Möglichkeiten des Individuums“ (the individualʼs unique pattern of potentialities).103 Dieses Muster ist die grundlegende Struktur, von der aus Mechanismen und Triebe im Menschen erst erklärt werden können.104 Will man Verhaltensweisen des Individuums verstehen, gilt es nach May zu fragen, wie sich die Person zu ihren Möglichkeiten verhält.105 Daraus ergibt sich für May beispielsweise ein Verständnis von Angst als die „Furcht des Menschen vor seinen eigenen Möglichkeiten und den Konflikten, die sich aus dieser Furcht ergeben“.106 In diesem Sinne versteht er auch Freiheit als ein Sich-bewusst-Werden der Kräfte und Mechanismen, die auf den Menschen wirken und zu denen er sich auf die eine oder andere Weise verhalten kann.107 Auch das Unbewusste definiert May auf der Grundlage seines Verständnisses von Sein als ein Set von Möglichkeiten um. Ihm zufolge ist das Unbewusste nicht mehr als eine Sammlung von kulturell nicht akzeptierten Impulsen, Gedanken und Wünschen zu verstehen, sondern als „Möglichkeiten zu wissen und zu erfahren, die das Individuum nicht aktualisieren kann oder will“ (those potentialities for knowing and experiencing that the individual cannot or will not actualize).108 Am Beispiel des in Freuds Lehre prominenten Aspekts der Verdrängung macht May den veränderten Blick deutlich, den sein Verständnis von Sein und Unbewusstem zur Folge hat: Der Mechanismus der Verdrängung ist jetzt als Kampf des Seins einer Person gegen die Möglichkeit des Nichtseins zu
|| dende verloren geht, wenn wir den Menschen als „analysierbar und auf primäre Gegebenheiten reduzierbar […] auf bestimmte Begierden (oder ,Triebeʻ), die vom Subjekt getragen werden wie Eigenschaften von einem Objekt“ verstehen, denn dieser Mensch „wäre ursprünglich ein nicht qualifiziertes Substrat dieser Begierden, das heißt eine Art unbestimmter Töpfererde, der die Begierden passiv zu empfangen hätte – oder aber er würde sich auf ein bloßes Bündel dieser unreduzierbaren Triebe reduzieren“. Dadurch verschwindet aber das Individuum, das sich durch Entscheidungen und durch seine Freiheit als den Menschen auszeichnet, der er ist. (SARTRE, Das Sein und das Nichts, 962f.). Auch in der hier implizit formulierten Kritik an dem universalen Erkenntnisanspruch der trieborientierten Psychoanalyse stimmen May und Sartre überein. (Vgl. DERS., Das Sein und das Nichts, 701–723). 103 MAY, The Emergence of Existential Psychology, 19. Siehe auch DERS., The Discovery of Being, 17. 104 Vgl. MAY, The Emergence of Existential Psychology, 20. 105 Vgl. ebd., 19. 106 Ebd. 107 Vgl. MAY, Contributions of Existential Psychology, 41. Zum Freiheitsverständnis von Rollo May siehe das entsprechende Kapitel in dieser Arbeit. 108 MAY, The Emergence of Existential Psychology, 19. Siehe auch DERS., The Courage to Create, 55.
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verstehen.109 Auch May stellt im Sinne der klassischen Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Sein die Frage nach dem Nicht-Sein. Paul Tillichs The Courage to Be ist hier als Hintergrundfolie mitzudenken; der Verweis auf dieses Werk bleibt auch in Mays Ausführungen selbst nicht aus. Er gesteht Tillichs Denken über das Verhältnis von Sein und Nicht-Sein sogar „weitreichende Konsequenzen für den therapeutischen Prozess“110 zu. Die Fähigkeit, die Erfahrung des Nichtseins, die sich in der Bedrohung der eigenen Existenz in Form von Angst, Tod und der Gefahr, das eigene Potential durch den erzwungenen Konformismus des industriellen Zeitalters zu verlieren, darstellt, zu konfrontieren und sie konstruktiv zu nutzen, ist eines der Hauptanliegen Mays mit Blick auf die Therapie.111 Hier klingt – wenn auch in anderer Terminologie – die Lehre der Grenzsituationen von Karl Jaspers an. Dabei stellt für May der Konformismus, den er mit Heideggers Begriff des „man“ charakterisiert, die größte Bedrohung des Seins in seiner Zeit dar.112 Der oben stehenden Charakterisierung der existentiellen Psychotherapie durch May folgend, ist neben dem Bestreben, den Menschen als Sein zu verstehen, die Beschäftigung mit der Existenz des Menschen, der sich in Therapie begibt, ein zweites ‚neues‘ Prinzip. Daraus lassen sich Aussagen über das Ziel der Psychotherapie in Mays Verständnis ableiten.
3.2 Die Entwicklung eines sense of being als Ziel der Psychotherapie Die Auseinandersetzung mit der Existenz der und des Einzelnen ist May zufolge sowohl Aufgabe der Therapeutin und des Therapeuten als auch der in der Therapie Rat suchenden Person. Bereits in The Art of Counseling und damit ganz zu Beginn seiner Arbeit mit Menschen misst er die Effizienz der Beratung am Verständnis davon, „was diese Menschen wirklich sind“113. Der existentiell-therapeutische Ansatz ist für May deshalb zunächst phänomenologisch in dem Sinn, dass der Erkenntnisgegenstand zuallererst der einzelne Mensch, der zur Therapie kommt, ist.114 Ähnlich wie die Phänomenologie „zu den Sachen selbst“ zu|| 109 Vgl. MAY, The Emergence of Existential Psychology, 19. 110 MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 50. 111 Vgl. ebd., 48f. 112 Vgl. MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 49. 113 MAY, The Art of Counseling, 44. 114 Vgl. MAY, The Emergence of Existential Psychology, 20f. Auf die Bedeutung der Phänomenologie in der Entwicklung der existentiellen Psychotherapie kommt May an verschiedenen
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rückkehren möchte, will auch der existentielle Ansatz der Psychotherapie zurück zur Existenz des Individuums selbst. Erst von da aus, von dem lebendigen Menschen, der bestimmte Erfahrungen gemacht hat, können May zufolge Aussagen über Verhalten oder Mechanismen gemacht werden.115 Damit distanziert er sich von einem Therapieverständnis, das den Techniken der Therapie den Vorrang vor dem Verständnis gibt und damit den Menschen auf ein analysierbares, berechenbares und verwaltbares (managed) Objekt reduziert.116 Ein Grundzug der existentiellen Psychotherapie ist deshalb die Fokussierung auf die persönliche Begegnung während des Therapiegesprächs, völlig unvoreingenommen gegenüber jeder erlernten Schule oder Methodik. May verwendet für diese Haltung den Begriff der Präsenz.117 Ziel der existentiellen Psychotherapie, wie sie bisher dargestellt wurde, ist es, jenen Menschen, die eine Therapie aufsuchen, die Möglichkeit zu eröffnen, einen sense of being zu entwickeln. Gemeint ist damit ein Verhältnis zu sich selbst und seiner Welt zu finden sowie ein Bewusstsein für die eigene Existenz. Das bildet für May die Grundlage für die Arbeit an spezifischen Problemen.118 Sich seiner Existenz bewusst werden, umfasst für ihn, sich seiner Möglichkeiten bewusst zu sein und auf der Grundlage dieser Möglichkeiten zu handeln. „Wichtig ist“, schreibt May, „dass die Person ihr Sein, ihr Dasein entdeckt.“119 Ziel der Therapie ist, „dass der Patient seine Existenz als real erfährt.“120 Dabei kann es ein Nebenprodukt dieses Prozesses sein, dass Symptome „geheilt“ wer-
|| Stellen zu sprechen. Siehe beispielsweise MAY, Psychology and the Human Dilemma, 111–127; DERS., Reflections and Commentary, 298: “One of the reasons the phenomenological method, as portrayed by Husserl and Merleau-Ponty, has been so important to me is that it is a way of both being philosophically clear and simultaneously giving full attention, and freedom, to the patient to create and express his own world.” Siehe auch Spiegelberg, der in seinem Werk von 1972 May als den zu dieser Zeit „einflussreichsten amerikanischen Wortführer für eine existentielle Phänomenologie“ bezeichnet. (DERS., Phenomenology in Psychology and Psychiatry, 158). 115 Vgl. MAY, The Emergence of Existential Psychology, 20. 116 Vgl. ebd., 76f. 117 Vgl. MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 76f.; 80–84. Für den Aspekt der Begegnung sowie der phänomenologischen Herangehensweise siehe auch COOPER, Existential Psychotherapy, 251–256. Für die Bedeutung von echter Begegnung siehe auch Tillich: GW VIII 111–196 und den Aspekt der Ichwerdung am Du bei Buber. 118 Vgl. MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 44. 119 Ebd., 85–87. 120 Ebd., 85.
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den.121 Wenn May von Existenz spricht, dann meint er damit im Sinne Heideggers die Existenzweise des Menschen als Dasein. Er versäumt an dieser Stelle jedoch, Heidegger als Urheber dieses Denkens einzuführen; stattdessen geht er den Weg über Binswanger, der sich intensiv mit Heidegger beschäftigt hat und von diesem stark beeinflusst wurde. Grund dafür, dass May Heidegger ausklammert, ist wahrscheinlich die Schwierigkeit, seine Texte ins Englische zu übersetzen. Darauf weist May an anderer Stelle hin.122 Anhand der Daseinsanalyse,123 die auf Ludwig Binswanger und Roland Kuhn zurückgeht, erläutert er den Begriff Dasein als ein Kompositum aus Sein (being) und da (there). Mit ‚da‘ ist May zufolge nicht ein allgemeines In-der-Welt-Sein gemeint, sondern das spezifische ‚da‘ der jeweiligen Person, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte an einem bestimmten Ort lebt. Mit der Existenz des Menschen, die nicht ein bloßes Existieren meint, ist für ihn verbunden, dass sich der Mensch seines ‚da‘ bewusst sein und sich dazu verhalten kann. „Der Mensch ist das Lebewesen“, schreibt May, „das sich seiner Existenz bewusst sein und damit auch dafür verantwortlich sein kann.“124 Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass May Freiheit, die dem Menschen als einziges Lebewesen zukommt, als ein Moment versteht, das „dem Menschen ein Daseinsgefühl [gibt]; es gibt ihm die Erfahrung der Autonomie, Identität, die Fähigkeit, das Pronomen Ich mit seinem ganzen Bedeutungsspektrum zu gebrauchen.“125 Das Konzept des sense of being ist ein Kernaspekt in Mays Denken. Er selbst bezeichnet es sogar als „das zentrale Anliegen seines Lebens, unter das alles andere subsumiert ist.“126 Letztlich sieht May den Verlust des sense of being, den
|| 121 Vgl. ebd., 87. Siehe hierzu auch SCHNEIDER/GALVIN/SERLIN, Rollo May on Existential Psychotherapy, 420. 122 Vgl. MAY, The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology, 15f. 123 Vgl. MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 41. Ludwig Binswanger (1881–1966) gilt als Begründer der sogenannten Daseinsanalyse, in der die Erkenntnisse von Psychoanalyse und Philosophie miteinander verbunden werden. Hierzu setzt er sich intensiv mit Heideggers Sein und Zeit auseinander und übernimmt dessen Verständnis des menschlichen Daseins als „In-der-Welt-Sein“. (Vgl. HOLZHEY-KUNZ, Art. Binswanger, Ludwig, 49f.). Beiträge von Binswanger und Kuhn finden sich in Mays Werk Existence. Die Daseinsanalyse stellt eine der ersten Formen der existentiellen Therapie dar. Vgl. COOPER, Existential Psychotherapy, 239. 124 MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 41. 125 MAY, Freedom and Destiny, 57. Siehe auch DERS., Contributions of Existential Psychotherapy, 45: “The ontological sense is not a superego phenomenon. By the same token the sense of being gives the person a basis for a self-esteem which is not merely the reflection of othersʼ viewpoint.” 126 MAY, Reflections and Commentary, 309: “To understand and appreciate this sense of being has always been my passion, even before I became a psychoanalyst; and this passion has
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er auch als ontological sense bezeichnet, als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen der fortschreitenden Technisierung, in der zunächst der Bezug zur Natur und dann schließlich zu uns selbst verloren ging.127 May versäumt es in seinen Überlegungen auch nicht, mögliche Gefahren des existentiellen Ansatzes herauszustellen. Zum einen stehe dieser ihm zufolge in der Gefahr der Generalisierung und des Sich-Verlierens in Begrifflichkeiten. Eine Kritik, die auch Cooper äußert, wenn er schreibt, dass „existentielle Psychotherapeuten geneigt sind, besser darin zu sein, ihre theoretischen Grundsätze an Stelle der tatsächlichen konkreten Praxis zu artikulieren“128. Zum anderen neige der existentielle Ansatz dazu, Freuds Lehre des Unbewussten zu verteufeln. Dabei wird nach May jedoch vergessen, welchen Dienst Freud damit für eines der fundamentalen Ziele der existentiellen Psychotherapie geleistet hat, nämlich die Erweiterung des Daseins des Einzelnen.129 Abschließend bringen die folgenden Worte Carvalhos Mays Wirken innerhalb der amerikanischen Psychologie seiner Zeit zum Ausdruck: In einer Epoche, in der weiße Ratten und Studierende im zweiten Studienjahr die primären Subjekte von US-psychologischen Studien menschlichen Verhaltens in den Vereinigten Staaten waren, plädiert May für eine humanistische Psychologie mit engen philosophischen Parallelen zur kontinentaleuropäischen existentiell und phänomenologisch zentrierten Psychologie und Psychiatrie und dem Studium der subjektiven menschlichen Existenz. May war ein eklektischer Denker in der amerikanischen Tradition von William James und Gordon Allport und in der existentiellen Tradition von Søren Kierkegaard, Martin Buber, Paul Tillich und Karl Jaspers.130
|| surely underlain my work as a therapist.” Reeves widmet diesem Aspekt ein ganzes Kapitel mit dem Titel Sense of Being as Ground and Goal. (Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 22– 65). Er fasst die Bedeutung wie folgt zusammen: “This principle, the sense of being, was shown to be the base on which is built May’s ‘working science of man,ʼ his ‘structural base for psychotherapy,ʼ and his ontological approach to man.” (Ebd., 61). Siehe auch BRYANT, The Confluence of Thought between Paul Tillich and Rollo May, 23. 127 Vgl. MAY, The Emergence of Existential Psychology, 3. 128 COOPER, Existential Psychotherapy, 237. 129 Vgl. MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 90f. 130 CARVALHO, Rollo R. May, 15: “In an era when white rats and college sophomores were prime subjects in U.S. psychological studies of human behavior, Rollo May advocated a humanistic psychology with close philosophical parallels in Continental Europe’s existential and phenomenological psychology and psychiatry centered on the study of subjective human existence. May was an eclectic thinker in the American tradition of William James and Gordon Allport and in the existential tradition of Soren [sic!] Kierkegaard, Martin Buber, Paul Tillich, and Karl Jaspers.”
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3.3 Existentielle Psychotherapie heute In einer Darstellung aus dem Jahre 2008 zeigt Cooper die heutige Präsenz des existentiellen Ansatzes im Gesamtkontext der Psychotherapie auf und weist darauf hin, dass es zahlreiche Variationen gibt. Dabei charakterisiert er in dieser Darstellung die britische Schule existentieller Analyse als eine der „aktivsten Kräfte in der existentiell-therapeutischen Welt“131. Die logotherapeutische Bewegung floriert ihm zufolge sowohl in Kontinentaleuropa als auch in Amerika. Dabei verweist er besonders auf deren Einfluss auf andere Formen des „interpersonalen Helfens“, wie etwa die Krankenpflege oder die soziale Arbeit.132 Besonders zu nennen ist hier die Arbeit von Alfried Längle, der, in der Tradition Viktor E. Frankls stehend, in der Existenzanalyse einen existentiellen Zugang in der Psychotherapie praktiziert. Außerdem finden sich Trainingsinstitute wie auch Gesellschaften und Vereine für die Daseinsanalyse in Europa, Kanada und Brasilien. Obwohl sich die Ausbildung des existentiellen Ansatzes auf das Existential-Humanistic Institute in San Francisco133 beschränkt, merkt Cooper hinsichtlich der existentiell-humanistischen Psychotherapie an, dass ihr Einfluss die Anzahl der praktizierenden Therapeuten besonders durch bekannte Fürsprecher wie etwa Irvin Yalom, der mit seinen populärwissenschaftlichen Werken ein breites Publikum erreicht, weit übersteigt.134 Tatsächlich wird in der neueren Literatur zwar May als der Initiator bzw. derjenige genannt, der mit seinem Werk Existence den existentiellen Ansatz in den USA bekannt gemacht hat, dennoch findet sich meist Yalom als derjenige, der als Hauptvertreter der existentiellen Psychotherapie angesehen wird. Die nachhaltige Wirkung Mays lässt sich jedoch an der nach ihm benannten und von der Society for Humanistic Psychology für „unabhängige und herausragende Arbeiten auf neuen Gebieten innerhalb der Humanistischen Psychologie“ verliehenen Auszeichnung, dem sogenannten Rollo May Award, ablesen.135
|| 131 COOPER, Existential Psychotherapy, 242. 132 Vgl. ebd., 242f. 133 Neben dem Existential-Humanistic Institute identifiziert sich auch der Fachbereich Humanistic and Clinical Psychology der Saybrook University in Kalifornien mit dem Denken sowie der Art und Weise des Therapierens mit Rollo May. Vgl. https://www.saybrook.edu/academics/ faculty-stories/dr-kirk-schneider/ [aufgerufen am 03.07.2022]. Die Homepage des ExistentialHumanistic Institute: www.ehinstitute.org [aufgerufen am 03.07.2022]. 134 Vgl. COOPER, Existential Psychotherapy, 243. 135 Vgl. http://www.apadivisions.org/division-32/awards/rollo-may.aspx [aufgerufen am 03.07.2022].
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Kirk J. Schneider und Orah T. Krug bieten in ihrem Werk ExistentialHumanistic Therapy eine Auseinandersetzung mit Geschichte, Gegenwart und Zukunft der existentiell-humanistischen Therapie. Obwohl im Jahre 2010 erschienen und damit nicht mehr ganz aktuell, zeigen die Ausführungen dennoch eine positive und auch weiterführende Entwicklung und machen damit deutlich, dass der existentiell-humanistische Ansatz in der amerikanischen Psychologie nicht nur eine Eintagsfliege und lediglich an die großen Namen ihrer bekanntesten Vertreter gebunden ist.136 Von einer bleibenden Aktualität zeugen auch jüngere Veröffentlichungen, wie etwa Ralf T. Vogels Schrift Existenzielle Themen in der Psychotherapie (2013)137 oder der Beitrag von Jörg Bergmann und Robert Elliott, Die Wirksamkeit der Humanistisch-Existenziellen Psychotherapie (2014), deren Untersuchungen hinsichtlich der „wissenschaftlichen Anerkennung von psychotherapeutischen Verfahren“ ein positives Plädoyer für die Anerkennung der Humanistischen Therapie fordern,138 oder auch die Publikation von Alfried Längle mit dem Titel Existenzanalyse. Existenzielle Zugänge der Psychotherapie (2016).139 Roy de Carvalho bringt Mays nachhaltigen Beitrag für die existentielle Psychotherapie wie folgt auf den Punkt: „Das Problem der Werte und der SelbstIdentität – der Zentriertheit und des Erreichens des Selbstseins, in Mays Terminologie –, und die Rolle von Mut, Kreativität und Mythen in diesen Prozessen waren Mays bedeutendste Beiträge zum humanistisch-psychologischen Denken.“140
Exkurs: Carl Rogers als Kontrastfolie Folgt man den bisherigen Ausführungen, wird deutlich, dass sich Rollo May in eine Reihe psychotherapeutischer Ansätze einfügen lässt, die dem vorherrschenden Denken ihrer Zeit argwöhnisch gegenüberstanden und neue Wege
|| 136 SCHNEIDER/KRUG, Existential-Humanistic Therapy. 137 VOGEL, Existenzielle Themen in der Psychotherapie. 138 Vgl. BERGMANN/ELLIOTT, Die Wirksamkeit der Humanistisch-Existenziellen Psychotherapie, 241–266, hier 241. 139 LÄNGLE, Existenzanalyse. Ebenso LÄNGLE/HOLZHEY-KUNZ, Existenzanalyse und Daseinsanalyse. Längle ist Vorsitzender und Gründungsmitglied der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse. Siehe dazu auch die Existential-psychologische Bildungs- und Begegnungsstätte Todtmoos-Rütte: https://www.duerckheim-ruette.de/18/info.php?DOC_INST=1 [aufgerufen am 03.07.2022]. 140 CARVALHO, Rollo R. May, 11.
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gingen. Was gerade Mays psychotherapeutischen Ansatz für eine eingehendere Auseinandersetzung interessant macht, soll an einer Gegenüberstellung mit dem therapeutischen Verständnis von Carl R. Rogers, der zu den großen Namen der amerikanischen Psychologie zählt, aufgezeigt werden. Einer der offensichtlichen Unterschiede zeigt sich im Verständnis des Wesens des Menschen, das sie ihrer therapeutischen Arbeit zugrunde legen. Anzusetzen ist vor allem am Menschenbild beider Denker. Der Therapieansatz Carl Rogers, der als Begründer des personzentrierten Ansatzes gilt, basiert auf einem durchweg positiven Verständnis der menschlichen Natur: Eine der revolutionärsten Einsichten, die sich aus unserer klinischen Erfahrung entwickelt hat, ist die wachsende Erkenntnis: der innerste Kern der menschlichen Natur, die am tiefsten liegenden Schichten seiner Persönlichkeit, die Grundlage seiner tierischen Natur ist von Natur aus positiv – von Grund auf sozial, vorwärtsgerichtet, rational und realistisch.141
Den weiteren Ausführungen Rogers lässt sich entnehmen, dass er sich mit diesem Verständnis dem zu seiner Zeit vorherrschenden Menschenbild diametral entgegengesetzt versteht.142 Dabei scheint er verschiedene Menschenbilder zu vereinheitlichen, um seinen eigenen Ansatz stark zu machen, etwa wenn er sich auf die protestantisch-christliche Tradition bezieht und ihr ein Verständnis des Menschen als „im Wesen sündhaft“ zuschreibt.143 Rogers greift offensichtlich auf eine protestantische Anthropologie zurück, die er in seiner Kindheit kennengelernt hat. Darauf macht Bernhard Deister in seiner Dissertationsschrift aufmerksam, wenn er auf die Glaubensartikel der Congregational Church, einer protestantischen Freikirche, der Rogers in seiner Kindheit angehörte, verweist, die eine wesenhafte Sündigkeit des Menschen sowie die Unmöglichkeit der eigenen Befreiung daraus lehrte.144 Vielleicht ist es diese kindheitliche Prägung, || 141 ROGERS, Entwicklung der Persönlichkeit, 99f. Für eine Zusammenfassung der zentralen Thesen des personzentrierten Ansatzes siehe DERS, Der neue Mensch, 66–68; DERS, Die beste Therapieschule ist die selbst entwickelte, 21–38. Siehe auch DEISTER, Anthropologie im Dialog, 89. 142 Vgl. ROGERS, Entwicklung der Persönlichkeit, 100. 143 Vgl. ebd. 144 Vgl. DEISTER, Anthropologie im Dialog, 90. Siehe auch KIRSCHENBAUM, Carl Rogers, 1–3: Aufgrund ihrer religiösen Überzeugung lebten die Rogersʼ zurückgezogen und mit möglichst wenig Kontakt zu anderen. So verbrachte Rogers seine Kindheit größtenteils ausschließlich im Kreis seiner konservativ protestantischen Familie, ohne die Chance, Kontakte mit Gleichaltrigen zu haben. Terry D. Cooper schreibt, Carl Rogers habe ebenso wie Rollo May zunächst am Union Theological Seminary das ministery program besucht, dieses im Gegensatz zu May aber nicht beendet, sondern an der gegenüberliegenden Columbia University das Studium der
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die Rogers dazu bewog, einem Verständnis vom Menschen zu widersprechen, das auch solche Eigenschaften in der Existenz des Menschen verwurzelt sieht, die als negativ konnotiert gelten. Dabei übersieht er aber differenzierte anthropologische Entwürfe, wie etwa den Paul Tillichs, der aufgrund der Geschöpflichkeit des Menschen zwar von dessen essentiellen Gutheit ausgeht, was sich in dem Satz „esse qua esse bonum est“ ausdrückt, der aber die Sündhaftigkeit des Menschen als existentielle Entfremdung von einer eigentlichen Natur qualifiziert.145 Die Engführung in Rogers Wahrnehmung der existentialistischen Analyse wird offensichtlich in einem Dialog zwischen ihm und Paul Tillich aus dem Jahre 1965: Carl Rogers meint hier fälschlich, dass einige Existentialisten und selbst auch Paul Tillich nicht vom Wesen des Menschen sprechen würden.146 Verschließt eine Reduzierung und Fokussierung der Anthropologie auf die im Wesen gute und positive Natur des Menschen die Möglichkeit, zunächst negativ konnotierte Elemente wie beispielsweise das Dämonische oder Angst als ontologische Dimensionen zu denken, dann verkennt sie womöglich auch deren Potential für die Selbstwerdung des Einzelnen. Dass die von Rogers propagierte ausschließlich positive Natur des Menschen in der Konfrontation mit existentiell-orientierten Psychotherapeuten zu harschen Auseinandersetzungen führen kann, zeigt ein Zusammentreffen von Carl Rogers und Ronald D. Laing. Dabei muss Laing Rogers entgegnet haben: „Wenn Sie und ich irgendeine Art von sinnvollem Dialog führen wollen, [...] müssen Sie mit dem kalifornischen ‚niceguyʼ-Schwachsinn aufhören und zu etwas kommen, das einer authentischen Begegnung nahe kommt.“147 Rollo May ruft in einem offenen Brief an Carl Rogers, der an späterer Stelle im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Dämonischen noch einmal Erwähnung finden wird, die Anfänge des personzentrierten Ansatzes in Erinnerung und verweist dabei auf eine Rückmeldung, die er und weitere erfahrene und praktizierende Therapeuten, die beauftragt waren, den Ansatz zu bewerten, formulierten: „Nachdem ich mir die Bänder, die Sie mir geschickt haben, angehört hatte, berichtete ich, dass ich zwar das Gefühl
|| Psychologie begonnen. Weiter schreibt Cooper: “When Rogers left the world of theology, he severed his ties quite radically. Yet his work became one of the most influential resources of pastoral care in the twentieth century. He and Tillich were both passionately interested in human estrangement, though one saw it as merely an interpersonal problem and the other saw it as an ontological problem.” (DERS., Paul Tillich and Psychology, 16). 145 Vgl. ROGERS, Dialogues, 66f. 146 Vgl. ebd., 66. 147 O’HARA, Streams, 120: “If you and I are to have any kind of meaningful dialogue, […] you are going to have to cut out the Californian ʻnice-guyʼ bullshit and get to something approaching an authentic encounter.”
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hatte, dass die Therapie im Großen und Ganzen gut war, dass es aber eine eklatante Lücke gab. Diese bestand darin, dass sich die klientenzentrierten Therapeuten nicht mit den wütenden, feindseligen, negativen – also bösen – Gefühlen der Klienten befassten (oder nicht konnten).“148 Eine Korrektur seines Menschenbildes hat Rogers offensichtlich auch in einem Gespräch mit Martin Buber erfahren, der seine Aussage: „Der Mensch ist grundsätzlich gut“ erweitert habe durch „Der Mensch ist grundsätzlich gut – und böse.“149 Der personzentrierte Psychotherapeut Gerhard Stumm wirbt in seinem Beitrag Der Personzentrierte Ansatz aus einer existenziellen Perspektive für eine vertiefte Auseinandersetzung mit existentiellen Aspekten. Zwar sind nach Stumm in den personzentrierten Ansatz solche Aspekte mit eingeflossen, aber dennoch fehlt es an einer tiefergehenden Aneignung, weshalb Rogersʼ Ansatz zwar als Humanistische Psychologie bezeichnet werden kann, nicht aber unter die Bezeichnung „existentiell“ fällt.150 Etwas milder fällt Mays Urteil aus. Neben den Unterschieden zwischen Rogersʼ Ansatz und dem existentieller Therapeuten, die May in der Dauer der therapeutischen Beziehungen und in den unterschiedlichen Blickwinkeln sieht – während Rogers eher optimistisch ist, konzentriert sich der existentielle Ansatz stärker auf die tragischen Krisen im Leben –, weist er auch auf die Gemeinsamkeiten hin. Neben dem Therapieverständnis als „Prozess des Werdens“ (process of becoming) und der Auffassung, dass vor allem Freiheit und ein inneres Wachstum zählen, ist es die implizite Annahme der Würde des Menschen, die auch Rogersʼ Ansatz vorausgeht.151 Im Gegensatz zu Rogers lässt sich May auf eine tiefere Auseinandersetzung mit dem existentialistischen Denken ein. Mehr noch, er kritisiert jene Vertreter der Humanistischen Psychologie, die sich der Konfrontation mit dem Phänomen des Bösen verweigern. Aus diesem Grund fühle er sich der Minderheit zugehörig, die die Association for Humanistic Psychology zu einer Organisation mache, die sich verpflichtet fühlt, aktiv die Fragen nach Gut und Böse in jedem einzelnen Menschen, aber auch in der Gesellschaft und der Welt zu konfrontieren.152 Der Hauptteil der Arbeit soll den Mehrwert dieses Ansatzes aufweisen. Im Folgenden soll in aller Kürze und mit einem auf Mays Interesse reduzierten
|| 148 MAY, The Problem of Evil, 15. 149 Mit diesem kurzen Gespräch, das May aus den Erzählungen eines Kollegen kennt, konfrontiert er Rogers in seinem offenen Brief an ihn: MAY, The Problem of Evil, 18. 150 Vgl. STUMM, Der Personzentrierte Ansatz aus einer existenziellen Perspektive, 145. 151 Vgl. MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 82. 152 Vgl. MAY, The Problem of Evil, 19.
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Blick dessen Beschäftigung mit einigen jener Philosophen, an denen er sich orientiert, aufgezeigt werden.
4 Philosophische Einflüsse Das Denken des Psychologen May weist eine große Affinität zu philosophischen Fragestellungen und zur Verwendung und Erörterung dezidiert philosophischer Konzepte auf. May war beeindruckt und beeinflusst von Denkern, die sowohl psychologische als auch philosophische Zugänge verkörpern. Dabei folgt er jedoch nicht der Philosophie ausschließlich eines Denkers, sondern bewegt sich gewissermaßen als eklektischer Denker in den Denkkonzepten verschiedener Philosophen und Strömungen. Ein besonderes Augenmerk legt er dabei auf die philosophische Frage nach dem Wesen des Menschen. Einen wesentlichen Grund für das Scheitern der Psychologie seiner Zeit sieht May nämlich gerade im Fehlen eines Bildes vom Menschen, mithin dessen, was der Mensch seinem Wesen nach ist.153 Die Notwendigkeit, die Frage nach dem Menschen und damit die eigenen Voraussetzungen mit Blick auf die Beratung bzw. Therapie zu klären, betont er nachdrücklich, und er versteht diese Klärung als eine philosophische Aufgabe.154 Ähnliches schreibt auch Viktor E. Frankl in seinem Grundriß der Existenzanalyse und Logotherapie aus dem Jahre 1959: „Tatsächlich spielt sich jede Psychotherapie unter einem apriorischen Horizont ab. Immer schon liegt ihr eine anthropologische Konzeption zugrunde, mag sie der Psychotherapie noch so wenig bewußt sein. Es gibt keine Psychotherapie ohne Menschenbild und Weltanschauung.“155 Die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Psychologie machen den Zusammenhang von Menschenbild und Psychologie deutlich. So kann etwa ein Behaviorismus, der den Menschen in mechanistischen Kategorien denkt, ontologische Fragen ausklammern, ebenso die Psychoanalyse, der ein „verdeckter intrapsychischer Determinismus“ als Hinter-
|| 153 Vgl. MAY, Psychology and the Human Dilemma, 183. 154 Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 298f. 155 FRANKL, Grundriß der Existenzanalyse und Logotherapie, 57–184, hier 60. Siehe auch DERS., Das Menschenbild der Seelenheilkunde, 74. In seiner autobiografischen Schrift Wie man wird, was man ist schreibt Irvin D. Yalom: „Je mehr philosophische Texte ich las, desto mehr merkte ich, wie viel grundlegende Vorstellungen die Psychiatrie ignoriert hatte. Ich bedauerte es sehr, dass ich nur ein spärliches Grundwissen in der Philosophie und in den Geisteswissenschaften hatte, und war fest entschlossen, an diesen Bildungslücken zu arbeiten.“ YALOM, Wie man wird, was man ist, 233.
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grundfolie für ihr Therapieverständnis dient.156 Ein wieder anderes Menschenund Weltbild liegt der Logotherapie Frankls zugrunde, der den Menschen wesentlich als frei begreift. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass das Werk, das Mays Denken erstmals systematisch und umfassend zusammenzufassen versucht, zwar den Titel The Psychology of Rollo May trägt, jedoch von Clement Reeves, einem Professor der Philosophie, verfasst wurde. Auch hier wird die philosophische Fundierung des Denkens des Psychotherapeuten May nachdrücklich deutlich.157 May selbst formuliert jedoch auch Bedenken hinsichtlich einer absoluten philosophischen Grundlegung. Diese, so May, berge die Gefahr eines starren Dogmatismus, der den Patienten zu wenig Raum für die eigenen philosophischen Fragen lasse.158 Wie es bereits das Anliegen des Existentialismus war, die konkrete Situation des einzelnen Individuums zum Ausgangspunkt des Philosophierens zu machen, so stellt auch May die gegenwärtige Situation seines Gegenübers in der Therapie in den Mittelpunkt seines Denkens und Arbeitens. Mit seiner teilweise radikalen Aufforderung an den Einzelnen, sich seiner gegenwärtigen Situation zu stellen und sich nicht seinem Schicksal hilflos auszuliefern, steht er ganz in einer Linie mit dem existenzphilosophischen Denken Sartres, Heideggers und Jaspers. Diese stellen ebenfalls eine radikale Anfrage an den Menschen und fordern dazu auf, in Freiheit die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und es nicht anderen Akteuren zu überlassen. Es ist demnach vor allem auch das appellative Moment, das May mit den Denkern des Existentialismus verbindet. Auf einige jener Denker, die den philosophischen Einfluss auf sein Denken und Arbeiten ausmachen, soll im Folgenden kurz eingegangen werden. 4.1
William James und der Pragmatismus als Vorläufer des existentiellen Ansatzes in den USA Neben den Denkern des Existentialismus übte besonders William James und der amerikanische Pragmatismus Einfluss auf Mays Denken aus. So charakterisiert er den 1842 in New York geborenen und 1910 in Chocorua, New Hampshire gestorbenen James als den typischsten amerikanischen Psychologen und Philosophen.159 Für Mays Anliegen, den existenzphilosophischen Ansatz in die psycho-
|| 156 Vgl. SCHNEIDER/KRUG, Existential-Humanistic Therapy, 8. 157 REEVES, The Psychology of Rollo May. 158 Vgl. ebd., 297ff. 159 Vgl. MAY, The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology, 14. Siehe auch DERS., The Emergence of Existential Psychology, 5. Herbert Spiegelberg bezeichnet William James ebenso wie Gordon Allport als “Pacemakers” für phänomenologische und exis-
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logische Theorie und Praxis in den USA einzuführen, bietet der Pragmatismus von William James und John Dewey einen ersten Anknüpfungspunkt.160 Dass May diese Denker der Existenzphilosophie zurechnet, erscheint auf den ersten Blick irritierend, doch hat der amerikanische Pragmatismus, zu dessen Gründungsvätern sie gehören, ohne Zweifel einige Berührungspunkte mit dem existenzphilosophischen Denken. Paul Tillich hat darauf hingewiesen, dass die Lebensphilosophie und der Pragmatismus versucht haben, „die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt auf etwas zu beziehen, was jenseits von beiden steht und was sie Leben nannten“161. In einem weiten Sinne gehören beide folglich zu den Vorläufern der Existenzphilosophie.162 Es ist besonders die Betonung der konkreten Handlung und der konkreten Situation, was den Pragmatismus in die Nähe der Existenzphilosophie mit ihrem Primat der Existenz des Einzelnen rückt.163 Mit einem an der Machbarkeit orientieren Wahrheitsverständnis spricht James dem europäischen, vom Idealismus geprägten Begriff einer „absoluten Wahrheit“ die Definitionshoheit ab und weist dem als objektiv und absolut verstandenen Begriff der Wahrheit lediglich eine heuristische Funktion für das Leben des Einzelnen zu.164 Ebenso nennt May die unmittelbare Erfahrung, die
|| tentialistische Einflüsse in der Psychologie und Psychiatrie, für die Mays Existence dann den Grundstein gelegt hat. (SPIEGELBERG, Phenomenology in Psychology and Psychiatry, 143). Über James schreibt er: “All that I shall claim here is that the spirit of Jame’s bold and open-minded psychology helped to create a climate in which phenomenology could take root among American psychologists.” (Ebd., 145). 160 Vgl. RATTNER, Klassiker der Tiefenpsychologie, 768. Zu nennen wäre hier natürlich auch Charles S. Peirce. 161 EW XVI 192. Siehe auch GW IV 147. Tillich steht dem Pragmatismus allerdings auch nicht kritiklos gegenüber. Vgl. EW XVI 9. 162 Vgl. MAY, The Emergence of Existential Psychology, 5. Siehe auch DERS., Psychology and the Human Dilemma, 129. Ähnliches schreibt auch William Barrett: “Of all the non-European philosophers, William James probably best deserves to be labeled an Existentialist. Indeed, at this late date, we may very well wonder whether it would not be more accurate to call James an Existentialist than a Pragmatist.” (BARRETT, Irrational Man, 18). 163 Vgl. PAPE, Der dramatische Reichtum der konkreten Welt, 7–28. Siehe auch MAY, The Emergence of Existential Psychology, 6. May zitiert an dieser Stelle einen Satz aus einem Werk Kierkegaards, den man nach May zunächst William James und dem Denken des amerikanischen Pragmatismus zuschreiben würde. Damit sucht er auf die Nähe der beiden Denkrichtungen aufmerksam zu machen. Leider fehlt eine Literaturangabe bezüglich des entnommenen Zitates. 164 Vgl. WILTSCHKO, Art. James, William, 230. James widmet dieser Auseinandersetzung ein gesamtes Werk im Jahr 1909 – nur ein Jahr vor seinem Tod – das in engem Zusammenhang mit dem zwei Jahre zuvor erschienenen Werk Pragmatism steht, und er entwickelt eine genauere Analyse des dort angedachten Konzepts der Wahrheit. (Vgl. THAYER, Introduction, xi).
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Entscheidung und das Wollen als der Idee der existentiellen Psychotherapie nahestehende Elemente.165 Ähnlich formuliert es Helmut Pape, wenn er als verbindende Elemente zwischen Pragmatismus und Existentialismus die individuelle Existenz als Ausgangspunkt des Denkens (entlehnt aus Søren Kierkegaards Schrift Abschließende wissenschaftliche Nachschrift von 1846) und das Moment der Geworfenheit, das bei Heidegger und Sartre zu finden ist, herausstellt. Als gemeinsame philosophiehistorische Quelle konstatiert Pape die Philosophie von Duns Scotus.166 Mit dem Pragmatismus beginnt „die amerikanische Philosophie, bis dahin Kind der europäischen Tradition, […] eine eigene Gestalt anzunehmen und ihrerseits auf Europa zurückzuwirken“167. Es ist die „erste und einzige Philosophie, die schon vor Ende des 19. Jahrhunderts in den USA entstanden ist“, gefolgt von der analytischen Philosophie, die heute als „die philosophische Strömung unserer Zeit“ gilt.168 Als „Gründungsurkunden“ des Pragmatismus gelten die 1877/1878 von Charles Sanders Peirce veröffentlichten Beiträge Fixation of Belief und How to Make Our Ideas Clear, erschienen in der Zeitschrift Popular Science Monthly169 – wobei der Begriff Pragmatismus nur in der ersten, unveröffentlichten Fassung, die in der Zusammenkunft der Diskussionsrunde mit dem ironischen Namen ‚The Metaphysical Club‘ vorgetragen wurde, zu finden war, in der gedruckten Version jedoch nicht mehr auftaucht.170 Begriffsgeschichtlich ist eine erste Verwendung auf William James und das Jahr 1898 zurückzuführen, dennoch verweist auch dieser auf Charles Sanders Peirce als Begründer.171 Dabei gilt es zu beachten, dass der Begriff Pragmatismus letztlich nur dazu dienen kann, „um den gemeinsamen Ausgangspunkt einer Reihe recht unterschiedlicher Philosophien zu markieren“172. Wie keine andere philosophische Strömung erfährt der Pragmatismus zahlreiche Fehlinterpretationen und Missverständnisse, die in ihrer lediglich pragmatischen Ausrichtung der amerikanischen Mentalität und Lebensweise dienlich waren.173 Mit seinem Lehrbuch der Psychologie mit dem Titel The Principles of Psychology aus dem Jahre 1890
|| 165 Vgl. MAY, Psychology and the Human Dilemma, 129f. 166 Vgl. PAPE, Der dramatische Reichtum der konkreten Welt, 17f. 167 HELFERICH, Geschichte der Philosophie, 354. 168 PAPE, Der dramatische Reichtum der konkreten Welt, 16. 169 Ebd., 37. 170 Vgl. PEIRCE, Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, 499. Siehe auch ELLING, Art. Pragmatismus, Pragmatizismus, 1246. 171 Vgl. HELFERICH, Geschichte der Philosophie, 354. 172 SUHR, Pragmatismus, 225. 173 Vgl. WILTSCHKO, Art. James, William, 230.
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avanciert William James ferner zu dem Begründer der „wissenschaftliche[n] Psychologie als selbstständige Disziplin in Nordamerika“, indem er „die empirische Methode in die Psychologie“ einführte.174 In Jamesʼ Biographie, die sich auch durch physische und psychische Krisen auszeichnet, sieht May eine Verbindung zu seiner eigenen und sucht damit deutlich zu machen, dass es jene Denker sind, deren Leben von tiefgreifenden Krisen geprägt sind, die schließlich dem Existentialismus nahe stehen.175 Scheint die Analyse Mays hier vielleicht ein wenig pauschal und von einer persönlichen Betroffenheit geprägt zu sein, ist sie im Letzten jedoch nicht gänzlich von der Hand zu weisen, was sich an Denkern wie Søren Kierkegaard, Friedrich Nietzsche oder Viktor E. Frankl festmachen lässt. 4.2 Søren Kierkegaard – Ein religiöser Denker Kierkegaard und Nietzsche – wie auch die auf diese folgenden Vertreter und Vertreterinnen der existentiellen Bewegung – haben nach May nicht nur weitreichende und anregende psychologische Beobachtungen gemacht, sondern diese Einsichten auch auf eine ontologische Basis gestellt.176 Die Fähigkeit der beiden Denker Kierkegaard und Nietzsche, den Verlust tragender Werte und die daraus resultierenden Folgen für das Individuum vorauszusehen, nennt May prophetisch.177 Mit Irvin Yalom lässt sich eine Favorisierung des Denken Kierkegaards gegenüber demjenigen Nietzsches im Arbeiten Mays feststellen. Yalom schreibt: „Ich bin sicher, Rollo war stark angezogen von Kierkegaard aufgrund seiner eigenen religiösen Bildung und Orientierung. Es ist interessant, sich einige seiner frühen Werke anzuschauen, beispielsweise The Art of Counseling, und zu sehen, wie Rollo seine Karriere mit dem Ansatz eines christlichen Beraters begann.“178 In diesem Punkt ähneln sich die beiden Denker May und Tillich, der ebenso in besonderem Maße vom Denken Kierkegaards beeinflusst war und
|| 174 Ebd. 175 Vgl. MAY, The Emergence of Existential Psychology, 4f. 176 Vgl. MAY, The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology, 35f. May bezeichnet Kierkegaard und Nietzsche im Besonderen, generell aber die Existentialisten als “psychologist-philosophers”. (MAY, Will and Decision in Existential Psychotherapy, 26). 177 Vgl. MAY, Man’s Search for Himself, 34. 178 SERLIN, In memoriam, 273. Yalom selbst scheint sich zuweilen stärker an Nietzsche zu orientieren. Zumindest könnte dieser Eindruck entstehen, wenn man bedenkt, dass er bei dem Titel seiner Autobiografie Wie man wird, was man ist auf einen Titel Nietzsches zurückgreift.
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diesem Einfluss auch eine besondere Bedeutung beimisst.179 Zur Attraktivität Kierkegaards für das Denken des jungen Psychotherapeuten May dürfte im Übergang von seiner ersten zur zweiten Schaffensphase insbesondere das existentielle Angstverständnis des dänischen Philosophen beigetragen haben. Darüber hinaus betont May Kierkegaards profunde Analyse des Moments der Verzweiflung.180 4.3 Friedrich Nietzsche und die Lebensphilosophie als Vorläufer der Existenzphilosophie An Nietzsche lässt sich der Beginn der Lebensphilosophie festmachen und damit das Anliegen, als Gegenreaktion auf das „mechanistisch, schematisierende, an der Oberfläche haftende, mathematisch-rationalistische Denken“ der Neuzeit wieder das „Dynamische, Werdehafte, Seelische und Erlebnismäßige“ in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen.181 Mit dieser Kritik an dem mechanistischen Denken vom Menschen gelten die Lebensphilosophen als „Vorläufer der Existenzphilosophie“182. Dabei gilt für die Lebensphilosophie ähnlich wie für den Existentialismus, dass es sich bei dieser Bezeichnung nicht um eine zeitlich abgegrenzte philosophische Strömung handelt, welche die Denkerinnen und Denker selbst für sich reklamierten, sondern dass es dabei um eine spätere Zuschreibung geht und der Begriff ‚Leben‘ ebenso wie der der ‚Existenz‘ von den einzelnen Denkern je unterschiedlich gefüllt worden ist.183 Die Charakterisierung als Philosoph und Psychologe, wie sie Walter Kaufmann in seiner Nietzsche-Biografie184 vornimmt, macht bereits deutlich, warum Nietzsche ein interessanter Gesprächspartner für May ist. Er versteht Nietzsche sowohl in philosophischer als auch in psychologischer Hinsicht als einen der großen Vordenker. Philosophisch hebt May Nietzsches Verwendung psychologischer Begriffe mit einer ontologischen Bedeutung hervor185 – eine Charakterisierung, die auch auf sein eigenes Arbeiten zutrifft. Mit Blick auf psychologische Einsichten ist nach May in Nietzsches Werken schon vorgedacht, was später bei
|| 179 Vgl. KODALLE, Auf der Grenze?, 301. 180 Vgl. MAY, The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology, 14. 181 LOHNER, Der Tod im Existentialismus, 23. 182 Ebd., 24. 183 Vgl. PFLUG, Art. Lebensphilosophie, 135. 184 KAUFMANN, Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist. Walter Kaufmann, der 1939 in die USA emigrierte, gilt als versierter Nietzsche-Forscher sowie als bedeutender Vermittler deutscher Philosophie und Dichtung in den USA. 185 Vgl. MAY, Nietzsches Contributions to Psychology, 60.
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Freud und anderen Psychotherapeuten und -therapeutinnen eine ausformulierte Lehre werden sollte.186 Vielleicht ist es folgende Einsicht, die May zusammenfassend aus der Beschäftigung mit Nietzsche zieht: „In einem Zeitalter wie dem damaligen und unserem eigenen muss man ein guter Psychologe sein, um ein guter Philosoph zu sein.“187 4.4 Sigmund Freuds Beitrag zur Überwindung der Fragmentierung des Menschen im 20. Jahrhundert Auch wenn Freud, anders als die zuvor Genannten, nicht als ein Vertreter der Philosophie zu verstehen ist, so darf man ihn trotzdem in einem Atemzug mit Kierkegaard und Nietzsche nennen.188 In seiner Ausbildung zum Psychotherapeuten, die sicherlich post-freudianisch war, begegnet May Freuds Theorien der Psychoanalyse. Auch wenn er selbst als ‚Nicht-Freudianer‘189 verstanden werden möchte, legt für ihn die Beobachtung, dass Kierkegaard, Nietzsche und Freud die Phänomene „Angst, Verzweiflung, fragmentierte Personalität, und deren Symptome“190 in den Mittelpunkt ihres Denkens stellen, den Schluss nahe, dass sowohl der psychoanalytische als auch der existentialistische Ansatz aufgrund derselben menschlichen Krise entstanden sind und auf diese Antworten geben wollten. Auf die menschliche Krise als gemeinsamer Ausgangspunkt von Existentialismus und Psychoanalyse sowie Freuds Beitrag zu letzterer weist auch Paul Tillich in seinem Aufsatz Psychoanalysis, Existentialism and Theology aus dem Jahre 1954 hin, der May sicherlich bekannt gewesen sein dürfte.191 Ebenso wie Paul Tillich übt May eine fundamentale Kritik am naturalistischen Menschenbild Freuds, das in gewisser Spannung zu dessen enormen Einfluss
|| 186 Vgl. ebd., 61. May fasst Nietzsches Beitrag zur Psychologie wie folgt zusammen: “I have tried to summarize Nietzsche’s influence on psychology, particularly on psychotherapy and depth psychology, under five headings. (I) His use of psychological terms with ontological meanings. (2) His extraordinary specific insights. (3) His approach to health. (4) His concept of Being. And (5) His concept of the ‘will to power.’” (67). 187 Ebd., 59. 188 May bezeichnet die drei Denker als „die drei Giganten des 19. Jahrhunderts“. (DERS., The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology, 20). 189 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 132. 190 MAY, The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology, 33. 191 Hier entnommen TILLICH, The Meaning of Health, 134. Tillich spricht in seinem Beitrag von der Tiefenpsychologie statt von der Psychoanalyse. Wie im folgenden Kapitel über Paul Tillich eigens dargelegt wird, verwendet Tillich in Bezug auf die sich doch unterscheidenden psychologischen Ausrichtungen keine konsequente terminologische Unterscheidung; die Psychoanalyse Freuds fasst er stellenweise auch unter den Begriff der Tiefenpsychologie.
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auf den Existentialismus steht. Nach Tillich kennt Freud nur den Menschen, der auf die Libido reduziert wird, d.h. den Menschen in der Entfremdung von seiner eigentlichen Natur.192 In besonderem Maße kritisiert May die Ego-Theorie Freuds, präsentiert diese ihm zufolge doch „par excellence die Subjekt-ObjektSpaltung des modernen Denkens“ – jene Spaltung, die der Existentialismus gerade zu überwinden versucht.193 Mays Kritik richtet sich hierbei insbesondere auf Freuds Verständnis des Ego, der dieses als ein ausschließlich passives Moment versteht, das nur das Ergebnis eigener Triebe sowie äußerer Einflüsse ist. Das unterscheidet sich ihm zufolge aber fundamental von dem, was er mit dem sense of being auszudrücken versucht hat: die Erfahrung des eigenen In-derWelt-Seins und damit ein Bewusstsein dafür, dass das Individuum selbst das handelnde Subjekt ist und nicht bloß passiver Rezipient.194 Positiv charakterisiert May Freuds Lehren, wenn er diese als eine gewisse Verwissenschaftlichung dessen versteht, was bei Nietzsche umfassender und bei Kierkegaard in einer größeren Tiefe schon angedacht war.195 Ein solches Verständnis der Freudschen Theorie wird jedoch gerade von Kritikern der Psychoanalyse abgelehnt, wie besonders bei Karl Jaspers deutlich wird.196 Insgesamt bewertet May den Beitrag Freuds also ambivalent: Mit der Wiederentdeckung des Unbewussten und dem Bestreben, die irrationalen Tendenzen des Menschen als ebenso zu diesem gehörend zu qualifizieren wie die rationalen, suchte Freud, die Fragmentierung des Menschen seiner Zeit zu überwinden197 und dem seit Descartes in zwei Sphä-
|| 192 Vgl. TILLICH, Existentialism and Psychotherapy, 157. 193 Vgl. MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 47. 194 Vgl. ebd., 46f. Den Unterschied von ego und sense of being fasst May wie folgt zusammen: “The ego is a reflection of the outside world; the sense of being is rooted in one’s own experience of existence.” (46). 195 Vgl. MAY, The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology, 33. 196 Vgl. die Kritik Arthur Kornfelds, dargestellt in BORMUTH, Lebensführung in der Moderne, 48–52. Siehe auch ähnliche Äußerungen von Jaspers in EBD., 61f. Siehe auch die Kritik Karl Jaspersʼ, der sich konträr zu der Auffassung Mays äußert: „Erstens war dieses Verstehen schon vorher lebendig da, wenn auch um 1900 in den Hintergrund getreten, zweitens wurde es in der Psychoanalyse auf eine irreführende Weise betrieben, hat die unmittelbare Auswirkung des eigentlich Großen (Kierkegaard und Nietzsche) in der Psychopathologie verhindert und ist mitschuldig an der geistigen Niveausenkung der gesamten Psychopathologie.“ Und: „[…] so ist das Verfahren der Psychoanalytiker – bei Freud bewußt – mit der Herabminderung der wissenschaftlichen Ansprüche verknüpft.“ (JASPERS, Allgemeine Psychopathologie, 300f.). 197 Vgl. MAY, The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology, 35. Auch bei Tillich finden sich neben der Kritik an Freud ebenso Aussagen, die seine Bewunderung für ihn zum Ausdruck bringen. So beispielsweise in TILLICH, Psychoanalysis, Existentialism, and Theology, 137: “In all these representatives of contemporary depth psychology I miss
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ren geteilten Menschen das Gefühl und Bewusstsein der Ganzheit wiederzugeben198. Gleichzeitig legte Freud allerdings seiner psychoanalytischen Methode ein technisches Vernunftverständnis zugrunde und leistete so seinen ganz eigenen Beitrag zu eben dieser Fragmentierung.199 Ein wichtiges Korrektiv stellt daher der Existenzphilosoph und Psychiater Karl Jaspers für May dar. 4.5 Karl Jaspers – Psychiater und Philosoph Die Verbindung zwischen Rollo May und Karl Jaspers ist schon aufgrund der Profession der beiden Denker interessant. Aufgrund ihrer zunächst medizinischen Ausbildung und ihrem großen Interesse für Philosophie sehen Jaspers und May Defizite in dem psychoanalytischen Verständnis Freuds. Ebenso wie die Kritik Rollo Mays an der Freudschen Psychoanalyse, so ist auch die Kritik Karl Jaspersʼ philosophisch motiviert bzw. verschärft sich aufgrund seines „philosophischeren Blicks“200. Im Unterschied zu Rollo May, der letztlich von dem Denken der Existenzphilosophie lediglich beeinflusst war und nur ein rudimentäres Verständnis davon besaß, gilt Karl Jaspers selbst als Existenzphilosoph, der diese Strömung mit seinen Ideen entscheidend mitprägte. In seinem Werk Lebensführung in der Moderne. Karl Jaspers und die Psychoanalyse zeigt Matthias Bormuth den Zusammenhang zwischen der wachsenden Kritik Karl Jaspersʼ an Freud und der Hinwendung zur Existenzphilosophie auf.201 Jaspers charakterisiert in seiner Schrift Allgemeine Psychopathologie die Psychoanalyse wie folgt: „Die Psychoanalyse Freuds ist erstens ein verwirrendes Durcheinander psychologischer Theorien […], zweitens eine weltanschauliche oder Glau-
|| the depths of Freud. I miss the feeling for the irrational element that we have in Freud and in much of the existentialist literature.” 198 Vgl. MAY, Man’s Search for Himself, 33. 199 Vgl. MAY, The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology, 35. 200 BORMUTH, Lebensführung in der Moderne, 28. Diese Schrift von Matthias Bormuth stellt eine systematische Zusammenschau der Kritik an der Psychoanalyse dar, wobei er sich dabei nicht nur auf Jaspers, sondern auch auf Kritiker vor und zeitgleich mit Jaspers bezieht. 201 Vgl. BORMUTH, Lebensführung in der Moderne, 28; 69. Bormuth konstatiert eine Entwicklung der Kritik Jaspersʼ an der Psychoanalyse Freuds. Während die erste Auflage der Allgemeinen Psychopathologie (1913) noch „moderate Vorbehalte“ enthält, wird die Kritik in der zweiten Auflage (1920) philosophischer und schärfer, was Bormuth auf den zunehmend „philosophischeren Blick“ Jaspersʼ zurückführt, der mit der Veröffentlichung der Psychologie der Weltanschauungen (1919) seinen Niederschlag findet. Wiederum eine weitere Akzentuierung der Kritik weist die vierte Auflage auf, die nach Bormuth „am deutlichsten von der voll entwickelten Existenzphilosophie geprägt“ ist. (BORMUTH, Lebensführung in der Moderne, 27f.).
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bensbewegung, welche Lebenselement einiger Menschen wurde […], drittens verstehende Psychologie.“202 4.6 Martin Heidegger als ‚Eckstein der existentiellen Psychotherapie‘ Die Erwähnung des Philosophen Martin Heidegger mit einem eigenen Beitrag im Personenlexikon der Psychotherapie ist bemerkenswert.203 Noch bemerkenswerter scheint die Tatsache, dass ausgerechnet Heideggers frühes Hauptwerk Sein und Zeit, das sich zunächst durch eine schwierige philosophische Terminologie auszeichnet, zu einem der bedeutsamsten Texte für die Psychotherapie und Psychiatrie avancieren konnte,204 was schon die Bezeichnung Daseinsanalyse als eine Richtung der Psychotherapie und Psychiatrie deutlich macht. Als Begründer und Hauptvertreter sind hier die beiden Schweizer Psychiater Ludwig Binswanger und Medard Boss zu nennen, deren Auseinandersetzung mit Sein und Zeit eine Neuakzentuierung ihrer psychotherapeutischen Ausrichtung veranlasste.205 Zusammen mit Medard Boss, mit dem Heidegger eine „intensive, freundschaftliche Beziehung“206 verband, veranstaltete der Philosoph die sogenannten Zollikoner Seminare, in denen er sich „konkret mit psychiatrischen, medizinischen und psychologischen Problemen“207 beschäftigte. In seiner Einführung zum Cambridge Companion to Heidegger nennt der Herausgeber Charles B. Guignon mit Blick auf den Einfluss Heideggers auf die psychotherapeutische Theorie in einem Atemzug mit Binswanger und Boss auch Rollo May.208 Der Einfluss Heideggers auf das Denken Mays vor allem in Bezug auf dessen Terminologie ist kaum zu übersehen.209 Von Heidegger entlehnt May den Begriff des Daseins als „In-der-Welt-Sein“, auf dem er sein gesamtes Verständnis von der Person, die ihm in der Therapie gegenübersitzt, aufbaut. Und er differenziert die Welt des Menschen Heidegger folgend in Umwelt, Eigenwelt und Mitwelt aus.210 Auch in der Methodik lässt sich eine Nähe zu
|| 202 JASPERS, Allgemeine Psychopathologie, 299–302, hier 299. 203 Vgl. PADRUTT, Art. Heidegger, Martin, 203–205. 204 Vgl. YALOM, Existenzielle Psychotherapie, 28. Siehe auch PADRUTT, Art. Heidegger, Martin, 204. 205 Vgl. HOLZHEY-KUNZ, Art. Binswanger, Ludwig, 49. Siehe auch CONDRAU, Art. Boss, Medard, 59; GUIGNON, Authenticity, Moral Values, and Psychotherapy, 222. Bei Guignon findet sich auch die Bezeichnung Heideggers als „Eckstein der existentiellen Psychotherapie“. (Ebd., 215). 206 CONDRAU, Art. Boss, Medard, 58f.; bes. 59. 207 PADRUTT, Art. Heidegger, Martin, 204. 208 Vgl. GUIGNON, Introduction, 2. 209 Vgl. ABZUG, Rollo May as Friend to Man, 18. 210 Vgl. MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 61–65.
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Heidegger konstatieren, nähern sich doch beide den Bedeutungen von Begriffen über deren Etymologie.211 Dass sich May eigenständig mit den Texten Heideggers auseinandergesetzt hat, ist wie bereits erwähnt eher unwahrscheinlich. In Bezug auf die Dissertation The Meaning of Anxiety merkt Herbert Spiegelberg sogar an, dass Mays Beschäftigung mit Heidegger durch die Interpretation Tillichs gekennzeichnet sei.212 Für ein vertieftes Verständnis des Menschen in seinem „In-der-Welt-Sein“ griff May über Heidegger hinaus auch auf den französischen Existentialisten Jean-Paul Sartre zurück. 4.7 Jean-Paul Sartre als „psychologischer Interpret Heideggers“ Die Nähe zwischen dem Denken Heideggers und Sartres ist unverkennbar. Ob sich Sartre aber selbst als „psychologischer Interpret Heideggers“ 213 verstanden hat, wie ihn Tillich charakterisiert, ist eher unwahrscheinlich. Tatsächlich bewegt sich Sartre aber mit seinem Entwurf einer ‚existentiellen Psychoanalyse‘ in Das Sein und das Nichts in psychologischen Kontexten.214 Das macht ihn zu einem wichtigen Gesprächspartner für May. In Psychology and the Human Dilemma führt May in einem Kapitel, das er ganz der Auseinandersetzung mit dem Denken Sartres und der Psychotherapie widmet, sowohl Anknüpfungs- als auch Kritikpunkte an. Während er Sartres „zweifellos wichtigen Beiträge in unserer Zeit hinsichtlich der Selbstinterpretation des modernen westlichen Menschen in Philosophie, Psychologie und Literatur“215 würdigt, zielt ein zentraler Kritikpunkt auf Sartres Zurückweisung der Unterscheidung von Essenz und Existenz, die im Kontext seiner generellen Ablehnung der scholastischen Unterscheidung von Akt und Potenz steht und die sich in dessen berühmtem Diktum: „Die Existenz geht der Essenz voraus“ ausdrückt. Die Kenntnis über das Wesen des Menschen ist nach Sartre nicht aufgrund von Reduktion oder Abstraktion zu erlangen, sondern aufgrund phänomenologischer Beobachtung: Das, was wir vom Einzelnen wahrnehmen, das ist er auch. Denn was der Mensch ist, ist das, was er in seiner Existenz aus sich
|| 211 Vgl. HELFERICH, Geschichte der Philosophie, 391. 212 Vgl. SPIEGELBERG, Phenomenology in Psychology and Psychiatry, 159. 213 TILLICH, Psychoanalysis, Existentialism, and Theology, 136. Eine umfassende Auseinandersetzung mit der existentiellen Psychoanalyse Jean-Paul Sartres bietet die Dissertation von MÜNK, Handeln oder Sein. 214 Vgl. SARTRE, Das Sein und das Nichts, 956–986. 215 MAY, Psychology and the Human Dilemma, 138.
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macht.216 Hier drückt sich der generelle Protest der Denker des Existentialismus gegen den starken Essentialismus Hegels aus. May schließt sich dabei einer Kritik Tillichs an dem essenzlosen Existentialismus Sartres an.217 Tillich betont gegenüber Sartre zu Recht die Unausweichlichkeit essentieller Aussagen über die Natur des Menschen angesichts seiner existentiellen Entfremdung.218 Die Attraktivität Sartres für May bestand vor allem in dessen Zurückweisung jeglicher Tendenz des Reduktionismus in der Psychoanalyse sowie in dessen Freiheitsverständnis, demzufolge der Mensch wesentlich frei und daher vollumfänglich verantwortlich für sich und sein Handeln ist. Auf diesem Verständnis lässt sich ein Ansatz der existentiellen Psychotherapie aufbauen.219
|| 216 Vgl. GW XI 113. 217 Vgl. MAY, Introduction, 6f. May nennt hier Tillich als den Bezugspunkt seiner Kritik und zitiert ihn: TILLICH, Existentialism and Psychotherapy, 153. 218 Vgl. TILLICH, Existentialism and Psychotherapy, hier 153. Siehe auch ST II 32f.; GW V 224: „Man hat viele Probleme der menschlichen Situation im Laufe der Philosophiegeschichte in rein essentialen Begriffen behandelt. Sie alle beschäftigen sich mit der Frage: Was ist das ‚Wesen‘ des Menschen? Was ist seine oὐσία? Was macht ihn zu dem, was er in jeder Gestalt ist, die den Namen ‚Mensch‘ verdient? Weder Nominalismus noch Prozeßphilosophie, weder philosophischer Empirismus noch Existenzphilosophie können dieser Frage ausweichen. Immer bleibt es Aufgabe des Denkens, das Wesen des Menschen in seinen essentialen Strukturen zu bestimmen, sei es in statischen oder dynamischen Begriffen.“ 219 Vgl. die Einleitung, die May für die Übersetzung von zwei Kapiteln aus Sartres Das Sein und das Nichts von H. E. Barns verfasst hat: MAY, Introduction, 1–17.
Paul Tillich Teacher and Friend distinguished in that line of sensitive personalities who through the ages sought to understand what it means to be a human being.1 Rollo May
1 Leben und Werk: „Auf der Grenze“ Aufgrund der Fülle an Literatur zu Leben und Werk Paul Tillichs soll im Kontext dieser Arbeit darauf verzichtet werden, in gleicher Intensität auf Leben und Werk des deutsch-amerikanischen Theologen und Philosophen einzugehen wie im vorherigen Teil über den im deutschen Sprachraum recht unbekannten amerikanischen Psychotherapeuten Rollo May. Der biografische und werkgeschichtliche Teil beschränkt sich daher hauptsächlich auf die Zeit in den USA bzw. werkgeschichtlich auf die Zeit, die Werner Schüßler als eine „gewisse Kehrtwende“ bezeichnet, deren Anfänge bereits in die Frankfurter Zeit zu datieren sind.2 In Bezug auf das Denken Tillichs sowie die Interdependenzen der beiden Denker Tillich und May gilt es an dieser Stelle grundlegend und vorwegnehmend auf einige Grundkonzepte einzugehen, auf die ich im Laufe der Arbeit noch einmal zurückkomme. Dazu zählt im Besonderen die Entwicklung von Tillichs Existentialontologie. Die Charakterisierung des Lebens Paul Tillichs als „auf der Grenze“, die dieser selbst als Titel seiner Autobiografie gewählt hat und die immer wieder mit dem Leben und Arbeiten Tillichs in Verbindung gebracht wird, eignet sich auch im Kontext dieser Arbeit für die Darstellung der Verbindung von Tillich und May sowie die Auseinandersetzung Tillichs mit der Psychotherapie. Paul Tillich, geboren 1886 in Starzeddel, ist aufgrund seines Einsatzes für jüdische Studierende und seiner programmatischen Schrift Die sozialistische Entscheidung von 1933 gezwungen, seine Heimat Deutschland zu verlassen und in die USA zu emigrieren.3 Die Zeit seiner theologischen und philosophischen Ausbildung Anfang des 20. Jahrhunderts ist geprägt von intensivem Studium ebenso wie
|| 1 MAY, The Springs of Creative Living, 5. Diese Zeilen stellt May seiner zweiten Schrift als Widmung voran. 2 Vgl. SCHÜSSLER, Abkehr von der Bewusstseinsphilosophie, 157. Eine Auswahl an Biografien: TILLICH, Auf der Grenze; GW XIII; PAUCK/PAUCK, Paul Tillich; ALBRECHT/SCHÜSSLER, Paul Tillich; SCHÜSSLER, Paul Tillich; RE MANNING (Hg.), The Cambridge Companion to Paul Tillich; SCHÜSSLER/STURM, Paul Tillich. 3 Vgl. SCHÜSSLER, Paul Tillich, 11–25; bes. 20. https://doi.org/10.1515/9783110780581-003
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von Begegnungen mit menschlichem Elend, mit dem er vor allem während seiner Hilfspredigerzeit in Berlin sowie während seines Einsatzes als Feldgeistlicher im Ersten Weltkrieg in Berührung kommt.4 Hier scheinen sich die Lebensläufe Tillichs und Mays in gewisser Weise zu ähneln, vergleicht man diese Zeit mit Mays Arbeit als Berater (counselor).5 Tillichs Lehrtätigkeiten in Deutschland fasst Werner Schüßler wie folgt zusammen: Nach philosophischem Doktorat (1910), theologischem Lizentiat (1912) und einer theologischen Habilitation noch während des Krieges im Jahr 1916 in Halle war Tillich zunächst nach einer Umhabilitation an die theologische Fakultät in Berlin im Jahr 1919 dort als Privatdozent tätig, bevor er 1924 außerordentlicher Professor für Systematische Theologie in Marburg wurde, was einem heutigen außerplanmäßigen Professor mit einer recht mäßigen Dotierung entsprach. Ein Jahr später wurde er dann Ordinarius für Religionswissenschaft an der Sächsischen Technischen Hochschule Dresden. […] Nachdem die letzten Hoffnungen auf einen Wechsel nach Berlin geschwunden waren, sah Tillich schließlich, dass nur noch der Übergang in die philosophische Fakultät übrigblieb, um von Dresden wegzukommen. So wurde er 1929 gegen den Willen der Fakultät zum Ordinarius für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt am Main berufen.6
Frankfurt sollte seine letzte Station in Deutschland sein, bevor er in die USA emigriert, wo er theologisch und philosophisch erst wirklich an Bedeutung gewinnen sollte – eine Entwicklung, die voraussichtlich ähnlich auch in Frankfurt ihren Lauf genommen hätte, bedenkt man, was Gerhard Schreiber und Heiko Schulz in ihrer Einleitung zum achten Band der Reihe Tillich Research angesichts der „enormen Produktivität“ sowie der „großen Spannweite seiner akademischen Interessen und Kompetenzen“7 anmerken. Gleiches kann man auch schon aus einer Bemerkung Fritz Medicusʼ nach Tillichs Teilnahme an den Hochschulkursen in Davos herauslesen, der in Tillich den „‚kommenden Mann‘ in der Philosophie“ sieht.8 Dazu sollte es zumindest im deutschsprachigen Raum nicht mehr kommen. Dennoch stellen die Frankfurter Jahre im Denken
|| 4 Vgl. ebd., 12f. 5 Ebenso auffällig, wenn auch nur als eine Randbemerkung zu betrachten, ist die Tatsache, dass beide Männer in ihren jungen Jahren einen nervlichen Schwächeanfall erlitten haben. Vgl. SCHÜSSLER, Paul Tillich, 14. Siehe S.12f. in dieser Arbeit. 6 SCHÜSSLER, „I am an American“, 248–283, hier 251f. 7 SCHREIBER/SCHULZ, Paul Tillich in Frankfurt (1929–1933), 11. 8 GW XIII 564. Christoph Schwöbel schreibt zum Erfolg Tillichs in den USA und in Deutschland Folgendes: „Zwar hat Tillich in der deutschsprachigen Theologie nie die epochale Bedeutung erlangt wie in den Vereinigten Staaten, doch sind wahrscheinlich über keinen Theologen des 20. Jh.s mehr wissenschaftliche Arbeiten publiziert worden.“ SCHWÖBEL, Tendenzen der Tillich-Forschung (1967–1983), 167.
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Tillichs eine bedeutende Etappe für sein Werk und auch so etwas wie den ‚missing link‘ zwischen seiner früheren und seiner späteren Schaffensphase dar.9 Nachdem Tillich im Oktober 1933 eine Lehrtätigkeit am Union Theological Seminary in New York in Aussicht gestellt wird, kommt er dort im November desselben Jahres zusammen mit seiner zweiten Frau Hannah und der gemeinsamen Tochter Erdmuthe an.10 Die amerikanische Kultur und das amerikanische Denken scheinen Tillichs Denken und Arbeiten zu entsprechen, und umgekehrt scheint Tillich einen Nerv der Zeit11 im Amerika der 1950er Jahre zu treffen, was der Erfolg seines Buches The Courage to Be aus dem Jahre 1952 deutlich macht, das das „meistverkaufte Buch der Yale University Press“ war sowie unter „The 100 Best Spiritual Books of the Century“ aufgeführt wurde.12 Dass Tillich in Amerika schnell Fuß fassen konnte, zeigt sich ebenso an seiner Mitgliedschaft in einigen renommierten wissenschaftlichen Gesellschaften, etwa der Theological Discussion Group, der American Theological Society, später im Philosophy Club13 sowie solchen Gruppen, die sich in den Emigrantenkreisen bildeten.14 „Aus dem deutschen Emigranten war einer der bekanntesten religiösen Denker in Amerika geworden, dessen Schriften wie The Courage to Be zur Pflichtlektüre an amerikanischen Universitäten gehörten.“15 Und auch nach seiner Emeritierung nimmt sein Bekanntheitsgrad nicht ab, im Gegenteil: Tillich wird als University Professor an die Harvard-University berufen und übernimmt später noch die John Nuveen Professur an der Federated Theological Faculty von Chicago.16 Dort stirbt Tillich am 22. Oktober 1965.17 Es wäre allerdings zu einseitig, anzunehmen, dass die Emigration, anders als für so viele Emigranten, für Tillich und seine Familie ein Leichtes gewesen
|| 9 Vgl. SCHÜSSLER, Der Mensch und die Philosophie, 218. 10 Vgl. SCHÜSSLER, Paul Tillich, 20. 11 Hierauf verweist auch Werner Schüßler mit Blick auf den steigenden Bekanntheitsgrad, den Tillich mit seiner Schrift The Courage to Be erlangt hat: Vgl. SCHÜSSLER, Paul Tillichs Schrift „The Courage to Be“, hier 109. 12 JOHN, Tillich: The Words I Recorded, the Man I knew, 5. Für den Hinweis siehe SCHÜSSLER, Paul Tillichs Schrift „The Courage to Be“, 109. 13 GW XII 74. 14 Hierzu zählt die Hilfsorganisation „Selfhelp for German Emigrees“, die später in „Selfhelp for Emigrees from Central Europe“ umbenannt wurde, sowie der „Council for a Demoratic Germany“: SCHÜSSLER, Paul Tillich, 20f. Siehe auch die Rede Tillichs als Vorsitzender der Gruppe: GW XIII 220–226. Siehe auch GW XII 75. 15 DANZ/SCHÜSSLER, Between two Worlds – Paul Tillich im Exil, 5. 16 Vgl. SCHÜSSLER, Paul Tillich, 22. 17 Eine tabellarische Übersicht über Tillichs Lebensdaten findet sich in: SCHÜSSLER, Paul Tillich, 125f.
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wäre. Angefangen bei der Sprachbarriere, die er bis zum Schluss nicht vollends überwinden konnte, war es auch für Paul Tillich, der augenscheinlich gut Fuß fassen konnte, ein Leben in der Fremde, fernab der Heimat und dem gewohnten Umfeld.18 Was war es aber, was die Begegnung zwischen Tillich und den USA des 20. Jahrhunderts so fruchtbar machte?
2 Auf der Grenze von Philosophie, Theologie und Tiefenpsychologie 2.1 Tillichs Wahrnehmung der Situation in den USA Einblicke in seine Auseinandersetzungen mit der Situation in den USA bieten vor allem die im fünften Band der Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Schriften zusammengestellten Briefe, Tagebuchauszüge und Berichte Tillichs, die zum großen Teil Rundbriefe Tillichs an seine Freunde in Deutschland enthalten. Dabei finden sich neben Beobachtungen bezüglich der Situation in den Wissenschaften – besonders in Philosophie und Theologie – vor allem auch Aussagen zu der politischen und gesellschaftlichen Situation in den USA.19 Auch hinsichtlich der Studierenden merkt Tillich Unterschiede zu seiner Tätigkeit als Professor an deutschen Universitäten an. So attestiert er deutschen Studierenden einen stärker theoretischen Zugang zu den Inhalten der Lehrveranstaltungen sowie eine solide Vorbildung in den Sprachen. Seinen amerikanischen Zuhörern spricht er demgegenüber einen größeren Lebensbezug und vor allem ein Interesse an dem Nutzen für die Praxis im Sinne einer Möglichkeit der „Gestaltung der Wirklichkeit“ zu.20 Was sein eigenes Arbeiten angeht, verbindet Tillich mit seiner Zeit in den USA eine „Überwindung des Provinzialismus in der Theologie“, wie er ihn in der europäischen, vor allem aber in der deutschen Theologie erfahren hat.21 Die USA dieser Zeit erlebte er so wie zahlreiche andere Emigranten als ein Land, das sich vom Fremden beeinflussen und bereichern lassen wollte. Tillich beschreibt dies wie folgt: An der Art, wie man uns aufnahm, als wir als Flüchtlinge in die Vereinigten Staaten kamen, wurde uns deutlich, daß unsere amerikanischen Freunde uns keineswegs zu ameri-
|| 18 Vgl. hierzu die Anmerkungen der Herausgeberin in GW XIII 185f. Siehe auch die autobiografischen Betrachtungen in GW XII 72–77. 19 Vgl. EW V 208; 214; 215. 20 Vgl. ebd., 226. 21 Vgl. GW VIII 13–27.
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kanisieren beabsichtigten, daß sie vielmehr von uns erhofften, wir würden für die gesamtamerikanische Situation auf unsere eigene Art unseren Beitrag liefern.22
Als Teil dieses eigenständigen Beitrags nennt Tillich insbesondere die Tiefenpsychologie, das existentialistische Denken sowie das Geschichtsbewusstsein, das die europäischen Denker und Denkerinnen mit in das neue Land brachten.23 In einem Brief an seine deutschen Freunde vom März 1950 schreibt Tillich aber, dass erst zu dieser Zeit, also fast 20 Jahre nach seiner Ankunft und der zahlreicher anderer Denker und Denkerinnen in den USA, eine Öffnung zu spüren war, die darauf zurückzuführen ist, dass das europäische Gedankengut erst in den 1950er Jahren tatsächlich „gebraucht“ wurde.24 Diesen Eindruck macht Tillich an verschiedenen Faktoren fest, etwa „dem Druck der geschichtlichen Lage“, „der unglaublichen Verbreitung der psychischen Erkrankungen“ sowie „vertiefter Einsicht in die Abgründe des menschlichen Seins und der Existenz überhaupt“.25 Wie an späterer Stelle noch detaillierter ausgeführt werden soll, gewinnt in den 1950er Jahren die Analyse der menschlichen Existenz eine tiefere Dimension, die auf die Übersetzung und Ausbreitung der existenzphilosophischen Schriften zurückzuführen ist. Tillich hält nun gehäuft Vorlesungen zur Theologie der Angst („The Theology of Anxiety“) sowie zur Theologie der Verzweiflung („The Theology of Despair“)26, was Rückschlüsse auf die vorherrschende Situation im Land ermöglicht. Die USA empfindet er zu dieser Zeit als ein Land voller Furcht, worüber er bei seinen Studierenden in Deutschland im Rahmen der Vorlesungen in Berlin seine Verwunderung ausspricht, hat Amerika doch im Gegensatz zu Deutschland nach Tillich prinzipiell sehr wenig Grund zur Furcht.27 Tillichs Wahrnehmung der USA bei seiner Ankunft als offen gegenüber neuen Ansätzen sowie sein Gespür für die gesellschaftliche Situation bereiteten den Boden für eine Weiterentwicklung seiner in der frühen Schaffensphase bereits angelegten Denkansätze.
|| 22 Ebd., 24. 23 Vgl. ebd., 25–27. 24 Vgl. EW V 325f. 25 Ebd., 326. 26 Vgl. ebd., 326. 27 Vgl. EW XVI 3.
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2.2 Die „anthropologische Fundierung“ seiner Theologie Was seine Lehre angeht, kommt Tillich nicht mit leeren Händen in den USA an, worauf Martin Fritz aufmerksam macht – im Gegenteil: Tillich hat „die Idee einer anthropologischen Fundierung der Theologie im Gepäck, die er auf dem langen Weg von der Geistphilosophie zu einer ‚ontologischen‘ Strukturtheorie menschlichen Seins gewonnen hat“28. Diese Neuausrichtung thematisiert im selben Band der Reihe Tillich Research auch der Beitrag von Werner Schüßler mit dem Titel Tillichs ‚existentialistic turn‘. Fritz wie Schüßler vertreten die These einer „gewissen Kehrtwende“ im Denken Tillichs, von einem vormals schwerpunktmäßigen Akzent auf dem Sinnbegriff hin zu dem nun im Vordergrund der Betrachtung stehenden Seinsbegriff und weiter zum Existenzbegriff.29 Beide Interpreten machen dabei auf die Vorbereitung dieser neuen Denk- und Arbeitsweise Tillichs schon in der Frankfurter Zeit aufmerksam, womit sie keinen radikalen Bruch in seinem Arbeiten annehmen und dennoch eine Neuausrichtung akzentuieren.30 Ein Zeugnis der „Abkehr von der Bewusstseinsphilosophie“ stellen nach Schüßler die geänderten Fassungen der Frankfurter Antrittsvorlesung aus dem Jahre 1929 und die Übersetzung eben dieser ins Englische aus dem Jahre 1948 dar: Spricht Tillich in der deutschen Fassung noch vom ‚Sein‘,
|| 28 FRITZ, ‚The doctrine of man as the present approach to theology‘, 287–321, hier 306. 29 Vgl. SCHÜSSLER, Abkehr von der Bewusstseinsphilosophie, 152–168, bes. 157. 30 In seiner Habilitationsschrift zeichnet Martin Fritz die Anfänge der Neuakzentuierung beginnend mit Tillichs Religionsphilosophie im Jahre 1925 nach. Da die Habilitationsschrift, die 2018 mit dem Paul-Tillich-Preis geehrt wurde, schon abgeschlossen, jedoch noch nicht publiziert ist, kann ich auf diesen Gedanken bisher nur aus der Dankesrede von Martin Fritz im Rahmen der Tagung der Paul-Tillich-Gesellschaft im Jahre 2018 verweisen: vgl. FRITZ, Dankesrede mit Buchvorstellung, 11. Siehe auch FRITZ, ,The doctrine of man as the present approach to theologyʻ, 287–321. Werner Schüßler bringt die Neuausrichtung mit dem Aufkommen der Schriften Heideggers, Schelers, Plessners und Jaspers in Zusammenhang: vgl. SCHÜSSLER, Tillichs ‚existentialistic turn‘, 323–345; SCHÜSSLER, Der Mensch und die Philosophie, 224: „In Bezug auf unsere Fragestellung heißt dies, dass sich durch Tillichs Begegnungen mit dem Existentialismus und der Philosophischen Anthropologie, wie sie vornehmlich in der Frankfurter Zeit stattfand, ein neues philosophisches Leitparadigma anbahnte.“; SCHÜSSLER, Abkehr von der Bewusstseinsphilosophie, 164f. Christian Danz stellt in seinem Beitrag Frankfurter Streitkultur im Exil den Bedeutungszugewinn einer anthropologischen Betrachtungsweise im Denken Tillichs heraus und setzt diesen in den Kontext einer Auseinandersetzung mit Horkheimer und Adorno, die Tillichs anthropologischen Ansatz gleichzeitig stark kritisierten: vgl. DANZ, Frankfurter Streitkultur im Exil, 125–140. Mit der Kritik setzt sich Tillich in Man and Society in Religious Socialism auseinander. Vgl. hierzu MW III 488–502.
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ändert sich die Terminologie in der englischen Fassung zu ‚existence‘.31 Ebenso zeigen die Ontologievorlesungen 1951 in Berlin eine stärkere Ausrichtung am Seinsbegriff als am Sinnbegriff.32 Die Frage nach einer Kehrtwende, nach Kontinuität oder Diskontinuität wird in der Tillich-Forschung kontrovers diskutiert.33 Die vorliegende Arbeit beabsichtigt keine Positionierung in der Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität; ihr Fokus liegt auf den Verbindungslinien zwischen Tillich und May und damit auf Tillichs Spätphase, wobei an gegebener Stelle auf werkgeschichtliche Beobachtungen nicht verzichtet werden kann. Aber gerade der Aufweis der Verbindung zwischen Tillich und May spricht für eine existenzphilosophische Wende im Denken Tillichs, die die Voraussetzung für die enge Verzahnung mit der Tiefenpsychologie erst ermöglicht. In den USA angekommen, deutet schon der Titel einer seiner ersten Vorlesungen The doctrine of man as the present approach to theology34 darauf hin, dass Tillich der Lehre vom Menschen einen entscheidenden Platz in seinem theologischen Programm einräumt. Hier schreibt er: „Ich denke darum, mit den [theologischen] Vätern einig zu sein, wenn ich die Lehre vom Menschen als
|| 31 Darauf macht Werner Schüßler aufmerksam und entfaltet diesen Gedanken in: Der Mensch und die Philosophie, 236ff. 32 Vgl. SCHÜSSLER, Abkehr von der Bewusstseinsphilosophie, 152ff. Siehe auch DERS., Der Mensch und die Philosophie, 237. 33 Vgl. SCHÜSSLER, Der Mensch und die Philosophie, 217. Es lassen sich in der TillichForschung tendenziell zwei Positionen ausmachen: Die eine Position betont, dass Tillichs Spätphase nur vor dem Hintergrund der transzendentalphilosophischen Ausrichtung der Frühphase verstanden werden kann. Siehe hierzu beispielsweise DANZ, Religion als Freiheitsbewusstsein, 4: „Die für die späten Schriften Tillichs signifikante Betonung des Seinsbegriffes und der Ontologie bedeutet keinen Einwand gegen die hier vorgeschlagene Interpretationsperspektive [sc. transzendentalphilosophische Problemperspektive], welche die späte Ontologie aus der Perspektive seiner frühen Schriften, insbesondere der deutschen Periode, rekonstruiert.“ In neueren Publikationen scheint Danz von dieser strikten Auslegung abzurücken. Siehe DANZ, Das Dämonische, 166: „Beide Texte sind jedoch auch in einer Umbruchszeit entstanden, in der die sinntheoretische Geistphilosophie der frühen 1920er Jahre eine existentialanthropologische Umarbeitung erfährt.“ In der Anmerkung dazu verweist Danz auf die Habilitationsschrift von Martin Fritz. Ein weiterer Vertreter einer transzendentalphilosophischen Tillich-Interpretation ist Stefan DIENSTBECK, Transzendentale Strukturtheorien. Die andere Position der Tillich-Forschung geht stärker von einem Neuansatz in der Spätphase Tillichs aus, ohne diese jedoch gänzlich von früheren Denkmodellen abgegrenzt verstanden wissen zu wollen. Etwa Werner Schüßler, siehe oben Anm. 32; Martin FRITZ, Menschsein als Frage. 34 EW XVII 193–214. Tillichs Anthropologie findet sich ebenso in weiteren Vorlesungen dieser ersten Jahre im Exil: Philosophy of Religion, Einführung in die Existential-Philosophy, The Doctrine of Man, The Doctrine of Man and the present situation in science, philosophy and theology, The Christian and the Marxist View of Man. Die Vorlesungen sind alle abgedruckt in EW XVII.
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einen möglichen Zugang zur Theologie betrachte. Doch darüber hinaus behaupte ich, dass die Lehre vom Menschen der gegenwärtig notwendige Zugang zur Theologie ist.“35 Ein erstes Zeugnis für Tillichs Neuakzentuierung bietet im Kontext der Beschäftigung mit dem Sozialismus in seiner Frankfurter Zeit der Appell, eine Lehre vom Menschen zu entwickeln, um auch über „die Untergründe des politischen Seins und Denkens etwas auszusagen: Ohne eine Lehre vom Menschen kann es keine Lehre von den politischen Richtungen geben, die mehr wäre als die Darstellung ihrer äußeren Erscheinung.“36 Dieses Verständnis bereitet den Boden für die Aufnahme psychologischen Gedankenguts, mit dem sich Tillich nun verstärkt auseinandersetzt. Wenn es Tillichs Absicht war, seinem theologischen Konzept eine anthropologische Wendung zu geben, dann ist es nicht verwunderlich, dass er nun vermehrt den Kontakt mit der Psychologie, Psychoanalyse und Psychotherapie sucht. Erste Berührungspunkte lassen sich schon früh aufweisen. 1912 regt Eckart von Sydow, ein Freund Tillichs, eine Beschäftigung mit Sigmund Freud und nach dem Ersten Weltkrieg mit der expressionistischen Kunst an.37 In den 1920er Jahren, d.h. in seiner Dresdner Zeit, ist es dann Heinrich Goesch, der mit der „Freudschen Psychoanalyse wohlvertraut“ ist und einen starken Einfluss auf Tillich ausübt.38 Auf diese frühe Begegnung mit der Lehre Freuds verweist auch Pamela Cooper-White in ihrem Beitrag Paul Tillich’s Legacy in Psychology and Pastoral Psychotherapy, die sie an der Nennung Freuds in Tillichs früher Schrift Die religiöse Lage der Gegenwart ([1926]; im Englischen: The Religious Situation [1956]) festmacht.39 Zudem begegnet Tillich in Deutschland auch C. G. Jung40 und Erich Fromm41. Letztlich sind es aber seine Begegnungen in Amerika, die ein tieferes Interesse bewirken, wie sie sich in der Auseinandersetzung mit „vielfältigen humanistischen und existentialistischen Ansätzen der Psychotherapie und Psychologie“ sowie in der Freundschaft mit der Analytikerin Karen Horney und der Mitgliedschaft in der New York Psychology Group ergaben.42 Tillich war eines der nicht-psychotherapeutischen Mitglieder dieser Gruppe in den Jahren 1942
|| 35 Ebd., 194f. 36 MW III 289. 37 Vgl. PAUCK/PAUCK, Paul Tillich, 22. 38 Vgl. ebd., 113. Siehe auch ALBRECHT/SCHÜSSLER, Paul Tillich, 73; GW XII 68; GW VII 13–27. 39 Vgl. COOPER-WHITE, Paul Tillich’s Legacy in Psychology and Pastoral Psychotherapy, Anm. 3. Siehe auch TILLICH/ROGERS, A Dialogue, 196. 40 Vgl. COOPER-WHITE, Paul Tillich’s Legacy in Psychology and Pastoral Psychotherapy, 28. 41 Vgl. DOURLEY, Tillich in dialogue with psychology, 239. 42 Vgl. COOPER-WHITE, Paul Tillich’s Legacy in Psychology and Pastoral Psychotherapy, 28. Siehe hierzu auch BRYANT, The Confluence of Thought between Paul Tillich und Rollo May, 12.
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bis 1945, zu deren Mitgliedern auch Erich Fromm, Rollo May und Carl Rogers gehörten und deren Diskussionsschwerpunkt auf der Wechselbeziehung von Religion und Gesundheit lag, mit einem besonderen Interesse an der Tiefenpsychologie.43 Eine Zusammenstellung der Veröffentlichungen Tillichs, die die Psychologie betreffen, bietet auch der von Perry LeFevre herausgegebene Band The Meaning of Health. Essays in Existentialism, Psychoanalysis, and Religion.44 Tillich äußert sich selbst dazu wie folgt: In ständigem Kontakt aber stand ich mit der Tiefenpsychologie und vielen ihrer Vertreter, besonders während der letzten zehn Jahre. Das Problem der Beziehung zwischen theologischem und psychotherapeutischem Verständnis des Menschen ist mehr und mehr in den Vordergrund meines Interesses getreten, teils durch ein Universitätsseminar über Religion und Gesundheit an der Columbia Universität, teils durch das große praktische und theoretische Interesse, das die Tiefenpsychologie im Union Seminary gefunden hat, teils durch persönliche Freundschaft mit älteren und jüngeren Analytikern und Beratern. Ich glaube nicht, daß es heute möglich ist, eine christliche Lehre vom Menschen zu entwickeln und besonders eine verbindliche christliche Lehre vom christlichen Menschen, ohne das ungeheure Material zu benutzen, das die Tiefenpsychologie ans Licht gebracht hat.45
Hinsichtlich der von Tillich in diesem Kontext verwendeten Terminologie lassen seine Texte eine konsequente Begrifflichkeit in Bezug auf die Begriffe Psychoanalyse, Psychotherapie und Tiefenpsychologie vermissen. Eine terminologische Klärung sucht er in seinem Beitrag Die theologische Bedeutung von Psychoanalyse und Existentialismus vorzunehmen,46 was ihm jedoch nur bedingt gelingt. Auch wenn ihm die Bedeutungsunterschiede der Begriffe bewusst zu sein scheinen und ihm auch der Protest der Freudianer angesichts der Bezeichnung anderer Psychotherapeuten als Psychoanalytiker bekannt ist, plädiert Tillich für eine Weitung der Bezeichnung und für eine synonyme Verwendung der drei Begrifflichkeiten mit Blick auf ihr gemeinsames Anliegen, nämlich die
|| 43 Vgl. DOURLEY, Tillich in dialogue with psychology, 239f. 44 Vgl. TILLICH, Essays in Existentialism, Psychoanalysis, and Religion. In seinem Vorwort zu dem Band schreibt LeFevre: “I became convinced that Tillich’s influence on the dialogue between religion and theology and the human sciences dealing with personal existence is unmatched. His influence was felt through his writings, lectures, and dialogues, but more than this Tillich actually participated in meetings with psychotherapists, experts in medicine, pastoral psychotherapists, social workers.” Siehe auch COOPER, Paul Tillich and Psychology; COOPER-WHITE, Paul Tillich’s Legacy in Psychology and Pastoral Psychotherapy, 28. 45 GW XII 74. 46 Vgl. GW VIII 304–315.
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Bewusstmachung des Unbewussten.47 An anderer Stelle führt er die Bezeichnung ‚psychotherapeutische Psychologie‘ ein, um eine Engführung auf die Schule Freuds zu umgehen.48 Im Fortgang dieser Arbeit soll der Begriff ‚Tiefenpsychologie‘ für jene Richtung der Psychotherapie verwendet werden, mit der sich Tillich in den USA hauptsächlich auseinandergesetzt hat.49 Cooper-White bewertet den Einfluss der Tiefenpsychologie auf Tillichs Denken als weitaus offensichtlicher als dessen theologisches und philosophisches Erbe im Bereich der Psychologie bzw. Psychotherapie. Direkte Einflüsse durch Tillich sieht sie in den folgenden Bereichen gegeben: in Theorie und Praxis der Strömung der existentiellen Psychotherapie sowie der pastoralen Beratung und Psychotherapie und schließlich das Anknüpfen an Tillichs Methode der Korrelation in der pastoralen und praktischen Theologie.50 Cooper-Whites Bewertung des Einflusses Tillichs wirkt zum Teil etwas zurückhaltend im Vergleich zu anderen Stimmen, die von einem „massiven“ Einfluss auf den Zweig der pastoralen Psychologie sprechen.51 Tillichs indirekter Einfluss etwa in Form von Gesprächen und Kontakten ist wesentlich größer einzuschätzen.52 Insbesondere die Vertreter der existentiell-humanistischen Psychotherapie waren in starkem Maße von Tillich beeinflusst, wie es sich beispielsweise an der Wirkung von
|| 47 Vgl. ebd., 304; 25. Für die synonyme Verwendung von Psychotherapie und Tiefenpsychologie siehe auch EW XVI 221. 48 Vgl. EW XVI 222. Siehe hierzu ELSÄSSER, Paul Tillichs Lehre vom Menschen als Gespräch mit der Tiefenpsychologie, 8. 49 Der Begriff „Tiefenpsychologie“ findet sich sowohl bei Freud selbst wie auch als Bezeichnung der Psychoanalyse Freuds – so etwa bei dem Züricher Psychiater Eugen Bleuler. Ulrike Popp-Baier verweist darauf, dass „im allgemeinen auch alle theoretischen Richtungen in der Psychologie als Tiefenpsychologie bezeichnet [werden], die sich aus der Lehre Freuds entwickelt haben“: POPP-BAIER, Tiefenpsychologie, 97. In ihrem Beitrag geht Popp-Baier weiter auf jene Psychotherapeuten ein, die sich mit einer eigenen Schwerpunktsetzung von der Lehre Freuds unterscheiden, wie etwa Alfred Adler und Carl Gustav Jung, die sie als „die frühen Dissidenten“ bezeichnet (111–115), sowie Karen Horney und Erich Fromm, mit denen Tillich in den USA ebenfalls in einem regen Austausch stand. Die Ansätze von Horney, Fromm, Melanie Klein, Donald W. Winnicott, Margret Mahler, Heinz Kohut und Otto Kernberg bezeichnet PoppBaier als neopsychoanalytische Richtungen (115–118). 50 Vgl. COOPER-WHITE, Paul Tillich’s Legacy in Psychology and Pastoral Psychotherapy, 28–34, bes. 29. 51 Vgl. HILTNER, Pastoral Psychology – After Paul Tillich, 5. Siehe auch MITCHELL, Paul Tillich’s Contributions to Pastoral Care and Counseling, 24. Siehe auch OATES, The Contribution of Paul Tillich to Pastoral Psychology, 11. Dem Einfluss Tillichs auf die pastorale Psychologie widmet die Zeitschrift Pastoral Psychology 1968 eine gesamte Ausgabe. 52 Vgl. COOPER-WHITE, Paul Tillich’s Legacy in Psychology and Pastoral Psychotherapy, 29.
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Tillichs The Courage to Be auf James Bugentals Psychotherapy and Process und The Art of Psychotherapy aufzeigen lässt.53 Besonders auch mit Blick auf die Theologie scheint Tillich das Potential der Tiefenpsychologie für die Möglichkeit tiefer Erkenntnisgewinne wahrgenommen zu haben: „Paul Tillich gehört zu denjenigen Theologen“, schreibt Joachim Scharfenberg, „die die Bedeutung der Tiefenpsychologie für die Theologie sehr früh erkannt“ haben.54 Ein Grund dafür ist sicherlich, dass sich Tillich mit der Tiefenpsychologie, wie Peter Homans schreibt, „gründlicher als andere Theologen“ beschäftigt hat.55 Der Gewinn der Beschäftigung der Theologie mit den Erkenntnissen der Tiefenpsychologie zeigt sich vor allem in der Wiederentdeckung der Bedeutung des Sündenbegriffs, der Erinnerung an das Dämonische, dem Verständnis von Gnade und Vergebung als Annahme sowie in der Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit Schuldgefühlen.56 Im Verhältnis von Psychotherapie und Religion weist Tillich aber auch auf einen nicht zu unterschätzenden Unterschied hin: „Die Psychotherapie kann den Menschen aus einer besonderen Schwierigkeit befreien. Die Religion aber zeigt dem Befreiten, der nunmehr über Sinn und Ziel seiner Existenz zu entscheiden hat, seinen endgültigen Weg.“57 Trotz der gewinnbringenden Aneignung tiefenpsychologischer Themen gilt es nach Elsässer zu bedenken, dass Tillich dies nicht auf einer innerdisziplinären Ebene tut und er damit also keine einzelwissenschaftliche Durchdringung der Themen anstrebt, sondern dass sich sein Interesse lediglich auf den philosophischen Gehalt richtet.58
|| 53 Vgl. ebd. In seiner Trauerrede anlässlich von Tillichs Tod versucht May eine Erklärung dafür zu geben, warum Tillich einen solchen Einfluss auf Vertreter und Vertreterinnen der Psychologie, Psychiatrie und Psychoanalyse hatte: “From all over the country came the same reports, that whenever he spoke the psychologists, psychiatrists, and psychoanalysts came out in large numbers to hear him. […] I believe that the most significant motive in the coming of these psychiatrists and psychologists to Tillich was their yearning for meaning, for help in the capacity to care.” (MAY, Paul Tillich: In Memoriam, 8). 54 SCHARFENBERG, Paul Tillich und der geistige Horizont des gegenwärtigen Verhältnisses von Psychoanalyse und Religion, 121. 55 HOMANS, Toward a Psychology of Religion, 105. 56 Vgl. TILLICH, Psychoanalysis, Existentialism, and Theology, 137f. Siehe auch ALLWOHN, Psychotherapie und Theologie bei Paul Tillich, 129. 57 TILLICH, Auf der Grenze, 169. 58 Vgl. ELSÄSSER, Tillichs Lehre vom Menschen als Gespräch mit der Tiefenpsychologie, 91.
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2.3 Von ersten existenzphilosophischen Schritten zum ‚existenzialistischen Jahrzehnt in Amerika‘ Es ist aber nicht nur die Anthropologie, die Tillich bei seiner Ankunft in den USA im Gepäck hat, sondern auch der Versuch eines Überblicks über die Existenzphilosophie, auf deren Darstellung man nach Tillichs eigener Aussage schon gespannt wartete.59 In diesem Sinne war sein Aufsatz Existential Philosophy als „erste Einführung der Existenzphilosophie in Amerika gedacht“60. Außerdem bietet er zu Beginn seiner Lehrtätigkeit in den USA eine Vorlesung mit dem zweisprachigen Titel The interpretation of existence in recent German philosophy (Einführung in die Existenzial-Philosophie)61 an. Seiner Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie legt Tillich eine zentrale Unterscheidung zugrunde, die es ihm ermöglicht, diesen Begriff in einen größeren Kontext einzuordnen.62 Er unterscheidet zwischen ‚existentiell‘ im Sinne einer Haltung und ‚existentiell‘ im Sinne eines Inhalts bzw. einer Bewegung. Als Haltung bedeutet ‚existentiell‘ „teilhaben an einer Situation mit der ganzen Existenz“ im Gegensatz zu einer „detachierten, fernstehenden, nur beobachtenden Haltung“.63 Auf die Kritik, dass eine solche Haltung die dem Erkenntnisakt notwendige Objektivität missen lasse, antwortet Tillich mit dem Hinweis, dass ohne Teilnahme kein Erkenntnisakt möglich sei, weil ohne Teilnahme der Zugang zu den Dingen fehle.64 In seiner zweiten Bedeutung im Sinne eines Inhalts bzw. einer Bewe|| 59 Vgl. EW V 208; siehe dazu BAKEWELL, Das Café der Existenzialisten, 318. Sarah Bakewell zeichnet in diesem Kapitel die durchschlagende und verändernde Kraft, die die Auseinandersetzung mit dem Existentialismus auch und vor allem in Amerika hatte, nach und spricht von einem „existentialistischen Jahrzehnt in Amerika“. (Ebd., 318–323). 60 GW IV 145. Siehe auch MW I 353. Ebenso wird darauf verwiesen, dass der Beitrag in den Kriegsjahren entstand und er aufgrund deren schweren Zugänglichkeit auf die Schriften der französischen Existenzphilosophen verzichten muss. Rollo May empfiehlt in seinem einführenden Werk Existence in einer Anmerkung diesen Beitrag Tillichs für jene Leserinnen und Leser, die einen tieferen Einblick in die Bewegung der Existenzphilosophinnen und Existenzphilosophen wünschen. (Vgl. MAY, The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology, 15). 61 EW XVII 57–156. Tillichs Anliegen war es, neben Schelling als „Grundlegung der Philosophie der Existenz und Marx als deren politische Form“, die religiöse Darlegung Kierkegaards und Nietzsches Denken, „vier Aspekte der Philosophie der Existenz“ vorzustellen, die es den Studierenden ermöglichen sollten, auch die modernen Vertreter dieser Strömung verstehen zu können. Scheinbar konnte Tillich aus Zeitgründen die Philosophie Nietzsches nicht mehr ausführen. 62 Vgl. SCHÜSSLER, Einleitung, 13. Siehe auch RÖBEL, Mut und Partizipation, 72–75. 63 EW XVI 174f. Siehe auch GW XI 96f. 64 Vgl. EW XVI 177. Siehe auch GW XI 96; SCHÜSSLER, Einleitung, 13.
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gung bezeichnet ‚existentiell‘ bestimmte Formen der Philosophie, Kunst und Literatur.65 In dieser zweiten Bedeutung gilt es nach Tillich jedoch drei Aspekte zu unterscheiden, die gleichzeitig die Entwicklung des Existentialismus illustrieren: Existentialismus als Gesichtspunkt, als Protest und als Ausdruck. Tillich fasst diese Entwicklung folgendermaßen zusammen: Er [sc. der existentialistische Gesichtspunkt] ist überall gegenwärtig, nicht in aller, aber in großen Teilen der Theologie, in großen Teilen der Philosophie, der Kunst, der Literatur. Aber es bleibt ein Gesichtspunkt und oft ein Gesichtspunkt, der von denen, die ihn haben, nicht verstanden wird. Erst im 19. Jahrhundert, nach einigen Vorgängern im 17. Jahrhundert, wird der Existentialismus mehr als ein Gesichtspunkt, wird er eine Bewegung, nämlich die Bewegung des Protestes gegen die vergegenständlichte Gesellschaft, und im 20. Jahrhundert, das mit dem 1. August 1914 anfängt, wird der Existentialismus der Ausdruck von dem, was ist.66
Dass Tillich diesen Überblick schon „im Gepäck“ hat, lässt auf seine Auseinandersetzung mit dem existentialistischen Denken bereits in seiner deutschen Zeit schließen.67 In den 1930er Jahren, in denen Tillich seine ersten Vorlesungen hält, sind die USA noch kaum vertraut mit der Existenzphilosophie, die ja zunächst eine europäische Strömung ist. Das Wissen über den Existentialismus reduziert sich Tillich zufolge auf den Namen Jean-Paul Sartre.68 Grund für diese Situation in den 1930er Jahren sind vor allem auch fehlende Übersetzungen der entsprechenden Werke, worauf Tillich und May gleichermaßen hinweisen.69 Anders als die beiden Denker versucht George Cotkin in seiner Schrift Existential America, schon frühere Spuren existenzphilosophischen Denkens in den USA aufzuzeigen.70 Spätestens ab den 1950er Jahren zeigte sich aber eine generelle Veränderung. Einführungen in die Schriften der Existenzphilosophen waren nun keine Seltenheit mehr: 1958 veröffentlicht William Barrett Irrational Man. A Study in Existential Philosophy und 1964 bringt Maurice Friedman eine kritische Text-Sammlung mit dem Titel The Worlds of Existentialism heraus.71 || 65 Vgl. GW XI 96. 66 EW XVI 180. Siehe auch SCHÜSSLER, Einleitung, 14–17. 67 Darauf verweist auch WENZ, Subjekt und Sein, 53f. 68 Vgl. EW XVI 2; EW XVI 127f. 69 Vgl. GW XII 327: Tillich würdigt hier die Übersetzungen der Werke Kierkegaards ins Englische, wodurch rund 100 Jahre nach Entstehung der Schriften des dänischen Denkers, der ja als einer der direkten Vorläufer und auch als einer der Hauptvertreter des Existentialismus gilt, diese auch der englischen Leserschaft zugänglich gemacht worden sind. Siehe auch GW IV 145. 70 COTKIN, Existential America, Baltimore/London 2003. 71 FRIEDMAN (Hg.), The Worlds of Existentialism. Friedman ordnet zunächst verschiedene Philosophen von Heraklit bis Nietzsche als Vorläufer des existentialistischen Denkens ein.
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Cotkin bringt die Entwicklung wie folgt auf den Punkt: „Es gab kaum einen College-Studenten in den 1960er ohne eine mit Eselsohren verbeulte Ausgabe von Walter Kaufmanns Text-Sammlung Existentialism: From Dostoevsky to Sartre (1956).“72 In diese Zeit fällt auch der „existentialistische Protest“73 der Psychotherapeuten sowie die Ausdifferenzierung zahlreicher, am existenzphilosophischen Denken ausgerichteter psychotherapeutischer Schulen. Einen Anknüpfungspunkt für existenzphilosophisches Gedankengut in den USA sieht Tillich in der Tiefenpsychologie, die gewissermaßen als Wegbereiterin für die Aufnahme existenzphilosophischer Aspekte in das US-amerikanische Denken fungieren konnte,74 schien diese doch dem „amerikanischen empirischen Denken“ vertrauter und glaubwürdiger gewesen zu sein als die Denkweise der Theologie oder Philosophie.75 Wiederholt weist Tillich auf die enge Verzahnung sowie die „radikale und tiefgreifende“ wechselseitige Beeinflussung76 von existenzphilosophischem Denken und Tiefenpsychologie hin. Beispiele hierfür bieten vor allem auch die Werke existentialistischer Schriftsteller wie etwa Dostojewskis, die zahlreiches tiefenpsychologisches Material enthalten,77 ebenso wie die moderne Kunst.78 Die Aufdeckung der Situation des Menschen in der industriellen Gesellschaft versteht er als gemeinsames Verdienst von Psychoanalyse und „existentialistischer Analyse“79. In der Auseinandersetzung der Tiefenpsychologie mit der „Erfahrung der Bedeutungslosigkeit, [den] anhaltenden Erfahrungen der Einsamkeit, dem verbreiteten Gefühl der Leere, die beim Menschen des 20. Jahrhunderts in hohem Maße eine Flucht in Neurose und Psychose bewirkt“80, fördert diese Tillich zufolge bedeutende Erkenntnisse über die Selbstentfrem-
|| Anschließend präsentiert er Textauszüge zahlreicher existenzphilosophischer Denker, unter denen er auch Paul Tillich als Vertreter eines religiösen Existentialismus einführt, sowie die existenzphilosophisch geprägten Psychotherapeuten, zu denen Friedman auch Rollo May zählt. 72 Ebd., 1. 73 GW XI 101. 74 Vgl. GW VIII 25. 75 Vgl. EW XVI 222. Siehe auch GW IV 134: „Als zweites möchte ich die Wiederentdeckung des Unbewußten nennen, für die teils die Lebensphilosophen verantwortlich sind […], vor allem aber die Tiefenpsychologie, die infolge ihrer praktischen Anwendbarkeit in Amerika stärksten Einfluß ausübt.“ 76 TILLICH, Psychoanalysis, Existentialism, and Theology, 132. 77 Vgl. TILLICH, The Theological Significance of Existentialism and Psychoanalysis, 83. 78 Vgl. TILLICH, Psychoanalysis, Existentialism, and Theology, 132. 79 EW XVI 221. Siehe auch GW VIII 25. 80 TILLICH, Psychoanalysis, Existentialism, and Theology, 134.
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dung des Menschen seiner Zeit zutage.81 Ähnlich wie May sieht Tillich eine Notwendigkeit in der Zusammenarbeit von Philosophie und Psychologie besonders auch mit Blick auf das therapeutische Geschehen. Die Existenzphilosophie erscheint ihm auch hier als die für die Tiefenpsychologie anschlussfähigste Strömung.82 Doch ist sich Tillich neben den Gemeinsamkeiten auch der Unterschiede von Existentialismus und Tiefenpsychologie bewusst, die er an dem unterschiedlichen Gegenstand der Betrachtung festmacht: Während der Existentialismus als philosophische Strömung den Menschen im Allgemeinen in den Blick nimmt, fokussiert sich die Tiefenpsychologie als psychologische Strömung auf jene Menschen, die aufgrund einer psychosomatischen Störung ihrer gegenwärtigen Situation entweder in die Neurose oder die Psychose zu entfliehen suchen.83 Trotz des Gewinns, den die Verbindung beider Strömungen verspricht, indem der Existentialismus viele „Charakteristika des menschlichen Dilemmas [herausarbeitet], die der Psychotherapie eine philosophische Matrix bieten können“, sieht Tillich auch die Gefahr einer möglichen Verkürzung auf den Begriff der Existenz. Diese muss ihm zufolge immer auch in einen „starken essentialistischen Rahmen“84 eingebettet sein. Doch weichen nach Tillich sowohl die Existenzphilosophie als auch die Tiefenpsychologie der Frage nach den „essentialistischen Strukturen“85 aus. Beiden fehlt ihm zufolge eine Differenzierung zwischen der essentiellen Natur des Menschen und seiner existentiellen Entfremdung.86 Tillich selbst misst der Unterscheidung von Essenz und Existenz seit der anthropologischen Weiterentwicklung seines Denkens eine entscheidende Bedeutung bei,87 was auch die wiederholte Behandlung der Thematik in
|| 81 Vgl. EW XVI 222: „Man kann fundamental sagen, die Tiefenpsychologie hat in einer besonders deutlichen und scharfen Form die Selbstentfremdung des Menschen entdeckt. Die Arbeit an Neurose und Psychose, die Arbeit an Geisteskrankheiten hat bewirkt, dass der Zwiespalt im Menschen, die Selbstentfremdung des Menschen, von einer neuen Seite gesehen worden ist. Sie ist gesehen worden, wie wir ausgeführt haben, mit der ganzen existentialistischen Bewegung, sowohl wenn das Existentialistische ein Element ist oder wenn es eine Revolte ist oder wenn es Spiegel ist.“ 82 Vgl. TILLICH, Psychoanalysis, Existentialism, and Theology, 132. 83 Vgl. ebd., 134. 84 TILLICH, Existentialism and Psychotherapy, 164. 85 GW V 224. 86 Vgl. TILLICH, Psychoanalysis, Existentialism, and Theology, 135. Siehe auch DERS., Existentialism, Psychotherapy, and the Nature of Man, 18. 87 Vgl. das Vorwort von Danz zu TILLICH, Der Mut zum Sein, 9f.
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verschiedenen seiner Schriften deutlich macht.88 Nach Tillich gibt es „keine existentialistische Beschreibung der negativen Aspekte des menschlichen Dilemmas ohne ein zugrundeliegendes Bild von dem, was der Mensch wesentlich ist und deshalb auch sein soll“89.
3 Tillichs „anthropologisch gewendete“ Existentialontologie als Anknüpfungspunkt für die existentielle Psychotherapie Für den Fortgang der Arbeit ist an dieser Stelle eine zusammenfassende Darstellung der Existentialontologie Tillichs notwendig. Zum einen, weil er seinen eigenständigen Ontologieentwurf in seiner Spätphase entwickelt hat, in der er auch mit Rollo May in einen Austausch tritt. Zum anderen können dadurch grundlegende Begriffe zu Beginn dieser Arbeit bereits aufgezeigt und in ihren Zusammenhang eingeordnet werden. Dies erscheint auch insofern erforderlich, als die im Hauptteil dieser Arbeit aufzuzeigenden Interdependenzen zwischen Paul Tillich und Rollo May erkennen lassen, dass May sich Tillichs Existentialontologie angeeignet hat – wenngleich nicht immer mit der notwendigen Präzision. Eine recht knappe Darlegung der Existentialontologie findet sich im ersten Band von Tillichs Systematischer Theologie90; ausführlicher wird diese in seiner im Sommersemester 1951 an der Freien Universität Berlin gehaltenen Vorlesungen zur Ontologie91 entfaltet. Den Zugang zur Ontologie bildet für Tillich der „Mensch als Wesen, in dem alle Seinsschichten geeint und zugänglich sind.“92 „Der Mensch“, schreibt Tillich, „nimmt in der Ontologie eine überragende Stellung ein, nicht als ein wichtiger Gegenstand neben anderen Gegenständen, sondern als dasjenige Seiende, das die ontologische Frage stellt, und in dessen Selbstgewahrwerden die onto-
|| 88 Vgl. beispielsweise MW I 353–374; ST I 236-238; ST II 25–84; TILLICH, The Theological Significance of Existentialism and Psychoanalysis; DERS., Psychoanalysis, Existentialism, and Theology; DERS., Existentialism and Psychotherapy; DERS., Existentialism, Psychotherapy, and the Nature of Man. 89 TILLICH, Existentialism, Psychotherapy, and the Nature of Man, 12: “There is no existentialist description of the negativities of the human predicament without an underlying image of what man essentially is and therefore ought to be.” 90 Vgl. ST I 193–238. 91 Vgl. EW XVI 1–168. 92 ST I 199.
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logische Antwort gefunden werden kann.“93 Dieser anthropologische Ansatz ähnelt demjenigen Heideggers, wie ihn dieser in Sein und Zeit entfaltet.94 Tillich stellt die Nähe zu Heidegger an diesem Punkt selbst auch heraus und fasst die Kernaussagen aus dessen Schrift folgendermaßen zusammen: „Er [sc. Heidegger] nennt das ‚Dasein‘ den Ort, an dem die Seinsstruktur offenbar wird. Aber was Dasein ist, erfährt der Mensch in sich selbst. Der Mensch kann sich selbst die ontologische Frage beantworten, weil er direkt und unmittelbar die Struktur des Seins und seine Elemente erfährt.“95 Zu Recht lässt sich Tillichs Existentialontologie folglich auch als „anthropologisch gewendete Ontologie“96 bezeichnen. Diese Herangehensweise macht das genuin philosophische Denkkonzept anschlussfähig für philosophisch motivierte psychotherapeutische Ansätze, wie sie Rollo May und andere Vertreter und Vertreterinnen einer existentiellen Psychotherapie entwickelt haben.
3.1 Die ontologische Grundstruktur: Die Korrelation von Selbst und Welt Mit dem Entwurf einer Ontologie stellt sich Tillich in die lange Tradition der Versuche, Grundsätzliches über das Sein auszusagen.97 Weil hier jeder Definitionsversuch notwendig scheitern muss,98 versucht Tillich in Form einer Analyse, die „grundlegende Struktur der Wirklichkeit“ zu erhellen, die jeder Erfahrung zugrunde liegt.99 Ausgangspunkt seiner Existentialontologie bildet die Erfahrung, dass Selbst und Welt in einer „komplexen dialektischen Beziehung“100 zueinander stehen. „Ein Selbst zu sein“ bedeutet nach Tillich, „von allem anderen getrennt sein,
|| 93 Ebd. 94 Vgl. HEIDEGGER, Sein und Zeit, 2–15. Siehe auch MURMANN, Freiheit und Entfremdung, 129, die auf die Nähe der Ansätze hinweist. 95 ST I 199f. 96 RÖBEL, Mut und Partizipation, 79. 97 Vgl. JASPERS, Einführung in die Philosophie, 24. Auf Tillichs Argumentation hinsichtlich seiner Bevorzugung des Begriffs Ontologie statt Metaphysik soll hier nur hingewiesen werden. Vgl. beispielsweise EW XVI 3–10. 98 Vgl. GW IX 207; GW XI 165. 99 Vgl. EW XVI 4. Siehe auch ST I 28: „Die Ontologie ist kein spekulativer oder phantastischer Versuch, eine Welt hinter der Welt aufzubauen; sie ist die Analyse jener Strukturen des Seins, die wir in jeder Begegnung mit der Wirklichkeit vorfinden.“ 100 ST I 200.
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alles andere sich selbst gegenüber haben, es sehen können und auf es hin handeln […] können“ und gleichzeitig gewahr werden, dass das Selbst „zu dem gehört, auf das es blickt“.101 Erst in dieser Beziehung zur Welt, der es gegenübersteht und von der es zugleich ein Teil ist, kann das Selbst auf sich selbst blicken und somit seiner selbst bewusst werden.102 Nach Tillich gibt es folglich kein Selbstbewusstsein ohne Weltbewusstsein – und umgekehrt: „Das Selbst ohne Welt ist leer, die Welt ohne Selbst ist tot.“103 Selbst und Welt stehen also in einem Verhältnis der Korrelation, d.h. sie stehen in einer logischen Abhängigkeit, die zur Folge hat, dass der eine Begriff nicht ohne den polaren Gegenbegriff gedacht werden kann.104 Die Korrelation von Selbst und Welt bezeichnet Tillich als die „ontologische Grundstruktur des Seins“105. Erkenntnistheoretisch entspricht der Grundstruktur die „Subjekt-Objekt-Struktur der Vernunft“106, die sich aus der Voraussetzung eines fragenden Subjekts und eines Objekts, nach dem gefragt wird, ergibt.107 Dieser Subjekt-Objekt-Struktur liegt die Selbst-WeltKorrelation zugrunde.108 Mit dem Aufweis der Korrelation von Selbst und Welt reagiert Tillich auf Theorien in der Geschichte der Philosophie, die versucht haben, von einer der beiden Seiten auszugehen, wie es an der Philosophie Fichtes einerseits und an derjenigen Hobbesʼ andererseits exemplarisch deutlich wird.109 Während Fichte ausgehend vom Selbst versucht hat, aus diesem die Welt abzuleiten, wirft Tillich dem „objektiven Realismus“ Hobbesʼ vor, das Selbst aus der Welt ableiten zu wollen.110 Beides musste Tillich zufolge notwendig scheitern: „Es ist ebenso unmöglich, das Objekt aus dem Subjekt abzuleiten,
|| 101 Ebd., 201. Die Formulierung „ein Selbst zu sein“ entspricht der englischen Ausgabe der Systematic Theology. (Systematic Theology I, 170). In dieser Formulierung ist die Aussageabsicht eindeutiger als in der deutschen Übersetzung „Selbst-Sein“, wie sie an angegebener Stelle zu finden ist. 102 Vgl. ebd., 202. 103 Ebd. 104 Vgl. EW XVI 25. 105 Ebd., 20. 106 ST I 202. 107 Vgl. ST I 195; EW XVI 20. 108 Vgl. ST I 202. 109 Vgl. EW XVI 35; ST I 202; EW XVI 25: „Wenn wir uns fragen: Wie können wir erreichen, dass eine Analyse des Seins als Seins [sic!] weder bei den Dingen noch bei dem sie anschauenden Subjekt beginnt, sondern bei etwas, das tiefer liegt als die beiden, dann glaube ich, dass seine fundamentale Korrelation dasjenige ist, auf das wir blicken müssen.“ 110 ST I 202. Siehe auch EW XVI 23; 35.
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wie es unmöglich ist, das Subjekt aus dem Objekt abzuleiten.“111 Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt ist nach Tillich die der Polarität.112 Ulrike Murmann sieht in Tillichs Fokussierung auf den Begriff Selbst den Unterschied zwischen seiner Existentialontologie und dem Ansatz Heideggers, der ja gerade diesen Begriff zu überwinden versuchte.113 Tillich dient der Begriff des Selbst dazu, die erkenntnistheoretische Verkürzung, die der Begriff des Ichs erfahren hat, zu umgehen.114 Indem Selbst „sowohl die unterbewußte als auch die unbewußte Basis des seiner selbst bewußten Ichs als auch das Selbstbewußtsein“ enthält, kann Tillich allen Lebewesen in abgestufter Weise Selbstheit und Selbstzentriertheit zugestehen; im analogen Sinne trifft das ihm zufolge selbst auf „alle individuellen Gestalten, sogar im anorganischen Bereich“ – beispielsweise auf Atome – zu.115 Daraus ergibt sich, dass er verschiedene Grade der Selbstheit annimmt. In Bezug auf den Menschen, dem ihm zufolge der höchste Grad der Selbstheit116 zukommt, weil er das „voll entwickelte und völlig zentrierte Selbst“117 ist, kann deshalb von einem Ich-Selbst gesprochen werden, das um sich selbst weiß, das Selbstbewusstsein hat.118 Die für das Selbst konstitutive Selbstbezüglichkeit ist nicht als ein selbstreflexiver Akt zu verstehen, sondern das Selbst erfährt sich als ein solches nur in Bezug auf anderes.119 Hierin liegt zugleich der Unterschied zwischen dem Menschen und jedem anderen Selbst: Während jedes Selbst sich in seiner Umgebung erfährt, erfährt sich das voll entwickelte Selbst im Gegenüber zur Welt – genauer gesagt, erfährt es sich nur im Gegenüber der Welt.120 In diesem Zusammenhang gilt es, auf eine terminologische Schwierigkeit hinzuweisen: Was Tillich hier Umgebung nennt, entspricht dem, was Max Scheler mit dem Begriff der Umwelt bezeichnet. Ähnlich wie Scheler geht es auch Tillich nicht um das, was das Selbst in seiner näheren Umgebung umgibt, sondern um solche Dinge, mit denen es in Beziehung tritt.121 || 111 ST I 205. 112 Vgl. ebd. Siehe auch GW IX 178. 113 Vgl. MURMANN, Freiheit und Entfremdung, 129. 114 Vgl. EW XVI 26. 115 ST I 200. 116 Vgl. EW XVI 26. 117 ST I 201. 118 Vgl. EW XVI 26. Siehe auch GW IX 211: „Wir kennen nur ein völlig zentriertes Wesen, dem wir nicht nur Bewußtsein, sondern auch Selbstbewußtsein zuschreiben, nämlich dem Menschen.“ Siehe auch MURMANN, Freiheit und Entfremdung, 129. 119 Vgl. GW IX, 146. Siehe DANZ, Religion als Freiheitsbewußtsein, 29. 120 Vgl. MURMANN, Freiheit und Entfremdung, 178. 121 Vgl. ST I 201. Ein unklares Verständnis dessen, was mit Umwelt gemeint ist, unterstellt Tillich dem Behaviorismus und sieht darin dessen Schwäche. Fälschlicherweise versteht der
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Der Mensch als das Wesen, das nicht nur mit den Dingen in seiner Umwelt in Beziehung tritt, sondern sich alles zum Thema machen kann, hat nicht nur Umwelt, sondern Welt; er ist mit Scheler gesprochen „weltoffen“.122 „Menschsein“, so schreibt Tillich, „heißt ‚Welt-Haben‘“.123 Dem Moment des Welt-Habens, in dem sich der Mensch als der Welt gegenüberstehend erfährt – die er aufgrund seiner Sprachfähigkeit transzendieren kann – steht das Moment des Zur-WeltGehörens, an ihr zu partizipieren und ein Teil von ihr zu sein, gegenüber.124 Unter dem Begriff Welt, der eine Vielzahl an Bedeutungen mit sich bringt, versteht Tillich ein „strukturiertes Ganzes“125, womit er sich an den KosmosBegriff anlehnt, bei dem Ideen wie Harmonie und Ordnung mitschwingen.126 Das Strukturprinzip, das sowohl der „Struktur der Selbstbezogenheit“ des Selbst als auch der Welt als „strukturierte[m] Ganze[m]“ zugrunde liegt, ist die Vernunft: „Die Vernunft macht das Selbst zum Selbst, nämlich zu einer selbstbezogenen Gestalt; und die Vernunft macht die Welt zur Welt, nämlich zu einem strukturierten Ganzen.“127
3.2 Die ontologischen Elemente Von der Grundstruktur des Seins, der Korrelation von Selbst und Welt, leitet Tillich weitere Polaritäten ab: Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal. Diese „polaren Elemente“128 konstituieren die Grundstruktur des Seins.129 Sie beschreiben die Bedingungen jeder möglichen Selbst- und Welterfahrung.130 Das jeweils erste der polaren Elemente (Individualisation, Dynamik, Freiheit) verweist dabei auf die Selbstbezogenheit des Seienden, das zweite (Partizipation, Form, Schicksal) auf dessen Verhältnis
|| Behaviorismus nach Tillich Umgebung als eine fest umrissene und beschreibbare Größe. Im Sinne des Korrelationsgedankens bewirken sich Selbst und Umgebung erst. (Vgl. EW XVI 298f.). 122 SCHELER, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 47. 123 GW IX 145. 124 Vgl. ST I 201f.; GW IX 145. 125 ST I 201. 126 Vgl. ST I 201; EW XVI 30; GW IX 146. Siehe auch GATZEMEIER, Art. Kosmos, 1167–1173. 127 ST I 203. 128 EW XVI 48. 129 Vgl. ST I 195. 130 Vgl. MURMANN, Freiheit und Entfremdung, 130.
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zur Umwelt bzw. Welt.131 Nach Tillich kommen diese drei Polaritäten „immer und überall vor und [können] niemals in irgendeiner Wirklichkeit weggedacht werden“132. 3.2.1 Individualisation und Partizipation Die Polarität von Individualisation und Partizipation leitet sich am unmittelbarsten aus der Grundpolarität ab und steht am Anfang der Reihung der polaren Elemente. Es wäre aber falsch, aus dieser Positionierung auf eine Stufung der ontologischen Elemente zu schließen, die Tillich auch an keiner Stelle erwähnt.133 Die Individualisation des Selbst, das heißt seine Unteilbarkeit (von lat. individuitas) ist darin grundgelegt, dass das Selbst über ein Zentrum in sich selbst verfügt, das nicht geteilt werden kann.134 Wenn Tillich zufolge Individualisation aber den Status eines ontologischen Elements besitzt, folgt daraus, dass Individualisation und damit Selbstzentriertheit in jedem Selbst enthalten sind, wenn auch in gestufter Form.135 Letztlich ist aber alleine der Mensch als das völlig zentrierte Wesen in der Lage, die „vollkommene Form“ der Individualisation zu erreichen, welche nach Tillich das Personsein konstituiert.136 Mit dem polaren Gegenbegriff der Partizipation137 bringt Tillich die Annahme der Grundpolarität zum Ausdruck, dass das Selbst immer in einem korrelativen Verhältnis zur Umwelt bzw. Welt steht. Dieser Gedanke weist eine Ähnlichkeit zum Kerngedanken der Ich-Du-Beziehung Martin Bubers auf. Auch hinsichtlich der Fähigkeit zur Partizipation spricht Tillich beim Menschen von einer vollkommenen Form, die sich in der Fähigkeit zur Gemeinschaft manifestiert. Gemeinschaft ist nur mit Personen, das heißt mit einem anderen „vollständig selbstzentrierten und vollständig individualisierten Selbst“138 möglich. Der Partizipationsbegriff steht nach Tillich nicht nur „in einer besonderen Weise im
|| 131 Vgl. ST I 195. 132 EW XVI 48. Tillich spricht in Bezug auf die genannten Polaritäten von den „drei großen“ Polaritäten. Er nennt darüber hinaus keine weiteren Elementenpaare, beansprucht aber auch nicht, dass damit alle möglichen Elementenpaare umfasst sind. 133 Vgl. DIENSTBECK, Transzendentale Strukturtheorie, 387f. 134 Vgl. EW XVI 50. 135 Vgl. ST I 206; EW XVI 50f. 136 ST I 208. 137 Vgl. EW XVI 3: Partizipation kann mit Teilhabe oder Teilnehmen übersetzt werden, aber Tillich bleibt bei dem lateinischen Begriff, der nach ihm „falsche Bei-Bedeutungen“ ausschließt. 138 ST I 208.
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Zentrum der Ontologie“139, sondern er bietet in Polarität mit dem Begriff der Individualisation auch einen wichtigen Anknüpfungspunkt für die Tiefenpsychologie. So hat beispielsweise May auf die Gefahren des Kollektivismus hingewiesen, die in einer einseitigen Auflösung des Verhältnisses von Individualisation und Partizipation zugunsten der Partizipation liegen, mit der Konsequenz der Unterdrückung der individuellen Vitalität. Die umgekehrte Tendenz der Verabsolutierung des Elements der Individualisation gegenüber dem Element der Partizipation führt nach May zu einem Gefühl der Isolation.140 Auch Tillich weist auf die Gefahr des Verlusts des Gleichgewichts zwischen Individualisation und Partizipation hin: Individualisation ohne Partizipation kann zu Einsamkeit führen; Partizipation ohne Individualisation zu Kollektivismus.141 Während Letzteres die vorherrschende Gefahr in der Zeit zwischen den Weltkriegen und auch danach war, ist Ersteres eine Tendenz der gegenwärtigen Zeit. Beide Tendenzen treten jedoch nie vollständig unabhängig voneinander auf, sondern überschneiden und bedingen sich gegenseitig. Marc Röbel macht völlig zurecht auf die „gesellschaftliche und politische Dimension in Tillichs Existenzdenken“142 aufmerksam. Neben der Fokussierung auf die individuelle Lebensgestaltung, die der modernen Existenzphilosophie zugeschrieben wird, sieht Röbel in dem existenzphilosophischen Denken Tillichs eine Weitung, die die politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten seiner Zeit mit integrieren möchte.143 3.2.2 Dynamik und Form Als zweites Polaritätenpaar führt Tillich die Polarität von Dynamik und Form an. In der Konstituierung des Seins des Seienden nimmt die Form eine entscheidende Rolle ein:144 Sein bedeutet „etwas sein“, also eine bestimmte Form ha-
|| 139 EW XVI 5. Die zentrale Bedeutung des Partizipationstheorems in Tillichs existenzialontologischem Entwurf und darüber hinaus als zeitdiagnostisches Moment führt Marc Röbel in folgendem Beitrag aus: RÖBEL, Mut und Partizipation, 69–107. 140 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 177–203. Auf diesen letzten Aspekt komme ich im Kapitel zur Angst zurück. 141 Vgl. ST I 233: „[…] Selbstbezogenheit schafft die Drohung einer Einsamkeit, in der Welt und Gemeinschaft verloren werden. Andererseits schafft das In-der-Welt-sein und die Partizipation an der Welt die Drohung einer vollkommenen Kollektivierung, eines Verlustes der Individualität und Subjektivität, wobei das Selbst seine Selbstbezogenheit verliert und zu einem bloßen Teil eines umfassenden Ganzen umgeformt wird.“ 142 RÖBEL, Mut und Partizipation, 74f. 143 Vgl. ebd. 144 Vgl. DIENSTBECK, Transzendentale Strukturtheorie, 389.
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ben.145 Verliert etwas seine Form, verliert es auch sein Sein.146 Damit schließt sich Tillich Denkern an, die den Form-Begriff gegenüber der erkenntnistheoretischen Deutung Kants wieder in den ursprünglich metaphysischen bzw. ontologischen Kontext einordnen.147 Er folgt Goethe und der Romantik, wenn er Form und Inhalt zusammengedacht wissen möchte: Die Form ist Inhalt einer Entität, „ist seine Essenz, sein Wesen, ist das, was ihm die Macht des Seins gibt“.148 Am Beispiel des Baumes verdeutlicht er dies so: „Die Form des Baumes ist das, was ihn zum Baum macht.“149 Mit dem polaren Gegenbegriff der Dynamik sucht Tillich dasjenige Moment auszudrücken, das „in jeder Form gegenwärtig ist als das Geformte, was also selber zunächst keine Form hat“150. Es ist das, was in der griechischen Philosophie als me on bezeichnet wurde: Das, was noch nicht ist, aber sein kann, was „die Potentialität zu sein“ 151 hat. Es ist dynamisch offen, indem es „die Möglichkeit aller Formen in sich trägt“,152 ohne schon Form zu sein. Während die Polarität von Dynamik und Form in allen Lebewesen und analog auch im Anorganischen zu finden ist, unterscheidet Tillich auch bei dieser Polarität – ähnlich der graduellen Unterscheidung in Bezug auf die Polarität von Individualisation und Partizipation – den Grad der Ausformung beim Menschen, den er als Vitalität (Dynamik) und Intentionalität (Form) bezeichnet. Vitalität als „das schöpferische Drängen der lebendigen Substanz in allem, was lebt, zu neuen Formen“153 ist nur in Verbindung mit Intentionalität zu verstehen, mit einer „Gerichtetheit auf einen sinnvollen Gehalt, […] auf etwas, das der Sinnsphäre angehört“154. Damit wird deutlich, dass das schöpferische Streben des Menschen, obwohl es richtungsoffen und durch „keine a priori begrenzende Struktur festgelegt“155 ist, nicht richtungslos ist.156
|| 145 Vgl. ST I 210; EW XVI 58. 146 Vgl. ebd. 147 Vgl. SCHWINGER, Art. Form und Materie, 1027. 148 EW XVI 58 Anm. 3. Siehe auch SCHWINGER, Art. Form und Inhalt, 975f. 149 ST I 210. 150 EW XVI 61. 151 Ebd. Im Gegensatz zum ouk on, das den Charakter des „Nichtseins“ trägt und damit keinerlei Seinspotentialität beinhaltet, zeichnet sich das me on als „Nochnichtsein“ aus. (Vgl. ebd.). Siehe ausführlicher S. 78 in dieser Arbeit. 152 EW XVI 61. 153 ST I 212. 154 EW XVI 65. 155 ST I 212. 156 Vgl. ebd., 213.
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3.2.3 Freiheit und Schicksal Die Polarität von Freiheit und Schicksal schließt die Reihung der polaren Elemente ab, kommen doch nach Tillich hierin die Elemente schließlich zu „ihrer Erfüllung“ und an „ihren Wendepunkt“157, weil hier „etwas Neues sich erheben kann“158: „Freiheit kann von da aus definiert werden als die Möglichkeit eines Wesens, aus seinem Wesen überzugehen in seine Existenz.“159 Hier klingt schon die Orientierung am Freiheitsbegriff Kierkegaards an, was an späterer Stelle näher betrachtet werden soll. Die Polarität von Freiheit und Schicksal findet sich nämlich auch bei May und wird deshalb im zweiten Teil der Arbeit eigens thematisiert werden. Der schillernde Charakter des Freiheitsbegriffs verlangt nach Tillich zunächst eine Klärung und Definition. Sowohl den Gegenbegriff der Notwendigkeit als polares Element zur Freiheit als auch die Engführung von Freiheit auf die Willensfreiheit weist er zurück, drückt nach ihm doch beides nicht adäquat das aus, was Freiheit ihrem eigentlichen Wesen nach meint:160 Freiheit konstituiert nämlich den Menschen als Menschen.161 Hinsichtlich dieses Gedankens lässt sich in Tillichs Schriften eine Akzentverschiebung ausmachen: Während er in der Systematischen Theologie den Akzent noch darauf legt, dass der Mensch das Wesen ist, das Freiheit hat,162 verschiebt sich seine Akzentsetzung in der Ontologievorlesung dahin, dass er Freiheit in sein essentialistisches Verständnis des Menschen aufnimmt. Er schreibt: Der Mensch ist Mensch, weil er Freiheit ist. Das ist besser, als zu sagen: weil er Freiheit hat. Man kann das natürlich auch sagen, muss sich dann aber klar sein, dass, wenn man ihn in seinem innersten Wesen definieren will, man sagen muss, dass er Freiheit ist, aber mit dem Zusatz: endliche Freiheit.163
Als polares Moment steht der Freiheit das Schicksal gegenüber. Was er mit Schicksal meint, macht Tillich am Moment der Entscheidung deutlich, in dem – neben den Momenten der Erwägung und der Verantwortung – Freiheit erfahrbar wird.164 Im Moment der Entscheidung ist es das Schicksal, das die Entscheidung zu der Entscheidung eines Individuums macht, stellt es doch die Totalität || 157 Ebd., 214. 158 EW XVI 72. 159 Ebd. 160 Vgl. ebd., 72–74; ST I 214–216. 161 Vgl. EW XVI 72. 162 Vgl. ST I 214. 163 EW XVI 72. 164 Vgl. ST I 216.
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dessen dar, was dessen jeweilig einzigartiges Sein begründet.165 Schicksal ist in diesem Sinne die „Konkretheit unseres Seins“166; es sind die biologischen, psychologischen und soziologischen Bedingungen, und damit keine fremde Macht, wie der Begriff zuweilen verstanden wird.167 Wie die vorhergehenden Polaritäten ist auch die Polarität von Freiheit und Schicksal als ontologische Polarität konstitutiv für alles, was am Sein partizipiert. Dennoch ist es für Tillich nicht möglich, Freiheit, wie sie sich in den Momenten des Erwägens, Entscheidens und der Verantwortung realisiert, auf nichtmenschliche Entitäten zu übertragen. Um diesem Umstand gerecht zu werden, schreibt Tillich der nichtmenschlichen Natur in Bezug auf die dritte Polarität eine Vorstufe zu, indem er Freiheit hier als Spontaneität und Schicksal als Gesetz versteht.168 Damit fasst er das begrifflich eindeutiger, was er in der Systematischen Theologie als ein analoges Freiheitsverständnis mit Blick auf die nichtmenschliche Natur bezeichnet.169
3.3 Endlichkeit als „grundlegender Charakter menschlicher Existenz“ Ausgehend von dem Gedanken der Freiheit des Menschen als die Möglichkeit, seinem Wesen zu widersprechen und zur Existenz überzugehen, leitet Tillich über in eine dritte Schicht seiner Existentialontologie: die Analyse der Endlichkeit.170 In der Möglichkeit des Menschen, zur Existenz zu kommen, sieht er die Unterscheidung von Essenz (Wesen) und Existenz grundgelegt.171 Diese Unterscheidung, so Tillichs Beobachtung, ist ein philosophiegeschichtlich immer wieder begegnendes Moment.172 Endlichkeit qualifiziert Tillich als „Fundamentalbegriff der Existenz“173. In seiner Analyse des Begriffs konzentriert er sich auf
|| 165 Vgl. ebd., 217. Siehe auch EW XVI 78: „Es ist nicht das erkenntnistheoretische Selbst das die Entscheidung trifft, sondern es ist das ganze Sein, das körperliche, das psychische und das geistige.“ 166 ST I 217. 167 Vgl. KRANZ, Art. Schicksal, 1275. Dieser Artikel geht zwar auch auf die Verwendung des Begriffs bei Tillich ein, bezieht sich aber nur auf dessen Antrittsvorlesung Philosophie und Schicksal in Frankfurt. (Vgl. MW I 310–319). 168 Vgl. EW XVI 78. 169 Vgl. ST I 217f.; ST II 38. 170 EW XVII 199; an dieser Stelle findet sich das Zitat aus der Überschrift. 171 Vgl. EW XVI 88. 172 Vgl. ST I 195. 173 EW XVI 88.
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zwei Aspekte: Das „Erlebnis des Nichtseins“, das ihm zufolge ein „Element in allem Endlichen“ ist, und das „Gewahrwerden der Endlichkeit“.174 Der „Schock des Nichtseins“ ist für Tillich der Ausgangspunkt für die Frage nach dem Sein:175 „Die erste griechische philosophische Frage ist die Frage des Seins aus dem Erlebnis des Nichtseins heraus, des Vorübergehenden, dass etwas ist und nicht mehr ist, getrennt nur durch den Zeitpunkt.“176 Sein ist also immer durch Nichtsein begrenzt. Den recht sperrigen Begriff des Nichtseins sucht Tillich im Verhältnis zum Sein zu verdeutlichen: Nichtsein ist das „‚Noch nicht‘ des Seins“ und das „‚Nicht mehr‘“.177 Er gibt in Bezug auf diese zwei Arten des Nicht-seins dem „Noch nicht“, dem griechischen me on (dem Noch-nichtSeienden, das aber die Potentialität zu sein besitzt) den Vorrang vor dem ouk on (dem schlechterdings Nichtseienden).178 Dieses Nichtsein im Sinne des „Noch nicht“ bestimmt Tillich als Endlichkeit.179 Auch wenn das Erleben des Nichtseins ein Element alles Endlichen ist und somit jedes endliche Seiende daran partizipiert, hat nach Tillich nur der Mensch die Fähigkeit, sich seiner Endlichkeit bewusst zu werden. Um diese Fähigkeit zu verdeutlichen, führt Tillich den Begriff der Unendlichkeit ein: Der Mensch hat die Fähigkeit, sich und seine Situation zu transzendieren und damit von einem „Standpunkt einer potentiellen Unendlichkeit“180 aus den Blick auf sich selbst zu richten.181 In dieser Weise leitet die Unendlichkeit den Geist an, „seine eigenen unbegrenzten Möglichkeiten zu erfahren“182. Die Erfahrung und das Gewahrwerden der eigenen Endlichkeit sind der Grund dafür, warum der Mensch philosophiert, warum er nach letztgültiger Wirklichkeit (ultimate reality) sucht und deshalb die Frage nach dem Sein-Selbst stellt.183 Endlichkeit ist somit dasjenige Moment, das das endliche Seiende „zur Frage nach Gott treibt“184. || 174 Ebd. 175 In seiner Tillich-Biografie berichtet May, dass Tillich seinen Studierenden von seinem eigenen Erleben dieses Schocks berichtete. MAY, Paulus, 18: “He once told us in a class discussion of his great sense of shock when, early in his career, he asked himself this question: ʻWhy is there something? Why not nothing?ʼ It had come to him as he read it in Lessing, and it disturbed him profoundly.” 176 EW XVI 89. 177 ST I 222. 178 Vgl. ST I 220; EW XVI 61. 179 Vgl. ST I 222. 180 Ebd. 181 Vgl. ebd., 222f.; EW XVI 97. 182 ST I 223. 183 Vgl. ebd., 145. 184 ST I 196.
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Das Gewahrwerden der eigenen Endlichkeit, das identisch ist mit dem Gewahrwerden der „Drohung des Nichtseins“, bedeutet nach Tillich Angst.185 Ebenso wie Endlichkeit ist Angst eine „ontologische Qualität“186. Das hat zur Konsequenz, dass Angst „nicht etwas Sekundäres [ist], etwas, das abgeleitet werden kann von Konstellationen der Wirklichkeit, die angsterregend sind. Angst kann nur beschrieben werden, man kann nur hinweisen.“187 Die Angst vor dem Nichtsein kann nach Tillich nicht überwunden werden.188 Aber es kann ihr mit dem Mut zum Sein begegnet werden – jene Form des Mutes, die das Nichtsein auf sich zu nehmen vermag.189 Was er hier im Kontext seiner Ontologie in nuce andeutet, legt er in seiner späteren Schrift The Courage to Be detailliert dar. Diese Thematik ist Gegenstand des Kapitels zur Angst im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit.
|| 185 Vgl. ebd., 224; EW XVI 101. 186 ST I 224. 187 EW XVI 101. 188 Vgl. ebd., 102. 189 Vgl. ebd., 105: „Fassen wir Mut in diesem weiten Sinne, wird Mut unmittelbar der Gegenbegriff zu Endlichkeit und bekommt dieselbe ontologische Bedeutsamkeit, d.h. er wird ein Begriff, der das Sein selber charakterisiert.“
Rollo May und Paul Tillich Thus this book [sc. Paulus] turns out to be about two men, Paulus and me, and how our lives intermingled from almost the month he stepped off the ship as an exile from Germany until his death in 1966 [sic!].1 Rollo May
1 Paul Tillich: Lehrer und Freund Zu einer ersten Begegnung zwischen Paul Tillich und Rollo May kommt es im Januar 1934, wie May in seiner subjektiv gefärbten Tillich-Biografie Paulus. Reminiscences of a Friendship schreibt.2 Rollo May, der im August von seinem dreijährigen Aufenthalt in Europa zurückgekehrt war, nimmt am Union Theological Seminary in New York, an dem Paul Tillich nach seiner Emigration in die USA einen Lehrauftrag annimmt,3 ein Studium der Theologie auf.4 Seine Erfahrungen in Europa ließen ihn zu dem weltoffenen, fragenden jungen Mann werden, der sich in der Begegnung mit einem „alles umfassenden“5 Denker wie Tillich Antworten auf die Fragen erhoffte, die sich ihm unvermeidlich stellten: Eine Woche nach unserer Begegnung auf dem Flur sah ich an der Pinnwand eine Ankündigung einer Reihe von Vorlesungen, gehalten von einem deutschen Wissenschaftler. Sein Name sagte mir nichts. Aber die Titel! ‚The Spiritual Implications of Psychoanalysis‘, ‚The Religious Meaning of Modern Art‘ – und das gleiche mit Karl Marx und dem Kommunismus und anderen zentralen Aspekten unserer damaligen Kultur. Zu dieser Zeit befanden wir uns in einer Reaktion gegen die Bourgeoisie, und diese Vorlesungen klangen genau nach der ehrlichen Durchdringung der Probleme der modernen Gesellschaft, nach der ich suchte.6
|| 1 MAY, Paulus, Preface. 2 Vgl. ebd., 1. Eine spätere zweite, erweiterte Auflage aus dem Jahre 1988 trägt den Titel Paulus. Tillich as Spiritual Teacher. 3 Vgl. SCHÜSSLER, Paul Tillich, 20. 4 Vgl. EWEN, An Introduction, 382. Siehe auch MAY, Paulus, 2. 5 MAY, Paulus, 16. 6 Ebd., 3f: “A week after our encounter in the hall I saw on the bulletin board a notice of a series of lectures to be given by a German scholar. His name meant nothing to me. But the titels! ‘The Spiritual Implications of Psychoanalysis,’ ‘The Religious Meaning of Modern Art’ – and the same with Karl Marx and communism and other crucial aspects of our thencontemporary culture. At that time we were in a reaction against the bourgeoisie, and these https://doi.org/10.1515/9783110780581-004
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Der Inhalt dieser Worte entspricht dem Bild, das die bisherige Auseinandersetzung mit der Person Rollo Mays gezeichnet hat. In einer Zeit des gesellschaftlichen Diskurses, der May zu oberflächlich und zu vereinfachend erscheint, sucht er nach einer tieferen Durchdringung der zeitgenössischen Probleme. Und er scheint die Antworten im Denken seines Lehrers Paul Tillich zu finden: Seine Worte riefen Wahrheiten in mir hervor, die ich seit Jahren vage kannte, mich aber niemals wagte, zu äußern. Beispielsweise, dass der beste Weg, die geistige Stimmung einer Zeit zu verstehen, darin besteht, ihre Kunst zu betrachten, da die Künstler der jeweiligen Zeit die unbewussten Dimensionen der Gesellschaft ausdrücken. Definiert man Religion, wie Tillich es tat, als ‚das, was uns unbedingt angeht‘, könnte ein Werk eines modernen Künstlers, das nihilistisch und bedeutungslos scheint, mehr religiösen Inhalt haben als ein konventionelles Gemälde des Hauptes Jesu von Hofmann. […] Tillich sprach mit einem wechselnden Gesichtsausdruck von Agonie und Freude, der seine Gefühle in jedem Moment ausdrückte. Diese Tatsache ergriff mich mit einem Sinn für die Wirklichkeit, den ich noch nie in der intellektuellen Welt wahrgenommen habe.7
„Universalität, Tiefe und Fürsorge“8 der Vorlesungen und des Denkens Tillichs eröffnen May die Möglichkeit und die Gewissheit, sich über eine starre Analyse des Menschen hinaus alles zum Thema machen und in sein Denken integrieren zu können.9
|| lectures sounded like exactly the honest penetration into the problems of modern society for which I had hungered.” 7 Ebd., 4: “His words called forth truths in myself that I had known vaguely for years but never dared articulate. For example, that the best way to understand the spiritual temper of a historical period is to look at its art, since the artists of the time express the unconscious dimensions of the society. If one defines religion as Tillich did, as ‘ultimate concern,’ a picture by a modern artist which seems nihilistic and meaningless may well be more religious than a conventional painting of the head of Jesus by Hoffman. [sic!] […] Tillich spoke with changing expressions of agony and joy reflecting in his face what was going on in his feeling at the moment. This gripped me with a sense of reality that I had never yet known in the intellectual world.” 8 Ebd., 15. 9 Zur Wirkung der Lehrveranstaltungen Tillichs auch auf andere Studierende vgl. ebd., 7: “His classes overflowed, and he had become what many persons who studied with him in New York or Chicago or Harvard were later to call the most creative teacher they ever had.” Siehe auch EW V 320: „Reinhold Niebuhr und Paul Tillich waren dort [sc. am Union Theological Seminary, NY] tätig. Nach meiner Immatrikulation erfuhr ich [Foster, einer der ersten amerikanischen Tillichschüler], daß viele meiner Kommilitonen wegen Niebuhr und Tillich dort studierten. Im Laufe des Studiums entdeckten wir eine Fakultät von großer Gelehrsamkeit, und für viele von uns war in jenen Jahren Tillich der Geist, ‚mit dem die Theologie steht und fällt‘.“
Der soziokulturelle Kontext in den USA | 83
Es ist kaum verwunderlich, dass May sich dem Denken Tillichs, den er in einem Interview mit Jeffrey Mishlove als „den letzten Philosophen in Amerika“10 bezeichnet, in der intensiven Auseinandersetzung während der dreißigjährigen Freundschaft annähert.11 Obschon die Tatsache, dass der Philosoph und Theologe Paul Tillich ein sehr umfangreiches und originelles Gesamtwerk vorgelegt hat, die Vermutung nahe legen könnte, dass es sich bei der Verbindung der beiden Denker um ein reines Lehrer-Schüler-Verhältnis handelte, würde diese Annahme dem tatsächlichen Verhältnis der beiden Denker nicht gerecht werden. Ebenso könnten die fast schon schwärmerischen Aussagen Mays über Tillich12 und die gleichzeitig fehlenden Erwähnungen Mays in den Werken Tillichs eine solche Annahme verstärken. Wenn auch Tillich May kaum explizit nennt, finden sich dennoch zahlreiche Hinweise auf den entscheidenden Beitrag, den er der Tiefenpsychologie zu verdanken hat, wobei er sich hier sachlich sicherlich nicht selten auf May bezieht. Beiden Denkern ist gemeinsam, dass sie sehr sensibel für die Geschehnisse ihrer Zeit und die Probleme ihrer kulturellen Epoche sind und intensiv über den Menschen und sein Dasein im Sinne seines Seins in der Welt nachdenken. Dabei entwickeln sie entsprechend ihrer jeweiligen Profession je eigene Antwortversuche.
2 Der soziokulturelle Kontext in den USA Ohne ihren gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund, wie Erich Fromm meint, sind die psychologischen Probleme – Ähnliches gilt für philosophische Strömungen – kaum verständlich.13 Dieser These folgend, bedarf es auch in der vorliegenden Arbeit eines zumindest kurzen Einblicks in den zeitgeschichtli|| 10 MAY, The Human Dilemma, 14:50. 11 Tillich wurde May in gewisser Weise zum Vorbild: “One can, and ought, to reflect on experience. This not only gives power to thinking but also communicates being. In my education the most important and engulfing experience was the lectures of Paul Tillich, a German and a scholar of the first order, believed in lecturing. Bu he was also a man committed to life and to truth and a thinker of great logical ability which he did not hesitate to use. Thus every lecture was an expression of Tillich’s being, and it awakened my being. It became my ideal of what a lecture ought to be.” (MAY, Power and Innocence, 76). 12 Gleichzeitig gibt Mays Tillich-Biografie auch differenzierte Einblicke in das Leben von Tillich, wie May es aus psychotherapeutischer Sicht wahrgenommen hat. Christoph Schwöbel bezeichnet Mays Schrift darum auch als „psychoanalytisches Portrait“. (DERS., Tendenzen der Tillich-Forschung, 169). 13 Vgl. FROMM, Die Furcht vor der Freiheit, 111.
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chen und soziokulturellen Hintergrund jener Zeit, in die das Denken Tillichs und Mays fällt. Beide Denker bringen diese Hintergründe auch selbst immer wieder ins Spiel. Der Fokus liegt dabei auf dem amerikanischen Raum. Die politische und gesellschaftliche Situation des beginnenden und mittleren 20. Jahrhunderts ist eine Zeit, die durch Höhen und Tiefen gekennzeichnet ist: Die Neutralitätserklärung durch Präsident Wilson hat einen erst sehr späten Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg zur Folge, aus dem die USA dann jedoch als einzige Nation weltweit gestärkt hervorgehen sollten.14 Es folgen die „Golden Twenties“, eine Zeit der Prosperität verbunden mit der Entwicklung hin zu einer Konsumgesellschaft, „die auf Massenproduktion, Massenverbrauch und Massenkommunikation gegründet war“15. Es ist eine Zeit, die Jürgen Heideking und Christof Mauch als Zeit der „,Vermassung‘ und Anonymisierung“ bezeichnen.16 Was in den 1920er Jahren schon vorgedacht wurde, sollte seine Blütezeit dann nach dem Zweiten Weltkrieg haben: „Massenkonsum und Massenkultur“ brachen hier „auf breiter Front durch“.17 Dazwischen erlebten die USA mit der Weltwirtschaftskrise, ausgelöst durch den Börsenkrach im Jahre 1929, eine Zeit der Krise, die gleichzeitig zu einer Krise „des amerikanischen Selbstverständnisses“ wurde; „massive soziale Konflikte und Umbrüche begleiten die 1930er-Jahre“.18 Erst mit der Wahl Franklin Delano Roosevelts zum Präsidenten der USA im Jahre 1932 sollte sich eine neue Hoffnung breitmachen, besonders
|| 14 Vgl. HEIDEKING/MAUCH, Geschichte der USA, 219; 229. Siehe auch GASSERT, Kapitel A: Geschichte, 67. 15 HEIDEKING/MAUCH, Geschichte der USA, 232. Siehe auch MAY, Psychology and the Human Dilemma, 28. 16 HEIDEKING/MAUCH, Geschichte der USA, 235. 17 GASSERT, Kapitel A: Geschichte, 77. Karl Jaspers schreibt in seiner 1949 publizierten Schrift Vom Ursprung und Ziel der Geschichte von der Masse als einem Charakteristikum der damaligen Lage und stellt die Vieldeutigkeit des Begriffs heraus: „Masse heißt entweder einfach die Menge der Bevölkerung (und ist als solche jederzeit da), oder die augenblickliche Äußerung und das Verhalten von Menschen unter Suggestion in akuten Situationen (und ist als solche ebenso plötzlich da wie wieder verschwunden), oder die Minderwertigkeit der Vielen, des Durchschnitts, deren Dasein durch seinen Massendruck alles bestimmt (und ist als solche die Erscheinung einer geschichtlichen Lage unter bestimmten Bedingungen, keineswegs endgiltig [sic!] minderwertig). […] Masse entsteht, wo Menschen ohne eigentliche Welt, ohne Herkunft und Boden verfügbar und auswechselbar werden. Das ist als Folge der Technik heute in wachsendem Ausmaß geschehen: der eng gewordene Horizont, das Leben auf kurze Sicht und ohne wirksame Erinnerung, der Zwang der sinnfremden Arbeit, das Amüsement in der Zerstreuung der Freizeit, die Nervenerregung als Leben, der Betrug im Schein von Liebe, Treue, Vertrauen […].“ (JASPERS, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 125). 18 GASSERT, Kapitel A: Geschichte, 70f.
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auch für den „,vergessenen kleinen Mann‘“19. Mit seiner bekannten Antrittsrede aus dem Jahre 1933 prägte er den Satz „The only thing we have to fear is fear itself“, und er forderte die amerikanische Gesellschaft dazu auf, aus dem lähmenden Zustand der Depression zu erwachen und vorwärts zu gehen.20 Der neu gewählte Präsident schien ein Gespür für die lähmende Angst jener Zeit gehabt zu haben. Auch in der Jahresbotschaft an den Kongress vom 6. Januar 1941 benennt er als „ideologische Fixpunkte die ‚vier Freiheiten‘: Meinungs- und Redefreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit von Not und Freiheit von Angst“21. Zu einer Bezugnahme auf die Angst hatte Präsident Roosevelt im Jahre 1941 allen Grund, war es doch das Jahr des japanischen Angriffs auf Pearl Harbor sowie der Kriegserklärung Hitlers an die USA. Abermals mussten die USA ihr Neutralitätsgebot, das auch nach dem Ersten Weltkrieg und trotz der Teilnahme an diesem immer noch genereller amerikanischer Konsens war, aussetzen und beteiligten sich ab 1943 am Kriegsgeschehen.22 Der Krieg endete mit dem Abwurf der beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im Jahre 1945. Mit der Entdeckung der Kernspaltung wenige Jahre zuvor und ihrer tatsächlichen Anwendung im Zweiten Weltkrieg war ein neues Zeitalter eingeleitet: das atomare Zeitalter. Rollo May kommt auf diese neue Form der Bedrohung immer wieder zu sprechen.23 Auch gesellschaftlich ist die Lebenszeit Tillichs und Mays von zahlreichen Unruhen und Umwälzungen geprägt: Während in den 1920er Jahren ein moderner Lebensstil mit Tendenz zum Individualismus vorherrschte, bewirken Massenarbeitslosigkeit und weit verbreitete Armut nach dem Börsenkrach eine Rückkehr zu einer „realistischen, gemeinschaftsorientierten Kultur“ – die „Rückkehr zum Gedanken gesellschaftlicher Verantwortung“24 –, um schließlich in den Jahren der Nachkriegszeit zu einer „Kritik des Konformismus“, „aber auch einer neuen Kultur individueller Rebellion […] [zu werden], die die Frage nach den Möglichkeiten persönlicher Selbstverwirklichung in einer Gesellschaft stellt, die von materialistischen Werten beherrscht zu sein scheint“.25 Entscheidend für die vorliegende Arbeit ist die Veränderung des Wirklichkeits- und Selbstverständnisses, das in den 1940er Jahren beginnt. Die Begegnung mit dem europäischen Faschismus in den Jahren des Krieges bewirkt eine „Rückbesin|| 19 HEIDEKING/MAUCH, Geschichte der USA, 252. 20 Vgl. ebd., 254. 21 Ebd., 269. 22 Vgl. GASSERT, Kapitel A: Geschichte, 73. 23 Vgl. MAY, The Courage to Create, 11; DERS., The Meaning of Anxiety, 3. 24 FLUCK, II. Kultur, 770. 25 Ebd., 787.
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nung auf die elementaren Bedrohungen menschlicher Existenz“;26 „grundlegende existenzielle Fragen“ rücken in den Vordergrund.27 Der Mensch der 1940er und 1950er Jahre findet sich in der Kultur der Solidarität, die zu einem Kollektivismus tendierte, nicht mehr wieder, sondern er fühlt sich „vom amerikanischen Leben entfremdet“ und leidet an der Gemeinschaft.28 Das führt zur Frage nach der „Möglichkeit des Menschseins“ im Kontext der Konsumgesellschaft und des Konformismus.29 Das Bild des nur noch ‚außengeleiteten Menschen‘ (other-directed), das David Riesman in The Lonely Crowd im Jahre 1950 zeichnet,30 wird in zahlreichen Werken, die sich mit der amerikanischen Kultur der 1950er Jahre auseinandersetzen, als charakteristisch für eben jene Zeit angeführt.31 Während der Aufbruch in die Moderne in den 1920er Jahren eine Loslösung von allem Gesellschaftlichen sucht, bemüht sich „die Kultur der 1950erJahre um einen Vermittlungsversuch zwischen Individuum und Gesellschaft. Ohne die Herausforderung durch das Individuum bleibt die Gesellschaft konformistisch, ohne die Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft bleibt das Individuum neurotisch und in den eigenen Illusionen gefangen.“32 Diese Entwicklungen thematisiert Tillich in seiner zeitdiagnostischen Schrift The Courage to Be.33 Für die vorliegende Arbeit sind auch die im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert sich verändernden Moralvorstellungen von Interesse: „Verstädterung, Freizeitgewinn und Konsumorientierung bewirkten eine Liberalisierung der Sitten, die immer noch weitgehend von engen puritanistischen Moralvorstellungen geprägt waren.“34 Heideking und Mauch fassen die Veränderungen wie folgt zusammen: In der neuen urbanen Kultur, die jetzt ihre erste Blüte erlebte, spielten Freizeit und Unterhaltung eine viel wichtigere Rolle als vor dem Krieg. Erstmals verfügte eine größere Zahl von Amerikanern über genügend Muße und Geld, um sich regelmäßig Vergnügungen wie den Besuch von Filmen, Theaterstücken, Musicals und Sportveranstaltungen oder sogar einen Urlaub leisten zu können. […] Nicht ganz ohne Grund verdammten konservative
|| 26 Ebd. 27 Ebd., 788. 28 Vgl. ebd., 787ff. 29 Vgl. ebd., 789f. 30 Vgl. RIESMAN, The Lonely Crowd, 34–40. 31 Vgl. dazu FLUCK, II. Kultur, 790; BUDE, Gesellschaft der Angst, 23. Siehe auch MAY, Man’s Search for Himself, 7f. 32 FLUCK, II. Kultur, 791. 33 Vgl. S. 117–122 in dieser Arbeit 34 HEIDEKING/MAUCH, Geschichte der USA, 235.
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Amerikaner das Automobil als ein ‚Bordell auf zwei Rädern‘. Mehr Bedeutung kam aber wohl der Tatsache zu, dass jetzt offener über Sexualität und Geburtenkontrolle gesprochen werden konnte als jemals zuvor und dass es leichter fiel, die öffentlich praktizierte Doppelmoral anzuprangern. Die Folgen waren, wie so oft, ambivalenter Art, denn während die sinkende Geburtenrate den Familien und insbesondere den Müttern zugute kam, löste der starke Anstieg der Scheidungsrate besorgte Fragen nach der Zukunft der Familie und dem Schicksal allein erziehender Mütter aus.35
Auf diese Entwicklungen und die daraus resultierenden Konsequenzen für das Individuum weist der Psychotherapeut May in seinen Texten wiederholt hin. May zufolge wird das 20. Jahrhundert nicht selten als ‚Zeitalter der Psychologieʻ bezeichnet.36 „Kein Wunder“, schreibt er, „dass Menschen, geplagt von der Frage, ob das Leben überhaupt einen Sinn hat, zu Therapeutinnen und Therapeuten strömen. Doch die Therapie selbst ist oft eher ein Ausdruck der Fragmentierung unserer Zeit als ein Unternehmen zu deren Überwindung.“37
|| 35 Ebd. Siehe auch MAY, The Courage to Create, 11. 36 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 7: “Our period is also often called the ʽcentury of psychology.ʼ” 37 MAY, The Discovery of Being, 9.
| Zweiter Teil:Interdependenzen
Angst Es ist wohl eine unserer großen Illusionen, daß wir glauben, Angst vermeiden und ausschalten zu können – sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten.1 Fritz Riemann
1 Die Bedeutung der Angst 1.1 Angst als Grundproblem des Menschen „Seit der Mensch sich reflektierend über sich selbst und die Welt verständigt, ist Angst ein unhintergehbares Thema“2, schreibt Emil Angehrn. Dabei weist die Beschäftigung durch die Zeit hindurch eine Art Wellenbewegung auf, die dem jeweiligen Selbst-Welt-Verständnis zu folgen scheint. In der Zeit der klassischen Antike, die die Welt als Kosmos, d.h. als geordnet verstanden hat, fand eine Angst- bzw. Furcht-Reflexion im Kontext der sittlichen Tugend der Tapferkeit statt, die Aristoteles zufolge einen vernünftigen Umgang mit Furcht ermöglicht.3 Erst mit dem Zusammenbruch der Polis-Struktur durch die Eroberungen Alexanders des Großen und aufgrund der politischen Wirren nach seinem Tode sowie der Ausbreitung des römischen Reiches und der damit einhergehenden Vergrößerung und Unüberschaubarkeit der Welt zeichnete sich eine „Weltangst“ ab, die vor allem auch in der christlichen Religion eine Thematisierung fand.4 So bezeichnet beispielsweise Eric R. Dodds die Zeit der ausgehenden Antike unter Rückgriff auf eine Formulierung Wystan Hugh Audens als ein ‚Zeitalter der Angst‘.5 Der mittelalterliche Kollektivismus und die unhintergehbare Zuordnung innerhalb des Ständesystems schufen eine Welt- und Selbstsicherheit – auch wenn diese mit Blick auf die Freiheit und Entwicklung des Individuums nicht ausschließlich positiv zu deuten war –, die eine Angst lindernde Funktion hatte. Der Zusammenbruch dieses Ordnungssystems am Ende des Mit-
|| 1 RIEMANN, Grundformen der Angst und die Antinomien des Lebens, 7. Siehe auch DOGS/POELCHAU, Gefühle sind keine Krankheit, 85: „Angst, das wird oft vergessen, ist ein sinnvolles Gefühl – und sie gehört zur Grundausstattung des Menschen.“ 2 ANGEHRN, Angst als Grundproblem der Philosophie, 16. 3 Vgl. ARISTOTELES, Nikomachische Ethik, III.6–7, 1115a6–1115b24. Siehe auch BRÜLLMANN, Art. andreia/Tapferkeit, 44f. 4 BÖSCH, Art. Angst, 157. 5 Vgl. DODDS, Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst, 19. https://doi.org/10.1515/9783110780581-005
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telalters bewirkte eine umso heftigere Angst, die ihren Ausdruck etwa in einer stark ausgeprägten Angst vor dem Tod oder dem Glauben an Hexen fand.6 Das neuzeitliche Vertrauen in Fortschritt und Kontrollierbarkeit brachte zumindest mit Blick auf die Welt eine Reduzierung der Angst mit sich;7 im gleichen Atemzug brachte sie aber eine andere, neue Form der Angst hervor, die mit der seit der Renaissance fortschreitenden Individualisierung einhergeht.8 Der Glaube an die Berechenbarkeit und damit Kontrollierbarkeit der Welt bröckelte aber schon mitten in der Neuzeit, wenn etwa Denker wie Blaise Pascal, der als Mathematiker selbst in dem Berechenbarkeitsdenken verwurzelt war, das Herz und damit eine dem Verstand unterschiedene Instanz als Erkenntnismoment anführt.9 Ebenso findet sich ein Zweifel gegenüber der restlos „vernünftigen Erklärbarkeit“ der Welt bei Schelling – eine Entwicklung, die sich mit Kierkegaard im Denken der dann folgenden Existenzphilosophinnen und -philosophen fortsetzte und ausdifferenzierte.10 Der Verlust einer sinnvollen Welt, das Gefühl der Absurdität, das Bewusstwerden der eigenen Endlichkeit und Sterblichkeit riefen die Angst auf den Plan: Das Wesen des Menschen ist nach Heidegger Sein zum Tode und „das Sein zum Tode ist wesenhaft Angst“11. Bemerkenswerterweise war das Phänomen der Angst zunächst kein Thema der Psychologie. Das lässt sich Mays Beobachtung entnehmen, der zufolge „[v]or dem Auftreten Freuds und weiteren Tiefenpsychologen […] das Problem Angst in der Philosophie, besonders im Bereich der Ethik und in der Religion, verortet“12 war. Auf die Tendenz, die Beschäftigung mit der Angst in der Psychologie auszuklammern, weist auch schon Kierkegaard hin,13 ebenso Kurt Goldstein, der sich in diesem Kontext auf Kierkegaard bezieht.14 Kierkegaards Schrift Der Begriff der Angst hatte nach Michael Bösch zur Folge, dass „der psychische Zustand der Angst in den Rang eines philosophischen Terminus erhoben [wurde], der in der existenzialen Phänomenologie des 20. Jh. (M. Heidegger, J. P. Sartre) eine zentrale Bedeutung erlangte“15. Weiter schreibt Bösch: „[D]urch die
|| 6 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 177ff. Siehe auch FROMM, Die Furcht vor der Freiheit, 36– 40. 7 Vgl. HÄFNER, Art. Angst, Furcht, 311. 8 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 177. 9 Vgl. PASCAL, Gedanken, 298/283. 10 Vgl. HÄFNER, Art. Angst, Furcht, 311. 11 HEIDEGGER, Sein und Zeit, § 53, 266. 12 MAY, The Meaning of Anxiety, 20. 13 Vgl. KIERKEGAARD, Der Begriff der Angst, 488. 14 Vgl. GOLDSTEIN, Zum Problem der Angst, 411f. 15 BÖSCH, Art. Angst, 155.
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existenzphilosophische Einbindung in eine Hermeneutik der Freiheit und Weltlichkeit erlangte der Begriff Angst die Funktion einer philosophischen Grundkategorie.“16 Im 20. Jahrhundert lässt sich nach Tillich eine „Wiederentdeckung des Sinnes der Angst“17 beobachten, die er als gemeinsames Verdienst der Existenzphilosophie, Tiefenpsychologie, Neurologie und der Kunst bzw. der „künstlerischen Ausdrucksformen“ bezeichnet.18 Neben Søren Kierkegaard haben vor allem auch Sigmund Freuds umfassende Überlegungen zum Phänomen der Angst zu einer wieder stärkeren Auseinandersetzung mit ihr beigetragen.19
1.2 Die Pionierarbeit von Søren Kierkegaard und Sigmund Freud Auf die Pionierarbeit Freuds und Kierkegaards in Bezug auf das Phänomen der Angst weist auch Rollo May hin. Neben Søren Kierkegaards Werk Der Begriff der Angst (1844) bezeichnet er Sigmund Freuds Hemmung, Symptom und Angst (1926) als das einzige Gesamtwerk über Angst zum Zeitpunkt der Abfassung seiner Dissertationsschrift. Er nimmt beide Werke in ihrer Unterschiedlichkeit wahr: May charakterisiert Freuds Schrift als eine Beschäftigung auf einer eher technisch-wissenschaftlichen Ebene, indem dieser die physikalischen Mechanismen in der Entstehung der Angst darlegt.20 Kierkegaard hingegen beschreibt nach May „genau das, was meine Mitpatienten und ich durchlebten“:21 Freud „hatte Wissen über Angst“, Kierkegaard „kannte Angst“. Deutlich mehr Aussagekraft hat diese Gegenüberstellung im Englischen, wo es heißt: Freud „knew about anxiety“, Kierkegaard „knew anxiety“.22 Kierkegaards Definition von Angst, die May als „Ringen des lebendigen Wesens (living being) mit dem Nichtsein“ umschreibt, drückt genau das aus, was May hinsichtlich „seines Ringens mit dem Tod oder der Aussicht auf ein Dasein als Invalide“ in der Zeit seiner
|| 16 Ebd. 17 ST I 224. 18 EW XVI 104. 19 Vgl. HÄFNER, Art. Angst, Furcht, 321. 20 Vgl. MAY, The Discovery of Being, 14. 21 Ebd. (Im Original mit Hervorhebungen). 22 Ebd., 15. Siehe auch REEVES, The Psychology of Rollo May, 73: “Even though his book, The Meaning of Anxiety, had been concerned with many other writers in many fields and their various theories concerning anxiety, it is clear that the most lasting influences and seminal contributors to the formulation of May’s own theory were the studies by Freud and Kierkegaard.”
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Tuberkuloseerkrankung empfand.23 Auch wenn Tillich wie auch May Freuds Schriften hinsichtlich der Bedeutung unbearbeiteter Konflikte für das Entstehen pathologischer Angst wahrgenommen haben,24 liegt der Fokus im Folgenden auf einer kurzen Darstellung der philosophischen Auseinandersetzung Kierkegaards mit dem Phänomen der Angst. Indem sich Kierkegaards Nachdenken über die Angst in dem Spannungsverhältnis von Psychologie, Theologie und Philosophie bewegt,25 bietet sich sein Denken für den Aufweis der gedanklichen Nähe von May und Tillich geradezu an, entwickeln doch beide ihr AngstVerständnis in Anlehnung an Kierkegaard. Gleichzeitig unterscheiden sie sich in dem, was sie hiervon für ihr eigenes Denken fruchtbar machen. In seiner Dissertationsschrift reduziert May die philosophische Betrachtung der Angst mit Blick auf das 19. Jahrhundert fast ausschließlich auf den dänischen Denker. Diese Fokussierung ist zum einen dem bereits erwähnten persönlichen Gewinn geschuldet, den May aus dem Denken Kierkegaards zieht. Zum anderen bieten die „phänomenologischen und philosophischen Formulierungen der Angst bei Kierkegaard“26 May die Möglichkeit, gemäß seinem eigenen Verständnis der Angst eine wichtige Funktion im Kontext des Selbst-Bewusstseins und der Selbst-Bejahung zuzuschreiben, was auch ein entscheidendes Moment in seinem Verständnis von Psychotherapie ist. Es ist Kierkegaards Auffassung der Angst als „anthropologische Grundbestimmung des Menschen“27, wie es Michael Bongardt formuliert, die ihn für Mays eigenes Verständnis besonders zugänglich macht. Die Verbindung zwischen dem Denken Kierkegaards und Tillichs zeichnet Michael Bongardt in seinem Beitrag Das Nichts, das uns unbedingt angeht. Ein Versuch, der Angst auf die Spur zu kommen nach.28 Der von Bongardt gewählte Titel bringt die von ihm dargelegte Verbindung ins Wort, indem er zwei Schlüsselkonzeptionen der beiden Denker – Kierkegaards ‚Nichts‘ und Tillichs ‚was uns unbedingt angeht‘ – verbindet. Terminologisch greifbarer wird die Parallele zwischen Tillich und Kierkegaard in Tillichs Anthropologievorlesung vom Wintersemester 1934/1935 am Union Theological Seminary. Tillich schreibt hier: „Wenn wir uns selbst nach dem Gegenstand der Angst fragen, könnte die einzi-
|| 23 MAY, The Discovery of Being, 14. 24 Vgl. GW XI 55. Siehe auch REEVES, The Psychology of Rollo May, 73–79. 25 Vgl. auch BONGARDT, Das Nichts, das uns unbedingt angeht, 80. 26 REEVES, The Psychology of Rollo May, 72. Siehe auch MAY, The Meaning of Anxiety, 40. 27 BONGARDT, Das Nichts, das uns unbedingt angeht, 81. 28 Ebd., 80–97. Zur Auseinandersetzung Tillichs mit Kierkegaard siehe auch MURMANN, Freiheit und Entfremdung, 155–162.
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ge Antwort lauten: Es gibt keinen Gegenstand, da ist ‚Nichts‘.“29 Christian Danz stellt mit Blick auf diese Vorlesung fest: „Tillich transformiert [hier] die Geistphilosophie Kierkegaards in eine geschichtlich ausgerichtete Anthropologie.“30 Dass sich Kierkegaards Nachdenken über die Angst in einem Spannungsverhältnis verschiedener Disziplinen bewegt, verdeutlicht dessen Hinweis, bei der anvisierten psychologischen Abhandlung des Begriffs das Problem der Erbsünde mitzudenken.31 Auch wenn die Erbsündenlehre den Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Angst bildet, liegt Kierkegaards Fokus weniger auf dem Aufweis der Kontinuität der Sünde des Menschen seit Adam, sondern auf der Frage der Möglichkeit des Individuums zur Sünde.32 Den Menschen versteht Kierkegaard als Synthese von Seele und Leib, die erst durch ein Drittes, nämlich durch den Geist, vermittelt werden. Im Zustand der Unschuld ist der Geist zwar bereits gegeben, aber nur als träumend.33 Angst, schreibt Kierkegaard, ist „eine Bestimmung des träumenden Geistes“34. Jenem träumenden Zustand der Unschuld spricht Kierkegaard eine Paradoxalität zu, wenn er schreibt, dass es „das tiefe Geheimnis der Unschuld [ist], daß sie zugleich Angst ist“: Angst vor dem Nichts, das dem träumenden Geist bewusst wird, wenn das Individuum beginnt, sich selbst zu entwerfen.35 Thomas Bedorf schreibt zu dieser Paradoxalität: „Die träge und trügerische Ruhe der Selbstgenügsamkeit wird durchbrochen durch das Bewusstwerden der Unerfülltheit der Existenz. Ruhe und Unruhe, Einheit und Nichts bestehen im menschlichen Geist demnach nebeneinander.“36 Kierkegaard verortet das Auftreten der Angst im Moment des Erwa-
|| 29 EW XVII 205–208, bes. 205. 30 DANZ, Angst, endliche Freiheit und der Fall des Menschen bei Schelling, Kierkegaard und Tillich, 12. 31 Vgl. KIERKEGAARD, Der Begriff der Angst, 453. Christian Danz weist darauf hin, dass diese Überlegung jener Schellings folgt, den Kierkegaard in Berlin gehört hat, wobei aber nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob Kierkegaard Schellings Schriften gelesen hat. Vgl. DANZ, Angst, endliche Freiheit und der Fall des Menschen bei Schelling, Kierkegaard und Tillich, 10f. Danz schreibt dazu: „Bereits dort [sc. in der Magisterdissertation von 1792] hatte der junge Schelling im Rückgriff auf Kant die zeitgenössischen exegetischen Debatten, den in Genesis 3 beschriebenen Fall des Menschen als Übergang vom Naturzustand zum Freiheitsbewusstsein gedeutet und damit die überlieferte dogmatische Erbsündenlehre aufgelöst. Im biblischen Mythos vom Fall artikuliert sich das Erwachen der Freiheit im Menschen. Mit ihm ist der Verlust der träumenden Unschuld des Naturzustandes verbunden.“ (11). 32 Vgl. BURKARD, Art. Angst, 25. Siehe auch PIEPER, Søren Kierkegaard, 127f. 33 Vgl. KIERKEGAARD, Der Begriff der Angst, 490. 34 Ebd., 487. 35 Vgl. ebd. 36 BEDORF, Art. Nichts, 186.
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chens des Geistes – also in jenem Moment, in dem der Mensch sich seiner selbst als Individuum bewusst wird, das die Möglichkeit zur Freiheit hat. Angst bewirkt diese Erkenntnis nach Kierkegaard deshalb, weil es sich dabei lediglich um die Möglichkeit zu können handelt, die zunächst nicht inhaltlich gefüllt, damit als Nichts gekennzeichnet ist.37 Hier wird die Unbestimmtheit des Objekts der Angst schon eingeführt, auf der die Differenzierung von Angst und Furcht basiert.38 Der Geistbesitz bildet demnach die Voraussetzung für die Erfahrung der Angst, die nach Kierkegaard nur dem Menschen zukommt, womit diese eine anthropologische Grundkategorie darstellt.39 Eine Definition dessen, was er unter Geist versteht, lässt sich der fünf Jahre später erschienenen Schrift Die Krankheit zum Tode entnehmen. Hier heißt es: „Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das im Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.“40 Anders ausgedrückt: Der Mensch ist das Lebewesen, das fähig, aber auch aufgefordert ist, „zum eigenen Sein Stellung zu beziehen und es durch Akte der Wahl weiter zu bestimmen“41. Diese Überlegung Kierkegaards beinhaltet einen entscheidenden Aspekt, nämlich den Gedanken, dass „das Sein kein substanzielles Sein ist, sondern ein Werden, ein Sich-Bilden, dem eine unendliche Mannigfaltigkeit von Möglichkeiten offensteht, aus denen das Selbst je zu wählen hat“42. Diesen Werdens-Charakter des Selbst macht sich May in seinem Verständnis des Selbst zu eigen. Der Gedanke des Selbst-Verhältnisses bzw. des Sich-zu-sich-selbst-Verhaltens findet sich sowohl bei May als auch bei Paul Tillich. || 37 Vgl. KIERKEGAARD, Der Begriff der Angst, 491. 38 Vgl. ebd., 488: „[…] ich muß daher darauf aufmerksam machen, daß er [sc. der Begriff Angst] gänzlich anders ist als etwa Furcht und ähnliche Begriffe, die sich auf etwas Bestimmtes beziehen; die Angst dagegen ist die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit.“ Siehe hierzu auch BURKARD, Art. Angst, 25 sowie BÖSCH, Art. Angst, 158. 39 Vgl. KIERKEGAARD, Der Begriff der Angst, 488: „Man wird so beim Tier keine Angst finden, eben weil es in seiner Natürlichkeit nicht als Geist bestimmt ist.“ 40 KIERKEGAARD, Die Krankheit zum Tode, 31. 41 THURNHER, Art. Sein, 222. 42 FRISCHMANN, Art. Selbst (Selbstverhältnis), 225. Siehe auch PIEPER, Søren Kierkegaard, 56: „Der Ausdruck Verhältnis meint also etwas Aktivisches, nämlich die Tätigkeit des Sichverhaltens, die sowohl ein Sich-zu-Anderen-Verhalten ist wie ein Sich-zu-sich-selbst-Verhalten. Diese Bestimmung des Menschen als Sich-Verhalten impliziert, daß der Mensch nicht je schon ist, was er ist; sich nicht je schon besitzt als der, der er ist, sondern unterwegs ist zu sich, daß er wesentlich Prozeß, Entwicklung: eben Sich-Verhalten und Resultat dieses Sich-Verhaltens ist.“
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2 Angst bei Rollo May und Paul Tillich Anhand der Beschäftigung beider Denker mit dem Thema Angst lässt sich eine erste Verbindung zwischen Rollo May und Paul Tillich aufzeigen. Mays TillichBiografie lässt sich entnehmen, dass Tillich als Mentor eng in den Entstehungsprozess der Dissertationsschrift Mays über die Bedeutung der Angst eingebunden war: In den mühsamen Jahren, in denen Paulus mich in der Bedeutung der Angst anleitete, dachte er viel über die Art und Weise wie Menschen Angst konfrontieren nach. Zusammen entwickelten wir das Konzept von normaler Angst; dies ließ aber die Frage offen, wie ein Mensch, der seine Angst wahrnimmt, dieser begegnet. Aus dieser Frage heraus entstanden Paulusʼ Terry lectures, die er 1950 an der Universität Yale hielt und die später als The Courage to Be publiziert wurden. […] Aber für mich wird das Buch – die vielleicht signifikanteste Einführung in sein Denken und sicherlich die meist gelesene seiner Schriften – immer ein Aufweis für die Wechselbeziehung, die Dialektik, wenn man so will, zwischen Paulus und mir sein. Von Zeit zu Zeit sagte er, dass The Courage to Be als eine Antwort auf The Meaning of Anxiety verfasst wurde; eine Aussage, die mich mehr ehrt, als ich es auszudrücken vermag.43
Somit stellen die Schriften The Meaning of Anxiety und The Courage to Be eine erste Quelle für die gegenseitige Beeinflussung dar – bei aller Übereinstimmung, aber auch bei aller Differenz. Während Mays Aussage zufolge The Meaning of Anxiety zunächst Einfluss auf Tillichs The Courage to Be hatte, ließ sich May später dann in seiner Schrift The Courage to Create von Tillichs Schrift inspirieren. Darauf weist May hin, aber die Titel beider Schriften machen die Wechselwirkung auch schon offensichtlich.44
|| 43 MAY, Paulus, 22f.: “In the arduous years while Paulus directed me in the meaning of anxiety, he thought a good deal about how people confront anxiety. We had together established the concept of normal anxiety; but this still leaves the question, when a person recognizes his Angst, how does he or she meet it? Out of this questioning came Paulusʼ Terry lectures given at Yale University in 1950, later to be published as The Courage to Be. […] But for me the book – possibly the most significant introduction to his thought and certainly the most widely read of his writings – will always be a token of the interrelationship, dialectic if you will, between Paulus and myself. He has said from time to time that The Courage to Be was written as an answer to The Meaning of Anxiety, a statement which honors me more than I can say.” Angesichts der engen Verbindung, auf die May ja selbst hinweist, ist es verwunderlich, dass die Dissertationsschrift von Alberto DE CASTRO, An Integration of the Existential Understanding of Anxiety in the Writings of Rollo May, Irvin Yalom, and Kirk Schneider nicht auf Tillich zu sprechen kommt. 44 Vgl. MAY, The Courage to Create, 8. Auf die Verbindung dieser beiden Schriften geht der Artikel von Roger Jeff Cunningham im Journal of Humanistic Psychology ein. Inhaltlich ist der
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Bei allem Fortschritt im Bereich der Wissenschaft und den unterschiedlichen Richtungen der Medizin wie auch im Bereich therapeutischer Maßnahmen stellt sich auch noch im 21. Jahrhundert die Frage, warum die Angst des Menschen ein bleibendes Thema ist. Eine Antwort darauf lässt sich in der Auseinandersetzung mit dem Denken Mays und Tillichs finden, die in ihren Überlegungen zur Angst die Möglichkeit der Selbstbejahung trotz oder gerade aufgrund der Erfahrung der Angst aufzuzeigen versuchen.
2.1 Rollo May 2.1.1 Mays Dissertationsschrift 2.1.1.1 Motivation der Abfassung Vor dem Hintergrund des gegenseitigen Austauschs von Tillich und May im Hinblick auf die Bedeutung der Angst dient Mays Dissertationsschrift schon aufgrund des Erscheinungsjahres als erste Quelle. Im Folgenden sollen deshalb einige Aspekte dieser Schrift und anschließend die werkgeschichtliche Weiterentwicklung dargelegt werden. Hinsichtlich der Erstellung der Dissertationsschrift und ganz allgemein der Beschäftigung Mays mit dem Thema Angst lässt sich eine doppelte Motivation feststellen: Zum einen reagiert er auf die Stimmung der Zeit, wie sie in der Hinführung dieser Arbeit dargestellt wurde. Zum anderen ist seine Beschäftigung mit dem Phänomen Angst spätestens seit seiner Erkrankung an Tuberkulose in der Zeit der Abfassung auch existentieller Natur. Während seines eineinhalbjährigen Aufenthaltes in einem Sanatorium zu einer Zeit, in der es noch wenig Möglichkeit zur Heilung dieser Krankheit gab, rang May um sein Leben und sammelte, wie er schreibt, aus erster Hand Daten sowohl über sich selbst als auch über die anderen Patienten im Sanatorium.45 Diese Zeit ist vor allem aber auch geprägt durch die Lektüre der damals einzigen Werke über die Angst: Kierkegaards Der Begriff der Angst und Freuds Hemmung, Symptom und Angst. Angesichts der Omnipräsenz des Phänomens bei gleichzeitig fehlenden umfassenden Auseinandersetzungen mit dem Thema zum Zeitpunkt der Abfassung
|| Artikel wenig aufschlussreich, aber er ist dennoch erwähnenswert, weil er auf die Interdependenz zwischen Tillich und May eingeht. (Vgl. CUNNINGHAM, The Courage to Create Rollo May: The Courage to Be Paul Tillich, 73–90). Weitaus ertragreicher ist der Artikel von Hal Ritter im Journal of Religion and Health. (Vgl. RITTER, Anxiety, 49–53). 45 Vgl. MAY, The Discovery of Being, 14.
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sucht May mit seiner Dissertationsschrift eine Systematisierung und Synthetisierung der Beschäftigungen mit Angst in den verschiedenen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Bereichen. Ziel dieses recht umfangreichen Vorhabens ist es, neben dem Versuch, eine Theorie der Angst zu entwickeln,46 Bedeutung und Aufgabe der Angst für das Menschsein herauszustellen, um schließlich einen konstruktiven Umgang mit ihr aufzuzeigen.47 Während May in der ersten Auflage des Werkes die fehlende umfassende Auseinandersetzung mit dem Thema – mit Ausnahme eben der Werke Kierkegaards und Freuds – als Grund einer notwendigen Beschäftigung sieht, merkt er in der überarbeiteten Fassung aus dem Jahre 1977 an, dass trotz der zwischenzeitlich umfangreichen Beschäftigung mit der Angst ihr Rätsel immer noch nicht gelöst sei. Während das Wissen über das Phänomen der Angst umfassender wurde, habe man noch nicht mit ihr umzugehen gelernt.48 Ausgangspunkt der Auseinandersetzung in diesem Kapitel der Arbeit soll die überarbeitete Auflage der Dissertation Mays sein, in der er nach einer umfangreicheren und letztlich noch stärker an dem Wesen des Menschen ausgerichteten Theorie sucht.49 2.1.1.2 Aufbau und entscheidende Aspekte Der Logik einer Dissertation folgend bietet May in The Meaning of Anxiety im ersten Teil der Arbeit eine möglichst breite Darstellung der Beschäftigung mit dem Phänomen Angst zur Zeit der Abfassung. Dabei sucht er den Wandel von Angst als einem verdeckten Phänomen in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts hin zu einem offenkundigen und in Literatur, Wissenschaft, Gesellschaft, Theologie und Politik thematisierten Problem nachzuzeichnen.50 Als Gründe für den Wandel führt er einerseits politische Entwicklungen ab dem Jahre 1945 an, wie etwa die Möglichkeit eines atomaren Krieges sowie radikale politische und wirtschaftliche Umbrüche, andererseits das Gewahrwerden innerer Ängste – sowohl der eigenen als auch derjenigen der Mitmenschen –, die er als Erfahrungen innerer Verwirrung, Entfremdung, psychologischer Desorientierung und Ungewissheit mit Blick auf Werte und akzeptierte Verhaltensmuster charakterisiert.51 Darauf folgen umfangreichere Ausführungen zu Angst-Interpretationen aus philosophischer, biologischer, psychologi-
|| 46 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 19. 47 Vgl. ebd., xi; 19. 48 Vgl. ebd., x; xiii. 49 Vgl. ebd., xii–xv. 50 Vgl. ebd., 3f. 51 Vgl. ebd.
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scher, psychotherapeutischer sowie kultureller Sicht, um schließlich mit einer Zusammenfassung und Synthese der unterschiedlichen Angsttheorien zu enden. Dieses erste Kapitel schließt gewissermaßen den Deutungskontext der darauf in einem zweiten Kapitel folgenden eigenen Fallstudien auf. Schwerpunktmäßig konzentriert sich May hier auf die Situation unverheirateter Mütter und deren ganz spezifische, sich aus ihrer Situation heraus ergebenden Erfahrungen der Angst. Abschließend zeigt er in einem dritten Kapitel unter dem Titel Management of Anxiety Wege des Umgangs mit Angst auf – sowohl destruktive als auch konstruktive –, um in diesem Kontext schließlich mit einer Abhandlung über die Bedeutung der Angst für die Entwicklung des Selbst zu enden. Dieser letzte Aspekt ist für die vorliegende Arbeit besonders interessant.52 Zuvor sollen aber zwei Aspekte kurz dargestellt werden, die für Mays Angstverständnis bedeutsam und für den Aufweis der Nähe der Denker May und Tillich interessant sind: Kurt Goldsteins Angst-Theorie sowie Mays These der sowohl kulturellen als auch historischen Prägung der Formen der Angst einer Zeit. Kurt Goldstein: Angst als eine Reaktion des ganzen Organismus Mit Blick auf eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen Angst aus biologischer Sicht fokussiert May seine Ausführungen auf die Forschungsergebnisse des deutsch-amerikanischen Psychiaters, Neurologen und Psychotherapeuten Kurt Goldstein53, mit dem auch Tillich sowohl in Frankfurt als auch in seiner Zeit in New York Kontakt hatte.54 Mays Überlegungen orientieren sich offensichtlich an Goldsteins wohl bekanntesten Schrift Der Aufbau des Organismus aus dem Jahre 1934, die May 1939 in der englischen Übersetzung mit dem Titel The Organism. A Holistic Approach to Biology Derived from Pathological Data in Man zugänglich war.55 Eine bereits frühere Beschäftigung Goldsteins mit dem Phänomen Angst lässt sich schon auf das Jahr 1929 datieren. Der in der Allgemeinen ärztlichen Zeitschrift für Psychische Hygiene erschienene Beitrag Zum Problem der Angst findet sich fast wörtlich, wenn auch in gekürzter Form, in Goldsteins
|| 52 Dass besonders dieser letzte Aspekt der Entscheidende der Dissertationsschrift Mays ist, betont auch die Rezension von RYCHLAK, The Anxiety of Meaning, 553f. 53 Auf die Verbindung weist auch Clemens Reeves hin, und er zeigt auf, dass May auch in weiteren Werken auf Goldstein verweist. (Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 254). Zum Einfluss Goldsteins auf May siehe auch SPIEGELBERG, Phenomenology in Psychology and Psychiatry, 159. 54 Vgl. EW XVI 237f. 55 GOLDSTEIN, Der Aufbau des Organismus.
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späterem Werk wieder.56 In seinen Studien spezialisiert sich Goldstein auf die Arbeit mit Patienten und Patientinnen mit Hirnverletzungen.57 Ihm zufolge bietet sich gerade bei Menschen mit einer organischen Hirnschädigung die Möglichkeit, dem Wesen der Angst „besonders nahe[zu]kommen“58. Interessant für die vorliegende Arbeit ist Goldsteins Theorie, der zufolge der Organismus als ein Ganzes zu verstehen ist. Diesbezüglich schreibt May über Goldstein: „Goldstein bestreitet die Vorstellung, der Organismus sei als eine Komposition verschiedener ‚Triebe‘ zu verstehen, deren Blockieren oder Zerstören zu Angst führt. Stattdessen gibt es nur eine Neigung im Organismus – nämlich die eigene Natur zu aktualisieren.“59 Ähnliches liest sich auch bei Tillich, wenn dieser schreibt: „Goldstein geht als Biologe an die menschliche Natur heran. Aber er will den ‚Menschen in seiner Totalität‘ erfassen, und er verteidigt den ‚totalen‘ Charakter des Organismus und seiner Lebensäußerungen gegen die Versuche, ihn in voneinander unabhängige Teile und Prozesse zu zerlegen.“60 Goldsteins Auffassung des Organismus als eine Totalität hat auch Konsequenzen für dessen AngstTheorie, die auf der Korrelation von Organismus und Welt basiert, was an Tillichs Korrelation von Selbst und Welt erinnert. Für Goldstein wird „der Zustand der Angst […] überhaupt erst verständlich, wenn wir das objektive Gegenübergestelltsein des Organismus gegenüber einer bestimmten Außenwelt in Betracht ziehen.“61 Angst, so schreibt er an anderer Stelle, tritt dann auf, „wenn ein Mißverhältnis zwischen den Möglichkeiten des Organismus und den durch die Umweltreize an ihn herantretenden Aufgaben besteht.“62 May fasst Goldsteins Angst-Theorie wie folgt zusammen: „Angst ist die subjektive Erfahrung des Organismus in einer katastrophalen Situation. Ein Organismus befindet sich
|| 56 GOLDSTEIN, Zum Problem der Angst. 57 Vgl. SRECKOVIC, Art. Goldstein, Kurt, 175ff.: Nach einem zweisemestrigen Studium der Philosophie und Literatur und einem Studium der Medizin sowie einem Postgraduierten-Studium an der Psychiatrischen Klinik in Breslau als Student und Assistent von Karl Wernicke und Studienaufenthalten in Freiburg und Berlin begann Kurt Goldstein (1878–1965) im Jahre 1914 seine wohl produktivste Schaffensphase in Frankfurt a.M. Hier gründet er das „Institut zur Erforschung der Folgeerscheinungen von Hirnverletzungen“ und wird Leiter des Neurologischen Instituts der Universität Frankfurt, ebenso Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Frankfurt. Später wird er erster Direktor des Krankenhauses Berlin-Moabit. Diese Frankfurter Zeit ist auch gekennzeichnet durch eine produktive Freundschaft zu Adhémar Gelb und der Auseinandersetzung mit der Gestalttherapie. 58 GOLDSTEIN, Zum Problem der Angst, 413. 59 MAY, The Meaning of Anxiety, 59. 60 GW XII 306. 61 GOLDSTEIN, Zum Problem der Angst, 416. 62 Ebd., 422.
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dann in einem katastrophalen Zustand, wenn er die Anforderungen seiner Umwelt nicht bewältigen kann und dadurch seine Existenz oder Werte, die er als wesentlich für seine Existenz hält, bedroht sieht.“63 Hier klingt schon an, was May dann an späterer Stelle seiner Arbeit als seine eigene Definition von Angst darlegt.64 Beide Denker teilen also die Auffassung, dass das Phänomen Angst nicht auf eine spezifische neurologische oder physiologische Reaktion reduziert werden kann.65 Ein rein phänomenologischer oder verhaltensbasierter Definitionsversuch der Angst würde demnach immer zu kurz greifen. Vielmehr stellen sie hinsichtlich auftretender Angst die Frage nach dem Bedürfnis, welches der ganze Organismus in seinem Ringen mit der Welt zu stillen versucht.66 In dem Versuch, der eigenen Angst zu begegnen, kommen sowohl für Goldstein als auch für May psychosomatischen Symptomen eine wichtige Rolle zu: Oftmals, so schreibt Goldstein, sind Symptome ein Weg, die Angst zu fassen; sie sind Angst in strukturierter Form.67 May spricht von einem Austausch (interchange) zwischen Symptomen und Angst:68 Aus der Beobachtung, dass die Angst zu schwinden scheint, wenn ein Mensch körperlich krank wird, leitet er ab, dass die Krankheit einen Weg repräsentiert, den Raum des Konflikts so einzuschränken, dass die Angst handhabbar wird.69 Umgekehrt heißt dies: „Je offenkundiger die Angst und je stärker ihr Ausdruck in neurotischem Verhalten, desto weniger heftig die organische Krankheit.“70 Mit welcher Art von Symptom die Angst korrespondiert, hängt nach May von der jeweiligen kulturellen Situation ab.
|| 63 MAY, The Meaning of Anxiety, 58. “The ʻcatastrophic conditionʼ must not be seen as always referring to high emotional intensity. It may come with just a thought running through one’s mind of a threat to his existence. The degree of intensity is not the issue; it is a qualitative experience.” 64 Siehe S. 105 in dieser Arbeit. 65 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 67f. Siehe GOLDSTEIN, Zum Problem der Angst, 417f.: „Ich habe schon an anderer Stelle hervorgehoben, daß man bei einer Verabsolutierung des Seelischen ebensowenig wie bei einer Verabsolutierung des Physischen den Tatsachen des lebendigen Geschehens gerecht werden kann. […] Die Angst ist ein Lebensvorgang, ein bestimmtes Gesamtverhalten des Organismus, an das wir vom Physischen und vom Erlebnishaften herankommen können, das wir aber niemals allein vom Erlebten werden begreifen können.“ 66 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 53f. 67 Vgl. ebd., 92. 68 Vgl. ebd., 93. 69 Vgl. ebd. 70 Ebd., 91: “The more overt the anxiety and the greater its manifestation in neurotic behavior, the less severe the organic disease.”
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Auch Paul Tillich ist in seinem Konzept der Angst von Goldstein beeinflusst. In seinem Beitrag Die Bedeutung Kurt Goldsteins für die Religionsphilosophie, in dem er von der „Freundschaft, Verehrung und Dankbarkeit für Kurt Goldstein“71 spricht, weist er auch auf dessen Errungenschaften mit Blick auf die Thematisierung der Angst hin sowie auf dessen Einfluss auf ihn selbst – maßgeblich in Bezug auf The Courage to Be und auf seine Ausführungen hinsichtlich des Lebens und des Geistes im dritten Band der Systematischen Theologie.72 Unmittelbare Spuren Goldsteins in Paul Tillichs The Courage to Be sind weniger deutlich aufzuweisen, als es hinsichtlich der Dissertationsschrift Mays der Fall ist, was primär auch dem Charakter einer wissenschaftlichen Arbeit zuzuschreiben ist. Die Beziehung zwischen Paul Tillich und Kurt Goldstein hat Katja Bruns in ihrer Dissertationsschrift Anthropologie zwischen Theologie und Naturwissenschaft bei Paul Tillich und Kurt Goldstein herausgearbeitet. Dabei stellt sie vor allem die gegenseitige Beeinflussung hinsichtlich der Kategorien Angst und Freiheit ins Zentrum ihrer Analyse.73 Auch in seinen Überlegungen zu anthropologischen Fragen greift Tillich auf die Expertise Goldsteins zurück.74 Die Bedeutung eines historischen Bewusstseins für das Verständnis gegenwärtiger Formen der Angst Den nach May allgemeinen Konsens, dass kulturelle Aspekte Angst bedingen, erweitert er um eine historische Dimension. Seine These lautet nun: „Die Angst eines Individuums ist durch die Tatsache bedingt, dass es in einer bestimmten Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt in der geschichtlichen Entwicklung dieser Kultur lebt.“75 Um die Angst einer Epoche verstehen zu können, braucht es nach May so etwas wie ein ‚historisches Bewusstsein‘. Darunter versteht er ein Bewusstsein dafür, dass die Einstellungen und psychologischen Muster, die in einer bestimmten Zeit und Kultur vorherrschend sind und die auch die Einstellungen und psychologischen Muster des Individuums der jeweils gegenwärtigen Zeit prägen, das Produkt historischer Entwicklungen sind.76 Ein solches Bewusstsein der kulturellen und historischen Wurzel eigener Muster und Ein-
|| 71 GW XII 305–309, hier 305. 72 Vgl. ebd., 308f. 73 BRUNS, Anthropologie zwischen Theologie und Naturwissenschaft bei Paul Tillich und Kurt Goldstein. 74 Vgl. EW V 227f. 75 MAY, The Meaning of Anxiety, 174: “An individual’s anxiety is conditioned by the fact that he lives in a given culture at a particular point in the historical development of that culture.” 76 Vgl. ebd., 175.
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stellungen ist nach May „zu einem gewissen Grad auch Selbsterkenntnis“ 77. In seiner Schrift Psychology and the Human Dilemma zeigt May neben der Erkenntnis, dass kulturell und historisch bedingte Kräfte und Ereignisse auch den gegenwärtigen psychologischen Konflikten zugrunde liegen, zwei weitere konstruktive Momente des historischen Zugangs auf: Ein historisches Bewusstsein bewahrt auch die Psychologie davor, eine bestimme Theorie oder Methode zu verabsolutieren. Mit einem Wissen darum, dass jede Theorie und Methode immer nur zu einem bestimmten Zeitpunkt einer kulturellen Entwicklung entsteht, wird deren relativer Status schon deutlich. Schließlich macht eine historische Betrachtungsweise drittens möglich, bestimmte Probleme des Menschen, die in der Menschheitsgeschichte immer wieder auftreten, als wesentlich aufzuweisen.78 Für das Phänomen Angst, wie es sich dem Therapeuten May bei seinen Patienten oder Patientinnen zeigt, bedeutet dies, dass „die Angst des Einzelnen und die Wege, wie er dieser begegnet, […] dadurch bedingt [sind], dass er an einem bestimmten Punkt in der Entwicklung seiner Kultur steht”79. Daraus folgt auch, dass es keine alle Zeiten übergeordnete Angst-Theorie geben kann, stellt doch jede Theorie immer nur den Versuch dar, die angsterzeugenden Erfahrungen der jeweiligen Epoche im Gesamt der „historischen Entwicklung einer Kultur“80 zu erhellen. Für die Formen der Angst im 20. Jahrhundert zeigt May auf, dass die kulturhistorischen Wurzeln in der Renaissance und im dort auftretenden Individualismus in Verbindung mit einem nun erstarkenden kompetitiven Verhalten liegen.81 Die psychologischen Begleiterscheinungen dieses neuen Selbstverständnisses, das ohne Frage dem Individuum neue Möglichkeiten der Selbstverwirklichung eröffnete, waren „zwischenmenschliche Isolation und Angst“82. Während diese psychologischen Begleiterscheinungen in der Renaissance schon spürbar waren, traten sie May zufolge im 19. und 20. Jahrhundert deutlicher und in einer ausgeprägteren Form zutage.83 Der im 20. Jahrhundert zu beobachtende Charakterzug eines „kompetitiven, individuellen Ehrgeizes“ sowie
|| 77 Ebd.: “Now, since every member of a society is to a greater or lesser extent the product of the patterns and attitudes which have been developing in the history of his culture, an awareness of the cultural past is to an extent self-awareness.” 78 Vgl. MAY, Psychology and the Human Dilemma, 55f. 79 Ebd., 56. 80 Ebd. 81 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 177–187. 82 Ebd., 186. Ähnlich schreibt es auch FROMM, Die Furcht vor der Freiheit, 42, auf den sich May auch bezieht. 83 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 186.
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die daraus hervorgehenden Formen der Angst sind nach May also nur mit einem Bewusstsein für die historischen Wurzeln und Entwicklungen nachvollziehbar. In der psychotherapeutischen Ausbildung seiner Zeit beklagt May aber ein Fehlen einer solchen historischen Dimension.84 2.1.2 Die Rolle der Angst für die Person 2.1.2.1 Angst als Reaktion auf den drohenden Verlust von Werten Letztlich zielt Mays Beschäftigung mit dem Phänomen Angst aus den unterschiedlichen Perspektiven auf den Aufweis der Bedeutung der Angst für die Person, was ihn zu folgender Angst-Definition bringt: Angst ist die Befürchtung, die einsetzt, wenn der Einzelne einen Wert, den er als essentiell für seine Existenz als Person empfindet, bedroht sieht. Dabei kann es sich sowohl um die Bedrohung des physischen Lebens (die Bedrohung durch den Tod) oder der psychologischen Existenz (den Verlust der Freiheit oder die Bedeutungslosigkeit) handeln. Oder um die Bedrohung jedes beliebigen Wertes, den die Person mit der eigenen Existenz identifiziert (Patriotismus, die Liebe einer anderen Person, ‚Erfolg‘, etc.).85
Angst verspürt der Mensch dann, wenn er seine Person als bedroht empfindet. Über eine gewöhnliche Auffassung hinaus, dass ein Angstgefühl nur bei einer konkreten physischen Bedrohung eintritt, qualifiziert May auch den drohenden Verlust essentieller Werte als angsterzeugendes Moment. Es ist „die Gesichertheit der Person“, die nach May im Moment der Angst als bedroht wahrgenommen wird.86 Damit positioniert er Angst im Innersten des Menschen, dort, wo er sich als Selbst und Subjekt erfährt „in Abgrenzung zur Welt der Objekte“87. – Später wird er vom „zentrierten Selbst“, ein Begriff, der auch Tillich verwendet, sprechen. – Es ist das Selbst-Welt-Verhältnis und damit einhergehend das Subjekt-Objekt-Verhältnis, das im Moment der Angst in Frage gestellt ist und damit
|| 84 Vgl. SCHNEIDER/GALVIN/SERLIN, Rollo May on Existential Psychotherapy, 421. 85 MAY, The Meaning of Anxiety, 205f.: “Anxiety is the apprehension cued off by a threat to some value that the individual holds essential to his existence as a personality. The threat may be to physical life (the threat of death), or to psychological existence (the loss of freedom, meaninglessness). Or the threat may be to some other value which one identifies with one’s existence: (patriotism, the love of another person, ʽsuccessʼ, etc).” Siehe auch DERS., Existential bases of psychotherapy, 81: “Anxiety is the state of the human being in the struggle against that which would destroy his being.” 86 Vgl. ebd., 206. 87 Ebd., 207.
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die Möglichkeit, sich als handelndes Selbst zu erfahren und zu behaupten:88 „Angst bedeutet, die eigene Welt zu verlieren; und weil ‚Selbst‘ und ‚Welt‘ immer Korrelate bilden, bedeutet es im selben Augenblick, das eigene Selbst zu verlieren.“89 Diese Formulierung erinnert an die ontologische Grundstruktur, die Tillichs Existentialontologie zugrunde liegt, sowie an die Korrelation von Organismus und Welt bei Goldstein. Ähnlich der Funktion von Fieber, das als ein physiologisches Anzeichen auf einen problematischen Vorgang im Körper hinweist, dient auch Angst als eine Art Problemanzeiger, indem sie „das Vorhandensein eines Widerspruchs innerhalb des Wertesystems einer Person anzeigt. […] [Angst] ist ein Anzeichen für ein Ringen innerhalb der Person und ein Indiz dafür, dass eine ernste Desintegration [sc. ein Zerfall der Ganzheit der Person und damit der Schritt in die Psychose, in der keine Angst mehr vorhanden ist] noch nicht stattgefunden hat.“90 Die Anwesenheit von Angst und der damit angezeigte Konflikt sind für den Psychotherapeuten also positiv zu bewerten, denn sie zeigen die Möglichkeit einer konstruktiven Lösung auf.91 Im Zustand der Angst fühlt sich das Individuum bewegungsunfähig und gelähmt.92 Es muss sein Selbst aber realisieren, was nach May bedeutet, die individuellen Möglichkeiten auszudrücken und kreativ bzw. schöpferisch zu nutzen. Nach May kann dies jedoch nur geschehen, wenn das Individuum angsterzeugende Situationen konfrontiert und durchlebt, statt sie in Form von Psychosen zu meiden, was letztlich eine ‚Verarmung‘ (impoverishment) der Person bewirkt.93 Was er mit Verarmung meint, erläutert er an anderer Stelle: „Diese normale Angst kann nicht vermieden werden außer zum Preis der Apathie oder der Beraubung der eigenen Empfindung und Fantasie.“94 Und er führt weiter aus: Folglich ermöglichen es die Verengung und Verarmung der eigenen Person, einen subjektiven Konflikt und begleitende Angst zu vermeiden. Aber die Freiheit der Person, ihre Originalität, ihre Fähigkeit zu unabhängiger Liebe wie auch alle ihre anderen Möglichkeiten, sich als eine autonome Persönlichkeit zu erweitern und zu entwickeln, werden im gleichen Prozess aufgegeben. Indem man die Verarmung der Persönlichkeit akzeptiert, kann man sich zwar eine zeitweilige Freiheit von der Angst erkaufen. Doch der Preis für diesen
|| 88 Vgl. ebd., 208. Siehe auch DERS., Psychology and the Human Dilemma, 41. 89 MAY, Psychology and the Human Dilemma, 41. 90 MAY, The Meaning of Anxiety, 374. Siehe auch DERS., Freedom and Destiny, 20 und DERS., Man’s Search for Himself, 27. 91 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 44. 92 Vgl. MAY, Psychology and the Human Dilemma, 41. 93 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 391. 94 Ebd., 363.
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‚Handel‘ ist der Verlust jener einzigartigen und wertvollsten Charakteristika des menschlichen Selbst.95
Letztlich bleibt das Individuum, das angsterzeugende Momente zu verhindern sucht, hinter seinem Menschsein zurück, wenn May dieses mit den Fähigkeiten zu planen und zu handeln charakterisiert.96 Planen stellt für May ein anthropologisches Charakteristikum dar, das den Menschen vom Tier unterscheidet. So stellt der Mensch im Moment der Angst die Frage nach dem zukünftigen Geschehen „Was passiert als nächstes?“, während das Tier im Zustand der „Wachsamkeit“, welcher mit der menschlichen Angst korrespondiert, sich auf die Frage „Was ist das?“ beschränkt.97 Selbstwerdung ist nach May also ein SichVerhalten zu den Angst-Situationen98 – was an Kierkegaards Moment des Selbst-Verhältnisses erinnert. 2.1.2.2 Das Selbst Im Zusammenhang mit der Frage nach der Bedeutung der Angst steht für May offensichtlich die Beschäftigung mit dem Selbst. Begriffe wie Selbstwerdung, Selbstbejahung und Selbstbehauptung werden im Laufe seines Arbeitens immer wieder entscheidende Aspekte sein. In seiner Dissertationsschrift entwickelt er schon ansatzweise so etwas wie eine Theorie des Selbst99 und zeigt damit bereits in diesem frühen Stadium seines Arbeitens das Interesse und die Orientierung an existenzphilosophischem Denken. Folgt man Alexander Lohner, beschäftigt sich die Existenzphilosophie nämlich „nicht mit dem Menschen im allgemeinen, sondern mit dem konkreten Individuum. Es geht ihr nicht um den Menschen schlechthin, sondern um das Selbst, um die letzte Realität des Selbst.“100 Und er schreibt weiter: „Es geht allen Existenzphilosophen – in der Nachfolge Sören Kierkegaards – darum, den Menschen zu seiner Selbstwerdung aufzufor-
|| 95 Ebd., 384: “Thus, constriction and impoverishment of personality make it possible to avoid subjective conflict and concomitant anxiety. But the person’s freedom, originality, capacity for independent love, as well as his other possibilities for expansion and development as an autonomous personality are renounced in the same process. By accepting impoverishment of personality, one can buy temporary freedom from anxiety, to be sure. But the price for this ʽbargainʼ is the loss of those unique and most precious characteristics of the human self.” 96 Vgl. ebd., 383. 97 Vgl. ebd., 97–99. 98 Vgl. ebd., 391. 99 Diese Beobachtung findet sich auch bei IHBEN-BAHL, Angst und die eine Wirklichkeit, 226. 100 LOHNER, Der Tod im Existentialismus, Prolog. Siehe dazu auch FRISCHMANN, Art. Selbst (Selbstverhältnis), 227.
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dern, ihn aus der Uneigentlichkeit herauszurufen zur Entscheidung der vollendeten Daseinsverwirklichung.“101 Der Psychotherapeut Rollo May orientiert sich zwar an Kierkegaard, erschöpft sich hierin jedoch nicht vollständig. Im Kontext seiner Studie zur Angst unterscheidet er bei „Autoren über Angst“ ein weites und ein enges Verständnis des Selbst: Er führt Kurt Goldstein als einen Vertreter eines weiten Ansatzes an, bei dem das Selbst als „die Summe aller Fähigkeiten des Individuums“102 verstanden wird. Das engere Verständnis in Mays Sinn hingegen fasst unter Selbst die „Fähigkeit des menschlichen Organismus, ein Bewusstsein für die eigenen Aktivitäten [zu haben] und durch dieses Bewusstsein ein gewisses Maß an Freiheit bei der Steuerung dieser Aktivitäten auszuüben“103. Letzteres meint er bei Kierkegaard, Sullivan und Fromm zu finden.104 Hinsichtlich der Entwicklung des Selbst schreibt May der Angst ein entscheidendes Moment zu:105 „Selbst-Verwirklichung – das heißt Ausdruck und kreativer Gebrauch der individuellen Fähigkeiten – kann nur dann stattfinden, wenn das Individuum Angst erzeugende Erfahrungen konfrontiert und durchlebt.“106 Während er in seiner Dissertationsschrift den Fokus auf dieses Selbstverwirklichende Moment der Angst legt, was schon in der Überschrift zu dem entsprechenden Kapitel deutlich wird (Anxiety and the Developement of the Self), betont er in Man’s Search for Himself, dass eine überhandnehmende Angst in einer Gesellschaft ebenso eine Bedrohung für das Selbst darstellt, nämlich dann, wenn eine Gesellschaft aufgrund „psychologischer und spiritueller Leere“ totalitären Systemen das Feld überließe, in der Hoffnung, von der „Angst, die zu mächtig geworden ist, um sie noch länger zu ertragen“, befreit zu werden. Der Preis dafür ist May zufolge die Aufgabe der eigenen Freiheit.107 May geht in seinem Verständnis von Selbst über das Identitätserleben, das sich etwa in Ich-Aussagen ausdrückt, hinaus.108 Was er mit Selbst meint, erschöpft sich nicht im Begriff des Ich. Die Unterscheidung zwischen Ich und Selbst trifft auch Tillich, und er macht deutlich, dass der Begriff Selbst der umfassendere ist.109 Dieses Selbst scheint gerade in Umbruchszeiten fragwürdig zu werden. May stimmt deshalb in den appellativen Charakter der Existenzphilo-
|| 101 LOHNER, Der Tod im Existentialismus, 13. 102 MAY, The Meaning of Anxiety, 390. 103 Ebd. 104 Vgl. ebd. Siehe hierzu FRISCHMANN, Art. Selbst (Selbstverhältnis), 225–227. 105 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 390. 106 Ebd., 391. 107 Vgl. MAY, Man’s Search for Himself, 20. 108 Zum Verständnis des Selbst als Erfahren der Identität vgl. ROHDE, Art. Selbst, 341. 109 Vgl. EW XVI 27. Siehe hierzu S. 71 in dieser Arbeit.
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sophie mit ein, indem er die Fähigkeiten des Menschen betont, das eigene Selbst auszudrücken und zu erweitern. Dazu fordert er auf, indem er dazu ermutigt, neue Möglichkeiten zu konfrontieren.110 „Das Selbst“, schreibt er in Power and Innocence, „entwickelt sich nie automatisch.“111 2.1.3 Werkgeschichtliche Entwicklungen Werkgeschichtlich kann die Thematik Angst als eine bleibende Konstante im Denken Mays angesehen werden. Begründen lässt sich dies sicherlich mit der zu beobachtenden Tendenz, alle Aussagen im Kontext einer gesellschaftlichen Kritik zu formulieren und auf diese zurückzuführen. Hinsichtlich der Begrifflichkeit sowie der Theorieentwicklung Mays lässt sich eine Weiterentwicklung und Präzisierung konstatieren. Während er im Vorwort seiner Dissertation aus dem Jahre 1950 noch allgemein auf eine erste systematische Theorie von Angst zielt, fragt er in der revidierten Auflage von 1977 nach einer Theorie auf dem Level höchster Abstraktion und führt der Begrifflichkeit nach eine ontologische Bestimmung von Angst als „die Erfahrung von Sein, das sich gegenüber dem Nichtsein bejaht“,112 ein. Dieser Ansatz trägt sich dann jedoch nicht weiter durch die Ausführungen, vielmehr bleibt es bei einer psychotherapeutischen Abhandlung über das Selbst. Anders verhält es sich in dem einleitenden Beitrag Mays zu dem mit Angel und Ellenberger herausgegebenen Band Existence. Hier plädiert May für eine ontologische Zugangsweise zu einem Verständnis von Angst: Für „unsere psychologischen und psychiatrischen Beschäftigungen mit Angstphänomenen aller Art wäre es von großer Hilfe, das Konzept auf eine ontologische Grundlage zu stellen“113. Terminologisch kommt May hier der AngstAnalyse Tillichs in The Courage to Be sehr nahe. Auf diese (ontologische) Entwicklung in Mays Beschäftigung mit dem Phänomen der Angst verweist auch Clement Reeves, ohne jedoch auf Tillichs The Courage to Be einzugehen.114 Einen stärker zeitgeschichtlichen Zugang zum Thema Angst wählt May in Man’s
|| 110 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 392. 111 MAY, Power and Innocence, 141: “Thus man becomes a self only as he participates in his development and throws his weight behind this or that tendency, no matter how limited this choice may be. The self never develops automatically; man becomes a self only to the extent that he can know it, affirm it, assert it.” 112 MAY, The Meaning of Anxiety, Foreword to the Revised Edition. 113 MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 52: “Our psychological and psychiatric dealings with anxiety phenomena of all sorts will be greatly helped by shifting the concept to its ontological base.” 114 Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 84–95.
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Search for Himself (1983). Hauptthema der Schrift ist die Auseinandersetzung mit der „normalen Angst der Menschen, die in unserer Zeit des Umbruchs leben“115 sowie der Aufweis verschiedener Wege, dieser Angst konstruktiv zu begegnen.
2.2 Paul Tillich 2.2.1 Angst und Mut im Denken Paul Tillichs Die Thematisierung der Angst steht bei Tillich in einem engen Zusammenhang mit Überlegungen zum Mut zum Sein, wie er ihn in seiner Schrift The Courage to Be entwickelt, die in den USA zu einem Bestseller wurde.116 Warum er gerade mit dieser Schrift einen solchen Erfolg hatte, verdeutlicht die nachfolgende Aussage Tillichs: Der Mut ist ein anderes wichtiges Element des amerikanischen philosophischen Denkens. Vielleicht kann man sagen, daß die Betonung von Werden, Wachstum, Prozeß, Fortschritt, wie sie in der amerikanischen Philosophie zu finden ist, Ausdruck eines Mutes ist, der in einer Weise Wagnisse, Verfehlungen, Rückschritte und Enttäuschungen auf sich nimmt, wie es in den Schulen der europäischen Philosophie kaum zu finden ist. […] Die Begegnungen mit diesem amerikanischen ‚Mut zum Sein‘ bei einzelnen und bei der Nation war und ist eine Erfahrung, die uns stark berührte und veränderte.117
Einerseits knüpft Tillich mit seinen Überlegungen zum Mut offensichtlich an ein Moment an, das im amerikanischen Denken und Lebensgefühl tief verwurzelt zu sein scheint. Andererseits trifft er gerade deshalb „den Nerv der Zeit“118, weil dieser Mut in jener Zeit ins Wanken geraten ist. Werkgeschichtlich lässt sich bereits in seinen frühen Schriften der Gedanke der Angst vor dem Nichtsein und der Idee, dieser Angst zu begegnen, aufzeigen. In seinen Schriften zum religiösen Sozialismus schreibt Tillich von einer „Urangst vor dem Neuen, vor dem Wagnis, vor der Drohung, ins Nichts zu fallen“119. Hier klingt schon ein existentielles Verständnis an. Wenn Tillich hier dazu auffordert, den Sozialismus neu zu wagen, erinnert das bereits an die Korrelation von Mut und Angst.120 Eine
|| 115 MAY, Man’s Search for Himself, 25. 116 Vgl. hierzu Tillichs eigene Aussage in EW V 325–329. Siehe auch SCHÜSSLER, Paul Tillichs Schrift „The Courage to Be“, 109. 117 GW VIII 23f. 118 SCHÜSSLER, Paul Tillichs Schrift „The Courage to Be“, 109. 119 GW II 140. 120 Vgl. ebd.
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ebenso frühe Nennung findet sich in seinen theologischen Schriften, so beispielhaft in seiner Dresdner Dogmatik-Vorlesung von 1925–1927.121 The Courage to Be – Der Mut zum Sein ist eine gegenwartsdiagnostische Schrift. Auf das Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit, die als Grunderfahrung nach zwei Weltkriegen vorherrschend ist, sowie auf das Versagen „Angst-reduzierender Kräfte“ in Gesellschaft und Kultur,122 antwortet Tillich mit einer „MutSchrift“. Dabei bildet The Courage to Be gewissermaßen eine Synthese verschiedener Beiträge Tillichs, die dieser Schrift vorausgingen oder zeitgleich entstanden sind. 1950 veröffentlicht er den Essay Anxiety-Reducing Agencies in our Culture, der in aller Kürze schon einige Kerngedanken der späteren Schrift enthält, etwa die Beobachtung eines „Anwachsens neurotischer Angst“ 123 in den USA sowie den Versuch einer unterschiedlichen Qualifizierung von Furcht und Angst.124 1951 erfolgt die Veröffentlichung des ersten Bandes der Systematischen Theologie, von der The Courage to Be gewissermaßen ein „Nebenprodukt“125 ist, da Tillich aufgrund der Zusage seiner Teilnahme an den „Terry-Lectures“ an der Yale University 1950 die Arbeit an seinem Hauptwerk unterbrechen musste.126 In der Systematischen Theologie entfaltet Tillich seine Existentialontologie, die den Ausführungen in The Courage to Be zugrunde liegt und dort vor allem in Bezug auf die Polarität von Individualisation und Partizipation zur Anwendung kommt. In den Ontologievorlesungen, die Tillich 1951 in Berlin hielt und die ebenfalls eine Darstellung seiner Existentialontologie beinhalten, greift er die unterschiedliche Auseinandersetzung mit der Angst in Europa und den USA wieder auf, die er schon in seinem Essay Anxiety-Reducing Agencies in our Culture anklingen ließ. Hierin macht er auch auf die erst recht spät einsetzende amerikanische Auseinandersetzung mit der Angst aufmerksam. Erst mit der intensiveren Beschäftigung mit der Existentialphilosophie sowie durch die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie konnte das Wort anxiety, das nach Tillich in der gesamten amerikanischen Literatur im Sinne von „Bemühtsein, Vorweg-
|| 121 Vgl. EW XIV 196–198. Siehe hierzu DANZ, „Anxiety is finitude, experienced as one’s own finitude“, 32–35. 122 Vgl. MW II 239–246. 123 Ebd., 242. Der Beitrag stellt die Verschriftlichung eines 1949 vor der American Psychological Association gehaltenen Vortrags dar. In den Hinweisen zur werkgeschichtlichen Entwicklung, auf die ich hier kurz eingehe, orientiere ich mich an FRITZ, Letzte Sorge, letzte Zuversicht, 133–136. 124 Vgl. MW II 240f. 125 FRITZ, Letzte Sorge, letzte Zuversicht, 133. 126 Vgl. ebd. Zur werkgeschichtlichen Entwicklung siehe auch DANZ, Der Mut zum Sein. Ein werkgeschichtlicher Prospekt, 1f.
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nehmen, Sorge haben“ verwendet wurde, nun die Bedeutung im Sinne Kierkegaards gewinnen,127 worauf – wie oben angeführt – auch Rollo May hingewiesen hat. Mit The Courage to Be schafft es Tillich, so attestiert es ihm May, die „latente existenzialistische Gesinnung vieler Amerikaner hervorragend zum Ausdruck“128 zu bringen, was den gegenwartsdiagnostischen Charakter der Schrift unterstreicht. Der Fokus der nachfolgenden Darstellung liegt auf dem Gedanken der Selbstbejahung trotz entgegengesetzter Tendenzen, wie sie bereits bei May angeklungen sind. Dies ist nur ein möglicher Zugang zu dieser facettenreichen Schrift, aber der anschlussfähigste mit Blick auf die Verbindung von Tillich und May.129 2.2.2 Ontologie der Angst 2.2.2.1 Angst ist das „Gewahrwerden der eigenen Endlichkeit“ Mit The Courage to Be entwirft Tillich eine Ontologie der Angst, mit der er dem Unausweichlichkeitscharakter der Angst einen ontologischen Unterbau zu geben sucht. Denn es ist gerade dieses Gefühl von Unausweichlichkeit, das in dieser Zeit, die als ‚Zeitalter der Angst‘ charakterisiert wird, allgegenwärtig ist: Kein endliches Wesen kann seine Angst überwinden. Man kann jeden Gegenstand bekämpfen und viele Gegenstände im Kampf beseitigen, viele Ursachen der Furcht ausschalten. Man kann auch durch Psychoanalyse, durch Beratung oder durch viele andere Dinge, durch Trunkenheit, Furcht ausschalten, weil man immer einen Gegenstand vor sich hat, mit dem man dann zu ringen glaubt oder wirklich ringen will. Das trifft nicht zu auf Angst. Sie ist immer gegenwärtig, sie ist oft latent.130
Vor diesem Hintergrund stellt Tillich mit seiner Schrift die Frage nach einer Form des Mutes, die fähig ist, dieser „Grundangst“131 des Menschen, die nicht zu überwinden ist, zu begegnen. Er fragt nach einem „Mut, der auch dem letzten Wort des Nichtseins ein Wort entgegenstellen kann“132. Die Grundangst des
|| 127 EW XVI 222. 128 MAY, Psychology and the Human Dilemma, 129. 129 Eine Beschäftigung mit Tillichs The Courage to Be unter verschiedenen Aspekten bietet der 13. Band des International Yearbook for Tillich Research. (Vgl. DANZ/DUMAS/SCHÜSSLER/ WAGONER (Hg.), The Courage to Be). 130 EW XVI 102. 131 GW XI 38. 132 EW XVI 106.
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Menschen liegt nämlich im Gewahrwerden der Möglichkeit des Nichtseins133, im „Gewahrwerden der eigenen Endlichkeit“134. Oder anders formuliert: „Angst ist das existentielle Bewusstsein des Nichtseins“135. Diese Formulierungen sind im Kontext der Existentialontologie Tillichs zu lesen, wie sie im ersten Kapitel der Arbeit dargelegt wurde. ‚Existentiell‘, das meint mit Blick auf die Angst ein Bewusstsein davon, dass das Nichtsein ein Teil unseres eigenen Seins ist, nicht bloß ein abstraktes, sondern ein unsere eigene Existenz betreffendes Moment.136 Letzte Konkretheit und Gültigkeit gewinnt die Angst vor dem Nichtsein im Angesicht der Unausweichlichkeit des Todes; nicht aber des Todes generell, sondern des eigenen Todes – jene Situation, die Karl Jaspers als Grenzsituation qualifiziert und die Heidegger als Quelle der Angst charakterisiert.137 Beim Tod handelt es sich aber eben nur um die letzte Konkretheit. Die Angst vor dem Nichtsein erlebt der Mensch schon in dem Augenblick, wenn er ein Gespür für den Sinn seiner Existenz verloren hat, wenn er sich von der Möglichkeit zu sein entfremdet fühlt. Diese Ausführungen Tillichs machen deutlich, dass es sich bei einer so verstandenen Angst um etwas anderes handeln muss als beispielsweise bei einer Angst vor Spinnen, der Angst vor einem wichtigen Termin oder der Angst vor der Zurückweisung durch eine Person,138 wie es umgangssprachlich zuweilen ausgedrückt wird. Eine notwendige Präzisierung des Unterschieds zwischen Angst und Furcht, die der eigentliche Ausdruck für den Gefühlszustand der angeführten Beispiele ist, ist nach Tillich das Produkt und das Zeichen der fruchtbaren Zusammenarbeit von Tiefenpsychologie und Existentialphilosophie.139 Tillich macht dementsprechend deutlich: „Angst und Furcht haben die
|| 133 Vgl. GW XI 38. 134 ST I 225. Hervorh. d. Verf. 135 GW XI 35. 136 Vgl. ebd. 137 Als weitere Beispiele hierfür führt Tillich an anderer Stelle die Erfahrung der Schuld sowie der Sinnlosigkeit an. Es ist ein Unterschied, ob ich die Schuldhaftigkeit eines Menschen bewerte oder ob ich die Erfahrung mache, selbst schuldig geworden zu sein. Ebenso kann ich mit Sorge beobachten, dass ein Mensch ein wenig sinnerfülltes Leben führt, ohne davon selbst betroffen zu sein. Aber ich kann auch die Erfahrung machen, dass mein eigenes Leben ohne Sinn ist und daran zerbrechen. (Vgl. GW V 226f.). 138 Vgl. GW XI 36. 139 Vgl. ebd., 34f. Ein Beispiel dafür, dass eine terminologische und wahrscheinlich auch inhaltliche Unterscheidung oftmals dennoch ausbleibt, bietet das 2018 veröffentlichte Werk The Monarchy of Fear von Martha Nussbaum, das in der deutschen Übersetzung den Titel Das Königreich der Angst trägt. Schon eine kurze Lektüre des Originaltextes macht deutlich, dass Angst nicht der geeignete Ausdruck für das von Nussbaum Gesagte ist.
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gleiche ontologische Wurzel, aber in der Aktualität sind sie nicht das gleiche.“140 Sie sind verschieden, aber nicht voneinander zu trennen.141 Das entscheidende Unterscheidungsmerkmal liegt im jeweiligen Gegenstand der Angst bzw. Furcht. Während Furcht objektbezogen ist, d.h. Furcht auf etwas Bestimmtes gerichtet ist, hat Angst die „Negation jedes Objekts“ zum Gegenstand, indem sie dem Nichtsein gegenübersteht.142 „Die Angst strebt danach, zur Furcht zu werden, denn der Furcht kann durch Mut begegnet werden.“143 Das ist auch das Ziel der Psychotherapie. Was die Grundangst des Menschen angeht, sind solche Bestrebungen jedoch vergebens: „Die Grundangst, die Angst eines endlichen Wesens vor der Drohung des Nichtseins, kann nicht aufgehoben werden. Sie gehört zur Existenz selbst.“144 2.2.2.2 Die Korrelation von Angst und Mut in den Kategorien des Seins Will der Mensch sein Dasein nicht in einem Zustand des begrenzten Seins, dem Zustand eines verarmten Selbst leben, in dem er die ihm als Mensch gegebenen Seinsmöglichkeiten opfert, „um überhaupt sein zu können“145, muss er sich der Grundangst stellen. Eine mögliche Konsequenz einer Unfähigkeit, der existentiellen Angst zu begegnen, ist das Ausweichen in die Neurose.146 Tillich appelliert mit seiner Schrift an den Mut zum Sein. Angesichts der unausweichlichen Drohung des Nichtseins braucht es einen Mut, der die Bejahung des Selbst „trotz allem, was das Selbst davon abhält, sich selbst zu bejahen“147, beinhaltet. Diesen Aspekt nimmt May mit einem expliziten Verweis auf Tillich auf und bezeichnet ihn als für die Psychotherapie „wichtig, überzeugend und fruchtbar“148. An dieser Stelle ist es sinnvoll, den schon sehr spezifischen Aussagen zur Korrelation von ontologischer Angst und ontologischem Mut einige grundsätzliche Ausführungen zur Seite zu stellen, wie sie Tillich in der Darstellung seiner Existentialontologie ausführt. Im ersten Band der Systematischen Theologie || 140 Ebd., 35. 141 Ebd., 36. 142 Vgl. ebd. Siehe auch EW XVI 101f.; HEIDEGGER, Was ist Metaphysik?, 29–34. 143 GW XI 37. Auf die Unterscheidung kommt auch May in The Meaning of Anxiety immer wieder zu sprechen. 144 Ebd., 38. 145 EW XVI 198. 146 Vgl. GW XI 56. 147 Ebd., 33: „Mut ist Selbstbejahung ,trotzʻ, nämlich trotz alles dessen, was dazu beiträgt, das Selbst an der Bejahung seiner selbst zu hindern.“ 148 MAY, Existential Bases of Psychotherapy, 75f.
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sowie in den Berliner Vorlesungen zur Ontologie zieht er in einer vierten Schicht seiner Ontologie die Kategorienlehre heran, um am Beispiel von Zeit, Raum, Kausalität und Substanz das Verhältnis von Angst und Mut aufzuweisen.149 Dabei ist es nicht seine Absicht, eine eigene Kategorienlehre aufzustellen, noch ist ihm daran gelegen, die klassische Kategorienlehre zu vermitteln, vielmehr bedient er sich mit den Kategorien eines Instrumentariums, mit dem er zugleich etwas über die Begegnung und Erfahrung mit dem Sein (positives Element) sowie über das Nichtsein, „an dem alles, was ist, teilhat“150 (negatives Element), aussagen kann. Tillich beginnt seine Ausführungen mit der Kategorie Zeit als „zentraler Kategorie der Endlichkeit“151. Das negative Element der Zeit ist die Erfahrung der Vergänglichkeit. Die Gegenwart erscheint immer nur als ein Moment, etwa als ein Übergangsmoment der „Vergangenheit, die nicht mehr ist“, in Richtung „Zukunft, die noch nicht ist“.152 Das Gegenwartsmoment gleicht demnach einem Fallen ins Nichtsein.153 Gleichzeitig beinhaltet die Zeit den Charakter des Schöpferischen, die Möglichkeit, der Zeit eine Richtung zu geben.154 Indem der Mensch den gegenwärtigen Moment gestaltet und nutzt, bejaht er seine Gegenwart. Er bejaht die Gegenwart trotz des Bewusstseins der Vergänglichkeit des Moments.155 „Als unmittelbare Erfahrung“, so fasst Tillich den ontologischen Charakter der Zeit zusammen, „vereinigt die Zeit Angst und Mut, die Angst der Vergänglichkeit mit dem Mut der Selbstbehauptung, den wir Gegenwart nennen.“156 Gegenwart schließt nach Tillich aber immer auch Raum mit ein. Damit leitet er über zu der zweiten Kategorie, anhand derer er die Korrelation von Angst und Mut aufzuzeigen sucht. Sein heißt, einen physischen Raum (einen Körper, eine Heimat, eine Stadt, Welt) und einen sozialen Raum (einen Beruf, eine geschichtliche Verortung, eine Zugehörigkeit zu einer Kultur) zu haben.157 Wer keinen
|| 149 Vgl. ST I 226; EW XVI 109. Während Tillich in der Systematischen Theologie die dritte Kategorie mit Kausalität bezeichnet, wählt er in den Vorlesungen zu Ontologie den Begriff Ursache (EW XVI 110). In der Sache meint er damit aber dasselbe. 150 EW XVI 110. 151 Ebd., 113. 152 Ebd., 114. 153 Vgl. ebd. 154 Vgl. ebd. 155 Vgl. ebd., 116. 156 Ebd., 115. Siehe auch ST I 227: „Diese Angst, die von unserer Zeitlichkeit verursacht ist, kann nur ertragen werden, weil sie ausgeglichen wird durch einen Mut, der die Zeitlichkeit bejaht.“ 157 Vgl. ST I 228. Siehe auch EW XVI 122f.
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Raum hat, spürt die Drohung des Nichtseins.158 Diese Ausführungen erinnern an die in der Hinführung dieser Arbeit aufgezeigte Situation des Menschen in Zeiten des Umbruchs bzw. Übergangs, die phasenweise keinen umrissenen Raum mehr zu bieten vermögen. Die Folgen sind wachsende Anfälligkeit für Neurosen und ein von Angst geprägtes Zeitalter. Tillichs ontologische Grundannahme stimmt ebenso mit der Peter Wusts überein, der den Menschen wesentlich als ungesichert versteht.159 Die Endlichkeit des Menschen, d.h. sein Sein, das durch Endlichkeit gekennzeichnet ist, schließt diese letzte Ungesichertheit nach Tillich mit ein.160 „Und darum gilt auch hier, dass man leben kann in dieser Raumsituation nur dadurch, dass die Angst balanciert ist durch den Mut, dass man den gegenwärtigen Raum akzeptiert und weiß, dass dieser gegenwärtige Raum nicht der letzte ist.“161 Ebenso bewegt sich die Kausalität als dritte Kategorie in der Ambivalenz der „Bejahung der Macht des Seins“ und zugleich der „Bejahung der Ohnmacht des Seins“.162 Die Frage nach der Kausalität einer Sache, eines Dings, eines Ereignisses kann affirmativen Charakter, aber auch eine endlose Regression zur Folge haben. Letztlich heißt nach Ursachen suchen, „nach der Seinsmächtigkeit eines Dinges suchen“163. Affirmativen Charakter hat die Frage nach dem Woher oder Warum einer Sache oder eines Ereignisses, wenn mit dem Aufweis der Ursache die Realität dessen, wonach gefragt wurde, bejaht ist:164 „Wissen wir, woher es kommt, so wissen wir auch, dass es am Sein teilhat.“165 Gleichzeitig setzen wir mit der Frage nach dem Warum oder Woher zunächst jedoch voraus, dass es nicht „selbstverursacht“166 ist, d.h. dass die Ursache des Seins außerhalb des Dings oder Ereignisses liegt. Das trifft auf endliche Dinge zu. Aseität, d.h. ein „Durch-sich-selbst-Sein“167 kommt nur Gott zu.168 Charakteristisch für das Seiende ist, mit Heidegger gesprochen, auf den sich Tillich in diesem Kontext auch bezieht, folglich seine „Geworfenheit“ ins Sein.169 In dieser dritten Kategorie
|| 158 Vgl. EW XVI 125. 159 Vgl. WUST, Ungewissheit und Wagnis. 160 Vgl. ST I 228. 161 EW XVI 125. 162 Ebd., 132. 163 ST I 229. 164 Vgl. ebd. 165 EW XVI 132. 166 ST I 229. 167 EW XVI 134. 168 Vgl. ebd., 132. 169 Vgl. ST I 229f.
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setzt Tillich hier die Angst an: Das Sein des Menschen ist kontingent, es hat keine letzte Notwendigkeit. Dieser angsterzeugenden Zufälligkeit muss der Mensch mit dem Mut begegnen, der fähig ist, der Angst zu trotzen, indem er ‚Ja‘ sagt zu „dem endlichen Sein und dem zufälligen Sein“170. Die Reihung der Kategorien schließt Tillich mit der Substanz ab. Dem Substanzbegriff haftet die Vorstellung einer gewissen Statik und „Unwandelbarkeit“171 an und damit auch die Angst, die eigene Substanz und damit die eigene Identität zu verlieren.172 Nach Tillich bezieht sich diese Angst auf „die beständige Veränderung“, der das menschliche Dasein ausgesetzt ist, ebenso wie auf „den endgültigen Verlust der Substanz“.173 Auch hier bedarf es nach Tillich eines Mutes, der der Drohung des Nichtseins, die jede Veränderung mit sich bringt, begegnet.174 Der hier dargestellte Versuch Tillichs, die Korrelation von Angst und Mut anhand der Kategorien Zeit, Raum, Kausalität und Substanz zu demonstrieren, ist mit Bezug auf Anjuta Horstmann-Schneider kritisch zu bewerten. Der Aufweis des negativen Elements gelingt ihm überzeugend letztlich nur hinsichtlich der Kategorie Zeit.175 2.2.3 Ontologie des Mutes: Selbstbejahung trotz der Drohung des Nichtseins Das bisher Gesagte macht deutlich, warum Tillich bei seinem Anliegen, eine Ontologie des Mutes zu entwerfen, zunächst den Weg über eine Ontologie der Angst geht: Ein Verständnis der Grundangst des Menschen, die eine ontologische Angst ist, erschließt ein Verstehen des essentiellen sowie existentiellen Seins des Menschen sowie seiner Welt, seiner Strukturen und Werte. Ein Wissen darum bildet die Grundlage dessen, was der Mensch im Akt des Mutes bejahen oder verneinen soll.176 Angst und Mut sind nach Tillich also voneinander abhängig;177 sie bilden eine echte Korrelation.178 Um der ontologischen Angst vor dem Nichtsein zu begegnen, muss Mut in einem ontologischen Sinne verstanden werden, will er der „radikalen Drohung einen Ausdruck geben, der der
|| 170 EW XVI 134. 171 ST I 231. 172 Vgl. ebd. 173 Ebd. 174 Vgl. EW XVI 136f. 175 Vgl. HORSTMANN-SCHNEIDER, Sein und menschliche Existenz, 54f. Siehe hierzu auch die Kritik bei MURMANN, Freiheit und Entfremdung, 122 Anm. 224. 176 Vgl. GW XI 13. 177 Vgl. ebd., 35. 178 Vgl. EW XVI 109.
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Drohung selbst adäquat ist“179. Deshalb genügt es auch nicht, Mut als einen „menschliche[n] Akt, als Ausdruck einer Wertung“180 zu behandeln, was die ethische Bedeutung des Begriffs Mut ist. Es braucht beides: ein ontologisches Verstehen und einen moralischen Akt.181 In seinem Anliegen, den ontologischen Charakter des Mutes darzustellen, greift Tillich auf die in seiner Existentialontologie entworfene ontologische Grundstruktur (Selbst-Welt-Korrelation) sowie auf die ersten polaren Elemente (Individualisation und Partizipation) zurück. Nach Tillich bewegt sich die Selbstbejahung auf diesen beiden Ebenen, die voneinander unterscheidbar sind, die aber nicht voneinander getrennt werden können.182 Er fasst dies wie folgt zusammen: „Wenn wir fragen: Was ist das Subjekt dieser Selbstbejahung, müssen wir antworten: das individuelle Selbst, das an der Welt partizipiert, d.h. an dem strukturierten Universum des Seins.“183 Beides steht nach Tillich in der Bedrohung des Verlustes durch das Nichtsein, weshalb beides den Mut der Bejahung braucht.184 „Aber das Selbst ist nur ein Selbst, weil es Welt hat, ein strukturiertes Universum, zu dem es gehört und von dem es zugleich getrennt ist.“185 An dieser Stelle ist es also notwendig, sowohl das anthropologische als auch das ontologische Verständnis Tillichs als Hintergrundfolie mitzudenken. Darüber hinaus leistet Tillich mit der Darstellung der beiden Arten des Mutes – der „Mut, Teil eines Ganzen zu sein“ und der „Mut, man selbst zu sein“ – einen gegenwartsdiagnostischen sowie einen politisch-kritischen Beitrag. 2.2.3.1 „Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein“ Bedenkt man die „neukollektivistischen Erscheinungsformen“, zu denen Tillich den Nationalsozialismus, den Faschismus sowie den Kommunismus zählt und die er als Manifestationen des Mutes, „Teil eines Ganzen zu sein“, charakterisiert,186 stellt sich die Frage nach der ontologischen Struktur, die diese Erscheinungen entstehen lässt. „Ihre weltgeschichtliche Bedeutung“, so schreibt Tillich, „muß im Lichte einer Ontologie der Selbstbejahung und des Mutes gesehen
|| 179 Ebd., 196. 180 GW XI 14. 181 Vgl. ebd. 182 Vgl. ebd., 70. 183 Ebd. 184 Vgl. ebd., 72. 185 Ebd., 71. 186 Ebd., 77. Siehe eine ähnliche Herangehensweise, den Text aufzuschlüsseln, bei RÖBEL, Mut und Partizipation, 85.
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werden.“187 Eine Ableitung des Wesens des „neukollektivistischen Kommunismus“ lediglich aus „sekundären Faktoren“, d.h. aus politischen Gegebenheiten, würde für ihn zu kurz greifen. Der Erfolg der kollektivistischen Systeme liege in ihrer Fähigkeit, den Massen, „die unter einer wachsenden Drohung des Nichtseins und einem wachsenden Angstgefühl leben“, den „Mut, Teil eines Ganzen zu sein“, zu geben.188 „So wird die Angst vor dem individuellen Nichtsein in die Angst um das Kollektiv verwandelt, und die Angst um das Kollektiv wird besiegt durch den Mut, der sich durch die Partizipation am Kollektiv bejaht.“189 Eine ähnliche Tendenz macht Tillich auch in der amerikanischen Kultur aus; hier allerdings nicht in Form des „Neukollektivismus“, sondern des wachsenden Konformismus. Diese Entwicklung nimmt Tillich wie folgt wahr: „Die Konformität nimmt zu, aber sie ist noch nicht Kollektivismus.“190 Und ganz generell ist nach Tillich in der amerikanischen Gesellschaft eine besondere Form des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, zu beobachten: Ein Amerikaner kann eine Katastrophe erlebt haben, einen vernichtenden Schicksalsschlag, den Zusammenbruch seiner Überzeugungen, er kann sogar Schuld und Verzweiflung durchgemacht haben – trotzdem hält er sein Leben weder für zerstört noch für sinnlos, hält sich nicht für verdammt und verliert die Hoffnung nicht.191
Dieser Optimismus wurzelt nach Tillich in der Idee, an einem „schöpferischen Prozess“ zu partizipieren, in der die „Produktion an sich“ das Ziel ist.192 Anders ausgedrückt: Es ist die Idee, Teil des Fortschritts zu sein.193 Da diese Haltung eine „Konformität und Anpassung an die Produktionsmethoden der Gesellschaft“194 fordert, sieht Tillich hier die Gefahr des Entstehens einer gesellschaftlichen Grundhaltung, die in die Nähe des Kollektivismus rückt. Tillichs Lehre von der Polarität, die ja ein Schlüsselmoment seines existentialontologischen Ansatzes bildet, findet an dieser Stelle ihre Anwendung. Der Gefahr des Aufgehens im Kollektiv entgeht das Individuum, indem es den Mut, es selbst zu sein, aufbringt. Partizipation und Individualisation bilden ebenso wie Selbst und Welt polare Momente, was zur Folge hat, dass es ohne echte Individualisation auch keine echte Partizipation geben kann: „Ein Teil des Ganzen ist nicht iden|| 187 GW XI 78. 188 Vgl. ebd. 189 Ebd., 79. 190 Ebd., 82. 191 Ebd., 84. 192 Ebd., 85. 193 Vgl. ebd. 194 Ebd., 87.
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tisch mit dem Ganzen, zu dem es gehört. Aber das Ganze wäre nicht, was es ist, ohne den Teil. […] Die Welt wäre nicht, was sie ist, ohne dieses individuelle Selbst.“195 Die „Einbrüche des existentialistischen Mutes, man selbst zu sein“196, die im „existential America“197 ab den 1950er Jahren verstärkt zu beobachten waren, schienen ein Korrektiv zu den herrschenden kollektivistischen Tendenzen darzustellen. Mit Blick auf die USA war es für Tillich entscheidend, „ob die führenden Gruppen in Amerika zu einer Haltung finden, die sich über die Alternative von Individualismus und Kollektivismus erhebt“198. 2.2.3.2 „Der Mut, man selbst zu sein“ Diese letzte Aussage Tillichs macht deutlich, dass es bei aller Notwendigkeit der Selbstbejahung als individuelles Selbst auch auf dieser Ebene des Mutes die Verzerrung der radikalen Form geben kann. Beides aber – sowohl den „radikalen Kollektivismus“ als auch den „radikalen Individualismus“ – weist er zurück.199 „Extreme Formen des Mutes, man selbst zu sein“, sind in Amerika nach Tillich seit den 1930er Jahren zu beobachten.200 Dieser „radikale Existentialismus“, den Tillich hier vor Augen hat, antwortet auf die Frage, was dieses Selbst ist, „das sich selbst bejaht“: „Es ist das, was es aus sich selbst macht“201 – eine Aussage, die an Sartre erinnert, den Tillich hier sicherlich mit im Blick hat. Sie erinnert aber auch an den in der Hinführung dieser Arbeit vorgestellten schizoiden Menschen, der beispielhaft für den Menschen der Nachkriegszeit steht. Einen solchen Typ Mensch beschreibt Fritz Riemann in seinem Klassiker der Angst-Literatur Grundformen der Angst und die Antinomien des Lebens. Eine tiefenpsychologische Studie über die Ängste des Menschen und ihre Überwindung. Charakteristisch für den schizoiden Menschen ist es, jeder Form von Partizipation aus dem Weg zu gehen und gleichzeitig „Selbstbewahrung und Ich-Werdung gleichsam [zu] verabsolutieren, überwertig [zu] leben“202. Unter Berücksichti-
|| 195 Ebd., 71. 196 Ebd., 88. 197 COTKIN, Existential America. 198 GW XI 88. 199 EW XVI 55. 200 GW XI 82. Ein ähnlicher Hinweis findet sich bei MAY, The Springs of Creative Living, 79: “But we now stand at the point where liberalism has, in its turn, swung too far. The new burst of freedom which was in itself a healthy step for many personalities has left them with no structure to react against.” 201 GW XI 114. 202 RIEMANN, Grundformen der Angst und die Antinomien des Lebens, 20. Alle persönlichen und individuellen Ängste des Menschen lassen sich nach Riemann bestimmten Grundformen
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gung der bisherigen Ausführungen wird deutlich, was Tillich an der Idee eines völligen Losgelöstseins des Individuums kritisiert: „Das Selbst, das von der Partizipation an seiner Welt abgeschnitten ist, ist eine leere Hülle, eine bloße Möglichkeit.“203 Beispielhaft für diese Haltung führt Tillich die modernen Zyniker an: Die modernen Zyniker wollen nicht als Anhänger irgendeiner Schule gelten. Sie glauben nicht an die Vernunft, sie kennen kein Kriterium der Wahrheit, kein Wertsystem und keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn. Sie versuchen jede Norm, die ihnen gegeben wird, zu untergraben. Ihr Mut findet keinen schöpferischen Ausdruck, aber er drückt ihre Lebenshaltung aus. Sie verwerfen mutig jede Lösung, die sie der Freiheit beraubt, alles zu verwerfen, was sie verwerfen wollen.204
Diese Zynismus-Kritik Tillichs erinnert an die Kritik am Individualismus des 21. Jahrhunderts. Einer solchen Haltung fehlt nach Tillich das polare Moment der Partizipation, es fehlt ihr ein Moment des Ausgerichtetseins: „Der Mensch kann sich nur bejahen, wenn er nicht eine leere Hülse, eine bloße Möglichkeit, bejaht, sondern die Struktur des Seins, in der er sich vor allem Handeln und Nichthandeln vorfindet.“205 Die kritischen Ausführungen Tillichs zeigen seine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Existentialismus, den er ja in den USA einzuführen suchte. Der oben aufgezeigte Seitenhieb in Richtung Sartre verdeutlicht, dass sich Tillich nicht auf die teils radikale Fokussierung auf den Einzelnen einlässt, wie sie vor allem bei Kierkegaard oder Sartre zu beobachten war, sondern entsprechend seinem „polaritätstheoretischen“206 Ansatz das Selbst und seine Welt zusammen und in gegenseitiger Abhängigkeit denkt.207 Folgt man den Ausführungen Tillichs in den beiden Großkapiteln unter den Überschriften Mut und Partizipation sowie Mut und Individualisation, dann zeigt sich, dass sowohl das Individuum als auch gesellschaftliche Mechanismen dazu tendieren, einem der beiden Momente einseitig den Vorzug zu geben. Die Auswirkungen einer jeweils einseitigen Fokussierung haben die Ausführungen Til-
|| der Angst zuordnen. Die Grundformen wiederum bilden zwei Antinomien. Eine Antinomie stellt die „Einordnung in ein größeres Ganzes“ dar, eine zweite die „Forderung zur Individuation“. Das erinnert an Tillichs Korrelation von Selbst und Welt. Die zweite Antinomie bildet nach Riemann „das Streben nach Dauer“ sowie „das Streben nach Wandlung“. (12). 203 GW XI 114f. 204 Ebd., 114. 205 Ebd., 115. 206 RÖBEL, Mut und Partizipation, 96. 207 Zu diesem Hinweis siehe die Ausführungen in: ebd., 74.
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lichs verdeutlicht. Tillichs „polaritätstheoretischer Lösungsvorschlag“208 lehnt sich an die von ihm herausgearbeitete Grundstruktur der Wirklichkeit an, an der jedes Seiende teilhat und in dessen Rhythmus es nur zu einem tragfähigen ‚Mut zu sein‘ gelangen kann.
3 Zwischen Unausweichlichkeit und Bedeutsamkeit: Interdependenzen in der Beschäftigung mit Angst Wenn Tillich in der Vorlesung Being and God von 1957 zwischen ‚ontologischer‘, ‚existentieller‘ und ‚neurotischer‘ Angst unterscheidet, dann lässt sich nach dieser Unterscheidung Rollo Mays Angst-Verständnis in den Bereich der ‚existentiellen Angst‘, dasjenige Tillichs hingegen auf der Ebene der ‚ontologischen Angst‘ einordnen.209 Hier unterscheiden sich beide Denker wesentlich. Auch wenn May gelegentlich metaphysisch klingende Aussagen macht, so werden diese meist nicht weiter erläutert oder in den Kontext seiner therapeutischen Überlegungen eingebunden; an manchen Stellen werden sie explizit mit der Nennung Tillichs auf eben diesen zurückgeführt. Auffallend ist die Beobachtung, dass May im Kontext seines Nachdenkens über Angst Tillich immer wieder nennt, Tillich hingegen Mays Einfluss in diesem Kontext unerwähnt lässt. Explizite Aufweise einer Interdependenz sind damit nicht gegeben, was jedoch nicht heißen muss, dass es diese nicht gibt. Wenn Erdmann Sturm in seinem Beitrag „Der Mut zum Sein“. Eine Einführung davon spricht, dass Tillichs The Courage to Be im Kontext der Werke Rollo Mays und Helmut Kuhns Encounter of Nothingness zu lesen sei, dann ist dieser These unbedingt zuzustimmen; zuzustimmen ist ebenso dem Verweis auf die Originalität des Ansatzes von Tillich, die bei aller Übereinstimmung mit May zu betonen ist.210 Gleichzeitig ist dennoch zu bemerken, dass beide Denker, obwohl in unterschiedlichen Professionen zuhause, ähnliche Ansatzpunkte und Terminologien verwenden.
|| 208 Ebd., 96. 209 Vgl. TILLICH, Being and God, 76f. 210 Vgl. STURM, „Der Mut zum Sein”. Eine Einführung, 4.
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3.1 Die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit Eine erste Interdependenz lässt sich darin aufweisen, dass beide Denker Sinnlosigkeit und Leere als Angstmomente der Moderne identifizieren.211 Darin stimmen sie mit der Zeitdiagnose anderer Denker überein. So attestiert etwa Viktor E. Frankl seiner Zeit ein „abgründiges Sinnlosigkeitsgefühl das mit einem Leeregefühl vergesellschaftet ist“212. Trotz der zeitlich früheren Veröffentlichung der Dissertationsschrift Mays weist Clement Reeves darauf hin, dass der Ausdruck ‚Angst vor der Sinnlosigkeit‘ wesentlich von Tillich geprägt ist.213 In Tillichs Schrift The Courage to Be findet sie sich eingebettet in die Unterscheidung dreier Typen von Angst (Schicksal und Tod, Leere und Sinnlosigkeit, Schuld und Verdammnis), die er in einer Abhängigkeit mit dem Sein, das sie negieren, versteht. Bevor er sich der Erläuterung dieser verschiedenen Typen von Angst zuwendet, löst er zunächst die Frage nach dem ontologischen Vorrang des Seins vor dem Nichtsein auf, die zu Beginn des zweiten Kapitels aufgeworfen, aber nicht abschließend geklärt wurde. Er schreibt: „Denn wird Sein als Leben oder Prozeß oder Werden verstanden, so ist Nichtsein ontologisch ebenso grundlegend wie Sein. Die Anerkennung dieser Tatsache bedeutet keine Entscheidung über die Priorität des Seins gegenüber dem Nichtsein, aber sie verlangt, daß dem Nichtsein in der Grundlegung der Ontologie ein Platz eingeräumt wird.“214 Die Frage nach dem Prius entscheidet Tillich zugunsten eines Vorrangs des Seins vor dem Nichtsein, indem er diesen schon an dem Begriff Nichtsein verdeutlicht, der den Begriff Sein notwendig in sich einschließt. Logisch kommt dem Sein nach Tillich auch deshalb ein Vorrang zu, da es Verneinung nur da geben kann, wo es etwas gibt, das verneint wird.215 Zwar weist Tillich dem Nichtsein einen ontologischen Rang zu, er macht aber gleichzeitig deutlich, dass es per se keine eigene(n) Qualität(en) besitzt, sondern dass es unterschiedliche Typen des Nichtseins nur als Korrelat unterschiedlicher Typen des Seins geben
|| 211 Vgl. ST II 31: „Die Existenz des Individuums ist angefüllt mit Angst und bedroht durch Sinnlosigkeit. In dieser Beschreibung der menschlichen Situation stimmen alle Existentialisten überein und sind deshalb Gegner des Hegelschen Essentialismus. Sie sehen in ihm den Versuch, den wahren Zustand des Menschen zu verbergen.“ 212 FRANKL, Das Leiden am sinnlosen Leben, 11. Siehe auch DERS., Ärztliche Seelsorge, 323. Die Reaktion darauf ist nach Frankl die Entwicklung der Existenzanalyse, die er als „Sinnfahndung“ charakterisiert. (DERS., Theorie und Therapie der Neurosen, 213). 213 Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 252. 214 GW XI 33. 215 Vgl. ebd., 38. Die Frage nach der Priorität von Sein oder Nicht-Sein klärt Tillich auch schon früher: Vgl. ST I 222; EW XVI 96.
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kann. Indem er jeden Typ der Angst in Korrelation mit einer bestimmten Art der Selbst-Bejahung konfrontiert, schließt er den Bogen zum ersten Kapitel der Schrift.216 Mit Blick auf die Interdependenzen bieten diese Überlegungen Tillichs einen Anknüpfungspunkt an die Angst-Analyse Mays, wenn dieser dem Moment der Selbst-Bejahung im Therapiegeschehen eine entscheidende Rolle zuschreibt.217 Nach Tillich sind es drei Ebenen, auf denen der Mensch sich in seinem Sein bedroht erfahren kann: auf der ontischen, der geistigen und der moralischen Ebene. Ontisch erfährt er sich als durch Schicksal und Tod bedroht, moralisch durch Schuld und Verdammnis und geistig durch Leere und Sinnlosigkeit. Dabei stehen die beiden bedrohenden Momente jeweils in einem Verhältnis zueinander, wobei das zweite immer absolut, das erste relativ auf das zweite bezogen zu verstehen ist.218 Jene drei Typen von Angst korrespondieren in je gestufter Intensität menschheitsgeschichtlich mit drei ausgehenden Epochen: Während die ontische Angst die Zeit der ausgehenden Antike kennzeichnet219 und der Umbruch des Mittelalters von der moralischen Angst geprägt war, zeichnet sich die ausgehende Moderne durch eine geistige Angst aus. Mit dieser Deutung greift Tillich ein Moment auf, das zu Beginn dieser Arbeit als ein zentraler Aspekt im Denken Mays und in weiten Teilen auch Tillichs, vor allem aber vieler anderer Denker dieser Zeit, aufgezeigt wurde: das Gefühl des Verlusts tragender Werte der Gesellschaft sowie des Einzelnen in der Situation des Epochenumbruchs. Es ist die „Frage nach dem Sinn der Existenz“220 sowie nach Werten und das Gefühl des Verlusts eben dieser Momente, die den Menschen der ausgehenden Moderne in existentielle Angst versetzen. Tillich verortet die Frage nach dem Sinn der Existenz im Bereich des Geistigen. Ähnlich spricht auch May von einer Bedrohung sowohl im psychischen als auch im geistigen Bereich.221 Wenngleich die je unterschiedliche Profession beider Denker einen je eigenen Zugang zur Konsequenz hat, stimmen sie in ihrer existenzphilosophischen Schlussfolgerung überein, sehen doch beide den Verlust der Erfahrung tragender Werte sowie eines tragenden Sinns als Bedrohung für das Selbst, das sich durch Freiheit und die Fähigkeit, sowohl das eigene Leben als auch den gesellschaftlichen Fortschritt aktiv zu gestalten, ausdrückt.222 || 216 Vgl. GW XI 38. 217 Vgl. SCHNEIDER/GALVIN/SERLIN, Rollo May on Existential Psychotherapy, 420. 218 Vgl. GW XI 39. 219 Siehe dazu auch DODDS, Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst. 220 GW XI 43. 221 Vgl. ebd., 42–46; MAY, The Meaning of Anxiety, 15; 205. 222 Vgl. GW XI 42; MAY, The Meaning of Anxiety, 384; DERS., The Courage to Create, 11f.
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Dabei nimmt Paul Tillich den Zweifel zum Ausgangspunkt seines Fragens und stellt mit seiner Schrift The Courage to Be dem zweifelnden Menschen der Moderne eine Möglichkeit der Antwort vor Augen. Dieses Ziel verfolgt er auch in seinen Überlegungen zum „Gott über Gott“.223 Wenn Tillich schreibt, dass der Mensch einen tragenden Sinn verloren hat, dann spricht er von dem, was er seiner Schrift The Dynamics of Faith als das, was uns unbedingt angeht, bezeichnet und ausführt.224 In dem zeitgleich mit The Courage to Be entstandenen Beitrag Überwindung des Provinzialismus in der Theologie fasst er diesen Gedanken wie folgt zusammen: „Es ist ein Ausdruck des Mutes, der Sinnlosigkeit standzuhalten und sie als Antwort auf die Frage nach dem Sinn zu begreifen.“225 Rollo Mays Nachdenken über das Selbst kreist immer auch um den Bereich des Pathologischen, sofern er als Psychotherapeut zumeist mit jenen in Berührung kommt, bei denen der Verlust von Werten und damit der Möglichkeit der Orientierung eine neurotische Angst hervorgebracht hat, die sie in der Verwirklichung ihrer Existenz einschränkt, oder sogar völlig bewegungsunfähig macht.226 Während Tillich die Momente der Leere und Sinnlosigkeit in ein direktes Verhältnis setzt und sie dadurch miteinander in Verbindung bringt, setzt May beide Begriffe nicht direkt in einen Zusammenhang. Neben The Meaning of Anxiety sind es auch die Werke Man’s Search for Himself (1953) sowie Psychology and the Human Dilemma (1967), in denen er – im Kontext des Nachdenkens über Angst – Leere und Sinnlosigkeit als angsterzeugende Momente anführt. Im Kontext der Auseinandersetzung mit Angst in The Meaning of Anxiety spricht May lediglich von der Sinnlosigkeit, und er bringt diese mit dem Verlust von Werten in Verbindung, die für die eigene Existenz wesentlich sind.227 Erst in dem 1953 veröffentlichten Werk Man’s Search for Himself, das sich durch eine kürzere und || 223 „Im letzten Kapitel meines Buches ‚Der Mut zum Sein‘ [Stuttgart 1953] habe ich von ‚Gott über dem Gott des Theismus‘ gesprochen. Diese Formulierung ist im Sinne einer pantheistischen oder mystischen Aussage mißverstanden worden. Es ist zunächst einmal keine dogmatische, sondern eine apologetische Aussage: Sie nimmt den radikalen Zweifel, wie ihn viele Menschen erleben, ernst, und sie soll ihnen den Mut der Selbstbejahung geben, selbst in der Situation des radikalen Zweifelns.“ (ST II 18f.). 224 Vgl. TILLICH, Dynamik des Glaubens. 225 GW VIII 25. 226 Aus einem Gespräch mit Dr. Stefan Elsner, dem ehemaligen Ärztlichen Direktor der RheinMosel-Fachklinik in Andernach, ist mir bewusst, dass der Begriff neurotisch aufgrund seiner Nähe und Identifizierung mit der Lehre Freuds heute aus den Clusterings weitgehend verschwunden ist und durch weniger theoriebelastete Bezeichnungen ersetzt wurde. In dieser Arbeit wird jedoch die von May und Tillich verwendete Terminologie beibehalten. In Love and Will verweist May bereits auf eine veränderte Terminologie. (DERS., Love and Will, 20). 227 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 205.
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pointiertere Darlegung des Phänomens Angst gegenüber seiner Dissertationsschrift auszeichnet, kommt er auch auf die Leere als ein Gefühl des Menschen des beginnenden 20. Jahrhunderts zu sprechen. Damit meint er nicht nur, „dass viele Menschen nicht wissen, was sie wollen“, sondern auch, dass „sie oftmals keine genaue Idee davon haben, was sie fühlen“.228 Diesen Zustand bezeichnet er als Einsamkeit (loneliness).229 In Psychology and the Human Dilemma gibt er der Stimmung der Zeit nochmals eine weitere Wendung, wenn er das Individuum als verloren zwischen der „unpersönlichen Macht der Technik auf der einen Seite und den menschlichen Werten auf der anderen“ charakterisiert. Aus dieser Situation entsteht beim Einzelnen das Gefühl der Bedeutungslosigkeit (loss of significance) und Teilnahmslosigkeit (apathy).230 „Der Verlust der Erfahrung der eigenen Bedeutsamkeit“, so May, „führt zu der Art von Angst, die Paul Tillich die Angst der Sinnlosigkeit nannte, oder was Kierkegaard Angst als Furcht vor dem Nichts bezeichnet.“ Eine solche Angst ist nach May „vorherrschend in unserer Gesellschaft.“231
3.2 Kreativität als Ausdruck des Selbst Tillich wie May stimmen sowohl in der Terminologie als auch hinsichtlich der Idee überein, dass ein kreatives bzw. schöpferisches Mitwirken am kulturellen Leben sowie an der Wirklichkeit überhaupt Ausdruck für ein bejahtes Selbst und damit der Existenz ist.232 Damit wird eine zweite Interdependenz sichtbar. Für Tillich ist es die Partizipation an dem, was der eigenen Existenz Sinn verleiht oder woraufhin der Einzelne sein Leben ausrichtet. „Geistige Selbstbejahung“, so Tillich, „vollzieht sich in jedem Augenblick, in dem der Mensch innerhalb der verschiedenen Sinnsphären schöpferisch ist.“233 Kreativität respek-
|| 228 MAY, Man’s Search for Himself, 4. 229 Vgl. ebd., 13. 230 Vgl. MAY, Psychology and the Human Dilemma, 35. 231 Ebd., 37. Siehe auch die Ausführungen von Erich Fromm, der unter Rückgriff auf Denker des 19. Jahrhunderts dem Menschen seiner Zeit das Gefühl der Bedeutungslosigkeit, der Isolierung und Ohnmacht attestiert. FROMM, Die Furcht vor der Freiheit, 106–111. Im Zusammenhang mit der Macht wird dieser Aspekt in der vorliegenden Arbeit wieder aufgegriffen. 232 Was im Englischen mit creativity bezeichnet wird, kann im Deutschen mehrere Bedeutungen haben. Es kann zum einen die Fantasie bzw. das fantasievolle Gestalten bedeuten, es steht aber auch für eine „schöpferische Kraft“. Beide Begriffsbedeutungen scheinen in Tillichs und Mays Überlegungen mitzuschwingen. 233 GW XI 42.
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tive schöpferisches Tätigsein erfordert nach Tillich aber nicht zwangsläufig ein eigenes Hervorbringen, sondern es bedeutet auch, an den kulturschaffenden Momenten wie etwa Kunst, Wissenschaft oder Politik zu partizipieren, hat doch dieses immer einen schöpferischen Charakter, da sich dadurch auch immer das verändert, woran man partizipiert.234 In der Zeit einer ausgehenden Epoche oder eines gesellschaftlichen Umbruchs ist es der Verlust des sinnstiftenden Inhalts bestehender Traditionen, der ein Gefühl der Leere und damit der Angst bewirken kann.235 In The Courage to Create führt May dazu an, dass der Mensch in solchen Zeiten zwischen zwei Möglichkeiten wählen kann: Er kann dem Gefühl der Teilnahmslosigkeit (apathy) verfallen und damit die Chance vertun, an der Formung der Zukunft teilzuhaben. Damit widerspricht er nach May aber einem anthropologischen Charakteristikum, nämlich der Möglichkeit, bewusst an der Entwicklungsgeschichte mitzuwirken.236 Der Einzelne kann aber auch den Mut ergreifen, den es braucht, um ein Gespür für die jeweilige Zeit zu entwickeln, um wachsam und verantwortungsvoll an der Gestaltung einer neuen Gesellschaft zu partizipieren.237 May drückt damit in ähnlicher Weise das aus, was Tillich im Sinn hat, wenn er davon spricht, dass die Literatur jener Zeit davon zeugt, dass es möglich ist, „aus der Angst ein Werk zu machen“238, hat Literatur neben Kunst, Dichtung und Philosophie doch immer auch eine gesellschaftsformende Funktion. May und Tillich sind davon überzeugt, dass der Weg des Schöpferischen nicht vom Einzelnen selbst ausgehen muss, sondern dass ein echtes Partizipieren an der Kreativität anderer immer auch etwas Neues in uns selbst bewirkt.239 Dabei kann das Gespür der Künstler einer Epoche wegweisend sein, vermögen sie nach May doch das auszudrücken, was C. G. Jung das „‚kollektive Unbewusste‘“ nennt.240 Der Psychotherapeut May verortet den Ursprung einer neurotischen Angst in dem Erfahren einer Kluft zwischen Erwartung und Wirklichkeit. Die Kluft an sich stellt noch keine letzte Schwierigkeit dar, impliziert sie zunächst doch die Möglichkeit, kreativ tätig zu sein und sich somit als ein Selbst auszudrücken.241 Auch nach Tillich hat der geringere Grad des Angepasstseins an die Wirklich-
|| 234 Vgl. ebd. 235 Vgl. ebd., 43. 236 Vgl. MAY, The Courag to Create, 12f. 237 Vgl. ebd., 12. 238 TILLICH, Der Mut zum Sein, 283. 239 Vgl. MAY, The Courage to Create, 22. 240 Vgl. ebd., 23. 241 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 389; DERS., The Courage to Create, 8.
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keit beim Neurotiker eine größere Intensität an Kreativität zur Folge.242 Problematisch wird das Verhältnis von Erwartung und Wirklichkeit erst da, wo beide in einen Widerspruch geraten.243 Tillich spricht in diesem Kontext davon, dass der Neurotiker mit der Wirklichkeit in Konflikt steht.244 Generell stehen bei May Angst und Kreativität in einem fruchtbaren Verhältnis. So schreibt er: „Wer die Angst unterdrückt, unterdrückt auch die Kreativität. Das verarmt die Person.“245 Gleiches gilt jedoch nicht zwangsläufig umgekehrt.246 Aussagen von Kierkegaard und Goldstein folgend, kommt May zu der Überzeugung: „Je kreativer und produktiver eine Person ist, desto mehr Angst erzeugenden Situationen ist sie ausgesetzt.“247 Mit Kierkegaard bringt May Angst und Freiheit in einen unauflösbaren Zusammenhang: Der Freiheit begegnen, bewirkt Angst; gleichzeitig braucht es wiederum Freiheit und Unabhängigkeit, um der Angst zu begegnen.248 Folglich taucht hier wieder auf, was zu Beginn der Arbeit im Kontext der Arbeitsweise Mays schon gesagt worden ist: Ähnlich wie die Existenzphilosophinnen und -philosophen appelliert auch May an den Menschen, sich den existentiellen Strukturen des Lebens zu stellen, gelangt der Mensch doch nur auf diese Weise zur Verwirklichung seines Selbst oder seiner Existenz.
3.3 Psychotherapeutische und medizinische Einflüsse Wenn der Theologe und Philosoph Tillich im dritten Kapitel seiner Schrift The Courage to Be von „pathologischer Angst, Vitalität und Mut“ spricht, dann wird auch hier der psychotherapeutische sowie medizinische Einfluss auf sein Denken deutlich. Mit Blick auf das Angst-Verständnis aus psychotherapeutischer Sicht kritisiert er, dass ein umfassendes Bild von Angst fehle und beispielsweise keine Unterscheidung von existentieller und pathologischer Angst vorgenommen werde. Für Psychotherapeuten, so Tillich, ist jede Angst pathologisch und damit heilbar. Eine existentielle Angst, die zur Existenz als solcher gehört, wird von ihnen nicht mitgedacht. Dabei verweist Tillich auch auf den ontologischen Charakter einer solchen Unterscheidung, die letztlich von der tiefenpsychologi|| 242 Vgl. GW XI 57. 243 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 390. 244 Vgl. GW XI 58. 245 MAY, The Meaning of Anxiety, 100 Anm. 2. 246 Vgl. ebd. 247 Ebd., 387f. 248 Vgl. ebd., 391f. Siehe auch REEVES, The Psychology of Rollo May, 176.
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schen Analyse nicht geleistet werden kann.249 Er plädiert damit implizit für eine Interdisziplinarität in der Auseinandersetzung mit dem Thema Angst. Eine Beschäftigung mit dem Denken Mays lässt an dieser Stelle jedoch kritisch fragen, ob es denn tatsächlich im psychotherapeutischen Verständnis einer ontologischen Grundlegung mangelt. Sicherlich lassen auch Mays Ausführungen in The Meaning of Anxiety eine solche explizite ontologische Grundlegung und die entsprechende Terminologie missen, aber viele auch schon hier angeführte Äußerungen Mays hinsichtlich normaler Angst zeugen von einem Bewusstsein dafür, dass es sich bei Angst um ein Existenzial handelt, das eine Bedeutung für die Entwicklung des Selbst hat.250 Eine Ausdifferenzierung seines „ontologischen Ansatzes“ gewinnt May aber erst im späteren Verlauf seines Arbeitens.251 Ebenso ist er sich der Tatsache bewusst, dass Existenziale nicht wegzutherapieren sind und dass es die Aufgabe des Therapeuten und der Therapeutin immer nur sein kann, den Entfaltungsraum des Einzelnen zu erweitern.252 An dieser Stelle tritt die Verbindung von Tillich und May deutlich zutage, wenn sich May der Definition des Begriffs Neurose bei Tillich bedient, er dieser jedoch eine positive Wendung gibt. Definiert Tillich Neurose als den „Weg, dem Nichtsein auszuweichen, indem man dem Sein ausweicht“253, so transformiert May diese Definition folgendermaßen: „In Tillichs Bestimmung ist die Person gezwungen (oder hat sich entschieden), in einem größeren Maße Nichtsein zu akzeptieren, um ein Mindestmaß an Sein zu bewahren.“254 Die prinzipiell unterschiedliche Herangehensweise beider Denker wird hier deutlich: Für Tillich ist Angst eine Folge der Endlichkeit des Seins und damit gebunden an das Nichtsein, das mit Mut überwunden werden muss. Mit Blick auf seine Patienten ist May klar, dass zuweilen der Status des Nichtseins der einzig mögliche ist. Deutlich wird dies an einem weiteren Beispiel: Während Tillich Angst als „biologisch
|| 249 Vgl. GW XI 55f. 250 Vgl. hierzu auch REEVES, The Psychology of Rollo May, 84–99. 251 Vgl. MAY, The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology, 3–36, hier 36: “Existential psychotherapy is the movement which, although standing on one side on the scientific analysis owed chiefly to the genius of Freud, also brings back into the picture the understanding of man on the deeper and broader level – man as the being who is human. It is based on the assumption that it is possible to have a science of man which does not fragmentize man and destroy his humanity at the same moment as it studies him. It unites science and ontology.” Siehe auch MAY, The Emergence of Existential Psychology, 9. 252 Vgl. SCHNEIDER/GALVIN/SERLIN, Rollo May on Existential Psychotherapy, 420. Siehe auch ebd., 425. 253 GW XI 56. 254 MAY, The Meaning of Anxiety, 381f.
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ohne Nutzen“255 bezeichnet, spricht May von einem konstruktiven Effekt eines moderaten Maßes an Angst für den Organismus.256 Beide stimmen hingegen in der Annahme überein, dass der Neurotiker empfindsamer ist für die Bedrohungen des Seins.257 Rollo May geht sogar noch einen Schritt weiter und bezeichnet den Neurotiker als einen Propheten seiner Zeit.258 Nichtsdestotrotz hat die neurotische Form der Angst – und darauf machen May und Tillich aufmerksam – vor allem aber immer auch negative Auswirkungen auf die Entfaltung des Selbst, werden doch hierdurch Fähigkeiten negiert259 oder zumindest deren Entfaltung verhindert.260 Die neurotische Form der Angst, so hat das oben Gesagte gezeigt, kennzeichnet Zeiten des Umbruchs; jene Zeiten, die sich dadurch auszeichnen, dass zuvor tragende Werte nicht mehr zu passen scheinen, neue Werte jedoch noch nicht vollständig etabliert sind und es ihnen an der Kraft mangelt, wesentlich für die Existenz zu werden. In einem Vortrag aus dem Jahre 1951, der der Veröffentlichung von The Courage to Be vorausgeht, formuliert es Tillich wie folgt: Entscheidend für unsere Zeit ist die Frage nach dem Sinn der Existenz, die Angst der Sinnlosigkeit und die Verzweiflung des Zweifels an Sinn und Wert. […] Ein Blick auf die Werke der Literatur und Dichtung, der Kunst und der Philosophie unserer Zeit zeigt, daß es der Verlust des Lebenssinnes ist, von dem sie zeugen. Überall in den Schöpfungen unserer Periode wird das Zerbrechen des Glaubens an die alten Werte und Symbole zum Ausdruck gebracht.261
|| 255 GW XI 66. 256 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 388. 257 Vgl. GW XI 57. 258 Vgl. MAY, Love and Will, 24. Deutlicher als in der Formulierung des englischen Originals “The Neurotic as predictive” heißt es in der deutschen Übersetzung „Der Neurotiker als Prophet“. (DERS., Liebe und Wille, 22). Siehe auch DERS., The Significance of Symbols, 22f.: “I speak here mainly out of experience with neurotic patients; but it will be self-evident that our patients in psychoanalysis are not suffering from some special ailment but show in their symptoms the general, though not yet overt, predicament in our society. […] Therefore the neurotic problems of one decade generally reflect underlying conflicts in the society which the man in the street so far can defend himself against, but which will come out endemically in the society of the next decade.” May schreibt dies im Kontext seiner Analyse der Orientierungslosigkeit des Menschen aufgrund des Wegfalls tragender Symbole und Mythen. Im Kapitel zum Mythos wird dies eingehender dargestellt. 259 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 381. 260 Vgl. GW XI 56. 261 TILLICH, Der Mut zum Sein, 282.
Das ‚Zeitalter der Angst‘: Eine bleibende Zeitdiagnose | 131
Dieses Phänomen lässt sich sowohl beim Individuum als auch bei der Gesellschaft insgesamt beobachten. Tillich spricht hier von „Massenneurosen“ 262, Viktor E. Frankl von einer „kollektiven Neurose“263. Zuweilen erwecken die derzeit verstärkt auftretenden Nationalismen den Anschein einer solchen neuen Form von „Massen-Neurose“, versteht man Neurose mit May als ein „Verkleinern der eigenen Welt“264. Sicherlich bewirkt eine solche „verkleinerte Welt“ den Ausschluss vermeintlicher Bedrohungen von außen, und sie gewährt damit ein Gefühl von Sicherheit. Auf die negativen Auswirkungen, die ein solcher Rückzug für die Entwicklung des Individuums und ebenso für eine ganze Nation bedeuten kann, wurde bereits hingewiesen.
4 Das ‚Zeitalter der Angst‘: Eine bleibende Zeitdiagnose Angst hat eine Bedeutung und einen Zweck.265 Mays positive und sinngebende Bestimmung des Phänomens Angst, über die er in einer Zeit schreibt, die von dem Schriftsteller Wystan Hugh Auden als das ‚Zeitalter der Angst‘ propagiert wird, kann leicht verwundern:266 Ist es nicht primär etwas Negatives, das wir mit dem Gefühl der Angst in Verbindung bringen? Die Auseinandersetzung mit diesem die Philosophiegeschichte prägenden Phänomen kann hier ein wichtiges Korrektiv sein, ist die im allgemeinen Sprachgebrauch von Angst ausschließlich negative Konnotation doch nicht aufrechtzuerhalten – erst recht nicht aus existenzphilosophischer Sicht.267 Der positiven und sinngebenden Funktion von Angst stimmt auch Borwin Bandelow, einer der gegenwärtig bekanntesten Angstforscher und derzeitiger Leiter der Arbeitsgruppe Angsterkrankungen an der Universität Göttingen, zu. In seinem Werk Das Angstbuch aus dem Jahre 2004 schreibt er der Angst eine positive Funktion hinsichtlich der Kreativität des Menschen zu und verweist dabei auf eine Reihe bekannter und kreativer Köpfe, die unter den unterschiedlichsten Angsterkrankungen litten. „Angst ist das Superbenzin für Erfolg“, so schreibt er, und: „Angst ist ein Teil von uns, und wenn wir sie nicht hätten, würde unser Leben banal verlaufen.
|| 262 GW XI 59. 263 FRANKL, Theorie und Therapie der Neurosen, 154. 264 MAY, The Meaning of Anxiety, 381. 265 Vgl. ebd., xiv; 363. 266 Vgl. AUDEN, The Age of Anxiety (1947). 267 Vgl. ANGEHRN, Angst als Grundproblem der Philosophie, 11.
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Angst ist die Würze in der Suppe unseres Lebens.“268 Dabei weiß er natürlich alltägliche Angst von pathologischer Angst zu unterscheiden. Und auch wenn er schreibt, dass es „heute möglich ist die schlimmen Ausprägungen der Angst in Schach zu halten, wird es immer ein Traum bleiben, völlig ohne Angst leben zu können. Nicht nur, weil wir wissen, dass das Leben endlich ist, sondern auch weil die Angst zu uns gehört. Sie macht uns zu dem, was wir sind.“269 Eine ähnliche Einschätzung findet sich auch in Fritz Riemanns Grundformen der Angst: Angst ist ein zu unserem Dasein gehöriges Erleben; in immer neuen Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode. Wir können sie nicht vermeiden, obwohl die Geschichte der Menschheit immer neue Versuche erkennen läßt, Angst zu bewältigen, zu vermindern, Angst zu binden: in Magie, Religion und Wissenschaft etwa. Es ist wohl eine unserer großen Illusionen, daß wir glauben, Angst vermeiden und ausschalten zu können – sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten. Wir können nur Gegenkräfte gegen sie entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Glaube und Liebe. Diese können Angst überwinden, verarbeiten oder sie annehmen helfen. Methoden, welcher Art auch immer, die uns Angstfreiheit zusichern wollen, sollten wir mit Skepsis betrachten, weil sie der Wirklichkeit unseres Seins nicht gerecht werden und illusorische Erwartungen nähren.270
Die Beschäftigung mit dem Phänomen Angst scheint nicht an Aktualität zu verlieren, wenn fast 100 Jahre nach Auden auch heute wieder von einem ‚Jahr der Ängste‘ gesprochen wird und zahlreiche Neuerscheinungen von Werken über das Thema Angst den Eindruck entstehen lassen, dass wir auch gegenwärtig wieder in einer Zeit leben, in der das Gefühl von Angst omnipräsent zu sein scheint.271 Zu dieser Beobachtung passt auch die These Heinz Budes, der Angst
|| 268 BANDELOW, Das Angstbuch, 31. Siehe auch ebd., 37. 269 Ebd., 342. 270 RIEMANN, Grundformen der Angst und die Antinomien des Lebens, 7. 271 „,2016 ist das Jahr der Ängste‘“, so der zusammenfassende Kommentar von Manfred G. Schmidt, Politologe an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Berater des R+V-Infocenters bezugnehmend auf die Ergebnisse der von der R+V Versicherung initiierten Studie „Die Ängste der Deutschen 2016“, online unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/695 28/Die-Aengste-der-Deutschen-2016-Gesundheit-nur-noch-im-Mittelfeld [aufgerufen am 03.07. 2022]. Als ein aktueller wissenschaftlicher Beitrag zum Thema Angst zählt der 2016 und 2017 bereits in zweiter Auflage herausgegebene interdisziplinäre Sammelband mit dem Titel Angst. Philosophische, psychopathologische und psychoanalytische Zugänge, der die Vorträge der 2014 abgehaltenen interdisziplinären Tagung an der Forschungsstelle der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg beinhaltet. Der Sammelband umfasst eine Zusammenstellung unterschiedlicher Betrachtungen der Angst, nämlich aus philosophischer, psychotherapeutischer, theologischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Damit bildet dieser ein von May betontes Anliegen, disziplinenübergreifend zu arbeiten, ab. Während einige der Autoren auf
Das ‚Zeitalter der Angst‘: Eine bleibende Zeitdiagnose | 133
explizit als ein Thema der modernen Gesellschaft bezeichnet, das alle sozialen Grenzen übergreift. Im Anschluss an Niklas Luhmann versteht er Angst als das „Apriori moderner Gesellschaften, auf das sich alle Gesellschaftsmitglieder einigen können“272. Eine ähnliche Zeitdiagnose nimmt auch die Philosophin und Schriftstellerin Thea Dorn in einem Gespräch mit dem Kulturphilosophen Byung-Chul Han vor: „Einer der größten Gegner der Freiheit ist die Angst, und ich habe den Eindruck, dass wir im Augenblick in einem extrem ängstlichen Zeitalter leben.“273 Mit Blick auf die Ausführungen zu Beginn des Kapitels, die zeigen, dass Angst ein „Grundproblem“ des Menschen zu allen Zeiten war und ist, scheint entscheidend, worauf Clement Reeves hinweist. Im Kontext des in Anlehnung an Auden charakterisierten Zeitalters der Angst schreibt er: „Das ist ein Zeitalter der Angst, nicht weil der Mensch niemals zuvor so ängstlich war wie heute, sondern weil der Mensch sich niemals zuvor so differenziert und analytisch mit seiner eigenen Angst beschäftigt hat.“274 Paul Tillichs The Courage to Be und Rollo Mays The Meaning of Anxiety stellen wichtige zeitdiagnostische Analysen des Phänomens der Angst dar, die für unser 21. Jahrhundert aktueller sind denn je. Der Vergleich zwischen Paul Tillich und Rollo May macht dabei deutlich, dass dieses Phänomen – wenn überhaupt – nur interdisziplinär erhellt werden kann. Der Psychotherapeut May bietet die medizinischen und psychotherapeutischen Grundlagen, die sich implizit in Tillichs Schrift The Courage to Be ausfindig machen lassen. Umgekehrt legt der Theologe und Philosoph Tillich eine ontologische Bestimmung der Angst vor, die erst in Mays spätere Arbeiten Eingang gefunden hat, wenn sie auch in gewisser Weise in The Meaning of Anxiety schon erste Spuren hinterlas-
|| Tillichs The Courage to Be zurückgreifen, bleibt Mays Schrift völlig unbeachtet. Ähnlich, aber wesentlich umfangreicher und teilweise mit Beiträgen von Autoren des oben genannten Sammelbandes, weist der von Lars Koch 2013 herausgegebene Sammelband Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch die Interdisziplinarität des Themas auf. Ebenso wie in dem vorherigen Sammelband ist es hier der Beitrag von Michael Bongardt, der auf Tillichs Angst-Analyse zu sprechen kommt. Er führt sogar Rollo May als einen Vertreter jener Psychotherapeuten an, die sich mit Søren Kierkegaard in Bezug auf die Angst beschäftigt haben, nimmt dabei jedoch nicht Mays Hauptwerk über die Angst in den Blick, sondern orientiert sich an dessen Schrift Die Erfahrung „Ich bin“. Sich selbst entdecken in den Grenzen der Welt (engl. Original: The Discovery of Being) und setzt May auch nicht in Verbindung zu Tillich. (Vgl. BONGARDT, Theologie der Angst, 27f.). Mit dem 2014 publizierten Buch Gesellschaft der Angst charakterisiert der Soziologe Heinz Bude Angst als das die gesamte moderne Gesellschaft prägende Prinzip und leistet damit einen Beitrag zur Thematisierung aus soziologischer Sicht. 272 BUDE, Gesellschaft der Angst, 11. 273 DORN/HAN, Dossier. Wie werde ich (ein bisschen) freier?, 60. 274 REEVES, The Psychology of Rollo May, 67.
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sen hat. Der Angst, die Tillich unausweichlich an den Seinsstatus des Menschen als endliches Geschöpf knüpft, gewinnt May eine positive Bedeutung ab, insofern ihr eine entscheidende Funktion in der Entwicklung des Selbst zukommt.275 Bewegt sich Angst – wie hier dargelegt – zwischen den Polen von ontologischer Unausweichlichkeit und existentieller Bedeutsamkeit, dann ist sie an den Menschen als solchen gebunden und bleibt ein nicht zu überwindendes Moment in der Menschheitsgeschichte, auch wenn sie vielleicht nur in Krisen- und Umbruchszeiten bei einer größeren Zahl von Menschen zu Bewusstsein kommt, während sie in Zeiten der Gesichertheit wohl eher in den Bereich des Unbewussten absinkt.
|| 275 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 380–393.
Freiheit Wenn die beiden begrifflichen Bilder – das Bild der Bedingtheit und das Bild der Freiheit – sich widersprechen, so heben sie sich gegenseitig auf. An eines von ihnen u n d an seine Negation zu glauben bedeutet, n i c h t s zu glauben und also k e i n Bild zu besitzen.1 Peter Bieri
1 Angst und Freiheit – zwei Seiten einer Medaille 1.1 Angst vor der Freiheit Eine Beschäftigung mit der Angst führt geradewegs in eine Beschäftigung mit dem Phänomen der Freiheit.2 Wenn dabei im vorherigen Kapitel die Pionierarbeit Søren Kierkegaards mit Blick auf die Beschäftigung mit der Angst herausgestellt wurde, dann gilt es, in diesem Kapitel über die Freiheit ebenso bei dem dänischen Denker anzusetzen. Annabelle Heise bringt in ihrer Dissertationsschrift Angst vor Freiheit in Theorie und Literatur nach 1970 die Bedeutung Kierkegaards hinsichtlich der Thematik auf den Punkt: In der immerwährenden Thematisierung der Angst als „elementarem Grundgefühl des Menschen“ schwang die Freiheitsangst oftmals nur implizit mit; „explizit findet Angst vor Freiheit allerdings erst Mitte des 19. Jahrhunderts Erwähnung in Søren Kierkegaards Werk Der Begriff Angst“.3 „Angst […] ist die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit“4, so benennt der dänische Denker die Wechselwirkung von Freiheit und Angst in einem viel zitierten Diktum. Demnach ist Angst der Ausgangspunkt der Freiheit, denn in der Angst erst zeigt sich die Möglichkeit der Freiheit.5 Sie zeigt
|| 1 BIERI, Das Handwerk der Freiheit, 22. 2 May bezeichnet Angst und Freiheit als zwei Seiten einer Medaille: vgl. MAY, Freedom and Destiny, 190. 3 HEISE, Angst vor Freiheit in Theorie und Literatur nach 1970, 30. 4 KIERKEGAARD, Der Begriff der Angst, 488. 5 Vgl. GRØN, Zweideutigkeiten der Angst, 61. Siehe auch GRØN, Angst bei Søren Kierkegaard, 25: „[…] in der Angst entdeckt ein Mensch die Freiheit, seine eigene Freiheit, als Möglichkeit.“ Diesen Gedanken greift May auf und verweist dabei auf Kierkegaard. MAY, Freedom and Destiny, 186: „Angst ist potentiell immer dann vorhanden, wenn wir frei sind; die Freiheit ist auf Angst und die Angst auf Freiheit ausgerichtet. Die Angst ist die Realität der Freiheit als eine Potentialität, bevor diese Freiheit materialisiert ist, so Kierkegaard. Denn Freiheit ist Möglichkeit, und wer soll vorhersagen, was das Endergebnis jeder Möglichkeit sein könnte?“ In einem https://doi.org/10.1515/9783110780581-006
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sich aber nicht als eine Möglichkeit wie andere Möglichkeiten und auch nicht als „verschiedene Möglichkeiten von Freiheit“6; die Möglichkeit der Freiheit ist die eine Möglichkeit, die der Mensch ergreifen kann, um er selbst zu werden.7 Michael Bösch bezeichnet in diesem Kontext Angst als den „psychologische[n] Ausdruck für die Gefährdetheit der Aufgabe, sich selbst in Freiheit zu bestimmen“8. Trotz dieser Gefährdetheit kann man nicht umhin, sich zur Möglichkeit der Freiheit zu verhalten: Selbst wenn der Mensch die Möglichkeit der Freiheit aus Angst nicht ergreift, trifft er eine Entscheidung.9 Arne Grøn leitet daraus den „aufdringlichen Charakter“10 der Möglichkeit der Freiheit ab, die als Aufgabe oder Forderung zu wählen an den Menschen herangetragen wird.11 Ähnlich aufdringlich liest sich Sartres bekannter Ausruf: „[D]er Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein.“12 Aus seiner atheistischen Position heraus versteht Sartre den Menschen als auf sich allein gestellt. Unverschuldet in die Welt geworfen, ist er von diesem Zeitpunkt an dazu verdammt, Verantwortung für all seine Entscheidungen zu tragen. Demnach ist Freiheit nicht nur Möglichkeit, sondern zugleich auch Aufforderung. Es geht in der Freiheit Kierkegaards sowie der auf ihn folgenden existentialistischen Denker um die „existentielle Wahl des Selbst“13.
1.2 Flucht vor der Freiheit aus Angst vor der Freiheit Eine solche Freiheit, die dem Menschen nicht nur als Geschenk, sondern auch als Aufgabe aufgetragen ist, scheint ihn zuweilen zu überfordern. Zeugnis davon gibt die Beschäftigung psychoanalytischer und psychotherapeutischer Denker mit dem Phänomen der Freiheit. Ein prominentes Beispiel ist die Schrift || Interview mit Jeffrey Mishlove verwendet May die treffende Formulierung: “Freedom is also the mother of anxiety.” (MAY, The Human Dilemma, 5:54–5:55). 6 GRØN, Angst bei Søren Kierkegaard, 25. 7 Vgl. ebd., 80. Siehe auch GRØN, Zweideutigkeiten der Angst, 61. Und ebd., 27: „Die Möglichkeit der Freiheit ist die Möglichkeit, sich selbst zu verhalten oder sich selbst zu bestimmen, aber auch die Möglichkeit, man selbst zu werden.“ 8 BÖSCH, Søren Kierkegaard, 41. Weiter heißt es: „Zu zeigen, wie der angstbestimmte Versuch, frei zu werden, immer wieder in Unfreiheit hineinführen und erst im Durchgang durch diese die wahre Freiheit erlangt werden kann, ist die eigentliche Thematik des Begriff Angst.“ 9 Vgl. GRØN, Angst bei Søren Kierkegaard, 27f. 10 Ebd., 27. 11 Vgl. ebd., 81. 12 SARTRE, Der Existentialismus ist ein Humanismus, 155. 13 HEISE, Angst vor Freiheit in Theorie und Literatur nach 1970, 37. Siehe JASPERS, Philosophie, Bd. II: Existenzerhellung, 179–183.
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Escape from Freedom, in der der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erich Fromm nach den psychologischen Faktoren fragt, die bewirken, dass der Mensch, hat er sich erst einmal die Möglichkeit der Freiheit erkämpft, diese nur allzu bereitwillig wieder aufgibt, statt sie zu verwirklichen.14 Das Werk erschien im Jahre 1941 vor dem Hintergrund der Erfahrung der Unterwerfung entweder unter ein totalitäres System oder unter das Prinzip der Konformität. Diese zeitgeschichtliche und gesellschaftliche Situation lässt Fromm nach den psychologischen Phänomenen fragen, die hinter der Flucht vor der Freiheit stehen, wie sie sich in diesen Tendenzen zur Unterwerfung manifestiert.15 Angesichts dieser Überlegungen Fromms sollte der englische Titel Escape from Freedom auch in der deutschen Übersetzung möglichst wörtlich wiedergegeben werden, nämlich als ‚Flucht vor der Freiheit‘ statt ‚Furcht vor der Freiheit‘. Die Flucht vor der Freiheit steht nach Fromm dem fortschreitenden Individuationsprozess konträr gegenüber, der „zwischen der Reformation und der Gegenwart seinen Höhepunkt erreicht zu haben“16 scheint. Den Grund dafür sieht er in der Dialektik der wachsenden Freiheit: Während der Mensch einerseits unabhängiger und selbstreferenzieller wird, drückt sich das andererseits in einer stärkeren Isolation, in Einsamkeit, Zweifel und Angst aus.17 Von einer Flucht vor der Freiheit schreibt auch Karl Jaspers, und er bringt diese mit dem Vermeiden von Entscheidungen in Verbindung. Aus Angst vor der Freiheit der Entscheidung kann der Mensch nach Jaspers geneigt sein, die Zeit der eigenen Entscheidungsmöglichkeit verstreichen zu lassen, um somit dem Treffen einer eigenen Entscheidung aus dem Weg zu gehen.18 Auf ähnlichen Beobachtungen basieren die Arbeiten von Rollo May und Irvin Yalom, die ebenso von einem Bewusstsein für das ängstigende Moment der Freiheit zeugen. In einer Zeit des Aufbrechens (starrer) Werte und Normen,19 die den Eindruck eines „Niemandsland[es] der Möglichkeiten“20 erweckt, lässt sich sowohl
|| 14 Vgl. FROMM, Die Furcht vor der Freiheit, 7f.: „Die These dieses Buches lautet, daß der moderne Mensch, nachdem er sich von den Fesseln der vor-individualistischen Gesellschaft befreite, die ihm gleichzeitig Sicherheit gab und ihm Grenzen setzte, sich noch nicht die Freiheit – verstanden als positive Verwirklichung seines individuellen Selbst – errungen hat; das heißt, daß er noch nicht gelernt hat, seine intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten voll zum Ausdruck zu bringen.“ 15 Vgl. ebd., 102. 16 Ebd., 24. 17 Vgl. ebd., 87f. 18 Vgl. JASPERS, Philosophie, Bd. II: Existenzerhellung, 183–185. 19 Vgl. MAY, Love and Will, 69; 187. Siehe auch YALOM, Existenzielle Psychotherapie, 268. 20 MAY, Freedom and Destiny, 191.
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beim Individuum als auch auf sozialer Ebene eine „verzweifelte Suche nach Schutz vor der Freiheit“21 beobachten. Dem Menschen seiner Zeit attestiert May einen Verlust der Willens- und Entscheidungskraft.22 Yalom bringt das Problem pointiert auf den Begriff der „Entscheidungspathologie“23. Die Flucht vor der Freiheit, die sich in der Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen und damit auch Verantwortung für getroffene Entscheidungen zu übernehmen, ausdrückt, thematisiert Yalom recht umfangreich in seinem Standardwerk Existenzielle Psychotherapie. Er fasst den Gedanken der Flucht vor der Freiheit aus Angst vor der Freiheit folgendermaßen zusammen: „Der Patient von heute muß eher mit der Freiheit als mit unterdrückten Trieben umgehen lernen.“24 Hinsichtlich dieser Reflexion Yaloms spricht Annabelle Heise auch von einer „Theorie der Freiheitsangst“25. Ihr zufolge ist Yalom der einzige Vertreter der Psychoanalyse, der eine solche in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat.26 Es ist Mays Überzeugung, dass Freiheit für den psychotherapeutischen Prozess eines der wichtigen Ziele ist, wenn man Freiheit als die Grundlage für das Gefühl der eigenen Mächtigkeit versteht, wie sie sich beispielsweise in Eigenverantwortlichkeit und Verantwortung ausdrückt, und in dem Gefühl, Möglichkeiten zu besitzen.27 Mit diesen Überlegungen stimmen Yalom und May in eine existenzphilosophische Überzeugung ein, die Freiheit, Angst und Entscheidung miteinander in Beziehung setzt und dem Menschen zur Aufgabe gibt. Das verdeutlichen bereits die kurzen Anmerkungen zu Kierkegaard, Sartre und Jaspers,
|| 21 YALOM, Existenzielle Psychotherapie, 268. 22 Vgl. MAY, Love and Will, 13–18; 181–201. Siehe auch DERS., Psychology and the Human Dilemma, 174: “When people come for therapy, they typically describe themselves as ‘driven,ʼ unable to know or choose what they want, and they experience various degrees of dissatisfaction, unhappiness, conflict, and despair.” Und DERS., Will and Decision in Existential Psychotherapy, 26: “Indeed, I believe a central core of modern man’s ‘neurosisʼ is the undermining of his experience of himself as responsible and the sapping of his willing and decision.” 23 YALOM, Existenzielle Psychotherapie, 268. 24 Ebd., 267. 25 HEISE, Angst vor Freiheit, 23f. 26 Vgl. ebd. Aus diesem Grund macht sie die Texte Yaloms zum Gegenstand ihrer Dissertation. Sie bezieht sich außerdem auf zwei Werke Mays: Antwort auf die Angst sowie Freiheit und Schicksal. 27 Vgl. MAY, Freedom and Destiny, 6; 10. Siehe hierzu LÄNGLE, Existenzanalyse der Freiheit, 137: „Freiheit ist auch ein deklariertes Thema der humanistischen Psychologie […] und jeder existentiellen Psychotherapie, bei der es zentral um das Thema Entscheidung geht.“ Längle verweist in diesem Zusammenhang auf May und Yalom. (Vgl. LÄNGLE, Existenzanalyse der Freiheit, 137 Anm. 433).
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und das werden auch die noch folgenden Überlegungen zu Tillichs Freiheitskonzeption zeigen.
2 Freiheit bei Rollo May und Paul Tillich Das Freiheitsdenken Tillichs und Mays bewegt sich nicht unmittelbar im Kontext der großen klassischen Fragen nach der Willens- und der Handlungsfreiheit des Menschen, sondern beansprucht, mit einem ontologischen Zugang den Kern menschlicher Freiheit zu erhellen: In [!] Freiheit ist nicht irgendein Willensfreiheitsproblem oder Determinismus-Indeterminismusproblem gemeint, sondern die Tatsache, dass der Mensch ein Selbst ist und eine Welt hat, dass er Normen anerkennen und ihnen widersprechen kann, dass er nicht reagiert in Form eines mechanischen stimulus-response, sondern dass er reagiert durch das Zentrum seines Seins, und das heißt: entscheidend, erwägend, Gründe vorbringend und schließlich sich für dies oder das einsetzend. Diese Möglichkeit ist dadurch gegeben, dass der Mensch frei ist, und das ist die Definition von Freiheit. Diese Freiheit des Menschen, die ontologisch ist und vor jeder anderen Freiheit liegt, die die Grundlage der juristischen Freiheit ist, dass jemand Person ist, der ethischen Freiheit, dass jemand verantwortlich ist, der Grund dafür, dass wir gegen Verdinglichung reden – diese Freiheit ist nicht die Willkür des Indeterminismus, sondern es ist eine zu beschreibende Struktur des menschlichen Seins, nämlich zu beschreiben als die Fähigkeit habend, durch ein erwägendes und entscheidendes Zentrum hin zu handeln.28
Tillich erklärt hier jede reduktionistische Form der Diskussion um die menschliche Freiheit als notwendig gescheitert, steht sie doch auf einem falschen Fundament: dem „Boden des Dinghaften“29 – und Freiheit ist, worauf auch Karl Jas-
|| 28 EW XVI 257f. Siehe auch EW XVI 73–76; STI 215. Siehe HORSTMANN-SCHNEIDER, Sein und menschliche Existenz, 48: „Freiheit ist nicht exklusiv als ‚Wille‘ zu verstehen, der eine Funktion neben den übrigen (menschlichen) Funktionen ausführt und determiniert sein kann oder nicht, sondern Tillich will die Freiheit aus der Erfahrung heraus, in der sie dem Menschen gegeben ist, begreifen. Seiner Freiheitslehre liegt eine ganzheitliche Auffassung vom Menschen zugrunde: der Mensch als personales Selbst und nicht ein bestimmter Teil von ihm ist frei, weshalb der Lehre von der Willensfreiheit bei Tillich kein Platz eingeräumt wird.“ 29 EW XVI 73ff: „Ich glaube, dass diese Diskussion von vornherein ohne Resultat bleiben muss, weil der Boden, aus dem sie vor sich geht, der Boden des Dinghaften ist. Man greift aus den Elementen des menschlichen Seins eines heraus, nämlich das Ding ‚Willen‘, und dann debattiert man, was für Eigenschaften dieses Ding hat. Aber in dem Moment, wo das Ding ‚Willen‘ herausgegriffen ist, ist der Determinismus notwendig im Recht. […] Wir müssen alle diese Grundlagen angreifen und müssen vor allem sagen: Freiheit ist nicht Freiheit einer besonderen Funktion, nämlich des Willens, sondern die Freiheit des Menschen. Wir sollen nicht
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pers immer wieder hingewiesen hat, das genaue Gegenteil des „Dinghaften“. Sie hat – wie Transzendenz – für ihn einen „ungegenständlichen“ Charakter und kann deswegen auch nicht Thema der Einzelwissenschaft sein.30 Auf gleiche Weise distanziert sich auch May davon, eine Abhandlung über die Willensfreiheit zu bieten, versteht er wie Tillich den Willen doch nur als einen Teil des Menschen, während Freiheit jedoch das Sein des Menschen als Ganzen betreffe. Wörtlich heißt es: „Es ist der ganze Mensch, der frei ist, nicht ein Teil von ihm oder ihr wie der Wille.“31 Auffallend ist hier die Ähnlichkeit des Wortlauts mit Blick auf Tillichs Beitrag Freiheit im Zeitalter des Umbruchs aus dem Jahre 1940, wo dieser schreibt: „Der Mensch, und nicht ein Teil des Menschen, ist frei.“32 Zwei Aspekte legen es nahe, dass May bei seinen Freiheitsreflexionen deutliche Anleihen bei Tillich macht: Zum einen wird er Tillichs Ausführungen zum Thema Freiheit gekannt haben, zum anderen bewegt sich der
|| mehr von Willensfreiheit reden, sondern von dem Menschen als endlicher Freiheit. Der Mensch ist dasjenige Sein, das eben kein Ding ist, sondern ein voll verantwortliches Selbst, eine rationale Person, die eine Welt und eine Gemeinschaft hat. Wenn man den Wunsch hat, das persönliche Zentrum, die Ganzheit, Willen zu nennen, dann soll man das nicht zu sehr verkennen. Aber es hat sich gezeigt, dass das überaus irreleitend ist. Wenn der Wille dann als ein psychologisches Problem aufgefasst wird, wird jeder Psychologe die Determiniertheit entdecken, und jeder Ethiker wird dagegen protestieren, und beide können sich nichts antun, weil sie beide von falschen Voraussetzungen ausgehen. Darum schlage ich vor, dass wir in aller künftigen Ontologie von Freiheit des Menschen, nicht von Freiheit des Willens reden und damit andeuten, dass jedes Teil des Menschen, jede Zelle, teilhat an dieser Freiheit, dass nichts in uns, weder das Körperliche, noch das Seelische, noch das Geistige von dieser Freiheit ausgenommen ist. […] Die Freiheit ist die Zentriertheit, die Ganzheit aller Elemente des menschlichen Seins.“ Siehe auch ST I 200: „Wird die Freiheit als Ding unter Dingen gedacht, so ist ihre Existenz fragwürdig.“; ST I 215f. 30 Vgl. SCHÜSSLER, Jaspers zur Einführung, 71–84, bes. 71. 31 MAY, Freedom and Destiny, 9f.: “It is the whole human being who is free, not a part of him or her such as will.” Weiter schreibt er: “Surely will is important, as we will later indicate when we emphasize freedom as that capacity to state ‘I willʼ and ‘I can.ʼ But this ‘I willʼ speaks not from a given faculty, as implied in ‘free will,ʼ but from the whole self, including such diverse aspects of the self as freedom to move one’s muscles, freedom of imagination, freedom to dream, freedom to commit oneself – indeed, freedom of the total human being. Even in the capacity not to believe in free will is itself an exercise of freedom.” – Der letzte Satz macht schon auf die Selbstwidersprüchlichkeit der Leugnung der Freiheit durch den Menschen aufmerksam. Einen ähnlichen Ansatz hat auch schon Thomas von Aquin vertreten, der nach Peter Nickl die Freiheit des Willens ebenso nur als „ein Element innerhalb eines komplexen Gefüges“ versteht. (NICKL, Thomas von Aquin und Meister Eckhart, 101). 32 GW X 182.
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Psychotherapeut May mit seinen Aussagen zur Willensfreiheit und zum Determinismus auf einem genuin philosophischen Terrain.33 Die Nähe der beiden Denker in ihren Ausführungen über die menschliche Freiheit könnte zunächst überraschen, blicken sie doch entsprechend ihrer unterschiedlichen Nationalität, politischen Erfahrungen und Profession von ganz unterschiedlichen Standpunkten auf dieses Phänomen. Schon die Tatsache, dass Tillich gezwungen war, seine Heimat zu verlassen, hat ihn die Grenzen der physischen Freiheit existentiell erfahren lassen. May hingegen ist aufgewachsen im Land der Freien, wie es sich in der amerikanischen Nationalhymne sowie in der Declaration of Independence selbst versteht. Dieses Selbstverständnis prägt auch die Menschen seiner Zeit, bei denen er wahrnimmt, dass es an einem Bewusstsein für eine natürliche Grenze der eigenen Freiheit fehlt – eine Grenze, die nach May dieser aber gerade ihre Realisierbarkeit gibt: das Schicksal.34
2.1 Rollo May Den Ausgangspunkt für seine Reflexion über die menschliche Freiheit bildet für Rollo May das zu seiner Zeit in den USA vorherrschende Freiheitsverständnis. Dieses unterzieht er einer eingehenden Kritik, und er sucht mit seiner Schrift Freedom and Destiny ein differenziertes und tragfähiges Verständnis von Freiheit aufzuzeigen.35 In diesem Sinne kritisiert er auch den Behaviorismus, der in den Zeiten der Unsicherheit, die die Jahre zwischen den Weltkriegen und nach dem Zweiten Weltkrieg prägte, eine zu simple Botschaft vermittelte, indem er „ein Entkommen vor der Verantwortung, vor Verwirrungen und besonders vor der Freiheit“ versprach.36 Wenn auch aus zeitgeschichtlicher Perspektive das
|| 33 Vgl hierzu KEIL, Willensfreiheit, 1: „,Willensfreiheit‘ gehört zu jenen Wörtern, deren bloßes Vorkommen anzeigt, dass von Philosophischem die Rede ist.“ 34 Vgl. MAY, Freedom and Destiny, 16. Siehe auch DERS., Freedom and Destiny, 68: “We were created free, the American Declaration of Independence tells us, and hence we assume there are no limits. Freedom thus has lost its viability; it has vanished like the flame going out in our fireplace just when we need it most.” 35 Vgl. ebd., 16. 36 Vgl., ebd., 201: “It cannot be by accident that behaviorism dominated the half century (from the 1920s to the 1970s) that has faced vast problems such as nuclear fission, concentration camps, the aftermath of one world war and the agonizing endurance of the second, the period that includes the ‘age of anxiety,ʼ when inflation and unemployment occur simultaneously, when there is an energy crisis, and so on endlessly. The distraught age was offered a
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Bedürfnis nach einfachen und sicheren Antworten nachvollziehbar ist, macht May dennoch auf die Schwäche dieser Strömung aufmerksam, die seiner Interpretation nach das Selbst und damit auch die Freiheit leugnet.37 Was May hier für den Behaviorismus beklagt, das kritisiert er auch allgemein an der Ausbildung von Psychologinnen und Psychologen, die seiner Meinung nach die Auseinandersetzung mit der Freiheit ausklammern.38 Die Vorstellung eines grenzenlosen Daseins sowie die behavioristische Vertröstungsstrategie entsprechen nicht dem, was er unter Freiheit versteht. Programmatisch stellt er folgende Reflexion über die Freiheit seinen Ausführungen in Freedom and Destiny voran: Diese persönliche Freiheit, authentisch/selbstständig zu denken, zu fühlen und zu sprechen und sich dessen bewusst zu sein, ist die Eigenschaft, die uns als Menschen auszeichnet. Immer im Paradox mit dem eigenen Schicksal, ist diese Freiheit das Fundament menschlicher Werte wie Liebe, Mut, Aufrichtigkeit. Freiheit ist die Art und Weise, wie wir uns zu unserem Schicksal verhalten, und Schicksal ist nur bedeutsam, weil wir Freiheit haben. Im Kampf unserer Freiheit gegen das Schicksal und mit ihm werden unsere Kreativität und unsere Zivilisationen geboren.39
Damit gibt er einen Ausblick auf die dem Vorwort seines Werkes folgenden Überlegungen. Dem Zitat folgend sind es drei Aspekte, die sein Freiheitsverständnis wesentlich bestimmen: erstens, dass Freiheit etwas zutiefst Innerliches, Personales ist,40 das – zweitens – mit dem Schicksal in einem paradoxen Verhältnis steht, und schließlich drittens die Fähigkeit, sich seiner selbst und damit der eigenen Freiheit bewusst zu sein. 2.1.1 Innere Freiheit Mit der Verlagerung der Freiheit in das Innere bindet Rollo May ihre Wurzel an das Menschsein schlechthin. Entgegen der Vorstellung, die Freiheit des Menschen basiere auf äußerer, d.h. politischer Freiheit, stellt May heraus, dass Freiheit „im Wesentlichen (essentially) ein innerer Zustand“41 ist. Eine stärkere Ak-
|| simple gospel promising escape from responsibility, from confusion, and especially from such difficult problems as freedom.” 37 Vgl. ebd., 137. 38 Vgl. ebd., 54. 39 Ebd., Foreword. 40 Dem Zitat vorausgehend schreibt er von der „inneren persönlichen Freiheit des Individuums“. (MAY, Freedom and Destiny, Foreword). 41 Ebd., 57. Ähnlich formuliert es Roger Mehl: „Es ist ganz klar, daß die gesellschaftlichen und politischen Freiheiten, so kostbar sie auch sein mögen, keine innere Freiheit geben. […] Ohne die Unterstützung zu verachten, die die bürgerliche Freiheit sowie die Vertragspraxis der inne-
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zentuierung erfährt diese Unterscheidung mit Blick auf die englische Terminologie. Während die äußere, sich auf die politischen Verhältnisse beziehende Freiheit in dem Begriff liberty ihren Ausdruck findet, ist es das bedeutungstragende Nomen freedom, das die Freiheit als inneren Zustand bezeichnet.42 Eine ähnliche Unterscheidung trifft Ernst Tugendhat in seinem Beitrag Der Begriff der Willensfreiheit. Auch Tugendhat sucht die „innere Freiheit“, die er auch als „innere Autonomie“43 bezeichnet, gegen die „äußere Autonomie“, die er mit „Freiheit im politischen Sinn“44 gleichsetzt, abzugrenzen. May weiß sein Verständnis von Freiheit als ‚innere Freiheit‘ durch Menschen wie Giordano Bruno und Galileo Galilei bestätigt. Beide hielten auch angesichts äußerer Bedrohung an der Freiheit ihrer Gedanken fest. Giordano Bruno und eine Vielzahl weiterer Personen nahmen für die Verwirklichung ihrer Freiheit sogar den eigenen Tod in Kauf.45 Dazu schreibt May: „Freiheit muß einen tiefen Sinn haben, muß elementar verknüpft sein mit dem ‚Kern‘ des Menschseins, um ein Objekt der Hingabe zu sein.“46 Und weiter: Dieser ‚Kern‘, dieser ‚geheime Ortʽ ist absolut notwendig für unser Überleben als Menschen. Er gibt dem Menschen ein Gefühl des Seins; er gibt ihm die Erfahrung von Autonomie, Identität, die Fähigkeit, das Pronomen ‚Ichʽ mit seiner ganzen Bandbreite von Bedeutungen zu benutzen.47
May gibt hier die Worte aus einem Interview mit einem Strafgefangenen in San Quentin wieder, der die ‚innere Freiheit‘ als eine verborgene und geheime Stelle charakterisiert, derer er sich mit seinen Gedanken, die er als unantastbar erfährt, bedienen kann.48 Von dieser unantastbaren Stelle, die die ‚innere Freiheit‘
|| ren Freiheit gewähren können, muß also an der grundsätzlichen Behauptung Luthers festgehalten werden, die wahre Freiheit sei die innere Freiheit des Menschen.“ (MEHL, Art. Freiheit V, 530f.). 42 Vgl. MAY, Freedom and Destiny, 57. 43 TUGENDHAT, Der Begriff der Willensfreiheit, 374f. 44 Ebd., 375. 45 Vgl. MAY, Freedom and Destiny, 3. Siehe dazu auch SCHÜSSLER, Jaspers zur Einführung, 116: Karl Jaspers beruft sich ebenfalls auf Galilei und Bruno, und zusätzlich auf Sokrates. Er tut dies aber nicht im Kontext der Darstellung der inneren Freiheit, vielmehr bringt Jaspers das Beispiel dieser namhaften Personen, um an ihnen den Unterschied zwischen philosophischer und wissenschaftlicher Wahrheit deutlich zu machen. 46 MAY, Freedom and Destiny, 3. 47 Ebd., 57. 48 Vgl. ebd., 56: “They have tried to negate my existence – and almost succeeded. They have left me with nothing, nothing except an inner core, a secret, private place they have not yet found how to get to. […] It is where I think of who I am, where I try to understand the what and
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kennzeichnet, schreibt bereits einige Jahre zuvor Viktor E. Frankl in seinem nach dem Überleben des Konzentrationslagers verfassten Werk …trotzdem Ja zum Leben sagen. Es ist jene Freiheit, die er als das „Eigentliche“49 des Menschen bezeichnet und die bewirkt, dass ein Mensch „auch hier [sc. unter den Gegebenheiten des Konzentrationslagers] noch Mensch bleibt und die Menschenwürde bewahrt“.50 Eine so geartete Freiheit erschöpft sich nicht in einer bloßen Entscheidungs- und Willensfreiheit. Vielmehr ist jene Art der Freiheit, die den Menschen in Zeiten der äußeren Unfreiheit am Leben erhalten und ihn, wie oben beschrieben, zu einer völligen Hingabe befähigen kann, umfassender und tiefer verwurzelt; jene Freiheit berührt das Sein des Menschen. Der Schwierigkeit einer Definition dieser Freiheit ist sich May durchaus bewusst: Was aber macht das Wesen der Freiheit aus? Es ist für die Freiheit ganz kennzeichnend, dass man ihre Natur nicht festlegen kann. Ihre Funktion besteht darin, sich zu ändern, nicht zu bleiben, was sie gerade ist. Freiheit ist die Möglichkeit, sich zu entwickeln, sein Leben zu erweitern, oder die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, sich abzuschließen, das eigene Wachstum zu leugnen und zu verhindern. Paul Tillich erklärte es als das Wesen der Freiheit, dass sie sich selbst bestimmt.51
Das Problem einer Definition der Freiheit kennt auch Karl Jaspers. Dieses liegt ihm zufolge im ungegenständlichen Wesen der Freiheit begründet.52 May führt auch die bereits angesprochene Zurückhaltung der Psychologie hinsichtlich
|| why of my enemies, and where I keep alive my will to live in a hell where I am made to feel like a nothing, at best an animal, a wild animal in captivity. […] Although I sometimes get depressed and feel like giving up, the discovery of my thoughts gives me joy. For until they find a way to take my thoughts away, I am free. Knowledge is freedom, and is the source of hope in this most hopeless of all places. A man can live without liberty but not without freedom.” Zu San Quentin, „Kaliforniens härtestem Gefängnis“ vgl. den Artikel: http://www.spiegel.de/pano rama/gesellschaft/san-quentin-fotos-vom-alltag-in-kaliforniens-aeltestem-gefaengnis-a-84590 4.html [aufgerufen am 03.07.2022]. Die Worte des Häftlings erinnern an ein bekanntes deutsches Volkslied, in dem es heißt: „Es bleibet dabei, die Gedanken sind frei.“ Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Artikel der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahre 2010, der auf Versuche und erste Errungenschaften der Neurowissenschaft, die Gedanken des Menschen zu lesen, aufmerksam macht. Vgl. WESTERHOFF, Wie frei sind die Gedanken noch?, online unter: https://www.sueddeutsche.de/wissen/neurowissenschaft-wie-frei-sind-die-gedanken-noch1.907906 [aufgerufen am 03.07.2022]. 49 FRANKL, …trotzdem Ja zum Leben sagen, 102. 50 Vgl. ebd., 101–104, bes. 103. 51 MAY, Freedom and Destiny, 5. Bei Tillich findet sich diese Definition in GW X 181. 52 Vgl. JASPERS, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 153.
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einer Beschäftigung mit der Freiheit auf deren nicht festlegbaren Charakter zurück.53 Einen ersten Zugang zum Wesen der Freiheit sucht May über eine Art via negationis, indem er sagt, was sie nicht ist.54 Hierin besteht eine gewisse Ähnlichkeit seines Ansatzes mit der sogenannten negativen Theologie, die der Überzeugung ist, dass man von Gott nur sagen kann, was er nicht ist, nicht aber, was er ist.55 Dennoch versucht May mit der Unterscheidung von ‚Freiheit des Handelns oder existentielle Freiheit‘ und ‚Freiheit des Seins oder essentielle Freiheit‘ den Freiheitsbegriff in seinem eigenen Verständnis näher zu umschreiben. Diese Unterscheidung soll im Folgenden betrachtet werden. 2.1.2 ‚Freiheit des Handelns oder existentielle Freiheit‘ Mit ‚Freiheit des Handelns oder existentieller Freiheit‘ bezeichnet May jene Freiheit, die das alltägliche Leben begleitet.56 Um einem Missverständnis vorzubeugen, hebt Rollo May in diesem Zusammenhang eigens hervor, dass der Begriff ‚existentielle Freiheit‘ nicht mit Freiheit im existenzphilosophischen Sinne verwechselt werden darf. Zwar ist der Einfluss der Existenzphilosophie und ihrer Vertreter auf Mays Denken nicht zu leugnen, dennoch erhebt der Psychotherapeut hier den Anspruch, dass das von ihm entwickelte Verständnis von Freiheit im Sinne der ‚existentiellen Freiheit‘ sein eigenes und nicht der Existenzphilosophie entlehnt ist.57 Was in der Existenzphilosophie in der Regel unter Freiheit verstanden wird, geht in die Richtung dessen, was May unter ‚essentieller Freiheit‘ versteht. Besonders anschaulich lässt sich nach May diese erste Form der Freiheit, die ‚Freiheit des Handelns oder existentielle Freiheit‘ in der Fähigkeit, Fragen zu stellen, aufzeigen, impliziert doch schon das bloße Aufkommen einer Frage eine Vielzahl von Antwortmöglichkeiten: „Das ist Freiheit; es bedeutet, dass in dem, was ich frage, eine Möglichkeit steckt, eine gewisse Freiheit der Aus-
|| 53 Vgl. MAY, Freedom and Destiny, 53. 54 Vgl. ebd., 52: “Freedom, by nature, is elusive. The word is difficult to define because of its quicksilver quality: freedom is always moving. You can state what it is not or what you desire to get free from – which is why the phrase ʼfreedom from‘ should never be disparaged. But it is difficult to designate what freedom is. Thus we always hear of the struggle for, the fight for freedom.” 55 Vgl. dazu KREMER, Plotins negative Theologie, 9–27. 56 Vgl. MAY, Freedom and Destiny, 53f. 57 Ebd., 53 Anm.
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wahl.“58 Anders als beispielsweise beim Einkaufen im Supermarkt – wo der bewusste Einsatz von Farbe und Slogan die Produktauswahl entschieden mitbestimmt59 – deutet May das Wechselspiel von Frage und Antwort nicht im Sinn einer bloßen Reaktion auf die Reize, die von außen eindringen, sondern vielmehr als „ein Miteinbringen des Lebens der betreffenden Person, eine Einladung zur Beteiligung, zur Kontaktaufnahme, den Appell, einen neuen Gedanken ins Auge zu fassen“60. Die ‚Freiheit des Handelns oder existentielle Freiheit‘, die die sichtbare Form der Freiheit darstellt, verortet May auf der „psychologischen Ebene“61, und er macht sie damit zum Thema der Psychologie und Psychotherapie. Dies entspricht Mays eigenem psychologischen Ansatz, den Menschen existentiell und in seinem Dasein zu begreifen. Im Gegensatz dazu steht die ‚Freiheit des Seins oder essentielle Freiheit‘ auf der Ebene der Philosophie. Diese Zuordnung findet sich zwar nicht explizit in Mays Werken, doch legt es sich von der Sache her nahe. 2.1.3 ‚Freiheit des Seins oder essentielle Freiheit‘ Die ‚Freiheit des Seins oder essentielle Freiheit‘ zeigt sich abgrenzend zu der ersten Form in der Einstellung des Menschen.62 Wenn May die Freiheit des Seins als die „Quelle, aus der heraus die ‚Freiheit des Handelns‘ geboren wird“, definiert, dann versteht er darunter so etwas wie die „Ursprungsebene der Freiheit des ‚Handelns oder existentiellen Freiheit‘“.63 Dies führt zurück zu Mays Auffassung der menschlichen Freiheit als ‚innere Freiheit‘, zeichnet die grundlegende Einstellung des Menschen doch ein innerer Prozess aus, der erst in der Handlung seinen Ausdruck findet. Den Aufweis für die Realität jener ‚Freiheit des Seins oder essentielle Freiheit‘ erbringen in eindrucksvoller Weise Schilderungen von KZ-Gefangenen, die sich, bei all der Unfreiheit, die dieses System der Unterdrückung und Entmenschlichung kennzeichnete, eines nicht nehmen ließen: ihre ‚innere Freiheit‘, die sich in ihrer inneren Einstellung ausdrückte.64 An dieser Stelle ist es wert, nochmals Frankl zu Wort kommen zu lassen, verdeutlicht er doch anschaulich den inneren Zusammenhang zwischen der ‚ei-
|| 58 Ebd., 54. 59 Vgl. ebd. 60 Ebd., 55. 61 Ebd., 54. 62 Vgl. ebd., 55. 63 Ebd. 64 Vgl. ebd., 55; 58.
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gentlichen‘ Freiheit des Menschen – der ‚Freiheit des Seins oder essentiellen Freiheit‘ – und der grundlegenden Einstellung, wenn er davon spricht, „daß man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Und es gab ein ‚So oder so‘!“65 In seinem Werk ...trotzdem Ja zum Leben sagen berichtet Frankl an zahlreichen Stellen von der Bewunderung, die er für jene Menschen verspürt, die in ihrem Verhalten gegenüber ihren Mitmenschen (sei es das Verhalten der Häftlinge untereinander, die Einstellung einzelner Häftlinge gegenüber der SS oder aber auch umgekehrt) den Aufweis erbrachten, „daß also ein Rest von geistiger Freiheit, von freier Einstellung des Ich zur Umwelt auch noch in dieser scheinbar absoluten Zwangslage, äußeren wie inneren, fortbesteht“66. In diesem Zusammenhang stellt Frankl die Frage nach dem Wesen des Menschen, und er gibt zur Antwort: „Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist. Er ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat; aber zugleich ist er auch das Wesen, das in die Gaskammern gegangen ist aufrecht und ein Gebet auf den Lippen.“67 Entscheidend für das Formen und Gewahr-Werden der inneren Haltung ist nach May das Moment der Pause, der Unterbrechung, in der sich der Mensch für die Realisierung seiner Freiheit notwendiger Fähigkeiten bedienen kann: „Diese Freiheit des Seins oder essentielle Freiheit begreift in sich die Fähigkeit, zu reflektieren, nachzudenken, und daraus erwächst die Freiheit, Fragen zu stellen, und sei’s, ohne sie auszusprechen.“68 Die zentrale Funktion, die diesem Moment der Pause zukommt, bringt er wie folgt auf den Punkt: „Die Bedeutung der Pause beruht darauf, daß sie die strikte Kausalkette von Ursache und Wirkung unterbricht.“69 Das heißt, der Mensch ist nicht zu einem notwendigen ReizReaktion-Schema gezwungen, wie es beim Tier der Fall ist70 und wie es der Behaviorismus (B. F. Skinner) auch in Bezug auf den Menschen vertritt. Vielmehr
|| 65 FRANKL, …trotzdem Ja zum Leben sagen, 102. 66 Ebd.: „Wer von denen, die das Konzentrationslager erlebt haben, wüßten nicht von jenen Menschengestalten zu erzählen, die da über die Appellplätze oder durch die Baracken des Lagers gewandelt sind, hier ein gutes Wort, dort den letzten Bissen Brot spendend?“ Siehe hierzu auch MAY, Freedom and Destiny, 55. 67 FRANKL, …trotzdem Ja zum Leben sagen, 130. 68 MAY, Freedom and Destiny, 55. Siehe auch DERS., Love and Will, 269: “But the planning, the forming, the imagination, the choosing of values, the intentionality are the qualities of human freedom.” 69 MAY, Freedom and Destiny, 167. 70 Vgl. dazu auch ST II 38: „Der Mensch ist frei, insofern er die Macht hat, zu überlegen und zu entscheiden und dadurch den Reiz-Reaktionsmechanismus zu durchbrechen.“
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ist es dem Menschen möglich, innezuhalten und zu staunen und sich in dem Moment der Pause der Fülle der Möglichkeiten zu öffnen und die Freiheit zu nutzen, „zwischen mehreren Möglichkeiten wählen zu können“71. In Man’s Search for Himself führt May diese Fähigkeit des Menschen auf das Bewusstsein des Selbst (counsciousness of self) zurück.72 Dieser Gedanke findet sich bereits in The Art of Counseling, wo er mit dem Hinweis auf die Fähigkeit des Menschen, aufgrund seiner Freiheit die Ketten des Reiz-Reaktion-Mechanismus unterbrechen zu können, den Menschen vom Tier unterscheidet.73 Für die Idee der Pause, die den Raum für die Möglichkeit einer Reflexion eröffnet, zieht May Hannah Arendt als Gewährsfrau heran.74 Arendt macht diesen Aspekt in ihren Überlegungen zum Denken im ersten Teil ihrer Schrift Vom Leben des Geistes nachdrücklich stark. Denken und Innehalten sind für Arendt untrennbare Momente, die zur Folge haben, dass jede andere Tätigkeit zum Stillstand kommt.75 Die bisherigen Ausführungen unterstreichen Mays Charakterisierung der Freiheit als einen wesentlich „inneren Zustand“.76 Dennoch weist er an diesem Punkt zu Recht die Vorstellung der inneren Freiheit als reinen „Geisteszustand“ (state of mind)77 zurück und beugt damit möglicher Kritik vor. Demgegenüber betont er die Wirkkraft der ‚inneren Freiheit‘, wie sie sich in der Geschichte der Menschheit gezeigt hat: „Es gibt keine echte innere Freiheit, die nicht früher oder später auch die Geschichte der Menschheit beeinflußt und verändert.“78 Beispielhaft führt May Martin Luther King an.79 Eine „Sehnsucht nach Freiheit“80 fand ihren Ausdruck auch in der Declaration of Independence (1776), und es war das Gefühl von ‚innerer Freiheit‘, das für das Überleben von Viktor E. Frankl und vielen anderen KZ-Häftlingen von nicht zu unterschätzender Bedeutung war.81 May protestiert gegen eine Reduzierung der ‚inneren Freiheit‘ auf einen „Geis|| 71 MAY, Freedom and Destiny, 169. Siehe auch DERS., Contributions of Existential Psychotherapy, 41. Siehe auch TUGENDHAT, Der Begriff der Willensfreiheit, 391: „Es ist gerade das Überlegen, in dem der Freiheitsspielraum des So-oder-So-Könnens für den Handelnden selbst geöffnet ist.“ 72 Vgl. MAY, Man’s Search for Himself, 119. 73 Vgl. MAY, The Art of Counseling, 51. 74 Vgl. MAY, Freedom and Destiny, 167. 75 Vgl. ARENDT, Vom Leben des Geistes. Das Denken, 14; 84; 175. 76 MAY, Freedom and Destiny, 57. 77 Ebd. 78 Ebd. 79 Vgl. ebd. 80 RAGER/VON BRÜCK, Grundzüge, 102. 81 Vgl. MAY, Freedom and Destiny, 57.
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teszustand“, wenn er sagt: „Die subjektive und die objektive Seite der Freiheit können nie voneinander getrennt werden.“82 Auch Frankl macht diesen Zusammenhang der subjektiven und objektiven Seite der Freiheit deutlich, wenn er mit Bezug auf das menschliche Verhalten einiger Mithäftlinge von einer „Beweiskraft“83 und einem Akt des Zeugnisablegens spricht.84 Eine Verharmlosung der essentiellen Freiheit im Sinne einer bloßen Idee verbietet sich also im Hinblick auf die Tatsache, dass sie zwar ein „innerer Zustand ist“, aber einer, „der in jeder Handlung erneut bekräftigt werden muß“85: „Zur Freiheit des Seins kommt es erst, wenn die Individuen in ihren eigenen Muskeln, in ihren eigenen Herzen fühlen können, daß sie sich selbst eingebracht haben, daß sie ‚gesprungen‘ sind, daß sie das Gefühl der Würde erlangt haben, ohne das Freiheit nicht wirklich erfahren werden kann.“86 Das Verb „gesprungen“ evoziert Kierkegaards Theorie vom „Sprung“, den der Mensch auf dem Weg zur Selbstwerdung immer wieder aufs Neue wagen muss.87 Zugleich erinnern Mays Worte an Jaspers, demzufolge es an mir liegt, was ich werde.88 Ähnlich der Selbstwerdung handelt es sich beim „Freiwerden“ des Menschen folglich um einen Prozess, der immer wieder neu gewagt, erkämpft und bekräftigt werden muss. ‚Freiheit des Handelns oder existentielle Freiheit‘ und ‚Freiheit des Seins oder essentielle Freiheit‘ bezeichnen dem Gesagten zufolge unterschiedliche Aspekte der Freiheit und sind auf verschiedenen Ebenen zu verorten, gleichzeitig aber nicht voneinander zu trennen. Vor diesem Hintergrund stellt May zurecht die Frage nach einem möglichen Widerspruch zwischen den beiden Spielarten der Freiheit.89 Die entscheidende Schnittstelle zwischen existentieller und essentieller Freiheit stellt m.E. das Moment der Pause dar, wenn sich der Mensch in diesem kurzen oder langen Augenblick der Entfaltung seiner inneren und persönlichen Freiheit bewusst wird und aus der dort geformten Einstellung handelt. Für diese Brückenfunktion der Pause spricht zum einen, dass May dieser Thematik in seinem Werk einen breiten Raum einräumt,90 zum anderen, dass er sie sowohl im Kontext seiner Diskussion der existentiellen Freiheit als
|| 82 Ebd. 83 FRANKL, …trotzdem Ja zum Leben sagen, 102. 84 Vgl. ebd., 103. 85 FARMER, Freedom – When?, 35. – Zit. nach MAY, Freedom and Destiny, 77. 86 MAY, Freedom and Destiny, 77. 87 Vgl. WESCHE, Art. Sprung, 241–243. Siehe auch PIEPER, Søren Kierkegaard, 48–60. 88 Vgl. JASPERS, Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung, 354. 89 Vgl. MAY, Freedom and Destiny, 60. 90 May widmet dieser Thematik ein ganzes Kapitel: Ebd., 163–184.
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auch der Erörterung der essentiellen Freiheit behandelt.91 Sichtbar und fassbar wird das Zusammenspiel beider Formen der Freiheit in Mays Überlegungen zum Wirken der subjektiven, essentiellen Freiheit auf der Ebene der objektiven Seite der existentiellen Freiheit. Gleichzeitig machen in besonderer Weise Frankls Schilderungen deutlich, dass bisweilen erst der Entzug der ‚Freiheit des Handelns oder existentiellen Freiheit‘ im Menschen größere Kräfte freisetzt und ihn befähigt, seine innere Freiheit zu behaupten. Bedeutet das aber, so ließe sich hier berechtigterweise fragen, dass also nur diejenigen Menschen zu wahrer Freiheit gelangen können, die die Strapazen der Unterdrückung erlebt haben, und der „normale“ Mensch in Unfreiheit lebt? Diese Behauptung weist May mit dem Hinweis auf das persönliche Schicksal eines jeden Menschen zurück und stellt stattdessen die Frage: „Ist nicht unser Schicksal selbst unser Konzentrationslager?“92 2.1.4 Werkgeschichtliche Entwicklungen Während Freedom and Destiny, das erst 1981 erschienen ist, zu den Spätwerken Mays zählt, lässt sich bereits in seinem ersten veröffentlichten Werk The Art of Counseling eine Beschäftigung mit der Freiheit konstatieren.93 Die werkgeschichtliche Betrachtung veranschaulicht, dass Mays Beschäftigung mit der Freiheit einerseits kontinuierliche Aspekte aufweist, andererseits eine Weiterentwicklung und terminologische Differenzierung bzw. Konkretisierung seines Freiheitsverständnisses erkennen lässt. Die sehr frühe Schrift The Springs of Creative Living. A Study of Human Nature and God aus dem Jahre 1940 (Mays zweite Publikation) sowie das Hauptwerk zur Freiheitsthematik Freedom and Destiny rahmen diese Entwicklungen. Die These einer Rahmung basiert auf der Beobachtung, dass May in The Springs of Creative Living ein ganzes Kapitel der Thematik ‚Freedom and Destiny‘ widmet.94 Auffallend ist, dass er hier, anders als es die Formulierung Freedom and Destiny vermuten lässt, von „Freiheit und Determiniertheit“ spricht.95 Eine ähnliche Terminologie verwendet May in den Werken, die er vor Freedom and Destiny verfasst hat. Auch hier dominiert in seiner Auseinandersetzung mit der Freiheitsthematik der Begriff „determina-
|| 91 Vgl. ebd., 54f. 92 Ebd., 61. 93 Vgl. MAY, The Art of Counseling, 51–53. 94 Vgl. MAY, The Springs of Creative Living, 61–79. 95 Ebd., 70: “His underlying difficulty was that he could not achieve a polarity between his freedom and determination.”
Freiheit bei Rollo May und Paul Tillich | 151
tion“. Sowohl in The Art of Counseling (1939)96 als auch in Man’s Search for Himself (1953), das sich mit der Frage nach einem Bewusstsein für das eigene Selbst in einer Zeit beschäftigt, in der das Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit überwiegt, behandelt May die Freiheitsthematik im Kontext der Frage, wie der Mensch ein Bewusstsein für das eigene Selbst entwickeln kann. Schon hier plädiert May für ein realistisches Freiheitsverständnis, das die deterministischen Faktoren des Lebens nicht außer Acht lässt. Terminologisch unterscheiden sich die Ausführungen hier zu jenen in Freedom and Destiny, wenn May statt von Schicksal von „deterministischen Realitäten“ (deterministic realities) oder „Begrenzungen“ (limitations) spricht.97 Ähnliches lässt sich auch in Psychology and the Human Dilemma (1966) beobachten. Hier fasst er solche Momente, die einer absoluten Freiheit gegenüberstehen, unter der Bezeichnung „determinierende Erfahrungen“ (deterministic experiences) oder „unbegrenzte deterministische Kräfte“ (infinite deterministic forces) zusammen.98 In Love and Will (1969) beginnt May seine deterministische Terminologie zu öffnen und spricht vom Menschen als Mitgestalter des Schicksals (We are indeed co-creators of our fate).99 Gänzlich überwunden sind diese deterministischen Tendenzen allerdings erst in Freedom and Destiny, wo er sein deterministisches Vokabular durch den Begriff des Schicksals ersetzt. Von entscheidender Bedeutung in Mays Terminologie in Bezug auf die Freiheitsthematik dürfte seine Auseinandersetzung mit Tillichs Freiheitsverständnis gewesen sein. Dessen klare Bestimmung von Freiheit und Schicksal als Polarität ist sicherlich ein Faktor, der zur terminologischen Präzisierung auf Seiten Mays beigetragen hat. Daher soll nun ein Blick auf Tillichs Freiheitskonzeption geworfen werden, bevor Mays Orientierung an Tillichs Freiheitsverständnis im Abschnitt über die Interdependenzen zwischen beiden Gegenstand der Untersuchung sein wird.
|| 96 Vgl. MAY, The Art of Counseling, 52: “This is not to say, let it be remembered, that there are not an infinite number of determining influences playing upon the individual from all sides at all moments […].” 97 MAY, Man’s Search for Himself, 120f. 98 Vgl. MAY, Psychology and the Human Dilemma, 175. 99 MAY, Love and Will, 270.
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2.2 Paul Tillich 2.2.1 Die Freiheitsthematik im Denken Paul Tillichs Jede Fokussierung der Freiheit auf die „sogenannte ‚innere Freiheit‘“100 muss nach Tillich verworfen werden. Tillich hat bei dieser Aussage zwar vor allem die Religion und den Idealismus im Blick, angesichts der oben stehenden Ausführungen zum Freiheitsverständnis Mays lässt die Aussage jedoch nach der Vereinbarkeit beider Freiheitskonzeptionen fragen. Im Zuge der Darlegung der Interdependenzen, die eine große Nähe beider Freiheitskonzeptionen aufweisen, wird sich die Frage nach der Vereinbarkeit positiv beantworten lassen. Abgrenzend lässt sich jedoch schon vorab festhalten, dass der Theologe und Philosoph Paul Tillich in seinem Denken immer wieder um das Phänomen der Freiheit kreist und es von verschiedenen Perspektiven zu erhellen versucht.101 Dabei lassen sich unterschiedliche Kontexte ausmachen, in denen er sich der Freiheitsthematik widmet. Bereits in seinen frühen Schriften findet sich eine Thematisierung der Freiheit. Die religionsphilosophischen Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Freiheit in der Systematischen Theologie von 1913 nimmt Christian Danz zum Ausgangspunkt seiner Studie und fasst das Verhältnis begrifflich unter dem Titel der Arbeit Religion als Freiheitsbewusstsein zusammen. Ausgehend von Tillichs Bestimmung von Religion als „zugleich Bewußtsein der Freiheit dem Absoluten gegenüber und Gebundenheit an das Absolute“102 leitet Danz das Motiv der endlichen Freiheit ab, das ein prominentes Sujet in Tillichs Denken bleibt. Im zweiten Band seines Hauptwerks Systematische Theologie dient der Begriff der endlichen Freiheit dazu, die Beziehung zwischen Gott und Welt auszudrücken und dabei die räumlichen Vorstellungen von „in“ und „über“ des Naturalismus und Supranaturalismus zu umgehen.103 Auch die Sündenlehre Tillichs ist nach Ulrike Murmann „aus dem Vollzug der menschlichen Freiheit zu rekonstruieren“104. Diesem Gedanken geht Murmann in ihrer Dissertationsschrift Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde nach und greift dazu auch auf Tillichs Lehre von der endlichen Freiheit zurück.105 Was Tillich || 100 GW X 188. 101 Zum Freiheitsbegriff als einem zentralen Moment im Denken Tillichs siehe: DANZ, Religion als Freiheitsbewußtsein, 3; WENZ, Subjekt und Sein, 57; SCHÜSSLER, Der Mensch und die Philosophie, 235. 102 EW IX 290 Anm. 39. 103 Vgl. ST II 14. Siehe auch DANZ, Religion als Freiheitsbewußtsein, 1f. 104 MURMANN, Freiheit und Entfremdung, 13. 105 Vgl. ebd., 163–165.
Freiheit bei Rollo May und Paul Tillich | 153
mit endlicher Freiheit meint, wird an späterer Stelle noch einmal vertieft. In seinem Beitrag Freedom in the Period of Transformation bringt Tillich Freiheit und Geschichte in einen unauflöslichen Zusammenhang, indem er Freiheit als „Bedingung der Geschichte“ und Geschichte als „Bedingung der Freiheit“ charakterisiert.106 Dieser Beitrag muss May bekannt gewesen sein, entlehnt er dieser Schrift doch die Ausführungen zum Wesen der Freiheit. Er verwendet dabei einen sehr ähnlichen Wortlaut.107 Schließlich spielt Tillichs Freiheitskonzeption eine zentrale Rolle in seinen anthropologischen und ontologischen Überlegungen. Bedeutende Texte, die dies illustrieren, sind seine Vorlesung zur Religionsphilosophie sowie die Materialien zur Lehre vom Menschen aus den Jahren 1934/35, die Erdmann Sturm im siebzehnten Band der Ergänzungs- und Nachlassbände herausgegeben hat,108 die Systematische Theologie109 sowie die Vorlesungen zur Ontologie110 und zur menschlichen Situation im Lichte der Theologie und Existentialanalyse, worin er seine christliche Lehre vom Menschen entwickelt.111 In Tillichs Freiheitskonzeption laufen verschiedene Aspekte zusammen, die an anderer Stelle dieser Arbeit bereits behandelt wurden bzw. die es noch zu thematisieren gilt, wie die Unterscheidung von Essenz und Existenz, das Konzept der Polaritäten, der Aufweis der Selbstzentriertheit des Menschen sowie die
|| 106 Vgl. GW X 182. Tillich veröffentlichte den Beitrag in dem 1940 von Ruth Nanda Anshen herausgegebenen Sammelband Freedom: Its Meaning. Abgedruckt findet sich der Beitrag in MW III 457–473 sowie die dt. Übersetzung in GW X 181–201. Das Ehepaar Ruth Nada Anshen und Ralph Brodsky boten in ihrem Salon in New York zahlreichen Intellektuellen und Emigranten die Möglichkeit des Austausches; so auch Tillich, der darüber auch abseits des Union Theological Seminary mit zahlreichen Persönlichkeiten in Kontakt kam. 107 Vgl. MAY, Freedom and Destiny, 5: “To answer these questions we need to understand the uniqueness of freedom. Every other reality in human experience becomes what it is by its nature. […] ‘It is the nature of freedom,’ Paul Tillich declares, ‘to determine itself.’” Siehe MW III 458: “In order to answer this question we must first understand the unique nature of freedom. Freedom has an ambiguity in its very nature by which it is distinguished from every other reality. Everything except freedom is determined by its own nature. […] It is the nature of freedom to determine itself.” May verweist nur in diesem letzten Satz auf Tillich, gibt dazu aber keine Quelle an. 108 In der Vorlesung zur Religionsphilosophie findet sich ein Abschnitt mit dem Titel Die rationale Struktur des Menschen und die Idee der Freiheit: EW XVII 23–29. Der Text zur Lehre vom Menschen (EW XVII 157–347) ist keine vollständig zusammenhängende Vorlesung, sondern eine Sammlung von Skizzen, die in unterschiedlichen Kontexten entstanden. Siehe dazu die Anmerkungen von Erdmann Sturm in dem Band: EW XVII V. 109 Vgl. ST I 214–218. 110 Vgl. EW XVI 72–87. 111 Vgl. ebd., 247–300.
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Freiheit des Menschen verstanden als endliche Freiheit. Die Darstellung der Freiheitskonzeption Tillichs beschränkt sich daher im Folgenden auf wenige Anmerkungen. Die übrigen erwähnten Aspekte werden an dem ihnen gebührenden Ort innerhalb dieser Arbeit behandelt. 2.2.2 Freiheit als das „wesentlichste Merkmal des Menschen“ „Freiheit ist diejenige Qualität, die den Menschen zum Menschen macht.“112 Diese Aussage macht deutlich, dass Freiheit von zentraler Bedeutung für Tillichs anthropologische Überlegungen ist. Der Freiheitsbegriff zieht sich nach Werner Schüßler „wie ein roter Faden durch alle Texte zur Philosophischen Anthropologie“ der amerikanischen Zeit.113 Während die Freiheitslehre nach Tillich den zentralen Aspekt jeder philosophischen Lehre vom Menschen bildet, kulminieren in der Lehre von der menschlichen Endlichkeit ein zugleich philosophischer sowie theologischer Aspekt.114 Christian Danz zufolge versucht sich Tillich mit seinen Überlegungen zum Menschen von „gegenstandsorientierten Konzeptionen“ abzugrenzen.115 Dazu dient ihm der Begriff des Sich-selbstHabens, den Tillich dynamisch verstanden wissen möchte: Wer sich selbst hat, ist nicht festgelegt und besteht nicht aus festgelegten Eigenschaften.116 Mit jedem lebendigen Sein teilt der Mensch in Bezug auf die Welt einen „Wechsel von Empfangen und Reagieren“117. Hier klingt an, was Tillich in Bezug auf das Leben überhaupt sagt, nämlich dass es sich immer in der „Grundbewegung“118 von Hinausgehen über sich selbst und Zurückkehren zu sich selbst vollzieht. Leben ist also immer ein Wechsel von Begegnung mit der Welt und Begegnung mit sich selbst.119 Im Gegensatz zu allen anderen lebendigen Wesen sieht Tillich die Sonderstellung des Menschen in dem Moment der Durchbrechung des unmittelbaren Reiz-Reaktions-Schemas begründet, was ihn dazu befähigt, die Unmittelbarkeit der Reaktion auf Eindrücke aus seiner Welt und
|| 112 EW XVII 199. Daher bezeichnet Tillich die Freiheit auch als das „wesentlichste Merkmal des Menschen“ (GW X 181). 113 SCHÜSSLER, Der Mensch und die Philosophie, 235. 114 Vgl. EW XVII 199. Siehe DANZ, Angst, endliche Freiheit und der Fall des Menschen bei Schelling, Kierkegaard und Tillich, 12. 115 DANZ, Angst, endliche Freiheit und der Fall des Menschen bei Schelling, Kierkegaard und Tillich, 12. 116 Vgl. EW XVII 198. 117 Ebd., 23. 118 EW XVI 352. 119 Vgl. ebd. Siehe auch SCHÜSSLER, „Healing Power“, 279–281.
Freiheit bei Rollo May und Paul Tillich | 155
Umwelt zu unterbrechen.120 Hierin weist sein Denken Berührungspunkte mit Schelers Weltoffenheit und Helmuth Plessners Lehre der exzentrischen Positionalität auf, die dem Menschen ebenso die Möglichkeit und Fähigkeit des Heraustretens aus der unmittelbaren Reiz-Reaktion-Folge attestierten.121 Was May an dieser Stelle mit dem Moment der Pause ausgedrückt hat, bezeichnet Tillich als die „Macht des Denkens“: „Diese Macht, von der Beziehung der Dinge zu sich selbst abzusehen, ist eine speziell menschliche Macht, es ist die Macht des Denkens.“122 Aus diesem rationalen Vermögen ergeben sich nach Tillich ein theoretisches und ein praktisches Verhalten des Menschen, das jeweils seiner Freiheit Ausdruck gibt: In theoretischer Hinsicht kann der Mensch die Eindrücke, die ihm von der Welt entgegenkommen, empfangen, ohne darauf reagieren zu müssen.123 Auf dieser theoretischen Ebene drückt sich die Freiheit nach Tillich in der Macht aus, Fragen zu stellen.124 In praktischer Hinsicht kann der Mensch „ohne unmittelbare Notwendigkeit“ „von sich selbst aus“ handeln und damit seine Freiheit manifestieren.125 Die praktische Ebene umfasst dabei die „Macht, nach Normen oder gegen Normen zu handeln“.126 Grundgelegt ist dieses Vermögen in der Vernunft, die Tillich als „Struktur der Freiheit“127 bezeichnet. Die Möglichkeit des Heraustretens aus der Gebundenheit an die Umwelt liegt in der Sprachfähigkeit des Menschen begründet. Diesen Gedanken verdankt Tillich vor allem den Arbeiten des Neurologen Kurt Goldstein.128 Katja Bruns sieht in der Sprachanalyse den deutlichsten Einfluss Kurt Goldsteins auf Tillichs Freiheitskonzeption.129 Tillich zufolge besteht für Goldstein Freiheit wesentlich in der „Fähigkeit, die Fesselung an die konkrete Situation zu lösen“. Aus eben dieser Fähigkeit eröffnet sich auch die Möglichkeit der religiösen Frage.130
|| 120 Vgl. EW XVII 23; ST II 38. 121 Vgl. SCHELER, Die Stellung des Menschen im Kosmos; PLESSNER, Die Stufen des Organischen und der Mensch, 288–293. 122 EW XVII 24. 123 Vgl. ebd. 124 Vgl. ebd., 27. 125 Ebd., 24f. 126 Ebd., 27. 127 ST I 298. 128 Vgl. GW XII 306. 129 Vgl. BRUNS, Anthropologie zwischen Theologie und Naturwissenschaft bei Paul Tillich und Kurt Goldstein, 211–243. 130 GW XII 306.
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Was er in der Vorlesung Philosophy of Religion131 am Union Theological Seminary als die Fähigkeit des Menschen, das Reiz-Reaktions-Schema zu durchbrechen, genannt hat, bringt Tillich in den Darlegungen in The Doctrine of Man132 in dem darauffolgenden Semester 1934/35 mit der Eigenschaft des Menschen, Welt zu haben, in Verbindung.133 Dieser Aspekt, das hat die Darstellung der Selbst-Welt-Korrelation im ersten Teil der Arbeit gezeigt, wird ein Kerngedanke in Tillichs Existentialontologie. Die Nähe der anthropologischen Aspekte zu den ontologischen Überlegungen unterstreicht den Charakter seiner Ontologie als einer ‚anthropologisch gewendeten Ontologie‘.134 Die Wechselwirkung von Anthropologie und Ontologie ist für ihn Bedingung der Möglichkeit jedweder künftigen Ontologie.135 Der Mensch als Ganzer ist für Tillich wesentlich frei. Freiheit ist nicht nur ein Aspekt, der den Willen oder den Geist des Menschen kennzeichnet.136 Die Freiheit des Menschen ist für Tillich dabei auch in ihrer letzten Konsequenz die „Freiheit, sich selbst zu verlieren“137. Der Mensch, der sich wesentlich durch Freiheit auszeichnet, steht nach Tillich immer auch in der Gefahr, durch die Ausübung seiner Freiheit seinem Wesen zu widersprechen.138 Christian Danz führt die mit diesem Gedanken vollzogene Weitung des Freiheitsbegriffs Kants auf Tillichs Schelling-Lektüre zurück.139
3 Die Polarität von Freiheit und Schicksal: Interdependenzen in der Beschäftigung mit Freiheit 3.1 Die Begriffe Polarität und Paradox Der Freiheit, die sowohl Tillich als auch May im Wesen des Menschen festmachen, stellen sie das Schicksal zur Seite und verbinden beide in einer unauflöslichen Wechselbeziehung miteinander. Diese Verknüpfung von Freiheit und Schicksal ist freilich keine innovative Eigenleistung von Tillich und May, son-
|| 131 Vgl. EW XVII 1–55, bes. 23–29. 132 Vgl. ebd., 157–314. 133 Vgl. ebd., 200. 134 Vgl. RÖBEL, Mut und Partizipation, 79. Siehe S. 68f. in dieser Arbeit. 135 EW XVI 75. 136 Vgl. auch EW IX 288. 137 EW XVII 276. 138 Ebd. 139 Vgl. DANZ, Das Göttliche und das Dämonische, 9.
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dern sie knüpfen hierbei an Überlegungen an, die sich auch bei Søren Kierkegaard140 und später auch bei Viktor E. Frankl141 finden. Bemerkenswert bei Tillich und May ist jedoch die Art und Weise, wie sie die Wechselbeziehung von Freiheit und Schicksal näherhin charakterisieren, nämlich als Polarität bzw. als Paradox. In den Ausführungen zur Existentialontologie Tillichs wurde schon deutlich, dass die Lehre von der Polarität ein entscheidendes Moment in dessen Wirklichkeitsverständnis darstellt. Gleiches lässt sich über Mays Denken sagen: Es ist klar, dass viele Themen, Konzepte und Fragestellungen als zentral für das Weltbild von Rollo May bezeichnet werden können. Was jedoch an Mays Denken besonders auffällig ist, ist das Kernprinzip, das allen seinen Hauptanliegen zugrunde zu liegen scheint. Dies ist das Prinzip der Dialektik oder des Paradoxons. Eine Analyse von Mays Hauptwerken legt nahe, dass die Konzeption des Paradoxons tatsächlich die Grundlage seiner philosophischen Weltanschauung ist. Sie steht im Zentrum seiner Überzeugungen über die menschliche Natur, die psychische Gesundheit und Dysfunktion sowie seiner Kritik im Bereich der Psychologie und Kultur. Tatsächlich könnte man legitimerweise sagen, dass Mays Weltbild ohne das Prinzip des Paradoxen nicht richtig verstanden werden kann.142
Während May überwiegend den Begriff Paradox, Tillich dagegen den Begriff Polarität verwendet, stimmen beide Denker in der Bedeutung der Begriffe überein, indem sie auf eine notwendige Abhängigkeit zweier Aspekte voneinander hinweisen.143 Im allgemeinen Sprachempfinden ist es dagegen nicht nahelie-
|| 140 Vgl. BÖSCH, Søren Kierkegaard: Schicksal – Angst – Freiheit. Wenn das Werk ursprünglich als Dissertationsschrift unter dem Titel Schicksal und Freiheit in der Philosophie Søren Kierkegaards eingereicht wurde, worauf Bösch hinweist, dann wird an dem Titel schon deutlich, dass die beiden Momente Freiheit und Schicksal auch bei Kierkegaard zusammen zu denken sind. Vgl. ebd., 5. 141 FRANKL, Ärztliche Seelsorge, 406: „Das Schicksal gehört zum Menschen wie der Boden, an den ihn die Schwerkraft fesselt, ohne die aber das Gehen unmöglich wäre. Zu unserem Schicksal haben wir zu stehen wie zu dem Boden, auf dem wir stehen – ein Boden, der das Sprungbrett unserer Freiheit ist. Freiheit ohne Schicksal ist unmöglich; Freiheit kann nur die Freiheit gegenüber einem Schicksal sein, ein freies Sich-verhalten zum Schicksal. Wohl ist der Mensch frei, aber er ist nicht gleichsam freischwebend im luftleeren Raum, sondern findet sich inmitten einer Fülle von Bindungen.“ 142 KISER, Sacred Dialectic, 191. 143 MAY, Freedom and Destiny, 66: “I use the word paradox to describe the relationship between two opposing things which, even though they are posited against each other and seem to destroy each other, cannot exist without each other. God and the devil, good and evil, life and death, beauty and ugliness – all these opposites appear to be at odds with each other. But the paradox is that the very confrontation with the one breathes vitality into the other.” Siehe auch DERS., Freedom and Destiny, 95. Tillich definiert den Begriff Polarität wie folgt: „Polaritäten sind Begriffe, die voneinander abhängig sind, die sozusagen die beiden Enden einer Linie
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gend, diese beiden Begriffe synonym zu verwenden. Während dem Begriff Paradox zunächst etwas Negatives anhaftet, versteht man unter Polarität eine neutrale Verhältnisbestimmung. Bei Tillich begegnet der Begriff Paradox eher im Kontext theologischer Aussagen. Die Lehre von Jesus als dem Christus nennt Tillich paradox, was er im Sinne des griechischen Begriffs para doxa, also „gegen die Selbstbeurteilung und gegen die Erwartungen des Menschen gerichtet“144 verwendet. Damit versucht er eine Befreiung des Begriffs Paradox von negativen Konnotationen wie irrational oder sinnlos.145 Freiheit und Schicksal sind für Tillich aber „zueinander relativ und durcheinander bedingt“, was sie als „echte Polaritäten“ auszeichnet.146 May scheint demgegenüber die Begriffe Paradox und Polarität zuweilen synonym zu gebrauchen,147 letztlich überwiegt aber der Begriff Paradox. Was aber verstehen Tillich und May unter dem Begriff Schicksal, den sie dem Begriff der Freiheit in einem Verhältnis der Polarität bzw. des Paradox gegenüberstellen?
3.2 Schicksal als die Totalität menschlichen Seins May greift zur Bestimmung seines Schicksalsverständnisses zunächst den in seinen Augen fälschlichen Gebrauch des Begriffs Determinismus als Gegenpol zu dem auf, was er als ‚Freiheit des Seins‘ umschrieben hat. Aus dem Bereich der klassischen Physik stammend, fehlt dem Begriff Determinismus auf den Menschen angewandt nach May etwas Entscheidendes, nämlich die „zahllosen Nuancen der menschlichen Erfahrung“148 und damit die Ebene des Bewusstseins. Demnach unterscheidet er zwischen Determinismus und Schicksal, indem er den Determinismus den „unbeseelten Dingen“ zuordnet, Schicksal aber aufgrund der Fähigkeit des Menschen, sich seiner Begrenztheit bewusst zu sein, mit dem Menschen in Verbindung bringt.149 Freiheit, die den Determinismus als
|| sind, auf der die eine nicht ist, wenn die andere nicht ist. […] eine Polarität, in der das eine wegfällt, wenn das andere wegfällt.“ (EW XVI 21). 144 ST II 100. 145 Vgl. ebd., 100ff. 146 EW XVI 80. 147 Vgl. MAY, Psychology and the Human Dilemma, Foreword: “polarity or paradox”. 148 MAY, Freedom and Destiny, 86f. 149 Vgl. ebd., 88. May schreibt weiter: “Determinism is one part of destiny. […] The radical shift from determinism to destiny occurs when the subject is self-conscious about what is happening to him or her. The presence of consciousness creates the context in which the human
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Gegenpol hat, ist jene, die May als ‚Freiheit des Handelns oder existentielle Freiheit‘ bezeichnet. Freiheit, lediglich als Handlungs- oder Entscheidungsfreiheit verstanden, führt jedoch nicht zu der eigentlichen Freiheit des Menschen, der ‚Freiheit des Seins oder essentielle Freiheit‘.150 Dieser Form der Freiheit steht als Gegenpol das Schicksal gegenüber. Bereits in der Etymologie des Begriffs Schicksal (destiny), welchen May anhand des Verbums „to destine“ („bestimmen, widmen, segnen“)151 und mit Verweis auf die Sinnverwandtschaft mit „destination“ (der Begriff beinhaltet die Bewegung auf ein Ziel hin)152 zu erhellen sucht, sieht der Psychotherapeut in den Elementen „Richtung“ und „Plan, Entwurf [und] Gestaltung“ „Aspekte der conditio humana“ gegeben, was er für die Unterscheidung des Schicksals von der Determiniertheit des unbeseelt Dinghaften für bedeutsam ansieht.153 Ähnlich schreibt auch Tillich, dass beim bloßen Dinghaften nicht von Schicksal gesprochen werden kann, sondern von unmittelbarer Notwendigkeit. Von Schicksal kann nach Tillich nur da gesprochen werden, wo auch Freiheit ist.154 Hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung heißt es bei May: „Ich definiere Schicksal als das Gefüge von Grenzen und Talenten, das die ‚Gegebenheiten‘ im Leben ausmacht.“155 Dabei stellt er vier Ebenen heraus, die das menschliche Schicksal konstituieren: die „kosmische Ebene“ (Geburt, Tod, Erdbeben, Vulkanausbrüche), die „genetische Ebene“ (körperliche Merkmale und Talente), die „kulturellen“ Gegebenheiten (Familie, Kultur, Geschichtsepoche) und schließlich jene Gegebenheiten, die „durch Umstände bedingt sind“ (das Steigen und Fallen der Aktienkurse, Kriegserklärungen).156 Eine solche Unterscheidung des Schicksals in verschiedene Bereiche findet sich auch bei Frankl, der von einem biologischen, einem psychologischen und einem soziologischen Schicksal spricht.157 Tillich fasst die Elemente des Schicksals etwas allgemeiner zusammen || being’s responses to his or her destiny occur.” Ebenso problematisch ist es, der Freiheit die Notwendigkeit als der sie begrenzende Pol gegenüberzustellen. Dazu schreibt Tillich: „Der Mensch ist Mensch, weil er Freiheit hat, aber er hat Freiheit nur in polarer Abhängigkeit von Schicksal. Der Ausdruck ‚Schicksal‘ ist in diesem Zusammenhang ungewöhnlich. Gewöhnlich spricht man von Freiheit und Notwendigkeit. Jedoch ist Notwendigkeit eine Kategorie und kein Element. Ihr Gegensatz ist Möglichkeit, nicht Freiheit.“ (ST I 214f.). 150 Vgl. MAY, Freedom and Destiny, 87. 151 Ebd., 89. 152 Vgl. ebd. 153 Vgl. ebd. 154 Vgl. MW I 310. 155 MAY, Freedom and Destiny, 89. 156 Vgl. ebd., 90f. 157 Vgl. FRANKL, Ärztliche Seelsorge, 410–419.
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als „dies oder das zu sein, in diesem und jenem Zeitalter, in diesem oder jenem Raum zu leben“158. Auch wenn ein so verstandenes Schicksal den Eindruck eines Gegensatzes zur Freiheit erweckt, muss es nach Tillich stattdessen als Hinweis auf die Bedingungen und Grenzen der Freiheit verstanden werden.159 Das Schicksal ist also nicht als eine von außen auf den Menschen einwirkende Macht zu verstehen. Es ist hingegen im Menschen selbst zu verorten, es ist sein Sein, mit dem er in der Welt ist und mit dem er Welt hat, indem er durch sein Handeln auf sie einwirkt – es ist sein Dasein.160 Dabei ist es nach May wichtig, das Schicksal nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt einer begrenzenden Form, als ein „dem Menschen auferlegtes Kreuz, eine Last und Fron aufzufassen“ – diese negative Form des Schicksals bezeichnet er mit dem Begriff „Fatum“.161 Vielmehr gilt es, die negativen Elemente des Schicksals in Verbindung mit den positiven wahrzunehmen, „wenn wir die Macht des Schicksals erfahren wollen“162. Alle bisherigen Aspekte formen ein Bild des Schicksals als eine umfassende Größe. Diesen Gedanken fasst Tillich folgendermaßen zusammen: Unser Schicksal ist das, aus dem unsere Entscheidungen hervorgehen; es ist die unbestimmt breite Basis unseres selbstzentrierten Selbst, es ist die Konkretheit unseres Seins, die all unsere Entscheidungen zu unseren Entscheidungen macht. Wenn ich eine Entscheidung treffe, so ist das, was entscheidet, die konkrete Totalität alles dessen, was mein Sein konstituiert, aber nicht ein erkenntnistheoretisches Subjekt. Zu dieser Totalität gehören Körperstruktur, psychische Strebungen, geistiger Charakter, außerdem die Gemeinschaften, zu denen ich gehöre, die nichterinnerte und die erinnerte Vergangenheit, die Umgebung, die mich geformt hat, die Welt, die mich geprägt hat. Es gehören dazu auch all meine früheren Entscheidungen. Schicksal ist nicht eine fremde Macht, die determi-
|| 158 EW XVI 79. 159 Vgl. ST I 217. Siehe auch GW XVI 79. 160 Vgl. ST I 215: „Das Schicksal weist auf diese Situation des Menschen hin: Er steht der Welt gegenüber und gehört ihr gleichzeitig an.“ 161 MAY, Freedom and Destiny, 94f. 162 Ebd. Erwähnenswert ist an dieser Stelle, was May über Tillich sagt: “One important source of Paulusʼ personal presence was his high degree of centeredness in himself. He could accept into himself the negative aspects of the self, his finitude, the fact that he was going to die, his illnesses, his limitations of knowledge and energy. He absorbed these realities without flinching. It wasn’t that he liked them – obviously he never did – but rather that he did not need to weaken himself by repressing these aspects of nonbeing. He was not fragmented by blocking off such parts of his personality. He is a good example of his own sentences in his The Courage to Be, ʽThe self is the stronger the more non-being it can take into itself.ʼ” (MAY, Paulus, 34).
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niert, was mir geschehen soll. Ich bin es selbst, und zwar geformt durch Natur, Geschichte und mich selbst.163
Das Schicksal, so wird aus dieser Passage deutlich, ist nicht etwas Punktuelles, das an bestimmten Punkten des Lebens eingreift und dieses bestimmt. Das Schicksal prägt den ganzen Menschen mit seiner Geschichte und seinen Entscheidungen. Damit bildet das Schicksal eine umfassende Größe, die das Körperliche, die Psyche und den Charakter ebenso umfasst wie die sozialen Beziehungen, die Umwelt und alle früheren Entscheidungen des Menschen. Der Mensch selbst, wie er durch Natur, Geschichte und sich selbst geformt wurde, ist sein Schicksal.164 Dieses Schicksal bestimmt die Freiheit also immer mit: „Freiheit ist die Möglichkeit eines totalen und zentrierten Aktes der Person, ein Akt, in dem alle Strebungen und Einflüsse, die des Menschen Schicksal konstituieren, in die zentrierte Einheit einer Entscheidung gebracht sind.“165 In diesem Zusammenhang lässt sich mit Paul Tillich auch auf die Schwäche zahlreicher Labor-Experimente hinweisen, die auszeichnet, dass sie die „Zentriertheit“ des Menschen auflösen, indem sie in einer künstlich herbeigeführten Situation nur einen Aspekt des Seins analysieren. Ein prominentes Beispiel dafür sind die sog. Libet-Experimente, auf die einzelne Hirnforscher sich auch heute noch berufen, um „Freiheit als reine Illusion aufzuweisen“.166
3.3 Freiheit als Selbstzentriertheit Ein Nachdenken über die Freiheit führt konsequenterweise auch zu einem Nachdenken über die Selbstzentriertheit. Dieser Gedanke ergibt sich vor allem aus Tillichs Existentialontologie. Freiheit und Schicksal bilden dort eines der polaren Elementenpaare, die die Bedingung für die Selbst- und Welterfahrung beschreiben.167 Ebenso wie Individualisation und Dynamik weist Freiheit auf die Selbstbezogenheit des Seienden hin. Nach Tillich zeichnet sich jedes Seiende dadurch aus, dass es zentriert ist, d.h. dass es in sich über ein Zentrum verfügt,
|| 163 ST I 217. 164 Die Überlegungen fokussieren sich in dieser Arbeit auf das Schicksal des Individuums. Alleine darauf reduziert Tillich diesen Begriff jedoch nicht, sondern er hat darüber hinaus ein universales Schicksal im Blick, in das die Freiheit des Menschen ebenso eingebettet ist. (Vgl. ST II 47). 165 ST II 50. Siehe auch EW XVI 75. 166 Vgl. SCHÜSSLER, „Healing Power“, 284f. 167 Vgl. MURMANN, Freiheit und Entfremdung, 130.
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das nicht geteilt werden kann. In seiner vollkommenen Form findet sich diese Zentriertheit allerdings nur beim Menschen, und deshalb kann auch nur beim Menschen von Freiheit gesprochen werden, wenn Freiheit – wie es das oben angeführte Zitat Tillichs impliziert – „die Möglichkeit eines totalen und zentrierten Aktes der Person“168 bedeutet. May folgt diesem Gedanken, wenn er die Freiheit im zentrierten Selbst lokalisiert und dabei auf Tillich verweist, dem er den gedanklichen Ursprung dieses Konzepts auch zuschreibt,169 wobei sich ähnliche Aussagen beispielsweise auch bei Helmuth Plessner finden, der den Menschen als das Lebewesen charakterisiert, das „als Mitte“ lebt.170 Die Idee der Selbstzentriertheit findet sich bei May ebenso wie bei Tillich nicht ausschließlich im Kontext der Freiheitskonzeption, sondern ebenso in ontologischen Überlegungen. In seinem Beitrag Existential Bases of Psychotherapy171 und auch in The Discovery of Being172 qualifiziert May die Zentriertheit als erstes von sechs ontologischen Charakteristika: „Jede existierende Person […] ist in sich selbst zentriert, und ein Angriff auf dieses Zentrum ist ein Angriff auf die Existenz selbst.“173 Aus diesem Verständnis der Person als in sich selbst zentriert resultiert nach May ein neues Verständnis von Neurose, indem er diese nicht mehr als mangelnde Anpassung an die Umwelt versteht, sondern als Versuch des Individuums, sein Zentrum und damit seine Existenz zu schützen.174 Die Neurose kann somit also selbst eine Form der Anpassung werden.175 Ähnlich wie Tillich unterscheidet May die Lebewesen hinsichtlich ihres Zentriertseins. May unterscheidet sich von Tillich aber dahingehend, dass er keine graduelle Unterscheidung des Zentriertseins der Lebewesen einführt,
|| 168 ST II 50. 169 Vgl. MAY, Psychology and the Human Dilemma, 177; 181 Anm. 4. Die Orientierung Mays an Tillichs Gedanken der Zentriertheit betonen auch REEVES, The Psychology of Rollo May, 253 und CARVALHO, Rollo R. May, 11. 170 Vgl. PLESSNER, Die Stufen des Organischen und der Mensch, 288–291: „Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte. Es erlebt Inhalte im Umfeld, Fremdes und Eigenes, es vermag auch über den eigenen Leib Herrschaft zu gewinnen, es bildet ein auf es selber rückbezügliches System, ein Sich, aber es erlebt nicht – sich. […] Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus.“ 171 Vgl. MAY, Existential Bases of Psychotherapy, 74–83, bes. 74f. 172 Vgl. MAY, The Discovery of Being, 26–34, bes. 26. 173 MAY, Existential Bases of Psychotherapy, 74. 174 Vgl. ebd., 75. Für eine Darstellung dessen, was unter dem viel und teilweise unkritisch verwendeten Begriff Neurose zu verstehen ist, siehe FRANKL, Theorie und Therapie der Neurosen. 175 Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 53.
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sondern hinsichtlich der Art der Aktualisierung ihrer Zentriertheit differenziert: Alle Lebewesen, so schreibt er, sind zwar „potenziell in sich selbst zentriert“176, doch ist eine Zentriertheit bei den meisten Lebewesen – hier beispielhaft im Falle des Baumes – per se gegeben, während die Realisierung der Zentriertheit beim Menschen von der Selbstbejahung des Individuums abhängt, die May mit Verweis auf Tillichs The Courage to Be unter den Begriff des Mutes fasst.177 Der Mensch ist folglich nur potentiell selbstzentriert und bedarf des Mutes, diese Zentriertheit zu bejahen und sie damit zu aktualisieren (the human beings centerdness depends upon his courage to affirm).178 Für diesen Gedanken zieht der Psychotherapeut May den Philosophen und Theologen Tillich als Gewährsmann heran, lässt jedoch außer Acht, dass sich der Mut der Selbstbejahung bei Tillich nicht auf die Zentriertheit des Selbst, sondern auf das Selbst als solches richtet, das durch das Nichtsein bedroht ist und sich durch die Bejahung seines Selbst immer wieder neu gegen dieses behaupten muss. Im vorherigen Kapitel wurde dies am Beispiel der Leere und Sinnlosigkeit illustriert, die dem Menschen des 20. Jahrhunderts als Drohungen gegenüberstehen, denen es mit dem „Mut zum Sein“ zu trotzen gilt.179 Hinsichtlich des generellen Zentriertseins findet sich bei Tillich kein Hinweis darauf, dass er dieses beim Menschen als Potentialität versteht, derer es eine Aktualisierung erst noch bedarf.180 Allerdings findet sich in der Systematischen Theologie auch eine Stelle, die Mays Interpretation stützen könnte, wenn es hier heißt: „Im Menschen ist völlige Zentriertheit zwar essentiell gegeben, sie ist aber nicht aktuell, solange der Mensch sie nicht in Freiheit und Schicksal verwirklicht.“181 Wenn May in einem späteren Werk schreibt, dass es in Zeiten des Umbruchs des Mutes bedarf, der noch ungewissen Zukunft entgegenzutreten, und dieser Mut ein Zentriertsein des Selbst verlangt (it requires a centeredness within our own being),182 dann liegt hier eine Ambiguität in seinem Verständnis des Begriffs der Zentriertheit vor, die darauf schließen lässt, dass er diesen anders als Tillich nicht konsequent durchdacht hat. War Zentriertheit zunächst etwas für den Menschen erst noch mit Mut zu Realisierendes, so ist sie hier die Voraussetzung
|| 176 MAY, Psychology and the Human Dilemma, 94. 177 Vgl. MAY, Existential Bases of Psychotherapy, 75f. Siehe hierzu die Ausführungen von REEVES, The Psychology of Rollo May, 54–56, an denen ich mich hier orientiere. 178 Vgl. MAY, Psychology and the Human Dilemma, 94. 179 Siehe S. 123–126 in dieser Arbeit. 180 Vgl. ST I 201: „Der Mensch ist das voll entwickelte und völlig zentrierte Selbst.“ Hervorh. d. Verf. 181 ST III 51. 182 Vgl. MAY, The Courage to Create, 13.
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für diesen Mut, mit dem es der ungewissen Zukunft zu begegnen gilt. Trotz dieser Unschärfe der Begrifflichkeit sieht Roy J. de Carvalho jedoch in Mays Idee der Zentriertheit einen seiner bedeutendsten Beiträge zum humanistisch-psychologischen Denken.183 Obschon sich May und Tillich im genauen Verständnis des Zentriertseins und seiner Funktion unterscheiden, kommen beide Denker darin überein, dass diese essentiell mit der Freiheit verknüpft ist. Für beide besteht nämlich die Freiheit in der Fähigkeit, aus der Totalität des Seins heraus zu handeln;184 das Zentrum des Selbst ist „Sitz und […] Organ“185 der Freiheit.
4 Ist Freiheit nur eine Illusion? 4.1 Endliche Freiheit Für das alltägliche Leben stellt sich die Frage nach der Freiheit gar nicht, so schreibt der Naturwissenschaftler und Philosoph Günter Rager. Freiheit ist „eine elementare Realität unseres Lebens“.186 Von dieser selbstverständlichen Überzeugung einer menschlichen Freiheit „außerhalb des philosophischen oder neurowissenschaftlichen Seminarraums“187 geht auch Julian Nida-Rümelin aus. Wenn Freiheit allerdings diese zentrale Bedeutung für unser Leben besitzt, stellt sich zwangsläufig die Frage, was eigentlich genau unter Freiheit zu verstehen ist. Gewöhnlich assoziieren wir mit dem Begriff Freiheit einen Zustand losgelöst von jeglicher Form von Zwang, sei er innerer oder äußerer Natur.188 Wir sind der Überzeugung, „jemand ist frei, wenn er tun und lassen kann, was er will“189. Bildet ein solches Verständnis einer absoluten Freiheit die Matrix unseres eigenen Selbstverständnisses als freie Individuen sowie die Hintergrundannahme zahlreicher neurowissenschaftlicher und medizinischer Forschungen, stoßen wir schnell an die Grenzen der Freiheit und müssen sie letztlich als nicht-existent
|| 183 Vgl. CARVALHO, Rollo R. May (1909–1994), 11. Zu Zentriertheit bei May siehe auch REEVES, The Psychology of Rollo May, 53–58. 184 Vgl. EW XVI 257f.; EW XVII 201. Siehe bei MAY, Psychology and the Human Dilemma, 177; DERS., The Art of Counseling, 52: “Rather, a man possesses freedom as a quality of his total being.” 185 ST I 217. 186 Vgl. RAGER/VON BRÜCK, Grundzüge einer modernen Anthropologie, 122. 187 NIDA-RÜMELIN, Über menschliche Freiheit, 13. 188 Vgl. RAGER/VON BRÜCK, Grundzüge einer modernen Anthropologie, 114. 189 BIERI, Das Handwerk der Freiheit, 44.
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abtun. Freiheit ist dann, wie einige Neurowissenschaftler proklamieren, nichts weiter als eine bloße Illusion.190 Die Frage nach der Freiheit des Menschen ist aber aufs Engste verknüpft mit der Frage nach seinem Selbstverständnis; mehr noch, sie ist nach Jaspers sogar mit der Frage nach dem Menschsein überhaupt verknüpft. Ohne Freiheit würde der Mensch nach Jaspers aufhören, Mensch zu sein.191 Dennoch scheint der Fortschritt in Wissenschaft und Technik und die Dominanz eines von den Naturwissenschaften bestimmten Weltbildes die Freiheit des Menschen und damit den Menschen zugunsten der Kategorie des Machund Messbaren ganz aufgegeben zu haben.192 Das daraus resultierende Menschenbild könnte man mit Günter Rager als „maschinenorientiertes Menschenbild“ charakterisieren, „in dem wir durch unsere Verschaltungen festgelegt sind (W. Singer) und in dem nicht das Ich, sondern das Gehirn entscheidet (G. Roth).“193 Unter Beachtung und Anerkennung der Grenzen der Aussagefähigkeit neurowissenschaftlicher Erkenntnisse haben sich zeitgenössische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen von einer solchen Auffassung distanziert.194 || 190 Als Hauptvertreter einer solchen Auffassung sind vor allem Wolf Singer und Gerhard Roth zu nennen: (Vgl. ROTH, Fühlen, Denken, Handeln). Siehe auch THIMM/TRAUFETTER, SpiegelStreitgespräch, online unter: https://www.spiegel.de/wissenschaft/das-hirn-trickst-das-ichaus-a-35c62744-0002-0001-0000-000038627610 [aufgerufen am 03.07.2022]. Die Vorstellung einer illusorischen Freiheit fand auch Ausdruck in dem 2004 von 11 führenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorgelegten Manifest, die auf Grundlage der zu erwartenden Erkenntnisse der Neurowissenschaften sogar von einem neuen Menschenbild sprachen: vgl. ELGER/FRIEDERICI/KOCH u.a., Das Manifest, 37: „Dann werden die Ergebnisse der Hirnforschung, in dem Maße, in dem sie einer breiteren Bevölkerung bewusst werden, auch zu einer Veränderung unseres Menschenbildes führen. […] Was unser Bild von uns selbst betrifft, stehen uns also in sehr absehbarer Zeit beträchtliche Erschütterungen ins Haus. Geisteswissenschaften und Neurowissenschaften werden in einen intensiven Dialog treten müssen, um gemeinsam ein neues Menschenbild zu entwerfen.“ 191 Vgl. JASPERS, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 149. 192 Zur Idee der Machbarkeit des Menschen vgl. die Einführung in: BRANDSCHEIDT/BRANTL/OVERDICK-GULDEN/SCHÜSSLER, Herausforderung „Mensch“, 9f. Siehe auch BRANTL, Gut geschaffen, 141–189. 193 RAGER/VON BRÜCK, Grundzüge einer modernen Anthropologie, 110. Siehe dazu auch RÖBEL, Staunen und Ehrfurcht, 50–62. 194 Zehn Jahre nach Veröffentlichung des Manifests und der Ankündigung, „widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge an[zu]sehen, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen“ (ELGER/FRIEDERICI/KOCH, u.a., Das Manifest, 36), ziehen andere Neurowissenschaftler und -innen „eine eher ernüchternde Bilanz“ und betonen in einem 2014 als Reaktion auf das Manifest verfassten „Memorandum“ die Unzulänglichkeit der neurowissenschaftlichen Aussagen über die „subjektiven Aspekte der Hirntätigkeit“ und letztlich über das Menschenbild ohne Hinzunahme der Erkenntnisse von Biologie, Philosophie, Psychologie und Systemwissenschaft: TRETTER/KOTCHOUBEY, Memorandum, 1; 10f.
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Zweifelsohne sind die Leistungen der Hirnforschung mit Blick auf die Erforschung bisher nicht heilbarer Erkrankungen nicht zu unterschätzen,195 in ihren das Wesen des Menschen betreffenden Aussagen aber „widersprechen [sie] nicht nur sich selbst; sie gehen auch weit über den Geltungsbereich neurowissenschaftlicher Daten hinaus“196. In ihrer Selbstüberschätzung geben sie dabei ein Beispiel dafür ab, was Tillich das „Phänomen der radikalen Objektivierung, des Zum-Gegenstand-Machens dessen, was an und für sich Subjekt ist, nämlich Freiheit“197, nennt. Die Kontroverse mit den Neurowissenschaften könnte sich jedoch erledigen, so schreiben Günter Rager und Michael von Brück, wenn deutlich wird, dass es eben nicht um die Freiheit an sich geht, sondern um die menschliche Freiheit, wie sie in der „leiblichen Existenz verwirklicht ist“. Diese Freiheit ist nicht absolut, sondern bedingt.198 Diese Auffassung stimmt mit den Freiheitskonzeptionen von May und Tillich überein, die deutlich machen, dass sich der Mensch auf allen Ebenen seiner Existenz als begrenzt erfährt. Freiheit muss folglich immer als „eine in die Faktizität des Vorfindlichen eingebundene Freiheit verstanden werden“199, wie es Katja Bruns in Bezug auf das Freiheitsverständnis Tillichs formuliert. „Die Freiheit des Menschen ist endliche Freiheit. Alle Potentialitäten, die seine Freiheit konstituieren, sind durch den Gegenpol, sein Schicksal, begrenzt.“200 Diese pointierte Bestimmung der endlichen Freiheit zitiert auch May mit Verweis auf Tillich.201 Der Ausdruck „endliche Freiheit“ bezeichnet für Tillich „de[n] adäquateste[n] Hinweis auf das […], was den Menschen zum Menschen macht“202. Im Zusammenhang mit dieser Aussage bezieht sich Tillich auf den Austausch mit der Tiefenpsychologie, der ihn in der Rich-
|| 195 Vgl. SCHÜSSLER, Unfreiheit als Fiktion, 91. 196 RAGER/VON BRÜCK, Grundzüge einer modernen Anthropologie, 110. Der Beitrag von Günter Rager bietet eine interessante Darlegung der Diskussion um die Freiheit des Menschen, in der er auf entscheidende Gegenargumente gegen eine reduktionistische Sichtweise der neurowissenschaftlichen Forschung hinweist. Vgl. DIES., Grundzüge einer modernen Anthropologie, 109–114. Siehe auch BORMANN, Von der ‚Freiheit‘ und der ‚Verantwortung‘ zur ‚verantworteten Freiheit‘, 126f. 197 EW XVI 45. 198 Vgl. RAGER/VON BRÜCK, Grundzüge einer modernen Anthropologie, 119. In diesem Zusammenhang verweist Rager auch auf Peter Bieris Werk Das Handwerk der Freiheit. 199 BRUNS, Anthropologie zwischen Theologie und Naturwissenschaft bei Paul Tillich und Kurt Goldstein, 228. 200 ST II 38. Stefan Dienstbeck verweist auch auf die Notwendigkeit des „Zusatz[es] der Endlichkeit“ hinsichtlich der Freiheit des Menschen. DIENSTBECK, Transzendentale Strukturtheorie, 392. Ähnlich liest es sich bei FRANKL, Ärztliche Seelsorge, 406. 201 Vgl. MAY, Freedom and Destiny, 88. 202 EW XVI 257.
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tigkeit dieser Formulierung bestätigt hat.203 Mit endlicher Freiheit meint Tillich allerdings „Freiheit nicht im Sinne von Indeterminiertheit, sondern in dem Sinne, daß er sich selbst determinieren kann durch Entscheidungen, die er aus dem Zentrum seines Seins fällt.“204 Damit wird deutlich, dass der Gedanke der endlichen Freiheit nicht nur Ausdruck einer Begrenzung ist, die sich von der Vorstellung einer absoluten Freiheit unterscheidet, sondern dass sie zugleich Aufgabe ist. Denn es heißt weiter bei Tillich: „Als endliche Freiheit ist der Mensch frei innerhalb der Zufälligkeiten seiner Endlichkeit. Auch innerhalb dieser Grenzen ist von ihm gefordert, daß er sich zu dem macht, was er werden soll, d.h. daß er seine Bestimmung erfüllt.“205
4.2 ‚Verantwortete Freiheit‘ Ein Festhalten an der Idee der Freiheit – wenn auch im Sinne einer endlichen bzw. bedingten – ist nicht nur für das Individuum von entscheidender Bedeutung, sondern auch für das gesellschaftliche Zusammenleben. Die Frage nach der Freiheit impliziert immer auch die Frage nach der Verantwortung des Menschen für das, was er tut – oder unterlässt.206 Die Verantwortungsproblematik ist aufs engste mit der Freiheitsdebatte verbunden und lässt die Aktualität dieser Debatte erkennen, die in Zeiten der voranschreitenden künstlichen Intelligenz wieder verstärkt und unter neuen Vorzeichen in den Vordergrund rücken wird. Die enge Verbindung bringt der Theologe Franz-Josef Bormann in der Formulierung „verantwortete Freiheit“207 treffend zum Ausdruck. Den Zusammenhang
|| 203 Vgl. ebd. 204 GW XI 47. 205 Ebd., 46. 206 Vgl. TUGENDHAT, Der Begriff der Willensfreiheit, 373–393. 207 BORMANN, Von der ‚Freiheit‘ und der ‚Verantwortung‘ zur ‚verantworteten Freiheit‘, 144– 146. In seinem Beitrag diskutiert Bormann sowohl die individuelle als auch die „institutionelle und kollektive Dimension der Verantwortung“. Außerdem zeigt er Tendenzen auf, die in der Verantwortungsdiskussion zu erkennen sind: die „Verdrängung von Verantwortlichkeiten“ und die „Übersteigerung des Verantwortungsbegriffs“. (130–143). Ebenso wie in Bezug auf die Freiheit beschränke ich mich bei der Verantwortungsthematik auf die individuelle Verantwortung. Freiheit und Verantwortung des Menschen sind nach Frankl die „ontologischen Bedingungen“, aus denen Angst und Schuld entstehen können. Diese behandelt Frankl in seinem Werk Theorie und Therapie der Neurosen unter dem Gesichtspunkt möglicher psychogener Neurosen. Er schreibt: „Daraus ergibt sich, daß ein Wesen, das zum Freisein und Verantwortlichsein begnadigt ist, zum Ängstlichwerden und Schuldigwerden verurteilt ist.“ (DERS., Theorie und Therapie der Neurosen, 150).
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beider Aspekte greifen auch Tillich und May auf. In den späten Schriften der 1950er verwendet Tillich den Begriff der Verantwortung zusammen mit dem des Wägens und der Entscheidung, um das Erfahren von Freiheit zu verdeutlichen.208 Er bringt dabei die Begriffe sowohl untereinander als auch mit der Freiheit in einen Zusammenhang. An allen drei Begriffen zeigt Tillich auf, dass es immer die Person ist, die handelt, auch wenn beispielsweise in Bezug auf das Wägen der Einwand aufkommen könnte, dass letztlich das stärkere Motiv oder Argument entscheidet. Tillich weist diesen möglichen Einwand zurück, indem er aufzeigt, dass bei allem Wägen die abwägende Person das handelnde Subjekt ist und sie letztlich entscheidet. Und es ist auch diese Person, die Antwort geben muss, wenn sie nach dem Grund ihrer Entscheidung gefragt wird.209 „In einer Theorie des bedingten Reflexes“, schreibt Tillich, „kann jeder Gelehrte darauf antworten, warum wir das gemacht haben, und wir selbst brauchen nicht zu antworten, weil wir ein beobachtbarer Reflex sind.“210 Kann aber niemand an unserer Stelle antworten, dann lässt sich von „Verantwortlichkeit“ sprechen.211 Ulrike Murmann sieht in diesen Überlegungen eine neue Schwerpunktsetzung in Tillichs Freiheitskonzeption gegenüber seinen Texten aus den 1920er Jahren, in denen er Freiheit als „Selbstbemächtigung“ verstanden hat.212 Damit wird nach Murmann die strukturelle Freiheitsbestimmung, die Tillich in seiner ontologischen Darlegung bietet, um eine ethische Dimension erweitert.213 May, der ebenso Freiheit und Verantwortung in dem Aspekt des AntwortGebens zusammendenkt, stellt seine Überlegungen in den Kontext der SelbstWelt-Korrelation: „Diese untrennbare Beziehung von Selbst und Welt impliziert auch Verantwortung. Der Begriff bedeutet ‚antworten‘, ‚antworten auf‘. Ich kann mit anderen Worten nur in einem kontinuierlichen Antworten auf die Welt, von der ich ein Teil bin, ein Selbst werden.“214 In Zeiten, in denen dem Individuum die Bedeutung seines Selbst verloren gegangen zu sein scheint, geht es auch dem Gefühl seiner Verantwortung verlustig.215 Gerade in dem verlorenen Gefühl, verantwortlich zu sein, sieht May einen zentralen Kern der ‚Neu-
|| 208 Vgl. EW XVI 76; ST I 216. 209 Vgl. EW XVI 76f.; ST I 216f. 210 EW XVI 77. 211 Vgl. ebd. 212 Vgl. MURMANN, Freiheit und Entfremdung, 131f. Murmann bezieht sich hier auf GW III 83; GW VII 75; GW IV 24. 213 Vgl. MURMANN, Freiheit und Entfremdung, 132. 214 MAY, Psychology and the Human Dilemma, 174. 215 Vgl. ebd., 31.
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rose des modernen Menschen‘.216 Ohne das Gefühl der Verantwortlichkeit für sich selbst kann dem Menschen nach May aber auch keine Freiheit anvertraut werden.217
4.3 Die Abschaffung des Schicksals? Ähnlich wie die These ‚Freiheit sei nur eine Illusion‘ den Eindruck der Abschaffung der Freiheit erweckt, suggeriert der Machbarkeitswahn der Moderne den Eindruck, als sei eine „Abschaffung des Schicksals“218 möglich. Wenn mit Schicksal aber die Gegebenheiten des Lebens bezeichnet sind, wie sie die Existenz des Menschen in dieser Welt in körperlicher, psychischer und sozialer Hinsicht sowie in Bezug auf seine Umwelt und seine Vergangenheit auszeichnen, wie oben anhand der Texte Tillichs und Mays aufgezeigt wurde und worin ihnen beispielsweise auch Viktor E. Frankl und der Medizinethiker Giovanni Maio folgen, der sich explizit auf Rollo May und Paul Tillich bezieht,219 dann hat es den Charakter der Unausweichlichkeit. Daraus folgt aber nicht, dass sich der Mensch seinem Schicksal ergeben muss oder soll. Das kann nicht gemeint sein, wenn das Schicksal den unabdingbaren Gegenpol zur Freiheit bildet. Im Gegenteil: Der Mensch ist aufgefordert, Stellung zu beziehen gegenüber seinem Schicksal.220 Erst in der Art und Weise, wie der Mensch seinem Schicksal begegnet, zeigt sich seine Freiheit.221 Der Mensch ist nicht frei von seinem Schicksal, aber er ist frei zu seinem Schicksal.222 May zeigt unterschiedliche Möglichkeiten des Sich-Verhaltens zum Schicksal auf: Der Mensch kann mit dem Schicksal
|| 216 Vgl. MAY, Will and Decision in Existential Psychotherapy, 26. 217 Vgl. MAY, Man’s Search for Himself, 129. 218 So lautet der Titel des von Giovanni Maio herausgegebenen Sammelband. 219 Vgl. MAIO, Gefangen im Übermaß an Ansprüchen und Verheißungen, 10–48. 220 Vgl. FRANKL, Ärztliche Seelsorge, 320: „Die Freiheit des Menschen ist selbstverständlich nicht eine Freiheit von Bindungen, sei es biologischen, sei es psychologischen oder soziologischen; sie ist überhaupt nicht eine Freiheit von etwas, sondern eine Freiheit zu etwas, nämlich die Freiheit zu einer Stellungnahme gegenüber all den Bedingungen. Und so wird sich denn auch ein Mensch erst dann als ein wirklicher Mensch erweisen, wenn er sich in die Dimension der Freiheit aufschwingt.“ May macht die Erfahrung, dass man sich zu seinem Schicksal verhalten kann, während seines Aufenthalts im Senatorium. (Vgl. MAY, Paulus, 84). Auf die besondere Herausforderung, die zu jener Zeit ein aufgrund einer Tuberkuloseerkrankung notwendiger Aufenthalt in einem Sanatorium darstellte, weist auch Frankl mit Bezug auf Thomas Manns Der Zauberberg hin. (Vgl. FRANKL., …trotzdem Ja zum Leben sagen, 109). 221 Vgl. MAY, Man’s Search for Himself, 120. 222 Zur Unterscheidung Freiheit von und Freiheit zu vgl. FRANKl, Ärztliche Seelsorge, 320.
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kooperieren, er kann sich dessen bewusst werden und es anerkennen, er kann sich aktiv mit seinem Schicksal beschäftigen, es konfrontieren und herausfordern oder aber ihm begegnen und dagegen rebellieren.223 Versteht man das Schicksal auf diese Weise als die Gegebenheiten des Lebens, dann besteht „das Verhängnis des modernen Menschen nicht so sehr im Vorhandensein des Schicksals […], sondern doch viel eher in seiner Wucht, das Schicksal zu eliminieren, und sei es auf Kosten eines anderen Menschen.“224 Entgegen der Vorstellung einer ‚absoluten‘ Freiheit des Menschen bewegt sich das Freiheitsverständnis Rollo Mays und Paul Tillichs zwischen eben jener menschlichen Erfahrung des „Steuerns“ und „Gesteuertwerdens“ und der Möglichkeit, in der Anerkennung dieser beiden Pole menschlichen Lebens zu „einer tieferliegenden Ebene der Freiheit“225 zu gelangen – der ‚Freiheit des Seins‘.
|| 223 Vgl. MAY, Freedom and Destiny, 91. 224 MAIO, Gefangen im Übermaß an Ansprüchen und Verheißungen, 25. 225 MAY, Freedom and Destiny, 198. May weist auf das Problem und die Folgen einer grenzenlos gedachten Freiheit hin, wenn er sagt: “The confusion with regard to freedom in our day is that we have conceived of freedom as a bow with no string to hold it in tension or a lyre with no frame to give it tautness and hence produce music.” (68).
Das Dämonische Wer sich von seinen Teufeln trennt, verliert auch seine Engel.1 Rilke
1 Ein strittiger Begriff Im Jahre 1926 hat Paul Tillich gleich mit zwei Beiträgen den Begriff des Dämonischen wieder in die religionsphilosophische und theologische Diskussion eingeführt, nachdem diese spätestens seit Goethe und Kierkegaard in Vergessenheit geraten war.2 Als Tillich in den 1930er Jahren in den USA das Dämonische zum Thema macht, in einer Zeit, die May als recht liberal bezeichnet, reagiert ein Theologe aus Chicago auf einen Vortrag Tillichs mit den Worten: „Endlich sind wir die Dämonen losgeworden und nun bringt Tillich sie hinter jedem Baum hervor!“3 Retrospektiv sollte sich Tillichs Zeitdiagnostik jedoch als noch zu mild herausstellen. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, von dem man sich als Zeit der „technischen Vernunft“ eine rosige Zukunft erhoffte, ist mit May letztlich treffender als „das Zeitalter des Dämonischen“ zu bezeichnen.4 Auch Mays Thematisierung des Dämonischen erfährt eine Zurückweisung bzw. Kritik. In einem offenen Brief äußert Carl Rogers seine Bedenken, dem Bösen – hier herrscht schon eine terminologische Ungenauigkeit, auf die es zurückzukommen gilt – einen Platz in der Seinsstruktur des Menschen einzuräumen. Viel eher möchte Rogers destruktive Tendenzen im Menschen als eine Beschädigung seiner wesentlich konstruktiven Natur aufgrund von bestimmten Erfahrungen verstehen oder das Negative auf eine bewusste und freiwillige Wahl des Individuums zurückführen. Folglich sucht er den Grund für destruktives Verhalten vor allem im „kulturellen Einfluss“5. Ein solches Verständnis degradiert nach
|| 1 Nach MAY, Love and Will, 164. 2 Vgl. SCHÜSSLER/STURM, Paul Tillich, 52. 3 MAY, Love and Will, 144. 4 Vgl. ebd. 5 ROGERS, Notes on Rollo May, 11f. Siehe auch ROGERS, Reply to Rollo May’s Letter to Carl Rogers, 87. In einem offenen Brief an Carl Rogers weist May diese Auffassung Rogersʼ zurück: “This makes culture the enemy. But who makes up the culture except persons like you and me? You write ‘the destructive influence of our educational system, the injustice of our distribution of wealth.’ But who is responsible for this destructive influence and injustice, except you and me and people like us? The culture is not something made by fate and foisted upon us. […] I prohttps://doi.org/10.1515/9783110780581-007
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Mays Auffassung Menschen zu Schafen, die im Sinne der behavioristischen Theorie B. F. Skinners bloß in der Abhängigkeit des Schäfers agieren.6 May spielt damit auf die berühmt gewordene Skinner-Box an, eine Experimentenreihe, die das Erlernen von Verhaltensmustern von Tieren – meist Tauben – in Abhängigkeit von äußeren Einflüssen untersucht.7 Ein Grund für die skeptische Haltung dem Dämonischen gegenüber ist sicherlich die dem Begriff anhaftende Uneindeutigkeit. In ihren Werken versuchen Tillich und May die Bedeutsamkeit des Begriffs, der in verschiedenen Kontexten ein starkes Erklärungspotential birgt, wieder herauszustellen. Dabei können beide Denker auf eine lange Tradition der Auseinandersetzung mit dem Dämonischen zurückgreifen. Rollo May stützt sich in seinen Ausführungen über das Dämonische dabei insbesondere auf die Arbeiten Tillichs, mit dem das Dämonische wieder Einzug in die religionsphilosophisch-theologische Diskussion gefunden hat.8
2 Das Dämonische bei Rollo May und Paul Tillich 2.1 Rollo May Das aufklärerische Bestreben, die Vorstellung des Dämonischen als vom Menschen Besitz ergreifendes Wesen, das nach May eine „Projektion innerer Erfahrungen nach außen, verdinglicht in eine objektive Realität“9 darstellt, abzuschaffen, war aus psychotherapeutischer Sicht zuerst einmal ein echter Fortschritt in Richtung eines aufgeklärten Verständnisses der Psyche des Menschen. Der Mangel, den die einseitige Betonung der Vernunft in Bezug auf den Menschen zur Konsequenz hatte, wurde jedoch erst allmählich deutlich: Durch das Verdrängen der Vorstellung einer Macht, die die ganze Person in den Bann ziehen kann, hatte nach May eine Banalität und Seichtheit mit Blick auf die Erklärung von Geisteskrankheiten Einzug in die Psychologie gehalten. Folglich
|| pose that the evil in our culture is also the reflection of evil in ourselves, and vice versa.” (MAY, The Problem of Evil, 1). 6 Vgl. MAY, The Problem of Evil, 15. Siehe auch MAY, Reflections and Commentary, 305: “Evil is certainly not exclusively within the self – it is also the result of our social interrelationships – but the participation of the self in evil cannot be overlooked.” Es ist also nicht Mays Absicht, den kulturellen und sozialen Einfluss auf das Individuum zu leugnen. Deutlich wird aber, dass er mit seinem Verständnis die Verantwortung des Individuums stärker ins Zentrum stellt. 7 Vgl. SCHMELZER/SCHMELZER, Art. Skinner, Burrhus Frederick, 443–445. 8 Vgl. SCHÜSSLER/STURM, Paul Tillich, 52. 9 MAY, Love and Will, 125.
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brauchte es eine Wiederentdeckung des Dämonischen, um dieser Einseitigkeit entgegenzuwirken. Allerdings konnte diese Wiederentdeckung des Dämonischen nicht einfach eine Wiederbelebung alter Vorstellungen sein, sondern sie brauchte eine neue Form, die dem Dilemma des Menschen des 20. Jahrhunderts angemessen und für die gegenwärtige Epoche passend war.10 Besser als der Begriff der Wiederentdeckung erscheint May deshalb der Begriff der „Wiedererschaffung (recreation) der Realität des Dämonischen“11. Den entscheidenden Beitrag für das neue Bewusstsein der Realität des Dämonischen leistete May zufolge Paul Tillich: Paul Tillich ist der zeitgenössische Denker, der in erster Linie dafür verantwortlich war, unsere Aufmerksamkeit heute auf das Dämonische zu richten. Das erklärt seine große Anziehung für Psychiater und Psychologen, die sich zu hunderten einstellten, um ihm zuzuhören, wann immer er sprach. Sie hörten nicht nur einem weisen und gelehrten Mann zu; sie hörten einem Menschen zu, der das Dämonische ‚einlud‘, so wie sie es in ihrer Arbeit einladen müssen. Ich wurde einmal von einer schizophrenen Frau konsultiert, die ein Jahr zuvor am Rande eines psychotischen Zusammenbruchs gestanden hatte. Sie hatte Paul Tillich aufgesucht und ihm die ‚Dämonen‘ geschildert, so wie sie sie erlebte. Unerschüttert hatte er bemerkt: ‚Jeden Morgen zwischen 7 und 10 Uhr lebe ich mit den Dämonen‘. Das hatte ihr sehr geholfen, und ich glaube, dem verdankte sie in erster Linie ihr Überleben. Tillich hatte mit seiner Bemerkung ausgedrückt, dass sie aufgrund ihrer Erlebnisse ‚kein Fremdkörper‘ der Menschheit sei. Sie hatte ein menschliches Problem, das sich nur graduell von den Problemen anderer unterschied; sie war wiederhergestellt für etwas Gemeinschaft und Kommunikation mit ihrer Welt und den Menschen um sie herum.12
Was May hier allgemein über die Wiederentdeckung des Dämonischen durch Paul Tillich formuliert, gilt vor allem für Mays eigene Auseinandersetzung mit dem Dämonischen.13 Mit dem letzten Satz nimmt der Psychotherapeut eine zeitdiagnostische Bestimmung des Dämonischen in seiner eigenen Konzeption vor: Das Dämonische zeigt sich in solchen Zeiten, in denen das Verhältnis von Mensch und Welt inadäquat geworden ist.14
|| 10Vgl. ebd. 11 Ebd., 126. 12 Ebd., 143. 13 Vgl. FRIEDMAN, Comment on the Rogers-May Discussion of Evil, 94. Friedman wertet die Dialog-Lehre von Martin Buber als besonders einflussreich auf Mays Verständnis des Dämonischen. Der Beobachtung ist zuzustimmen, vor allem hinsichtlich der Bedeutung des Dialoges in der Psychotherapie. Dennoch scheint mir die Nähe zu Tillich offensichtlicher. Siehe auch ELSÄSSER, Paul Tillichs Lehre vom Menschen als Gespräch mit der Tiefenpsychologie, 60f. 14 Vgl. MAY, Love and Will, 18: “Problems arise where we meet our world and find it inadequate to ourselves or ourselves inadequate to it.” In der Einleitung zu demselben Werk be-
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2.1.1 Der schizoide Mensch Das Dämonische erscheint in den Werken Mays eher als Randphänomen und bleibt als solches vage. Eine zusammenhängende Abhandlung über das Dämonische findet sich jedoch in seiner Schrift Love and Will aus dem Jahre 1969. Was May in Bezug auf Liebe und Wille in der von ihm thematisierten Zeit des Umbruchs bzw. Übergangs aufzuzeigen sucht, nämlich dass der Mensch aufgrund eines problematisch gewordenen Liebesverständnisses unfähig geworden ist zu lieben und dass ihm die Fähigkeit zu entscheiden abhanden gekommen ist,15 passt zu seiner Charakterisierung des Menschen als schizoid, d.h. als „unbeteiligt, beziehungslos, gefühlslos, zu Depersonalisierung neigend und die Tendenz, Probleme intellektualisierend und mit technischen Formulierungen zu verdecken“16. Liebe und Wille haben ihre eigentliche Funktion verloren, die May zufolge darin besteht, mit anderen und der Welt in Berührung zu kommen.17 Ein fehlendes Weltverhältnis hat im Sinne der Selbst-Welt-Korrelation, derer sich May immer wieder bedient, auch Auswirkungen auf das Selbstverhältnis des Individuums.18 Die Berührungsunfähigkeit des schizoiden Menschen steht nach May in einem Spannungsverhältnis zu einer generellen Berührungsbedürftigkeit des Menschen: Liebe und Wille, schreibt May, „sind verbindende Prozesse des Seins – ein Sich-Ausstrecken, um andere zu beeinflussen, zu formen und das Bewusstsein des anderen zu erzeugen. Aber das ist nur möglich […], wenn man sich gleichzeitig für den Einfluss des anderen öffnet.“19 Eine fehlende Fähigkeit zu lieben und ein Verlust des Willens als Entscheidungsmoment und die damit einhergehenden Auswirkungen auf die Selbst- und Weltwahrnehmung führen letztlich zu Apathie, zu einem Gefühl der Gleichgültig-
|| schreibt May diesen inadäquaten Zustand mit Affektlosigkeit oder Apathie und charakterisiert damit das, was für ihn den schizoiden Menschen ausmacht (13–33, bes. 29). 15 Vgl. ebd., 15. 16 MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 56. Eine „typische zeitgenössische schizoide Persönlichkeit“ beschreibt May in Love and Will wie folgt: “intelligent, articulate, efficient, successful in work, but detached in personal intercourse and afraid of intimate relationships.” (DERS., Love and Will, 68); Siehe auch DERS., Freedom and Destiny, 153: Hier spricht May von dem “nonloving, compulsive-obsessional” Typ Mensch, der das Produkt dieser Zeit ist. 17 Vgl. MAY, Love and Will, 309. 18 Hinsichtlich der Liebe arbeitet Clement Reeves dieses Verständnis aus: Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 119. 19 MAY, Love and Will, Foreword.
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keit.20 Ein solches Gefühl – das merkt May auch in anderen Kontexten an –, kann letztlich die Ausübung von Gewalt zur Folge haben.21 Sowohl in Bezug auf die Liebe als auch auf den Willen konstatiert May eine Bedeutungsverschiebung zwischen der restriktiven viktorianischen Zeit und den Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg, in die auch die Lehren Freuds fallen. Einem überhöhten Verständnis von Liebe als die Lösung für die Dilemmata des Lebens steht ihre Banalisierung gegenüber, wie sie sich in Kunst und Literatur, vor allem aber in dem freizügigeren Umgang mit Sexualität zeigt.22 Liebe hat May zufolge den Charakter als motivierende Kraft, die das Leben voranzutreiben vermag, verloren; sie ist selbst zu einem Problem geworden, weil ihr Wert und ihre Bedeutung verloren gegangen sind.23 Einen ähnlichen Bedeutungswandel hat May zufolge auch der Wille durchlaufen. Galt es in der viktorianischen Zeit als Aufgabe des Willens, die Natur ebenso wie die Natur des Menschen zum Untertan zu machen und jedes Wünschen und Verlangen zu rationalisieren, so hat Freud mit seiner Lehre vom Unbewussten diesen Selbstbetrug zwar aufgedeckt, zugleich aber das Gefühl hinterlassen, dass der Mensch ein Spielball der eigenen Triebe sei. Nach May ist dieses Gefühl im 20. Jahrhundert fast schon zu so etwas wie einer endemischen Krankheit geworden.24 Auch wenn May der Willensthematik sowohl in Love and Will als auch in anderen Beiträgen weitere Überlegungen widmet, konzentrieren sich die nachfolgenden Ausführungen primär auf Mays Liebesverständnis, weil sich gerade darin die Darlegungen zum Dämonischen finden.
|| 20 Vgl. ebd., 309. An anderer Stelle desselben Werkes deutet May deshalb das Gegenteil von Liebe auch nicht als Hass, sondern als Apathie (29). 21 Vgl. ebd., 14. Diesen Zusammenhang thematisiert May ausführlich in seinem Werk Power and Innocence. Das in dieser Arbeit noch folgende Kapitel über Macht wird Mays Überlegungen dazu ausführlicher darstellen. 22 Vgl. MAY, Love and Will, 14; 38–40. Was Tillich über seinen Eindruck von der Bedeutung der Liebe in psychotherapeutischer Literatur schreibt, klingt ähnlich wie Mays Auffassung in Love and Will (14). Tillich schreibt: „Es darf auch erwähnt werden, daß in der jüngsten psychotherapeutischen Literatur die Beziehung zwischen Machttrieb und Liebe im Vordergrund des Interesses steht. Die Liebe erscheint immer mehr als die Lösung der Probleme, die sich in der Angst und Neurose bekunden.“ (GW XI 157). 23 Vgl. MAY, Love and Will, 15. 24 Vgl. MAY, Will and Decision in Existential Psychotherapy, 29; DERS., Love and Will, 182f.
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2.1.2 „Der verdrängte Eros“ Clement Reeves stimmt Mays Beobachtungen zur problematisch gewordenen Liebe zu.25 Er schreibt: „Unser Jahrhundert hat einen enormen Umbruch (upheaval) im Bereich der menschlichen Liebe erfahren, eines der meist diskutierten und weithin missverstandenen Themen unserer Zeit.“26 Daher ist es Mays Motivation, dem Phänomen der Liebe (ebenso wie dem Phänomen des Willens) auf den Grund zu gehen und nach ihrer Quelle zu fragen.27 Seine Überlegungen in Love and Will machen deutlich, dass es für May vor allem um die Frage geht, was es braucht, um lieben zu können, verbunden mit der Frage, warum dies dem Menschen seiner Zeit so wenig gelingt.28 Nach all dem bisher Gesagten über den schizoiden Menschen ist es nur verständlich, dass dem Menschen vor allem die Fähigkeit zu lieben verloren gegangen ist, die May zufolge mit der Fähigkeit bzw. der Notwendigkeit, sich zu öffnen, verbunden ist. Sich zu öffnen und berührbar zu machen, hat gleichzeitig zur Konsequenz, verletzbar zu werden. In der letzten Konsequenz sieht May die Sorge der Verletzbarkeit im Janusgesicht der Liebe begründet, die zwar einerseits eine der Quellen ist, aus der der Mensch Selbstbewusstsein schöpft,29 andererseits vor allem aber eine Vorahnung der Sterblichkeit mit sich bringt – sowohl der eigenen als auch der der geliebten Person.30 Es ist dieses angsterzeugende Moment der Liebe, dem der Mensch nach May zu entfliehen sucht, indem er Liebe auf ihre sexuelle Dimension reduziert und diese damit von einem umfassenden Verständnis von Liebe abkoppelt.31 Der Versuch, dem ängstigenden Moment der Liebe auszuweichen, geht sogar noch einen Schritt weiter, indem auch die sexuelle Dimension der Liebe auf Fragen der Technik reduziert wird. Davon zeugt der anwachsende
|| 25 Zum Begriff ,der verdrängte Eros‘ vgl. MAY, Love and Will, 65 („The Return of Repressed Eros“) und 72 („to repress eros“). John Wagner hat diesen Titel für seine Übersetzung von Love and Will gewählt. Damit trifft er zwar den Grundtenor der Schrift, nämlich dass die Verdrängung des Eros Grund für die Probleme jener Zeit ist, allerdings reduziert er den Text auch recht tendenziös. Auffallend ist vor allem auch, dass Wagner das einleitende Kapitel und damit den zeitdiagnostischen Rahmen lediglich als Nachwort präsentiert. Besser ist die wörtliche Übersetzung von Brigitte Stein mit dem Titel Liebe und Wille. 26 REEVES, The Psychology of Rollo May, 100. 27 Vgl. MAY, Love and Will, 16. 28 Dieser Frage geht May auch in Man’s Search for Himself nach. Vgl. DERS., Man’s Search for Himself, 181f. 29 Vgl. MAY, Love and Will, 13f. 30 Vgl. ebd., 100–105. 31 Vgl. ebd., 14.
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Markt von Ratgeberliteratur.32 Es scheint eine zutiefst menschliche Gewohnheit zu sein, so fasst es May zusammen, „schneller zu laufen, wenn wir den Weg verloren haben; wir greifen heftiger nach Forschung, Statistiken und technischen Hilfsmitteln beim Sex, wenn wir die Werte und den Sinn der Liebe verloren haben“33. Die damit einhergehende Banalisierung sucht May mit Rückgriff auf den griechischen Eros zu deuten, der eigentlich so etwas wie die Tiefendimension darstellt, in der von May beschriebenen Zeit aber verdrängt zu sein scheint. Liebe und Sex ohne eine tiefere Dimension, ohne Leidenschaft und Gefühl waren wohl der Versuch, den angsterzeugenden Momenten aus dem Weg zu gehen.34 Diese Tendenz drückt May mit dem Gedanken des verdrängten Eros aus. Was er damit meint, verdeutlicht er an dem synonymen Gebrauch der Begriffe Eros und Erotik – eine Tendenz, die auch dem gegenwärtigen Sprachgebrauch nicht fremd ist. Er stellt die Frage, ob völlig in Vergessenheit geraten sei, dass Eros zuweilen als Macht verstanden wurde, die den Menschen zu Gott treibe. Augustinus war sich dieser Rolle des Eros May zufolge noch überaus bewusst.35 Um den Eros von einer einseitigen sexuellen Vereinnahmung zu lösen und ihm seine eigentliche Bedeutung zurückzugeben, stellt May Sex und Eros in recht tendenziöser Weise einander gegenüber. So finden sich in seiner Diskussion in Bezug auf Sex stärker technische Begriffe wie „Rhythmus von Reiz und Reaktion“, Befriedigung, Entspannung und Entladung von Spannungen.36 Hier klingt Freuds Verständnis von Libido an, der diese ebenso als das Verlangen des Individuums, sich von seinen Spannungen zu befreien, bestimmt.37 Demgegenüber wird der Eros als ein „Seins-Zustand“ charakterisiert, ein Wünschen, ein Sehnen, ein Streben nach Entfaltung, ein Trieb zur Vereinigung sowohl mit unseren eigenen Möglichkeiten als auch mit solchen Menschen, „mit denen wir in einer Beziehung unsere eigene Selbsterfüllung entdecken“38. Eros ist für May die treibende Kraft, die den Menschen anzieht und befähigt, sich über sich selbst zu erheben, die Welt zu kultivieren, neu zu erschaffen und zu formen; der Eros ist
|| 32 Vgl. ebd., 14; 43–45. Ähnliches merkt May schon früher an: Vgl. DERS., The Significance of Symbols, 28f. 33 MAY, Love and Will, 15. 34 Vgl. ebd., 65; 70; 105. 35 Vgl. ebd., 72. 36 Ebd., 73. 37 Vgl. FREUD, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 299: Libido als Kraft, mit der sich der Sexualtrieb äußert; ähnlich dem Ernährungstrieb beim Hunger. 38 MAY, Love and Will, 73f.
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mit anderen Worten „der Anstoß, Zivilisationen zu erschaffen“39. Die gleiche Zivilisation ist es nach May dann aber auch, die Eros zu kultivieren sucht und ihn damit verdrängt.40 Dieser Definition des Eros steht eine andere Definition des Eros gegenüber, die May in Man’s Search for Himself verwendet. Hier heißt es: „Sexuelle Liebe in ihrer mündigen Form zwischen einem Mann und einer Frau ist eine Mischung aus zwei Emotionen. Die eine ist ‚eros‘ – der sexuelle Drang hin zum anderen, der Teil des Bedürfnisses des Individuums sich selbst zu verwirklichen ist.“41 Anhand dieser Ausführungen wird deutlich, dass May auf den antiken ErosBegriff zurückgreift, wie er sich insbesondere in Platons Symposion findet. Diesem antiken griechischen Eros stellt May den Freudschen Eros-Begriff gegenüber. Die Thematisierung des Eros bei Freud ist nach May das Produkt seiner letzten Schaffensphase, in der dem Begriff als Gegenspieler zum Todestrieb eine zentrale Rolle zukommt. Die Differenz in beiden Auffassungen von Eros sieht May darin begründet, dass Freud Eros als eine von hinten schiebende Kraft versteht, die „aus chaotischen, undifferenzierten, triebhaften Energiequellen stammt“, der platonische Eros hingegen als eine „vor uns liegende Möglichkeit“ zu verstehen ist, die den Menschen anzieht.42 Diese Differenz sucht May aus psychotherapeutischer Sicht in eine Wechselbeziehung hinein aufzulösen, indem er betont, dass beide Auffassungen von Eros zwei Hälften eines Ganzen darstellen, die beide in der psychologischen Entwicklung des Menschen notwendig sind.43 Die Kritik von Clement Reeves, May werde Platons Überlegungen zum Eros, wie sie sich u.a. im Symposion finden, nicht hinreichend gerecht, gesteht May zwar ein, weist aber darauf hin, dass es ihm nicht um eine adäquate Wiedergabe der platonischen Eros-Konzeption gehe, sondern lediglich um die aus psychotherapeutischer Sicht relevante Beobachtung, dass im Menschen beide Momente des Eros – das treibende wie das anziehende – zu finden sind.44 2.1.3 Eros ist ein Dämon Über die Thematisierung der Beraubung des Eros, die May zufolge an den entarteten Formen sexueller Liebe vordergründig ansichtig wird, entwickelt er seine
|| 39 Ebd., 96. 40 Vgl. ebd. 41 MAY, Man’s Search for Himself, 180. 42 MAY, Love and Will, 88. 43 Vgl. ebd. 44 Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 155. Siehe auch MAY, Reflections and Commentary, 297.
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Konzeption des Dämonischen. Dazu greift er auf die in Platons Symposion aufgeführte Rede der Diotima zurück, der zufolge Eros ein Dämon ist.45 Die bisherige Konzeption des Werkes erscheint damit als ein Dreischritt, der in die Thematisierung des Dämonischen mündet. Es ist nicht ganz klar, das lässt sich mit Reeves sagen, welchen Mehrgewinn die Thematisierung des Dämonischen für Mays Liebeskonzeption hat. Ebenso lässt sich aber auch fragen, welchen Gewinn Mays Ausführung zur Liebe für seine Konzeption des Dämonischen hat.46 Das bedeutet allerdings nicht, dass die Ausführungen des Psychotherapeuten zum Dämonischen nicht wert sind, genauer betrachtet zu werden. Was May scheinbar aufzuzeigen sucht, ist, dass mit der Verdrängung des Eros immer auch eine Verdrängung und Unterdrückung des Dämonischen einhergeht. Was aber verdrängt wird, hat nach May die Tendenz, umso stärker und zuweilen auch unkontrollierter zurückzukehren.47 Diese Einsicht lässt sich vielleicht anhand des Dämonischen deutlicher herausstellen. Beide Konzepte – der Eros wie das Dämonische – stehen für May für ein schöpferisches und kreatives Prinzip. Diesen Aspekt macht er in seiner Konzeption des Dämonischen in besonderer Weise stark, wie im Abschnitt über die Interdependenzen deutlich werden wird. Dass sich May an seiner Konzeption des Dämonischen an dem griechischen Erosbegriff orientiert, wie der Rückgriff auf Platons Symposion zeigt, schlägt sich auch in seinen psychotherapeutischen Aussagen nieder. Diese Beobachtung veranschaulicht der nächste Abschnitt. Anhand dreier Stadien zeigt May auf, dass das Dämonische in letzter Konsequenz zum Transpersonalen drängt.48 Diesem Gedanken liegt sicherlich sein Verständnis zugrunde, das Dämonische sowohl in einem subjektiven als auch in einem objektiven Sinne verstanden zu wissen. Das bedeutet, das Dämonische als innere Erfahrung zu verstehen und den Menschen zugleich in einer Beziehung zu solchen Dimensionen wie Natur, Schicksal oder dem Grund seines Seins zu denken und diese nicht einfach wegzupsychologisieren.49 „Ist das Dämonische rein objektiv“, schreibt May, „läufst du Gefahr, ins Abergläubische zu gleiten, in dem der Mensch lediglich das Opfer externer Mächte (powers) ist. Wenn du es andererseits ausschließlich subjektiv verstehst, psychologisierst du das Dämonische; alles hat dann die Tendenz, eine Projektion zu sein und mehr und mehr oberflächlich zu werden; du endest || 45 Vgl. PLATON, Symposion 202d–203a. Siehe bei MAY, Love and Will, 122; 127. 46 Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 137. May selbst könnte hierauf eine Antwort geben: “The element of the daimonic and tragic gives the depth and the memorable quality to love, as it does to Mozart’s music.” (MAY, Love and Will, 313). 47 Vgl. MAY, Love and Will, 72. 48 Vgl. ebd., 177. 49 Vgl. ebd., 136.
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ohne die Kraft der Natur und ignorierst die objektiven Gegebenheiten der Existenz, wie Gebrechlichkeit und Tod.“50 2.1.4 Stadien des Dämonischen 2.1.4.1 Unpersönliche Besessenheit Das Dämonische stellt, wie es May definitorisch seinen gesamten Ausführungen voranstellt, eine natürliche Funktion dar, die die Kraft/Fähigkeit hat, von der ganzen Person Besitz zu ergreifen.51 Blinde und formzerstörende Selbstbehauptung kennzeichnet das Dämonische in diesem anfänglichen unpersönlichen Stadium.52 In Mays Reflexionen über die Liebe ist es die unpersönlich gewordene Liebe, die der Psychologe in den Verwirrungen in Zeiten des Umbruches um sich greifen sieht, die das dämonische Moment offenlegt. Liebe, die der Selbstbehauptung dient und nur noch den neuesten Forschungen, Statistiken und technischen Hilfsmitteln im sexuellen Bereich folgt,53 ist „unpersönlich“ geworden, d.h. sie ist nicht mehr angelegt auf die Selbstwerdung der eigenen Person und die Selbstwerdung des Gegenübers; vielmehr wirkt sie zerstörerisch.54 Es ist der Zustand unpersönlicher Besessenheit. Hier setzt für May die Aufgabe der Psychotherapie an, deren Ziel und Zweck es ist, das Dämonische in die Person zu integrieren55 und es aus dem Zustand des Unpersönlichen zu führen; ein Akt, den er dem Bewusstsein zuschreibt.56 2.1.4.2 Integration durch Benennung Um vom Stadium des Unpersönlichen zum höheren Stadium des Persönlichen zu gelangen, greift May auf eine alte, nicht nur der Psychologie eigene Methode zurück: das Benennen. Hierin liegt einerseits die Fähigkeit, Beziehung zu stiften und andererseits Macht zu gewinnen (was ebenfalls ein Beziehungsmoment
|| 50 Ebd. 51 Vgl. ebd., 123. 52 Vgl. ebd., 159. 53 Vgl. ebd., 15. 54 Vgl. ebd., 123. 55 Vgl. MAY, The Problem of Evil, 11: “If the daimonic urge is integrated into the personality (which is, to my mind, the purpose of psychotherapy) it results in creativity, that is, it is constructive. If the daimonic is not integrated, it can take over the total personality, as it does in violent rage or collective paranoia in time of war or compulsive sex or oppressive behavior. Destructive activity is the result.” 56 Vgl. MAY, Love and Will, 126.
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darstellt).57 Und es ist das Moment, das das Dämonische und damit die Person aus dem Status des Anonymen führt. „Das Dämonische ist Anonymität“, so Paul Ricœur in einem persönlichen Gespräch mit Rollo May.58 In der Anonymität des ‚man‘ der Gesellschaft, in dem Krieg, den wir für die Nation führen, wird die eigene Verantwortung der größeren Gruppe übertragen und das Dämonische der eigenen Person hinter dem Tun der vielen versteckt. Aber, so merkt May an, „dies macht die dämonischen Kräfte unverfügbar für die eigene Integration; der Preis, den die Person dafür bezahlt, ist das Verwirken der Chance, das eigene Potenzial für den eigenen einzigartigen Weg zu entdecken“59. Der Zustand der Anonymität beinhaltet nach May „eine tiefe depersonalisierende Tragödie“60. Nach May lebt der Mensch auf der Grenze des Anonymen und des Personalen, und es ist seine Aufgabe, das Dämonische ins Selbst zu integrieren.61 Dazu bedarf es einer Steigerung und Erweiterung des Bewusstseins, indem Unbewusstes konfrontiert und benannt und damit in das Selbst integriert wird.62 Aus psychologischer Perspektive lässt sich dieser Vorgang als „Wahrnehmung der Geschlossenheit, Konsistenz, Kohärenz und Einmaligkeit des eigenen Verhaltens und Erlebens“ charakterisieren.63 Das Erleben der Geschlossenheit entspricht dem, was Tillich unter dem zentrierten Selbst als dem Aktzentrum des Menschen versteht. Das Individuum muss sich wieder als Ganzes und nicht als zerrissen und von einer Besessenheit übermannt erfahren; es gilt, wieder Herr über triebhafte Tendenzen zu werden und sich aufgrund der dem Menschen eigenen Fähigkeit zur Selbstdistanzierung zu diesen zu verhalten. Dabei muss beachtet werden, worauf Tillich hinweist: Der Zustand der Besessenheit bedeutet nicht den „Rückfall auf die vorgeistige Seinsstufe“, es rührt nicht den quali-
|| 57 Vgl. ebd., 167f. 58 Ebd., 161. Für den Hinweis auf ein gemeinsames Gespräch zwischen May und Ricœr vgl. ebd., 337 Anm. 3. 59 Ebd., 161. 60 Ebd., 162. 61 Vgl. ebd., 163; 308. 62 Vgl. ebd., 177. 63 SCHÖNPFLUG, Art. Selbst, 305: „Der Begriff steht in der heutigen Psychologie für die Wahrnehmung der Geschlossenheit, Konsistenz, Kohärenz und Einmaligkeit des eigenen Verhaltens und Erlebens. Das psychologische Begriffsverständnis schließt darüber hinaus die Bedeutung des Bewußtseins der eigenen Identität ein sowie das Vermögen, sich als ein unverwechselbares und beständiges Wesen aufzufassen und nach außen zu präsentieren. […] In Abgrenzung gegen die Begriffe , und wird als die empirische Einsicht des Individuums bestimmt. In der gegenwärtigen Psychologie wird die Gesamtheit der subjektiven Sicht bzw. der Beurteilungen der eigenen Person als S.-Konzept vorgestellt.“
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tativen Unterschied zwischen Mensch und Tier an, den Philosophinnen und Philosophen wie Max Scheler, Helmuth Plessner, Martin Buber oder Susanne K. Langer aufzuzeigen versucht haben. Von einem triebhaften Verhalten des Tieres unterscheidet sich der Zustand der Besessenheit darin, dass er „ekstatisch“, „schöpferisch, die Persönlichkeitsgrenzen sprengend“64 ist. 2.1.4.3 Dialog als Möglichkeit der Integration und Personalisierung In einem letzten Stadium kann das Dämonische nach May sogar zum Logos treiben. Erinnernd an die Anfänge des dialogischen Prinzips bei Sokrates bis hin zu Martin Buber, der in der Ich-Du-Begegnung die entscheidende Möglichkeit der Selbstwerdung sieht, stellt sich May in den Kontext dieser Denker, die im Dialog das Moment der Selbsterkenntnis und Selbstwerdung erkennen.65 Und so versteht auch die Psychologie das „dialogische Prinzip“, wenn sie dieses als den einzigen Weg für das „persönliche Wachstum und [die] Entwicklung der Person“ qualifiziert.66 Etymologisch weist May auf das Wortelement lόgos in dem griechischen Wort diálogos hin und versteht dabei lόgos als die bedeutungsgebende Struktur der Wirklichkeit. „Wenn wir in bedeutungsvoller Weise über das Dämonische sprechen können“, so May, „sind wir bereits dabei, es in die Struktur des Lebens zu integrieren.“67 Von der Möglichkeit, durch Dialog eine tiefergehende Auseinandersetzung mit solchen psychologischen Inhalten, die als Schattenbereiche wahrgenommen werden, zu erzeugen, schreibt auch Lutz Müller. Müller spricht von dem „inneren Dialog“ neben anderen Methoden als eine Möglichkeit, „Angst und Abwehr vor diesen Bereichen“ zu verlieren; der Mensch gewöhnt sich an eben diese Bereiche und entwickelt „allmählich neue Umgangsweisen und Bewältigungsstrategien“.68
|| 64 GW VI 49. Siehe auch ebd., 51. 65 Vgl. HEINRICHS, Art. Dialog, dialogisch, 226–229. „Dialogisches Prinzip, umschreibt, wie sich individuelle Bewußtheit in der Begegnung mit anderen Menschen und der materiellen Welt realisiert. Nach M. Buber geschieht dies in der Ich-Du-Beziehung, d.h. im Kontakt, der sich in der Person-Umwelt-Einheit vollzieht. Erst in diesem Kontakt gestaltet sich die ganze Person, das Selbst, und nur über diesen Kontakt finden persönliches Wachstum und Entwicklung statt (Humanistische Psychologie).“ 66 o.V., Art. Dialogisches Prinzip, 315. 67 MAY, Love and Will, 156. 68 MÜLLER, Die Dämonie der Seele, 244f.
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2.1.5 Werkgeschichtliche Entwicklungen Werkgeschichtlich lässt sich bei May eine Entwicklung in der Verwendung des Begriffs des Dämonischen verzeichnen. Eine erste Erwähnung lässt sich schon früh ausmachen, nämlich in seinem ersten Werk The Art of Counceling (1939)69 – drei Jahre nachdem Tillich seinen Beitrag Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte aus dem Jahre 1926 ins Englische übersetzt und veröffentlicht hat.70 Dieser Beitrag war May also zugänglich und mit Sicherheit auch bekannt. In diesem ersten Werk sowie in Man’s Search for Himself (1953)71 und My Quest for Beauty (1985)72 verwendet May den Begriff des Dämonischen nur in adjektivischer Form und mit einer ausschließlich negativen Konnotation. In der hier ausführlich diskutierten Schrift Love and Will (1969) und den darauf folgenden Werken Power and Innocence (1972)73 und The Cry for Myth (1991)74 ändert sich der Gebrauch, und er nähert sich Tillichs Konzeption des Dämonischen an. Das Dämonische wird nun in substantivischer Form verwendet und verliert seine ausschließlich negative Konnotation. Das Dämonische versteht May nun dialektisch als kreativ/Kreativität und destruktiv/Destruktivität.
2.2 Paul Tillich 2.2.1 Das Dämonische als eine Schlüsselkategorie im Denken Tillichs Während May das Verdienst der Wiederentdeckung des Dämonischen Tillich zuschreibt, betont Letzterer in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Tiefenpsychologie, die seiner Auffassung nach die dämonischen Strukturen wieder
|| 69 Vgl. MAY, The Art of Counseling, 87; 189. 70 TILLICH, The Demonic, 77–122. 71 Vgl. MAY, Man’s Search for Himself, 133: “The danger in our middle of the twentieth century is that persons, confused and bewildered and at times even in panic about what to believe in (as was the case in Europe in the 1930’s), will grab at destructive and demonic values.” Siehe auch ebd., 137: „These demonic elements in the god’s dealings with man certainly do not present a pretty picture.” 72 Vgl. MAY, My Quest for Beauty, 155: “I felt again the moral conflict and the daimonic sense of nationalistic power.” 73 MAY, Power and Innocence, 151: “The identification of a word with only its negative meaning (such as fuck and devil) is one of the oldest misuses of the daimonic.” Siehe auch ebd., 153; 207. 74 MAY, The Cry for Myth, 282f.: “Not that the devil will not come back again. But rather that the author has learned in his struggle with the daimonic that he, the creative person, can meet evil and make of it something joyous, beautiful, and health giving. One never finishes this battle once and for all.” Siehe auch ebd., 284.
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in Erinnerung gerufen hat.75 In einem Dialog mit Carl Rogers aus dem Jahre 1965 fasst Tillich kurz vor seinem Tod die zeitgeschichtlichen und kulturellen Gegebenheiten, die ihn zu der Verwendung des Begriffs des Dämonischen bewogen haben, sowie die Aussageabsicht, die sich hinter dem Begriff verbirgt, wie folgt zusammen: Ich schrieb im Jahre 1926 […] einen kleinen Artikel, ein kleines Pamphlet, Das Dämonische, und der Grund, nicht von den ‚gefallenen‘ oder den ‚sündigen Menschen‘ oder irgendeinem dieser Sätze zu sprechen, war, dass ich von zwei Gesichtspunkten aus Strukturen sah, die stärker sind als der gute Wille des Individuums, und eine dieser Strukturen war die neurotisch-psychotische Struktur. Ich kam nach dem Ersten Weltkrieg, etwa 1920, mit der psychoanalytischen Bewegung in Kontakt, die damals von Freud ausging und das Klima des ganzen Jahrhunderts veränderte – damals schon in Europa. Die zweite war die Analyse der gesellschaftlichen Konflikte durch die sozialistische Bewegung und insbesondere durch die frühen Schriften von Karl Marx, und in beiden Fällen fand ich ein Phänomen, für das diese traditionellen Begriffe, wie ‚gefallene Menschen‘ und ‚sündige Menschen‘, nicht ausreichen. Der einzig hinreichende Begriff, den ich fand, war der aus dem Neuen Testament stammende Begriff des ‚Dämonischen‘, der in den Geschichten von Jesus vorkommt: ähnlich wie Besessenheit. Das bedeutet eine Kraft, die stärker ist als der individuelle gute Wille. Und so habe ich diesen Begriff gebraucht. Natürlich betone ich nachdrücklich, dass ich ihn nicht in einem mythologischen Sinne meine – im Sinne von kleinen Dämonen oder Satans als personalem Wesen, der auf der Welt herumläuft –, sondern ich verstehe ihn als Strukturen, die zweideutig sind: beide bis zu einem gewissen Grad kreativ, aber letztlich destruktiv. Das ist der Grund, warum ich diesen Begriff eingeführt habe. Anstatt also nur von einer entfremdeten Menschheit zu sprechen und so die alte Terminologie zu vermeiden, musste ich einen Begriff finden, der die transpersonale Macht umfasst, die sich auf die Menschen und die Gesellschaft auswirkt; dass die Menschen im Zustand, sagen wir, der Trunkenheit sind, dass sie Trinker sind und nicht in der Lage, sie zu überwinden, oder dass sie eine Gesellschaft hervorbringen, in der entweder Klassenkonflikte oder, wie heute in der ganzen Welt, Konflikte großer Ideologien, großer Formen von politischen Glaubensrichtungen, die miteinander kämpfen – und jeder Schritt zu ihrer Überwindung hat gewöhnlich die Konsequenz, dass die Menschen tiefer in sie hineingetrieben werden. Genau das meinte ich mit dem Dämonischen.76
|| 75 Vgl. GW VIII 314: „Ferner, und das ist der dritte Punkt, hat die Tiefenpsychologie der Theologie geholfen, sich wieder der dämonischen Strukturen zu erinnern, die unser Bewußtsein und unser Handeln bestimmen.“ Siehe auch GW XII 316–319. Siehe den Beitrag von Lutz Müller, der sich mit dem Dämonischen bei C. G. Jung beschäftigt und diesen ins Gespräch mit Tillich bringt: MÜLLER, Die Dämonie der Seele, 227–246. 76 TILLICH/ROGERS, A Dialogue, 196f.: “I wrote in the year 1926, when I was still professor at the University of Dresden in Germany, a little article, a little pamphlet, The Demonic, and the reason not to speak of the ‘fallen’ or the ‘sinful men’ or any of these phrases was that I saw from two points of view structures which are stronger than the good will of the individual, and one
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Das Zitat macht die vielschichtige Verwendung des Begriffs in Tillichs Denken deutlich. Das Dämonische bildet den Gegenstand seines „religionsphilosophischen und theologischen Denkens“ sowie seiner „geschichtsphilosophischen und zeitdiagnostischen Analysen“.77 Diese vielschichtige Verwendung bedingt letztlich aber auch die Schwierigkeit der Begriffsdefinition, worauf auch TillichForscher an verschiedener Stelle hinweisen: Der Theologe und Philosoph verwendet das Dämonische sowohl in unterschiedlichen Kontexten (religiöser Sozialismus, Geschichtsdeutung, Religionsphilosophie) als auch in unterschiedlicher Bedeutung und Abgrenzung zu sinnverwandten Begriffen.78 Anders als bei May, bei dem das Dämonische ja eher nebensächlich behandelt wird, stellt das Dämonische bei Tillich eine Schlüsselkategorie dar.79 Dass Tillich, wenn er die Einführung des Begriffs in seiner Zweideutigkeit in die „theologische und geistesgeschichtliche Diskussion“80 für sich reklamiert, die Verortung des Begriffs in der „Gegenwarts- und Zeitdiagnostik“ des 19. Jahrhunderts sowie die Verwendung der „Kategorie des Ambivalenten in den kulturwis|| of these structures was the neurotic-psychotic structure. I came into contact after the First World War, since 1920 about, with the psychoanalytic movement, coming from Freud at that time, and changing the climate of the whole century – already in Europe at that time. The second was the analysis of the conflicts of society by the Socialist movement and especially by the early writings of Karl Marx, and in both cases, I found a phenomenon for which these traditional terms, like ‘fallen men’ and ‘sinful men,’ are not sufficient. The only sufficient term I found was in the New Testament use of the term ‘demonic,’ which is in the stories about Jesus: similar to being possessed. That means a force, under a force, which is stronger than the individual good will. And so I used that term. Of course, I emphasized very much I don’t mean it in a mythological sense – as little demons or personal Satan running around the world – but I mean it as structures which are ambiguous, both to a certain extent creative, but ultimately destructive. This is the reason why I introduced that term. So, instead of only speaking of estranged mankind, and not using the old terminology anyhow, I had to find a term which covers the trans-personal power which takes hold of men and of society; of men in stages, let’s say, of drunkenness, being a drunkard, and not being able to overcome it, or producing a society in which either class conflicts or as today in the whole world, conflicts of great ideologies, of great forms of political faiths which struggle with each other – and every step to overcome them has usually the consequence of driving the people more deeply into them. Now this is what I meant with the demonic.” 77 SCHÜSSLER/SAAL, „Wer sich von seinen Teufeln trennt, verliert auch seine Engel“, 253. Tillich selbst äußert sich dazu in GW VIII 285. 78 Vgl. DANZ, Das Göttliche und das Dämonische, 3. Siehe auch SCHÜSSLER/STURM, Paul Tillich, 52. 79 Vgl. den 15. Band der Reihe Tillich Research, der sich in kontextuellen Studien dem Dämonischen bei Paul Tillich widmet: DANZ/SCHÜSSLER (Hg.), Das Dämonische. Siehe auch Paul Tillichs Autobiografie GW XII 48. 80 GW XII 48.
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senschaftlichen, philosophischen und theologischen Debatten seiner Zeit“ außer Acht lässt, machen Christian Danz und Werner Schüßler nachdrücklich deutlich.81 Werkgeschichtlich lässt sich eine Verwendung der Denkfigur des Dämonischen bei Tillich ab 1919 verzeichnen. Terminologische sowie systematische Konturen erhält der Begriff aber erst vier Jahre später in dem Beitrag Grundlinien des Religiösen Sozialismus82 bzw. in den textlichen Vorarbeiten zu dieser Schrift.83 Mit Blick auf die werkgeschichtlichen Entwicklungen der Verwendung dieses Begriffs bei Tillich muss an dieser Stelle ein Verweis auf die Beiträge im 15. Band der Reihe Tillich Research genügen, die sich dieser Thematik eingehend widmen. Entscheidend für den Aufweis der Interdependenzen zwischen Tillich und May sind die beiden Beiträge über das Dämonische aus dem Jahre 1926 – Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die Theologie84 und Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte85 –, die werkgeschichtlich zwar nur eine Zusammenfassung der Konzeption des Dämonischen bei Tillich darstellen, die aber gerade deshalb für den Aufweis der Interdependenzen aussagekräftig sind. Zudem bezeichnet Tillich selbst den Aufsatz Das Dämonische als „einen der wenigen wirklich originalen Beiträge, die er seinem Empfinden nach zustande gebracht hat“.86 Grundsätzlich ist jedoch dem Hinweis von Folkart Wittekind zuzustimmen, dass sich die beiden Beiträge gerade aufgrund der zusammenfassenden Darstellung nicht als Ausgangspunkt für ein Verständnis des Begriffs des Dämonischen bei Tillich eignen. Es bedarf dafür vor allem auch eines Rückgriffs auf Tillichs Dresdner Dogmatik.87
|| 81 DANZ/SCHÜSSLER, Die Wirklichkeit des Dämonischen, 2. Die Einleitung von Danz und Schüßler bietet eine breite Darlegung der Genese des Begriffs sowie dessen Auftreten und Verwendung in unterschiedlichen Kontexten. Aus diesem Grund möchte ich die einzelnen Aspekte hier nicht wiederholen, sondern auf den Beitrag von Danz und Schüßler verweisen: Ebd., 1-10. 82 GW II 91–119. 83 Darauf verweisen Danz und Schüßler in der Einführung zum 15. Band der Reihe Tillich Research: DANZ/SCHÜSSLER, Die Wirklichkeit des Dämonischen, 6f. 84 GW VIII 285–291. 85 GW VI 42–71. 86 PAUCK/PAUCK, Paul Tillich, 118. 87 Vgl. WITTEKIND, Das Dämonische in Tillichs Dresdner Dogmatik, 71f. Siehe auch EW XIV 123–315.
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2.2.2 Religionsphilosophische Überlegungen: Das Dämonische als Widerspruch Nach einigen werkgeschichtlichen Vorbemerkungen leitet Tillich seinen Beitrag Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die systematische Theologie mit dem Hinweis auf den Ursprung seiner Überlegungen über das Dämonische ein: Mit Blick auf das gesellschaftlich und kulturell zu beobachtende Nebeneinander und den Widerspruch von Religion und Kultur stellt er die „Frage nach dem Verhältnis von heilig und profan, von Religion und Kultur“88. Bereits einige Jahre zuvor bildet das Verhältnis von Kultur und Religion einen Kernaspekt in Tillichs Denken und wird zur Grundlage seiner „Theologie der Kultur“. 1919 verfasst er den viel beachteten Beitrag Über die Idee einer Theologie der Kultur89, und aus dem Jahre 1920 stammt ein Entwurf mit dem Titel Religion und Kultur.90 Die hier aufgeworfene Problematik ist für Tillichs Denken von grundlegender Bedeutung, versteht er die Trennung von Kultur und Religion doch als „Hauptgrund für die Krise der Moderne“91, in der der Mensch seine „sinnvolle Welt“92 verloren hat.93 Die Thematisierung der Erfahrung der Sinnlosigkeit tritt in der amerikanischen Zeit wieder in den Vordergrund, wie im Kapitel über die Angst mit dem Verweis auf The Courage to Be dargelegt wurde. Statt einer sinntheoretischen Deutung bietet Tillich nun aber eine ontologische Deutung.94 Im Hintergrund der Frage Tillichs nach dem zu beobachtenden Nebeneinander von Religion und Kultur steht sein Verständnis von Religion als die
|| 88 GW VIII 285: „Wenn das Heilige nicht eine Sphäre neben anderen sein soll, die man also auch beiseite schieben kann, wenn die Religion nicht nur ein Kulturgebiet neben anderen sein soll, für oder gegen das man sich auf Grund seiner Anlage entscheiden kann, wenn vielmehr das Heilige das mich unbedingt Beanspruchende, mich unbedingt Angehende ist, dann kann von einer Nebenordnung jener scheinbar polaren Begriffe keine Rede sein, dann kann das Profane nur eine nie ganz realisierbare Tendenz innerhalb des tragenden Heiligen, die Kultur nur eine Wirklichkeitsform des substantiell Religiösen sein.“ Zur Aktualität dieser Fragestellung siehe auch TAYLOR, Ein säkulares Zeitalter, 11. 89 GW IX 13–21. 90 EW X 275–281. Einen kurzen und prägnanten Überblick über die Entwicklung der „Theologie der Kultur“ bieten Schüßler und Sturm in ihrer Einführung in das Denken Tillichs: SCHÜSSLER/STURM, Paul Tillich, 55–65. 91 ATCHADÉ, Philosophie der Macht, 130. 92 GW XI 107. 93 Vgl. ATCHADÉ, Philosophie der Macht, 130. Siehe auch MW II 33–67; GW XI 107. 94 Auf diese Akzentverschiebung macht auch Atchadé aufmerksam: Vgl. DERS., Philosophie der Macht, 158.
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„Richtung auf das Unbedingte“95 und ein Verständnis des Heiligen als das Unbedingte, d.h. das bedingungslos und absolut die Wirklichkeit Tragende und ihr gegenüber einen „unbedingten Anspruch“ Erhebende.96 Wenn das Heilige „das mich unbedingt Beanspruchende, mich unbedingt Angehende ist“, kann es nach Tillich eigentlich keine Sphäre geben, die von dem Unbedingten nicht durchdrungen und getragen ist; das Profane kann dann „nur eine nie ganz realisierbare Tendenz innerhalb des tragenden Heiligen, die Kultur nur eine Wirklichkeitsform des substantiell religiösen sein“.97 Und dennoch lässt sich ein Nebeneinander beobachten. Der Grund für diese Beiordnung von Kultur und Religion besteht für Tillich in der Möglichkeit des „Widerspruch[s] gegen den unbedingten Anspruch des Unbedingten, es ist die Erhebung eines Bedingten zur Unbedingtheit und darum die Zerstörung der Sinneinheit und Wesensgestalt alles Wirklichen.“98 Entscheidend ist dabei aber, dass der Widerspruch nicht im Profanen, in der Kultur seinen Ursprung hat, sondern im Heiligen selbst.99 Den Widerspruch, der also selbst vom Heiligen getragen ist, der sich als „heiliges Widergöttliches“ erweist, bezeichnet Tillich mit dem Begriff dämonisch.100 Dadurch kann Tillich deutlich machen, dass der Widerspruch, d.h. das Dämonische keine eigene Seinsqualität darstellt, sondern sich „in der Sphäre des Heiligen selbst […] der Gegensatz von Göttlich und Dämonisch [erhebt]. Dämonisch ist das Heilige mit negativen Vorzeichen, das heilig Gegengöttli-
|| 95 GW I 228: „[…] daß Religion keine Sinnsphäre neben den anderen ist, sondern eine Haltung in allen Sphären: Die unmittelbare Richtung auf das Unbedingte.“ An dieser Stelle wäre es interessant, Tillichs Religionsverständnis breiter auszuführen. Im Rahmen der Intention der vorliegenden Arbeit, das Augenmerk auf die Interdependenzen beider Denker zu legen und aus diesem Grund nur kontextualisierende und hinführende Darstellungen der jeweiligen Konzepte vorzuschalten, ist eine genauere Darlegung nicht zielführend. Tillichs Bestimmung von Religion als das, „was uns unbedingt angeht“ (GW V 49) (religion is ultimate concern) ist ein nicht unbekanntes und deshalb schon oft und ausführlich aufgegriffenes Moment seines Denkens. 96 Vgl. GW VIII 286. 97 Ebd., 285. In My Search for Absolutes schreibt Tillich dazu: “The encounter of man with ultimate reality, which we call the encounter with the holy, in its essence is not an encounter beside other encounters. It is within the others. It is the experience of the Absolute, of absoluteness as such. Only after this statement has been made can one speak of a particular encounter with the holy – that is, of ʻreligionʼ in the traditional sense of the word.” (127f.). Siehe die dt. Übersetzung in EW IV 61. 98 GW VIII 286. 99 Vgl. ebd. 100 Vgl. ebd.
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che“101. Entgegen einiger Auffassungen sucht Tillich aber offensichtlich keinen „metaphysischen Dualismus“ aufzumachen.102 Den göttlich-dämonischen Charakter des Heiligen greift Tillich in Dynamics of Faith wieder auf. Dort schreibt er: „Der geheimnisvolle Charakter des Heiligen erzeugt eine Zweideutigkeit“103. Diese Zweideutigkeit nennt er „göttlich-dämonisch“104. Den Gedanken des Göttlich-Dämonischen im Seinsgrund versteht Tillich philosophiegeschichtlich als Frucht der Idee des göttlichen Willens bei Augustinus, die Duns Scotus aufgegriffen und Jakob Böhme schließlich voll entfaltet hat. Der Existentialismus, ausgehend von Schelling über Kierkegaard und Nietzsche bis hin zu Heidegger und Sartre, hat diese dann unter neuen Bedingungen weiterentwickelt. Dieses Panorama entwickelt Tillich in einem 1960 gehaltenen Vortrag an der St. Paul’s University in Tokio mit dem Titel Der Philosophische Hintergrund meiner Theologie, um in einem weiteren Schritt die Idee des Göttlich-Dämonischen im Seinsgrund als eine der Voraussetzungen für sein Verständnis der Zweideutigkeit der Lebensprozesse zu charakterisieren.105 Den Gedanken der „Zweideutigkeit des Lebens“ hatte Tillich 1952 in der Vorlesung Die menschliche Situation im Lichte der Theologie und Existenzanalyse an der Freien Universität Berlin bereits entfaltet. Was er mit der Formulierung „Zweideutigkeit des Lebens“ meint, macht er an vier Polaritäten deutlich. Neben den Polaritäten schöpferisch und zerstörerisch, ganzheitlich und fragmentarisch, Größe und Tragik, nennt er als letzte die Polarität der Heiligkeit und des dämonischen Charakters des Lebens.106 Er schreibt: „Wenn im Leben der Grund des Seins sich selbst verwirklicht in Existenz und Endlichkeit, dann ist es immer
|| 101 GW I 338. Siehe auch GW VIII 286. In GW XI 34 heißt es wie folgt: „[…] das dämonische, widergöttliche Prinzip, das trotz seiner negativen Charakteristika an der Macht des Göttlichen partizipiert […].“ 102 Vgl. SCHÜSSLER, „Was uns unbedingt angeht“, 333. Das schreibt auch Tillich selbst: „Das Dämonische hängt nicht an einer metaphysischen Existenzform, sondern an einer bestimmten Richtung dem Unbedingten gegenüber.“ (GW VIII 286). Siehe auch KUCHARZ, Theologen und ihre Dichter, 312. 103 TILLICH, Dynamik des Glaubens, 22. 104 Ebd., 23. Tillich erinnert auch an die Charakterisierung des Heiligen als mysterium fascinosum et tremendum bei Rudolf Otto. (Vgl. ebd., 21). Siehe OTTO, Das Heilige. Siehe auch den Beitrag von SCHÜTZ, Heilige Scheu als religiöses Urphänomen, 41–67, der sich mit dem Dämonischen in Ottos Werk befasst. 105 Vgl. GW XIII 481f. Tillich findet die Zweideutigkeit des Lebens, die sich aus den schöpferischen wie zerstörerischen Elementen im Lebensprozess ergeben, bereits in Nietzsches Werken aufgezeigt. Siehe EW II 162. 106 Vgl. EW XVI 300–323, bes. 318–323.
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heilig und dämonisch zugleich.“107 Jeder Lebensprozess lässt den göttlichen Grund des Lebens durchscheinen, und zugleich ist jeder Lebensprozess „dämonisch verzerrt“, insofern er sich selbst verabsolutiert, wodurch der göttliche Grund untransparent wird.108 Diese religionsphilosophischen Ausführungen sind deshalb auch interessant, weil die Gegenüberstellung von Religion und Kultur einen zeitgenössischen Zugang zu Tillichs Gedanken über das Dämonische bietet, denn das Nebeneinander der beiden Momente ist auch gegenwärtig ein zu beobachtendes Phänomen. Dass dies vor allem ein Symptom der gegenwärtigen Zeit ist, beschreibt auch Charles Taylor in seinem Werk Das säkulare Zeitalter und spricht von einer „Entleerung der sozialen Bereiche von allem Religiösen“109. Diese religionsphilosophischen Überlegungen tragen für sich genommen allerdings noch nichts zum Aufweis der Interdependenzen zwischen Paul Tillich und Rollo May zum Dämonischen bei. Die Nähe zwischen beiden Denkern in ihren Ausführungen über das Dämonische basiert vielmehr auf Tillichs metaphysischem bzw. ontologischem Aufweis des Dämonischen. 2.2.3 Ontologische Überlegungen: Das Dämonische als das selbstständige Hervorbrechen des Abgrundes Im zweiten Abschnitt seines Beitrags Das Dämonische mit der Überschrift Die Tiefe des Dämonischen setzt Tillich an der grundsätzlichen Beziehung alles Seienden zum Grund des Seins an.110 Als solche klingen die Ausführungen in dieser frühen Schrift aus dem Jahre 1926 wie ein Vorausgriff auf die Existentialontologie der amerikanischen Zeit, in der er der ontologischen Frage nachgeht, indem er die allem Seienden zugrundeliegende Struktur ansichtig zu machen sucht.111 Terminologisch ist Tillichs Beitrag über das Dämonische etwas sperrig und hat deshalb nur wenig Erklärungspotential. Umso mehr verwundert es, dass sich der Psychotherapeut Rollo May gerade dieser ontologischen Verortung des Dämonischen bedient, wenn er in Love and Will schreibt: „Das Dämonische erhebt sich aus dem Seinsgrund und nicht aus dem Selbst als solchen.“112
|| 107 Ebd., 318. 108 Ebd., 318f. 109 TAYLOR, Das säkulare Zeitalter, 11–14, bes. 14. 110 Vgl. GW VI 46. 111 Vgl. EW XVI 11–22. 112 MAY, Love and Will, 124. Die Verwirrung, die diese sehr undifferenzierte und ohne jegliche Erklärung von May so formulierte Aussage mit sich bringt, wird an der Rezeption dieser Aussage in Stephen A. Diamonds Werk Anger, Madness, and the Daimonic deutlich. Diamond über-
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(The daimonic arises from the ground of being rather than the self as such.) Tillichs Beitrag wurde bereits 1936 auf Englisch veröffentlicht und war May deshalb wohl auch bekannt.113 May selbst fügt seiner Aussage keine weiteren Erklärungen hinzu. In einem populärwissenschaftlichen Buch, das für eine breite Leserschaft gedacht ist, stiftet eine solche Formulierung mehr Verwirrung als Klarheit. Mit Tillichs ontologischen Überlegungen zum Dämonischen lässt sich aber vielleicht erahnen, worauf beide hinauswollen. Ausgangspunkt für Tillichs Überlegungen zur ontologischen Dimension des Dämonischen ist die Einsicht, dass jedes Ding getragen ist von etwas, auf das es durch sein Getragensein hinweist, und damit eine Tiefe der Dinge sichtbar macht. Diese Tiefe der Dinge, die jedes Ding auch davor bewahrt, restlos erfasst und erforscht werden zu können,114 bezeichnet Tillich als den „Seinsgrund“. Der Begriff des Seinsgrundes, des Grundes des Seins, der Tiefe der Dinge, die für Tillich das Göttliche bezeichnen, kehrt in Tillichs Schriften auch an anderer Stelle wieder.115 Was Tillich hier mit Seinsgrund bezeichnet, findet sich in den früheren Schriften unter dem Begriff des Sinngrundes. Obwohl der Beitrag Das Dämonische zu den Schriften der frühen Schaffensphase gehört, zeigt sich hier bereits eine Verschiebung von sinntheoretischen hin zu ontologischen Überlegungen, die schon an anderer Stelle dieser Arbeit thematisiert wurde.116 Entscheidend mit Blick auf das Dämonische ist die dem Seinsgrund innewohnende Spannung von Grund und Abgrund. Der Seinsgrund ist nach Tillich
|| nimmt die Ortsbestimmung des Dämonischen bei May und führt selbst dazu aus: “The daimonic – unlike the more polarized, and thus, comprehensible ideas of the demonic or the devil – transcends the dualism of ʻgoodʼ and ʻevil,ʼ deriving as it does from what the theologian Paul Tillich termed ʻthe ground of beingʼ: that indivisible and ineffable state wherein the cosmic polar opposites co-exist as potentialities, the realization of which depends in some measure on the mediating human will.” (DIAMOND, Anger, Madness, and the Daimonic, 80f.). Den Gedanken scheint Diamond ausschließlich von May übernommen zu haben, denn es fehlt in den Anmerkungen der Hinweis auf die entsprechende Stelle bei Tillich. 113 TILLICH, The Demonic. A Contribution to the Interpretation of History, in: DERS., The Interpretation of History, 77–122. 114 Vgl. EW XVI 313. 115 Vgl. EW IV 61: „Weiter haben wir gefunden, daß es in jedem dieser Faktoren einen Punkt gibt, an dem er über sich hinausweist auf das Absolute-Selbst, das wir als das Heilige erfahren. Im kognitiven Bereich nannten wir diesen den Grund des Seins, im moralischen das Gute selbst.“ Siehe auch EW XVI 313. 116 Vgl. GW IX 34: „Der unbedingte Sinn aber, auf den jeder Sinnakt in schweigendem Glauben gerichtet ist und der das Ganze trägt, der es vor dem Sturz in das Nichts der Sinnleere stützt, ist in sich doppelseitig: er trägt den Sinn jedes einzelnen Sinnes sowie den Sinn des Ganzen. Das heißt: er ist der Sinngrund.“
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nämlich nicht nur tragender Grund, sondern auch Abgrund, womit Tillich die dem Seinsgrund charakteristische Unerschöpflichkeit auszudrücken sucht.117 Den Abgrund gilt es nach Tillich immer auch mitzudenken, um die Tiefe des Seinsgrundes aufrechtzuerhalten.118 Alles endlich Seiende hat an beiden Momenten – Grund und Abgrund – teil. Während jedoch „Seinsgestalt und Seinsunerschöpflichkeit“ im Göttlichen eine Einheit und damit seine Wesenstiefe bilden, ist das Kreatürliche der Gefahr des „selbständigen Hervorbrechens des ‚Abgrundes‘“ ausgesetzt. In der Existenz stehen die Dinge in der Welt in der Spannung, einerseits zur Gestalt und damit zum Sein kommen zu wollen und gleichzeitig andererseits von der Sehnsucht getrieben zu sein, die endliche Gestalt zu zerbrechen, um die Unerschöpflichkeit des Seins und damit die Fülle des Seins in der eigenen Gestalt zu verwirklichen.119 Es ist diese Spannung, die es auszuhalten gilt: Dabei stellt das Streben nach der Unerschöpflichkeit das vitale Moment dar, das den Menschen zur Sinnsuche antreibt und ihn zu kreativer Neuschöpfung befähigt und das „doch nur in der Gestalt zur Wirklichkeit kommen“120 kann, d.h. zum Sein und damit zur Existenz. Das „gestaltwidrige Hervorbrechen des schöpferischen Grundes in den Dingen“, das folglich diese Spannung nicht mehr wahrt und das Unerschöpfliche gegen das gestaltwerdende, schöpferische Moment durchzusetzen sucht, bezeichnet Tillich als das Dämonische.121 Damit wird deutlich, dass das Dämonische für beide Denker keine eigene Entität besitzt, wodurch ein metaphysischer Dualismus mit zwei einander widerstreitenden Prinzipien im Grund des Seins vermieden ist. Dadurch entziehen sie das Dämonische aber auch der Therapierbarkeit. Während bei May jedoch offenbleibt, was er unter dem Begriff Seinsgrund versteht, lässt sich bei Tillich der Grund des Seins mit dem Göttlichen identifizieren.122
|| 117 Vgl. EW XVI 313. 118 Vgl. GW IX 35. 119 Vgl. GW VI 47. Siehe hierzu auch NEHB, Die Bedeutung des Bösen in der Tiefenpsychologie von Carl Gustav Jung und die Bedeutung des Bösen in der Theologie von Paul Tillich, 216: „Die unerschöpfliche Tiefe des Seins ist nicht zu verstehen als passive Unerschöpflichkeit, als ruhender Ozean, den irgendein Subjekt, eine Gestalt oder Welt meint ausschöpfen zu können, sie ist zu verstehen als eine innere produktive Unendlichkeit des Seins, als ‚verzehrendes Feuer‘, das jeder Gestalt zum wirklichen Abgrund wird.“ 120 GW VI 48. 121 Ebd., 47. 122 Vgl. GW XIII 481.
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3 Genie und Madman: Interdependenzen in der Beschäftigung mit dem Dämonischen 3.1 Das Dämonische in der Kunst Eine erste Interdependenz lässt sich darin ausmachen, dass für beide Denker das Nachdenken über das Dämonische auch eine Beschäftigung mit der Kunst beinhaltet. Werner Schüßler hebt die Bedeutung der Begegnung Tillichs mit der Kunst für die Entwicklung seines Konzepts des Dämonischen hervor und verweist dabei auf den ersten Abschnitt des Beitrags Das Dämonische sowie auf einen Vortrag Tillichs aus dem Jahre 1956 mit dem Titel The Demonic in Art.123 In der „Kunst der Primitiven und Asiaten“ sieht Tillich „die Tatsache des positiv Formwidrigen, des Dämonischen offenbart“. Grundgelegt ist diese Offenbarung des Dämonischen in der Spannung, die solche Plastiken und Masken beinhalten: Während sie einerseits menschliche, tierische oder pflanzliche Formen darstellen, die aus Sicht eines von der westlichen Kultur geprägten Blicks „künstlerische Gesetzmäßigkeiten“ aufweisen und damit verständlich und zugänglich sind, weisen sie gleichzeitig Elemente auf, die die bekannten Formen sprengen. Man stelle sich nach Tillichs Schilderungen vielleicht eine Plastik mit drei Augen oder überdimensionierten Geschlechtsteilen vor. Was Tillich in dieser Form der Kunst dargestellt sieht, ist nicht einfach ein ästhetischer Mangel, sondern die Offenbarung des Dämonischen, das eben keine fremde Macht ist, sondern die Erhebung eines Elements des Organischen in der übergreifenden Form und damit die Zerstörung der Form. Tillich charakterisiert dies als eine „Form der Form-Widrigkeit“ und gibt dem Dämonischen damit eine positive Konnotation, statt es als einen reinen Mangel zu verstehen.124 Die Formulierung || 123 Vgl. SCHÜSSLER, „Was uns unbedingt angeht“, 335f. Siehe auch SCHÜSSLER/GÖRGEN, Gott und die Frage nach dem Bösen, 124–127. Der Beitrag The Demonic in Art ist abgedruckt in On Art and Architecture, eine von John und Jane Dillenberger herausgegebene Sammlung jener Schriften Tillichs, in denen er seine Beschäftigung mit der Kunst mit einfließen lässt. Vgl. TILLICH, The Demonic in Art, 102–118. 124 Vgl. GW VI 42–44: „Jene zerstörerischen Elemente, die die organische Form zerbrechen, sind selbst Elemente des Organischen; aber sie treten so auf, daß sie den in der Natur vorgebildeten Zusammenhang radikal vergewaltigen. Sie brechen in einer Weise hervor, die jeder natürlichen Proportion Hohn spricht; sie erscheinen in einer Kräftigkeit, Stellung, Zahl, Umbildung, die zwar immer noch die organische Grundlage erkennen läßt, aber zugleich völlig Neues aus ihr macht. Die Organe des Machtwillens wie Hände, Füße, Gebiß, Augen und die Organe der Zeugungskraft wie Brüste, Schenkel, Geschlechtsteile, bekommen eine Ausdruckskraft, die sich bis zur wilden Grausamkeit und orgiastischen Raserei steigern kann. Es sind die vitalen Kräfte, die die lebendige Form tragen, die aber, wenn sie übermächtig werden und sich
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„Form-Widrigkeit“ erinnert an den Begriff der Sinnwidrigkeit sowie den Begriff der Wesenswidrigkeit, wie sie Tillich im Kontext der Sündenlehre verwendet.125 Offensichtlich scheint der Begriff der ‚Widrigkeit‘ für Tillich der geeignete zu sein, ein Streben aufzuzeigen, das in der Schwebe steht, zunächst produktiv zu sein, aber immer mit der Tendenz, destruktiv zu werden. Eine Beschäftigung mit der Kunst findet sich bei Tillich nicht nur im Kontext seiner Konzeption des Dämonischen. Die Auseinandersetzung mit der Kunst, die nach Tillichs eigener Schilderung zunächst über die Literatur und dann in den Jahren des Ersten Weltkrieges in einer systematischen Aneignung der Kunstgeschichte erfolgte, hat sein philosophisch-theologisches Arbeiten entscheidend beeinflusst.126 Davon zeugt seine „Theologie der Kunst“, mit der er auszudrücken sucht, was die oben gebotene Darlegung schon gezeigt hat: Gott ist kein Gegenstand neben anderen, sondern manifestiert sich „in allem Seienden und durch alles Seiende hindurch“127. Eine Theologie der Kunst ist somit also „die Lehre von der Manifestation des Göttlichen in dem künstlerischen Akt und seinen Schöpfungen“128. Vor dem Hintergrund seiner Reflexionen über die Kunst und ihrer theologisch-philosophischen Interpretation entwickelte Tillich auch die Kategorien von Form und Gehalt, die zur Grundlage seiner Religionsund Kulturphilosophie wurden.129 Aus kunsthistorischer Sicht kritisiert Angela M. Opel Tillichs Umgang mit eindeutig konnotierten Begriffen der Kunstwissenschaft, die er in seinem Arbeiten mit ganz eigenen Bedeutungen füllt. Dazu zählt sie neben den Begriffen Stil und Ausdruck auch Form und Gehalt. Gleichzeitig hebt sie den Gewinn hervor, den Tillichs Idee vom Aufweis des Religiösen in der Kunst mit sich bringt.130 Die
|| der Einordnung in die übergreifenden organischen Formen entziehen, die Prinzipien des Zerstörerischen sind.“ 125 Ulrike Murmann weist darauf hin, dass sich der Begriff der Sinnwidrigkeit durch den stärker ontologischen Zugang Tillichs in den Begriff der Wesenswidrigkeit gewandelt hat. (Vgl. MURMANN, Freiheit und Entfremdung, 14). 126 Vgl. GW XII 20ff. In seiner Einleitung zu On Art and Architecture zeichnet Dillenberger Tillichs Auseinandersetzung mit der Kunst nach. (Vgl. DILLENBERGER, Introduction, ix–xxviii). 127 GW IX 346. 128 Ebd. Siehe auch SCHÜSSLER/GÖRGEN, Gott und die Frage nach dem Bösen, 126. 129 Vgl. GW XII 21. 130 Vgl. OPEL, „Stil“ ist nicht gleich „Stil“, 193–208. Tillichs originelle Konnotationen der Begriffe ist nach Opel Grund dafür, dass seine Theologie der Kunst kaum Beachtung in der Kunstwissenschaft gefunden hat. Thomas Kucharz, der in dem „Stil“-Begriff den „Hauptbegriff für Tillichs Verhältnisbestimmung von Theologie und Kunst“ ab den 1920er Jahren sieht, weist ebenso auf einen nicht klar definierten Gebrauch der von Tillich aufgezeigten und verwendeten Stilrichtungen hin. (KUCHARZ, Theologen und ihre Dichter, 331f.).
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bildende Kunst des 20. Jahrhunderts ist für Tillich zusammen mit der Literatur das Medium, in dem die Erfahrungen „der Zerrissenheit und Zwiespalt, Selbstzerstörung, Sinnlosigkeit und Verzweiflung in allen Lebensbereichen“ des Menschen seiner Zeit zum Ausdruck kommen. Sie dient ihm folglich auch als zeitdiagnostisches Analyseinstrument. Außerdem hat sie, so schreibt er weiter, „der Theologie ein neues Verständnis der dämonisch-tragischen Struktur des individuellen und sozialen Lebens vermittelt“.131 Der Psychotherapeut May entwickelt bereits in jungen Jahren eine Affinität zur Kunst und behält diese Zeit seines Lebens bei.132 Von diese Affinität zeugt besonders sein Spätwerk My Quest for Beauty, das auch eine kleine Sammlung seiner eigenen künstlerischen Werke enthält. Das Dämonische charakterisiert er als „täglichen Begleiter“ und „Quelle der Inspiration“ von Künstlern aller Art, und er versteht Kunst als „eine spezifische Methode, mit der Tiefe des Dämonischen fertig zu werden.“133 Picassos Guernica im Besonderen, aber auch die Kunst des Surrealismus generell sind für May Ausdruck für den Ort des Dämonischen in der Kunst. Ebenso scheint Paul Klee May zufolge ein Bewusstsein für das Dämonische gehabt zu haben,134 wovon sein Werk Dämonische Marionetten zeugt. Der Auseinandersetzung mit dem Dämonischen in den Werken von Hieronymus Bosch und Matthias Grünewald attestiert May eine bleibende Bedeutung bis in seine Zeit hinein. Den Grund dafür sieht er in den ähnlichen zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen: Die Zeit des ausgehenden Mittelalters kennzeichnet ebenso wie Mays eigene Epoche ein psychischer und spiritueller Umbruch, in dem das Dämonische stärker ansichtig wird, weil die gewohnten psychischen Abwehrmechanismen nicht mehr greifen. In der herausragenden Bedeutung von Picassos Guernica ebenso wie in der Auflistung der Künstler zeigt sich eine Übereinstimmung mit Tillich.135 || 131 ST I 61. 132 May verbrachte einige Monate in Griechenland und nahm dort an einem Malkurs teil. Siehe auch MAY, Paulus, 2. 133 MAY, Love and Will, 128. 134 Vgl. ebd. 135 Auch für Tillich ist Picassos Guernica, das er als das „beste zeitgenössische protestantische religiöse Bild“ bezeichnet, von herausragender Bedeutung. Zu dieser Wertung kommt er, weil für ihn Guernica die Entfremdung und Verzweiflung der menschlichen Situation in ihrer Tiefe zum Ausdruck bringt. Diese Aussage Tillichs veranschaulicht, dass er auch auf die Kunst mit einem existentialistischen Blick schaut. Vgl. TILLICH, Existentialist Aspects of Modern Art, 95f. Es ist auffällig, dass May hier ähnliche Künstler anführt wie Tillich in seiner Vorlesung Religion and Culture, die er zweisemestrig im Herbst und Frühjahr 1955/56 an der Harvard Universität gehalten hat. Tillich zeigt hier das Verhältnis von Kunst und Religion anhand von vier Typen auf: „1. Nicht-religiöser Stil und nicht-religiöser bzw. säkularer Inhalt, 2. Religiöser
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May kommt außerdem im Kontext des Dämonischen auch auf die „primitive Kunst“ zu sprechen. Er belässt es aber bei einem knappen Hinweis auf das im 20. Jahrhundert zu beobachtende Interesse des Westens an der ursprünglichen Kunst (primitive art).136 Nicht nur der Kunst, sondern der Kreativität im Allgemeinen räumt May einen prominenten Platz in seinem Denken und Arbeiten ein. Für ihn sind Kunst und Kreativität die Produkte des Konfrontierens mit den Grenzen des Individuums sowie der Gesellschaft.137 In seinem Werk The Courage to Create spielt er diesen Gedanken durch. In einem Beitrag zeigt die Psychologin und Tanz- bzw. Bewegungstherapeutin Ilene Serlin auf, wie anschlussfähig Mays Überlegungen für verschiedene Ansätze der Psychotherapie sind.138
3.2 Dialektik des Dämonischen Die dichterische, metaphysische und empirische Tiefenpsychologie haben in gleicher Weise gezeigt, wie die vitalen Kräfte des Unbewußten selbst die feinsten und abstraktesten geistigen Akte tragen und ihnen das ‚Blut‘ geben, das den Geist schöpferisch macht, das aber auch die geistige Form hemmen und zerstören kann.139
Tillich spricht hier einen Aspekt an, der dem Aufweis einer zweiten Interdependenz im Kontext der Beschäftigung beider Denker mit dem Dämonischen dient: Das Moment des Schöpferischen und das Moment des Zerstörerischen sind nicht zwei getrennt voneinander auftretende Phänomene, sondern sie stehen in einer dialektischen Spannung zueinander. 3.2.1 Schöpferisch und zerstörerisch bzw. konstruktiv und destruktiv Die dialektische Spannung von schöpferischer bzw. konstruktiver Potenz und zerstörerischer bzw. destruktiver Tendenz ist für May wie für Tillich wesentlich für das Dämonische und bildet zugleich dessen Tiefe.140 „Wo das Zerstörerische
|| Stil und nicht-religiöser Inhalt, 3. Nicht-religiöser Stil und religiöser Inhalt sowie 4. Religiöser Stil und religiöser Inhalt“. Diese zusammengefasste Auflistung sowie der Hinweis auf die Vorlesung, die nur als Typoskript vorliegt, sind SCHÜSSLER, „Das Ewige im Jetzt“, 181 entnommen. 136 Vgl. MAY, Love and Will, 129. 137 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 365. 138 Vgl. SERLIN, A Tribute to Rollo May and the Arts, 486. 139 GW VI 50. 140 Dass das Dämonische mit dem Schöpferischen und geistig Produktiven in Verbindung gebracht wird, ist eine Folge der Identifizierung des Dämonischen mit dem Genie, wie es in der
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fehlt, kann von überragender Macht, von Genialität, von schöpferischer Kraft geredet werden, nicht von Dämonie“141, schreibt Tillich. „Zerstörung ohne Schöpfung“142 kennzeichnet das Satanische, nicht aber das Dämonische –, wobei Tillich deutlich macht, dass dies nur ein gedachter Zustand sein kann, denn ohne einen Rest des schöpferischen Moments kann das Satanische nicht zur Gestalt und damit zur Existenz kommen. Demnach ist Satan lediglich das „negative Prinzip“ im Dämonischen, nicht aber das Dämonische schlechthin.143 Diese Ausführungen machen deutlich, dass eine ausschließlich negative Konnotation des Dämonischen, wie es im allgemeinen Sprachgebrauch üblich ist, nicht aufrechterhalten werden kann,144 enthält es doch zwangsläufig immer auch ein schöpferisches Moment: „Denn das Dämonische ist ja das Hervorbrechen dessen, was zugleich das Schöpferische ist.“145 Auch im „schöpferischen Akt“ ist das Dämonische zugegen, nämlich als „Grund und Tiefe“. Hier ist es das tragende Moment, nicht aber das zerbrechende; es bleibt an die Form gebunden und zerbricht nicht um des Zerstörerischen willen, sondern um der höheren Form willen.146 Lediglich im Göttlichen bilden beide Dimensionen eine Einheit und damit ein ausschließlich schöpferisches Moment. Demgegenüber ist das Kreatürliche von der Möglichkeit geprägt, dass beides auseinanderfallen kann – dass „die schöpferische Potenz zerstörerisch wird“147. Von dieser Dialektik des Dämonischen spricht auch Rollo May, wenn auch in anderer Terminologie.148 Ausgangspunkt für seine Ausführung zur Dialektik des Dämonischen ist das kreative Moment im schöpferischen Akt des Künstlers,
|| Zeit des Sturm und Drang und in der Romantik stattgefunden hat. (Vgl. AXELOS, Art. „Dämonisch, das Dämonische“, 3). 141 GW VI 45. 142 Ebd. 143 Ebd. Siehe auch GW VIII 287. Ähnlich formuliert Tillich, dass auch die Wesenswidrigkeiten wie Begierde und Überhebung in ihrer extremen Form nicht das Dämonische ansichtig machen, solange sie nicht auch von „einer entsprechenden positiven Mächtigkeit“ getragen sind. Andernfalls nähern sie sich dem Satanischen, das aber aufgrund des fehlenden tragenden Moments keine Existenz hat. (Vgl. EW XIV 227). 144 Hierzu schreibt May: “The identification of a word with only its negative meaning (such as fuck and devil) is one of the oldest misuses of the daimonic.” (DERS., Power and Innocence, 151). 145 GW VIII 287. Tilman Nehb spricht deshalb von dem parasitären Charakter des Dämonischen, das nur dort wirken kann, „wo eine schöpferische Kraft gegenwärtig ist“. (NEHB, Die Bedeutung des Bösen in der Tiefenpsychologie von Carl Gustav Jung und die Bedeutung des Dämonischen in der Theologie von Paul Tillich, 214). 146 Vgl. GW VI 52. 147 GW VIII 286. 148 Vgl. MAY, Foreword, xxi.
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aber auch in der Lebensgestaltung des Individuums.149 Dies lassen besonders die späteren Werke Power and Innocence. A Search for the Source of Violence (1972) und The Cry for Myth (1991) erkennen. In beiden Werken spricht May von der Aggression des Künstlers als das der Kreativität förderliche Moment.150 Dabei geht May auch von seinen eigenen Erfahrungen aus: Es gibt eine andere Form der Aggression – eine im Selbst oder, wie es allgemein von der Person erfahren wird, gegen das Selbst. Ich setze mich früh am Morgen hin, um an diesem Buch zu schreiben. Bis gerade war ich entspannt, relativ glücklich, sogar ein bisschen gelassen. Aber während ich hier sitze und über Aggression nachdenke, sammle ich meine umherschweifenden Gedanken, ich öffne meinen Geist für jede Einsicht, die kommen mag, ich meditiere/betrachte das Thema. Ich beschwöre den rebellischen Teil in mir herauf; innerlich suche ich nach einem ‚Kampf‘, im Bewusstsein, dass kreative Kraft und Vision aus einem solchen Ringen kommen. Ich beschwöre das Dämonische herauf – insofern es heraufbeschworen werden kann.151
Dem schöpferischen Akt des Schreibens sowie jedem anderen Schöpfungsakt geht ein destruktiver Akt voraus. Diesen Gedanken führt May auch in Freedom and Destiny an und schreibt dieses Diktum Picasso zu.152 Liest man die 1988 erschienene Picasso-Biografie Creator and Destroyer von Arianna Stassinopoulos Huffington, dann traf diese Dialektik vor allem auf Picasso selbst zu, dessen Inneres einem „Kampf zwischen dem Drang, etwas zu schaffen, und dem Drang, zu zerstören“153 glich. Trotz ihrer geteilten Überzeugung von der Dialektik des Dämonischen setzen beide Denker auch eigene Akzente. Sie betonen jeweils einen unterschiedlichen Pol in Bezug auf das Dämonische. So äußert Tillich in einem Gespräch mit
|| 149 Siehe hierzu auch Diamond, der eine kurze Definition von Kreativität in diesem Sinne gibt: “Creativity – be it the creativity of the artist, the psychotherapist, or the psychotherapy patient – can be understood to some degree as the subjective struggle to give form, structure, and constructive expression to inner and outer chaos and conflict.” (DERS., Anger, Madness, and the Daimonic, 257). 150 Vgl. MAY, Power and Innocence, 153. Siehe auch DERS., The Cry for Myth, 282f. 151 MAY, Power and Innocence, 153: “There is another kind of aggression – that within the self or, as it is generally experienced by the person, against the self. I sit down early in the morning to work on this book. Up till now I have been relaxed, relatively happy, even a bit placid. But as I sit here thinking of the subject of aggression, I summon up my rambling thoughts, I open my mind to whatever insights may come, I contemplate the topic. I summon the rebellious parts of myself; inwardly I look for a ‘fight,’ aware that creative power and vision come out of such a struggle. I summon the daimonic – so far as it can be summoned.” 152 Vgl. MAY, Freedom and Destiny, 73. 153 Stassinopoulos Huffington, Picasso, 10.
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Carl Rogers die Ansicht: „Natürlich, das betone ich nachdrücklich, verstehe ich ihn [sc. den Begriff dämonisch] nicht in einem mythologischen Sinn – als kleine Dämonen oder ein personaler Satan, die auf der Welt herumrennen –, sondern ich verstehe ihn als zweideutige Struktur, indem er in gewisser Weise kreativ, letztendlich aber zerstörerisch ist.“154 Hingegen heißt es bei May: „Die destruktiven Aktivitäten des Dämonischen sind nur die Kehrseite von dessen konstruktiver Motivation.“155 Während Tillich also den zerstörerischen Aspekt hervorhebt, verweist May stärker auf das schöpferische bzw. konstruktive Moment des Dämonischen. Begründet liegt diese unterschiedliche Betonung möglicherweise im jeweils verschiedenen Kontext, in dem beide Denker das Dämonische fruchtbar zu machen suchen: Der Philosoph und Theologe Tillich versteht das Dämonische in Abgrenzung zum Göttlichen als das Wider-Göttliche, der Psychotherapeut May, dem es um die seelische Gesundheit des Menschen geht, sucht Wege der Integration des Dämonischen in das Selbst. 3.2.2 Gut und Böse Von der Dialektik von formschöpferisch und formzerstörerisch gilt es, die Dialektik von Gut und Böse zu unterscheiden, liegt in der Differenzierung beider Dialektiken voneinander doch ein zentrales Moment im Verständnis des Dämonischen. „Dämonie ist metaphysische Perversion, nicht ethischer Mangel“156, so schreibt Tillich und macht damit die Ebenen und die daraus folgenden Konsequenzen der zu differenzierenden Dialektiken deutlich: Mit der Verortung des Dämonischen in der Dimension des Metaphysischen ist der Person die bewusste Entscheidungsfähigkeit hin zum Dämonischen – oder von ihm weg – nicht gegeben, anders als die bewusste Entscheidung für das Gute oder Böse. Das Dämonische ist mithin eine ontologische, keine ethische Kategorie. In diesem Sinne sind auch Mays Überlegungen in Love and Will zu verstehen, wenn er den Ursprung des Dämonischen im Überpersönlichen verortet und es damit den ethischen Kategorien von Gut und Böse enthebt.157
|| 154 TILLICH/ROGERS, A Dialogue, 197. 155 MAY, Love and Will, 125f. In einem abschließenden und zusammenfassenden Gedanken am Ende von Love and Will wird dies noch einmal nachdrücklich deutlich: “And the daimonic – that often nettlelike voice which is at the same time our creative power – leads us into life if we do not kill these daimonic experiences but accept them with a sense of the preciousness of what we are and what life is.” (324f.). 156 GW VIII 287. 157 Vgl. MAY, Love and Will, 124.
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Als Beispiel für die Vermischung beider Dialektiken kann der eingangs erwähnte Gedankenaustausch zwischen Rollo May und Carl Rogers angeführt werden. Rogers spricht sich, ausgehend von seinen Erfahrungen als Therapeut, dagegen aus, das Böse und Destruktive als der menschlichen Natur inhärent zu verstehen. Die seiner Auffassung nach wesentlich konstruktive Natur des Menschen sowie aller anderen Lebewesen kann ihm zufolge zwar aufgrund von Erfahrungen beschädigt werden, ebenso wie individuell getroffene Entscheidungen ein destruktives Verhalten sich selbst oder anderen gegenüber das eigene Leben prägen können. In einem, wie Rogers es nennt, wachstumsfördernden Klima lässt sich beobachten, dass der Mensch einen ausschließlich konstruktiven Weg einschlägt. Alles böse Verhalten spricht er daher kultureller Prägung und schlechten Erfahrungen zu.158 Die Ausführungen Rogers zeigen ein zweifaches Missverständnis: Zum einen begeht er einen Kategorienfehler und identifiziert das Dämonische mit dem Bösen, zu dem der oder die Einzelne fähig ist und zu dem sich das Individuum in seinem Handeln auch immer wieder entscheidet. Rogers verwechselt die ontologische mit einer ethischen Kategorie – eine Problematik, die vielleicht auch aus einer Unachtsamkeit Mays entsteht, der terminologisch dämonisch und böse – daimonic und evil – nicht konsequent auseinanderhält.159 Zum anderen verfehlt Rogers den Charakter des dem Dämonischen innewohnenden Moments von Destruktivität und Konstruktivität, das May in seinen Ausführungen in Love and Will darzulegen sucht, insofern Rogers das Dämonische rein negativ versteht.160
|| 158 Vgl. ROGERS, Notes on Rollo May, 11f. Das erinnert an die Kritik des Psychoanalytikers Arno Gruen an Arendts Auffassung des Bösen: „Es trifft nicht ganz zu, was Hannah Arendt nahelegt: daß das Böse im Banalen angesiedelt ist. Es hat vielmehr seine Wurzeln darin, daß die menschlichen Möglichkeiten pervertiert, daß Menschen ohne wirkliches Selbst sind.“ (GRUEN, Der Wahnsinn der Normalität, 46). 159 Beispielhaft sind hierfür auch Mays Hinweise in seinem Kommentar zu Clement Reeves Arbeit. Hier schreibt May: “I need now to clarify the concept of the ‘daimonic.ʼ My original reason for developing this concept was to enable readers to relate to the presence of evil. I also wanted to show the relationship between evil and creativity.” MAY, Reflections and Commentary, 304. Siehe auch MAY, Power and Innocence, 259f.: “It is a considerable boon for a person to realize that he has his negative side like everyone else, and that he can neither disown it nor live without it. It is similarly beneficial when he also comes to see that much of his achievement is bound up with the very conflicts this daimonic impulses engenders. This is the seat of the experience that life is a mixture of good and evil; that there is no such thing as pure good; and that if the evil weren’t there as a potentiality, the good would not be either. Life consists of achieving good not apart from evil but in spite of it.” 160 Auf diesen Sachverhalt verweist auch Maurice Friedman in seinem Beitrag: Vgl. DERS., Comment on the Rogers-May Discussion of Evil, 93–96.
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May reagiert mit seinem Beitrag The Problem of Evil: An Open Letter to Carl Rogers zunächst mit einer terminologischen Differenzierung auf dessen Kritik und greift diese Differenzierung in Love and Will wieder auf. Dort unterscheidet er drei mögliche Schreibweisen für den Begriff des Dämonischen: demonic als die gängige – und auch von Roger verwendete – Schreibweise, daemonic als die von Poeten und Schriftstellern favorisierte Schreibweise und schließlich daimonic, ein Derivat aus dem Griechischen, das die Dialektik von konstruktiv und destruktiv, diabolisch und göttlich zum Ausdruck bringen soll.161 Aufgrund des dialektischen Moments, das in der Schreibweise daimonic zum Ausdruck kommt, favorisiert May diese und verwendet sie ab Love and Will in all seinen Werken, da sie die für ihn wie für Tillich so zentrale Dialektik des Dämonischen erfasst. Werkgeschichtlich macht Clement Reeves in The Psychology of Rollo May jedoch darauf aufmerksam, dass frühere Werke Mays die beiden anderen Schreibweisen des Adjektivs „dämonisch“ aufweisen und hier ausschließlich negative Konnotationen besitzen.162 Eine durchgängige terminologische Differenzierung in den Werken Mays würde sicherlich zu einer größeren Klarheit verhelfen. Werkgeschichtlich ist allerdings davon auszugehen, dass eine klare Unterscheidung die Erkenntnis einer späteren Schaffensphase Mays darstellt.163
|| 161 Vgl. MAY, Love and Will, 123. 162 Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 135. 163 Reeves zufolge gibt es in der Unterscheidung von Dämonisch als Nomen und als Adjektiv auch bei Tillich Verwirrungen: “Indeed, May’s terminology frequently recalls that of Tillich – for example, centeredness, courage, intentionality, vitality, anxiety of meaninglessness, and the four kinds of love. A notable exception is May’s use of daimonic (Love and Will) with his emphasis on its being normally both creative and destructive, both integrative and disintegrative, while Tillich’s use of the adjective demonic clearly and constantly associates it with the meanings of ‘destructive,‘ ‘desintegrating,‘ ‘evil,‘ ‘satanic‘ […]. In May’s books preceding Love and Will, the adjective ‘demonic‘ appears with the connotations of destructive and disintegrative only.” (REEVES, The Psychology of Rollo May, 253).
Exkurs: Liebe Und es wird ja so eine Geschichte erzählt, dass diejenigen lieben, die ihre (andere) Hälfte suchen.1 Diotima
Der Titel der bereits behandelten Schrift Mays – Love and Will – und die intensive Beschäftigung Tillichs mit der Liebe2 legen es zwar nahe, dem Thema Liebe innerhalb dieser Arbeit, die in der Themenwahl den Primärwerken Rollo Mays folgt, ein eigenes Kapitel zu widmen. Aufgrund der Engführung in Mays Beschäftigung mit der Liebe, die im Folgenden näher dargestellt werden soll, scheint es allerdings angemessener, sich für den Aufweis der Interdependenzen zwischen May und Tillich auf die Form eines Exkurses zu beschränken. Ein solcher legt sich auch deshalb nahe, weil die Liebe in der Erörterung der Machtkonzeptionen beider Denker erneut thematisiert werden wird. Und dennoch ist ein Blick auf die Liebesthematik in den Schriften Mays und Tillichs lohnend, weil sich auch hier eine bemerkenswerte Nähe beider Denker aufzeigen lässt. Gelegenheit, an den jeweiligen Überlegungen zur Liebe zu partizipieren, hatten Tillich und May während ihrer Treffen mit der New York Psychology Group. Terry D. Cooper hat die Zusammenkünfte der Diskussionsgruppe, von denen das zweite Jahr (1942–1943) unter dem Thema ‚The Psychology of Love‘ stand, skizziert.3 Die inhaltliche Gestaltung der achten Sitzung war Tillich überlassen, die er dazu nutzte, seine Ontologie der Liebe zu präsentieren.4 Vor diesem Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass Rollo May mit Tillichs Liebesverständnis vertraut war.
1 Liebe bei Rollo May und Paul Tillich Kaum ein Begriff ist so vieldeutig wie Liebe. Diese Vieldeutigkeit ist der Grund dafür, dass sie Gegenstand vieler unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen ist. Es ist also auch nicht verwunderlich, dass sowohl der Theologe und Philosoph Tillich als auch der Psychotherapeut May die Aufmerksamkeit auf die || 1 PLATON, Symposion 205d–e. 2 Eine umfassende Auseinandersetzung mit Tillichs Liebesverständnis bietet die Dissertationsschrift von Crépin Magloire C. ACAPOVI, L’Être et l’Amour. 3 Vgl. COOPER, Paul Tillich and Psychology, 127. Weitere Themen waren ‚The Psychology of Faith‘, ‚The Psychology of Conscience‘ und ‚The Psychology of Helping‘ ( 99). 4 Vgl. ebd., 137. https://doi.org/10.1515/9783110780581-008
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Liebe richten. Aber entsprechend ihrer Profession unterscheiden sich die Konzeptionen in einigen Punkten. Werkgeschichtlich taucht in den Schriften Rollo Mays das Thema Liebe seit The Art of Counseling an verschiedener Stelle immer wieder auf.5 Ganz generell lassen sich zwei Aspekte herausstellen: Zum einen orientieren sich Mays Beobachtungen und Aussagen zum Phänomen der Liebe an den Formen, die ihm in seinem psychotherapeutischen Arbeiten begegnen. Hier könnte man zunächst annehmen, dass dies neben der partnerschaftlichen Form der Liebe auch die freundschaftliche umfasst. Tatsächlich aber lässt sich fast schon so etwas wie eine Engführung auf die partnerschaftliche Liebe ausmachen. Diese Beobachtung findet sich auch in der entsprechenden Sekundärliteratur, wo sie dahingehend noch weiter präzisiert wird, dass sich May in den Stereotypen der Liebe zwischen Erwachsenen und heterosexuellen Personen verliert.6 Tatsächlich bringen im Kontext der Liebesthematik Formulierungen wie „reife Person“ (mature person)7 oder „sexuelle Liebe in ihrer mündigen Form zwischen einem Mann und einer Frau“8 diese Engführung zum Ausdruck. Von der bereits im vorhergehenden Kapitel herausgestellten Beobachtung Mays, dass die Liebe in Zeiten des Umbruchs problematisch geworden ist, lässt sich ein zweiter Aspekt ableiten. Gegenüber der Tendenz, Liebe auf Sex zu reduzieren, versucht May ein grundlegenderes Verständnis der Liebe herauszustellen. Liebe, schreibt er in The Springs of Creative Living, reduziert sich nicht darauf, die richtige Person zu finden, sondern sie ist die richtige Haltung, die richtige Einstellung gegenüber der anderen Person.9 Was May damit meinen könnte, lässt sich durch die Definition von Liebe, die er in Man’s Search for Himself anführt, ergänzen: „Liebe ist die Freude in der Gegenwart (presence) der anderen Person und eine Bejahung
|| 5 Clement Reeves zeigt in seiner Studie Mays werkgeschichtlichen Rückgriff auf das Phänomen der Liebe auf. Grundsätzlich macht er in diesem Zusammenhang deutlich, dass May vor der systematischen Darstellung in Love and Will das Phänomen Liebe lediglich dafür verwendet, seine Thesen zu veranschaulichen. (Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 131). 6 Vgl. ebd., 132. Eine zu undifferenzierte Darstellung wirft ihm auch Carolyn Morell vor. Aufgrund seines unreflektierten Sexismus zeichne er Stereotypen. Morell zufolge übersieht May die Tatsache, dass die Geschlechterbeziehungen vor allem auch Machtbeziehungen sind. (Vgl. MORELL, Love and Will, 35–46). May reagiert in einem Beitrag auf Morells Kritik. (Vgl. MAY, Response to Morell’s “Love and Will. A Feministic Critique”, 47–50). Die ,Vernachlässigungʻ der philia begründet May wie folgt: “I was not writing for people who have pronounced problems about philia.” (MAY, Reflections and Commentary, 307). 7 MAY, Psychology and the Human Dilemma, 75. 8 MAY, Man’s Search for Himself, 180. 9 Vgl. MAY, The Springs of Creative Living, 15f.
Liebe bei Rollo May und Paul Tillich | 205
ihrer Werte und ihrer Entwicklung in gleichem Maße wie bei einem selbst.“10 Den Begriff presence, das betont Clement Reeves, scheint May in diesem Kontext nicht auf eine rein physische Präsenz zu reduzieren. Gemeint ist vielmehr in einem umfassenden Sinne die Person in ihrem Sein als eigenständige Person.11 Diese Haltung der Liebe setzt May zufolge zunächst zwei Momente voraus: Selbstbewusstsein (self-awareness), was für ihn Voraussetzung für Empathie ist, die er an anderer Stelle als „fundamentalen Prozess in der Liebe“12 definiert, und Freiheit13 – beide Momente bestimmt May in der genannten Schrift als das, was das Individuum in Zeiten der Unsicherheit zu einem tieferen Verständnis des eigenen Selbst befähigen soll.14 Aus diesem Grund versteht er die gesamte Schrift als ein „Vorwort zur Liebe“15. Das Kapitel zur Macht wird zeigen, dass Selbstbewusstsein ebenso wie Selbstbejahung, die der Psychotherapeut ebenfalls als Voraussetzung der Fähigkeit zu lieben versteht,16 für ihn ontologische Elemente sind. Damit wird schon angedeutet, dass May auch in seiner Liebeskonzeption – ähnlich wie Paul Tillich – eine ontologische Richtung einschlägt.
|| 10 MAY, Man’s Search for Himself, 182. 11 Vgl. Reeves, The Psychology of Rollo May, 123. Ein angemessenes Verständnis des Begriffs presence ist für May auch im psychotherapeutischen Prozess von entscheidender Bedeutung. Auch hier geht es darum, den Menschen nicht nur unter dem Aspekt der Probleme, die er oder sie mitbringen, zu betrachten, sondern ihn in seinem Sein wahrzunehmen. (Vgl. MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 80–84). 12 MAY, The Art of Counseling, 77: “It [sc. empathy] is the fundamental process in love. […] It is the feeling, or the thinking, of one personality into another until some state of identification is achieved.” Und 81: “In other words, it is impossible to know another person without being, broadly speaking, in love with him. But this state means that both persons will be changed by the identification which the love brings about. Thus it is literally true that love works a change in the personalities of both the lover and the loved. […] Love therefore carries tremendous psychological power.” 13 Vgl. MAY, Man’s Search for Himself, 182. Siehe ähnlich auch in DERS., Freedom and Destiny, 146. In dieser Schrift bringt May Liebe und Freiheit hinsichtlich ihrer Charakterisierung als Werte zusammen. Freiheit bildet für May die Grundlage aller Werte und geht aus diesem Grund der Liebe als Wert immer schon voraus. Siehe DERS., Freedom and Destiny, 6. Von der Liebe als Wert schreibt May auch in Psychology and the Human Dilemma, 75. Clement Reeves hebt diesen Aspekt auch hervor: “Love and creativity are both, for May, grounded in the ability of a strong self to affirm his own being and to reach out to participate in others, to produce or create something.” (REEVES, The Psychology of Rollo May, 124). 14 Vgl. MAY, Man’s Search for Himself, Preface, 57–129. Siehe hierzu auch REEVES, The Psychology of Rollo May, 131. 15 MAY, Man’s Search for Himself, 180. 16 Vgl. MAY, Freedom and Destiny, 146.
206 | Exkurs: Liebe
Clement Reeves spricht in seiner Darlegung der Liebe bei May deshalb auch von einer Entwicklung hin zu einer Ontologie der Liebe.17 Paul Tillich setzt in seiner Auseinandersetzung mit der Liebe, die sich in verschiedenen seiner Schriften findet, an der Vielzahl der Assoziationen mit dem Begriff an. Die Tendenz, Liebe auf ein bloßes Gefühl zu reduzieren, sticht dabei besonders heraus.18 Das Schicksal der verzerrten und „fragwürdigen Definitionen“ teilt das Wort Liebe Tillich zufolge mit dem Wort Glaube.19 Zweifellos besitzt die Liebe ein emotionales Element, aber darin erschöpft sie sich nicht. Liebe ist „ein Zustand der ganzen Person; in jedem Akt der Liebe sind alle Funktionen des menschlichen Geistes beteiligt“20 – auch darin ähnelt sie dem Glauben. Damit wird deutlich, dass die Liebe nicht als ein gesonderter Bereich im Leben betrachtet werden kann, den man auch ausklammern könnte. Liebe, schreibt Tillich, ist das „‚Blut‘ des Lebens“21, sie ist „die bewegende Macht im Leben.“22 In allen Lebensprozessen, die Tillich als Selbst-Identität, Selbst-Veränderung und Rückkehr-zu-sich-selbst charakterisiert, ist die Liebe wirksam.23 Und auch über den Bereich des eigenen Lebens hinaus verkennt eine Reduzierung der Liebe auf die Ebene des Gefühls nach Tillich deren Fähigkeit, „die Gesetze der Gerechtigkeit und die Strukturen der Macht zu ändern.“24 Erst ein wesensmäßiges Verständnis der Liebe kann ihre eigentliche Bedeutung zum Ausdruck bringen. In diesem Sinne definiert Tillich Liebe als den „Drang nach Wiedervereinigung des Getrennten“25. Damit zeigt er die Nähe seiner Liebeskonzeption zu derjenigen Platons an, wie dieser sie im Symposion in der Rede des Aristophanes von den Kugelmenschen darlegt: Die Menschen, die Zeus aufgrund ihres Übermutes voneinander trennt, sehnen sich fortan nach der Wiedervereinigung mit dem Getrennten.26 Von der Definition der Liebe als dem Drang zur Wiedervereinigung des Getrennten ausgehend lässt sich Tillichs Liebeskonzeption im Folgenden analysieren.
|| 17 Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 118. 18 Vgl. ST III 160. Siehe auch TILLICH, Dynamik des Glaubens, 89; GW XI 158. 19 Vgl. TILLICH, Dynamik des Glaubens, 13. Siehe auch ST III 155. 20 ST III 163. Siehe ST III 162: „Sie [sc. die Liebe] ist die Bewegung des ganzen Seins einer Person auf eine andere Person hin mit dem Verlangen, die existentielle Trennung zu überwinden.“ 21 Ebd., 160. 22 GW XI 158. 23 Vgl. ST III 160. Zu den Lebensprozessen vgl. ST III 42–46. Siehe auch GW XVI 336–339. 24 GW XI 158. 25 ST III 160. Siehe auch TILLICH, Dynamik des Glaubens, 87; GW XI 158. 26 Vgl. PLATON, Symposion, 190b–191b.
Interdependezen in der Beschäftigung mit der Liebe | 207
2 Entwicklungen hin zu einer Ontologie der Liebe: Interdependenzen in der Beschäftigung mit der Liebe 2.1 Qualitäten der Liebe Tillich und May orientieren sich bei der Entfaltung ihrer Liebeskonzeption an den vier griechischen Begriffen für Liebe: epithymia – wobei hier beide den lateinischen Begriff libido gebrauchen –, philia, eros und agape. Paul Tillich bezeichnet diese in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von dem evangelischen Theologen Anders Nygren, der in seiner einflussreichen zweibändigen Studie Eros und Agape einen Gegensatz zwischen eros und agape postuliert,27 als Qualitäten der Liebe und versucht damit, die Einheit der vier begrifflich ansichtig zu machen.28 Ein Verständnis von verschiedenen Qualitäten der einen Liebe unterscheidet sich für Tillich fundamental von der Auffassung, libido, philia, eros und agape seien unterschiedliche Typen der Liebe. Letzteres lässt den Gedanken der Einheit nicht zu, sondern stellt die vier Arten der Liebe verbindungslos nebeneinander.29 Tillich zufolge gibt es aber einen Punkt, in dem alle Qualitäten der Liebe übereinstimmen und der dazu berechtigt, sie alle als Liebe zu bezeichnen. Um diesen aufzuzeigen, greift er zurück
|| 27 Vgl. NYGREN, Eros und Agape, Bd. I, 177–205. Der erste Band ist 1930, der zweite 1937 erschienen. Tillich spielt darauf beispielsweise in ST III 162 und GW XI 161 an. Zu der Gegenüberstellung von Tillich und Nygren siehe ACAPOVI, L’Être et l’Amour, 273–297. Siehe auch SCHÜSSLER, Philosophischer Eros und christliche Agape, 63–68; DERS., Das Sein und die Liebe, 25. Julia T. Meszaros bezeichnet in ihrer Schrift Selfless Love and Human Flourishing in Paul Tillich and Iris Murdoch hinsichtlich des Verständnisses christlicher Liebe Nygren als den Hauptkontrahenten (main opponent) Tillichs. (MESZAROS, Selfless Love and Human Flourishing, 48). 28 Vgl. GW XI 160: „Die Ontologie der Liebe erschließt uns die Grundeinsicht, daß Liebe in sich eins ist. Das steht im Widerspruch zu Hauptströmungen in den jüngsten Untersuchungen über das Wesen der Liebe. Diese waren insofern nützlich, als sie die verschiedenen Qualitäten der Liebe herausstellten. Aber sie stifteten und stiften insoweit Verwirrung, als sie die verschiedenen Qualitäten zu unterschiedlichen Typen der Liebe machten.“ Siehe auch GW III 37: „Die Liebe ist eine. Ihre verschiedenen Qualitäten gehören zusammen, obwohl sie sich verselbstständigen und einander bekämpfen können.“ Und GW XI 146: „Aber es ist mir bei der Abfassung dieser Vorträge klar geworden, daß es keine verschiedenen Typen, sondern nur Abwandlungen der Liebe gibt, denn die verschiedenen Qualitäten sind in jeder Bekundung der Liebe enthalten, entweder als wirkende Kraft oder in der Form des Mangels.“ Siehe auch DERS., Dynamik des Glaubens, 89: „Liebe als eine Einheit von Eros und Agape ist eine Folge des Glaubens.“ 29 Vgl. GW XI 160.
208 | Exkurs: Liebe
auf die oben bereits angesprochene Definition von Liebe als dem „Drang zur Wiedervereinigung des Getrennten“30. Aus diesem Moment der Identität leitet Tillich die Einsicht ab, dass Liebe unteilbar eine ist.31 Trotz der Identität zeigt sich der Drang zur Wiedervereinigung in jeder der vier Qualitäten der Liebe in je eigener Gestalt. Hinsichtlich des Begriffs der epithymia bzw. libido arbeitet sich Tillich wie May auch an dem Freudschen Verständnis der libido als „d[es] Verlangen[s] des Individuums […] sich von seinen Spannungen zu befreien“ ab und stellt diesem die libido „als de[n] natürlichen Trieb zu vitaler Selbsterfüllung“ gegenüber.32 Was Freud als libido beschreibt, ist Tillich zufolge lediglich eine entartete Form, die sich im Zustand der Selbstentfremdung befindet.33 Die Bewegung der libido beschreibt Tillich als die „Bewegung des Bedürftigen zu dem hin, was das Bedürfnis erfüllt.“34 Eros als die „mystische Qualität der Liebe“35 umschreibt Tillich unter dem Aspekt der Wiedervereinigung von Getrenntem „als die Bewegung dessen, was geringer in Sein und Sinn ist, zu dem, was höher ist“36, als das Streben „nach Vereinigung mit einem Wesen, das Werte verkörpert, und zwar um dieser Werte willen“37. Eros ist nach Tillich der transpersonale Pol der Liebe, dem die philia, die „Freundschaft-Qualität der Liebe“38, als personaler Pol gegenübersteht.39 Die Bewegung der philia ist die „von Gleichem zur Vereinigung mit Gleichem“40. Beide Pole gehören für Tillich in einem besonderen Maße zusammen: Die Fähigkeit zu einer Ich-Du-Beziehung ist Voraussetzung für eine Beziehung zum Grund des Seins.41 Von diesen bisher genannten Qualitäten der Liebe unterscheidet sich die agape insofern, als sie die drei anderen Qualitäten transzendiert, weil sie „das Begehren nach der letzten Erfüllung“42 ist. Während libido, eros und philia abhängig sind von „Abneigung und Anziehung, von Leidenschaft und Sympathie“, ist agape von all dem unabhängig und „bejaht den anderen bedingungslos“.43 Deshalb spricht Tillich in Bezug || 30 Ebd. Siehe auch ST III 163. 31 Vgl. ST III 163. 32 GW XI 161. 33 Vgl. ebd. 34 ST I 322. 35 GW III 35. 36 ST I 322. 37 GW XI 161f. 38 GW III 35. 39 Vgl. GW XI 162. 40 ST I 322. 41 Vgl. GW XI 162. 42 ST I 322. 43 Ebd.
Interdependezen in der Beschäftigung mit der Liebe | 209
auf die agape auch von der „Tiefendimension der Liebe“44. Trotz der exponierten Stellung, die der agape als dem Kriterium aller anderen Qualitäten zukommt, bleibt für Tillich entscheidend, dass die Liebe eine ist.45 Der Einheitsgedanke der vier Liebesbegriffe findet sich auch bei May, der davon ausgeht, dass „jede menschliche Erfahrung von authentischer Liebe […] eine Mischung, in variierenden Verhältnissen, dieser vier [Arten der Liebe]“46 ist. Anders als von Qualitäten oder Typen der Liebe spricht May von Arten der Liebe (kinds of love).47 Die Rede von Arten der Liebe findet sich zuweilen auch bei Tillich, beispielsweise im dritten Band seiner Systematischen Theologie.48 Trotz des Einheitsgedankens liegt Mays Fokus auf eros und libido, die er mit Freud und Platon zu erläutern sucht. Die Ausführungen zu agape und philia, darauf weist auch Clement Reeves hin, bleiben dabei eher marginal.49 In seinem Kommentar zu Reeves Schrift nimmt May zu dieser Beobachtung direkt Stellung. Unter Verweis auf seine Intention, in seinem schriftstellerischen Wirken jene im Blick zu haben, die selbst Fragende und Suchende sind, konzentriert sich May auf solche Fragen und Probleme, die ihm im Kontakt mit Menschen in seinem psychotherapeutischen Arbeiten begegnen.50 Diese Anmerkung entspricht dem, was May generell über seine Werke schreibt.51 May zufolge ist es die Verwechslung (confusion) von libido und eros, die in Bezug auf die Liebe die therapeutischen Begegnungen seiner Zeit bestimmen; die Frage nach philia und agape treten dabei in den Hintergrund.52 Obwohl bereits in der ersten Veröffentlichung Mays The Art of Counseling die Liebe Erwähnung findet und einige der folgenden Schriften den Begriff unter verschiedenen Gesichtspunkten behandeln, macht Reeves in seiner Studie darauf aufmerksam, dass sich die Darstellung der Liebe unter dem Gesichtspunkt der vier Arten der Liebe ausschließlich || 44 GW XI 163. 45 Vgl. GW III 35. Die Spannung zwischen der exponierten Stellung der agape und der gleichzeitigen Betonung der Einheit durchzieht alle Stellen, in denen Tillich die vier Qualitäten der Liebe thematisiert. Siehe beispielsweise auch ST III 163: „Trotzdem enthält die Betonung des Gegensatzes zwischen agape und den anderen Arten der Liebe eine wichtige Wahrheit: agape ist eine ekstatische Manifestation des göttlichen Geistes. Sie ist nur möglich in Einheit mit dem Glauben.“ 46 MAY, Love and Will, 38. Siehe auch ebd., 320: “In normal human relations, each kind of love has an element of the other three, no matter how obscured it may be.” 47 Vgl. ebd., 36. 48 Vgl. ST III 163. 49 Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 143. 50 Vgl. ebd., 132. 51 Siehe S. 16 in dieser Arbeit. 52 Vgl. MAY, Reflections and Commentary, 307.
210 | Exkurs: Liebe
in Love and Will findet.53 Einzig in The Discovery of Being finden sich einige Gedanken hinsichtlich der Verbindung von eros und agape. Während er agape als „selbstlose Liebe, Sorge um das Wohl(ergehen) der anderen Person“ definiert, versteht er den eros als transzendierendes Moment.54 Am Ende der genannten Schrift bringt May die vier Qualitäten der Liebe zusammen und zeigt ihre Beziehung zueinander auf. Eros und libido – May verwendet hier zwar den Begriff Sex, im Kontext der vier Qualitäten der Liebe ist damit aber die libido gemeint – bringt er zusammen, indem er den eros als das Moment qualifiziert, das die libido vor der Selbstzerstörung bewahrt. Ähnlich wie Tillich qualifiziert er die Verbindung von eros und philia als besonders eng, wenn er schreibt, dass eros ohne philia nicht leben könne, und er charakterisiert diese Verbindung als „brüderliche Liebe und Freundschaft“ 55. Philia versteht May als Freundschaft in ihrer einfachsten Form, nämlich als voraussetzungslose Akzeptanz des Gegenübers, wobei er sich hier auf Tillich bezieht.56 In der Definition der agape unterscheidet sich May von Tillich jedoch, wenn er agape als Wertschätzung (esteem) für den oder die andere umschreibt.57 Zentral für sein Verständnis der neutestamentlichen agape ist die Idee des selbstlosen Gebens, welche auch die englische Übersetzung des griechischen Begriffs durch charity zum Ausdruck bringt.58 Auffallend ist, dass Mays Liebesverständnis insgesamt von dem Gedanken des Gebens durchzogen ist; dieses Moment ist für ihn die Voraussetzung für jede der vier Arten der Liebe.59 Angesichts der Kürze der Darstellung der vier Arten der Liebe sowie deren Positionierung am Schluss der Schrift könnte man May unterstellen, dass er damit nur einer gewissen Vollständigkeit in der Thematisierung der Liebe nachkommen möchte, wenngleich diese aber keinen weiterführenden Impuls für seine Liebeskonzeption bietet.
|| 53 Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 131. 54 Vgl. MAY, The Discovery of Being, 18f. 55 MAY, Love and Will, 317. 56 Vgl. ebd. 57 Vgl. ebd., 319. 58 Vgl. ebd. 59 Vgl. ebd., 320.
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2.2 Liebe als Wiedervereinigung des Getrennten im Sinne der Polarität von Individualisation und Partizipation Das Verständnis der Liebe als „das Verlangen nach der Einheit des Getrennten“60 ist für Tillich auch Ausgangspunkt, von einer Ontologie der Liebe zu sprechen, wie er sie in Love, Power, and Justice entwickelt. Was es heißt, dass Liebe ontologisch zu verstehen ist, fasst Tillich wie folgt zusammen: „Leben ist verwirklichtes Sein, und die Liebe ist die bewegende Macht im Leben.“61 Dabei greift er auf den aristotelischen Lebensbegriff zurück.62 Leben ist in diesem ontologischen Sinne als Prozess zu verstehen, in dem sich aktualisiert, was potenziell die Macht zu sein besitzt. Und dabei ist es die Liebe, so lässt sich diese Charakterisierung verstehen, die den Prozess der Verwirklichung in Gang bringt. Das Streben nach Einheit ist es, was die Liebe zu einer (an-)ziehenden Kraft macht, die in Bewegung setzt. Auch hier zeigt sich wieder Tillichs Orientierung am platonischen Liebesverständnis. Die Definition der Liebe als „Wiedervereinigung des Getrennten“ setzt schon voraus, dass das, was nach Einheit strebt, vormals schon eine Einheit gewesen sein muss. Anschaulich wird diese Vorstellung – wie schon angedeutet – bei den platonischen Kugelmenschen. In diesem Sinne schreibt Tillich: „Wiedervereinigung aber setzt Trennung dessen voraus, was seinem Wesen nach zusammengehört.“63 Werner Schüßler zeigt in seinem Beitrag Das Sein und die Liebe die Nähe des Gedankens von Trennung und Wiedervereinigung zu der Polarität von Individualisation und Partizipation auf. Mit diesem ersten ontologischen Elementenpaar macht Tillich deutlich, dass Individualisation, d.h. das Getrennt-und-in-sich-selbst-zentriert-Sein und das Teil-einer-Umwelt-oder-Welt-Sein zur Grundstruktur jedes Seienden gehören.64 Wie schon an anderer Stelle dieser Arbeit ausgeführt, ist nach Tillich der Mensch das am stärksten zentrierte und deshalb individualisierte Wesen. Allein der Mensch kann deshalb Person genannt werden.65 In der Wiedervereinigung einzelner Personen zeigt sich Tillich zufolge deshalb auch „[d]ie Erfüllung und der Triumph der Liebe“, indem sie nämlich „imstande ist, das am radikalsten
|| 60 GW XI 158. 61 Ebd. 62 In der Vorlesung Die Zweideutigkeit der Lebensprozesse arbeitet Tillich fünf Bedeutungen des Lebensbegriffs heraus. Der Lebensbegriff des Aristoteles, an dem er sich hauptsächlich orientiert und den er als ontologischen Lebensbegriff charakterisiert, ist in Tillichs Konzeption der entscheidende. Vgl. GW XVI 337–339; ST III 21. 63 GW XI 158. 64 Vgl. SCHÜSSLER, Das Sein und die Liebe, 25. 65 Siehe S. 73 in dieser Arbeit.
212 | Exkurs: Liebe
getrennte Seiende […] wieder zu vereinen.“66 „Trennung von sich selbst“ und „Bleiben in sich selbst“ drückt nach Tillich außerdem die „doppelte Bewegung“ aus, die jedem Lebensprozess immanent ist.67 Rollo May stellt in ähnlicher Weise den ontologischen Charakter der Liebe heraus. Die Polarität von Individualisation und Partizipation, die er als „fundamentale Polarität der gesamten Wirklichkeit“ bezeichnet, kann seiner Auffassung nach „direkt und innig“ im sexuellen Verkehr erfahren werden. Dabei hat May aber, wie zuvor schon angesprochen, einen ausschließlich heterosexuellen Deutungshorizont. Aufgrund der Fokussierung der beiden Pole von Individualisation und Partizipation auf den sexuellen Akt erscheint Mays Konzeption an dieser Stelle fast schon wie eine Reduktion auf die Dimension des Physischen: „Im Rhythmus der Partizipation an der Einheit in einem dualen Wesen und der letztlichen Trennung in individuelle Autonomie sind die zwei notwendigen Pole der menschlichen Existenz selbst enthalten, die sich in ihrer Fülle im sexuellen Verkehr zeigen.“68 Diesen Eindruck bestärkt auch der von May in diesem Zusammenhang angeführte Verweis auf den Mythos des Aristophanes, der in der Idee der Kugelmenschen zunächst auch eine physische Idee vom Streben nach Einheit darstellt.69 An anderer Stelle löst May diese Engführung aber auch wieder auf und spricht vom eros als „Trieb nach Einheit mit dem, zu dem wir gehören“.70 In der späteren Schrift Power and Innocene, in der er Liebe und Macht in einen Zusammenhang bringt, greift er auf die Ontologie der Liebe zurück: Liebe definiert er hier abgrenzend gegenüber einer Reduktion auf das Emotionale ontologisch als einen Zustand des Seins71 oder des Prozesses.72
|| 66 GW XI 159. 67 EW XVI 351. 68 MAY, Love and Will, 112f. 69 Vgl. ebd., 113. 70 REEVES, The Psychology of Rollo May, 119: “This movement of separation or individuation and participation or longing to belong is the ontological nature of love.” 71 Vgl. MAY, Power and Innocence, 113. 72 Vgl. ebd., 114.
Macht Was heißt das: Macht? Das ist so herrlich unpräzis. Als ob jeder wüsste, was das sei: Macht. Als ob klar sei, wer sie besäße, woraus sie bestünde. Als ob sie ein statisches Ding wäre.1 Carolin Emcke
1 Was ist Macht? Obwohl oder gerade weil es nach Tillich „keine Lebenssphäre gibt“, in der „das Problem [der Macht] nicht aktuell und zentral“ ist,2 bleibt der Begriff, wie Carolin Emcke schreibt, „so herrlich unpräzis“3. Dabei mangelt es theoriegeschichtlich nicht an Definitionsversuchen. Die Heterogenität der Vorstellungen von Macht erweckt allerdings den Eindruck, so Andreas Anter in seinem einführenden Werk Theorien der Macht, als ob jeder von einem ganz anderen Phänomen spreche.4 Auffallend ist Peter Imbusch zufolge die breite Kluft zwischen einem alltäglichen und einem wissenschaftlichen Verständnis von Macht: Während Ersteres vorzugsweise negativ konnotiert ist, was sich etwa in Begriffen wie Machtanspruch, Machtmissbrauch, Machtapparat, Machthaber oder Machtkampf darstellt, weisen wissenschaftliche Untersuchungen ein weitaus differenzierteres Bild auf, ohne dabei aber zu einer einheitlichen Theorie zu gelangen. Die Schwierigkeit einer abschließenden Definition liegt in dem relationalen Charakter der Macht, die sich ausschließlich in Beziehungen realisiert.5 Eine abschließende Definition ist auch deshalb so schwierig, weil die Vielfältigkeit der Macht nicht wahrgenommen wird, wenn der Begriff ausschließlich auf Herrschaft reduziert wird. Macht begegnet aber in jeder Sphäre des Lebens, nicht zuletzt auch auf der Ebene des Emotionalen.6
|| 1 EMCKE, Ja heißt ja und …, 22. 2 GW IX 205. 3 EMCKE, Ja heißt ja und …, 22. 4 Vgl. ANTER, Theorien der Macht, 11f. 5 Vgl. IMBUSCH, Macht und Herrschaft in der wissenschaftlichen Kontroverse, 9f. Der von Peter Imbusch herausgegebene Sammelband Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Theorien und Konzeptionen, der von dem hier zitierten Beitrag eingeleitet wird, bietet eine breite Auseinandersetzung mit dem Thema Macht und Herrschaft. 6 Vgl. EMCKE, Ja heißt ja und …, 26f. https://doi.org/10.1515/9783110780581-009
214 | Macht
Für die Machtkonzeptionen von Rollo May und Paul Tillich ist es charakteristisch, dass sie sich gegen ein ausschließlich negatives Verständnis von Macht aussprechen.7 Dazu setzen sie gemäß ihrer Profession unterschiedlich an, um sich dann aber in entscheidenden Aspekten zu treffen.
2 Macht bei Rollo May und Paul Tillich 2.1 Rollo May 2.1.1 Ein psychotherapeutisches Verständnis der Macht 2.1.1.1 Die Frage nach dem Woher von Aggression und Gewalt Dem Thema Macht hat Rollo May 1972 eine eigene Schrift gewidmet mit dem Titel Power and Innocence. A Search for the Sources of Violence. Das Erkenntnisinteresse, das hinter dieser Abfassung der Schrift steht, formuliert er wie folgt: „In meiner Beschäftigung mit Macht versuche ich, eine Ebene unterhalb der Natur- und der Erziehungstheorien, unterhalb der Instinkt- und Kulturargumente zu erreichen. Ich suche die Antwort auf die Frage: Was erreicht der einzelne Mensch durch Aggression und Gewalt?“8 In seiner Profession als Psychotherapeut sucht May hier also nach einem soziologischen sowie anthropologischen bzw. – das werden die Ausführungen zeigen – einem ontologischen Erklärungsansatz für das Phänomen Macht, das er mit Gewalt und Unschuld in Verbindung bringt. Motiviert ist seine Fragestellung zum einen durch die hohe Gewaltbereitschaft, die insbesondere in den Auseinandersetzungen zwischen Schwarzen und Weißen im New Yorker Stadtteil Harlem zutage trat, aber auch ganz generell in den USA gegenwärtig war.9 „Amerika“, schreibt er in The Courage to Create, „gehört zu den gewalttätigsten unter den so genannten zivilisierten Nationen.“10 Zum anderen macht ihn sein therapeutisches Arbeiten sensibel für das weit verbreitete Gefühl eines Verlusts individueller Bedeutsamkeit, was May || 7 Vgl. GW IX 207: „Es ist, als ob das Wort ‚Macht‘ auf Grund dieser falschen Identifizierung [sc. mit Zwang] eine Art negativer Magie auf viele Menschen ausübt: wenn sie es hören, eilen sie davon. Sie hören etwas Dämonisches aus dem Wort ‚Macht‘ heraus […].“ Siehe auch SCHÜSSLER, „Was uns unbedingt angeht“, 202. Auch aus psychologischer Perspektive ist Macht bzw. das Streben nach Macht keine ausschließlich negative Tendenz, sondern ein natürlicher entwicklungspsychologischer Vorgang. 8 MAY, Power and Innocence, 40. 9 Vgl. ebd., 27. 10 MAY, The Courage to Create, 15. Siehe auch DERS., The Cry for Myth, 100; DIAMOND, Anger, Madness, and the Daimonic, 1–8.
Macht bei Rollo May und Paul Tillich | 215
zufolge in letzter Konsequenz nicht selten Quelle von Aggression und Gewalt werden kann.11 Vor diesem Hintergrund bedarf es zunächst einer Darlegung von Mays Machtverständnis anhand dessen er, wie eingangs erwähnt, eine Antwort auf Gewalt und Aggression zu finden versucht. Im Sinne einer allgemeinen Definition versteht May unter Macht (power) „die Fähigkeit, eine Veränderung herbeizuführen oder zu verhindern“12. Ausgehend von dieser allgemeinen Definition unterscheidet er zwei Dimensionen der Macht: Macht als Potentialität (power as potentiality) und Macht als Aktualität (power as actuality).13 Auch wenn er selbst nicht darauf hinweist, liegt sowohl der Terminologie als auch der Ausdeutung der Begriffe die Unterscheidung von Akt und Potenz im Sinne der Unterscheidung von realisierter Tätigkeit einerseits und Vermögen andererseits zugrunde.14 Eine nähere Betrachtung dieser beiden Dimensionen der Macht zeigt die Mehrdeutigkeit des englischen Begriffs power, die eine direkte Übersetzung mit „Macht“ eigentlich nicht zulässt. Was im Englischen unter den Begriff power subsumiert wird, ist im Deutschen mit Begriffen wie Kraft, Macht und Fähigkeit wiederzugeben. 2.1.1.2 Macht als Aktualität Unter Macht als Aktualität versteht May verwirklichte Macht. Mit dem Verweis auf Heraklits Lehre vom beständigen Im-Werden-Sein aller Dinge, Tillichs ‚Macht zu sein‘, die er an dieser Stelle als ‚Macht des Seins‘ (the power of being) bezeichnet, Nietzsches ‚Wille zur Macht‘ sowie Bergsons ‚élan vital‘ sucht May aufzuzeigen, dass Macht etwas Dynamisches ist, das nach Ausdruck sucht.15 Diesem Moment der Macht – der Macht als Aktualität – gibt er zunächst in seiner Darstellung den Vorrang vor den Ausführungen zur Macht als Potentialität, und er bestimmt Macht vor einem psychologischen Hintergrund näherhin als die „Fähigkeit, auf andere Personen einzuwirken, sie zu beeinflussen und zu ändern“.16 Mit diesem Machtverständnis reiht sich der Psychotherapeut in die Machtkonzeptionen bekannter Psychologen wie Kurt Lewis, Bertram Raven und John R. P. French ein, die, so fasst es Ulrike Becker-Beck zusammen, Macht
|| 11 Siehe die deutsche Übersetzung von Power and Innocence mit dem Titel Die Quellen der Gewalt. Eine Analyse von Schuld und Unschuld. Übersetzt von Joachim A. Frank. 12 MAY, Power and Innocence, 99. 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. SCHLÜTER, Art. Akt/Potenz, 134. 15 Vgl. MAY, Power and Innocence, 100. 16 Ebd.
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ebenfalls als einen „potentiell sozialen Einfluss“ verstehen, der sich in der „Möglichkeit, eine Verhaltens- oder Einstellungsänderung bei einer anderen Person zu bewirken“, ausdrückt.17 May unterscheidet dabei fünf Typen der Macht, welche verdeutlichen, wie sich Macht im Sinne des Einwirkens auf andere darstellt. Die einfachste und zugleich auch destruktivste Form der Macht stellt der Zwang (force) dar. Diese Form der Macht zeigt sich dort, wo Menschen andere Menschen für ihre Zwecke instrumentalisieren. Das offensichtlichste Beispiel dafür weist die lange Geschichte der Sklaverei auf bzw. speziell auf die amerikanische Geschichte gemünzt die Gewaltausübung der Pioniere. Eine solche Machtdemonstration bezeichnet May als ausbeuterisch (exploitative). Von dieser Form der Macht, die der unterworfenen Person keinen Raum für Wahlmöglichkeiten oder Spontaneität lässt, unterscheidet May jene Macht, die er manipulativ (manipulative) nennt. Wenngleich sich dieser Typ von Macht ebenfalls dadurch auszeichnet, dass eine Person Macht über eine andere ausübt, bleibt hier zumindest ein kleiner Raum für Wahlmöglichkeiten und Spontaneität.18 Macht, die gegeneinander wirkt, bezeichnet May als kompetitiv (competitive). Hinsichtlich dieser Form der Macht zeigt er erstmals neben der negativen auch eine positive Seite auf. Negativ ist eine solche Form der Macht, wenn die Überlegenheit der einen Person auf der Unterlegenheit der anderen basiert. Das kompetitive Moment kann aber auch anspornend sein und zu mehr Leistung befähigen. May denkt hier an sportliche Wettkämpfe oder berufliches Weiterkommen. Ein viertes Machtmoment, das sich als nährend (nutrient) charakterisieren lässt, ist Macht, die für die andere Person eingesetzt wird. Solche Macht, die dem Wachstum des Gegenübers dient, umfasst die Macht der Eltern oder Lehrender ebenso wie die Macht in Freundschaften oder Partnerschaften. May schließt die Aufzählung der Formen von Macht mit dem ab, was er integrative (integrative) Macht nennt. Hier begünstigt die Macht der einen Person die Macht der anderen. Das Verhältnis ist somit das eines Miteinanders. Beispielhaft führt er hierzu die gewaltfreie Macht Martin Luther Kings Jr. oder Mahatma Gandhis an, deren Gewaltverzicht zugleich psychologische und spirituelle Macht demonstrierte. Gewaltfreie Macht hat May zufolge darin ihre Wirkung, dass sie das Gegenüber nicht aus der Verantwortung entlässt, sondern im Gegenteil, dem Gegenüber die eigene Schuld an der Situation und dem herrschenden Leid auf-
|| 17 Vgl. BECKER-BECK, Macht und Gewalt aus (sozial)psychologischer Sicht, 101. 18 Vgl. MAY, Power and Innocence, 105–107. Das Moment der Spontaneität taucht in den Schriften Mays an verschiedener Stelle auf, was vermuten lässt, dass er diese als ein wichtiges Moment im psychotherapeutischen Prozess versteht. Siehe beispielsweise MAY, The Courage to Create, 116.
Macht bei Rollo May und Paul Tillich | 217
zeigt. Ziel der gewaltfreien Macht ist dabei aber nicht das eigene Wohl, sondern sie zielt auf die Machtsteigerung einer größeren Gruppe, in Mays Beispielen ist dies das indische Volk oder die Schwarze Community.19 May zufolge sind alle fünf Arten der Macht zu unterschiedlichen Zeiten in ein und derselben Person gegenwärtig. Entscheidend dabei ist, welcher Anteil im Gesamt der Persönlichkeit zukommt. Diese Frage ist für May von moralischer Art; allerdings erläutert er dies nicht näher. Zweifelhaft ist in diesem Zusammenhang seine These, dass es „das Ziel der menschlichen Entwicklung ist […], den situationsadäquaten Gebrauch dieser unterschiedlichen Formen der Macht zu lernen.“20 Kann es – so lässt sich fragen – überhaupt eine legitime Ausübung der ausbeuterischen oder manipulativen Macht geben? 2.1.1.3 Macht als Potentialität Unter Macht als Potentialität versteht May noch nicht realisierte Möglichkeiten, die im Menschen angelegt, aber nicht schon vollständig entwickelt sind. Dazu weist er etymologisch auf die gemeinsame Wurzel der Begriffe possibility und power hin, die vom lat. posse herkommend May zufolge ausdrücken, was im Englischen to be able meint, nämlich: imstande sein, können, fähig sein.21 Hinsichtlich dieser Herleitung des Begriffs würde sich im Deutschen der Begriff Vermögen eher anbieten, um diese Bedeutungsfacette des Begriffs power wiederzugeben.22 Die Überlegungen zur Macht als Potentialität korrespondieren mit Mays Definition von Sein als einem „einzigartigen Muster an Potentialitäten“23. Die Nähe dieser Konzeptionen deutet bereits an, dass seine Machtkonzeption unter anderem auch ontologisch motiviert ist. An späterer Stelle soll dieser Aspekt näher dargelegt werden, denn an Mays Anspruch, die ontologische Dimension der Macht aufzuweisen, lässt sich eine grundlegende Schwierigkeit der interdisziplinären Arbeitsweise des Psychotherapeuten aufzeigen. Jeder Mensch weist nach May fünf Stufen der Macht im Sinne einer Potentialität auf. Die Macht zu sein (power to be), die sich bereits im Neugeborenen zeigt, ist nach May die erste Phase. Schreien und Gestikulieren als Ausdruck von Bedürfnissen oder Unwohlsein sind Aufweis dafür, dass der Mensch von Anfang an mit Macht im Sinne Mays, nämlich im zwischenmenschlichen Gefü-
|| 19 Vgl. MAY, Power and Innocence, 107–113. 20 Ebd., 113. 21 Vgl. ebd., 19; 99. Siehe auch MAY, Freedom and Destiny, 10. 22 Der englische Begriff capacity würde sich hier besser eignen, der synonym mit ability verwendet werden kann. 23 MAY, Power and Innocence, 121. Siehe S. 30 in dieser Arbeit.
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ge, ausgestattet ist. Diese Phase der Macht ist somit nicht kultureller Natur, sondern allein der Tatsache des bloßen Daseins geschuldet. Nach dieser anfänglichen Phase entwickelt jedes Seiende nach May das Bedürfnis, das eigene Sein zu bejahen (self-affirmation). Aufgrund der Entwicklung des Selbstbewusstseins ist es vor allem der Mensch, dem es ab einem bestimmten Punkt seiner Entwicklung nicht allein um das physische Überleben geht, sondern um die Frage nach Bedeutsamkeit und die herausfordernde Entwicklung eines Selbstwertgefühls. Der Schrei danach, wahrgenommen zu werden, ist der zentrale Schrei in der Herausforderung, das eigene Sein zu bejahen. Wenn die Bejahung des eigenen Seins auf Widerstand stößt und das Individuum das eigene Selbst dagegen behauptet (self-assertion), spricht May von einer dritten Phase der Macht als Potentialität. Deutlicher als zuvor tritt jetzt das Individuum für sich selbst und seine Überzeugungen ein, entgegen möglicher Widerstände von außen. Aggression (aggression) als die vierte Phase ist nach May die natürliche Reaktion, wenn die Möglichkeit der Selbstbehauptung über einen längeren Zeitraum verhindert wird. Dies zeigt sich ihm zufolge beispielhaft an gewaltsamen Reaktionen unterdrückter Minderheiten. Anders als in der vorherigen Phase geht es hier nicht mehr um eine klare Grenzziehung im Sinne von „Das bin ich, das ist meines“. Auf der Stufe der Aggression dringt das Individuum gezielt in den Bereich anderer Personen ein und versucht, das Machtverhältnis zu ändern. Wenn diese aggressiven Äußerungen nicht zielführend sind, können sie zu krankhaften Formen wie Neurosen, Psychosen oder letztlich zu Gewalt führen, was auch schon zur fünften und letzten Phase überleitet, der Phase der Gewalt (violence), die anders als die anderen Phasen im Bereich des Physischen verortet ist.24 Macht ist für den Psychotherapeuten die objektive Seite der Erfahrung, Wirkung und Einfluss zu haben, deren subjektive Seite er als sense of significance bezeichnet, also als das Gefühl, Bedeutung zu haben, welches für seine Machtkonzeption von zentraler Bedeutung ist.25 Zugleich bietet das Bedürfnis, das hinter dem sense of significance steht, die Antwort auf Mays Frage danach, was der Mensch mit Aggression und Gewalt zu bewirken versucht.
|| 24 Vgl. MAY, Power and Innocence, 40–43. 25 Vgl. ebd., 35.
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2.1.2 Leben als Konflikt zwischen Macht und Machtlosigkeit 2.1.2.1 Der sense of significance „Kein Mensch“, schreibt May, „kann lange ohne irgendein Gefühl seiner eigenen Bedeutsamkeit existieren.“26 Dieser Erfahrung bzw. diesem Gefühl räumt der Psychotherapeut eine herausragende Bedeutung mit Blick auf die Selbstwahrnehmung des Menschen ein. Es ist die Erfahrung, dass der Mensch mit seiner Person etwas bewirken kann, dass er andere Menschen beeinflussen und ändern kann, dass er wertvoll ist und wahrgenommen wird.27 Aufgrund seines Eingebundenseins in ein – wie May es nennt – „zwischenmenschliches Netz, analog zu magnetischen Kraftfeldern“28, erfährt der Mensch, das wesenhafte zoon politikon, den sense of significance in zwischenmenschlichen Beziehungen.29 Die fünf Typen der Macht, die immer eine Form der Macht einer Person oder einer Gruppe in Bezug auf eine andere Person oder Gruppe darstellen, zeugen von dem interpersonalen Charakter der Macht. Davon unterscheidet May eine ‚rein personale' (purely personal) Macht, die ihm zufolge mit strength, also Kraft bzw. Stärke, zu tun hat.30 In der Fokussierung auf die Bedeutung interpersonaler Beziehungen innerhalb seines Machtverständnisses orientiert sich May an dem Ansatz des Psychiaters Harry Stack Sullivan, der das Studium interpersonaler Prozesse als das Hauptfeld der Psychiatrie auffasst. Hinsichtlich interpersonaler Akte nimmt Sullivan eine Klassifizierung auf zwei Ebenen vor: || 26 Ebd., 37. 27 Vgl. ebd., 100; 166. 28 Ebd., 100. 29 Vgl. ebd., 20. Siehe CRANACH, Macht als soziales und gesellschaftliches Phänomen, 211: „Der Mensch ist ein zôon politikón in doppelter Hinsicht, als soziales und als gesellschaftliches Wesen: Er ist sozial aufgrund seiner individuellen Ausstattung, beruhend auf phylogenetischen Anlagen und ihrer sozialen Weiterentwicklung. Er ist darauf angelegt, in der Interaktion und Kommunikation Beziehungen zu entwickeln und in ihnen zu leben; ohne diese ist er nicht lebensfähig.“ Interessant ist in diesem Zusammenhang die Schrift von Sarah Bianchi Einander nötig sein. Existentielle Anerkennung bei Nietzsche, in der sie den Gedanken des „immer schon relational verzahnten Selbst“ bei Nietzsche herausarbeitet. „Sowohl die intersubjektive Tradition von Anerkennung als auch die Verkennungslinie gehen von einem relational verstandenen Selbst aus, somit von keinem essentiellen Selbst, von keinem Selbst, das fernab zwischenmenschlicher Beziehungen autark existiert und lediglich gefunden werden müsste. Ein solch relationales Selbst entwickelt sich demnach aus relationalen Beziehungsgeflechten heraus. Dieses so verstandene Selbst zeigt den verwobenen Charakter zwischenmenschlicher Beziehungsgeflechte an: Individuen, die ursprünglich miteinander verbunden sind. Nietzsche geht es dabei um eine solch soziale Verzahnung des Selbst, die sich existentiell im Lebenszusammenhang zeigt.“ (Ebd., 65). 30 Vgl. MAY, Power and Innocence, 35.
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Auf der biologischen Ebene richten sich die interpersonalen Akte auf die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse wie Essen, Trinken und Schlafen; auf Seiten der kulturellen Ausstattung des Menschen zeigt der Mensch ein Bedürfnis nach dem Gefühl von Fähigkeit (ability) und Macht (power). Dieses Gefühl ist nach Sullivan für gewöhnlich von größerer Bedeutung als die Impulse, die durch Gefühle wie Hunger oder Durst verursacht sind.31 Sullivans Beobachtungen stimmen mit denen Mays überein und stützen seine These, dass das Gefühl, Macht zu haben, das mit dem sense of significance einhergeht, dem Individuum hilft, sich zu integrieren und damit mehr Wirkung in Beziehungen mit anderen Menschen zu haben.32 Dass dem sense of significance ein so hoher Stellenwert in der Selbstwahrnehmung des Menschen zukommt, lässt schon vermuten, dass dessen Fehlen das Individuum vor Herausforderungen stellt. 2.1.2.2 Machtlosigkeit In seinen zeitdiagnostischen Analysen stellt May den „weit verbreiteten Verlust des Gefühls der individuellen Bedeutung“ (widespread loss of the sense of individual significance) als das dringlichste Problem in den USA der 1970er Jahre heraus.33 Ähnliche Diagnosen finden sich auch schon in seinen Werken Psychology and the Human Dilemma34 und Love and Will35. Die Folge des Verlusts des Gefühls, Bedeutung zu haben, das sich darin ausdrückt, Wirkung und Einfluss auf andere auszuüben, ist das Gefühl von Ohnmacht und Machtlosigkeit.36 Ein solches Erleben steht im Widerspruch zu dem, was May als „Schrei nach Anerkennung“ (cry for recognition) bezeichnet, dem, wie er schreibt „zentralen psychologischen Schrei“: „Ich muss fähig sein, ich bin zu sagen, mich in einer Welt zu bejahen (affirm), in die ich, durch meine Fähigkeit, mich selbst zu behaupten, Bedeutung setze – Bedeutung schaffe.“37 Kann der Mensch das nicht || 31 Vgl. SULLIVAN, The Conceptions of Modern Psychiatry, 4f. Dieses Werk Sullivans ist eine Zusammenstellung von fünf Vorträgen im Kontext der ersten William Alanson White Memorial Lectures bietet. Auf Mays Orientierung an den interpersonalen Theorien Sullivans verweist auch REEVES, The Psychology of Rollo May, 6. 32 Vgl. MAY, Power and Innocence, 35. 33 Vgl. ebd., 36. 34 Vgl. MAY, Psychology and the Human Dilemma, 32. Während nach May die 1950er Jahre durch eine Krise der Identität bestimmt waren, ist es in den 1970er Jahren der Verlust des sense of significance. 35 Vgl. MAY, Love and Will, 14. 36 Vgl. MAY, Power and Innocence, 36. 37 Ebd., 20.
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erreichen, ist der nächste Schritt Apathie, gefolgt von Gewalt. Hier gilt nämlich ähnlich wie für den sense of significance: „[K]ein Mensch kann die immerwährende betäubende Erfahrung seiner eigenen Machtlosigkeit ertragen.“38 Aus diesem Grund wendet sich der Mensch, dessen sense of significance verloren ist, einer anderen Form der Macht zu, nicht selten einer pervertierten oder sogar neurotischen Form.39 Vor allem aber ist der Zustand der Machtlosigkeit, das Gefühl von Ohnmacht, Quelle der Gewalt.40 Dieses Verständnis teilt May mit Hannah Arendt; er unterscheidet sich dadurch ebenso wie die Philosophin vom Mainstream der Machtkonzeptionen des 20. Jahrhunderts, der – mit Arendt gesprochen – Gewalt als „die eklatanteste Manifestation von Macht“41 auffasst. Gewalt hat May und Arendt zufolge ihren Ursprung gerade nicht in der Macht, sondern in der Machtlosigkeit.42 Die für Arendts Machttheorie so charakteristische radikale Trennung von Macht und Gewalt, die sie als sich ausschließende Gegensätze versteht,43 findet sich bei May aber nicht. Grund dafür ist sicherlich, dass beide gemäß ihrer Profession Macht und Gewalt unterschiedlich verorten: Für Arendt ist Macht wesentlich politisch bestimmt.44 Gewalt hingegen hat ihren ursprünglichen Ort für die politische Philosophin gerade außerhalb dieses Bereichs und begegnet gemäß ihrem instrumentalen Wesen dort, wo Handlungsunfähigkeit besteht.45 In diesem letzten Aspekt stimmen Arendt und May überein. May denkt Macht und Gewalt insofern aber stärker zusammen, als seiner Darlegung zufolge beide Momente Teil des Selbstwerdungsprozesses des Individuums sind. Der Nutzen von Macht und Aggression besteht für das Individuum nach May darin, dass es versucht, ein Selbstwertgefühl zu erlangen, sein Selbstverständnis zu verteidigen und zu zeigen, dass es Bedeutung hat.46 Wenngleich || 38 MAY, Love and Will, 14. 39 Vgl. MAY, Power and Innocence, 36. Den Zusammenhang zwischen dem Gefühl nach Bedeutsamkeit und Anerkennung und dem gewalttätigen Ausbruch, wenn beides ausbleibt, beschreibt Hans Magnus ENZENSBERGER in seinem Essay mit dem Titel Schreckens Männer. 40 Vgl. MAY, Power and Innocence, 23. 41 ARENDT, Macht und Gewalt, 58. 42 Vgl. ebd., 57: „Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist.“ Siehe MAY, Power and Innocence, 23. 43 Vgl. ARENDT, Macht und Gewalt, 57. Siehe Roth, Macht, 13; ATCHADÉ, Philosophie der Macht, 41–44; ANTER, Theorien der Macht zur Einführung, 98. Andreas Anter macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass die von Arendt vertretene radikale Trennung als nicht sehr überzeugend wahrgenommen wurde. 44 Vgl. ARENDT, Macht und Gewalt, 81. 45 Vgl. ebd., 78. 46 Vgl. MAY, Power and Innocence, 23.
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May Gewaltausbrüche nicht befürwortet, versteht er sie vor dem Hintergrund des hier aufgezeigten Verständnisses immer auch als „Manifestation positiver interpersonaler Bedürfnisse“47. Und er geht noch einen Schritt weiter, wenn er aus der engen Verbindung zwischen dem Bedürfnis, wahrgenommen zu werden und mit dem eigenen Dasein etwas bewirken zu können, und dem Ausbruch von Aggression und Gewalt eine gesellschaftliche Verantwortung ableitet: Wir werden Ausbrüche der Gewalt haben, solange Erfahrungen, von Bedeutung zu sein, versagt werden; und wenn wir das in unserer Gesellschaft nicht möglich oder sogar wahrscheinlich machen können, dann wird es auf destruktive Weise erreicht werden. Die Herausforderung, vor der wir stehen, besteht darin, Wege zu finden, wie Menschen Bedeutung und Anerkennung erlangen können, so dass destruktive Gewalt nicht notwendig sein wird.48
Mays Machtkonzeption fordert auf, Gewalt nicht einseitig als destruktiv zu verstehen, sondern als letztmöglicher Versuch der Selbstbehauptung. Dafür findet er äußerst klare Worte, wenn er Gewalt als ein Symptom für die Überzeugung betrachtet, nicht vollständig Mensch und heimatlos in der Welt zu sein. Machtlosigkeit, Bedeutungslosigkeit und Ungerechtigkeit sind die Krankheiten, denen das Individuum mit Gewalt begegnet.49 Ebenso erschöpft sich auch Mays Deutung von Aggression nicht in einer undifferenzierten Haltung der Abwertung. Beide Aspekte – Gewalt und Aggression – zeichnet der Psychotherapeut in eigenständigen Kapiteln nach, deren wesentliche Gedanken hier zusammengeführt werden sollen.
|| 47 Ebd. 48 Ebd., 179: “We are going to have upheavals of violence for as long as experiences of significance are denied people. Everyone has a need for some sense of significance; and if we can‘t make that possible, or even probable, in our society, then it will be obtained in destructive ways. The challenge before us is to find ways that people can achieve significance and recognition so that destructive violence will not be necessary.” 49 Vgl. MAY, Power and Innocence, 243. Siehe auch DERS., Love and Will, 30: “When inward life dries up, when feeling decreases and apathy increases, when one cannot affect or even genuinely touch another person, violence flares up as a daimonic necessity for contact, a mad drive forcing touch in the direct way possible.”
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2.1.2.3 Aggression und Gewalt als Auswege aus dem Gefühl der Machtlosigkeit Vorreiter für ein Verständnis von Aggression als „ein[em] primäre[n] Drang in der menschlichen Persönlichkeit“ ist nach Mays Auffassung Alfred Adler. 50 Anders als Freud, der erst sehr spät die Aggression zum Gegenstand seiner Theorien macht und sie dann im Kontext seiner Erklärung der Depression als die Rückkehr des Unterdrückten, nämlich der sich ausdrückenden unterdrückten aggressiven Tendenzen, versteht,51 räumt Adler der Aggression einen prominenteren Platz in seinem Arbeiten ein. Das verdeutlicht May zufolge die ursprüngliche Bezeichnung der Aggression bei Adler als ‚will to power‘.52 Meist tritt Aggression nach May nicht offen zutage, sondern „indirekt“ und „maskiert“. In dieser Form ist sie normalerweise destruktiv. Davon unterschieden gibt es ihm zufolge eine weitere Form der Aggression, nämlich diejenige im Selbst oder besser gesagt gegen das Selbst. Diese Art der Aggression muss nicht destruktiv sein. Wie schon im Kontext des Dämonischen in der Kunst aufgezeigt wurde, kann aus einem aggressiven Gefühl oder einer aggressiven Stimmung ein kreativer und konstruktiver Prozess hervorgehen.53 Während May in einer bestehenden Ungerechtigkeit, die Grund für Aggression ist, eine mögliche Gemeinsamkeit von destruktiver und konstruktiver Aggression sieht, unterscheidet sich Letzteres von Ersterem dadurch, dass konstruktive Aggression in der Lage ist, die Ungerechtigkeit auch zu beseitigen.54 Auch die Gewalt wertet May auf, indem er sie als „vollkommen verständlichen Ausdruck von Persönlichkeiten [versteht], die in einer repressiven Kultur, die ihnen nicht hilft, gegen Ungleichheiten kämpfen“55. Aus psychoneurologischer Perspektive ist für May Gewalt „der Ausbruch aufgestauter Leidenschaft“56. Im Gegensatz zur Aggression, die auch dann noch objektbezogen ist, wenn sie sich der Kontrolle des Menschen entzieht, ist diese Objektbezogenheit
|| 50 Vgl. MAY, Power and Innocence, 154. Als Vorreiter in der psychoanalytischen Theoriebildung über den Aggressionstrieb bezeichnet auch der Philosoph und Psychoanalytiker Rolf Denker Alfred Adler mit seiner Arbeit Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose von 1922. Vgl. DENKER, Aufklärung über Aggression, 30. 51 Vgl. FREUD, Das Unbehagen in der Kultur, XIV 479. Siehe DENKER, Aufklärung über Aggression, 41. 52 Vgl. MAY, Power and Innocence, 155f. 53 Vgl. ebd., 152f. Siehe S. 198 in dieser Arbeit. 54 Vgl. MAY, Power and Innocence, 162. 55 Ebd., 181: “We fail to see that the violence is an entirely understandable outcome of personalities fighting against odds in a repressive culture that does not help them.” 56 Ebd., 182.
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im Falle des Gewaltausbruchs nicht mehr vorhanden.57 Ähnlich der Unterscheidung der fünf Formen von Macht weist May auch hinsichtlich der Gewalt fünf Arten der Gewaltdemonstration auf. Die einfache Gewalt (simple violence) ist nach May Ausdruck des Protests gegen den Zustand anhaltender Machtlosigkeit. Für gewöhnlich stehen hier hohe moralische Anforderungen im Hintergrund. Nur selten bleibt es bei dieser ersten Ebene. Oftmals wandelt sich diese Form der Gewalt in eine zweite Form, die May als geplante bzw. kalkulierte Gewalt (calculated violence) bezeichnet. Beispielhaft verweist er hier auf die Studentenproteste in Frankreich, die Teil der internationalen Studentenproteste Ende der 1960er Jahre waren. Was als moralische Forderung begann, machten sich nach May geübte Revolutionäre zu Nutze, indem sie die Führung übernahmen und die Energie der Studierenden ausbeuteten. Eine dritte Spielart von Gewalt bezeichnet May als aufgehetzte Gewalt (fomented violence). Diese Form von Gewalt ist das Resultat einer unwürdigen Behandlung. Sie folgt dem Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung: Behandelt man Menschen wie Bestien, dann werden sie in diesem Prozess möglicherweise auch zu Bestien. Als vierte Form von Gewalt bezeichnet er jene Gewalt, die der Mensch als Teil einer gewalttätigen Gesellschaft gewissermaßen mitträgt – etwa, wenn Steuergelder in Waffenexporte investiert werden. Treffend spricht er hier von der Gewalt Abwesender (absentee violence). Gewalt von oben (violence from above) benennt eine Gewalt, die auf eine Machterhaltung oder Widerherstellung der einmal übertragenen Macht zielt. Diese letzte Form unterscheidet sich nach May wesentlich von den anderen Arten aufgrund ihrer größeren Destruktivität. Sie stellt eine Perversion vormaligen Schutzes dar. May hat dabei die Gewaltanwendung von Staaten oder der Polizei im Sinn.58 2.1.3 Werkgeschichtliche Entwicklungen Bereits in seiner ersten Schrift The Art of Counseling (1939) bringt May das Gefühl der Unterlegenheit oder Minderwertigkeit mit dem Streben nach Macht in Zusammenhang. Dabei orientiert er sich an Alfred Adler, der das Streben nach Macht als eine dynamische Kraft im Individuum bezeichnet. Von diesem „normalen“ Streben nach Macht unterscheidet Adler ebenso wie May ein „neurotisches“ Streben. Vor diesem Hintergrund definiert Adler – so schreibt es May – die Neurose als ein „anti-soziales Streben nach Macht“59. In The Meaning of
|| 57 Vgl. ebd., 183. 58 Vgl. ebd., 186f. 59 MAY, The Art of Counseling, 65.
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Anxiety (1950) thematisiert May Macht ausschließlich im Kontext der Darstellung der Angsttheorie Harry Stack Sullivans, der, worauf bereits hingewiesen wurde, das Gefühl von Macht und Fähigkeit an das Bedürfnis des Organismus nach Sicherheit koppelt. Im Sinne dieses Verständnisses befindet sich das Neugeborene zunächst in einem Status relativer Machtlosigkeit. Aus dem anfänglichen Schrei des Neugeborenen entwickelt sich später die Sprachfähigkeit, die neben dem Gebrauch von Symbolen eines der „mächtige[n] kulturelle[n] Instrumente in dem Streben des Menschen nach Sicherheit“ in seinem interpersonalen Geflecht wird.60 Was May in diesen beiden früheren Schriften für seine Machtkonzeption schon grundlegt, nämlich den Aspekt der empfundenen Bedeutungslosigkeit und das Bedürfnis des Organismus, sich im zwischenmenschlichen Bereich zu behaupten, bleibt auch in den späteren Arbeiten der Kern seiner Machttheorie, was die obenstehenden Ausführungen bereits gezeigt haben. Das Gefühl von Unterlegenheit oder Minderwertigkeit führt May ab Psychology and the Human Dilemma (1966) auf den Verlust des sense of significance zurück, der ihm zufolge die Krise der 1970er Jahre bewirkt.61 Die differenzierte Darlegung in seinem Hauptwerk zur Macht Power and Innocence (1972) ergänzt er in Freedom and Destiny (1981) um den Gedanken, dass Freiheit einer persönlichen Macht bedarf, die sich in Autonomie und Verantwortung ausdrückt.62 Aussagen wie „ich kann“ und „ich will“ sind Ausdruck des Gefühls von persönlicher Macht. Derartige Aussagen machen offenkundig, dass die Person Möglichkeiten besitzt und auch ein Gespür dafür hat, diese nutzen zu können. Besonders im psychotherapeutischen Geschehen sind solche Wendungen nach May von entscheidender Bedeutung.63 Mays Erkenntnisinteresse in seiner Beschäftigung mit Macht ist hauptsächlich psychologisch motiviert und fokussiert sich deshalb primär auf die psychologische Bedeutung von Macht. Diesen Fragehorizont hat er deshalb auch seinem Hauptwerk zur Macht Power and Innocence vorangestellt. In der Suche nach einer Machttheorie geht er aber einen Schritt weiter, indem er Macht ontologisch zu erfassen sucht. In diesem Zusammenhang fällt immer wieder der Name des Theologen und Philosophen Paul Tillich. Dessen Machtkonzeption soll daher näher betrachtet werden.
|| 60 Vgl. MAY, The Meaning of Anxiety, 166–170. 61 Vgl. MAY, Psychology and the Human Dilemma, 32. 62 Vgl. MAY, Freedom and Destiny, 10. 63 Vgl. ebd., 53.
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2.2 Paul Tillich 2.2.1 Der Begriff der Macht im Denken Paul Tillichs Tillichs Machtkonzeption unterscheidet sich wesentlich von Machttheorien anderer Denker des 20. Jahrhunderts. Eine Einordnung in den Kontext der Machtkonzeptionen Hannah Arendts, Michel Foucaults, Helmuth Plessners und Karl Jaspers bietet die Dissertationsschrift Philosophie der Macht von Richard Atchadé, der erstmals eine systematische Darlegung der Machtkonzeption Tillichs vorgelegt hat.64 Während Hannah Arendt nach der Entstehung der Macht im gemeinsamen Handeln fragt, Michel Foucaults Interesse sich auf die Produktivität von Macht richtet, Helmuth Plessner „Macht in anthropologischer Perspektive“65 analysiert und Karl Jaspers Macht vor dem Hintergrund seiner Lehre von den Grenzsituationen und der existentiellen Kommunikation thematisiert, bringt Tillich mit seiner Machtkonzeption nochmals einen neuen Aspekt in die bereits bestehenden Theorien der Macht ein.66 Bereits in Texten der frühen Werkphase Tillichs wird deutlich, dass für ihn weniger die Frage nach dem Entstehen von Macht im Vordergrund seines Erkenntnisinteresses steht, sondern die ontologische Frage, was Macht ist. Davon zeugen der Vortrag Zwang und Freiheit im sozialen Leben von 192967 sowie der Beitrag Das Problem der Macht von 193168. Während sich seine Machtkonzeption auch dort entsprechend seiner frühen Ausrichtung zunächst noch an sinntheoretischen Überlegungen orientiert, etwa wenn er Macht als „sinnerfüllte Mächtigkeit“69 qualifiziert, weist die Thematisierung der Macht in den späteren Schriften die ontologische Schwerpunktsetzung der Spätphase Tillichs auf.70 Mit Atchadé lässt sich aber
|| 64 Die Arbeit trägt den Untertitel: Paul Tillichs Verständnis der Macht im Kontext philosophischer Machttheorien im 20. Jahrhundert. 65 ATCHADÉ, Philosophie der Macht, 127. 66 Vgl. ebd., 125–128; 270–272. 67 EW XI 233–247. Den Beitrag Zwang und Freiheit im sozialen Leben (Philosophie der Macht) hat Tillich 1929 an zwei aufeinander folgenden Tagen zunächst unter dem Untertitel und dann unter dem ersten Titel gehalten. 68 GW II 193–208. 69 GW XI 240. 70 Die Akzentverschiebung arbeitet Richard Atchadé in seiner Dissertationsschrift heraus und fasst sie wie folgt zusammen: „Meine Überlegungen sind von der These getragen, dass der Machtbegriff des frühen Tillichs im Rahmen seines ‚religiösen Sozialismus‘ und dessen Entwicklung sinntheoretisch vermittelt ist, während der Machtbegriff in seiner Spätphase eine ontologische Deutung erhält. Das schließt aber nicht aus, dass sinntheoretische Ausführungen zum Machtthema im Spätwerk Tillichs zu finden sind und ontologische Überlegungen im Frühwerk zuweilen schon vorweggenommen werden.“ (DERS., Philosophie der Macht, 133). Zur
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festhalten, dass Tillichs Machtbegriff sowohl sinntheoretisch als auch ontologisch durchdrungen ist.71 Eine ähnliche Entwicklungslinie zeichnet auch Christian Danz in seinem Beitrag Sein […] ist die Macht zu sein in Tillichs Machtkonzeption nach. Ihm zufolge zeichnen sich vor allem die Schriften des Spätwerks durch einen ontologischen ‚Explikationsrahmen‘ aus. Zwar finden sich ontologische Überlegungen nach Danz schon in den Texten zur Macht der 1930er Jahre, aber hier ist ihm zufolge der sinntheoretische Akzent noch vorherrschend. Dieser Akzent verschwindet nach Danz auch im Spätwerk nicht völlig, aber er tritt dort stärker in den Hintergrund.72 In Tillichs späten Schriften zur Macht, d.h. in Love, Power, and Justice von 195473 sowie in seinen Vorträgen mit dem Titel Die Philosophie der Macht von 195674 konstatiert Danz eine lebensphilosophische Reformulierung der Machttheorie.75 Mit Rekurs auf Nietzsches ‚Wille zur Macht‘, das wird das Kapitel an späterer Stelle zeigen, definiert Tillich Macht nun als die Selbstbejahung des Lebens.76 Die Schwerpunktverschiebungen in Tillichs Machtbegriff sind neben der schon mehrfach angesprochenen Akzentverschiebung in seinem Denken vor allem auch ein Produkt der zeitgeschichtlichen wie gesellschaftlichen Umwälzungen seiner Zeit.77 So stellt der Zweite Weltkrieg eine Zäsur dar, was sich an einer in dieser Zeit „bemerkenswerten Modifikation“78 in Tillichs Machtkonzeption festmachen lässt. Werner Schüßler und Erdmann Sturm fassen diese wie folgt zusammen: Während Tillich Macht zunächst im menschlichen oder vormenschlichen Sein verortet hat, begründet er sie nun im Sein-Selbst.79 Außerdem denkt er Macht nun zusammen mit Liebe
|| Genese des Begriffs im Gesamtwerk Tillichs siehe auch DANZ, „Sein […] ist die Macht zu sein“, 27–45. 71 Vgl. ATCHADÉ, Philosophie der Macht, 132. 72 Vgl. DANZ, „Sein […] ist die Macht zu sein“, 29. 73 Der Schrift Love, Power, and Justice, die im Jahre 1954 erschienen ist, geht ein Aufsatz mit demselben Titel aus dem Jahre 1952, also zeitgleich mit der Veröffentlichung von The Courage to Be voraus. Damit lässt sich erklären, warum auch The Courage to Be ähnliche Ausführungen zur Seinsmächtigkeit enthält. Diese werden in der folgenden Darlegung mit in den Blick genommen. Siehe GW XI 132–134. 74 GW XI 205–232. 75 Vgl. DANZ, „Sein […] ist die Macht zu sein“, 45. 76 Vgl. GW XI 168; GW IX 209. 77 Vgl. dazu ATCHADÉ, Philosophie der Macht, 152–176. 78 SCHÜSSLER/STURM, Paul Tillich, 121. 79 Vgl. ebd. In dem Beitrag Das Problem der Macht von 1931 heißt es noch wie folgt: „Das Begründende des Machtbegriffs liegt in der Struktur des Seins selbst. Und zwar des menschlichen wie des vormenschlichen Seins.“ GW II 195. Demgegenüber schreibt Tillich in Love, Power, and Justice von 1954: „Sämtliche Probleme, die mit Liebe, Macht und Gerechtigkeit
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und Gerechtigkeit in Form einer Trias und leitet aus der Idee der Einheit dieser drei Elemente Konsequenzen für die Unterscheidung von Essenz und Existenz ab: Während die Einheit im göttlichen Grund gegeben ist, ist sie in der Existenz entfremdet.80 Für den Aufweis der Interdependenzen zwischen May und Tillich sind vor allem Tillichs späte Schriften interessant, weshalb der Fokus der vorliegenden Untersuchung auch hier auf diesen liegen soll. Die Ausführungen zu Tillichs Machtkonzeption bleiben deshalb wie in den vorherigen Kapiteln eher allgemein und dienen primär dem Aufweis der Interdependenzen zwischen den beiden Denkern. Für eine umfassendere Auseinandersetzung mit der Thematik sei auf die bereits erwähnte Studie von Richard Atchadé sowie auf den neunten Band des International Yearbook for Tillich Research81 und das von Werner Schüßler und Erdmann Sturm herausgegebene Beiheft zu den Tillich-Studien mit dem Titel Macht und Gewalt82 verwiesen. Vor dem Hintergrund der hier eingegrenzten Schriften Tillichs lassen sich mit Werner Schüßler zwei Aspekte als charakteristisch für Tillichs Machtkonzeption aufweisen: Macht und Sein sind nach Tillich zum einen konvertible Begriffe, zum anderen verwirklicht sich Seinsmächtigkeit für ihn nur in der Begegnung mit anderer Seinsmächtigkeit.83 Diesen beiden Momenten in Tillichs Machtkonzeption soll in den folgenden Abschnitten nachgegangen werden, die einen (stark verkürzten) Einblick in Tillichs Machttheorie geben. 2.2.2 Macht und Sein 2.2.2.1 Sein ist Macht zu sein Die Darlegung der Existentialontologie Tillichs im ersten Teil der Arbeit hat gezeigt, dass seine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Sein zu einem eigenständigen Ontologiekonzept geführt hat. Während er zunächst mithilfe von Kategorien und Polaritäten versucht hat, die Struktur des Seins zu erhellen, fügt er seiner Existentialontologie mit dem Machtbegriff einen weiteren Akzent
|| verknüpft sind, führen uns zu einer ontologischen Analyse. Ohne Beantwortung der Frage: Wie ist jeder dieser Begriffe im Sein-Selbst verwurzelt? können weder die bestehenden Unklarheiten beseitigt noch die Probleme selbst gelöst werden.“ (GW XI 154). 80 Vgl. SCHÜSSLER/STURM, Paul Tillich, 121. Siehe auch STURM, Macht und Gewalt im politischen Denken Paul Tillichs, 78f. 81 DANZ/DUMAS/SCHÜSSLER/STENGER/STURM (Hg.), Justice, Power, and Love. 82 SCHÜSSLER/STURM (Hg.), Macht und Gewalt. 83 Vgl. SCHÜSSLER, Macht und Gewalt, 17.
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hinzu. Der Begriff Macht stellt für ihn über die Kategorien und Polaritäten hinaus eine Möglichkeit dar, in metaphorischer Weise Aussagen über das Sein zu machen.84 Auch wenn Sein nicht definiert werden kann, was man als „Transzendentalität“ des Seinsbegriffs bezeichnet hat, kann es nach Tillich aber „metaphorisch umschrieben werden, und es kommt darauf an, daß die Metapher, die gebraucht wird, angemessen ist.“ Dabei erscheint ihm „kein Bild so geeignet […], metaphorisch für ‚Sein‘ gebraucht zu werden, wie der Begriff der Macht“.85 Die Frage, was Sein ist, beantwortet er folglich mithilfe des Begriffs der Macht wie folgt: „Sein ist Seinsmächtigkeit, es ist die Macht zu sein“86. Mit Norbert Ernst lässt sich diese Umschreibung auf die kurze Formel: „Sein ist Macht“ bringen.87 Damit verhält es sich mit dem Machtbegriff ähnlich wie mit den Begriffen unum, verum und bonum, die die mittelalterliche Philosophie als Transzendentalien bezeichnet hat und mithilfe derer man versucht hat, das Sein zu umschreiben.88 Aufgrund dieser Nähe bekommt Tillichs Machtverständnis nach Schüßler und Sturm den Charakter einer „interessanten Neuinterpretation dieser klassischen Transzendentalienlehre“.89 Macht und Sein sind konvertible Begriffe.90 Die Austauschbarkeit der beiden Begriffe beinhaltet auch, dass Macht „nicht etwas später Hinzukommendes“91 zum Sein ist, etwa als würde das Attribut der Mächtigkeit zu der Aussage, dass etwas ist, erst hinzutreten. Vielmehr ist es nach Tillich so, dass sich „Sein […] als seiend durch seine ‚Macht‘ zu sein [zeigt]“92. Die Verbindung beider Aspekte, Macht und Sein, ist nach Tillich aber nicht nur einseitig fruchtbar, indem sich mit dem Machtbegriff das Sein erschließen lässt, sondern gleichzeitig gibt das Sein dem Begriff der Macht eine Tiefendimension.93 Indem Tillich der Macht in ihrer engen Anbindung an das Sein einen ontologischen Status zuerkennt, lässt sich eine einseitig negative || 84 Vgl. GW IX 207; GW XI 165. Siehe auch ATCHADÉ, Philosophie der Macht, 229. 85 GW IX 207. 86 Ebd. Die Umschreibung des Seins mithilfe von Begriffen, die ein Element der Macht beinhalten, findet sich auch bei anderen Denkern. Siehe dazu GW XI 165. 87 ERNST, Sein ist Macht, 44. Siehe GW XI 166: „Danach ist Sein gleichbedeutend mit Seinsmächtigkeit, es ist die Macht zu sein.“ 88 Vgl. SCHÜSSLER/STURM, Paul Tillich, 37. Zur Entwicklung der Transzendentalienlehre siehe AERTSEN, Art. Transzendental; das Transzendentale; Transzendentalien; Transzendentalphilosophie, 1358–1365. 89 SCHÜSSLER/STURM, Paul Tillich, 37. Siehe auch SCHÜSSLER, „Was uns unbedingt angeht“, 207. 90 Vgl. ERNST, Sein ist Macht, 44. 91 EW XI 234. 92 GW IX 169. 93 Vgl. ebd., 207.
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Konnotation der Macht als Gewalt und folglich deren Ablehnung nicht aufrecht erhalten.94 2.2.2.2 Macht worüber? Die Rede von Macht ruft Tillich zufolge die Frage hervor, worüber jemand oder etwas Macht hat und diese ausübt. Aus einer soziologischen Perspektive ließe sich diese Frage beantworten mit dem Verweis auf ein individuelles Gegenüber, eine Gruppe oder ein System. Vor einem ontologischen Fragehorizont potenziert sich die Frage, denn „was kann der Macht des Seins Widerstand leisten, wenn alles, was ist, an ihm partizipiert?“ Tillich antwortet darauf mit dem Nichtsein, das von der Seinsmächtigkeit überwunden wird.95 Die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Nichtsein ist ein wesentlicher Aspekt in Tillichs Existentialontologie und wurde deshalb im Verlauf dieser Arbeit bereits an verschiedenen Stellen thematisiert. Im Kontext der Darlegung seines Machtverständnisses stellt das Nichtsein, mit Atchadé gesprochen, den „Schlüssel zum Verständnis des Machtbegriffs“96 dar. Als eine Art „Gegenspieler des Seins“97 treibt das Nichtsein das Sein aus sich heraus und zwingt es gewissermaßen, Gestalt anzunehmen: „Das Sein ohne Nichtsein wäre leere Unendlichkeit des Möglichen, nichts weiter. Das Nichtsein schafft das Endliche und darum das Wirkliche.“98 Das Sein eines Seienden demonstriert sich demnach an der Fähigkeit zum Widerstand.99 Norbert Ernst sieht in dem Gedanken des Aufweises der Seinsmächtigkeit des Seienden durch den Widerstand gegen das Nichtsein das sich unterscheidende Moment des Denkens von Tillich von demjenigen des Thomas von Aquin, dem Tillich Ernst zufolge aber prinzipiell nahestehe. Nach Ernst erweist sich bei Thomas das Seiende dadurch als mächtig, dass es sich durch sein Sein „selbst erwirkt“. Auch wenn davon unberührt bleibt, dass sich das endliche Seiende etwas außerhalb seiner selbst verdankt, also kontingent ist, bewirkt es sich im Sinne des Thomas gewissermaßen selbst und erweist sich dadurch als mächtig.100 Demgegenüber erweist sich für Tillich das Seiende als mächtig, indem es dem Nichtsein Widerstand leistet. Das Nichtsein, an das Tillich hier denkt, ist das me on, das Noch-nicht-Seiende, das aber die Potentialität zu sein
|| 94 Vgl. ERNST, Sein ist Macht, 50f. 95 Vgl. GW XI 166; GW IX 209. 96 ATCHADÉ, Philosophie der Macht, 272. 97 ERNST, Sein ist Macht, 47. 98 GW IX 209. 99 Vgl. GW XI 168. 100 Vgl. ERNST, Sein ist Macht, 42f. Siehe auch ebd., 47.
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besitzt.101 Diese Spannung zwischen der Möglichkeit zu sein und der Verwirklichung, die sich in den Begriffspaaren dynamis und energeia oder potentia und actualitas ausdrückt, qualifiziert Tillich als für das Sein wesentlich.102 Sein ist demnach als etwas Dynamisches zu verstehen. Um erklären zu können, warum das Nichtsein dem Sein überhaupt entgegenstehen kann, umschreibt Tillich Nichtsein als „die Verneinung des Seins innerhalb des Seins-Selbst“103. Damit zeigt er auf, dass das Nichtsein nicht eine fremde und von außen hinzutretende Größe ist, sondern eine „Qualität des Seins, die alles, was am Sein teilhat, verneint“104. Die Selbstbejahung trotz der Drohung der Verneinung durch das Nichtsein zeigt die Seinsmächtigkeit eines Wesens an.105 In dieser Formulierung klingt Tillichs „Mut zu sein“ an, den er in The Courage to Be entwickelt hat und der in dieser Arbeit bereits thematisiert wurde: „Mut ist Selbstbejahung ‚trotz‘, nämlich trotz alles dessen, was dazu beiträgt, das Selbst an der Bejahung seiner selbst zu hindern.“106 Das Verhältnis beider Momente, die Macht des Seins und der Mut des Seins, bringt Tillich zum Ausdruck, wenn er „[d]ie Macht des Seins als die Quelle des Mutes zu sein“107 bezeichnet. Nicht jedes Wesen ist Tillich zufolge aber in gleichem Maße dazu fähig, trotz der Verneinung das Selbst zu bejahen und Nichtsein aufzunehmen und zu überwinden. Die Seinsmächtigkeit ist im Tier geringer als im Menschen. Aber auch im Menschen gibt es graduelle Unterschiede: Ein Mensch mit einer neurotischen Erkrankung, der nur einem geringen Maß an Nichtsein begegnen kann, hat die Tendenz, der Bedrohung durch das Nichtsein zu entfliehen. Demgegenüber weist der „Durchschnittsmensch“ die Fähigkeit auf, ein größeres, aber dennoch recht begrenztes Maß von Nichtsein in seine Selbstbejahung aufzunehmen. Der schöpferische Mensch kann demgegenüber weitaus mehr Nichtsein in sich aufnehmen, und Gott – in einem symbolischen Sinne verstanden – vermag ein unbegrenztes Maß von Nichtsein in sich zu tragen. Tillich geht also von unterschiedlichen Graden der Selbstmächtigkeit aus.108 Wie sich der Grad der Selbstmächtigkeit eines Wesens qualifizieren lässt bzw. wie Seinsmächtig-
|| 101 Davon zu unterscheiden ist das absolute Nichtsein im Sinne des ouk on. Siehe S. 78 in dieser Arbeit. 102 Vgl. GW IX 206. 103 GW XI 167. 104 Ebd. 105 Vgl. ebd., 168. 106 Ebd., 33. 107 Ebd., 118. 108 Vgl. ebd., 168; GW IX 209.
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keit überhaupt wahrnehmbar wird, macht er in einem weiteren Gedankenschritt deutlich. 2.2.2.3 Der Aufweis der Seinsmächtigkeit in der Begegnung Erst in der Begegnung mit der Seinsmächtigkeit eines anderen Wesens zeigt sich Tillich zufolge die eigene Seinsmächtigkeit. Aus diesem Gedanken der sich nur in der Begegnung verwirklichenden Macht lässt sich schlussfolgern, dass der Grad der Seinsmächtigkeit nicht statisch zu denken ist, sondern dynamisch. Die Verwirklichung der Macht zu sein ist in Tillichs Machtkonzeption ein prozesshaftes Geschehen und entspricht dem, was er über die Dynamiken des Lebensprozesses insgesamt schreibt: Alles Leben geht aus sich heraus, begegnet dort anderem Leben und kehrt dann wieder zu sich zurück.109 Jeder Augenblick des Lebens ist nach Tillich von dieser Begegnung mit anderen Seinsmächtigkeiten gekennzeichnet. Dort zeigen sich der Grad der eigenen Macht des Seins sowie die damit verbundenen Gefahren: Man zieht eine andere Macht des Seins in sich hinein, und wenn man das tut, wird man entweder gestärkt oder geschwächt; man stößt die fremde Macht des Seins von sich, oder man assimiliert sie völlig in sich; man formt sie um, oder man unterwirft sich ihren Forderungen. Man ist in sie hineingenommen und verliert seine eigene Seinsmacht, oder man wächst mit ihr zusammen und stärkt die Seinsmächtigkeit beiderseits.110
Mit dieser Darstellung kann Tillich deutlich machen, dass der Grad der Selbstmächtigkeit eines Wesens nicht schon festgelegt und unveränderbar ist. Im Gegenteil: Die Verwirklichung der Macht des Seins geschieht in einem Prozess und entscheidet sich immer wieder neu. Dabei hat Tillich aber nicht nur die Begegnung zwischen Menschen im Blick, sondern er macht den Prozess der Begegnung von Seinsmächtigkeiten für jede Begegnung fruchtbar. Demnach trifft dies auch auf die Begegnungen von Mensch und Natur sowie aller Lebewesen insgesamt, unabhängig vom Menschen zu. Dem Menschen kommt aufgrund seiner völligen Zentriertheit unter allen Lebewesen generell aber die größte Seinsmacht zu.111 Dass sich „die Mächtigkeit des Lebens, die Seinsmacht, die Fähigkeit, Nichtsein in sich aufzunehmen und zu überwinden“, nur in der Begegnung zeigt und dass dies damit ein dynamischer Prozess ist, hat zur Konsequenz,
|| 109 Vgl. EW XVI 352. 110 GW IX 210. Siehe auch GW XI 169. 111 Vgl. GW XI 169; GW IX 210f.
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dass die Verwirklichung der Seinsmächtigkeit nicht völlig frei von Gewalt und Zwang gedacht werden kann.112 Tillich setzt Macht mit keinem der beiden Momente gleich, aber um der Drohung des Nichtseins zu begegnen, „gebraucht und mißbraucht [sie] den Zwang, um diese Drohung zu überwinden“, und sie „gebraucht und mißbraucht Gewalt, um sich zu verwirklichen“.113 In jeder Machtrelation, d.h. in jeder Begegnung von Seinsmächtigkeiten sind die Elemente von Anerkennung und Zwang elementar gegenwärtig. Was Tillich in diesem Zusammenhang mit Anerkennung meint, demonstriert er anhand einer Vortragssituation wie folgt: Anerkennung meint in einer solchen Situation, dass jede und jeder den zugewiesenen Platz annimmt und akzeptiert. Damit meint er sowohl das Sitzen an einem speziellen Platz wie auch das Anerkennen der verschiedenen Rollen: auf der einen Seite die Zuhörenden, auf der anderen die oder der Vortragende. In der statischen Situation des Vortrags oder beispielsweise auch des Arbeits- oder schulischen Kontextes gibt es in der Regel eine Anerkennung der eigenen Position und Rolle. Leben ist aber nichts Statisches, sondern Seinsmächtigkeiten verwirklichen sich erst in Begegnungen.114 Gewalt und Zwang sind deshalb unvermeidlich und nicht an sich schlecht, es sei denn, sie vernichten ein Wesen, „statt zu seiner Selbstverwirklichung beizutragen“ 115. Die angemessene Form, „in der sich die Macht des Seins in der Begegnung von Seiendem verwirklicht“, ist Gerechtigkeit.116
3 Interdependenzen in der Beschäftigung mit der Macht 3.1 Macht und Liebe – und Gerechtigkeit An diesen letzten Gedanken bei Tillich anknüpfend, lässt sich eine erste Übereinstimmung beider Denker aufweisen, in der zugleich auch deutlich wird, dass bei aller Annäherung immer auch eigene Akzente zu finden sind. May und Tillich stimmen in der Überzeugung überein, dass Macht und Liebe keine sich ausschließenden Momente sind. Damit widersprechen sie einer verbreiteten Vorstellung, Liebe und Macht stünden sich diamentral gegenüber und man || 112 Vgl. GW IX 213. 113 GW XI 173. 114 Vgl. GW IX 212f. 115 GW XI 185. Siehe auch GW IX 215f. Siehe hierzu auch SCHÜSSLER, Zwang – das „fremde Werk“ der Liebe, 26–28. 116 GW XI 185.
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könne nur von einer „machtlosen Liebe“ oder einer „lieblosen Macht“ sprechen.117 Eine solche Auffassung fördert letztlich ein Verständnis von Liebe als reinem Gefühl und missdeutet Macht im Sinne von Gewalt, verkennt aber die eigentliche Bedeutung von Liebe und Macht. Tillich denkt beide Momente in einem anderen Verhältnis, das sich von der Vorstellung eines unauflöslichen Gegensatzes entschieden unterscheidet. „Liebe“, schreibt er, „ist das Fundament, nicht die Verneinung der Macht.“118 Für Tillich tritt das Verhältnis von Liebe und Macht zutage, wenn die Macht des Seins nicht als starres Moment verstanden wird, sondern als „dynamischer Prozeß, in dem es sich von sich selbst trennt und zu sich selbst zurückkehrt“119. Der Prozess der Wiedervereinigung des Getrennten, das hat der Exkurs über die Liebe bereits deutlich gemacht, ist das, was Tillich Liebe nennt.120 Er versucht also, die Einheit der Begriffe aufzuzeigen, indem er „ihr Strukturverhältnis“ aufweist sowie ihren „Zusammenhang mit dem Sein als solchem“.121 Nur wenn Liebe und Macht im Horizont der ontologischen Frage betrachtet werden, tritt nach Tillich „die Einheit ihrer Grundbedeutung hervor“122. Liebe und Macht als Einheit zu denken und nicht als sich ausschließende Momente, hat für Tillich auch Konsequenzen für ein sozialethisches Verständnis der Begriffe: Machtstrukturen, die ohne ein Element der Liebe gedacht werden, bewirken womöglich eine ausschließlich misstrauische Haltung ihnen gegenüber; Liebe, der ein Element von Macht abgesprochen wird, wird auf ein bloßes Gefühl und unreflektierte Hingabe reduziert.123 May verdeutlicht das Verhältnis von Liebe und Macht an den oben angeführten Typen der Macht. Dabei machen die komplexeren Formen der Macht, die nicht auf Ausbeutung oder Unterdrückung basieren, ein größeres Maß an Liebe ansichtig.124 In diesem Sinne weisen die nährende (nutrient) und integrative (integrative) Form der Macht die Beziehung zwischen Liebe und Macht am deutlichsten auf. Dahinter steht Mays prinzipielles Verständnis von Lieben als
|| 117 Vgl. ebd., 149; MAY, Power and Innocence, 113; 250. 118 GW XI 174. 119 Ebd. 120 Vgl. ebd. 121 Ebd., 144. In seiner Schrift Dynamik des Glaubens bringt er es wie folgt auf den Punkt: „Liebe ist die Macht im Grund von allem Seienden, die dieses über sich selbst hinaustreibt zur Wiedervereinigung mit dem Anderen und schließlich mit dem Grund selbst, von dem es getrennt ist.“ (DERS., Dynamik des Glaubens, 89). 122 GW XI 150. 123 Vgl. ebd. 124 Vgl. MAY, Power and Innocence, 118.
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einem Akt des Gebens.125 Um aber geben zu können, muss das Individuum über Macht verfügen, und zwar Macht in dem Sinne, wie May es anhand der fünf Stufen aufgezeigt hat: Die Fähigkeit zu lieben, setzt die Fähigkeit und Möglichkeit der Selbstbejahung und Selbstbehauptung voraus.126 In Man’s Search for Himself findet sich dieser Gedanke in einem noch grundlegenderen Sinne, indem May hier die Fähigkeit zu lieben mit der Frage nach dem Personsein in einen Zusammenhang bringt: „Und unsere Fähigkeit zu lieben hängt wiederum von unserer vorrangigen Fähigkeit, eigenständige Personen zu sein, ab.“127 Der Zusammenhang von Liebe und Macht basiert bei May demnach auf seinem Verständnis von Macht als dem Moment, das dem Individuum das Gefühl von Bedeutsamkeit gibt. Es wurde bereits angemerkt, dass Tillich nicht nur Macht und Liebe in einem Zueinander denkt, sondern dass er beide Begriffe mit dem Begriff der Gerechtigkeit in eine Trias bringt.128 Der Gerechtigkeit kommt dabei eine Schlüsselfunktion zu, indem sie sowohl der Macht als auch der Liebe Struktur, Form und Maß gibt.129 Nur wenn Gerechtigkeit die Form bildet, in der sich Wesen mit ihrer jeweiligen Seinsmächtigkeit begegnen, kann diese Begegnung auch zur Selbstverwirklichung führen. Andernfalls führt sie zu Selbstzerstörung oder Zerstörung der Seinsmacht des anderen Wesens.130 Ebenso ist die Gerechtigkeit die Form, „in der und durch die die Liebe ihr Werk verrichtet“131. Ohne Gerechtigkeit ist Liebe reine Selbsthingabe. Nur ein Wesen, dass die eigene Seinsmächtigkeit und damit das eigene Selbst verwirklicht, wird sich selbst gerecht und kann sich so durch die Liebe mit dem wiedervereinigen, von dem es getrennt ist.132
|| 125 Vgl. MAY, Man’s Search for Himself, 185. 126 Vgl. MAY, Power and Innocence, 249. Dass Selbstbejahung und Selbstbehauptung wesentlich für die Fähigkeit zu lieben sind, schreibt May auch in Love and Will. Hier bezeichnet er diese beiden Momente aber als Aspekte des Willens. Siehe DERS., Love and Will, 276: “Our discussion of the daimonic has shown that self-affirmation and self-assertion, obvious aspects of will, are essential to love.” 127 MAY, Man’s Search for Himself, 184: “And our capacity to love depends, in turn, upon our prior capacity to be persons in our own right.” 128 Vgl. SCHÜSSLER/STURM, Paul Tillich, 121–124. Schüßler und Sturm legen die Genese der Trias dar. Ihrer Darstellung zufolge denkt Tillich die Begriffe Liebe, Macht, Gerechtigkeit bereits in einem Marburger Vortrag aus dem Jahre 1948 in Form einer Trias. Hier verwendet er aber noch eine andere Reihenfolge, nämlich: Macht, Liebe und Gerechtigkeit. Diese Reihenfolge ändert er in der Vorlesung Love, Power, and Justice aus dem Jahre 1952. 129 Vgl. ebd., 122. 130 Vgl. GW IX 213; GW XI 185. 131 GW XI 188. 132 Vgl. ebd., 186f.
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Der Gedanke der Trias von Liebe, Macht und Gerechtigkeit findet sich bei May nicht. Dennoch klingen in den oben ausgeführten Darlegungen der Machtkonzeption Mays und in der Darstellung seines Liebesverständnisses in dem diesem Kapital vorausgehenden Exkurs an, dass er ebenso wie Tillich davon überzeugt ist, dass sich Liebe und Macht nur dann verwirklichen, wenn die Bejahung des eigenen Selbst die Grundlage bildet.
3.2 Ontologie der Macht Ein zweites gemeinsames Moment der Machtkonzeptionen von Tillich und May lässt sich unter dem Stichwort ‚Ontologie der Macht‘ subsumieren. Dieser Begriff findet sich bei Tillich schon in den Schriften der 1930er Jahre, zum ersten Mal in dem Beitrag Das Problem der Macht (1931).133 Auch der Psychotherapeut Rollo May bleibt bei einem psychologischen Aufweis nicht stehen, sondern sucht nach einem grundlegenderen Verständnis von Macht. Mays sogenannte ontologischen Überlegungen weisen dabei aber eine deutliche Schwäche auf, die sich an verschiedenen Stellen seines Werkes zeigt: Was er als ontologisch bezeichnet, bewegt sich eigentlich im Bereich der Anthropologie. Seine folgende Definition des existentiell-therapeutischen Ansatzes macht dies deutlich: „Der existentielle Ansatz behauptet, dass wir die Frage nach dem Wesen des Menschen als Menschen, d.h. die ontologische Frage, stellen müssen.“134 Was May dort über den existentiellen Ansatz generell sagt, findet sich auch im Kontext seiner Machtkonzeption. Die oben dargestellten fünf Ebenen der Macht als Potentialität bezeichnet der Psychotherapeut als ontologisch. Er ergänzt dazu erläuternd: „das heißt, sie sind Teil des Menschen als Menschen. Es ist das Bestreben der Ontologie, die Charakteristika des Seienden als Seienden zu beschreiben – in unserem Fall den Menschen als Menschen.“135 Dieser zweite Teil des Satzes verdeutlicht, dass der Psychotherapeut zwar durchaus ein gewisses Verständnis für das Anliegen der Ontologie besitzt, andererseits jedoch ontologische und anthropologische Fragestellungen nicht konsequent unterscheidet. || 133 Vgl. GW II 206. Siehe auch EW XI 234. Auf diese erste Nennung macht Werner Schüßler aufmerksam: Vgl. SCHÜSSLER, Ontologie der Macht, 202. 134 MAY, Psychology and the Human Dilemma, 93: “The existential approach holds that we must ask the question of the nature of the man as man, that is to say, the ontological question.” Siehe zu dieser Beobachtung auch REEVES, The Psychology of Rollo May, 31. 135 MAY, Power and Innocence, 44: “The five phases above are ontological ones – that is, they are part of the human being as human. It is the endeavor of ontology to describe the characteristics of being as being – in our case the human as human.”
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Er lässt hier die begriffliche Schärfe vermissen, wie sie sich bei Tillich findet. In aller Deutlichkeit formuliert Tillich, dass es gerade nicht das Bestreben der Ontologie sei, die „Natur des Seienden zu beschreiben, handele es sich nun um seine allgemeinen Gattungseigenschaften oder um seine individuellen geschichtlichen Erscheinungsformen. Sie fragt nicht nach Sternen und Pflanzen, Tieren und Menschen“136. Ontologie ist für ihn, wie bereits dargelegt, „die Frage nach dem Sein, nach seiner Struktur, nach seinen Elementen, nach dem, was in jeder Erfahrung immer schon vorausgesetzt ist“137. Allerdings wählt der Theologe und Philosoph ebenso wie Heidegger den Menschen als Ausgangspunkt seiner ontologischen Überlegungen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass der Eindruck einer „anthropologischen Ontologie“138 entsteht, wie Sabine Joy Ihben-Bahl Tillichs Ontologie fälschlich bezeichnet. In Love and Will spricht May von „Ontologie im psychologischen Bereich“139. Und auch hier nutzt er den Begriff Ontologie, um das Wesen des Menschen zu bestimmen.140 Offensichtlich ist für May der Begriff der Ontologie im Bereich der Psychologie von dem zu unterscheiden, was philosophisch unter Ontologie verstanden wird. Es mag deshalb zu einfach sein, seine Verwendung des Ontologie-Begriffs undifferenziert als falsch abzutun. Dennoch scheint der Anthropologie-Begriff in diesem Zusammenhang geeigneter, um das zu bezeichnen, um was es May wesentlich geht.
|| 136 GW XI 155. 137 EW XVI 11. 138 IHBEN-BAHL, Angst und die eine Wirklichkeit, 8. 139 MAY, Love and Will, 312. 140 Vgl. ebd.: “This is ontology in the psychological area: the capacity for self-relationship constitutes the genus Homo sapiens.” An anderer Stelle in der Schrift definiert er das Anliegen der Ontologie wiederum wie folgt: “Ontology seeks to discover the basic structure of existence – the structures which are given to everyone at every moment.” (112). Siehe auch DERS., Existential Psychology, 9: “The confluence of these two disciplines [sc. philosophy and psychology] indicates another aspect of the existential approach it deals with psychological categories – ʻexperince,ʼ ʻanxiety,ʼ ʻwill,ʼ and so forth – but it is concerned with understanding these aspects of man’s life on the deeper level of ontological reality.”
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3.3 Nietzsches ‚Wille zur Macht‘ „Man kann nicht gut über die Philosophie der Macht reden, ohne ein paar Worte über Nietzsches Begriff des Willens zur Macht zu sagen.“141 Entsprechend dieser Überzeugung Tillichs lässt sich eine dritte zentrale Interdependenz zwischen May und Tillich innerhalb der Machtthematik an dem Rückgriff beider auf den „für Nietzsche charakteristische[n] Neologismus“142 aufweisen. Zum ersten Mal findet sich der Begriff der ‚Wille zur Macht‘ in Also Sprach Zarathustra143, und er bleibt von dort an ein wiederkehrendes Moment in den darauf folgenden Werken.144 Dabei verwendet Nietzsche diesen Begriff in unterschiedlichen Kontexten, was zu unterschiedlichen Interpretationsversuchen geführt hat.145 Die für die vorliegende Arbeit interessante Interpretation ist die metaphysische Deutung, die im Begriff des ‚Willens zur Macht‘ den Schlüssel zu Nietzsches ontologischem Deutungsversuch der Wirklichkeit sieht, indem davon ausgegangen wird, dass er Macht als den „fundamentalen Trieb jedes Organismus“146 versteht. Dieser Interpretation schließt sich Paul Tillich an und räumt dem Begriff einen prominenten Platz in seiner eigenen Machtkonzeption ein. Seiner Auffassung nach vereint Nietzsches ‚Wille zur Macht‘ solche philosophischen Konzepte, die mit Begriffen, die ein Element von Macht beinhalten, die Frage nach dem Sein beantwortet haben, mit jenen, die in dem Begriff Wille die letzte Wirklichkeit ausgedrückt sehen. Bei Ersteren denkt Tillich an Begriffe wie dynamis oder potentia, bei Letzteren nennt er Augustinus, Duns Scotus, Böhme, Schelling und Schopenhauer. Daraus leitet Tillich die ontologische Bedeutung des Konzepts ab.147 Ebenso wie Tillich interpretiert auch Heidegger Nietzschesʼ ‚Willen zur Macht‘ ontologisch, und er bezeichnet diesen als das „Grundwort der Metaphysik Nietzsches“148. Entscheidend ist dabei aber, worauf Heidegger hinweist: Der ‚Wille zur Macht‘ ist der Grundcharakter des Seins des Seienden, nicht des Seins selbst.149
|| 141 GW IX 207f. 142 MÜLLER, Nietzsche-Lexikon, 246. 143 Vgl. YOUNG, Friedrich Nietzsche, 371. 144 Vgl. JANAWAY, Beyond Selflessness, 143. 145 Vgl. ebd. Janaway nennt neben der metaphysischen Interpretation die psychologische, die im Willen zur Macht den Schlüssel zu Nietzsches Psychologie der Triebe sieht. 146 YOUNG, Friedrich Nietzsche, 141. 147 Vgl. GW XI 29f. 148 HEIDEGGER, Nietzsche II, 263. 149 Vgl. HEIDEGGER, Nietzsche I, 26. Siehe auch DERS., Nietzsche II, 264: „Der Wille zur Macht ist der Grundcharakter des Seienden als eines solchen. Das Wesen des Willens zur Macht läßt
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Der Wille zur Macht wird für Nietzsche am Leben, am Lebendigen ansichtig; es ist „der unerschöpfte zeugende Lebens-Wille“150. Wenngleich Nietzsche den ‚Willen zur Macht‘ mit dem Begriff des Lebens in Verbindung bringt, ist er doch nicht mit Schopenhauers ‚Willen zum Leben‘ gleichzusetzen. Im Gegenteil: Nietzsche kritisiert Schopenhauers ‚Willen zum Leben‘ als nicht fundamental genug und sieht in seinem eigenen metaphysischen Deutungskonzept einen tiefergehenden Ansatz.151 Ebenso kritisch verfährt Nietzsche mit Darwins Theorie des Daseinskampfes. Worum gekämpft wird, schreibt er in Götzen-Dämmerung, ist nicht das Nötigste, das es zum Überleben braucht, sondern Macht.152 Tillich knüpft an die Kritik Nietzsches an beiden Konzepten an, wenn er schreibt: „Deshalb ist es falsch, von einem ‚Willen zum Dasein‘ oder gar von einem ‚Willen zum Leben‘ zu sprechen, man muß vom ‚Willen zur Macht‘ sprechen, das heißt zu mehr Leben.“153 Nicht die bloße Selbst-Erhaltung ist für Nietzsche also der fundamentale Trieb, der in allen Organismen zu finden ist, sondern er denkt hier an einen Trieb, der über die bloße Selbsterhaltung hinausgeht. Die Theorien Darwins und Schopenhauers büßen damit für Nietzsche nichts an ihrer Gültigkeit ein, jedoch versucht er, ausgehend von diesen Theorien, einen tieferen, einen die Frage nach dem Sein berührenden Ansatz aufzuzeigen.154 Tillich greift diesen Gedanken, dass das ontologische Grundprinzip alles Lebendigen mehr als nur Selbsterhaltung ist, auf und übersetzt Nietzsches ‚Wille zur Macht‘ als „die Selbstbejahung des Lebens, des Lebens, das dynamisch über sich hinausdrängt, das inneren und äußeren Widerstand überwindet“155. In dieser Formulierung wird deutlich, wie Nietzsches Begriff die Machtkonzeption
|| sich daher nur im Blick auf das Seiende als solches, d.h. metaphysisch, erfragen und denken. Die Wahrheit dieses Entwurfes des Seienden auf das Sein im Sinne des Willens zur Macht hat metaphysischen Charakter.“ 150 NIETZSCHE, Also sprach Zarathustra, 143. Siehe auch DERS., Jenseits von Gut und Böse, 259: „Wille zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist.“ 151 Vgl. YOUNG, Friedrich Nietzsche, 414. 152 Vgl. NIETZSCHE, Götzen-Dämmerung, 114: „Was den berühmten Kampf um’s Leben“ betrifft, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme; der Gesamtaspekt des Lebens ist nicht die Nothlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichtum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung, – wo gekämpft wird, kämpft man um Macht …“ Siehe auch YOUNG, Friedrich Nietzsche, 414. 153 GW XI 31. Siehe auch EW II 161. 154 Vgl. YOUNG, Friedrich Nietzsche, 414. 155 GW IX 208. Siehe auch EW II 161–163.
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von Tillich beeinflusst hat:156 Die Macht zu sein, findet ihren Ausdruck in dem Prozess des Lebens, in dem „das, was die potentia hat, diese potentia anwendet, verwirklicht und zum Leben kommt“157. Leben versteht Tillich als „verwirklichtes Sein“158 trotz der Drohung des Nichtseins. Auch Rollo May räumt Nietzsche zunächst einen prominenten Platz in seiner Schrift Power and Innocence ein, indem er dem ersten Kapitel den viel zitierten Satz Nietzsches „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht“ voranstellt.159 Einige Zeilen später greift er den Begriff ‚Wille zur Macht‘ auf, um daran den Grundtenor seines eigenen Machtverständnisses zu verdeutlichen: Statt an dem abwertenden Charakter (pejorative sense), der dem Machtbegriff anhaftet, festzuhalten, orientiert sich May an Nietzsches ‚Wille zur Macht‘, den er im Sinne der Selbstentfaltung (self-realization) und Selbstverwirklichung (self-actualization) interpretiert. Mit dieser Deutung verbindet er das Anliegen, den Begriffen Wille und Macht bei Nietzsche keine moderne Deutung als kompetitive Momente aufzudrängen, sondern ihre Bedeutung für den Lebensprozess ansichtig zu machen. Macht in diesem Sinne versteht er als „eine Beschreibung eines fundamentalen Aspekts des Lebensprozesses“160. Wiederholt weist May in seiner Schrift darauf hin, dass Macht weder mit Leben noch mit dem Lebensprozess identifiziert werden kann. Stattdessen schreibt er: „Macht kann nur mit der ursprünglichen Macht des Seins-selbst identifiziert werden, von dem Sein seinen Ursprung hat.“161 Eine entsprechende Gleichsetzung unterstellt er jedoch sowohl Nietzsche als auch Bergson.162 Womöglich denkt May hier an Aussagen Nietzsches, wie sie sich beispielsweise in Jenseits von Gut und Böse finden: „Leben selbst ist Wille zur Macht.“163 Nietzsche bringt hier Leben und Macht in einen unauflöslichen Zusammenhang, aber nicht Macht an sich, sondern Willen zur Macht. Leben ist nicht einfach identisch mit Macht, sondern Leben ist Willen zur Macht, d.h. alles Lebendige hat den Willen bzw. den Trieb, sich selbst zu bejahen, sich ins Leben zu setzen. Darin zeigt sich seine Macht.
|| 156 Vgl. hierzu auch ACAPOVI, Lʼêtre e lʼamour, 49–56; ATCHADÉ, Philosophie der Macht, 263– 272. 157 EW XVI 339. 158 GW XI 158. 159 Vgl. MAY, Power and Innocence, 19. 160 Ebd., 20. 161 Ebd., 100. 162 Vgl. ebd., 20; 100. 163 NIETZSCHE, Jenseits von Gut und Böse, 27.
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4 Black Lives Matter Von Heinrich Popitz, einem der bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts, stammt die These der ‚Omnipräsenz‘ der Macht: Macht, schreibt er, ist „eindringend in soziale Beziehungen jeden Gehalts: sie steckt überall drin.“164 Die Omnipräsenz der Macht wird auch dann deutlich, wenn man wie Paul Tillich und Rollo May den ontologischen Charakter der Macht herausstellt. Macht ist beiden Denkern zufolge seinsmäßig und verschwindet auch dann nicht, wenn man einer ganzen Gruppe die gesellschaftliche Teilhabe verwehrt – im Gegenteil, sie sucht sich eine andere Möglichkeit der Verwirklichung. Anhand der BlackLivesMatter-Bewegung soll die bleibende Bedeutung der Machtkonzeption der beiden Denker in diesem Kapitel noch einmal in aktualisierter Weise verdeutlicht werden. BlackLivesMatter – unter diesem Hashtag erfährt der bereits seit Generationen währende Kampf um Anerkennung und Gerechtigkeit sowie die Forderung nach Chancengleichheit von Schwarzen und People of Color international seit 2013 wieder verstärkte Aufmerksamkeit. Auslöser für das Aufkommen der BlackLivesMatter-Bewegung ist das wiederholte gewalttätige Vorgehen von Polizeikräften gegen Schwarze und People of Color, das häufig auch tödlich endet. Das ist natürlich nur eine stark verkürzte Darstellung des Ursprungs dieser Bewegung, der in Wirklichkeit komplexe Strukturen von Rassismus, Diskriminierung und Unterdrückung zugrunde liegen. Eine ausführliche und differenzierte Aufarbeitung und Analyse dieser Bewegung kann in der vorliegenden Schrift nicht geleistet werden. Vor dem Hintergrund der Beschäftigung mit den Machtkonzeptionen von Rollo May und Paul Tillich lässt sich aber eine Nähe zwischen dem Ausruf black lives matter und dem von May als entscheidend für die Selbstwahrnehmung und Selbstverwirklichung des Menschen herausgestellten sense of significance aufweisen: Sowohl dem Ausruf black lives matter als auch dem sense of significance liegt der Gedanke zugrunde, dass niemand mit dem Gefühl leben kann, dass das eigene Leben nicht zählt und bedeutungslos ist. Kein Mensch erträgt die Erfahrung, dass es egal ist, ob er existiert oder nicht; dass es egal ist, wer sie oder er ist, und dass das eigene Leben keine Wirkung hat. Ungerechte gesellschaftliche Strukturen verwehren Schwarzen und People of Color gleiche gesellschaftliche Teilhaberechte. Damit verhindern sie aber auch auf verschiedenen Ebenen die Möglichkeit der Begegnung, die Tillich und May als entscheidend für das Erleben und die Verwirklichung
|| 164 POPITZ, Phänomene der Macht, 20. Für die Darstellung der Machttheorie Heinrich Popitzʼ siehe ANTER, Theorien der Macht, 75–90.
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der eigenen Macht und damit der eigenen Person qualifizieren.165 Bezeichnend für die BlackLivesMatter-Bewegung ist die Idee des gewaltfreien Protestes. In diesem gewaltfreien Widerstand drückt sich das aus, was May als integrative Macht bezeichnet hat, d.h. eine Form der Macht, in der im Verhältnis des Miteinanders die Macht einer Person oder Gruppe die Macht anderer Personen oder Gruppen begünstigt. Am Beispiel der BlackLivesMatter-Bewegung bedeutet dies, dass die Demonstrierenden der Mehrheitsbevölkerung ihre Schuld an der vorherrschenden Situation aufzeigen und sie dadurch nicht aus der Verantwortung entlassen. Letztes Ziel ist die Machtsteigerung der unterdrückten Gruppe insgesamt und nicht bloß Einzelner. Letztlich bleibt aber, worauf Popitz hinweist, dass Macht begründungsbedürftig ist.166
|| 165 Zum Selbstverständnis der BlackLivesMatter-Bewegung siehe das folgende Zitat einer der Vordenkerinnen und Gründerinnen der Bewegung: “When we say Black Lives Matter, we are talking about the ways in which Black people are deprived of our basic human rights and dignity. It is an acknowledgement Black poverty and genocide is state violence. It is an acknowledgment that 1 million Black people are locked in cages in this country – one half of all people in prisons or jails – is an act of state violence. It is an acknowledgment that Black women continue to bear the burden of a relentless assault on our children and our families and that assault is an act of state violence. Black queer and trans folks bearing a unique burden in a hetero-patriarchal society that disposes of us like garbage and simultaneously fetishizes us and profits off of us is state violence; the fact that 500,000 Black people in the US are undocumented immigrants and relegated to the shadows is state violence; the fact that Black girls are used as negotiating chips during times of conflict and war is state violence; Black folks living with disabilities and different abilities bear the burden of state-sponsored Darwinian experiments that attempt to squeeze us into boxes of normality defined by White supremacy is state violence. And the fact is that the lives of Black people – not ALL people – exist within these conditions is consequence of state violence.” (https://thefeministwire.com/2014/10/blacklivesmatter -2/ [aufgerufen am 03.07.2021].) 166 Vgl. POPITZ, Phänomene der Macht, 20.
Mythos Es war die Geschichte dieser Menschen, es war die Geschichte ihrer Identität. Die Pflanzen, die Tiere, alle gehörten zu ihren Ahnen, ihren Vorfahren. Und in dieser Geschichte, die vom Anfang, vom Ursprung her entfaltet, haben die Leute des Dorfes ihren ganz bestimmten Ort und wissen, wer sie sind. In diesem Dorf, in dieser Landschaft, Welt und Zeit.1 Michael Kleeberg
1 ‚Vom Mythos zum Logos‘ Mit seinem Werk Vom Mythos zum Logos, in dem Wilhelm Nestle die Entwicklung der griechischen Geistesgeschichte als eine Entwicklung vom mythischen zum rationalen Denken darstellt, verschafft der Philologe der seit der Antike vorherrschenden Idee des Gegensatzes von Mythos und Logos (zumindest in der Klassischen Philologie) im 20. Jahrhundert einige Popularität. Die Überwindung des Mythos durch den Logos bezeichnet Nestle in Anlehnung an Kant als Weg „aus der Unmündigkeit zur Mündigkeit des Geistes“2 und damit – im Sinne Max Webers – als eine ‚Entzauberung‘ der Welt3. Bereits im 5. Jh. v. Chr. wird dem Begriff des Mythos der Begriff des Logos als „Kontrastbegriff“ gegenübergestellt: Im Gegensatz zu der „unwahre[n] Erzählung“ des Mythos (dazu zählten Dichtung, Fabel, Kindermärchen) kommt dem Logos die Bedeutung der „Rechnung, Rechenschaft, verantwortete Rede“ zu.4 Die mit dem Schlagwort ‚vom Mythos zum Logos‘ verbundene Vorstellung „eines entwicklungsgeschichtlichen Ablösungsmodells“5, wie es Roderich Barth bezeichnet, findet spätestens seit der Romantik keine unkritische Zustimmung mehr.6 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie im 20. Jahrhundert wird der Mythos zu einem viel diskutierten Thema.7 In diesen Trend reihen sich auch Rollo May und Paul Tillich ein. Das breite Interesse an dem Ausdruck Mythos hat allerdings auch zur Konse-
|| 1 KLEEBERG, Der Idiot des 21. Jahrhunderts, 183. 2 NESTLE, Vom Mythos zum Logos, 6. 3 Vgl. ebd., 4. Für den gesamten bisherigen Gedankengang vgl. HORSTMANN, Art. Mythos, Mythologie, 306. 4 BURKERT, Art. Mythos, Mythologie. I. Antike, 281. 5 BARTH, Gebrochener Mythos, 80. 6 Vgl. HORSTMANN, Art. Mythos, Mythologie, 288–318. 7 Siehe hierzu DANZ/SCHÜSSLER, Die Macht des Mythos, 4; HORSTMANN, Art. Mythos und Mythologie, 288–318. https://doi.org/10.1515/9783110780581-010
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quenz, dass der Begriff für viele verschiedene Aspekte verwendet wird.8 Was Mythos meint, muss also immer erst geklärt werden. In ihren Werken versuchen Rollo May und Paul Tillich eine solche Klärung. Die Gedanken zum Mythos in diesem Kapitel schließen den zweiten Hauptteil der Arbeit ab und führen gleichzeitig immer wieder zurück zu einigen Kernaspekten der vorausgehenden Kapitel. Mit ihren Überlegungen zum Mythos (und zum Symbol) versuchen Rollo May und Paul Tillich eine Antwort auf die Herausforderungen des Menschen des 20. Jahrhunderts zu geben.
2 Mythos bei Rollo May und Paul Tillich 2.1 Rollo May 2.1.1 Amerika – das Land der Mythen 1991 veröffentlicht Rollo May seine letzte Monografie mit dem Titel The Cry for Myth. Darin eröffnet der Psychotherapeut im zweiten Teil den Leserinnen und Lesern ein weites Panorama amerikanischer Mythen von der ersten Besiedelung Amerikas bis zum Niedergang des ‚American Dream‘. Es liest sich wie eine Sammlung von Vorstellungen und Ideen der eigenen Aufgabe und Geschichte, die zu Mythen stilisiert wurden und von denen man den Eindruck hat, sie konstituieren auch gegenwärtig das amerikanische Selbstverständnis.9 Gleich zu Beginn dieser Darstellung vertritt May die These, Mythen gingen neuen Entdeckungen voraus. Das erklärt für ihn, warum die ersten beiden Entdeckungen Amerikas ohne Wirkung blieben und erst Columbusʼ Überfahrt weitreichende Bedeutung erlangte. Es braucht, so schreibt er, zuerst „eine neue mythische Welt“10, die ihm zufolge erst die Renaissance bzw. die frühe Neuzeit eröffnete. Der Gedanke des Aufbruchs, der Neugestaltung, der neue Blick auf den Menschen bereiteten nach Mays Auffassung den Boden für die Idee einer neuen Welt. Vor diesem neuen Denkhorizont transformierten die Menschen auf der Mayflower die bekannten Mythen des Paradieses, des Garten Eden, des Golden
|| 8 Vgl. FRANK, Kaltes Herz, 95. 9 Siehe hierzu auch FLUCK, II. Kultur, 719: „Einige dieser Vorstellungen waren so weit verbreitet und von so großer Anziehungskraft, dass sie zu nationalen Mythen wurden, die das Selbstbild der amerikanischen Gesellschaft, wenn auch in fortlaufender Anpassung an veränderte gesellschaftliche Bedingungen, noch heute beeinflussen. Für das Verständnis der amerikanischen Kultur kommt ihnen daher eine zentrale Rolle zu.“ 10 MAY, The Cry for Myth, 92.
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Age zu dem ‚Großen Mythos von Amerika‘ (The Great Myth of America).11 Diese Remythisierung nahmen sie in der Annahme vor, dass sie Teil eines größeren göttlichen Planes seien. Die Idee von Amerika wurde zu so etwas wie der Vorstellung einer „Wiedergeburt der Menschheit, ohne Sünde oder das Böse oder Armut oder Ungerechtigkeit oder Verfolgung, was die Alte Welt charakterisiert hat“12. Aus dieser von May dargelegten Perspektive erscheint das amerikanische Selbstverständnis von Beginn an als eng an Vorstellungen orientiert, die in Mythen tradiert werden. Ähnlich formuliert diese Beobachtung auch Winfried Fluck: „Bevor Amerika von den Europäern entdeckt wurde, war es schon von ihnen erfunden worden.“13 Als einen zentralen Mythos Amerikas nennt May den ‚Mythos des Neuen‘. Dieser Mythos ist ihm zufolge in den USA überall spürbar und zeigt sich besonders in zwei Bereichen: Zum einen zeugen geografische Bezeichnungen wie New England, New Hampshire, New York, New Mexico von einem Verständnis des eigenen Landes als einer neuen Welt und einem menschheitsgeschichtlichen Neustart, der damit verbunden ist. Zum anderen charakterisiert die USA ein ausgeprägtes Streben nach technischem Fortschritt.14 Auch aus psychotherapeutischer Sicht lässt sich nach May in seiner Zeit das Weiterleben des Mythos des Neuen konstatieren: Wie in keinem anderen Land sieht er in den USA psychotherapeutische Ansätze wie Pilze aus dem Boden schießen – ohne dass diese in Europa groß wahrgenommen wurden.15 Dem Mythos des ‚Changing Self‘ entsprechend, der in Anlehnung an den Mythos des Proteus die Überzeugung illustriert, dass sich das Individuum immer neu erfinden kann, kommen amerikanische Bürgerinnen und Bürger nach Mays Erfahrung nicht zur Therapie, um geheilt zu werden, sondern um den gegenwärtigen Lebensweg durch einen neuen zu ersetzen.16 Von zentraler Bedeutung für den American Way of Life ist für May auch der Mythos der Grenze (The Myth of the Frontier), hinter dem die Erfahrung der Begegnung mit der Wildnis hinter der Grenze steht.17 Das Er-
|| 11 Vgl. ebd. 12 Ebd., 93f. 13 FLUCK, II. Kultur, 719. 14 Vgl. MAY, The Cry for Myth, 101. 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. ebd., 101f. 17 Vgl. FLUCK, II. Kultur, 723. Der Historiker Frederick Jackson Turner stellt in seinem bekannten Vortrag The Significance of the Frontier in American History die Bedeutung der Grenzerfahrung heraus: vgl. TURNER, The Significance of the Frontier in American History, 2: “Thus American development has exhibited not merely advance along a single line, but a return to primitive conditions on a continually advancing frontier line, and a new development for that area.
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schließen des neuen, größtenteils unbesiedelten Landes war May zufolge verbunden mit Werten wie Individualismus,18 Eigenverantwortlichkeit (self-reliance) und der Auseinandersetzung mit sowie der Bewältigung von physischer Einsamkeit (loneliness).19 Diese Werte und Vorstellungen verdichten sich in dem Bild des einsamen Cowboys, der auf sich allein gestellt das neue Land erschließt und besiedelt. Obwohl es die Grenzsituation der frühen Pioniere so nicht mehr gibt, lebt der Mythos der Grenze bis heute weiter und konstituiert weiterhin das amerikanische Selbstbewusstsein – in entsprechender Anpassung an die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Ähnliches gilt für den Gedanken der Selbsterneuerung der frühen Pilger und Pilgerinnen sowie für den Gedanken der Selbstbehauptung gegenüber den unzivilisierten Einwohnern der Wildnis, der nach Fluck auch heute noch Teil der „Rechtfertigung individuellen Waffenbesitzes“ ist.20 All diese Vorstellungen kulminieren in dem, was in den 1930er Jahren als ‚American Dream‘ bezeichnet wird: „dem Versprechen individueller Selbstentfaltung unabhängig von Geburt, Stand und ethnischer Zugehörigkeit“21. Der ‚self-made man‘ und die Geschichten vom erfolgreichen Aufstieg vom ‚Tellerwäscher zum Millionär‘, die der Schriftsteller Horatio Alger erzählte und die sich seinerzeit großer Bekanntheit erfreuten, brannten sich tief in das amerikanische Selbstverständnis ein. Die Verantwortung für das Gelingen des eigenen Lebens und damit die Darstellung der eigenen Bedeutsamkeit und Wertigkeit liegt hiernach allein beim Individuum. Der Individualismus wurde zu einer Lebensform.22 Am Mythos des Individualismus, schreibt May, hängen die Amerikaner, „als wäre das der einzig normale Weg zu
|| American social development has been continually beginning over again on the frontier.” Siehe auch NASH, Wilderness and the American Mind. Siehe auch MAY, Psychology and the Human Dilemma, 130: “I propose that the best way to understand the American character is to see it via the symbol of the frontier.” 18 Siehe hierzu auch den Beitrag von Winfried Fluck. DERS., II. Kultur, 726f. May schreibt dazu: “Americans cling to the myth of individualism as though it were the only normal way to live, unaware that it was unknown in the Middle Ages (except for hermits) and would have been considered psychotic in classical Greece. We feel as Americans that every person must be ready to stand alone, each of us following the powerful myth of the lone cabin on the prairie. Each individual must learn to take care of himself or herself and thus be beholden to no one else.” (MAY, The Cry for Myth, 108). 19 Vgl. MAY, The Cry for Myth, 93. Siehe auch MAY, Values, Myths, and Symbols, 705. 20 Vgl. FLUCK, II. Kultur, 724. 21 Ebd., 720. 22 Vgl. ebd., 726f.
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leben […]. Jedes Individuum muss lernen, für sich selbst zu sorgen und somit niemandem sonst verpflichtet zu sein.“23 Was sich wie eine Erfolg versprechende Entwicklung einer sich neu formierenden Nation liest, erfährt einen radikalen Umbruch, der sich in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ankündigt und schließlich mit der durch den Börsenkrach bewirkten Depression einen Höhepunkt erfährt.24 Es ist die Zeit, die kulturgeschichtlich als ‚Jazz Age‘ bezeichnet wird25 und die in verschiedene Formen der Kunst gekleidet vom „Rückgang der zugrundeliegenden Mythen [berichtete] und das Ergebnis des Zusammenbruchs der Mythen vorhersagte“26. F. Scott Fitzgeralds Roman The Great Gatsby ist eines der herausragenden Zeugnisse für diesen Wandel. „Dieser Roman“, schreibt May, „stellt die Tragik des amerikanischen Mythos dar, der Amerika seit der Landung am Plymouth Rock so erfolgreich geleitet hat.“27 Was aus dem Untergang des ‚American Dream‘ und den in ihm erzählerisch dargestellten, für das amerikanische Selbstverständnis prägenden Mythologemen nach Mays Auffassung folgt, fasst er folgendermaßen zusammen: Die Zerfallsphase dieses Mythos, die wir jetzt erleben, veranschaulicht den Untergang und die Umkehrung der vom Mythos getragenen Werte. Die Pistole, die ein Werkzeug zur Eigenverantwortlichkeit war, ist nun in den Vereinigten Staaten zu einem Werkzeug exzessiver Gewalt geworden. Mutige Einsamkeit ist zu neurotischer Entfremdung geworden. Die Entwurzelung des modernen Amerikaners ist zu einem drängenden Problem geworden, da niemand mehr einen Ort hat, den er sein Eigen nennt. Die Macht, die dem Einzelnen half, seinen Charakter zu entwickeln, wird nun zur Macht um der Macht willen, was durch Beispiele wie den Watergate-Skandal bis zum Überdruss veranschaulicht wird. Auch unsere Erfahrung von Freiheit wird durch den Zerfall des amerikanischen Traums verzerrt. Es bestätigt sich, was Alexis de Tocqueville vor über einem Jahrhundert sagte, dass er kein Land kenne, in dem das Individuum physisch freier und psychisch und geistig mehr versklavt sei. Mit unserem Beharren auf völliger körperlicher Freiheit haben wir einen Konformismus eingeführt, der dazu neigt, unsere Freiheit psychologisch und geistig zu zerstören.28
|| 23 MAY, The Cry for Myth, 108. 24 Vgl. ebd., 126. 25 Vgl. FLUCK, II. Kultur, 770. 26 MAY, The Cry for Myth, 128. Siehe auch ebd., 126: “I propose that the Jazz Age was the first throes of collapse of the American Dream. The structure of myths on which America had existed for four centuries was now thrown into radical transition.” 27 Ebd., 127. 28 MAY, Values, Myths, and Symbols, 705: “The disintegrating phase of this myth, which we are experiencing now, illustrates the demise and the reversal of the values carried by the myth.
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Der Zerfall des Mythos, den May als Träger bzw. Vermittler von Werten sowohl des Individuums als auch der Gemeinschaft deutet,29 ist ein Grund für den „richtungslosen Zustand“30, in dem sich der Mensch am Ende des 20. Jahrhunderts seiner Analyse zufolge befindet. Mays anthropologische Diagnose ähnelt jener Friedrich Nietzsches im ausgehenden 19. Jahrhundert, wenn dieser vom „mythenlose[n] Mensch[en]“31 spricht. 2.1.2 Der mythenlose Mensch des 20. Jahrhunderts „Und nun steht der mythenlose Mensch“, so schreibt Nietzsche in Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus, „ewig hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend nach Wurzeln, sei es dass er auch in den entlegensten Alterthümern nach ihnen graben müsste.“32 Bereits die Darstellung der sogenannten „Gründungsmythen“33 Amerikas sowie die zeitdiagnostischen und anthropologischen Bemerkungen Mays und Nietzsches verdeutlichen die Bedeutung von Mythen für das Selbstverständnis des Individuums sowie einer ganzen Nation. Wenn die bekannten und tradierten Mythen nicht mehr „ihre Funktion, der Existenz Sinn zu verleihen“ (making sense of existence) erfüllen, wie es Mays Wahrnehmung im 20. Jahrhundert ist, fällt es dem Menschen aufgrund der daraus resultierenden Schwierigkeit, dem eigenen Leben Richtung und Sinn zu geben, schwer, mit Angst und Schuldgefühlen adäquat umzugehen.34 Für May ist es deshalb wenig verwunderlich, dass Kulte – seien es neue oder auch wiederentdeckte alte – großen Zulauf erfahren. Der Psychotherapeut versteht dies als die verzweifelte Suche der Menschen nach
|| The gun that was a tool for self-reliance has now become a tool for excessive violence in the United States. Courageous loneliness has become neurotic alienation. The rootlessness of modern Americans has become a pressing problem in that no one has any place he calls his own. The power that helped individuals develop character now becomes power for power’s sake, illustrated ad nauseam by such examples as the Watergate scandal. Our experience of freedom is also distorted in the disintegration of the American dream. It bears out what Alexis de Tocqueville said over a century ago, that he knew of no country where the individual was more free physically and more enslaved psychologically and spiritually. In our insisting on complete freedom physically, we have instituted a conformism that tends to destroy our freedom psychologically and spiritually.” 29 Vgl. ebd., 703. Siehe auch DERS., Myths and Culture, 1. 30 MAY, The Cry for Myth, 22. 31 NIETZSCHE, Die Geburt der Tragödie, 142. 32 Ebd. 33 FLUCK, II. Kultur, 719. 34 Vgl. MAY, The Cry for Myth, 16.
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„Antworten auf ihre Angst“ und ein Sich-Sehnen „nach Erlösung von ihrer Schuld oder Depressionen, […] nach etwas, das die Leere ihres Lebens füllt“.35 Zwar haben nach Mays Auffassung Kulte mit Blick auf diese Bedürfnisse eine ähnliche Macht wie Mythen, jedoch ohne die sozialen Schranken und gesellschaftliche Verantwortung.36 Die ausgeprägte Orientierung an Kulten, die May im ausgehenden 20. Jahrhundert konstatiert, ist für ihn „ein Indikator für das verzweifelte Bedürfnis nach Mythen“37. Bereits im Titel der Schrift The Cry for Myth gibt er der von ihm als verzweifelt wahrgenommenen Suche Ausdruck und schreibt an späterer Stelle, dass dieser Ruf unbedingt ernst zu nehmen sei. Gelingt es einer Gesellschaft nicht, ‚authentische Mythen‘ zu erschaffen, treten ‚Pseudomythen' und der Glaube an Magie an ihre Stelle.38 2.1.3 Die Entwicklung der Psychotherapie als eine Folge des Mangels an Mythen Als Reaktion auf die Orientierungslosigkeit aufgrund des Verlusts tragender Mythen versteht der Psychotherapeut May die Geburt und Entwicklung der Psychoanalyse.39 Was May hier in Bezug auf das 20. Jahrhundert sagt, ist für ihn Teil eines in der Menschheitsgeschichte immer wieder auftretenden Phänomens und kann als anthropologische Grundkonstante betrachtet werden: Zu verschiedenen Zeiten kommt es in der Geschichte immer dann zu einer verstärkten Beschäftigung mit Themen wie Angst, Verzweiflung und neurotischer Schuld, wenn die die jeweilige Kultur formenden und tragenden Mythen und Symbole keinen Widerhall mehr in den Menschen der jeweiligen Zeit finden und das Individuum mit Angst, Verzweiflung und Schuld auf sich selbst zurückgeworfen ist.40 Es sind nach May solche Zeiten, in denen historische Epochen im Zerfall und Umbruch begriffen sind. Davon sind Epochen zu unterscheiden, in denen die „Symbole und Mythen der Kultur Stärke und verbindende Kraft besitzen“41. Zur Zeit Platons und Aristotelesʼ dienten insbesondere Mythen und Symbole zur
|| 35 Vgl. ebd., 22f. Siehe hierzu auch YALOM, Existenzielle Psychotherapie, 545: „Eine Bedeutung des Sinns ist also, daß er ein Linderungsmittel für die Angst ist: Er entsteht, um uns von der Angst zu befreien, die von einem Leben und einer Welt ohne vorgegebene tröstliche Struktur herrührt.“ 36 Vgl. MAY, The Cry for Myth, 23. 37 Ebd. 38 Vgl. ebd., 24. 39 Vgl. ebd., Foreword. Siehe DERS., The Significance of Symbols, 29. 40 Vgl. MAY, Myths and Culture, 4f. 41 MAY, The Significance of Symbols, 30.
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Bewältigung der Ängste des Menschen. So konnten die Menschen beim Besuch des Theaters und der Aufführung mythologischer Stoffe eine Reinigung (katharsis) erfahren und sich von bestimmten Emotionen und Affekten befreien. Die Akzeptanz von Symbolen, die in Aufführung von Dramen ebenso wie in Religion, Philosophie und Kunst ihren Ort hatten, fungierte wie eine Art „‚normaleʻ Psychotherapie“42. In der mythenlosen Zeit des 20. Jahrhunderts sieht May die Möglichkeit einer normalen, natürlichen Katharsis nicht gegeben, was für ihn zu den verschiedenen Problemen führt, denen er in seinem therapeutischen Arbeiten begegnet. Hierin sieht er Ähnlichkeiten mit der Hellenistischen Zeit sowie mit dem ausgehenden Mittelalter.43 Solche Zeiten weisen ein stärkeres Bedürfnis nach Psychotherapie auf, deren Funktion darin besteht, zerfallene Werte wiederherzustellen.44 Obwohl schon Freud früh auf die Bedeutung von Symbolen und Mythen aufmerksam gemacht hat, sollte es noch einige Zeit dauern, bis seine Einsichten zu einem ernstzunehmenden Gegenstand der Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie wurden. Zunächst erfuhr Freuds Lehre unterbewusster Prozesse nur ein geringes Echo in der Fachwissenschaft. Es war May zufolge in den 1920er Jahren überhaupt nicht denkbar, Aussagen über Symbole und Mythen in einschlägigen Werken der Psychologie zu finden. In der Frage nach Mythos oder Logos war es unzweifelhaft der Logos, dem man den Vorrang einräumte. Augenscheinlich wird dies May zufolge anhand der zu dieser Zeit in der Psychologie vorherrschenden Tendenz, Erkenntnisse über die Psyche und das Verhalten des Menschen aus nachprüfbaren Experimenten abzuleiten. Denkt man hier an Experimente wie den Pawlowʼschen Hund, dann wird deutlich, was May meint, wenn er der Psychologie jener Zeit vorwirft, dass sie sich auf solche Aspekte reduziere, in denen das menschliche Verhalten mit dem des Tieres übereinstimme und den Menschen lediglich hinsichtlich eines Stimulus-ResponseSchemas zu verstehen versuche. Auf diese Weise kann ihm zufolge die Beschäftigung mit dem Gebrauch von Symbolen, die einzig dem Menschen vorbehalten
|| 42 Vgl. MAY, Myths and Culture, 2. Am Beispiel der Aufführung der Orestie des Aischylos im Dionysostheater in Athen verdeutlicht May seine These: “In listening to these discussions of guilt, responsibility and counter-guilt, there must have been for the young participant-observer a profound, if not self-conscious, ,working through,ʽ as we phrase it psychoanalytically.” (Ebd.). 43 Vgl. MAY, Values, Myths, and Symbols, 705. 44 Vgl. ebd., 706. Siehe zum Gedanken der unterschiedlichen Gewichtung der Bedeutung von Angst in der Menschheitsgeschichte S. 91ff. in dieser Arbeit. Für den Zusammenhang von Sinn und Werten siehe YALOM, Existenzielle Psychotherapie, 546.
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sind, ausgeklammert werden.45 In einer Anmerkung fügt May diesem Gedanken die Beobachtung hinzu, dass es die Literaturkurse waren, die er und andere Studierende der Psychologie besuchten, die sie lehrten, was der eigentliche Gegenstand der Psychologie sei: der Mensch und seine Erfahrungen. Anders als die Psychologie habe die Literatur nämlich stets erkannt, was Mythen und Symbole leisten und wo sie ihren Ursprung haben: Sie sind die wesentliche Ausdrucksform und die Art und Weise, wie der Mensch sich selbst und seine Welt erfährt und interpretiert.46 Bezieht die Psychotherapie die Beziehung des Menschen zu seiner Welt in das therapeutische Geschehen mit ein, sei es nicht möglich, Mythen und Symbole auszuklammern. Hier haben sie May zufolge nämlich ihren Ursprung: in der Beziehung zwischen der inneren Erfahrung des Individuums und der Welt. Mythen und Symbole sind „die eigentliche Sprache der Krisen und Nöte der Patienten“47. Mit Freud, C. G. Jung und weiteren Psychotherapeutinnen und -therapeuten ließ sich dahingehend in der Mitte des 20. Jahrhunderts so etwas wie eine „revolutionäre Wende“ ausmachen. Erst die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen in der Tiefendimension des Individuums – in der Lehre Freuds und Jungs vom kollektiven Unbewussten – förderte das psychotherapeutische Interesse an der Bedeutung des Symbols.48 Seit dieser Zeit scheint das Interesse an Symbol (und Mythos) ins Zentrum der Psychotherapie gerückt zu sein. So jedenfalls liest sich die Bilanz, die May zu Anfang seiner Schrift The Cry for Myth am Ende des 20. Jahrhunderts zieht: „Als ein praktizierender Psychotherapeut stelle ich fest, dass sich die gegenwärtige Therapie, wenn man alles in Betracht zieht, fast ausschließlich mit den Problemen der Suche des Individuums nach Mythen beschäftigt.“49 2.1.4 Werkgeschichtliche Entwicklungen Versucht man werkgeschichtlich der Beschäftigung Mays mit dem Mythos nachzugehen, muss man die Suche um den Begriff des Symbols erweitern. Die weiteren Ausführungen in diesem Kapitel werden zeigen, dass Mythos und Symbol aufgrund ihres Verhältnisses zueinander notwendig zusammengedacht werden müssen und dass sich Ähnliches bei Tillich beobachten lässt.
|| 45 Vgl. MAY, The Significance of Symbols, 11–13. 46 Vgl. ebd., 13f. mit Anm. 47 Ebd., 13. 48 Vgl. ebd. 49 MAY, The Cry for Myth, Foreword. Für die Bedeutung des Symbols in der Psychotherapie und auch in der Kunst siehe MAY, My Quest for Beauty, 156f.
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Eine eigenständige Abhandlung über den Mythos findet sich bei May nur in der hier bereits behandelten Schrift The Cry for Myth. Im Vordergrund dieser Schrift steht neben den Ausführungen zur Bedeutung des Mythos die Darstellung solcher Mythen, die für das amerikanische Selbstverständnis von Bedeutung sind, sowie bedeutender Mythen der „westlichen Welt“, zu denen May beispielsweise Dantes Göttliche Komödie, Peer Gynt, Briar Rose, Goethes Faust, Poe’s Raven und Moby Dick zählt.50 The Cry for Myth ist Mays letzte Monografie, was in gewisser Weise die Bedeutung dieser Thematik für May unterstreicht. Dafür spricht nicht zuletzt auch der Titel des Werkes, der die Sehnsucht des modernen Menschen nach Mythen deutlich herausstellt. May zufolge darf der Mythos nicht als überholt abgetan werden; seine Bedeutung muss auch im therapeutischen Prozess wieder stärker in den Blick genommen werden. In seinen früheren Schriften zeigt sich umgekehrt eine tendenziell stärkere Beschäftigung mit dem Symbol. Das gilt besonders für den von May 1960 herausgegebenen Sammelband Symbolism in Religion and Literature sowie die 1968 zusammen mit Leopold Caligor verfasste Schrift Dreams and Symbols. Man’s Unconscious Language. Die Thematisierung des Symbols findet sich über diese beiden sehr spezifischen Werke hinaus in fast jeder von Mays Monografien. Auffallend ist bei den Erwähnungen in den meisten dieser Texte Mays Verwendung des Symbols zur Darstellung anthropologischer Charakteristika. An der Fähigkeit des Menschen, Symbole zu nutzen, weist May den Unterschied zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen auf.51 Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch der „symbol-user“52, er ist der „symbol-using organism“53, was auch an Ernst Cassirer und Susanne K. Langers Verständnis des Menschen erinnert.
2.2 Paul Tillich 2.2.1 Der Mythosbegriff im Denken Paul Tillichs Wie die meisten der bisher in der vorliegenden Arbeit behandelten Themen ist auch der Begriff des Mythos ein das Gesamtwerk Tillichs durchziehender Begriff. Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit dem Mythos, darauf weist Kars|| 50 Vgl. MAY, The Cry for Myth, 151–284. 51 Vgl. MAY, The Discovery of Being, 145. May orientiert sich an den Untersuchungen Kurt Goldsteins. In dessen Arbeit mit Menschen mit einer Hirnverletzung war es eben auch die Verwendung von Symbolen, die eingeschränkt oder verloren war. Siehe auch MAY, The Significance of Symbols, 20f. 52 MAY, Psychology and the Human Dilemma, 72. 53 MAY, The Significance of Symbols, 20.
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ten Höpting hin, ist Tillichs Schellingrezeption, mit dessen Denken er sich in seinen beiden Dissertationsschriften beschäftigt hat.54 Bis hin zu seinem großen Spätwerk, der dreibändigen Systematischen Theologie, zeigen seine Schriften immer wieder die Bedeutung des Mythos für sein Denken auf. Ebenso wie die bisherigen Begriffe weist auch der Mythosbegriff die Transformationsstadien auf, die Tillichs Denken im Gesamten kennzeichnen.55 An verschiedener Stelle wird auf die Entwicklungen in Tillichs Gesamtwerk hingewiesen. Christian Danz und Werner Schüßler zeigen die Entwicklung von einer „absolutheitstheoretischen Konstruktion“ hin zu einer sinntheoretischen Transformation auf. Auch in seinem Spätwerk, das sich vor allem durch den ontologischen Explikationsrahmen auszeichnet, führt Tillich die Beschäftigung mit dem Begriff des Mythos fort.56 Wenngleich der Begriff nun keine erneute Umgestaltung erfährt,57 wird er dennoch sprachlich präziser gefasst, und „die symbolische Kraft des Mythosbegriffs [tritt] in den Vordergrund“58. Stefan Dienstbeck zeichnet in seinem Beitrag Vom Mythos zum Dogma die Auseinandersetzung Tillichs mit dem Mythos nach und stellt dabei eine Kontinuität in der Darstellung seit seiner philosophischen Dissertation bis zu seinem ontologisch geprägten Spätwerk heraus. Als Hauptgedanke fasst er zusammen, dass Tillich an seiner frühen Orientierung an Schelling festhält, dabei jedoch auch eigene Akzente setzt.59 Für die werkgeschichtliche Entwicklung des Mythosbegriffs bei Tillich sind insbesondere die Beiträge des fünften Bandes der Reihe Tillich Research relevant, auf die in der Entfaltung von Tillichs Mythosverständnis im
|| 54 Vgl. HÖPTING, Der Mythosbegriff bei Paul Tillich, 44. Tillichs philosophische Dissertationsschrift aus dem Jahre 1910 trägt den Titel Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien (EW IX 158–272), die theologische Dissertation von 1912 Mystik und Schuldbewusstsein in Schellings philosophischer Entwicklung (GW I 11–108). 55 Vgl. hierzu die bereits an anderer Stelle erwähnte Arbeit von Stefan DIENSTBECK, Transzendentale Strukturtheorie. 56 Vgl. DANZ/SCHÜSSLER, Die Macht des Mythos, 7. 57 Vgl. ebd., 4–7. Danz und Schüßler bieten in ihrem einleitenden Beitrag außerdem auch einen Überblick über einige Entwicklungslinien in der denkerischen Auseinandersetzung mit dem Mythos seit der Aufklärung, in die hinein Tillich seinen Mythosbegriff stellt. (Vgl. ebd., 1– 4). 58 DIENSTBECK, Vom Mythos zum Dogma, 50. 59 Vgl. ebd., 49f. Siehe auch die Einleitung von Christian Danz und Werner Schüßler im fünften Band der Reihe Tillich Research (1–8). Dem Mythosbegriff bei Schelling und die Rezeption durch Tillich soll in dieser Arbeit keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Hierzu sei auf den Beitrag von Dietrich KORSCH, Notwendigkeit als Weg zur Freiheit, 27–48, in demselben Sammelband verwiesen.
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Folgenden zurückgegriffen werden soll. Unter verschiedensten Gesichtspunkten gehen die Beiträge des Sammelbandes dem Begriff des Mythos im Werk des evangelischen Theologen und Philosophen nach.60 Die Darstellung von Tillichs Mythoskonzeption in diesem Kapitel konzentriert sich auf diejenigen Aspekte seines Denkens, die für den Aufweis der Interdependenzen zwischen ihm und Rollo May relevant sind. Vor diesem Hintergrund ist neben einer generellen Darstellung dessen, was Tillich unter Mythos versteht, sowie dem Hinweis auf die religionsphilosophische Verortung seines Ansatzes, mit dem er sich wesentlich von dem psychotherapeutischen Anliegen Mays unterscheidet, besonders seine „symbolisch-realistische Theorie“ des Mythos interessant, wie sie sich bereits in seiner Religionsphilosophie von 1925 findet und die er in seinem Beitrag Mythos und Mythologie von 193061 auf den Begriff bringt. 2.2.2 Mythos als Sprache der Religion „Mythos ist Göttergeschichte.“62 Mit dieser Definition steigt Tillich in seinem Beitrag Mythos und Mythologie in die Thematik ein. Diese Definition setzt nach Tillich die Vorstellung voraus, dass es eine Götterwelt gibt, d.h. eine Vorstellung von Gestalten, die dem Menschen ähneln und in Zeit und Raum handeln.63 Eine solche Vorstellungswelt, wie sie besonders der Kultur der Griechen vertraut war, nennt Tillich die „Periode des voll entwickelten und ungebrochenen Mythos“64. Dieser Periode stellt er die des ‚werdenden‘ und des ‚gebrochenen‘ Mythos gegenüber.65 Als ‚werdend‘ charakterisiert Tillich den Mythos in einer Zeit, die er ‚vormythisch‘ nennt und in der es noch keine Göttervorstellung gab, aber bestimmte Elemente auf die Entstehung dieser hindeuteten. Als ‚gebrochen‘ bezeichnet er den Mythos der ‚nachmythischen‘ Zeit, in der es noch so etwas wie Göttervorstellungen gibt, aber „die Götter oder Gott nicht mehr als handelnd oder leidend in Raum und Zeit vorgestellt werden“66. Nur unter Berücksichtigung all dieser Aspekte ist nach Tillich das Wesen des Mythos verstehbar.67
|| 60 Vgl. DANZ/SCHÜSSLER (Hg.), Die Macht des Mythos. 61 Vgl. GW V 187–195. 62 Ebd., 187. 63 Vgl. ebd.; TILLICH, Dynamik des Glaubens, 44f. 64 GW V 187. 65 Vgl. ebd. 66 Ebd. 67 Vgl. ebd.
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Die Dialektik von ‚ungebrochenem‘ und ‚gebrochenem‘ Mythos ist für Tillichs Verständnis des Mythos wesentlich und bildet auch den Ausgangspunkt seiner Beurteilung sich immer wieder formierender Kritik am Mythos. Der ‚ungebrochene‘ und der ‚gebrochene‘ Mythos sind Ausdruck unterschiedlicher Bewusstseinslagen. Als ‚ungebrochen‘ bezeichnet Tillich jene Mythenvorstellung, in der die Götter Teil der Welt sind: Die Götterwelt und die Welt der Seienden sind in dieser Vorstellung nicht voneinander getrennt.68 Ein solches „mythologische[s] Bewusstsein“69 unterscheidet noch nicht zwischen dem Unbedingten und „den Formen, in denen sich dessen Erfassung darstellt“70. Durch „das Bewußtsein um die unbedingte Transzendenz des Göttlichen“71 wird diese Einheits-Vorstellung ‚gebrochen‘. Aus dem religiösen Bewusstsein um die unbedingte Transzendenz des Göttlichen kann der Mythos als ein solcher verstanden werden, ohne dass er aber einfach beseitigt oder ersetzt werden könnte.72 Tillich führt dazu aus: „Alle mythologischen Elemente in der Bibel, in der Lehre und in der Liturgie sollten als mythologisch erkannt werden, aber sie sollten in ihrer symbolischen Form erhalten bleiben und nicht durch wissenschaftliche Surrogate ersetzt werden. Denn es gibt keinen Ersatz für den Gebrauch von Symbolen und Mythen: Sie sind die Sprache des Glaubens.“73 Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses wird Tillichs Kritik an der Forderung der Entmythologisierung der neutestamentlichen Texte des evangelischen Theologen Rudolf Bultmann nachvollziehbar. In seinem 1941 gehaltenen Vortrag Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung vertritt Bultmann die These, dem Neuen Testament liege ein mythisches Weltbild zugrunde, das nicht mehr mit dem wissenschaftlichen und an Technik orientierten Weltbild des 20. Jahrhunderts in Einklang gebracht werden könne. In dieser Diskrepanz sieht Bultmann ein Hindernis für die christliche Verkündigung, und er fordert für die Überwindung dieses Hindernisses eine konsequente Entmythologisierung der biblischen Geschichten.74 Anders als Bultmann, der
|| 68 Vgl. ebd. 69 TILLICH, Dynamik des Glaubens, 46. 70 DANZ/SCHÜSSLER, Die Macht des Mythos, 7. Siehe auch GW V 204f. 71 GW V 190. 72 Vgl. TILLICH, Dynamik des Glaubens, 46. Zu diesem Gedanken siehe DANZ, Die politische Macht des mythischen Denkens, 122–127. 73 TILLICH, Dynamik des Glaubens, 46. 74 Vgl. BULTMANN, Neues Testament und Mythologie, 12–20. „Das Weltbild des Neuen Testaments ist ein mythisches. Die Welt gilt als in drei Stockwerke gegliedert. In der Mitte befindet sich die Erde, über ihr der Himmel, unter ihr die Unterwelt. […] Dem mythischen Weltbild ent-
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nach Tillichs Auffassung den Mythos „zu Unrecht“ als „ein primitives Weltbild“ charakterisiert, versteht Tillich den Mythos als „die notwendige und angemessene Ausdrucksform der Offenbarung“.75 Folglich ist die Religion an diese Ausdrucksform gebunden und kann sich ihrer nicht einfach entziehen.76 Dennoch lehnt Tillich die Forderung nach einer Entmythologisierung nicht kategorisch ab, setzt aber einen anderen Akzent: „[E]in Symbol als ein Symbol und einen Mythos als einen Mythos zu begreifen“ und sie damit von „literalistische[n] Missdeutung[en]“77 zu befreien, ist für Tillich ein notwendiges Anliegen. Es braucht also eine Deliteralisierung, nicht eine Entmythologisierung.78 Befreit von dieser literalistischen Missdeutung können Mythen wieder als „Sprache des Glaubens“79 wahrgenommen werden. Am Beispiel des Symbols des „Falls“ zeigt Tillich, dass dies auch dann ein mythisches Sprechen bleibt, wenn wir dafür einen anderen Ausdruck wie „Übergang von der Essenz in die Existenz“, verwenden. Tillich spricht dann von einer „‚halbe[n] Entmythologisierung‘“80. Werner Schüßler fasst Tillichs Aussageabsicht zusammen, indem er verdeutlicht, dass ein Mythos folglich auch dann ein Mythos bleibt, wenn er durch
|| spricht die Darstellung des Heilsgeschehens, das den eigentlichen Inhalt der neutestamentlichen Verkündigung bildet. In mythologischer Sprache redet die Verkündigung […].“ (Ebd., 12). 75 EW IV 93. 76 Vgl. DANZ/SCHÜSSLER, Die Macht des Mythos, 7. 77 TILLICH, Dynamik des Glaubens, 46. Siehe hierzu auch die Anmerkungen im Textkritischen Apparat von Werner Schüßler: TILLICH, Dynamik des Glaubens, 146f. 78 Vgl. SCHÜSSLER/STURM, Paul Tillich, 50. Siehe hierzu auch Schüßler, der anhand der Auseinandersetzung mit Bultmanns Forderung der Entmythologisierung auch eine Nähe zwischen Paul Tillich und Karl Jaspers aufzeigt. (Vgl. SCHÜSSLER, „Die ewige Wahrheit des Mythos“, 199– 204). Siehe auch STURM, Rudolf Bultmanns Programm der Entmythologisierung und existentialen Interpretation, 133–148 und KÖRTNER, Mythos und Entmythologisierung, 143–173. An verschiedenen Stellen äußert sich Tillich zu diesem Thema: siehe GW XIII 471f.: „Nicht die Mythen selbst, die großen Mythen der Bibel eingeschlossen, sind töricht, sondern die Menschen, die sie wörtlich nehmen und sie auf die Ebene wissenschaftlicher Aussagen und technischer Weltbewältigung stellen.“ GW VIII 230f.: „Absurd ist jeder wörtlich verstandene Mythos, und damit stelle ich mich ganz auf die Seite des berühmt gewordenen Entmythologisierungs-Programms meines Kollegen und Freundes Bultmann. Die dreigeteilte Welt der biblischen Anschauung, die Teilung in göttliche, dämonische und menschliche Sphäre, die Welt, in der Götter und Dämonen herauf- und herniedersteigen, in die ein Sohn Gottes im spezifischen Sinn in einem feierlichen Akt geschickt wird, in der der Teufel verfolgt wird – all dies ist absurd, wenn es wörtlich genommen wird. All dies ist Symbol des Neuen Seins, wenn es verstanden wird. Und das scheint mir heute in der Tat eine unentbehrliche Aufgabe der Theologie zu sein, neu zu verstehen, was die Symbole bedeuten.“ 79 TILLICH, Dynamik des Glaubens, 46. 80 ST II 36.
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einen der jeweiligen Zeit angemessenen Ausdruck ersetzt wird. „In diesem Sinne“, schreibt Schüßler, „kann man Tillichs ganze Theologie als eine ‚halbe Entmythologisierung‘ verstehen.“81 2.2.3 Eine symbolisch-realistische Theorie des Mythos Die Beschäftigung mit dem Mythos hat Tillich zufolge verschiedene Theorien hervorgebracht, die er in zwei Kategorien unterteilt: in negative und positive Theorien. Unter die Kategorie ‚negative Theorien‘ fasst Tillich solche, die dem Mythos keine Eigenbedeutung zugestehen, sondern „ihn auf etwas anderes zurückführen“. Hierunter zählt Tillich die allegorische, die psychologische und auch die psychoanalytische Theorie. Letzterer traut er zwar zu, nicht bei einer negativen Theorie stehen zu bleiben, er scheint zum Zeitpunkt der Abfassung des Beitrags offensichtlich jedoch noch keinen überzeugenden Ansatz wahrgenommen zu haben, der den für negative Theorien charakteristischen Reduktionismus vermeidet.82 Interessant wäre in diesem Zusammenhang Tillichs Bewertung der Mythostheorie Rollo Mays. Im Gegensatz zu den negativen Theorien zeichnen sich nach Tillich diejenigen Theorien, die er unter die Kategorie der positiven fasst, dadurch aus, dass sie „den mythischen Schöpfungen eine selbstständige sachliche Bedeutung“83 zusprechen. Hierzu zählt Tillich auch seine eigene, die er als die Überwindung des Gegensatzes der beiden anderen Theorien qualifiziert, die für ihn ebenfalls unter die Kategorie positiver Theorien fallen: die metaphysische Theorie Schellings und die erkenntnistheoretische Theorie Cassirers.84 Beide Theorien prägen sein eigenes Mythosverständnis, worauf in der Sekundärliteratur immer wieder hingewiesen wird.85 Entsprechend der von ihm vertretenen Theorie, die er als „symbolisch-realistische Theorie“ bezeichnet, definiert Tillich den Mythos wie folgt: Der Mythos ist „das aus Elementen der Wirklichkeit aufgebaute Symbol für das im religiösen Akt gemeinte Unbedingte oder Seins-Jenseitige.“86 Daraus wird deutlich, dass Tillich die Begriffe Mythos und Symbol synonym gebraucht.87 Während in den frühen
|| 81 SCHÜSSLER, Das Symbol als Sprache der Religion, 181. 82 Vgl. GW V 187f. 83 Ebd., 188. 84 Vgl. ebd. 85 Vgl. DANZ/SCHÜSSLER, Die Macht des Mythos, 3f. Siehe auch SCHÜSSLER, „Die ewige Wahrheit des Mythos“, 201; DERS., Das Symbol als Sprache der Religion, 170; DIENSTBECK, Vom Mythos zum Dogma, 50. 86 GW V 188. 87 Vgl. DANZ/SCHÜSSLER, Die Macht des Mythos, 6.
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Texten der Mythos dabei ein größeres Gewicht besitzt, nimmt diese Bedeutung in den späteren Texten zum Symbol ab.88 An dem Zusammenhang von Mythos und Symbol, dem Verständnis dessen, was ein Symbol ist, sowie der Bedeutung von Mythos und Symbol für die conditio humana lassen sich im Folgenden Interdependenzen zwischen den Überlegungen aufweisen, die Tillich und May über den Mythos anstellen.
3 Mythen sind zu Geschichten verbundene Symbole: Interdependenzen in der Beschäftigung mit dem Mythos 3.1 Mythos und Symbol 3.1.1 Das Verhältnis von Mythos und Symbol Gegenüber den meisten der vorherigen Interdependenzen, die sich aus der Lektüre der jeweiligen Schriften der Denker ergeben haben, hat der Aufweis des wechselseitigen Einflusses in diesem Kontext den Vorteil, dass sich Beiträge zur Symboltheorie beider Denker in einem gemeinsamen Sammelband finden. Der von May 1960 herausgegebene Band mit dem Titel Symbolism in Religion and Literature89 beinhaltet einen einleitenden Beitrag von May mit dem Titel The Significance of Symbols90 und eine Übersetzung von Tillichs 1928 veröffentlichtem Beitrag Das religiöse Symbol91. Allein auf Grundlage dieser Beiträge lassen sich die Symboltheorie Tillichs und Mays sowie die Interdependenzen allerdings nicht darstellen. Was May betrifft, bedarf es dafür über den genannten Beitrag sowie die oben dargestellten Ausführungen aus The Cry for Myth hinaus des Rückgriffs auf die Beiträge Values, Myths, and Symbols von 1975 sowie The Healing Power of Symbols and Myths aus dem Jahre 1999. Für Tillichs Symboltheorie gilt zwar dessen Aufsatz Das religiöse Symbol von 1928 als eine der
|| 88 Vgl. hierzu LUSCHER, Arbeit am Symbol, 46. 89 Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Rollo May, New York 1960. In diesem Sammelband finden sich außerdem Beiträge von Erich Kahler, Amos Wilder, Kenneth Burke, Talcott Parsons, Nathan A. Scott Jr., I. A. Richards, Werner Heisenberg und A. N. Withehead. 90 MAY, The Significance of Symbols, 11–49. 91 TILLICH, The Religious Symbol, 75–98. Das deutsche Original findet sich in MW IV 213–288; GW V 196–212.
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einschlägigsten Darstellungen,92 mit Blick auf die hier angedachte Thematisierung der Symboltheorie, die diese in den Begriff des Mythos einbettet, bietet sich aber vor allem die Schrift Dynamics of Faith93 an. Ein erstes gemeinsames Moment in den Konzeptionen Tillichs und Mays besteht in der ähnlichen Verhältnisbestimmung von Mythos und Symbol. Das Verhältnis zwischen Mythos und Symbol bestimmen beide Denker wie folgt: Mythen sind zu Geschichten miteinander verbundene Symbole.94 Damit greifen sowohl May als auch Tillich zunächst den etymologisch ursprünglichen Erzählcharakter des Mythos wieder auf, um dann aber im nächsten, erläuternden Schritt in unterschiedliche Richtungen weiterzudenken. Tillich verwendet sowohl den Begriff des Mythos als auch den Symbolbegriff vor allem in religionsgeschichtlichen bzw. religionsphilosophischen Zusammenhängen, weshalb er von einer zunächst allgemeinen Symboltheorie eine Theorie des religiösen Symbols ableitet und konkretisiert.95 Geschichten bzw. Mythen, die sich aus der || 92 MW IV 213–228. Siehe auch GW V 196–212. Siehe HEINEMANN, Sinn – Geist – Symbol, 411f. Heinemann weist darauf hin, dass der Beitrag erstmals 1940 ins Englische übersetzt wurde (MW IV 253–277), womit er zu einer der frühen Äußerungen im englischsprachigen Raum zählt. Siehe auch HEINEMANN, Sinn – Geist – Symbol, 411 Anm. 6, wo Heinemann auch auf kritische Reaktionen hinweist. 93 TILLICH, Dynamik des Glaubens, 40–48. Den Mythosbegriff anhand der Symboltheorie zu erhellen, ist natürlich nicht das erste Anliegen Tillichs. Der Symbolbegriff ist vor allem „ein zentrales begriffliches Instrument für Tillichs Religionstheorie im Ganzen“. (HEINEMANN, Sinn – Geist – Symbol, 455). 94 Vgl. TILLICH, Dynamik des Glaubens, 45: „Mythen sind Symbole des Glaubens, die miteinander verbunden sind zu Geschichten […].“ Siehe MAY, The Significance of Symbols, 34: “[…] while myths develop and elaborate these symbols into a story which contains characters and several episodes.”; MAY, Values, Myths, and Symbols, 704: “A myth may be defined as a cluster of symbols set in dramatic form.”; DERS., The Healing Power of Symbols and Myths, 17: “Now the myth is a story in which the symbols are brought together […].” 95 Vgl. GW V 196: „Das religiöse Symbol vereinigt die Merkmale des Symbols überhaupt mit den besonderen Merkmalen, die ihm als religiöses Symbol zukommen.“ Siehe auch LUSCHER, Arbeit am Symbol, 48f.: „Bei der Entwicklung seines theologischen Symbolbegriffs verfährt Tillich nach der Strukturierungsmethode von Oberbegriff und spezifischer Differenz: Das religiöse Symbol gehört zum Symbol im Allgemeinen und teilt dessen allgemeine Merkmale, hat diese aber speziell in radikaler Weise zu eigen und ist somit Symbol schlechthin.“ Das religiöse Symbol und damit zusammenhängend Tillichs Ausführungen zur Sprache der Religion und des Glaubens sind wesentliche Aspekte in Tillichs religionsphilosophischen Texten. Trotz dieser herausragenden Bedeutung im Denken Tillichs soll es mit Blick auf die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit in diesem Kapitel lediglich bei dieser kurzen Thematisierung dieser Aspekte sowie dem Verweis auf entsprechende Literatur bleiben. Für den Aufweis der Interdependenzen zwischen Tillich und May spielt das religiöse Symbol eine weniger bedeutende Rolle. Zum religiösen Symbol bei Tillich siehe SCHWÖBEL, Symbolische Rede von Gott, 9–29 (siehe hier die
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Verbindung der religiösen Symbole ergeben, sind für Tillich Geschichten „von göttlich-menschlichen Begegnungen“96. In diesem Aspekt besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Tillichs Mythoskonzeption und derjenigen Mays. Während Tillich einen religionsgeschichtlichen bzw. religionsphilosophischen Zugang zum Mythos wählt, befragt May Mythen und Symbole nach ihrer psychologischen Funktion, die er wie folgt bestimmt: „[…] sie sind die Art und Weise des Menschen, die Quintessenz seiner Erfahrungen auszudrücken – die Art und Weise, wie er sein Leben, sein Selbstbild und seine Beziehung zur Welt, seinen Mitmenschen und zur Natur sieht – in einem Gesamtbild, das zugleich die vitale/lebendige Bedeutung seiner Erfahrungen beinhaltet.“97 Trotz dieser Differenz zwischen Tillich und May zeigt sich an dieser Stelle auch eine Gemeinsamkeit beider Theorien darin, dass sie Symbole (und Mythen) als Ausdruck der Begegnung bzw. der Beziehung des Menschen mit etwas ihn (unbedingt) Angehenden verstehen. Aus der Perspektive Tillichs ist das der ultimate concern98; aus der Perspektive Mays ist es die Begegnung des Menschen mit der Welt – sowohl mit Umwelt als auch mit der Mitwelt99. 3.1.2 Das Symbol im Unterschied zum Zeichen Auch mit Blick auf die für Tillichs Symboltheorie charakteristische Unterscheidung zwischen Symbolen und Zeichen lassen sich Interdependenzen zwischen Tillich und May aufzeigen. Trotz einer zentralen Gemeinsamkeit von Zeichen und Symbol, die Tillich in einem Über-sich-selbst-hinaus-auf-etwas-anderes-
|| Literaturhinweise S. 11); SCHÜSSLER, Das Symbol als Sprache der Religion, 170–186 (siehe auch hier die Hinweise S. 169); DANZ, Symbolische Form und die Erfassung des Geistes im Gottesverhältnis, 72–75. 96 TILLICH, Dynamik des Glaubens, 45. Siehe auch 46: „Symbole und Mythen […] sind Formen des menschlichen Bewusstseins […], die stets gegenwärtig sind. Denn der Mythos ist die Verbindung von Symbolen hinsichtlich unseres ‚ultimate concern‘.“ 97 MAY, The Significance of Symbols, 34. Siehe hierzu auch REEVES, The Psychology of Rollo May, 28. 98 Vgl. EW IV 93: „Ein Mythos ist ein Gefüge von Symbolen, die die Beziehung des Menschen zu dem, was ihn unbedingt angeht, zu dem Grund und Sinn seines Lebens zum Ausdruck bringt.“ 99 Vgl. MAY, The Significance of Symbols, 13f.: “Once we were forced to see the patient in relation to his world – what Freud calls his ʼfateʻ and ʼdestiny,ʻ or what the existential psychoanalysts were to call the ʼbeing-in-the-worldʻ – we could not overlook symbols, for they have their birth in just that relationship to the inner experience with the outer world, and are indeed the very language of the patient’s crisis and distress.” Siehe auch DERS., The Meaning of Anxiety, 94; DERS., Psychology and the Human Dilemma, 72.
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Verweisen verortet,100 besteht ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal von Zeichen und Symbol, auf das beide Denker aufmerksam machen, darin, dass die Verwendung eines Zeichens für das, worauf es hinweist, durch Konventionen bestimmt ist101 bzw., wie May es formuliert, auf einem willkürlichen Konsens beruht,102 während die Beziehung zwischen einem Symbol und dem, worauf es hinweist, wesensmäßiger Natur ist – Symbole partizipieren an der Wirklichkeit, auf die sie hinweisen.103 Den Unterschied zwischen Zeichen und Symbol machen beide an einem ähnlichen Beispiel anschaulich: Das rote Signal der Ampel – bei May ist es das Stoppschild – ist ein Hinweis für die Vorschrift, zu einem bestimmten Zeitpunkt an einer bestimmten Stelle anzuhalten. Die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem bleibt so lange bestehen, wie die entsprechende Konvention geteilt wird, und sie verschwindet, wenn sich beispielsweise eine Nation oder eine Gruppe auf eine andere Konvention einigt. Davon unterschieden hat die wesensmäßige Beziehung zwischen Symbol und Symbolisiertem zur Konsequenz, dass das Symbol nicht einfach ausgetauscht werden kann, wenn sich der Zweck verändert.104 May drückt diese Unterscheidung zwischen Zeichen und Symbol folgendermaßen aus: „Ein Zeichen steht für etwas; ein Symbol hat Teil an etwas.“105 (A sign is for something; a symbol is of something.) Die besondere Bedeutung des Symbols illustrieren sowohl Tillich als auch May anhand der Bedeutung der Nationalflagge: Die Flaggen anderer Nationen sind lediglich Zeichen, die auf die jeweilige Nation hinweisen. Anders ist es aber bei der Flagge der eigenen Nation, die „an der Macht und Würde der Nation“106 partizipiert und das „ganze Sein“ der Person, die Teil dieser Nation ist, umfasst.107 Das erklärt auch die Symbolkraft, die hinter dem Verbrennen
|| 100 Vgl. TILLICH, Dynamik des Glaubens, 40. In diesem Kapitel folge ich Tillichs Darstellung der Symboltheorie in Dynamics of Faith. Einen ersten Aufweis der Merkmale des Symbols findet sich schon in seinem Beitrag Das religiöse Symbol von 1928. Siehe MW IV 213f. Zur Symboltheorie Tillichs siehe DANZ/SCHÜSSLER/STURM, Das Symbol als Sprache der Religion sowie die Dissertation von HEINEMANN, Sinn – Geist – Symbol. 101 Vgl. TILLICH, Dynamik des Glaubens, 40. 102 Vgl. MAY, Values, Myths, and Symbols, 703. 103 Vgl. TILLICH, Dynamik des Glaubens, 40. 104 Vgl. ebd. 105 MAY, Values, Myths, and Symbols, 703: “A symbol cannot be arbitrary. A stop sign represents an arbitrary consensus. A sign is for something; a symbol is of something. A genuine symbol participates in the reality that it symbolizes. It points beyond itself to new levels of meaning.” 106 TILLICH, Dynamik des Glaubens, 40. 107 Vgl. MAY, Values, Myths, and Symbols, 703. Siehe auch DERS., The Healing Power of Symbols and Myths, 17; DERS., My Quest for Beauty, 155.
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einer Nationalflagge steht.108 Hier wird nicht nur eine Flagge, sondern zugleich auch die Identität, die Werte und das ‚ganze Sein‘ der Nation angegriffen, die darin symbolisiert ist. Aus diesem ersten Merkmal ergibt sich ein weiteres, anhand dessen sich eine gewisse Nähe zwischen den Symbolverständnissen beider Denker ausmachen lässt: Symbole entziehen sich der Möglichkeit, willkürlich erfunden zu werden. Während sich bei May dieser Gedanke in eben dieser Formulierung findet,109 lässt er sich bei Tillich aus einem anderen Gedanken herauslesen. „Symbole“, schreibt Tillich, „können nicht absichtlich geschaffen werden […]. Sie entstammen dem individuellen oder dem kollektiven Unbewussten und können nur wirksam sein, wenn sie durch die unbewusste Dimension unseres Seins angenommen werden. […] Sie wachsen heran und sterben wie Lebewesen. Sie entstehen, wenn die Zeit reif dafür ist, und sie vergehen, wenn sich die Situation verändert.“110 Symbole sind also eng verknüpft mit einem Menschen, einer Gruppe oder einer Nation. Während Mays Überlegungen zum Symbol auf die beiden bisher genannten Aspekte reduziert werden können, zeigt Tillich zwei weitere Merkmale des Symbols auf. Zum einen eröffnen Symbole ihm zufolge Dimensionen der Wirklichkeit, die ohne sie verschlossen blieben. Das verdeutlicht er an den Künsten wie Gemälde, Gedichte, Musik. Diese Einsicht beruht auf Tillichs eigenem Kunsterleben. In seinem Beitrag Existential Aspects of Modern Art schreibt er dazu: „Ich muss bekennen, dass ich von keinem theologischen Buch so viel gelernt habe, wie ich von diesen Gemälden der großen modernen Künstler gelernt habe, die zu dem Bereich durchgestoßen sind, in dem die Symbole geboren werden.“111 Nach Tillich sind echte Symbole darüber hinaus in der Religion, der Geschichte und der Politik zu finden. Symbole eröffnen ihm zufolge aber nicht nur Dimen-
|| 108 Vgl. TILLICH, Dynamik des Glaubens, 40. Siehe hierzu SCHWÖBEL, Symbolische Rede von Gott, 10. 109 Vgl. MAY, Values, Myths, and Symbols, 703. 110 TILLICH, Dynamik des Glaubens, 41. „Symbole entstehen nicht deshalb, weil Menschen sich nach ihnen sehnen, und sie vergehen nicht aufgrund wissenschaftlicher oder pragmatischer Kritik. Sie vergehen, weil sie in der Gruppe, deren Ausdruck sie ursprünglich waren, keine Resonanz mehr hervorrufen.“ 111 TILLICH, On Art and Architecture, 100: “I myself used pictures in my lectures in order to show in other realms of life, especially philosophy, the relationship of form and substance, the possibility of breaking the surface from reality in order to dig into depths; and I must confess that I have not learned from any theological book as much as I learned from these pictures of the great modern artists who broke through into the realm out of which symbols are born.” Für diesen Hinweis siehe SCHÜSSLER, Das Symbol als Sprache der Religion, 171.
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sionen der Wirklichkeit, sondern sie schließen auch Dimensionen der Seele auf. Erst dadurch kann der Mensch diejenigen Elemente der Wirklichkeit aufnehmen, die durch Kunst, Religion, Politik und Geschichte enthüllt werden.112 Es ist also der ganze Mensch, der durch die Symbole angesprochen wird.113 An diesen Gedanken lässt sich mit May anknüpfen, wenn er schreibt, dass das „psychologische Wesen des Symbols darin besteht, dass es die Macht hat, die Person als Ganze zu ergreifen, wie sie unmittelbar in der Welt existiert.“114 Symbole haben aus Sicht des Psychotherapeuten May eine entscheidende Bedeutung für das Erleben des Individuums als ein Selbst, denn es erfährt sich in Form von Symbolen als ein Selbst. Drei Ebenen fließen May zufolge dabei zusammen, aus denen sich die Symbole speisen: die „archaische und archetypische Tiefe“ im Individuum selbst, die ganz persönlichen „psychologischen und biologischen Erfahrungen“ sowie „die allgemeinen Symbole und Werte, die in der jeweiligen Kultur gelten“.115 Den Ursprungsquell des Symbols sieht May somit sowohl in archaischen Schichten als auch in ganz konkreten Erfahrungen, die das Individuum mit sich selbst und seiner Kultur macht. An anderer Stelle erläutert May diese beiden Aspekte wie folgt: „Das Symbol wird durch das archaische Material in den sogenannten unbewussten Tiefen ‚genährt‘/,bemuttert‘ (‚mothered‘), aber durch die bewusste Existenz des Individuums in seinem unmittelbaren Kampf ‚gezeugt‘/,ins Leben gerufen‘ (‚fathered‘).“116 Unweigerlich erinnert die „unbewusste Tiefe“ und der Begriff des ‚Archaischen‘ an Freud wie auch an C. G. Jung. Auf die Lehre Jungs greift auch Tillich in seiner Symboltheorie zurück und antwortet auf die Frage nach dem „schöpferischen Grund“, aus dem die Symbole geboren werden: „Sie stammen aus dem, was heute allgemein das ‚kollektive Unbewußte‘ genannt wird.“117 Die Begriffe ‚archaisch‘ bzw. den für Jung typischen Begriff des ‚Archetyps‘ und ‚kollektiven Unbewussten‘ verwendet Jung in gewisser Weise synonym: ‚archaisch‘ und ‚Archetypus‘ haben für ihn immer einen kollektiven Cha-
|| 112 Vgl. TILLICH, Dynamik des Glaubens, 41. 113 Vgl. SCHÜSSLER, Das Symbol als Sprache der Religion, 171. 114 MAY, The Significance of Symbols, 22. 115 Ebd. Siehe auch DERS., Dreams and Symbols, 125: “Since the genuine symbol represents unconscious (including biological and historical) elements imbedded in the individual’s experience, it cannot be intellectualized without being destroyed.” 116 MAY, The Significance of Symbols, 19. 117 GW V 216. Siehe hierzu GRÖZINGER, Mythos bei Carl Gustav Jung und Paul Tillich, 207. In einer Würdigung anlässlich des Todes von C. G. Jung stellt Tillich die Bedeutung der Symboltheorie Jungs für die Theorie des religiösen Symbols heraus. (Vgl. GW XII 316–319).
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rakter118 und stehen für Motive mythologischen Charakters, worunter er solche Motive versteht, die nicht aus der individuellen Erfahrung, sondern davon losgelöst, Kulturen und Epochen übergreifend, entstammen. Das unterscheidet auch den Begriff des ‚kollektiven Unbewussten‘ von dem des ‚persönlichen Unbewussten‘.119
3.2 Die Bedeutung von Mythos und Symbol für die conditio humana Die bisherigen Ausführungen haben bereits gezeigt, dass sowohl Mays als auch Tillichs Konzeption von Mythos und Symbol die Bedeutung für das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen betonen. In den folgenden Überlegungen soll dieser Aspekt noch einmal explizit herausgestellt werden. Tillichs Anliegen war es, so schreibt Roderich Barth, „den Mythos als eine allen geschichtlichen Wandel übergreifende humane Konstante auszuweisen.“120 Ähnlich schreibt auch Werner Schüßler, Tillich habe „immer wieder darauf hingewiesen, dass der Mythos für die condition humain unabdingbar ist und nicht auf ‚Göttergeschichten‘ reduziert werden darf, sondern ein bleibendes Element unseres Geistlebens darstellt“121. Tillich hat das Fortschreiten der wissenschaftlichen Erkenntnis und den Versuch der rationalen Durchdringung aller Wirklichkeitsbereiche im Blick, wenn er betont, dass es „eine wirklich unmythische Geisteslage“ nicht gibt. Er führt dazu weiter aus: Und in immer neuen Schöpfungen religiöser und kultureller Art, auch in der Gegenwart, wird der verborgene Mythos manifest: vielleicht immer unsymbolischer, immer realistischer und wirklichkeitsnäher. Aber er bleibt Mythos. Und es kann nicht anders sein: denn in ihm kommt zum Ausdruck der tragende Grund des menschlichen Geisteslebens und des Seins überhaupt, die Gebundenheit an das Unbedingte, an das Jenseits des Seins.122
Aus religionsphilosophischer Perspektive gibt es für Tillich keine mythenfreie Zeit. Mythen und Symbol sind nach Tillich „Formen des menschlichen Bewusstseins […], die stets gegenwärtig sind.“123 Mit seinen Darlegungen zu Mythos und
|| 118 Vgl. JUNG, Psychologische Typen, 453. 119 Vgl. ebd., 527. 120 BARTH, Gebrochener Mythos, 79f. 121 SCHÜSSLER, „Die ewige Wahrheit des Mythos“, 177. 122 GW V 195. 123 TILLICH, Dynamik des Glaubens, 46.
Interdependenzen in der Beschäftigung mit dem Mythos | 265
Symbol stellt sich Tillich den zu seiner Zeit erfahrbaren Bestrebungen einer Befreiung vom Mythos entgegen. Das hat seine Auseinandersetzung mit Bultmanns Forderung einer Entmythologisierung gezeigt. Und er reagiert auf die Gefahr des buchstäblichen und missbräuchlichen Gebrauchs religiöser Symbole und der damit einhergehenden Instrumentalisierung.124 Das macht deutlich, dass die Mythos- und Symboltheorie für Tillich auch ein zeitdiagnostisches Diagnoseinstrument darstellt. Aus einer anderen Perspektive heraus, aber mit gleicher Deutlichkeit, betont auch May die Bedeutung des Mythos: Aber das Bedürfnis nach Mythen, ja der Schrei nach Mythen, wird überall dort vorhanden sein, wo es Personen gibt, die sich selbst als Menschen bezeichnen. [...] Obwohl wir unsere eigenen Mythen auf verschiedene kollektive und persönliche Weisen formen, sind die Mythen als Wege zur Überbrückung der Kluft zwischen unserem biologischen und unserem personalen Selbst notwendig. Mythen sind die Selbstinterpretation unseres inneren Selbst in Bezug auf die Außenwelt. Sie sind Erzählungen, durch die unsere Gesellschaft geeint wird. Mythen sind essentiell, um unsere Seele lebendig zu halten und uns neuen Sinn in einer schwierigen und oft sinnlosen Welt zu vermitteln. Solche Aspekte der Ewigkeit wie Schönheit, Liebe, große Ideen, erscheinen plötzlich oder allmählich in der Sprache des Mythos.125
Das Zitat macht deutlich, dass Mythen nach Mays Verständnis auf verschiedenen Ebenen eine entscheidende Funktion erfüllen: Zunächst sind sie wesentlich für die Erfahrung des Menschen als Menschen, für das Erleben des eigenen Selbst in Bezug auf die Welt. Sodann weisen sie gesellschaftlich eine einheitsstiftende Funktion auf. Und schließlich sind sie sinnstiftend in einer Zeit und Epoche, die als sinnlos erfahren wird. Mays Blickwinkel auf die Bewertung der Bedeutung von Mythos und Symbol ist psychotherapeutisch geprägt. Aus diesem Grund betont er die Fähigkeit des Menschen, mit Hilfe von Mythos und
|| 124 Vgl. SCHWÖBEL, Symbolische Rede von Gott, 9. 125 MAY, The Cry for Myth, 20: “But the need for myths, indeed, the cry for myths, will be present wherever there are persons who call themselves human. […] though we form our own myths in various collective and personal ways, the myths are necessary as ways of bridging the gap between our biological and our personal selves. Myths are our self-interpretation of our inner selves in relation to the outside world. They are narrations by which our society is unified. Myths are essential to the process of keeping souls alive and bringing us new meaning in a difficult and often meaningless world. Such aspects of eternity as beauty, love, great ideas, appear suddenly or gradually in the language of myth.” Siehe auch DERS., Values, Myths, and Symbols, 704: “Myth is a way of orienting ourselves to the cosmos, it gives meaning to our relations with ourselves and others, it makes possible our experience of identity, and it carries the moral values of the person and society.”
266 | Mythos
Symbol die unmittelbare Situation transzendieren und dadurch sein Leben unter dem Aspekt des Möglichen sehen zu können.126 Die Perspektive des Möglichen ist im psychotherapeutischen Prozess entscheidend. Es ist Mays Überzeugung, dass es vor allem die Träume sind, die mit Hilfe von Mythen und Symbolen Auskunft über Vorgänge im Individuum geben. Hier werden, so Mays Annahme, Mythen und Symbole, die das Individuum für die eigene Existenz entwirft, geformt und neu entworfen und treten deutlicher hervor als in dem, was Patientinnen und Patienten in Gesprächen artikulieren.127 Auch May dienen Mythos und Symbol als Instrumente für eine zeitkritische Diagnose: Ihm zufolge befindet sich der moderne Mensch in einem „symbolischen Vakuum“128. Ausgangspunkt seiner Überlegung ist auch hier, wie es für Mays Denken insgesamt üblich ist, das Individuum, das er in seiner Arbeit als Psychotherapeut begleitet. Aber er wiederholt in diesem Zusammenhang seine These vom ‚prophetischen Charakter‘ der Schwierigkeiten, die Menschen mit einer neurotischen Erkrankung mit sich selbst und ihrer Welt haben: „[..] die neurotischen Probleme eines Jahrzehnts spiegeln für gewöhnlich grundlegende Konflikte in der Gesellschaft wider, gegen die sich der Mensch auf der Straße bisher wehren kann, die aber in der Gesellschaft des nächsten Jahrzehnts endemisch hervortreten können.“129 Das ‚symbolische Vakuum‘ und damit einhergehend der Verlust tragender Mythen und Werte, die May bereits in den 1970er Jahren diagnostiziert, sollte eine Verstärkung in den darauffolgenden Jahren erfahren. Diese These bestätigt er mit seinem letzten Werk The Cry for Myth, in dem er den Ruf nach Mythen in sehr eindringlicher Weise herausstellt. Bereits einige Jahre zuvor hat er schon einen ganz bestimmten Mythos im Sinn, der auf Zynismus und Apathie, die May als „die gegenwärtigen psychologischen Krankheiten“ bezeichnet und die an seine Beschreibung des schizoiden Menschen als Symptom der Zeit erinnern, reagieren kann: ‚the myth of care‘.130 Was May darunter genau versteht, erläutert er an dieser Stelle nicht. Bereits in seinem früheren Werk Love and Will spricht er aber schon von einem ‚myth of care‘ und umschreibt ihn dort wie folgt: „Es ist eine Aussage, die ausdrückt, dass, was auch immer in der äußeren Welt ge-
|| 126 Vgl. MAY, The Significance of Symbols, 33. 127 Vgl. MAY, Dreams and Symbols, 3. 128 MAY, The Significance of Symbols, 23. Ähnlich schreibt Frankl von einem „existenzielle[n] Vakuum“, als Folge des zunehmenden Traditionsverlusts. Er weist darauf hin, dass diese Orientierungslosigkeit in den USA bereits stark zu spüren war. In diesem Zusammenhang schreibt er von einem „Schrei nach Lebenssinn“, der an Mays The Cry for Myth erinnert. Siehe FRANKL, Ärztliche Seelsorge, 323f. 129 MAY, The Significance of Symbols, 22f. 130 Vgl. MAY, Myths and Culture, 7.
Der Ruf nach Mythos und Symbol als ein wiederkehrendes Moment | 267
schieht, menschliche Liebe und Trauer, Mitleid und Mitgefühl das sind, was zählt.“131 Care versteht er also als einen Zustand, in dem, anders als im Zustand der Apathie, Dinge eine Bedeutung haben.132 May entlehnt diesen Begriff Heideggers Begriff der Sorge und möchte ihn deshalb in seiner ontologischen Bedeutung verstanden wissen.133 In seiner Rede anlässlich einer Gedenkfeier für Tillich spricht May davon, dass für einige Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen sowie Psychiater und Psychiaterinnen Tillich derjenige war, von dem sie mit Blick auf die ‚capacity to care‘ lernen wollten.134
4 Der Ruf nach Mythos und Symbol als ein wiederkehrendes Moment Äußerst eindringlich stellen Paul Tillich und Rollo May die Bedeutung von Mythos und Symbol für den Menschen heraus. Damit stimmen sie in den seit der Romantik wiederkehrenden Ruf nach Mythen und Symbolen ein. Der Rhythmus dieses wiederkehrenden Rufes scheint sich an dem Rhythmus der wiederkehrenden Zeiten des gesellschaftlichen und historischen Umbruchs zu orientieren. Die Umbruchszeit des beginnenden 19. Jahrhunderts machte deutlich, dass es an einer, wie es Rüdiger Safranski formuliert, „übergreifenden Idee vom gesellschaftlichen Leben“ fehlte. „Von der Tradition hatten die Romantiker gelernt, daß man ohne Mythen nicht auskommt.“135 Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert bringt Nietzsche ein ähnliches Bedürfnis nach einem verbindenden Mythos zum Ausdruck: Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab. […] Worauf weist das ungeheure historische Bedürfniss der unbefriedigten modernen Cultur, das Umsichsammeln zahlloser anderer Culturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythus, auf den Verlust der mythischen Heimat, des mythischen Mutterschoosses?136
|| 131 MAY, Love and Will, 302. 132 Vgl. ebd., 289. 133 Vgl. REEVES, The Psychology of Rollo May, 60f. Siehe auch MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 75. 134 Vgl. MAY, Paul Tillich: In Memoriam, 8. 135 SAFRANSKI, Romantik, 261. 136 NIETZSCHE, Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus, 141f.
268 | Mythos
Wieder scheint es an einer übergreifenden und damit einheitsstiftenden Idee zu fehlen. Werner Schüßler leitet seinen Beitrag „Die ewige Wahrheit des Mythos“ mit diesem Zitat Nietzsches ein, um daran aufzuzeigen, dass es sowohl Religion als auch Philosophie und Wissenschaft nicht gelungen sei, den Mythos abzulösen oder in seiner Bedeutung zu schwächen.137 Gleichzeitig wird in dem im 20. Jahrhundert nicht zuletzt bei Rollo May und Paul Tillich sich wiederholenden Ruf nach sinnstiftenden Mythen sowie der Notwendigkeit der Verteidigung von Mythen vor dem Hintergrund der Forderung nach einer Entmythologisierung deutlich, dass, bei allem Wissen um die Bedeutung und Kraft von Mythos und Symbol, offensichtlich an der Idee der Überwindung des Mythos durch die fortschreitende Rationalisierung festgehalten wird. Diesen Eindruck erweckt jedenfalls der Titel des Beitrags des Theologen und Philosophen Johannes Hoff Transhumanismus als Symptom symbolischer Verelendung. Entgegen der Vorstellung, die Bedeutung von Mythos und Symbol überwunden zu haben, schreibt er aber: Wahrer Fortschritt ist immer begleitet von transgenerationellen Prozessen symbolisch vermittelter Kommunikation und kollektiven Erinnerung, die erlauben, technische Innovationen kulturell zu individualisieren. […] Es gibt keinen echten Fortschritt, ohne individualisierende Erzählungen, Rituale und Mythen, die den Gebrauch von Prothesen mit der Kunst, zu träumen, fusionieren, und unseren Blick für das schärfen, was das Leben kostbar macht.138
Mythen haben also so etwas wie eine vermittelnde Funktion – sie bringen durch Fortschritt erwirkte Neuerungen mit Vertrautem in Verbindung. Erst dadurch bleiben technische Innovationen nicht abstrakt, sondern ordnen sich in Zeit und Kultur ein, wodurch sich ihre konkrete Sinnhaftigkeit erst erschließt. An die vermittelnde Funktion des Mythos knüpfen auch die Zeilen von Michael Kleeberg an: Die Geschichten, die im Mythos erzählt werden, vermögen dem Individuum seinen Platz in der Geschichte seiner Herkunft aufzuzeigen und damit auch auf die Frage nach der eigenen Identität eine Antwort zu geben.139
|| 137 Vgl. SCHÜSSLER, „Die ewige Wahrheit des Mythos“, 175. 138 HOFF, Transhumanismus als Symptom symbolischer Verelendung, 243. 139 Vgl. KLEEBERG, Der Idiot des 21. Jahrhunderts, 183.
Abschließende Überlegungen Was ist das für ein seltsamer historischer Augenblick? Es ist eine Zeit, wo der Boden – der vor Kurzem noch ziemlich stabil wirkte, wo Saatzeit auf Erntezeit folgte und ein Geburtstag auf den nächsten und so weiter – wo dieser Boden unter unseren Füßen wankt, ein mächtiger Wind bläst und wir nicht mehr genau wissen, wo wir sind. Wir wissen auch nicht mehr genau, wer wir sind. Wem gehört das Gesicht da im Spiegel? Warum wachsen uns Fangzähne? Erst gestern noch waren wir von so viel gutem Willen und Hoffnung beseelt. Und jetzt?1 Margaret Atwood
„Viele erleben die Gegenwart als Zeit des beschleunigten Wandels“, schreibt Markus Vogt, „als Zeit des Übergangs, in dem bekannte Ordnungsmuster in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an Geltung verlieren, ohne dass die künftige Ordnung schon erkennbar wäre.“2 Nach einer Phase relativer Stabilität kennzeichnet das 21. Jahrhundert eine Reihe verschiedener Umbruchsprozesse: Die Finanzkrise, prekäre Arbeitsverhältnisse, die Auswirkungen des Klimawandels, Flucht- und Migrationsbewegungen, die fortschreitende Digitalisierung sowie die Corona-Pandemie sind nur einige Beispiele dafür.3 Das zeitdiagnostische Bild, das die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood im obigen Zitat zeichnet, bringt treffend zum Ausdruck, dass in solchen Zeiten des Umbruchs und des Übergangs wie der unseren der Mensch sich selbst zur Frage wird.4 Atwood hat dabei Entwicklungen in den USA und in Europa im Blick, die Anlass zur Sorge geben. Der in vielen Ländern stärker werdende Populismus beunruhigt sie zutiefst und stellt bislang allgemein anerkannte Gewissheiten in Frage.5 Das von Atwood in ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2017 aufgezeigte Szenario erinnert an die zu Beginn der vorliegenden Arbeit zitierten Zeilen Hermann Hesses von 1927.6 Sowohl Hesse als auch Atwood drücken das weit verbreitete Gefühl des Verlusts von Sicherheiten aus, die Halt und Orientierung geben: Es sind die Selbstverständlichkeiten, Sitten und das Gefühl der Geborgenheit, die Hesse zufolge in epochalen Umbrüchen in Frage stehen. Atwood bringt dies ebenso prägnant ins
|| 1 ATWOOD, Dankesrede. 2 VOGT, Wandel als Chance oder Katastrophe, 9. 3 Vgl. ebd., 15. 4 Vgl. AUGUSTINUS, Confessiones IV, 9. 5 Vgl. ATWOOD, Dankesrede. 6 Vgl. HESSE, Der Steppenwolf, 31. https://doi.org/10.1515/9783110780581-011
270 | Abschließende Überlegungen
Wort, wenn sie schreibt, dass die Abfolge von Saat- und Erntezeit, dass die naturgemäße Folge eines Geburtstags auf den nächsten nicht einmal mehr gewiss ist. Bedenkt man, dass zwischen den beiden zeitdiagnostischen Beobachtungen 90 Jahre liegen, kann man den Eindruck gewinnen, dass die Erfahrung des Umbruchs gewohnter Strukturen sowie der Zerfall tragender Werte immer wiederkehrende Phänomene sind. Auch die in der vorliegenden Untersuchung behandelten Denker Rollo May und Paul Tillich besaßen ein Gespür für die Umbrüche ihrer Zeit und das verbreitete Fehlen tragender Werte sowie das damit einhergehende Gefühl der Sinnlosigkeit. Anhand zentraler Kategorien des Menschseins verdeutlichen Paul Tillich und Rollo May die Herausforderungen von Umbruchs- und Übergangszeiten für die Selbstwerdung des Menschen sowie für die Bejahung und Behauptung der eigenen Existenz. In Zeiten des Übergangs, wenn vertraute Ordnungsmuster nicht mehr tragen und neue Strukturen noch nicht erkennbar sind, steht die positive und konstruktive Bedeutung der zuvor behandelten Phänomene in Frage. Das Gefühl der Angst, das May und Tillich zufolge schöpferisches Potential besitzt, wird dann zu einem endemischen Phänomen: Statt der Angst in schöpferischen Akten wie Kunst, Literatur und Dichtung zu begegnen und damit am kulturellen Leben zu partizipieren, zeigt sich in stark angstbesetzten Zeiten die Tendenz, in einen lähmenden Zustand zu verfallen. Solche angstbesetzten Zeiten kulminieren in Momenten, in denen alles im Umbruch zu sein scheint. In Auseinandersetzung mit Søren Kierkegaards Überlegungen zur Angst betonen May und Tillich, dass Angst dort auftritt, wo der Mensch den Sprung zur Selbstwerdung vollziehen kann; im Akt der Entscheidung vermag er, seine Freiheit und damit seine Existenz zu verwirklichen. In Zeiten, in denen aufgrund fehlender tragender Werte keine echte Orientierung möglich ist, scheinen die Möglichkeiten grenzenlos zu sein. Der Mensch tendiert dann allerdings dazu, keine Entscheidung treffen zu können – und vielleicht auch nicht zu wollen. Eine solche „Entscheidungspathologie“7 wird zuweilen auch der jungen Generation unserer Zeit attestiert, die deshalb auch als „Generation Maybe“8 bezeichnet wird. Diese Haltung der Unentschlossenheit hat letztlich aber auch die Aufgabe der eigenen Verantwortung zur Konsequenz. Sie erinnert auch an Rollo Mays und Fritz Riemanns Charakterisierung des schizoiden Menschen und dessen „Angst vor der Hingabe“9. Eine solche zurückgezogene Hal-
|| 7 YALOM, Existenzielle Psychotherapie, 268. 8 Mit diesem Titel hat Oliver Jeges ein nicht unumstrittenes Buch geschrieben, in der er seine Generation der 30-Jährigen charakterisiert. Vgl. JEGES, Generation Maybe. 9 RIEMANN, Grundformen der Angst und die Antinomien des Lebens, 20.
Abschließende Überlegungen | 271
tung hat innerhalb der Konzeptionen von Tillich und May auch Auswirkungen auf das Phänomen der Liebe, die sich ihrem Verständnis zufolge immer in der Polarität von Individualisation und Partizipation bewegt. Liebe in diesem Sinn bewegt sich im Wechsel des Aus-sich-Herausgehens und Zu-sich-zurückKommens und eröffnet dabei die Möglichkeit einer echten Begegnung, die auf der Bejahung der Seinsmächtigkeit der anderen Person beruht sowie auch auf der eigenen Selbstwerdung. Liebe, die die eigene Orientierungslosigkeit kompensieren soll, hat dagegen einen objektivierenden Charakter. Aus den Überlegungen zur Liebe lässt sich auch die Bedeutung der Macht im Sinne Tillichs und Mays verdeutlichen: Macht zeigt sich dort, wo Seinsmächtigkeit auf Seinsmächtigkeit trifft, mit dem Ziel der Bejahung der eigenen Seinsmächtigkeit sowie der Seinsmächtigkeit der anderen Person. Das macht schon deutlich, dass Begegnungen, die die Unterdrückung anderer Personen zum Ziel haben, keine echten Begegnungen im Sinne von Tillich und May sind. Dem positiven und konstruktiven Moment der in der vorliegenden Arbeit untersuchten Aspekte stehen also immer auch negative und destruktive Ausformungen gegenüber. In Zeiten des Umbruchs und des Übergangs treten diese negativen und destruktiven Ausformungen tendenziell stärker in den Vordergrund. Obwohl das Kapitel zum Dämonischen in der vorliegenden Untersuchung hauptsächlich dem Aufweis der thematischen Nähe beider Denker und ihres wechselseitigen Einflusses dient, kann die dort gewonnene Einsicht, dass konstruktive und destruktive bzw. schöpferische und zerstörerische Momente immer in einer dialektischen Spannung stehen, diese Beobachtung verdeutlichen. Die vorliegende Arbeit schließt mit dem Aufweis der Bedeutung von Mythen und Symbolen für den Menschen ab. Ebenso wie alle vorherigen Aspekte gehen auch Mythen und Symbole in Zeiten des Umbruchs ihrer eigentlichen Bedeutung verlustig bzw. werden in Frage gestellt. Letztlich haben sie aber eine Schlüsselfunktion in dem Versuch, der Existenz – auch in Zeiten des Umbruchs – einen Sinn zu verleihen. Indem May und Tillich zeigen, dass Angst, Freiheit, Liebe, Dämonisches, Macht und Mythos bzw. Symbol einen anthropologischen bzw. ontologischen Status besitzen, machen sie deutlich, dass diese Kategorien eine bleibende Bedeutung für den Menschen haben. Worin diese Bedeutung besteht, muss in jeder Zeit des Umbruchs und des Übergangs immer wieder neu geklärt werden. Dabei können die einzelnen Begriffe – wenn überhaupt – immer nur interdisziplinär erhellt werden. Dass eine interdisziplinäre Betrachtungsweise dabei aber auch an Grenzen stößt, konnte die vorliegende Untersuchung an prägnanten Stellen aufzeigen. Die größte Herausforderung scheint dabei vor allem eine begriffliche Genauigkeit zu sein. Dies lässt sich bei beiden Denkern beobachten. In Paul Tillichs Beschäftigung mit psychologischen und psychotherapeutischen
272 | Abschließende Überlegungen
Aspekten fehlt eine eindeutige Differenzierung zwischen den Begriffen und den Konzepten der Psychoanalyse, Psychotherapie und Tiefenpsychologie. Stattdessen subsumiert er die unterschiedlichen Ansätze unter den Begriff der Tiefenpsychologie. Damit wird er der Komplexität der Theorien und Begrifflichkeiten letztlich nicht ganz gerecht. Eine ähnliche Problematik zeigt sich auch im Werk Rollo Mays. Er bedient sich zwar oftmals philosophischer Terminologie, wenn er von der „ontologischen Frage“10 bzw. einer „ontologischen Grundlage“11 spricht, bleibt dabei jedoch in seinem psychotherapeutischen Denken verhaftet und bewegt sich eigentlich im Bereich der Anthropologie. Diese Schwäche bei beiden Denkern zeigt eine Herausforderung interdisziplinären Arbeitens im Allgemeinen. Beim Versuch, die Theorien und Erkenntnisse einer anderen Disziplin für das eigene Feld fruchtbar zu machen, besteht die Gefahr, die Komplexität und Logik der anderen Disziplin nicht hinreichend wahrzunehmen und ihren Begrifflichkeiten und Theorien das eigene Denksystem überzustülpen und sie damit zu entfremden. Auf die Frage, was es heißt, Mensch zu sein und Mensch zu werden, vermag ein angemessenes Verständnis der Begriffe Angst, Freiheit, Liebe, Dämonisches, Macht, Mythos bzw. Symbol respektive die Art und Weise, wie sich eine Gesellschaft, ein Kulturkreis oder eine Epoche zu ihnen verhält, Anhaltspunkte zu geben. Dass in jeder Epoche des Umbruchs und des Übergangs um die Bedeutung dieser Begriffe gerungen werden muss, hat auch zur Folge, dass Philosophie und Theologie mit ihrer Theoriebildung nicht stehen bleiben können. Ebenso kann die Psychotherapie, das führt May immer wieder an, nicht an starren Theorien und Methoden festhalten, die einem überholten oder einseitigen Menschenbild folgen, sondern muss auf die sich wandelnde Zeit und das sich ändernde Selbstverständnis des Menschen reagieren. Die Konzepte von Paul Tillich und Rollo May weisen aufgrund ihrer Absicht, den ontologischen Status der Begriffe herauszuarbeiten, die Fähigkeit auf, die Schwäche einseitig vereinnahmender und reduktionistischer Theorien aufzudecken. Ihr Versuch einer grundlegenden Durchdringung macht sie anschlussfähig für eine zeitgenössische Beschäftigung mit den hier behandelten Themen.
|| 10 MAY, Psychology and the Human Dilemma, 93. 11 MAY, Contributions of Existential Psychotherapy, 52.
Abkürzungen, Quellen- und Literaturverzeichnis 1
Abkürzungs- und Siglenverzeichnis
1.1
Werke von Paul Tillich
GW EW
Gesammelte Werke, hg. von R. Albrecht, 14 Bde., Stuttgart 1959ff. Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken, hg. von I. C. Henel u.a., bisher 20 Bde., Stuttgart, dann Berlin 1971ff. Main Works, hg. von C. H. Ratschow, 6 Bde., Berlin 1987ff. Systematische Theologie, 3 Bde., Stuttgart 1955ff.
MW ST
1.2
Hilfsmittel
HWPh
NHphG TRE LEE LThK
PP RGG
PsL
Historisches Wörterbuch der Philosophie. Völlig neubearb. Aufl. des „Wörterbuchs der Philosophischen Begriffe“ von R. Eisler, hg. von K. Gründer/J. Ritter/G. Gabriel, 12 Bde. sowie ein Ergänzungsband mit Register, Darmstadt 1971ff. Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Neu hg. von P. Kolmer/A. Wildfeuer, 3 Bde., Freiburg i.Br. 2011. Theologische Realenzyklopädie, hg. von G. Kraus u. G. Müller, 36 Bde. mit Registerbänden und Abkürzungsverzeichnis, Berlin/New York 1977ff. Lexikon Existenzialismus und Existenzphilosophie, hg. von U. Thurnherr/A. Hügli, Darmstadt 2007. Lexikon für Theologie und Kirche. Sonderausgabe der dritten, völlig neu bearb. Aufl., 1993–2001, 11 Bde., begründet von M. Buchberger, hg. von W. Kasper, Freiburg i.Br. 2009. Personenlexikon der Psychotherapie, hg. von G. Stumm/A. Pritz/P. Gumhalter/N. Nemeskeri/M. Voracek, Wien 2005. Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, hg. von H. D. Betz/D. S. Browning/B. Janowski/E. Jüngel, Tübingen 41999. Psychologie-Lexikon, hg. von U. Tewes/K. Wildgrube, München/Wien/Oldenburg 2 1999.
https://doi.org/10.1515/9783110780581-012
274 | Abkürzungen, Quellen- und Literaturverzeichnis
2 Quellen- und Literaturverzeichnis 2.1 Rollo May 2.1.1 Monografien und Sammelbände The Art of Counseling. How to Gain and Give Mental Health, with an Introduction by Dr. H. Bone, New York/Nashville 1939. The Springs of Creative Living. A Study of Human Nature and God, New York 1940. The Meaning of Anxiety (1959), New York 1996. Man’s Search for Himself (1953), New York/London 2009. Existence. A New Dimension in Psychiatry and Psychology, hg. zus. mit E. Angel u. H. F. Ellenberger, New York 1958. Existential Psychology (Hg.) (1960), New York/Toronto 21969. Symbolism in Religion and Literature, hg. u. eingel. von R. May, New York 1960. Psychology and the Human Dilemma (1966), New York 1967. Dreams and Symbols. Man’s Unconscious Language, hg. zus. mit L. Caligor, New York 1968. Love and Will [1969], New York/London 2007. Power and Innocence. A Search for the Sources of Violence, New York 1972. Paulus. Reminiscence of a Friendship, London 1974. The Courage to Create (1975), New York/London 1994. Freedom and Destiny (1981), New York/London 1999. The Discovery of Being. Writings in Existential Psychology, New York/London 1983. My Quest for Beauty (1985), New York 1990. The Cry for Myth, New York/London 1991. The Psychology of Existence. An Integrative, Clinical Perspective, hg. zus. mit K. J. Schneider, New York u.a. 1995.
2.1.2 Aufsätze und Beiträge The Origins and Significance of the Existential Movement in Psychology, in: ders.,/E. Angel/H. F. Ellenberger (Hg.), Existence. A New Dimension in Psychiatry and Psychology, New York 1958, 3–36. Contributions of Existential Psychotherapy, in: R. May/E. Angel/H. F. Ellenberger (Hg.), Existence. A New Dimension in Psychiatry and Psychology, New York 1958, 37–91. The Significance of Symbols, (1958), in: R. May (Hg.), Symbolism in Religion and Literature, New York 1969. The Emergence of Existential Psychology (1960), in: ders. (Hg.), Existential Psychology, New York 21969, 1–48. Existential Bases of Psychotherapy (1960), in: ders. (Hg.), Existential Psychology, New York 2 1969, 72–83. Paul Tillich: In Memoriam, in: Pastoral Psychology (February 1968) 7–10. Response to Morell’s “Love and Will. A Feminist Critique”, in: Journal of Humanistic Psychology 13/2 (Spring 1973) 47–50.
Abkürzungen, Quellen- und Literaturverzeichnis | 275
Reflections and Commentary, in: C. Reeves, The Psychology of Rollo May. A Study in Existential Theory and Psychotherapy, London/San Francisco 1977, 295–309. The Problem of Evil: An Open Letter to Carl Rogers, in: Journal of Humanistic Psychology 22/3 (Summer 1982) 10–21. Nietzsches Contributions to Psychology, in: Symposium. A Quarterly Journal in Modern Literatures 28/1 (1974) 58–73. Values, Myths, and Symbols, in: American Journal of Psychiatry 132/7 (July 1975) 703–706. Myths and Culture: Their Death and Transformation, in: Cross currents 33/1 (1983) 1–7. Introduction, in: J.-P. Sartre, Existential Psychoanalysis, translated by H. E. Barnes, Washington, D.C. 1996, 1–17. The Healing Power of Symbols and Myths, in: Review of existential psychology & psychiatry 24/spec. issue (1999) 17–25. Will and Decision in Existential Psychotherapy, in: Review of existential psychology & psychiatry 24/spec. issue (1999) 25–33. Foreword, in: S. Diamond, Anger, Madness. The Psychological Genesis of Violence, Evil, and Creativity, New York 1996, xxi–xxii.
2.1.3 Digitale Quellen MAY, Rollo, The Human Dilemma (Part One Complete): Thinking Allowed with Jeffrey Mishlove, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=HH-9XkjqYHY [aufgerufen am 03.07.2022].
2.2 Paul Tillich 2.2.1 Gesammelte Schriften und Hauptwerke Gesammelte Werke, hg. von R. Albrecht, 14 Bde., Stuttgart 1959ff. Bd. I: Frühe Hauptwerke, hg. von R. Albrecht (1959). Bd. II: Christentum und soziale Gestalt. Frühe Schriften zum religiösen Sozialismus, hg. von R. Albrecht (1962). Bd. III: Das religiöse Fundament des moralischen Handelns. Schriften zur Ethik und zum Menschenbild, hg. von R. Albrecht (1965). Bd. IV: Philosophie und Schicksal. Schriften zur Erkenntnislehre und Existenzphilosophie, hg. von R. Albrecht (1961). Bd. V: Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, hg. von R. Albrecht (1964). Bd. VI: Der Widerstreit von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie, hg. von R. Albrecht (1963). Bd. VII: Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Schriften zur Theologie I, hg. von R. Albrecht (1962). Bd. VIII: Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, hg. von R. Albrecht (1970). Bd. IX: Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, hg. von R. Albrecht (1967).
276 | Abkürzungen, Quellen- und Literaturverzeichnis
Bd. X: Die religiöse Deutung der Gegenwart. Schriften zur Zeitkritik, hg. von R. Albrecht (1968). Bd. XI: Sein und Sinn. Zwei Schriften zur Ontologie, hg. von R. Albrecht (1969). Bd. XII: Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere, hg. von R. Albrecht (1971). Bd. XIII: Impressionen und Reflexionen. Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stellungnahmen, hg. von R. Albrecht (1972). Bd. XIV: Register, Bibliographie und Textgeschichte zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. von R. Albrecht unter Mitarbeit von P. H. John/A. Rößler/G. Seebaß/G. Stöber (1975).
Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken, hg. von I. C. Henel u.a., bisher 14 Bde., Stuttgart, dann Berlin 1971ff. Bd. I: Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens. Teil I: Urchristentum bis Nachreformation, hg. und übers. von I. C. Henel (1971). Bd. II: Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens. Teil II: Aspekte des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert, hg. und übers. von I. C. Henel (1972). Bd. III: An meine deutschen Freunde. Die politischen Reden Paul Tillichs während des Zweiten Weltkriegs über die „Stimme Amerikas“, mit einer Einl. und Anm. von K. Schäfer-Kretzler (1973). Bd. IV: Korrelationen. Die Antworten der Religion auf Fragen der Zeit, hg. und übers. von I. C. Henel, Stuttgart 1975. Bd. V: Ein Lebensbild in Dokumenten. Briefe, Tagebuch-Auszüge, Berichte, hg. von R. Albrecht/M. Hahl (1980). Bd. VI: Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche, hg. von R. Albrecht/R. Tautmann (1983). Bd. VII: Frühe Predigten (1909–1918), hg. und mit einer hist. Einl. versehen von E. Sturm (1994). Bd. VIII: Vorlesung über Hegel (Frankfurt 1931/32), hg. und mit einer hist. Einl. versehen von E. Sturm (1995). Bd. IX: Frühe Werke, hg. von G. Hummel/D. Lax (1998). Bd. X: Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908– 1933). Erster Teil, hg. von E. Sturm (1999). Bd. XI: Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908– 1933). Zweiter Teil, hg. von E. Sturm (1999). Bd. XII: Berliner Vorlesungen I (1919–1920): Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart (1919), Encyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft (1920), Religion und Kultur (1920), Religionsphilosophie (1920), hg. und mit einer hist. Einl. versehen von E. Sturm, Berlin/New York 2001. Bd. XIII: Berliner Vorlesungen II (1920–1924), hg. und mit einer hist. Einl. versehen von E. Sturm (2003). Bd. XIV: Dogmatik Vorlesung (1925–1927), hg. und mit einer hist. Einl. versehen von W. Schüßler/E. Sturm (2005). Bd. XV: Vorlesungen über Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik (Frankfurt 1929/30), hg. von E. Sturm (2007). Bd. XVI: Berliner Vorlesungen III (1951–1958): Ontologie (1951), Die menschliche Situation im Lichte der Theologie und Existenzanalyse (1952), Die Zweideutigkeit der Lebensprozesse (1958), hg. u. mit einer hist. Einl. versehen von E. Sturm (2009).
Abkürzungen, Quellen- und Literaturverzeichnis | 277
Bd. XVII: Frühe Vorlesungen im Exil (1934–1935): Religionsphilosophie (1934), Einführung in die Existential-Philosophie (1934), Die Lehre vom Menschen (1934-35), hg., übersetzt und mit einer hist. Einl. versehen von E. Sturm (2012). Bd. XVIII: Frankfurter Vorlesungen (1930–1933), hg. und mit einer hist. Einl. versehen von E. Sturm (2013). Bd. XIX: Advanced Problems in Systematic Theology. Courses at Union Theological Seminary (New York 1936–1938), hg. und mit einer hist. Einl. versehen von E. Sturm (2016). Bd. XX: Dresdner Vorlesungen (1925–1927), hg. und mit einer hist. Einl. versehen von E. Sturm (2017).
Systematische Theologie, 3 Bde., Stuttgart 1955ff. Bd. I: Stuttgart 21956 [engl.: Systematic Theology, Vol. I, Chicago 1951]. Bd. II: Stuttgart 21958. Bd. III: Stuttgart 1966.
Paul Tillich, Main Works/Hauptwerke, hg. von C. H. Ratschow, 6 Bde., Berlin 1987ff. Bd. I: Philosophical Writings/Philosophische Schriften, hg. von G. Wenz (1989). Bd. II: Writings in the Philosophy of Culture/Kulturphilosophische Schriften, hg. von M. Palmer (1990). Bd. III: Writings in Social Philosophy and Ethics/Sozialphilosophische und ethische Schriften, hg. von E. Sturm (1998). Bd. IV: Writings in the Philosophy of Religion/Religionsphilosophische Schriften, hg. von J. Clayton (1987). Bd. V: Writings on Religion/Religiöse Schriften, hg. von R. Scharlemann (1988). Bd. VI: Theological Writings/Theologische Schriften, hg. von G. Hummel (1992). Being and God, Vorlesung Harvard Spring 1957. Typoskript; übertragen von P. John, 248 S., Deutsches Paul Tillich-Archiv, Univ.-Bibl. Marburg. My Search for Absolutes, New York 1967. The Meaning of Health. Essays in Existentialism, Psychoanalysis, and Religion, hg. von P. LeFevre, Chicago 1984. On Art and Architecture, hg. und mit einer Einl. versehen von J. und J. Dillenberger, New York, 1987. Dynamik des Glaubens (Dynamics of Faith), neu übers., eingel. und mit einem Kommentar versehen von W. Schüßler, Berlin/Boston 2020. Der Mut zum Sein. Vortrag im Nordwestdeutschen Rundfunk (Gedanken zur Zeit) am 15.07.1951, hg. von E. Sturm, in: C. Danz/M. Dumas/W. Schüßler/B. Wagoner (Hg.), The Courage to Be (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung/International Yearbook for Tillich Research/Annales internationales de recherches sur Tillich, ed. by C. Danz/M. Dumas/W. Schüßler/B. Wagoner, Vol. 13), Berlin/Boston 2018, 280–283.
278 | Abkürzungen, Quellen- und Literaturverzeichnis
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Abkürzungen, Quellen- und Literaturverzeichnis | 293
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Personenregister Abzug, Robert H. 11ff., 15f., 49 Acapovi, Crépin Magloire C. 203, 207, 240 Adam 95 Adler, Alfred 19, 22, 223 Aertsen, Jan A. 229 Albrecht, Renate 53, 60 Alexander der Große 91 Alger, Horatio 246 Allport, Gordon 22, 24f., 34, 41 Angehrn, Emil 91, 131 Angel, Ernst 26 Anshen, Ruth Nada 152 Anter, Andreas 213, 221, 241 Arendt, Hannah 148, 221, 226 Aristophanes 206 Aristoteles 91, 211, 249 Atchadé, Boni Eriola Richard 187, 221, 226, 228ff., 240 Atwood, Margaret 269 Auden, Wystan Hugh 91, 131ff. Augustinus, Aurelius 177, 189, 238, 269 Axelos, Christos 197 Bakewell, Sarah 64 Bally, Gustav 26 Bandelow, Borwin 131 Barrett, William 42, 65 Barth, Roderich 243, 264 Beauvoir, Simone de 3 Becker-Beck, Ulrike 215 Bedorf, Thomas 95 Bergius, Rudolf 19 Bergmann, Jörg 36 Bergson, Henri 215 Bianchi, Sarah 219 Bieri, Peter 135, 164, 166 Binswanger, Ludwig 21, 26, 33, 49 Bleuler, Eugen 62 Böhme, Jakob 189, 238 Bösch, Michael 91f., 96, 136, 156 Bongardt, Michael 94, 133 Bormann, Franz-Josef 166f. Bormuth, Matthias 47f. https://doi.org/10.1515/9783110780581-013
Bosch, Hieronymus 195 Boss, Medard 26, 49 Brandscheidt, Renate 165 Brantl, Johannes 165 Brodsky, Ralph 152 Brück, Michael von 148, 164ff. Brüllmann, Philipp 91 Bruno, Giordano 143 Bruns, Katja 103, 155, 166 Bryant, Curtis 5f., 34, 60 Buber, Martin 34, 39, 173, 182 Bude, Heinz 86, 132f. Bühler, Charlotte 22 Bultmann, Rudolf 255 Burgental, James 22 Burkard, Franz-Peter 95 Burke, Kenneth 258 Burkert, Walter 243 Buytendijk, Frederik Jacobus Johannes 26 Caligor, Leopold 252 Caruso, Igor Alexander 26 Carvalho, Roy J. de 11, 13, 15, 18, 27, 34, 36, 163 Cassirer, Ernst 252, 257 Castro, Alberto de 97 Columbus, Christoph 244 Condrau, Gion 49 Cooper, Mick 24ff., 32ff. Cooper, Terry D. 37, 61, 203 Cooper-White, Pamela 60, 62 Cotkin, George 65, 120 Cranach, Mario von 219 Cunningham, Roger Jeff 98 Dante Alighieri 252 Danz, Christian 55, 59, 67, 95, 111, 152, 154, 156, 185f., 227, 243, 253, 255ff. Darwin, Charles 239 Deister, Bernhard 37 Denker, Rolf 223 Descartes, René 47 Diamond, Stephen A. 190, 198, 214
296 | Personenregister
Dienstbeck, Stefan 59, 73f., 166, 253, 257 Dillenberger, John 194 Diotima 179, 203 Dodds, Eric R. 91, 124 Dogs, Christian Peter 91 Dorn, Thea 133 Dostojewski, Fjordor Michailowitsch 66 Dourley, John 60 Duns Scotus, Johannes 43, 189, 238 Elger, Christian 165 Ellenberger, Henri F. 26 Elling, Elmar 43 Elliott, Robert 36 Elsässer, Helmut 5, 62f., 173 Elsner, Stefan 125 Emcke, Carolin 213 Enzensberger, Hans Magnus 221 Ernst, Norbert 229f. Ewen, Robert B. 12, 14, 81 Fichte, Johann Gottlieb 70 Fitzgerald, Francis Scott 247 Fluck, Winfried 23, 85f., 244ff. Foss, Sam Walter 11 Foucault, Michel 226 Frank, Joachim A. 215 Frank, Manfred 244 Frankl, Viktor E. 20ff., 26, 35, 40, 44, 123, 131, 144, 146, 148f., 156, 166f., 169, 266 French, John R. P. 215 Freud, Sigmund 19, 22, 26, 28, 30, 46ff., 60, 92f., 99, 175, 177f., 208f., 223, 250f., 263 Friederici, Angela 165 Friedman, Maurice 65f., 173, 200 Frischmann, Bärbel 96, 107f. Fritz, Martin 58f., 111 Fromm, Erich 14, 60, 62, 83, 92, 108, 126, 137 Fromm-Reichmann, Frieda 14 Galilei, Galileo 143 Galvin, John 12f., 19, 27, 32, 105, 124, 129 Gandhi, Mahatma 216 Gassert, Philipp 84f. Gatzemeier, Matthias 72
Gebsattel, Victor Emil von 26 Gehlen, Arnold 3 Görgen, Christine 193f. Goesch, Heinrich 60 Goethe, Johann Wolfgang von 171, 252 Goldstein, Kurt 22, 92, 100ff., 106, 128, 155 Grözinger, Elisabeth 263 Grøn, Arne 135f. Gruen, Arno 200 Grünewald, Matthias 195 Guignon, Charles B. 49 Häfner, Heinz 92f. Han, Byung-Chul 133 Hartmann, Nicolai 21 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 51 Heidegger, Martin 3, 21, 29, 31, 33, 41, 43, 49f., 58, 69, 71, 92, 114, 116, 189, 238, 267 Heideking, Jürgen 84ff. Heidenreich, Thomas 22f. Heinemann, Lars Christian 258, 261 Heinrichs, Johannes 182 Heise, Annabelle 135f., 138 Heisenberg, Werner 258 Helferich, Christoph 43, 50 Heraklit 65, 215 Hesse, Hermann 1f., 269 Hiltner, Seward 62 Hobbes, Thomas 70 Höpting, Karsten 253 Hoff, Johannes 268 Holzhey-Kunz, Alice 33, 49 Homans, Peter 63 Horney, Karen 60, 62 Horstmann, Axel 243 Horstmann-Schneider, Anjuta 117, 139 Huxley, Aldous 22 Ihben-Bahl, Sabine Joy 6, 107, 237 Imbusch, Peter 213 James, William 24, 34, 43f., 41 Janaway, Christopher 238 Jaspers, Karl 3, 21, 29, 31, 34, 41, 47f., 58, 69, 84, 113, 136ff., 143f., 149, 165, 226 Jeges, Oliver 270
Personenregister | 297
John, Peter H. 55 Jung, Carl Gustav 19, 60, 127, 184, 251, 263 Kahler, Erich 258 Kant, Immanuel 156 Kaufmann, Walter 45, 66 Keil, Geert 140 Kelly, George 22 Kernberg, Otto 62 Kierkegaard, Søren 21, 34, 43f., 46f., 76, 92ff., 98, 107f., 128, 133, 135f., 138, 149, 156, 171, 189, 270 King, Martin Luther 148, 216 Kirschenbaum, Howard 37 Kiser, Scott 157 Klee, Paul 195 Kleeberg, Michael 243, 268 Klein, Melanie 62 Koch, Christof 165 Koch, Lars 133 Kodalle, Klaus-M. 45 Körtner, Ulrich H. J. 256 Kohut, Heinz 62 Korsch, Dietrich 253 Kotchoubey, Boris 165 Kranz, Margarita 77 Kremer, Klaus 145 Krug, Orah T. 26, 36, 41 Kucharz, Thomas 189 Kuhn, Helmut 122 Kuhn, Roland 26, 33 Längle, Alfried 36, 138 Laing, Ronald D. 21, 24, 38 Langer, Susanne K. 182, 252 Lebow, Jay L. 25 LeFevre, Perry 61 Leibniz, Gottfried Wilhelm 25 Lewis, Kurt 215 Libet, Benjamin 161 Lohner, Alexander 45, 107 Luhmann, Niklas 133 Luscher, Birgit 258 Mahler, Margret 62 Maio, Giovanni 169f. Mann, Thomas 169
Marx, Karl 81, 184f. Maslow, Abraham 22 Mauch, Christof 84ff. May, Rollo passim Medicus, Fritz 54 Mehl, Roger 142 Meszaros, Julia T. 207 Mileck, Joseph 2 Minkowsky, Eugene 26 Mishlove, Jeffrey 83, 135 Mitchell, Kenneth R. 62 Morell, Carolyn 204 Müller, Enrico 238 Müller, Lutz 182, 184 Münk, Christina 50 Mumford, Lewis 22 Murmann, Ulrike 71f., 117, 152, 168, 194 Murphy, Gardner 22 Murray, Henry 22 Nash, Roderick 246 Nehb, Tilman 192, 197 Nestle, Wilhelm 243 Nickl, Peter 140 Nida-Rümelin, Julian 164 Niebuhr, Reinhold 82 Nietzsche, Friedrich 44ff., 65, 189, 215, 219, 227, 238ff., 248, 267 Nouwen, Henri 15 Noyon, Alexander 22f. Nussbaum, Martha 113 Nygren, Anders 207 O’Hara, Maureen 38 Oates, Wayne E. 62 Opel, Angela M. 194 Otto, Rudolf 189 Overdick-Gulden, Maria 165 Padrutt, Hanspeter 49 Pape, Helmut 42f. Parsons, Talcott 258 Pascal, Blaise 92 Pauck, Marion 53, 60, 186 Pauck, Wilhelm 53, 60, 186 Peirce, Charles Sanders 43 Pflug, Günther 45
298 | Personenregister
Picasso, Pablo 195, 198 Pieper, Annemarie 95f., 149 Platon 178f., 203, 206, 209, 249 Plessner, Helmuth 2, 58, 154, 162, 182, 226 Poe, Edgar Alan 252 Poelchau, Nina 91 Popitz, Heinrich 241f. Popp-Baier, Ulrike 62 Rager, Günter 148, 164ff. Rank, Otto 19 Rattner, Josef 12, 14, 18, 22, 42 Raven, Bertram 215 Re Manning, Russel 53 Reeves, Clement 4, 6, 12f., 15ff., 33, 40f., 93f., 100, 109, 123, 128f., 133, 162f., 174, 176, 178f., 201, 204ff., 209, 212, 220, 236, 260, 267 Richards, Ivor Armstrong 258 Ricœr, Paul 181 Riemann, Fritz 3, 91, 120, 132, 270 Riesman, David 86 Rilke, Rainer Maria 171 Ritter, Hal 98 Röbel, Marc 20, 22, 69, 74, 118, 121, 156, 165 Rogers, Carl 12ff., 18, 22, 27, 36ff., 61, 171, 184, 199f. Rohde, Johann Jürgen 108 Roosevelt, Franklin Delano 84 Roth, Gerhard 164f. Rychlak, Joseph F. 100 Saal, Christina 185 Safranski, Rüdiger 267 Sartre, Jean-Paul 3, 21, 30, 41, 43, 50f., 65, 92, 120f., 136, 138, 189 Scharfenberg, Joachim 63 Scheler, Max 2, 21, 58, 71, 154, 182 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 95, 156, 189, 238, 253 Schlüter, Dietrich 215 Schmelzer, Christina 172 Schmelzer, Dieter 172 Schmidt, Manfred G. 132 Schneider, Kirk J. 11ff., 19, 26f., 32, 36, 41, 105, 124, 129 Schönpflug, Ute 181
Schopenhauer, Arthur 238f. Schreiber, Gerhard 54 Schüßler, Werner 53ff., 58, 60, 64f., 81, 110, 140, 143, 152, 154, 165, 171, 185ff., 189, 193f., 196, 207, 211, 214, 227ff., 233, 235f., 243, 253, 255ff., 259, 263f., 267 Schütz, Peter 189 Schulz, Heiko 54 Schwinger, Reinhold 75 Schwöbel, Christoph 7, 54, 259, 261, 265 Scott Jr., Nathan A. 258 Serlin, Ilene 12f., 16, 19, 27, 32, 44, 105, 124, 129, 196 Singer, Wolf 165 Skinner, Burrhus Frederic 147, 172 Sokrates 143 Spiegelberg, Herbert 12, 27, 41f., 50, 100 Sreckovic, Milan 101 Stassinopoulos Huffington, Arianna 198 Stein, Brigitte 176 Stumm, Gerhard 39 Sturm, Erdmann 53, 122, 153, 171, 185, 187, 227ff., 235, 256 Suhr, Martin 43 Sullivan, Harry Stack 14, 108, 219, 225 Sydow, Eckart von 60 Taylor, Charles 187, 190 Thayer, Horace Standish 42 Thimm, Katja 164 Thomas von Aquin 140 Thompson, Clara 14 Thurnher, Rainer 96 Tillich, Paul passim Traufetter, Gerald 164 Tretter, Felix 165 Tugendhat, Ernst 143, 167 Turner, Frederick Jackson 245 Vogel, Ralf T. 36 Vogt, Markus 2, 269 Watson, John B. 19 Weber, Max 243 Weil, Simone 3 Wenz, Gunther 65, 152 Wernicke, Karl 101
Personenregister | 299
Wesche, Tilo 149 Westerhoff, Nikolas 144 Wilder, Amos 258 William James 41 Wiltschko, Johannes 42f. Winnicott, Donald W. 62 Withehead, Alfred North 258 Wittekind, Folkart 186
Wust, Peter 3, 20, 116 Yalom, Irvin D. 2, 16, 19, 22f., 26f., 35, 40, 44, 49, 137f., 250, 270 Young, Julian 238f.
Sachregister Aggression 198, 215, 218, 223 Angst 14f., 17, 20, 24, 29ff., 38, 46, 79, 85, 91ff., 97ff., 111, 113ff., 119, 122f., 125ff., 131ff., 167, 175, 248,249, 270ff. – Bedeutung der 13, 98ff., 105, 107, 131, 133, 250 – vor der Sinnlosigkeit 126, 130 – existentielle 114, 122, 124, 128 – geistige 124 – moralische 124 – neurotische 111, 122, 125, 127, 130 – normale 20, 106, 110, 129 – ontische 124 – ontologische 114, 117, 122 – pathologische 94, 128, 132 – Ontologie der 112, 117 – Theologie der 57 – und Freiheit 128 – und Furcht 96, 111, 113 – und Kreativität 128 – und Mut 110, 115, 117 – vor dem Nichtsein 79, 110, 113f., 117 – Zeitalter der 91, 112, 116, 131, 133 Archetyp 263 Bedeutung – sense of significance 218, 220f., 225, 241 Bedeutungslosigkeit 105, 222, 225 – Angst vor der 4 – Erfahrung der 66 – Gefühl der 126 Behaviorismus 19, 22, 25, 28, 40, 71, 142, 147 Dämonisches 6, 38, 59, 63, 171ff., 179, 181ff., 185, 187ff., 195ff. Dasein 1, 15, 28, 32ff., 49, 69, 83f., 114, 117, 132, 142, 146, 160, 218, 222 Daseinsanalyse 33, 35, 49 Deliteralisierung 256 Depersonalisierung 20, 174, 181 Determinismus 40, 139f., 158 Dimensionalontologie 21 Dynamik 72, 74f., s. Form
https://doi.org/10.1515/9783110780581-014
Einsamkeit 12, 66, 74, 126, 137 Endlichkeit 77ff., 92, 113, 115f., 154, 166f., 189 – Analyse der 77 – Gewahrwerden der 78f. Entfremdung 47 – existentielle 38, 51, 67 Entmythologisierung 255ff., 264 Entscheidungsfreiheit 144 Eros 176ff. Essenz 50, 67, 77, 228 Existentialismus 41, 44ff., 51, 65, 67, 121, 189 Existentialontologie 53, 68f., 71, 77, 106, 111, 113f., 118, 156f., 161, 190, 228, 230 Existentialphilosophie 111, 113 Existenz 28, 32f., 38, 45, 50, 57, 63, 67, 76f., 86, 91, 95, 102, 105, 113f., 123, 125f., 128, 130, 132, 153, 162, 166, 169, 180, 189, 192, 197, 212, 228, 248, 256, 263, 266, 270f. – Bedrohung der 31 – Sinn der 113, 124, 130 – Verwirklichung der 125 Existenzanalyse 22, 35, 123 Existenzphilosophie 17, 42, 45, 48, 51, 64f., 67, 74, 93, 107, 109, 145 Form 72, 74f., s. Dynamik Freiheit 6, 30, 33, 39, 41, 51, 72, 76f., 85, 91, 93, 95, 103, 106, 108, 124, 128, 133, 135ff., 139ff., 143ff., 155f., 158f., 161, 163f., 166ff., 205, 225, 247, 270ff. – absolute 151, 164 – als Möglichkeit 96, 135ff. – Angst vor der 135, 138 – Flucht vor der 137f. – des Handelns 145, 149f., 158 – des Seins 145ff., 149, 158, 170 – endliche 76, 152f., 164, 166 – essentielle 145ff., 149, 159 – existentielle 145, 149, 158 – innere 143, 146, 148, 150 – physische 141 Furcht 30, 57, 91, 96, 112ff., 126
302 | Sachregister
Gewalt 175, 214f., 218, 221, 223, 224, 230, 234 – als freier Protest 242 – als freier Widerstand 242 Gewaltverzicht 216 Indeterminismus 139 Individualisation 72f., 75, 111, 118f., 161, 211f., 271, s. Partizipation Individualismus 85, 104, 120f., 246 Individualpsychologie 12, 22 Intentionalität 75 Kollektivismus 74, 86, 91, 119f. Konformismus 119 Korrelation 70f., 110 – echte 117 – Methode der 62 Kreativität 22, 36, 126ff., 131, 142, 183, 196, 198 Lebensphilosophie 45 Leere 66, 108, 111, 123ff., 150, 163, 249 Liebe 4, 6, 22, 106, 132, 142, 174ff., 179f., 203f., 206f., 209f., 212, 227, 233ff., 271f. – Arten der 209f. – Ontologie der 203, 206f., 211f. – Qualitäten der 207f., 210 – Typen der 209 Logotherapie 21f., 41 Macht 6, 75, 77, 180, 193, 212ff., 219, 221, 224ff., 232ff., 238, 240ff., 271f. – des Seins 116, 231f. – Ontologie der 236 – gewaltfreie 216 – transpersonale 184 – Wille zur 238ff. – zu sein 211 Machtlosigkeit 219ff. Mut 4, 20, 36, 79, 110, 112, 114f., 117ff., 125, 127, 129, 142, 163 – der Selbstbejahung 125 – man selbst zu sein 119f. – zum Sein 79, 110, 114, 122, 163, 231 – Ontologie des 117f. – ontologisch 114
Mythos 6, 36, 130, 212, 243ff., 249ff., 255ff., 259, 264ff., 271f. – gebrochener 254 – ungebrochener 254 – werdender 254 – Zerfall des 248 Neukollektivismus 119 Neurose 66f., 114, 116, 129, 131, 162, 168, 175, 218, 224 – kollektive 131 – noogene 21 – psychogene 167 Nichtsein 29f., 75, 78f., 93, 109, 113ff., 118, 123, 129, 163, 230ff. – Drohung des 79, 114, 116f., 119, 240 – Erfahrung des 31 – Erlebnis des 78 – Möglichkeit des 113 – Schock des 78 Ontologie 24, 28, 29, 34, 59, 68f., 74, 79, 115, 123, 140, 156, 237, s. Macht, Mut, Liebe ontologische Frage 68 Paradox 142, 157f. Partizipation 72f., 75, 111, 118ff., 126, 211, 271, s. Individualisation Pause 147ff., 155 Person 19, 21, 28ff., 73, 105f., 128f., 139, 161f., 172, 180ff., 211, 219, 225, 242, 263 Polarität 70, 72, 74ff., 111, 119, 151, 157f., 189, 211f., 228, 271 – ontologische 77 Pragmatismus 41ff. Psychiatrie 250 Psychoanalyse 19, 22, 30, 33, 40, 46ff., 51, 60f., 63, 66, 112, 138, 249, 272 – existentielle 24, 50 Psychologie 60, 62, 92, 94, 104, 144, 146, 157, 165, 172, 180ff., 237, 250 – humanistische 34, 39 – pastorale 62 – Zeitalter der 87 Psychose 67
303 | Sachregister
Psychotherapie 4, 13, 19, 21, 23, 31, 40, 49f., 53, 60ff., 67, 94, 114, 146, 180, 196, 250, 272 – existentielle 5f., 24, 27f., 31f., 34ff., 43, 51, 62, 68f., 138 – existentiell-humanistische 35f., 62 – humanistische 26 – klinische 18 Schicksal 72, 76f., 123f., 141f., 150f., 156, 158ff., 163, 166, 169 schizoid 3, 120, 174, 176, 266, 270 schöpferisch 179, 182, 189, 192, 196f., 199, 231, 263, 267, 270f. Sein 28ff., 57f., 69, 74f., 77f., 83, 116f., 123, 160f., 179, 205, 262 – endliches 117 – essentielles 117 – existentielles 117 – zufälliges 117 – Endlichkeit des 129 – Grundstruktur des 72 – Seinsqualität 188 – Seinsstruktur 69, 171 – Selbst 78, 227, 240 – sense of being 31ff., 47 Seinsgrund 189ff. Seinsmächtigkeit 116, 228ff., 232, 235, 271 Seinsunerschöpflichkeit 192 Selbst 69ff., 73, 77, 96, 100, 105ff., 120f., 124ff., 134, 136f., 139, 141, 148, 150, 163f., 168, 181f., 190, 198ff., 205f., 218, 223, 231, 235, 263, 265 – personales 139 – verantwortliches 139 – verarmtes 114 – zentriertes 161, 181 – und Welt 119, 121 Selbstbehauptung 107, 115, 180, 218, 222, 235 Selbstbejahung 94, 98, 107, 112, 114, 117f., 120, 124, 126, 162f., 205, 227, 231, 235f., 239 Selbstbemächtigung 168 Selbstbewahrung 120 Selbstbewusstsein 22, 70f., 94, 176, 205, 218
Selbstbezogenheit 71f., 74, 161 Selbstdistanzierung 181 Selbstentfremdung 67, 208 Selbsterhaltung 239 Selbsterkenntnis 104, 182 Selbstheit 71 Selbstidentität 36 Selbstmächtigkeit 231f. Selbstsein 36 Selbstverständnis 104, 221 Selbstverwirklichung 85, 104, 108, 235, 240f. Selbstwahrnehmung 219f., 241 Selbst-Welt-Korrelation 69f., 72, 101, 118, 121, 156, 168, 174 Selbst-Welt-Verhältnis 32, 105, 264 Selbstwerdung 38, 107, 149, 180, 182, 221, 270f. Selbstzentriertheit 71, 73, 153, 160ff., 163 Selbstzerstörung 195, 235 Sinnlosigkeit 21, 111, 113, 123ff., 150, 163, 195 – Erfahrung der 2, 187 – Gefühl der 270 Spontaneität 23, 77, 216 Subjekt-Objekt-Struktur 70 Symbol 17, 130, 244, 249ff., 255ff., 271f. Symboltheorie 258, 260, 263 Tiefenpsychologie 5f., 16, 46, 57, 59, 61ff., 66f., 74, 83, 93, 111, 113, 166, 183f., 196, 272 Transzendentalienlehre 229 Übergang 1f., 8, 174 – Epoche des 272 – Zeit des 116, 269ff. Umbruch 1ff., 108, 124, 127, 130, 204, 249, 267, 270 – Epoche des 272 – Zeit des 1ff., 8, 110, 116, 134, 163, 174, 180, 269, 271 Unbewusstes 19, 30, 34, 47, 62, 134, 175, 181 – kollektives 127, 251, 262f. Unendlichkeit 78 Verantwortung 41, 76f., 136, 138, 141, 167f., 172, 181, 216, 222, 225, 246, 249, 270
304 | Sachregister
Vitalität 75 Weltbewusstsein 70 Willensfreiheit 76, 139f., 144
Zentriertheit 36, 140, 161ff., 163f. zerstörerisch 180, 189, 193, 196f., 199, 271 Zweifel 125, 137