Menschennatur in Zeiten des Umbruchs: Das Ideal des politischen Arztes in der Frühen Neuzeit 9783110612349, 9783110609530

The social dimension of medical practice was already visible in pre-modern medicine, as an ideal image of the political

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German Pages 267 [269] Year 2020

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Menschennatur in Zeiten des Umbruchs: Das Ideal des politischen Arztes in der Frühen Neuzeit
 9783110612349, 9783110609530

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Mariacarla Gadebusch Bondio, Christian Kaiser, Manuel Förg (Hrsg.) Menschennatur in Zeiten des Umbruchs

Europäisch-jüdische Studien Beiträge

 Herausgegeben vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam Redaktion: Werner Treß

Band 50

Menschennatur in Zeiten des Umbruchs

 Das Ideal des politischen Arztes in der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Mariacarla Gadebusch Bondio, Christian Kaiser und Manuel Förg

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

ISBN 978-3-11-060953-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-061234-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-060962-2

Library of Congress Control Number: 2020935876 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Abbildung links: Nigerianischer Arzt mit modernem Personal Protective Equipment (PPE) für die Behandlung von Ebola-Patienten; Quelle: CDC Global - PPE Training, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=36016390 (bearbeitet) Abbildung rechts: Frühneuzeitliche ärztliche Pestschutzkleidung; Quelle: Kupferstich Paul Fürst, „Der Doctor Schnabel von Rom“, ca. 1656; Internet Archive’s copy of Eugen Holländer, Die Karikatur und Satire in der Medizin: mediko-kunsthistorische Studie, 2nd edn (Stuttgart: Ferdinand Enke, 1921), fig. 79 (p. 171), Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/ index.php?curid=15677032 [https://archive.org/details/diekarikaturunds00holl/page/170/ mode/2up/search/171] (bearbeitet) Typesetting: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Vorwort  VII Mariacarla Gadebusch Bondio und Christian Kaiser Medizin und Politik Ethische Herausforderungen im Umgang mit der Menschennatur – Einleitende Überlegungen  1 Christian Kaiser Lukrez in Fracastoros Syphilis (1530) Häresie, politische Dekadenz und natürliche Regulation  13 Manuel Förg Die bedrohte Stadt Rodrigo de Castro und die Hamburger Pestepidemie von 1596/97  47 Mariacarla Gadebusch Bondio und Katharina-Luise Förg Als Arzt politisch handeln Rodrigo de Castros Medicus-politicus zwischen Anspruch, Ideal und Praxis  83 Dietrich von Engelhardt Amato Lusitano (1511–1568) Leben und Werk eines religiös-politisch verfolgten Botanikers und Arztes auf der Flucht von Portugal ins Osmanische Reich  115 Sabine Schlegelmilch Das Selbstbewusstsein der Chirurgen Tobias Geigers Traktat Discursus Medicus et Politicus (1656)  141 Daniel Schäfer Gutes Alter(n) als Tugend? Medizinische und theologisch-philosophische Impulse aus der Frühen Neuzeit  177

VI  Inhaltsverzeichnis

Oliver Bach „Kunst auf des Königs Gefahr“ Medizinische Wahrheit und politische Funktion in Johann Michael von Loëns Der redliche Mann am Hofe (1740)  197 Eva Maria Hofer Wer schläft, sündigt nicht? Gerichtsmedizinische Betrachtung des Schlafwandelns in der Frühen Neuzeit am Beispiel eines Falls aus Kiel  215 Felix Sommer Eine Verlockung? – Psychiatrie im Dienst der Politik  241 Personenregister erstellt von Maximilian Huppertz  253

Vorwort Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes sind aus der wissenschaftlichen Tagung „Menschennatur in Zeiten des Umbruchs – Verhandlungen zwischen Politik und Medizin“ (25. und 26. Januar 2018) hervorgegangen. Diese wurde vom Teilprojekt 7 „Medicus politicus – ärztliche Entwürfe zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Natur in Zeiten der Krise“ im Rahmen der DFGForschungsgruppe „Natur in politischen Ordnungsentwürfen: Antike – Mittelalter – Frühe Neuzeit“ (FOR 1986) veranstaltet. Tagungsort war das Institute for Medical Humanities am Universitätsklinikum der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Für ihre aktiven und anregenden Beiträge zur Tagung danken die Herausgeber Wolfgang U. Eckart, Ingo F. Hermann, Kay Peter Jankrift, Sabine Kalff, Susi-Hilde Michael, Bernhard Seidler, Nicolas Wernert, Eberhard Wolff und Hans-Peter Zenner. Ein herzlicher Dank geht an Jörge Bellin für die Dokumentation der Veranstaltung. Dass die Tagung sehr erfolgreich organisiert und durchgeführt wurde, ist der Umsicht, der Tatkraft und dem hohen persönlichen Einsatz von Annett Schmidt und Julia Letow zu verdanken. Wertvolle Unterstützung erfuhr die Tagungsorganisation durch die Hilfskräfte Emilia Lehmann, Anna Großmann und Marion Laurisch sowie von den Mitarbeiterinnen der Stabsstelle Kommunikation und Medien des Universitätsklinikums Bonn. Bei der Redaktion der Manuskripte des Bandes haben die studentischen Hilfskräfte Annemarie Lupa und Maximilian Huppertz mit großer Sorgfalt mitgearbeitet. Wir danken auch Bettina Neuhoff und Monika Pfleghar vom Verlag De Gruyter für die geduldige Betreuung. Ebenso gilt unser Dank der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die finanzielle Förderung der Projekte und Publikationen der Forschungsgruppe. Bonn, im Februar 2020

https://doi.org/10.1515/9783110612349-203

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Medizin und Politik Ethische Herausforderungen im Umgang mit der Menschennatur – Einleitende Überlegungen „Die Auffassung, Medizin habe nichts mit Politik zu tun, ist nach wie vor verbreitet“, konstatierte Johanna Bleker 1994 in einem Beitrag, in dem sie den „Mythos vom unpolitischen Arzt“ mit medizinhistorischen Fakten demontierte.1 Bleker bezog sich auf den politisch denkenden und handelnden Pathologen Rudolf Virchow (1821–1902), der auf die Verzahnung von Gesundheitspolitik, Gesundheit der Bevölkerung und ärztlicher Funktion an der Schnittstelle zwischen Individuum, Gemeinschaft und Staat eindringlich hingewiesen hatte. Im Sommer 1848 verfasste er als „Delegierter des Preußischen Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten“ einen detaillierten Bericht über die Typhus-Epidemie in Oberschlesien. Dieser Bericht gilt inzwischen als „Geburtsdokument der modernen Sozialmedizin“2 und bezeugt das soziale Engagement und die politische Weitsicht Virchows. Die Bezeichnung „medicus politicus“, die der sephardische Arzt Rodrigo de Castro (1546–1627) zu Beginn des 17. Jahrhunderts mit nachhaltiger Resonanz einführte, wird prima facie von Rudolf Virchow verkörpert. Wie sieht es aber mit dem ursprünglichen Gedanken de Castros aus und welche Bedeutung kann dieser Gedanke heute noch haben? Trägt die Idee eines politischen Arztes ganz unabhängig von sich ändernden sozio-politischen Kontexten die Idealvorstellung eines heilkundig Tätigen in sich, der – sich seinem in der hippokratischen Tradition verankerten Berufsethos bewusst – in der Lage ist, der Gesundheit des individuellen Patienten (salus aegroti suprema lex) gerecht zu werden, ohne das bonum commune zu vernachlässigen (siehe Schweigepflicht vs. Meldepflicht)? Ein Blick auf die gegenwärtige Lage im Umgang mit dem hochansteckenden Coronavirus in China zeigt die Spannung, die sich an der Grenze zwischen ärztlichem Berufsethos und Staatsraison bilden kann.3 Ärztliche Entscheidungen, 1 Bleker 1994, 164. 2 Zitat aus der Editorischen Vorbemerkung des Herausgebers Christian Andree zu Virchows „Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie“ (1848) in: Virchow 1992, 357. 3 Der am Coronavirus verstorbene chinesische Augenarzt Li Wenliang wurde von der Polizeibehörde in Wuhan, nachdem er eine kleine Gruppe von Kollegen über die Gefahr einer Virusverbreitung informiert hatte, festgenommen und mehrfach verhört. Georg Fahrion schrieb in seinem Artikel „Das Vermächtnis des Whistleblowers“ im SPIEGEL vom 07.02.2020: „Li Wenhttps://doi.org/10.1515/9783110612349-001

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die das Gemeinwohl betreffen, können je nach politischem und gesellschaftlichem Kontext unterschiedlich bewertet werden und ganz andere Konsequenzen mit sich bringen. Der Ausbruch von Epidemien – heute neben dem Coronavirus SARS oder Ebola, in der Vormoderne die Pest – kann zu politisch-gesellschaftlichen Destabilisierungen führen. Darüberhinaus, vor allem im Zusammenhang mit Kriegen und Naturkatastrophen, brechen nicht nur die Bedingungen einer geregelten medizinischen Versorgung zusammen, z. B. durch die Zerstörung bestehender Infrastruktur. Auch Seuchen wie Cholera oder andere Durchfallerkrankungen breiten sich durch schlechte Hygiene, fehlendes sauberes Trinkwasser und mangelnde Ernährung aus: ansteckende Krankheiten, die unter normaler medizinischer Grundversorgung leicht zu behandeln wären, werden tödlich.4 Durch derartige Grenzerfahrungen verschieben sich zumeist auch die soziokulturellen Zuschreibungen von Eigenem und Fremdem, Gesundem und Krankem. Damit gehen Neuverhandlungen dessen einher, was eine Gesellschaft, die sich ihrer Verwundbarkeit bewusst geworden ist, zu tolerieren bereit ist. Die ärztliche Expertise erhält in prekären gesellschaftlichen Zusammenhängen eine biopolitische Funktion und kann als Kontrollinstanz und Vermittler zwischen Individuum und Gesellschaft wirken. Ärztinnen und Ärzte nehmen die Expertenrolle ein für das, was man in der diachronen Reflexion als „Menschennatur“ bezeichnen könnte. Seit jeher genießt dieser Berufsstand eine beratende und exekutorische Rolle. Gerade in Krisenzeiten erweitert sich das Aufgaben- und Verantwortungsspektrum der möglichst guten ärztlichen Behandlung: Nicht nur der einzelne Patient allein, sondern ganze Gruppen von gefährdeten, verletzten, hilfe- und schutzbedürftigen Menschen brauchen die ärztliche Zuwendung. Die politische Relevanz ärztlichen Handelns steigt insbesondere, wenn es zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit einer verwundeten Gesellschaft beiträgt. Um nur ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit anzuführen: 2016 warf der deutsche Innenminister Thomas de Maizière Ärztinnen und Ärzten vor, Abschiebungen von Flüchtlingen mit dem Ausstellen zu vieler Atteste zu verhindern. „Es kann nicht sein, dass 70 Prozent der Männer unter 40 Jahren vor einer Abschiebung für krank und nicht transportfähig erklärt werden. Dagegen

liang, Augenarzt, Whistleblower, Held einer Nation in einer schweren Krise, ist einer Infektion mit dem neuen Coronavirus 2019-nCoV erlegen – genau die Krankheit, vor der er als Erster warnte. China ist tief erschüttert, demoralisiert, die Epidemie hat nun einen Märtyrer.“ https://www.spiegel.de/politik/ausland/coronavirus-li-wenliang-das-vermaechtnis-des-whistleblower-arztes-a-76655aed-87a6-4a41-a45e-e30730eddc7a (12.02.2020). 4 Vgl. Eckart/Gradmann 1996; Eckart 2014.

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spricht jede Erfahrung“, erklärte de Maizière im Bundestag.5 Der Präsident der Bundesärztekammer Frank Ulrich Montgomery wies die Kritik de Maizières damals umgehend zurück und deutete indirekt auf das moralische Dilemma hin, in dem sich Ärztinnen und Ärzte in dieser Situation befinden: „Ärztliche Gutachter in Abschiebeverfahren geraten immer wieder zwischen die Fronten“. Ihnen werde vorgeworfen, entweder Ersteller von „Gefälligkeitsgutachten im Sinne der Asylbewerber“ oder „Erfüllungsgehilfen staatlicher Stellen“ zu sein. Doch solche Unterstellungen entbehrten – so Montgomery – „jeder Grundlage und bringen uns nicht weiter“.6 Eine Eskalation der Diskussion ereignete sich im Februar 2017, als die Ärztekammer Hessen vor der Instrumentalisierung von Ärztinnen und Ärzten bei Abschiebungsverfahren warnte. Die Verschärfung der Abschiebepolitik sieht vor, dass man weniger Rücksicht auf gesundheitliche Probleme von Flüchtlingen nimmt. Lässt sich aber eine solche Maßnahme mit dem ärztlichen Ethos in Einklang bringen? Laut Gottfried von Knoblauch zu Hatzbach, Präsident der Landesärztekammer Hessen, nein: denn ein Arzt soll frei von jeglichem Druck im Interesse jedes einzelnen Patienten handeln. „Die Politik muss respektieren, dass Ärzte ihren Beruf nach ihrem Gewissen, den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit ausüben.“ Und auch die Ärzteschaft wird in die Pflicht genommen: „Ärzte dürfen keine Grundsätze anerkennen und keine Vorschriften oder Anweisungen beachten, die mit ihren Aufgaben nicht vereinbar sind oder deren Befolgung sie nicht verantworten können“.7 Hinzukommt, dass seit Oktober 2017 das Genfer Gelöbnis in seiner neuen Fassung neben der Gesundheit das Wohlbefinden des Patienten einschließt.8 Damit wird eine Lanze für eine Ausweitung der ärztlichen Verantwortung gebrochen. Wenn berufsethisch betrachtet eine grundlegende Aufgabe der Ärztin und des Arztes darin besteht, nicht nur auf den physischen Zustand zu achten, sondern auch das Wohlbefinden der Person zu fördern, dann wird die Begutachtung des Zustandes eines Menschen, der „abgeschoben“ werden soll, komplexer denn je. Dieses Beispiel zeigt, dass Ärztinnen und Ärzte, wenn sie im Grenzgebiet zwischen den Interessen des Einzelnen und denen des Staates zu 5 Zitat aus: Die Welt, 16.06.2016. 6 „Abschiebeverfahren: Montgomery weist Kritik an Ärzten zurück“, in: Deutsches Ärzteblatt (16. Juni 2016): https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/68165/Abschiebeverfahren-Montgomery-weist-Kritik-an-Aerzten-zurueck (12.02.2020). 7 „Ärztekammer Hessen warnt vor Instrumentalisierung von Ärzten bei Abschiebungen“, in: Deutsches Ärzteblatt (14. Februar 2017): https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/73104/Aerztekammer-Hessen-warnt-vor-Instrumentalisierung-von-Aerzten-bei-Abschiebungen (12.02.2020). 8 Der Text ist abrufbar u. a. unter: https://www.wma.net/policies-post/wma-declaration-of-geneva/ (12.02.2020).

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handeln haben, mit moralischem Rückgrat gerüstet sein müssen, d. h. dass jeder und jede von ihnen in der Situation zu entscheiden hat, nach welchen moralischen Maßstäben gehandelt werden kann und soll. Die gesellschaftliche Dimension ärztlichen Wirkens wurde schon in der vormodernen Medizin reflektiert, als sich in der Frühen Neuzeit ein Idealbild des „politischen Arztes“ etablierte. Seit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges (1618) wurde das Modell des medicus politicus rasch rezipiert. Die longue duréeBetrachtung ermöglicht es, die Spannungen aufzudecken, die dieses Leitbild in konkreten Situationen und durch die gegebenen Machtverhältnisse in sich trägt. Angesichts gegenwärtiger globaler Destabilisierungsprozesse ist es angezeigt, Vorstellungen und Konzepte einer Medizin, die sich der Bedeutung ihres politisch-gesellschaftlichen Wirkens bewusst ist, kontextsensibel zu reflektieren. Wie verhängnisvoll die Beziehung von Medizin und Politik sein kann, zeigen die im vorliegenden Band versammelten Fallbeispiele. Idealerweise können die gesellschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen und standesethischen Rahmenbedingungen abgeschlossener Prozesse im Labor der Historiographie analysiert werden. Matters of fact (Tatsachen) und matters of concern (Dinge von Belang) – um Bruno Latours Unterscheidung zu verwenden –9 sind im historischen Labor gleichberechtigte Forschungsgegenstände. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes analysieren das herausfordernde Potenzial der Menschennatur in erschwerten Situationen. In der diachronen Betrachtung von der Frühen Neuzeit bis hin zum 19. Jahrhundert zeigt sich, welche konstante medico-politische Brisanz das Thema besitzt. Die Beiträge bieten einen Zugang zu Zeugnissen der Selbstreflexion von Ärzten: Sie schließen etwa pragmatisch ausgerichtete Strategien zur Seuchenbekämpfung zusammen mit den Überlegungen zur Ätiologie ansteckender Krankheiten ein. Die untersuchten Quellen führen die Anstrengungen von Ärzten im Umgang mit Epidemien und deren Folgen für das Leben einer Gemeinschaft vor Augen. Versuche, vor der Kontamination zu schützen, verlangen eine gute Koordination und Absprache zwischen medizinischen Experten, Ordnungskräften und Bürgern. Denn um abzuwehren müssen die „Abwehrkräfte“ gestärkt werden. Der politische Philosoph Roberto Esposito hat auf die Dialektik von Schutz und Negation des Lebens, die der Begriff immunitas beinhaltet, hingewiesen und damit eine lebhafte Diskussion angeregt. Ausgehend von Foucaults „Biopolitik“ als Kontrolle von Leben und biologischen Prozessen durch mannigfaltige Dispositive (man denke an Sicherheits- und Überwachungsmechanismen), untersucht Esposito die Abwehr- und Schutzmechanismen einer Gesellschaft, die sich von innen und außen bedroht fühlt.10 Das Bestreben nach Schutz des indi9 Latour 2007.

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viduellen Lebens und des gemeinschaftlichen Zusammenlebens durch Immunisierung kann allerdings letale Folgen haben, wenn sich Immunität in Autoimmunität verwandelt und sich ein Prozess der Selbstzerstörung anbahnt. Diese immunitäre Dynamik setzt Esposito mit der Geburt der Biopolitik gleich. Biopolitik wird in dieser Diskussion nicht ausschließlich als modernes Phänomen betrachtet. In der griechischen Gesundheitspolitik und römischen Agrarpolitik ist Biopolitik auf die polis oder civitas – auf die communitas – gerichtet; die moderne Biopolitik zeichnet sich „durch eine immunitäre Spannung aus, die sich im Schutz eines Individuums und später im Schutz einer Gruppe durch die Vernichtung einer anderen entlädt, wie im Nazismus“.11 Hier stellt sich aber die Frage, was in der langen Zeitspanne des „Dazwischen“ wohl gewesen sei. Ist die Vormoderne nicht eine Epoche, in der die permanente Gefährdung des politischen Körpers reflektiert wird? Hobbes erkannte die Kontingenz des politischen Körpers, seine konstitutive Verwundbarkeit. Eben das wird auch von Esposito als der Auslöser für den Schutzbedarf erkannt, für die Schließung und Abdichtung, die als Mittel zur Bewahrung von Identität, des Eigenen, dient.12 Setzt also für die Frühe Neuzeit die Dialektik der Immunität an? Gerade das Bewusstsein für das Eigene und das Fremde, für die Notwendigkeit von Grenzen, für die politisch gestützte Lebenserhaltung wird durch den Kontakt mit der neuen Welt, durch Religionskriege und Seuchen angeregt. Die Verantwortung für das Leben und seine Erhaltung, insbesondere wenn viele Menschen in Gefahr sind, macht den Arzt im vormodernen Staat essentiell. * Mit der Funktion von Staatsärzten befassen sich einige der Beiträge im ertragreichen diachronen und synchronen Vergleich. Die Sorge um das Leben der Bürger wird umso mehr zum medizinisch-politischen Anliegen, wenn es vielfach bedroht ist: wenn z. B. Krieg und gesellschaftliche Unruhe, in Zusammenhang mit Not und Hunger, gesteigerter Gewaltbereitschaft etc. die salus publica in Gefahr bringen, drohen die Regeln des zivilen Zusammenlebens zerstört zu werden. In diesen Situationen lässt die Kontrolle nach, der medizinische Bedarf wird akut und das Angebot diffus, ja von zweifelhafter Qualität. Der Schmähbegriff des medicus machiavellus verkörpert eben diese Gefahr; dessen Counterpart, das Ideal des gewissenhaften, selbstlosen und integren medicus politicus hingegen dient als ethischer Kompass.13 Schließlich lässt sich am Beispiel ärztlicher Begutachtung vermeintlicher Simulanten und psychiatrischer Diagnosen, auch 10 Esposito 2004a; 2004b; vgl. Foucault 2004. 11 Zitat von Esposito, zit. in: Celikates 2008, 57. 12 Vgl. Celikates 2008, 55. 13 Vgl. ausführlicher zu diesem Antagonismus Eckart 1984; Eckart 1992.

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Ferndiagnosen, zeigen, welche existentielle und politische Auswirkungen die medizinische Deutungsmacht haben kann. Betrifft der Krankheits- bzw. Gesundheitsverdacht Monarchen, Gefangene, Soldaten oder Sklaven, so ist die ärztliche Expertise gefragt. Dass damit medizinische Kompetenz mit ärztlichem Ethos und moralischer Verantwortung Hand in Hand gehen, ist so selbstverständlich wie komplex. Für den historischen Prozess der Konzeptualisierung des medicus politicus war der bereits erwähnte Rodrigo de Castro von entscheidender Bedeutung. In seinem 1614 publizierten Werk Medicus-politicus, das namens- und stilbildend für ein ganzes Genre deontologischer Texte der Frühen Neuzeit werden sollte, hatte der aus Portugal nach Hamburg emigrierte jüdische Mediziner sich vorgenommen, die Eigenschaften und Tugenden, an denen ein Arzt festhalten, und die Fehler, die er vermeiden bzw. vor denen er sich hüten müsse, zu zeigen. Ein schwieriges, neues und mühsames Anliegen („res ardua, nova, et laboriosa“):14 Diese medizinethische Quintessenz seines Schaffens hatte er den Konsuln der Stadt Hamburg gewidmet. Aus der Sicht dieses gläubigen Juden, der in der Lage gewesen war, sich während der Pestepidemie im Jahre 1596 Respekt und Anerkennung bis hin zu einem Sonderstatus in der Stadt an der Elbe zu erkämpfen, hatten die führenden Vertreter der Politik das Vaterland zu höchstem Ansehen geführt. Im vierten und letzten Buch seines Medicus-politicus behandelt de Castro die Methoden der ärztlichen Begutachtung. Es handelt sich um insgesamt fünf Kapitel (Kapitel 9 bis 13). De Castro schöpft zum einen aus seiner Erfahrung als für die Einschiffung von Matrosen verantwortlicher Arzt und aus der Tätigkeit als Gutachter, zum anderen operiert er auch mit einer Reihe klassischer Exempel (Galen und Hippokrates) und ist mit der neuesten Literatur seiner Zeit vertraut. Die Schrift Methodus testificandi von Battista Codronchi (1547– 1628) bildet für ihn eine zentrale Referenz.15 Zunächst geht es hier um die Aufgabe eines guten Arztes, den Betrug aufzudecken, wenn es sich um simulierte Erkrankungen handelt. De Castro listet die besonderen Menschengruppen auf, die Krankheiten vortäuschen, und die Gründe dafür: Sklaven, um die befohlenen Arbeiten nicht auszuführen, Gefangene, um dem Gefängnis, der Folter oder Hinrichtungen zu entfliehen bzw. sie aufzuschieben, Soldaten und Matrosen, um die bevorstehenden Gefahren einer Seefahrt bzw. einer Schlacht zu vermeiden und „manche launischen Frauen“ aus verschiedenen Gründen, manchmal aus Überzeugung und in der Regel, um das Wohlwollen ihrer Männer zu gewinnen.16 Zur Erfahrung als Verantwortlicher für die Einschiffung gesellte sich bei 14 De Castro, Medicus-politicus, 1614, A2r. 15 Codronchi, Methodus testificandi, 1597. 16 De Castro, Medicus-politicus, 1614, IV, 9, 52.

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de Castro auch diejenige als bekannter praktizierender Arzt in der Stadt Hamburg. Konkrete Beispiele illustrieren, wie im Alltag der Ruf eines Arztes gefährdet werden kann: die Schwierigkeit, fingierte Symptome als solche zu erkennen, ebenso wie selbst verursachte Verletzungen, die den Anschein von Tumoren, Blasen, Geschwüren oder Wunden verleihen, vorgetäuschte Schmerzen, Fälschungen durch Färbung von Urin und Bestechungsversuche, etc. Eine ethische Reflexion über die zwiespältige Rolle des Arztes als Experte und Prüfer von vermeintlichen oder echten Krankheitszuständen bei Menschen, deren Existenz eben von diesem Urteil abhängt, findet hier nicht statt. Für de Castro ist der Arzt in den skizzierten Situationen ganz auf der Seite der staatlichen Autorität – seine einzige Sorge richtet sich auf den Schutz des ärztlichen Ansehens. Für eine Problematisierung des Verhältnisses von Medizin und Politik muss in anderen zeitgenössischen Quellen gesucht werden.17 * Ausgangspunkt des vorliegenden Sammelbandes ist zwar de Castros Schrift Medicus-politicus, doch die hier versammelten Beiträge gehen weit darüber hinaus. Die abgebildeten thematischen Verzweigungen erstrecken sich über den Zeitraum vom 15. bis zum 19. Jahrhundert. Neben den Studien, die de Castros Werk untersuchen (M. Gadebusch Bondio/K. Förg; M. Förg) befassen sich andere Autorinnen und Autoren mit dem Nachleben des Ideals eines medicus politicus (Schlegelmilch; Bach). Ärzte vor Gericht (Hofer; Sommer), Ärzte vor der Seuche (Kaiser; Förg), Ärzte im Kampf gegen das Alter (Schäfer) und vertriebene jüdische Ärzte (von Engelhardt) komplettieren das Spektrum der untersuchten Fallbeispiele. Der Beitrag von Mariacarla Gadebusch Bondio und Katharina-Luise Förg (S. 83–114) erörtert das Programm, das de Castro für seinen Medicus-politicus – den der Autor übrigens selbst als Pionierleistung deklarierte – entworfen hatte. Ergänzt wird die Nachzeichnung des Selbstanspruchs des Hamburger Arztes durch die historische Einbettung in den zeitgenössischen politischen Kontext der Hansestadt sowie durch den Rückblick auf das Nachleben und die Rezeption des Medicus-politicus. Für erstere Aufgabe sind das Widmungsschreiben sowie die Einleitung zum genannten Werk aus der Feder de Castros die wichtigsten Quellen; sie werden als Anhang zum Beitrag im lateinischen Original und in einer neuen deutschen Übersetzung vorgelegt. Die Verantwortung des Arztes in gesellschaftlichen Krisenzeiten exemplifiziert de Castro selbst, hatte er doch 1596 eine Schrift über die Natur und die Ur17 Ein Vertreter einer politisch kritischen und ethisch bewussten Position war bspw. der Chirurg und Zeitgenosse de Castros Wilhelm Fabry (1560–1634), der den Medicus-politicus kannte und schätzte. Vgl. dazu Gadebusch Bondio 2018.

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sachen der Pest verfasst, die von seinem ärztlichen Engagement zeugt. Manuel Förg (S. 47–82) skizziert den Inhalt dieses Tractatus brevis de natura et causis pestis und geht der Geschichte seiner Entstehung nach. Sehr nahe am Text untersucht er, durch welche Maßnahmen de Castro die Ausbreitung der Seuche in seiner Stadt verhindert wissen wollte. Der Arzt stellte diese aus seiner Sicht notwendigen Schritte aber nicht nur vor, sondern forderte sie gleichzeitig auch von den verantwortlichen Politikern ein. Förgs Erörterung bezieht auch andere Pestschriften aus dem nahen zeitlichen und räumlichen Umkreis mit ein und zeichnet dadurch die politischen Motive nach, die diesen Hamburger Texten aus dem ausgehenden 16. Jahrhundert gemeinsam sind. Als Anhang zu seinem Beitrag präsentiert Förg de Castros Widmungsschreiben, das der Analyse zugrunde liegt, im originalen lateinischen Wortlaut zusammen mit einer deutschen Übersetzung und einem Quellennachweis. In seiner engeren Bedeutung umfasst der Begriff des medicus politicus den Arzt, der seine spezfischen Kenntnisse über die Natur des Menschen zum Wohl nicht nur der einzelnen Patientinnen und Patienten einsetzt, sondern darüber hinaus das Gemeinwohl im Blick hat und sich dementsprechend um Gesundheitspolitik im weiteren Sinne bemüht. Der von Sabine Schlegelmilch (S. 141– 176) behandelte Traktat Discursus Medicus et Politicus, den der Chirurg und zusätzlich akademisch ausgebildete Mediziner Tobias Geiger (1575–ca. 1657) im Jahre 1656 fertigstellte, tritt als wortmächtiger Vertreter eben dieses Ideals auf. Die beiden genannten Kompetenzbereiche, in denen sich Geiger hervortat, waren zu seiner Zeit (zumindest im Reichsgebiet) durchaus noch voneinander getrennt, wobei aufgrund des zunehmenden Selbstbewusstseins der Chirurgen Streitigkeiten zwischen den Disziplinen auftraten. Nach Geigers Ansicht sollte der „rechte medicus“ hingegen sowohl im handwerklich-praktischen als auch im akademisch-theoretischen Bereich umfassend gebildet und erfahren sein; seine Forderung nach der Akademisierung der chirurgischen Ausbildung zielte auf eine Reform der entsprechenden bildungs- und gesundheitspolitischen Statuten. Die Hinzuziehung ähnlicher Motive bei Georg Bartisch (1535–1606), Wilhelm Fabry von Hilden (1560–1634), Johannes Scultetus (1595–1645) und Malachias Geiger (1606–1671), dem Sohn Tobias Geigers, verdeutlichen die Kraft dieser politischen Stoßrichtung innerhalb des Chirurgenstandes der Frühen Neuzeit. Eva Maria Hofers Beitrag (S. 215–240) thematisiert die Rolle frühneuzeitlicher Ärzte bei der Begutachtung der Pathophysiologie von Schlafwandlern, insbesondere wenn diese sich krimineller Taten während des Schlafwandelns schuldig gemacht hatten. Die ärztliche Expertise sollte autoritativ darüber Auskunft geben, wie die Schuldfähigkeit des einzelnen Straftäters vor Gericht zu beurteilen sei; wie oben bereits erwähnt, handelt es sich bei einer solchen Gutachtertätigkeit um ein klassisches Aufgabenfeld für Ärzte, die ihr Wissen in den

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Dienst gemeinschaftlicher Zwecke stellen. Hofer bespricht anhand eines konkreten und gut dokumentierten Falles aus dem Jahr 1772 die juristische und die medizinische Debatte, die sich vor allem auf die einschlägigen Schriften des Rechtsmediziners Paolo Zacchia (1584–1659) stützten. Dabei zeigt sie, dass medizinische Einschätzungen zwar eine unumgängliche Voraussetzung bei der Urteilsfindung vor Gericht darstellten, sie aber durchaus auch durch anderslautende, ebenfalls medizinische Aussagen neutralisiert bzw. widerlegt werden konnten, so dass die herangezogene ärztliche Expertise nicht zu zwingenden Schlussfolgerungen führte. Seit dem 19. Jahrhundert kam auch der Psychiatrie eine essentielle Rolle bei Gerichtsverhandlungen zu. Psychiatrische Gutachten konnten darüber entscheiden, ob Menschen interniert werden und ihre Rechte eingeschränkt werden sollten. Felix Sommer (S. 241–252) diskutiert anhand einiger berühmter Episoden das Zusammenwirken von Psychiatrie, Staat und Politik, das zunehmend zu ärztlich (fern-)diagnostiziertem „politischen Wahnsinn“ führte. Hier wurden politische Gegenmeinungen pathologisiert, um mit Hilfe der Seelenheilkunde unliebsame Personen des öffentlichen Lebens aus dem Weg zu räumen. Die politisch-medizinische Grenzüberschreitung blieb allerdings nicht unbeantwortet, sondern führte zu einer Debatte innerhalb der Psychiatrie, die sich schon damals auf einen ärztlichen Verhaltenskodex berufen konnte, der etwa Ferndiagnosen und politische Psychiatrie ausschloss. Eine angemessene Kontextualisierung des Konzepts des medicus politicus erfordert auch, den Fokus nicht nur auf den konkreten Forschungsgegenstand zu richten, sondern auch ein paar Seitenblicke auszuwerfen, um die Selbstaussagen der behandelten Autoren (in diesem Fall vor allem Rodrigo de Castro und seine Nachfolger) einordnen zu können. Die Beiträge von Christian Kaiser und Daniel Schäfer leisten einen solchen „Nebenblick“, indem sie zeigen, auf welche Weise sich der Ärztestand schon vor de Castro und unabhängig von seinem Schrifttum als der menschlichen Gemeinschaft gegenüber verantwortlich wahrgenommen hatte. Der erste Beitrag (S. 13–45) thematisiert mit Girolamo Fracastoros (ca. 1477–1553) Lehrgedicht Syphilis sive De morbo gallico (1530) den politischen Zusammenhang, der insbesondere im Mythos des Syphilus dargelegt wird. Gemäß der These des Beitrags bewerkstelligt Fracastoro nicht nur einen konstruktiven Rückbezug auf epikureische bzw. lukrezianische Naturphilosophie zur Erklärung der Ätiologie der damals „neuen Seuche“ Syphilis – die noch dazu nur die Menschennatur befällt –, sondern integriert gleichzeitig das Konfliktpotenzial, das jahrhundertelang mit eben dieser Philosophie, die stets als die radikalste Häresie und Bedrohung des zivilen Zusammenhalts wahrgenommen wurde, verbunden war. Am Ende zeichnet Fracastoro einen wohlgeordneten Kosmos, in dem Seuchen immer als sich real vollziehendes Drama von

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moralischer Schuld, göttlicher Strafe, kollektivem Leiden, Sühne und göttlicher Vergebung gedeutet werden. Der poeta medicus nimmt damit unter Verwendung des fiktionalen Schleiers die soziale Rolle des Exegeten der natürlichen Ordnung an, der Seuchen wie Pest, Lepra oder Syphilis in den politisch-sozialen Zusammenhang, der eine göttliche Erstverursachung annimmt und kollektive Krankheiten auf moralische Verfehlungen zurückführt, einordnet. Auch Daniel Schäfers Beitrag (S. 177–196) nimmt den Begriff der „Politik“ in der Medizin in seinem weiten Sinne, der Moral und Sitten einschließt und dementsprechend auch allgemeine Tugenden des privaten und öffentlichen Lebens sowie das Berufsethos der Ärzte bezeichnet.18 Als eine solche Tugend wurde in der Frühen Neuzeit auch das Altern verstanden. Gelingendes Altern war damit eine Aufgabe des Individuums, stellte aber auch eine gesellschaftspolitische Herausforderung dar. Wie der Aufsatz darlegt, verlangte der Anspruch, das Altern als Bonum senectutis zu verstehen und zu erreichen, nicht nur Anstrengungen durch das Individuum selbst, sondern involvierte auch das Fachwissen der Ärzte, die sich wiederum für allgemeine Reformen und modizifierte ärztliche Normen einsetzten, um den Menschen das „gute Altern“ auch zu ermöglichen. Dieses stand nämlich nicht unter dem Zeichen des Zufalls, sondern wurde von den Ärzten als Wirkung vernunftgesteuerter Arbeit an der menschlichen Natur betrachtet, die die lebenslange Befolgung entsprechender Regime und Konsilien verlangte. Greifbar wird ein solcher Begriff von „ärztlicher Politik“ auch im Beispiel des Romans Der redliche Mann am Hofe (1740) von Johann Michael von Loën (1694–1776), das Oliver Bach (S. 197–214) behandelt und das – wie Fracastoros Syphilis – exemplarisch für das Feld der poetischen Reflexion der Verbundenheit von Medizin und Politik steht. Bach hebt die von den Autoren der Frühen Neuzeit und der Aufklärung wahrgenommene Notwendigkeit hervor, paradigmatische Beispiele in der Fiktion zu generieren, um daraus eine praktische Lehre abzuleiten. Auch in von Loëns „poetischem Experiment“ wird Krankheit – in diesem Fall diejenige des Königs – als Strafe für ein falsches Ärzteregime verstanden, die nun jedoch aufgrund der existenziellen Bedeutung des Monarchen im absolutistischen Zeitalter eine immense politische Tragweite aufweist. Die Heilung bietet sich ähnlich wie im Diskurs um das gesunde und damit gelingende Altern durch moralische Belehrung des Königs an, damit dieser seine Ziele und die zu deren Erreichung erforderlichen Mittel angemessen bewerten lerne. Das daraus im besten Fall resultierende „ordentliche Gemüt“ des Herrschers be18 Zum semantischen Gehalt des Politik-Begriffs in der frühneuzeitlichen Medizin, in der die Begriffe „prudentia“, „oeconomia“, „decorum“ und „politia“ oft synonym verwendet werden, vgl. Eckart/Jütte 2014, 304–308.

Medizin und Politik



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dingt seine seelische wie körperliche Gesundheit, von dem wiederum das Gemeinwohl abhängt, so dass der Arzt unter diesen Bedingungen nicht nur ein medicus politicus, sondern zugleich ein philosophus medicus zu sein habe. Neben diesen Exempeln von Ärzten, die man, wie bereits erwähnt, entweder in einem engeren oder in einem weiter gefassten Begriff als aktiv-tätige Ausprägungen des Ideals des medicus politicus bezeichnen kann, lässt sich auch noch ein dritter Typus von Ärzten beschreiben, der unter der Ärzteschaft wahrscheinlich sogar noch häufiger anzutreffen war als die ersten beiden: Dieser steht zwar in einem relativ nahen Verhältnis zu politischen Machthabern verschiedener Couleur, allerdings rein in einer persönlich-ärztlichen Relation, sei es als Leibarzt, als Stadtphysicus o. ä. Ansonsten sind es die politischen Umstände, die den Arzt als passiv Erleidenden betreffen und prägen, nicht so sehr hingegen die eigene Mitwirkung am politischen Geschehen. Ein prägnantes Beispiel eines solchen „passiv-politischen Mediziners“ ist Amato Lusitano (1511– 1568), dessen Leben, Werk und Rezeption Dietrich von Engelhardt nachzeichnet (S. 115–139). Dieser frühneuzeitliche Gelehrte ist für den vorliegenden Themenschwerpunkt vor allem deswegen interessant, weil sich sein biographischer Hintergrund gut mit demjenigen Rodrigo de Castros vergleichen lässt, sind sie doch nicht nur Zeitgenossen, sondern auch sephardische Juden mit langer Migrationsgeschichte. Im Kontrast der beiden jüdischen Ärzte wird die jeweils unterschiedliche Rolle, die sie als medici in den verschiedenen politischen Kontexten spielten, in ihrer Spezifizität deutlicher sichtbar. Nichtsdestoweniger war ebenso wie de Castro auch Amato Lusitano die Vermittlung eines ärztlichen Ethos wichtig, das klar auf dem Fundament traditioneller Werte stand und sich auf eine lange Tradition berufen konnte. Amatos „Eid“, der als Anhang in deutscher Übersetzung beigegeben ist, demonstriert die große Verpflichtung gegenüber seinem berühmten Vorläufer, dem hippokratischen Eid. * Abschließend sei noch auf die Bedeutung des Begriffskompositums hingewiesen, das wir für den Titel dieses Bandes gewählt haben. Wenn wir von „Menschennatur“ als Herausforderung für Medizin und Politik sprechen, wollen wir auf das komplexe Verhältnis des Menschen zu seiner Natur anspielen und eine Reflexion anregen. „Menschennatur“ weist auf die Natur des Menschen als von seiner Geburt an auf die Hilfe von anderen angewiesenes Wesen, auf die Verletzbarkeit und Kontingenz des Physischen und des Psychischen hin. „Menschennatur“ beinhaltet aber auch die anthropologischen Merkmale des hoch ambivalenten animal politicum, das das Leben im interrelationalen Geflecht ordnet und gestaltet, definiert und geschützt sehen will. Dieses Tier – so Foucault – ist zugleich ein solches, „in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht“.19 Auch dafür braucht es die Medizin.

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Bibliographie Bleker, Johanna (1994): „Der Mythos vom unpolitischen Arzt. Historische Überlegungen zum Unterschied zwischen Abstinenz und Toleranz“, in: Das Argument. Jahrbuch für Kritische Medizin 22, 164–186. Castro, Rodrigo de (1614): Medicus-politicus: Sive de officiis medico-politicis tractatus. Hamburg: Froben. Celikates, Robin (2008): „Communitas – Immunitas – Bíos: Roberto Espositos Politik der Gemeinschaft“, in: Böckelmann, Janine/Morgenroth, Claas (Hrsg.): Politik der Gemeinschaft. Zur Konstitution des Politischen in der Gegenwart. Bielefeld: transcript, 49– 67. Codronchi, Baptista (1597): Methodus testificandi. Frankfurt: Heredes Andreae Wecheli. Eckart, Wolfgang U. (1984): „‚Medicus Politicus‘ oder ‚Machiavellus Medicus‘? Wechselwirkungen von Ideal und Realität des Arzttypus im 17. Jahrhundert“, in: Medizinhistorisches Journal 19, 210–224. Eckart, Wolfgang U. (1992): „Anmerkungen zur ‚Medicus Politicus‘- und ‚Machiavellus Medicus‘-Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts“, in: Benzenhöfer, Udo/Kühlmann, Wilhelm (Hrsg.): Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit: Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 114–130. Eckart, Wolfgang U. (2014): Medizin und Krieg. Deutschland 1914–1924. Paderborn: Schöningh. Eckart, Wolfgang U./Gradmann, Christoph (Hrsg.) (1996): Die Medizin und der Erste Weltkrieg. Pfaffenweiler: Centaurus (= Neuere Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, 3). Eckart, Wolfgang U./Jütte, Robert (22014): Medizingeschichte. Eine Einführung. Köln/Weimar/ Wien: Böhlau. Esposito, Roberto (2004a): Immunitas. Schutz und Negation des Lebens. Übers. von Sabine Schulz. Berlin: Diaphanes (= TransPositionen, 11). Esposito, Roberto (2004b): Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft. Übers. von Francesca Raimondi und Sabine Schulz. Berlin: Diaphanes (= TransPositionen, 14). Foucault, Michel (1977): Sexualität und Wahrheit. Bd. 1. Der Wille zum Wissen. Übers. von Ulrich Raulff u. Walter Seitter. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität. 2 Bde. Hrsg. von Michel Sennelart, übers. von Claudia Brede-Konersmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Gadebusch Bondio, Mariacarla (2018): „Der Arzt, der Staat und die fragile Natur der Bürger. Oder: der „souveräne Mediziner“ als vormodernes Ideal“, in: Kellner, Beate/Höfele, Andreas: Natur in politischen Ordnungsentwürfen. München: Fink Verlag, 185–215. Latour, Bruno (2007): Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Übers. von Heinz Jatho. Zürich/Berlin: Diaphanes. Virchow, Rudolf (1992): „Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende TyphusEpidemie“, in: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 4, Abt. I Medizin. Texte zur wissenschaftlichen Medizin aus den Jahren 1846–1850. Hrsg. von Christian Andree. Bern: Verlag Peter Lang, 357–482.

19 Foucault 1977, 171.

Christian Kaiser

Lukrez in Fracastoros Syphilis (1530) Häresie, politische Dekadenz und natürliche Regulation

1 Einleitung Das Lehrgedicht Syphilis sive De morbo gallico, das der Veroneser Arzt und Philosoph Girolamo Fracastoro (ca. 1477–1553) in den zwanziger Jahren des 15. Jahrhunderts in lateinischen Versen verfasste und das 1530 zum ersten Mal gedruckt wurde, galt schon den Zeitgenossen als poetisches Meisterwerk. Es übte in mehrfacher Hinsicht eine beträchtliche Nachwirkung aus, wie nicht zuletzt die zahlreichen Editionen und Übersetzungen belegen.1 In der modernen Forschung stehen vor allem zwei Aspekte im Vordergrund, nämlich a) die von Fracastoro explizierte Theorie der Ätiologie der Syphilis durch Ansteckung („contagio“), die über „Krankheitssamen“ („semina morbi“) erfolge, sowie b) die metrische Form und sprachliche Ausgestaltung des Gedichts. Beide Gesichtspunkte stehen in enger Verbindung mit Fracastoros ebenso intensiver wie zur damaligen Zeit innovativer Rezeption des lateinischen Poems De rerum natura des antiken Dichters Lukrez (1. Jh. v. Chr.). Dies ist denn auch das in jüngeren wissenschafts- und medizinhistorischen Arbeiten am meisten beachtete Charakteristikum, gilt der Veroneser damit doch als einer der ersten Wissenschaftler, die sich ernsthaft der Lukrezschen Philosophie geöffnet und diese konstruktiv aufgenommen haben. Im vorliegenden Beitrag soll gezeigt werden, dass Fracastoro zwar einerseits – wie hinlänglich bekannt – Interesse an einer Integration der Theoreme des Lukrez zeigt, sich aber andererseits zugleich in seinem Syphilus-Mythos in höchst kritischer Weise mit ihm und der philosophischen Tradition, für die er spricht, nämlich die epikureische Weltsicht, auseinandersetzt, was bisher kaum beachtet worden ist. Die Grundlage für die Argumentation bietet eine in der gelehrten Diskussion zum Werk Syphilis bisher weitestgehend ausgebliebene historische Kontextualisierung des Stellenwerts, den das epikureische Denken in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts innehatte. Damit soll die in der Forschung prominent vertretene Einseitigkeit, die eine durchweg positive Aneignung lukrezianischer Begriffe und damit auch Philosopheme durch Fracasto1 Zur Editions- und Übersetzungsgeschichte immer noch grundlegend ist die Studie von Baumgartner/Fulton 1935, 35–123. https://doi.org/10.1515/9783110612349-002

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ro behauptet, erheblich relativiert werden. Vielmehr erweist dieser sich – so die These – als konservativer Vertreter der tradierten Einsichten hinsichtlich des göttlich autorisierten Gefüges von Krankheit und Heilung innerhalb der wohlgesetzen natürlichen Ordnung. Am Ende erschließt der Mediziner Fracastoro durch sein Lehrgedicht den Ärzten – zumindest den philosophisch und theologisch gebildeten wie ihm selbst – gerade in Zeiten von Epidemien wie der Syphilis ein Aufgabenspektrum, das über die bloße Behandlung einzelner Patienten hinausgeht und den größeren Zusammenhang des sozial-politischen Lebens im Blick hat. Fracastoro äußert sich mit seinem Gedicht und den darin enthaltenen Mythen – über die im Folgenden ausführlich zu sprechen sein wird – zu einer Seuche, die zu seiner Zeit als eine von mehreren Begleiterscheinungen einer allgemeinen Krise wahrgenommen wurde. Sie wurde von den Chronisten 1495/96 das erste Mal in Italien beschrieben, als gleichzeitig Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Erdbeben sowie Pestausbrüche, Hungersnöte und die Folgen der 1494 erfolgten Invasion durch die französischen Truppen unter König Charles VIII. das Land heimsuchten. Den letzteren wurde die Verbreitung der Krankheit unter der italienischen Bevölkerung angelastet, woraus sich der am häufigsten – auch von Fracastoro – gebrauchte Ausdruck Morbus gallicus bzw. Mal francese (französische Krankheit) ableitet. Die zeitgenössischen Medizingelehrten und Chronisten waren sich uneins in der Frage, wo der Ursprung dieser Seuche gelegen habe: Die Mehrheit hielt sie für eine ganz neue Krankheit, die die Seefahrer des Columbus aus der Neuen Welt mitgebracht hatten. Andere hingegen bekräftigten, es handele sich um eine Seuche (pestis), die schon die ärztlichen und historiographischen Schriftsteller der Antike gekannt hätten. Auch darüber, ob sie bei verschiedenen Generationen unterschiedlich stark ausgeprägt sei, herrschte eine rege Diskussion.2 Weitgehende Einigkeit bestand hingegen bezüglich der Erstursache der Krankheit, die nicht nur von Theologen und Klerikern, sondern auch von Ärzten und Laien auf den Willen Gottes zurückgeführt wurde. Die Seuche wurde als Strafe für ein kollektives 2 Zu den historischen Hintergründen und diversen Quellen vgl. Quétel 1990, 9–72; Arrizabalaga/Henderson/French 1997, 20–25; Tognotti 2009, 99–105. Die Bedeutung der Verschriftlichung der Krankheitserfahrung als Bindeglied zwischen Literatur und Medizin wird für die Zeitspanne der ersten Jahrzehnte nach dem Auftreten der neuen Seuche erörtert von Gadebusch Bondio 2011, 135–139. Unbrauchbar ist hingegen Oriel 1994, der sich zur Darstellung der Anfangszeiten der Syphilis in Europa nie auf eigenes Quellenstudium, sondern ausschließlich auf einige zur Zeit der Abfassung seiner Studie bereits längst überholte Darstellungen stützt, was dazu führt, dass er neben einigen inhaltlichen Fehlern zu den Werken Fracastoros nur allgemeine und platte Überzeichnungen dessen, was er für die Renaissance hält, zum Besten gibt.

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Fehlverhalten betrachtet; dieses wiederum wurde bereits in den ersten Jahrzehnten nach dem erstmaligen Auftreten regelmäßig, wenn auch nicht immer, mit einem nicht den gesellschaftlichen Normen entsprechenden Sexualleben in Verbindung gebracht.3 Weitere Alternativen, die zusätzlich zu Gottes strafender Hand als Erklärung der Ursachen der neuen Krankheit verantwortlich gemacht wurden, waren gewisse Planetenkonstellationen (bevorzugt die Konjunktionen von Saturn und Mars bzw. von Jupiter und Mars) sowie die schon seit der Antike dominierende Theorie des „Miasma“, d. h. der Seuchenentstehung durch eine schädliche Materie, die aus Fäulnisprozessen des Wassers und der Luft hervorgehe.4 In diesem Kontext positioniert sich Fracastoro relativ klar: Für ihn handelt es sich bei Morbus gallicus um ein Phänomen, das ausschließlich die Menschennatur betreffe, würden die Tiere doch nicht von ihr befallen (Syph. I 297– 302).5 Diese genuin menschliche „Pest“ („pestis“; Syph. I 17 passim) sei weltumspannend verbreitet, denn zwar sei sie eine in der Alten Welt „ungewohnte Krankheit“ („morbum insuetum“; Syph. I 1–2), nichtsdestotrotz beschränke sich ihre Virulenz nicht auf die aktuellen Ausbrüche. Vielmehr würden die „Samen der Krankheit“ im Laufe der ewig fließenden Zeit immer wieder für mehrere Jahrhunderte in der Versenkung schlummern und dem Vergessen der Nachgeborenen anheimfalllen, bis sie wieder einmal hervorbrächen, verursacht durch bestimmte Konstellationen der Sterne (vgl. Syph. I 88–89, 100–108, 182–185). Erneut erhoben, verbreiteten sich die „Krankheitssamen“ über die alle Länder erfüllende und die menschlichen Körper durchdringene Luft, so dass ihr epidemisches Auftreten einsichtig werde (vgl. Syph. I 119–126). Das zentrale Element dieses Erklärungsansatzes sind die lukrezianischen „semina“, deren Bedeutung für Fracastoros Syphilis folglich zurecht immer wieder hervorgehoben wurde.

3 Vgl. Schleiner 1994, 389–390, 397–398; Arrizabalaga/Henderson/French 1997, 38–55. Dieser Aspekt spielt bei Fracastoro allerdings keine besondere Rolle. 4 Vgl. Arrizabalaga/Henderson/French 1997, 56–87. 5 Fracastoros Syphilis wird im Folgenden zitiert nach der kritischen Edition von Eatough 1984; hier Syphilis I 297–302: „Quae, sicut desueta, ita mira erupit in auras. / Illa quidem non muta maris, turbamque natantum, / Non volucres, non bruta altis errantia sylvis, / Non armenta boum, pecudesve, armentave equorum / Infecit, sed mente ingens ex omnibus unum / Humanum genus, et nostros est pasta sub artus.“ Die deutsche Übersetzung der Verse aus der Syphilis, die hier und im Folgenden gelegentlich zusätzlich angeführt werden, stammen von Georg Wöhrle: Girolamo Fracastoro, Syphilis, hrsg. von Wöhrle 1993; hier S. 41: „Sie brach in die Luft aus, eine Krankheit, so wunderbar wie ungewohnt. Sie befiel nicht die stummen Tiere des Meeres, und die Schar der Schwimmer, nicht die Vögel, nicht die stumpfen, in den tiefen Wäldern irrenden Tiere, nicht die Herden der Rinder, das Kleinvieh oder die Koppeln der Pferde, sondern als einziges von allen das durch seinen Verstand starke Geschlecht der Menschen: in unseren Gliedern weidete sie und nährt sie sich.“

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Was in den Studien über das Lehrgedicht allerdings regelmäßig vernachlässigt wird, ist die Tatsache, dass die Schrift auch eine politische Dimension enthält. Sie führt im letzten ihrer drei Bücher den Mythos von Syphilus aus. Dieser korrumpiert aufgrund falschen Denkens und Handelns die politische Ordnung in seinem Land und untergräbt die Verehrung des Göttlichen. Die Krankheit erwächst ursächlich aus diesem Vergehen der Umkehrung der religiösen Werte und sozialen Konventionen. Zugleich jedoch wird eine Gesundung und damit eine Rückkehr zur alten Ordnung eröffnet, indem dieselbe göttliche Macht, die das Verderben geschickt hatte, ein natürliches Heilmittel dagegen hervorbringt. Der Syphilus-Mythos schildert damit anhand der Erzählung von Entstehung und Therapie des Morbus gallicus eine Abfolge von Häresie, Dekadenz und anschließender geläuterter, Heilung bewirkender Rückkehr in den gerechten Kosmos, in dem die Menschen – Bauern, Hirten und Könige – und der höchste Gott, aber auch die Naturkräfte ihre angemessenen Plätze einnehmen. Das Fehlverhalten jedoch, dessen sich Syphilus und sein König Alcithous als Ausgangspunkt der unheilvollen Ereignisse schuldig gemacht hatten, wird von ihnen nicht einfach nur begangen, sondern explizit mit philosophischen Argumenten plausibilisiert, die zu diesem Zeitpunkt bereits eine lange Vorgeschichte haben – und wiederum aufs Engste mit Lukrez verknüpft sind.

2 Fracastoros „semina morbi“ Anders als noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird Fracastoro von der heutigen wissenschafts- und medizingeschichtlichen Forschung nicht mehr als Vorläufer und Wegbereiter der modernen Bakteriologie angesehen.6 Allerdings dominiert in den jüngeren Studien eine ähnliche Tendenz, Fracastoro als Pionier seines Faches darzustellen, und zwar hauptsätzlich deshalb, weil er erst durch seine unvoreingenommene Rezeption des lukrezianischen Lehrgedichts seine Kontagienlehre habe entwickeln können. Bemerkenswerterweise gilt offenkundig einigen Historikerinnen und Historikern der Rückgriff auf das antikrömische Poem De natura rerum, das die epikureische Philosophie – und mit ihr einige dem modernen Menschen sehr vertraut erscheinende Theoreme wie etwa die Atomlehre oder die Götterkritik – am ausführlichsten dargelegt hatte, als Zeichen des wissenschaftlichen Fortschritts. Denn zu Fracastoros Zeiten sei ein solcher Rückbezug alles andere als selbstverständlich gewesen, herrschten doch Paradigmen wie die Humoralpathologie, die Lehre von der Verbreitung 6 Vgl. dazu die entsprechenden Einschätzungen in Nutton 1983, 22–23; Eckart 2009, 113.

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von Seuchen über korrumpierte Luft (Miasmentheorie) und ihrer Verursachung durch Sternenkonstellationen oder direkt auf Gottes Anweisung vor. Die von Lukrez angebotene materialistische, d. h. anti-theistische Deutung von Krankheit und seine Theorie der die Welt konstituierenden kleinsten Teilchen, eben der Atome, seien nach langen Jahrhunderten mittelalterlicher Ignoranz gegenüber solchen Denkansätzen durch Fracastoros Leistung wiederbelebt worden.7 Im Raum steht nicht zuletzt immer wieder die Annahme, Fracastoro habe sich auch in der poetischen Darstellung an Lukrez orientiert.8 Demgegenüber gibt es auch Stimmen, die bezweifeln, dass Fracastoro mehr als einige Termini von Lukrez übernommen habe; sie betrachten die Werke Vergils und Catulls als viel bedeutender für Inhalt und Form der Syphilis.9 So übernehme etwa die Erzählung der Seefahrt des Columbus im III. Buch, in die der Syphilus-Mythos als Herkunftslegende (aition) eingebettet ist, den Platz und die Funktion des finalen Mythos in Vergils Georgica.10 Zudem hatte schon Vivian Nutton in seiner ebenso kenntis- wie materialreichen Studie durch akribische medizinhistorische und ideengeschichtliche Arbeit gezeigt, dass der Begriff des „semen/σπέρμα“ bereits viele Jahrhunderte vor Fracastoro etabliert und in der medizinischen Fachliteratur diskutiert worden war.11 Folgerichtig nimmt Fracastoro für sich selbst gar nicht in Anspruch, etwas Neues, Originelles oder gar Re7 Am eindrücklichsten wird dieser Deutungsansatz vertreten von Marco Beretta, der in Fracastoros Übernahme der lukrezianischen „semina“ eine historische Pionierleistung und bedeutende Innovation sieht; vgl. Beretta 2003, 136, 149. Seine doch ziemlich einseitige Interpretation bewerkstelligt Beretta aber vor allem dadurch, dass er den Hintergrund der alternativen antiken Quellen – dazu weiter unten mehr – und den Kontext der mittelalterlichen Ideengeschichte, die für ihn lediglich „the medieval void which had separated the golden age of the classics from the Renaissance world“ (ebd., 150) darstellt, weitgehend ausblendet. Im vorliegenden Beitrag soll demgegenüber anhand einer historisch genaueren Einordnung der Lukrezrezeption Fracastoros eine solche Isolierung wissenschaftlich innovativer Gedanken und die damit einhergehende Verklärung zumindest als relativierungsbedürftig erscheinen lassen, steht Fracastoro doch mit beiden Beinen fest in der Tradition des Mittelalters, wie im Folgenden gezeigt werden soll. An Berettas Interpretation anschließend vertritt Maurette die These, Fracastoro habe von Lukrez vor allem dessen Konzept der Rückführung aller Sinne auf die Taktilität übernommen, um die Lehre von der direkten Ansteckung zu entwickeln; vgl. Maurette 2014 (mit einer sehr guten Aufarbeitung der neueren Forschungsliteratur zum Thema der Rezeption des lukrezianischen Werks durch Fracastoro). Dieser Aspekt spielt im vorliegenden Zusammenhang allerdings keine Rolle und kann außer Betracht bleiben. 8 Vgl. z. B. Perfetti 2002, 271. 9 So z. B. Cairns 1994, hier besonders 247 und 261. Vgl. dazu auch die eingehende Quellenanalyse des Prooemiums der Syphilis bei Filippetti 2009, 327–338, die Cairns’ Einschätzung zumindest indirekt bestätigt. 10 Vgl. Hofmann 1994, 428. 11 Vgl. Nutton 1983.

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volutionäres eingeführt zu haben.12 Allerdings unterlässt er es gleichzeitig, seine Quellen deutlich zu benennen, so dass es nicht leicht fällt, eindeutige Rezeptionslinien nachzuzeichnen.13 Um hier nur den wichtigsten Vorläufer zu nennen: Das Konzept der „semina“ war als Teil eines Gedankengebäudes, vielleicht auch als bloße Metapher, während einer bestimmten, wenn auch kurzen Phase im Schaffen des für die mittelalterliche und frühneuzeitliche Medizin höchst autoritativen Arztes und Philosophen Galen (2. Jh. n. Chr.) aufgetaucht, darunter in seinen Schriften De causis procatarcticis und De differentiis febrium sowie in seinem Kommentar zum I. Buch der hippokratischen Epidemien. Allerdings werden die „Samen“ als Krankheitsverursacher hier in einem – verglichen mit dem Galenschen Gesamtwerk – sehr winzigen Ausschnitt besprochen, nie exakt und eindeutig definiert, außerdem bilden sie darüber hinaus keinen beachtenswerten Teil seiner Lehre.14 Wo sie als ätiologischer Faktor benannt werden, stellen sie niemals die alleinige Ursache dar, vielmehr entscheiden stets auch andere Aspekte darüber, ob die Krankheit tatsächlich zum Ausbruch kommt, hauptsächlich das individuelle Säftegleichgewicht des Patienten und damit dessen Rezeptivität bzw. Widerstandskraft gegenüber den von außen einwirkenden „semina“.15 Kein Wunder also, dass sich moderne Fracastoro-Interpreten lieber an Lukrez als Quelle für die Syphilis halten, spielen die „semina“ hier doch eine im Vergleich zu Galen bedeutendere Rolle; sie werden in De rerum natura häufig erwähnt und beschrieben.16 So stehen auch im VI. Buch „semina“ im Mittelpunkt, als die Ursachen und die Wirkung der nicht näher namentlich bezeichneten Krankheit („morbus“) und Verseuchung („pestilitas“) ausführlich dargestellt werden. Bei Lukrez besteht die ganze Welt aus „Samen“ aller Art; sie konstituieren alle existenten Dinge und bilden ebenso die guten und nützlichen wie die schlechten und schädlichen Entitäten. Es ist umstritten, inwiefern die „semina“ neben den ebenfalls häufig gebrauchten Ausdrücken „primordia“ und „corpora prima“ das lukrezianische Äquivalent zu den griechischen „ἄτομοι“ als den primären, körperlichen Bestandteilen aller Dinge („semina rerum“; De rer. nat. I 176) sind, worauf gleich noch einzugehen sein wird. Gemäß De rerum natura gibt es jedenfalls spezifische „Samen“ etwa der Glut, des Feuers, der Wolken, des Wassers und des Dampfes (vgl. De rer. nat. VI 181–182, 201, 205– 206, 444, 497, 507, 672, 841–842). Nur spricht Lukrez nicht von „Samen der 12 Vgl. Singer/Singer 1917, 30; Nutton 1983, 23. 13 Vgl. Nutton 1983, 23. 14 Vgl. die ausführliche Besprechung der einschlägigen Stellen in Galens Werk bei Nutton 1983, 3–8. 15 Vgl. Nutton 1983, 6, 15. 16 Im Folgenden wird aus der Ausgabe Lukrez, De rerum natura, hrsg. von Bailey 1950, zitiert.

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Krankheit“, und das ist konsequent, schließlich würde das ja bedeuten, dass der „morbus“ eine eigene Wesenheit darstellte, die selbst aus Atomen bestünde. Wenn also in der Forschungsliteratur immer wieder behauptet wird, Fracastoro übernehme seine „semina morbi“ von Lukrez, dann ist das schlichtweg falsch, zumindest was den Wortlaut betrifft. Der Ausdruck „semina morbi“ taucht vielmehr in Ovids Remedia amoris 81 auf,17 allerdings ohne irgendeine naturphilosophische Fundierung, und von dort wird ihn der Veroneser wahrscheinlich auch bezogen haben. Aber auch wenn es keine spezifischen „Samen“ einer Entität namens „Krankheit“ bei Lukrez gibt, so sind es dennoch kleine Körperchen, die den Umschlag von einem gesunden zu einem kranken Zustand verursachen. Es sind die „Samen der vielen Dinge“ („multarum semina rerum“), die manchmal wohltuend und lebensnotwendig, manchmal aber eben auch krankmachend und tödlich sind. Die Seuche, die im Buch VI (1090–1286) in offener Imitation der Beschreibung der Athenischen „Pest“ bei Thukydides dargestellt wird, wird verursacht von solchen „Samen“, die durch Veränderung ihres Charakters todbringend sind, und zwar sowohl für Menschen als auch für Tiere. Sie steigen entweder aus der Erde auf, die aufgrund übermäßiger Regenfälle oder Sonnenwärme verfault, oder kommen von außerhalb wie Wolken und Nebel von oben durch den Himmel. Dann fliegen sie ziellos umher und verbinden sich zufällig, woraufhin auch die Luft krankheitserregend wird. Diese zersetzende Luft wiederum verursacht die Krankheit des Einzelnen entweder unmittelbar durch Einatmen oder indirekt dadurch, dass sie das Wasser und die Nahrungsmittel vergiftet.18 Besonders bedrohlich ist in diesem Zusammenhang die stete Bewegung des Himmels, wodurch nun die feindliche Luft wie eine Schlange in Landstriche zu kriechen beginnt („aer inimicus serpere coepit“; VI 1120), deren Bewohner nicht an dieses Klima gewöhnt sind und der Seuche aufgrund der „Neuartigkeit des Himmels“ („caeli novitate“; VI 1103) in Scharen zum Opfer fallen. Die Ätiologie der Seuche in Fracastoros Poem weist bedeutende Parallelen zu dieser Darstellung auf. Über einige Anklänge, die die lukrezianische Sprache imitieren,19 hinaus verwendet der Veroneser Arzt neben den „semina“ manchmal ebenfalls den Ausdruck „primordia“, um die Grundelemente der Krankheit zu bezeichnen (Syph. I 83, 93). Es sind auch hier die Gestirne, die überall heftige Bewegungen der Elemente verursachen, die u. a. zu starken Regenfällen und 17 Vgl. dazu Houghton 2013, 448, der in Ovids Begriffsschöpfung sowohl eine Anlehnung an die Lukrezschen „semina ardoris“ als auch eine in den Remedia häufig wiederzufindende anagrammatische Anspielung auf „Amor“ erkennt („seminA MORbi“). 18 Zu dieser Beschreibung und ihrer möglichen Quelle in der Literatur der antiken medizinischen Schule der Methodiker vgl. Nutton 1983, 10–13. 19 Die sprachlichen Übereinstimmungen beleuchtet Filippetti 2009, 328–330.

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Überschwemmungen bzw. zu großer Hitze und Trockenheit führen (Syph. I 146– 166). Besonders die Zusammenkunft von Jupiter, Mars und Saturn begleitet den Ausbruch der jüngsten Seuche (Syph. I 223–237, 413–415), während die Fäulnis, die entweder aus dem Meer und aus den Dämpfen der Erde stammt oder als „anderes vom hohen Äther herabkam“ („aliud sive aethere ab alto demissum“; Syph. I 254–255), durch die Luft weithin verbreitet wird (Syph. I 202– 215, 247– 255). Die auf diese Weise weitergetragenen „verdorbenen Samen“ („vitiata semina“; Syph. I 267) sind untereinander differenziert, denn verschiedene Krankheiten stammen von unterschiedlichen Samen (Syph. I 283–285). Aber auch wenn die Natur und die Art der Ansteckung so verschieden seien und es viele Arten von Samen gebe, so sei deren gemeinsamer Ursprung doch stets im Himmel („Ergo contagum quoniam natura genusque / Tam varium est, et multa modis sunt semina miris, / Contemplator et hanc, cujus coelestis origo est“; Syph. I 294–296). All diese Prozesse wurden wie gerade erwähnt von Lukrez ähnlich beschrieben, z. T. mit gleichen oder ähnlichen Worten. Der Niederschlag lukrezianischer Erzählweise und Terminologie in der Syphilis ist also nicht zu bestreiten, auch wenn er wie gesagt nicht ganz so weitreichend ist wie häufig kolportiert wird. So kommt etwa der bei Fracastoro zentrale Begriff der Ansteckung bzw. Berührung („contages“ bzw. „contagia“; z. B. Syph. I 42, 56, 130, 202, 249, 253, 294, 339) bei Lukrez nur en passant vor („contagia morbi“); er bezeichnet damit die Beobachtung, dass diejenigen, die die Leichen berührten, anschließend selbst an der Seuche erkrankt waren (De rer. nat. VI 1235–1237), ohne dass er den Vorgang der Ansteckung selbst erklärt hätte.20 Der tatsächliche Einfluss von De rerum natura wird aber noch deutlich schwächer, wenn mitberücksichtigt wird, dass der Hintergrund der kongruierenden allgemeinen, vom naturphilosophischen Konzept der Elemente und Säfte ausgehenden Verursachungslehre – die ja auch bei Lukrez durchscheint und von diesem wohl bewusst integriert wurde, um sie mit dem streng korpuskularen Ansatz der Atomtheorie zu harmonisieren –21 mit dem zentralen Faktor der korrumpierten Luft nicht gerade ungewöhnlich ist. Doch neben begrifflichen Anleihen geht die dahinterstehende epikureische, materialistisch-hedonistische Weltsicht wenig bis gar nicht in die Darstellung ein. 20 Im III. Buch gebraucht Lukrez ebenfalls den Ausdruck „contagia morbi“, um damit auszudrücken, dass die Krankheit nicht nur den Leib, sondern auch den Geist durchdringe und diesen zersetze; De rer. nat. III 470–471: „quare animum quoque dissolui fateare necessest, / quandoquidem penetrant in eum contagia morbi“. 21 Fabio Tutrone bringt überzeugende Argumente für seine These vor, nach der Lukrez einen physiologischen Eklektizismus gepflegt habe, der die Naturphilosophie der separaten, unveränderlichen Atome mit der Annahme von der qualitativen Veränderbarkeit und Kontinuität der Materie vereinbaren wollte; vgl. Tutrone 2012, 83–95.

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Auch die vermeintliche Übereinstimmung der Begrifflichkeiten bereitet Schwierigkeiten: Die „semina“ bergen bei Fracastoro ja in der Tat etwas Lebendiges und Spezifisches in sich, das unter den entsprechenden Bedingungen zu Wachstum und Reife gelangt, selbst wenn Jahrhunderte der Latenz vergehen sollten – die Krankheit beginnt in den „Samen“ und entsteht wie ein selbständiges Lebewesen aus ihnen. Nach Ansicht einiger Interpreten sind sie aber gerade deswegen kein Äquivalent zu den Atomen des Lukrez, die selbst bloße körperliche Bestandteile seien, die erst in der Zusammensetzung Gebilde generierten, aber keine wirklichen Samen seien, aus denen eigenes, spezifisches Leben entspringe.22 Im Gegensatz dazu argumentieren andere, dass auch die lukrezianischen „semina“ keineswegs als Korpuskeln im Sinne der ‚mechanistischen‘ Atomtheorie zu verstehen seien, sondern eine ‚vitalistische‘ Komponente als Zugeständnis an die traditionelle Humoralbiologie aufwiesen.23 Unbestritten ist allerdings, dass es andere Aspekte gibt, die Fracastoro von Lukrez trennen: So unterscheiden sich einige Theorien des Veronesers signifikant von denen des römischen Dichterphilosophen, z. B. hinsichtlich des göttlichen Einflusses auf die Krankheitsentstehung.24 Die medizinische Kunst wird ebenso unterschiedlich bewertet: Bei Lukrez steht sie der Seuche hilflos und in schweigender Angst gegenüber („mussabat tacito medicina timore“; De rer. nat. VI 1179),25 während bei Fracastoro die zeitgenössischen ärztlichen Therapien Heilung versprechen – darunter diätetische Maßnahmen wie Ausschwitzen durch sportliche Betätigung und Arbeit (Syph. II 90–107) sowie geeignete Ernährung (Syph. II 116–158), aber auch der Aderlass zur Ableitung des verdorbenen Blutes (Syph. II 165–173), Arzneimittel aus Pflanzen, die der Verwesung und Fäulnis entgegenwirken und die „bösen Samen“ und die „kriechende Pest töten“ („Semina inure mala, et serpentem interfice pestem“; Syph. II 244) sollen 22 Vgl. dazu die Ausführungen bei Roccasalva 2008, 42–45; Johnson/Wilson 2007, 132–133. Maurette hingegen hebt die Gemeinsamkeiten von Fracastoros Samen und Lukrez’ Atomen hervor, die in ihrer Unsichtbarkeit für menschliche Augen, dem Vorgang ihrer Verbindung und Bildung von zusammengesetzten Dingen sowie der großen Varianz ihrer Eigenschaften, die für die Vielfalt der Wesen und Phänomene veranwortlich sei, lägen; vgl. Maurette 2014, 319–320. 23 Diese Interpretation wird vertreten von Elena Nicoli, die sich zum einen auf den LukrezKommentar von Giovanni Battista Pio von 1511 beruft, der in eine ähnliche Richtung deutete, und zum anderen auf die Studien von Jackie Pigeaud und Fabio Tutrone, die Lukrez’ Eklektizismus thematisieren; vgl. Nicoli 2017, 119–122; s. a. oben, Anm. 21. 24 Diesen und andere Unterschiede in den jeweiligen Motiven der beiden Autoren betont Goddard 1993, 190–191; vgl. auch Roellenbleck 1975, 155, Fn. 101. 25 Zu dieser Stelle und der zugunsten der Hervorhebung der seelentherapeutischen Wirkkraft der epikureischen Philosophie wohl bewusst als Kontrast gestalteten Ohnmacht der Medizin bei Lukrez vgl. die Argumentation bei Phillips 1982, 233–235.

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(Syph. II 174–269), die Behandlung mit Quecksilber (argentum vivum), um die „semina pestis“ auszubrennen (Syph. II 270–279, 436–458), oder der nach einem speziellen Verfahren hergestellte Trank aus dem Guajakholz (Syph. III 35– 89). Gerade die beiden letztgenannten, das Quecksilber und der „heilige Baum“ („sancta arbos“; Syph. III 6), stellen ja als göttliche Gaben und barmherziger Ausgleich für das ebenso göttlich autorisierte menschliche Leiden eine essentielle Rolle für die Interpretation des Gesamtwerks dar. Wenn also einige Forscher – unabhängig von den gerade erwähnten Stellen in der Syphilis – nicht nur eine Differenz zwischen den Verwendungsweisen des Begriffs „semina“ ausgemacht, sondern Fracastoros Verständnis desselben mit Anleihen bei deutlich theologisch fokussierten Schriften der Kirchenväter und der Neuplatoniker erklärt haben,26 erscheint ihr Ansatz zumindest plausibel. Schließlich muss man mit Nutton konstatieren, dass es für einen auf die wirkungsvolle Heilpraxis bedachten Rezipienten etwa der Werke Galens und Lukrez’ keinen großen Unterschied machte, ob es wirklich die unsichtbaren „semina“ sind, die die Seuche verursachen, oder das „Miasma“, denn stets ist es im Endeffekt die pestbringende Luft, über die sich die Krankheit verbreitet. Die „semina“-Theorie hatte keinen alternativen Therapieansatz vorgebracht, der über die traditionelle Behandlung gemäß des Konzepts vom „Miasma“ hinausgegangen wäre, und blieb damit im medizinisch-praktischen Bereich ohne Nutzen.27 Es ist richtig festzuhalten, dass Fracastoro mit der Einführung der „semina“ einen grundsätzlich anderen ontologischen Status der Krankheit ins Feld geführt hatte. Nach dieser Theorie waren die Samen eine invasive Wesenheit,

26 Bereits Charles und Dorothea Singer hatten auf die „rationes seminales“ bei Augustinus und seinen mittelalterlichen Exegeten Bonaventura und Albertus Magnus aufmerksam gemacht und in Fracastoros Gebrauch der „semina“ eine Kombination unterschiedlicher Charakteristika erkannt, die teilweise von Lukrez, teilweise aus patristischen Schriften stammen sollten; vgl. Singer/Singer 1917, 30. Auf der anderen Seite wird die neuplatonische Interpretation der „seminaria“, der „virtus seminaria“ und der „rationes seminales“, die v. a. durch Marsilio Ficinos Kommentar zu Platons Symposion und dem dritten Buch seiner Schrift De vita vermittelt wurde, als potentieller Ideengeber für Fracastoro diskutiert; vgl. dazu Pennuto 2006, 64– 65; Hirai 2006, 246–249, 254–260. 27 Vgl. Nutton 1983, 14. Wenn Roellenbleck meint, Fracastoros später in De contagione ausgearbeitete Ansteckungstheorie sei in der Syphilis „jedoch erst angedeutet und noch überdeckt … von der alten Lehre, die die Krankheit aus einer Verderbnis der Luft herleitet“ (vgl. Roellenbleck 1975, 155–156), dann übersieht er, dass diese „alte Lehre“ in den Worten des „Samen“Theoretikers Lukrez ebenso hervorscheint, da ja die „semina“ erst durch den „aer inimicus“ in Menschen und Tiere dringen. Hintergrund dafür könnte ein physiologischer Eklektizismus des römischen Dichterphilosophen sein, auf den neuerdings wieder Tutrone hingewiesen hat (vgl. o., Anm. 21).

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die es zu zerstören galt, um die Gesundheit wieder herzustellen.28 Wenn man aber andererseits seine Lehre der Verursachung durch göttlichen Zorn und schädliche Sternenkonjunktion sowie die tatsächlich in Erwägung gezogenen Maßnahmen betrachtet, die Fracastoro wie gerade gesehen als praktische Therapie vorschlägt, so handelt es sich bei all diesen Elementen um bereits in der traditionellen Medizin etablierte Konzepte, Verfahren und Heilmittel.29 Die Wirkweise der letzteren wurde von ihm nun so erklärt, dass sie durch „Ausbrennen“ und ähnliches die „semina morbi“ vernichteten oder sie im Falle des Aderlasses aus dem Körper herausleiteten; in der Anwendung ergab sich jedoch keine Änderung. Diese Beobachtung der Indifferenz der jeweils dahinterstehenden Theorie für die Behandlungspraxis wird weiter unten noch von Bedeutung sein.

3 Lukrez – ein problematischer Autor Wie hinlänglich bekannt ist, brachte Poggio Bracciolini (1380–1459) im Jahre 1417 die während des Konzils von Konstanz erstellte Kopie eines Codex mit nach Florenz, der Lukrez’ De rerum natura beinhaltete. Dieser Akt gilt gemeinhin als Beginn der „Renaissance“ der Lukrez-Rezeption, denn obwohl einige wenige Handschriften auch im Mittelalter in Klöstern nördlich der Alpen zur Verfügung gestanden hatten, erwachte erst mit dem Rücktransfer des Textes nach Italien ein lebhaftes Interesse an diesem Werk, wenn auch wohl erst ab den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts.30 Zunächst für mehr als ein Jahrzehnt nur einem engeren Kreis um Niccolò Niccoli, dem Poggio die Handschrift zur Abschrift überlassen hatte, zugänglich, zirkulierte der Text danach mittels einer ganzen Reihe von neu kopierten Handschriften. Die Editio princeps in Brescia erfolgte 1471/73, etliche weitere Druckauflagen schlossen sich an.31 Im Jahr 1515 erschien eine von dem Dichter Andrea Navagero (1483–1529) besorgte Ausgabe 28 So resümieren Arrizabalaga/Henderson/French 1997, 251. 29 Dies hat auch Quétel beobachtet, allerdings meint er, dass in Fracastoros späterem Traktat De contagione demgegenüber in der Tat innovativere Gedanken enthalten seien (vgl. Quétel 1990, 53), was aber in vorliegendem Zusammenhang, in dem es um das Lehrgedicht geht, nicht von Belang ist. 30 Vgl. dazu überblicksmäßig Reeve 2007, 205–208. Die mittelalterlichen Testimonien zu De rerum natura, die sich vor allem der indirekten Überlieferung durch die Grammatiker Nonius Marcellus und Priscian verdanken, werden angeführt bei Solaro 2000, 93–122. 31 Ada Palmers einschlägige Studie zur Lukrezrezeption in der Renaissance bietet im Anhang A eine ausführliche Liste der aus der Renaissance stammenden Handschriften und im Anhang C eine Übersicht über die Druckausgaben (auch unvollständige) von De rerum natura aus dem 15. und 16. Jahrhundert; vgl. Palmer 2014, 243–247, 258–259.

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für die Venezianer Offizin von Aldo Pio Manuzio (1449–1515). Navagero war mit Fracastoro befreundet, und so liegt es nahe anzunehmen, dass Letzterer über die Arbeit seines Freundes mit dem lukrezianischen Werk bestens vertraut war.32 Lukrez galt allerdings schon seit vielen Jahrhunderten als ein höchst problematischer Autor. Aldo Manuzio selbst betont in seinem in der Edition abgedruckten Widmungsschreiben an Alberto Pio, den Prinzen von Carpi, noch einmal ausdrücklich die Schwierigkeit, die mit dem römischen Dichter verbunden sei: Vor Dir liegt nun also Lukrez, der Dichter und Philosoph, nach dem Urteil der Alten sicherlich einer der größten, allerdings auch voller Lügen, denn über Gott und die Schöpfung dachte er ganz anders als Platon und die anderen Vertreter der [platonischen] Akademie, da er ja der epikureischen Schule folgte. Deswegen gibt es einige, die meinen, er dürfe nicht gelesen werden von Christen, die den wahren Gott anbeten und verehren. Aber da ja die Wahrheit umso deutlicher und verehrungswürdiger erscheint, je mehr sie gesucht wird – wie es mit dem katholischen Glauben ist, den der gütigste und größte Gott Jesus Christus den Menschen predigte, solange er unter ihnen wirkte –, so sollen meiner Meinung nach auch Lukrez und diejenigen, die Lukrez ähnlich sind, gelesen werden, aber als die Täuscher und Lügner, die sie sicherlich sind.33

Manuzios Widmungsbrief war einer der meistgedruckten Paratexte zu Lukrez im 16. Jahrhundert.34 Sie spiegelt repräsentativ das Verhältnis der Leser des Mittelalters und der Renaissance zur epikureischen Philosophie wider. Epikurs Lehre war seit der Antike durchgehend – wenn auch während vieler Jahrhunderte fast nur über indirekte Vermittlung – dafür bekannt, dass sie die Lust als das höchste Gut und die ganze Welt aus kleinen Körpern, den sogenannten Atomen, bestehend betrachtete. Auch die menschliche Seele sei aus diesen Körperchen zusammengesetzt und würde mit dem Leib sterben. Gott hingegen würde 32 Gezogen wird diese Verbindungslinie u. a. von Singer/Singer 1917, 30; Pellegrini 1955, 14. 33 In: Lukrez, De rerum natura, hrsg. von Navagero 1515, Iv–IIr: „En igitur tibi Lucretius et poeta et philosophus quidem maximus uel antiquorum iudicio, sed plenus mendaciorum, nam multo aliter sentit de Deo, de creatione rerum, quam Plato, quam caeteri Academici, quippe qui Epicuream sectam secutus est. Quamobrem sunt qui ne legendum quidem illum censent Christianis hominibus, qui uerum Deum adorant, colunt, uenerantur. Sed quoniam ueritas, quanto magis inquiritur, tanto apparet illustrior et uenerabilior, qualis est fides catholica, quam IESUS Christus Deus Opt. Max. dum in humanis ageret, praedicauit hominibus, Lucretius et qui Lucretio sunt simillimi, legendi quidem mihi uidentur, sed ut falsi et mendaces, ut certe sunt.“ 34 Vgl. Palmer 2014, 205–206. Aldo Manuzio hatte bereits zu seiner ersten Lukrezausgabe von 1500 eine Widmung an Alberto Pio verfasst, in der er allerdings nicht den Nutzen für die Wahrheitssuche thematisierte, sondern als Grund, warum man das Werk lesen sollte, lediglich die Vortrefflichkeit und Gelehrtheit der Dichtung anführte (zitiert und diskutiert in Davidson 2016, 125; vgl. dazu auch Gambino Longo 2004, 29–32).

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sich nicht um die Belange der Menschen kümmern, denn dies würde seine Muße stören, so dass das Konzept einer göttlichen Vorsehung abzulehnen sei.35 Diese Lehrsätze sind dann auch die „mendacia“, auf die Manuzio anspielt. Natürlich könnte man hinter einer solchen „Warnung an den Leser“, die die diversen Herausgeber ihren Ausgaben des Lukrez-Textes regelmäßig beigegeben haben,36 eine Strategie der Dissimulation, d. h. ein nicht ernst gemeintes Zugeständnis an ‚offizielle‘ Moralvorstellungen vermuten,37 die mit der eigentlichen Absicht des Verfassers nicht übereinstimmt, schließlich geht es ihm ja letztlich darum, dass eben doch möglichst viele Leser sein Buch kaufen wollen. Doch richtig ist auch, dass man sich eine gebildete Leserschaft vorstellen darf, die trotz Festhalten an religiösen Überzeugungen durchaus in der Lage und willens war, heidnische Literatur, die ja im Grundsatz stets einen dem Christentum in geringerem oder größerem Maße widersprechenden Inhalt hatte, zu rezipieren und von dem Aufgenommenen selektiv Gebrauch zu machen.38 Lukrez und sein Meister Epikur wurden in diesem Sinne seit dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts zunehmend rezipiert, allerdings niemals vorbehaltlos akzeptiert. Vor Pierre Gassendis (1592–1655) Bemühungen um eine Assimilation des Epikureismus und des Skeptizismus mit der christlichen Theologie hatte es keine wirkliche Absicht gegeben, die atomistische Philosophie neu und fruchtbar zu denken.39 Das lukrezianische Werk wurde vor allem aufgrund der darin enthaltenen großen Bandbreite an Informationen über die Kultur der Antike gelesen, aber auch wegen seiner poetischen Qualität geschätzt und imitiert.40 Dazu kommt, dass im 15. Jahrhundert zunehmend säkularisierende Tendenzen in Literatur 35 Die Bedeutung und Bewertung der Tradition Epikurs und seines Denkens im lateinischen Mittelalter bis zum 15. Jahrhundert wird jetzt umfassend beleuchtet in Kaiser 2019, bes. Teil I. Dort wird auch die einschlägige Literatur zu diesem Forschungsgebiet eingehend diskutiert. 36 Vgl. Nicoli 2015, 232. 37 So etwa Prosperi 2007, 215. 38 Darauf weist Davidson hin, um die Hypothese der angeblichen Dissimulationsstrategien zu problematisieren, auch und gerade im vorliegenden Fall des Widmungsschreiben Manuzios; vgl. Davidson 2016, 125–126. 39 Vgl. dazu auch Palmer 2014, 4–5, 221. 40 Palmers eingehende Untersuchung der Annotationen in den humanistischen Handschriften lässt die Motive der Leser sichtbar werden: Bis auf Machiavelli, Adriani und Pomponio Leto hat sich demnach kaum ein Rezipient für die naturphilosophische, d. h. atomtheoretische Dimension des lukrezianischen Werkes interessiert. In deutlichem Vordergrund standen vielmehr philologische und sprachliche Aspekte, die das Verständnis der Antike und die Beherrschung des Lateinischen befördern helfen sollten. Daneben spielte die Frage nach dem glückseligen Leben eine wichtige Rolle, wobei jedoch diejenigen Aspekte Beachtung fanden, die einem synkretistischen Blick auf die antiken Philosophen Vorschub leisteten und einen Gleichklang der Weisen in Fragen der tugendhaften Lebensführung konstruieren halfen; vgl. Palmer 2014, 43– 96.

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und Malerei Einzug hielten, die immer wieder Spuren der Epikur- und Lukrezrezeption hinterließen,41 wenn auch stets in einem eklektizistischen Gemengelage verschiedenster antiker Quellen.42 In den historiographischen Nachzeichungen der Lukrezrezeption in der Renaissance wird immer wieder der Konflikt betont, der sich den christlichen Lesern geboten haben musste, wenn sie mit den materialistisch-hedonistischen Philosophemen des epikureischen Poeten konfrontiert wurden. Man versichert durchgehend, dass besonders die Institution Kirche das Werk verdammt habe. Herangezogen wird dabei regelmäßig der Beschluss der Kirchenkonzils von Florenz (Concilium Florentinum) aus dem Jahr 1517, der die Verwendung von „opera lasciva et impia“ zur Unterrichtung der Kinder untersagte, unter namentlicher Nennung des Beispiels des Lukrezschen Gedichts, das ja die Absicht habe, die Sterblichkeit der Seele zu demonstrieren.43 Demgegenüber warnt Nicholas S. Davidson davor, die Rolle dieses Buches bzw. dessen Konfliktpotenzial in den zeitgenössischen Diskursen überzubewerten. Zurecht weist er darauf hin, dass zum einen das Verbot von 1517 außerhalb der Jurisdiktionsgewalt des Florentiner Erzbischofs keine Wirkung haben konnte und dass zum anderen De rerum natura in seiner lateinischen Originalfassung nicht auf dem Index der verbotenen Bücher stand, ja während des gesamten Zeitraums des 15. und 16. Jahrhunderts nicht verdammt wurde, obwohl es zu der Zeit heftige gelehrte Auseinandersetzungen über die Frage nach der Unsterblichkeit der menschlichen Seele gegeben hatte. Wer auch immer materialistische Ansichten hatte und meinte, die Seele sterbe mit dem Tod und es gebe kein Jenseits, und sich deswegen angeklagt sah, musste nicht notwendig mit lukrezianischem oder epikureischem 41 Zum aktuellen Stand der Diskussion um den Einfluss des lukrezianischen Werkes auf Dichter wie Marullo, Pontano, Poliziano und Alamanni und auf Maler wie Botticelli vgl. Haskell 2007, 186– 189; Prosperi 2007, 219–223; Ricklin 2012, 171–179. 42 Alison Brown betont zwar, dass sich die italienischen Humanisten bei einer Vielzahl verschiedener Quellen bedient hätten und es meistens nicht eindeutig zu klären sei, ob sie tatsächlich Lukrez und Epikur gefolgt seien, ob ihre Sujets anderen Texten zu verdanken seien oder ob es sich nur um gerade aktuelle Themen gehandelt habe – z. B. die Entstehung der Welt aus Zufall, die Leugnung des Lebens nach dem Tod, die Überwindung der Furcht vor dem Tod, die Vorstellung einer allmächtigen Natur, die Evolution der menschlichen Zivilisation –, zu denen die beiden antiken Philosophen eben auch einschlägige Ideen geboten hatten. Nichtsdestotrotz stellt sie in ihrer Studie den Sachverhalt häufig so dar, als sei die Rezeption epikureischen Denkens weniger aus einem kulturellen Umschwung heraus ermöglicht worden, sondern als sei die Lektüre selbst die Ursache dafür gewesen, dass es zu größerer Religionsferne in Literatur, Kunst und Wissenschaften gekommen sei; vgl. Brown 2001, insbes. 56–61; ganz ähnlich auch in Brown 2010, 88–109. 43 Zitiert und diskutiert wird dieses Verbot u. a. in Brown 2001, 12–13; Palmer 2014, 37 und 274, Fn. 107.

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Gedankengut hantieren, sondern fand auch in gewissen aristotelischen Interpretationstraditionen genügend Anregung, selbständig über dieses Problem nachzudenken.44 Es lässt sich also festhalten, dass das Werk des Lukrez zwar ein großes weltanschauliches Problem darstellte, der Autor aber nichtsdestotrotz als hervorragender Schriftsteller der Antike einen festen und sicheren Platz im Kulturkosmos innehatte, in dem sich Fracastoro bewegte. Er wandte sich also an ein bestens etabliertes Vorbild, das sowohl Licht- als auch Schattenseiten zeigte. Hinzu kommt, dass die Rolle der „semina rerum“ im lukrezianischen Konzept der Seuchenentstehung oder seine anderen Theorien der Kultur, aus deren Reichtum Fracastoro so freimütig schöpfte, schon sehr viel länger bekannt und einsichtig war. Viel zu häufig wird das Phänomen der indirekten Überlieferung in der heutigen Forschung stiefmütterlich behandelt, wohl aufgrund eines philologischen Ressentiments, das nur den Blick „ad fontes“ als reinen und wahren Weg anerkennen möchte. Betrachtet man aber die zahlreichen Fragmente und Paraphrasen, die dem Mittelalter Wissen über die epikureische Philosophie vermittelten – besonders in den weit verbreiteten Schriften von Cicero, Seneca und einer Reihe von höchst autoritativen kirchlichen Schriftstellern –, genauer und unvoreingenommen, so stellt man fest, dass die zentralen Aussagen und Lehrsätze durchgehend bekannt und meistens auch ihre philosophischen Begründungen nachvollziehbar waren, lange bevor der Text des Lukrez oder das X. Buch der Philosophenviten des Diogenes Laertios im Wortlaut bzw. in lateinischer Übersetzung vorlagen.45 Die von Fracastoro aufmerksam rezipierte lukrezianische Darstellung der Entstehung und Verbreitung der Seuche hatte auch einen prominenten Platz im Liber de natura rerum des vielgelesenen Isidor von Sevilla (ca. 560–636) eingenommen, und zwar im einschlägigen Kapitel De pestilentia.46 Von großer Bedeutung erscheint der Kontext innerhalb dieses Kapitels: Die Skizzierung der Lukrezschen Theorie bildet dort erst den zweiten 44 Vgl. Davidson 2016, 127–128, 132–133. 45 Eine ausführliche Präsentation und Diskussion der mittelalterlichen Quellen zu den Epikureern findet sich in Kaiser 2019, Teil I. Die unverzichtbare Grundlage für die Erforschung der indirekten Überlieferung ist und bleibt Hermann Useners Testimoniensammlung; vgl. Usener 1966. 46 Isidor von Sevilla, De natura rerum XXXIX,2, hrsg. von Becker 1967, 67–68: „Item alii aiunt pestifera semina rerum multa ferri in aerem adque suspendi et in extremas caeli partes aut a uentis aut a nubibus transportari. Deinde quaqua feruntur aut cadunt per loca et germina cuncta ad animalium necem corrumpunt, aut suspensa manent in aere, et cum spirantes trahimus auras, illa quoque in corpus pariter absorbemus, adque inde languescens morbo corpus aut ulceribus tetris aut percussione subita exanimatur. Sicut enim caeli nouitate uel aquarum temptari aduenientium corpora consueuerunt adeo ut morbum concipiant, ita etiam aer corruptus ex aliis caeli partibus ueniens subita clade corpus corrumpit adque repente uitam extin-

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Teil, während der erste Teil die Entstehung der Pest – eine Krankheit, die sich weithin ausstrecke und beinahe alle befalle, die mit ihr in Berührung kämen – auf menschliche Sünden und die Verdorbenheit der Länder zurückführt. Daran würden sich andere Ursachen anschließen, etwa Extreme aufgrund Trockenheit oder Hitze oder Überschwemmungen, so dass die natürliche Ordnung der Elemente gestört werde, die Luft verderbe, woraufhin eine pestbringende Umgebung entstehe, die zum Schaden für Menschen und Tiere führe.47 Was Isidor allerdings noch als alternative Erklärungsmodelle nebeneinander stellte – einerseits „nostri dixerunt“, andererseits „alii aiunt“ – integriert Fracastoro in seiner Dichtung zu einem Gesamtentwurf, wie weiter unten noch zu zeigen sein wird.

4 Epikureische Häretiker im Syphilus-Mythos Das dritte Buch der Syphilis versetzt die Erzählung in die Neue Welt, die bei Fracastoro eigentlich eine fiktionale Antike repräsentiert. In deutlicher Anlehnung an das Modell der Aeneis Vergils stellt die Fahrt des Columbus die Rahmenhandlung dar. Die Bewohner des neu entdeckten, dennoch aber alten Landes sind Abkömmlinge des untergegangenen Atlantis; die Darstellung speist sich u. a. aus den Beschreibungen der entlegenen Sageninseln und -länder bei Homer, Vergil, Lukrez, Ovid, Platon und dem Buch der Könige des Alten Testaments, wobei gerne zwei oder drei antike Vorlagen überblendet werden.48 Zunächst wird die Erzählung ziemlich ähnlich zur Narration des Ilceus-Mythos im II. Buch (Syph. II 283–423) entwickelt. In beiden Teilen – Buch II handelt in der Alten, Buch III in der Neuen Welt – wird ein Sakrileg begangen, indem die Handelnden die heiligen Tiere töten: In Buch II erlegt der Jäger Ilceus Dianas heiligen Hirsch, in Buch III werden die Sol, dem Sonnengott, geweihten Vögel von den Spaniern erschossen. Zur Strafe wird Ilceus von Diana und ihrem Bruder guit.“ Als Quelle ist in dieser Ausgabe ausgewiesen: Lukrez, De rer. nat. VI 1093–1102 u. 1119– 1130. 47 Isidor von Sevilla, De natura rerum XXXIX,1, hrsg. von Becker 1967, 67: „Pestilentia est morbus late uagans et contagio suo paene omnes polluens quos tetigerit. Haec enim aegritudo non habet spatium temporis quo aut uita speretur aut mors, sed repentinus languor simul cum morte uenit. Quae sit uero causa huius pestilentiae nostri dixerunt: ‚Quando pro peccatis hominum plaga et corruptio terris inicitur, tunc aliqua ex causa – id est aut siccatis aut caloris ui aut pluuiarum intemperantia – aer corrumpitur sicque naturalis ordinis perturbata temperie inficiuntur elimenta et fit corruptio aeris, et aura pestifera oritur et corruptelae uitium in homines ceteraque animantia.‘ Vnde et Virgilius: ‚Corrupto caeli tractu miserandaque uenit / Arboribusque satisque lues‘.“ 48 Vgl. dazu Hofmann 1995a, 27–28; Hofmann 1995b, 41–42.

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Apoll mit der „pestis“ geschlagen, während einer der Vögel den Seefahrern dieselbe Krankheit unter der Autorität Apolls prophezeit. In beiden Geschichten kommt es zur Buße und Rückwendung hin zu den göttlichen Mächten. Dadurch widerfährt Ilceus die Gnade durch die Nymphen, er wird des Geheimnisses des Quecksilbers gewahr, geheilt und anschließend mit der Aussicht auf dauernde Gesundheit entlassen, sofern er künftig fortwährend Diana ehre. Im III. Buch nimmt die Erzählung noch einen Umweg, um letzten Endes den gleichen Strang wie Buch II umzusetzen: Die Spanier werden von den Ureinwohnern der Insel mit dem Mythos von Syphilus (Syph. III 288–379) vertraut gemacht, der nun noch einmal der bekannten Sequenz von a) Verfehlung, b) Strafe, c) Reue/Rückkehr und d) Heilung folgt. a) Verfehlung: Syphilus, ein Hirte („pastor“) im Dienste des Königs Alcithous, hadert so sehr mit einer die Pflanzen und Tiere bedrohenden anhaltenden Hitze, dass er dem Sonnengott, den er für das Unheil verantwortlich macht, abschwört und stattdessen fortan nur noch seinem König, einem sterblichen Menschen, huldigt, ihn als Gott verehrt und ihm Altäre errichtet. Der König sorge viel besser für seine Untertanen, wie Syphilus meint; ihm gehörten eine große Zahl an Feldern, ihm seien viele Völker untertan, seine Macht sei größer als diejenige der Himmlischen und der Sonne. Er werde freundliche Winde schicken und die Hitze lindern. Dem Vorbild des Syphilus folgen die Landbewohner und die Schar der übrigen Hirten („pastorum caetera turba“). König Alcithous gefällt die Verehrung sehr und er befiehlt, dass außer ihm kein anderes göttliches Wesen auf der Erde verehrt werden soll. b) Strafe: Vater Sol („Sol pater“) erzürnt darüber und sendet seine schädlichen Strahlen, die Erde und die Ebenen des Meeres werden davon ergriffen und die Luft vergiftet. Der erste, der an der Seuche („pestis“) erkrankt, ist Syphilus, und die Bauern nennen sie nach ihm Syphilis. Es erkranken danach aber wahllos alle Bewohner, ungeachtet ihrer etwaigen persönlichen Schuld, und auch der König. c) Reue/Rückkehr: Nachdem die Nymphe Ammerice in Aussicht stellt, dass die Götter bei entsprechenden Opfern glückbringende Samen („foelicia semina“) vom Himmel und aus der Erde hervorbringen lassen würden, erschaudern die Hörenden und errichten anschließend die Altäre des Sonnengottes Sol, den sie mit Beinamen „Rächer“ („ultor“) nennen, neu. d) Heilung: Der „heilige Baum“ („sacra arbor“) wächst neu in dem geheiligten Hain und breitet sich bald als Wald aus. Es werden jährliche Opferfeste bestimmt, um die Götter auch weiterhin zu besänftigen und von der wunderbaren Kraft des Guajakbaumes zu profitieren, die die Ansteckung („contagia“) der Seuche vertreibt. Dieser Mythos integriert die oben erwähnten zeitgenössischen Auseinandersetzungen um und mit Lukrez. Die Verbindungen werden deutlich, wenn man die Eigenaussagen der beiden Frevler Syphilus und Alcithous als Argumente für

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ihre Haltung betrachtet. Der pastor wirft Sol vor, er kümmere sich trotz der Weihedienste nicht um die Menschen und die königlichen Herden (Syph. III 299– 300: „… nostri nec cura tibi est, nec regia tangunt / Armenta …“), und so führt er wie gerade beschrieben eine Ersatzreligion ein, die den König vergöttlicht. Dieser wiederum begründet sein Verbot, andere Götter zu verehren, damit, dass nichts auf der Erde größer sei als er selbst; die Götter wohnten im Himmel, und was unterhalb sei, sei nicht ihre Sache (Syph. III 319–320: „… esse nihil terra se majus in ipsa: / Coelo habitare Deos, nec eorum hoc esse, quod infra est“). Diese Aussagen geben zentrale Lehrsätze epikureischen Denkens wieder: Götter sind demnach als glückselige und unsterbliche Wesen vorzustellen, der Begriff der Glückseligkeit bedinge aber seelische Unerschütterlichkeit und Freiheit von Sorgen, so dass es ausgeschlossen sei, dass Götter sich um die Belange der Welt und der Menschen sorgten, und überhaupt dass sie die ihnen vom Volk fälschlicherweise zugeschriebenen Emotionen wie Zorn oder Gnade empfinden.49 Von zentraler Bedeutung erscheint dann die „Auflösung“ des Grundes für die Strafe der Syphilis durch die wohltätige Nymphe Ammerice. Sie erklärt Syphilus, es stehe keinem Sterblichen zu, sich mit den Göttern gleichzusetzen. Dem Gott sei Weihrauch darzubringen und die sakralen Handlungen seien zu seinen Ehren vorzunehmen, um so seine göttliche Macht zu besänftigen. Die jetzt heraufbeschworene Pest sei aus Gottes Zorn erwachsen, sie sei ewig und unwiderruflich (Syph. III 340–344: „… nulli fas est se aequare Deorum / Mortalem: date thura Deo, et sua ducite sacra, / Et numen placate, iras non proferet ultra. / Quam tulit, aeterna est, nec jam revocabilis unquam / Pestis erit: …“.). Auch für diesen Tatbestand gibt es eine augenfällige Parallele in den epikureischen Texten. Insbesondere Lukrez spart im Zuge seines wiederholten Lobes Epikurs nicht mit Ausdrücken und Ehrerbietungen, die an stark religiös eifernde Sprache erinnern. Sein Meister habe das Menschengeschlecht an Geist übertroffen und alle überstrahlt wie die aufgehende Sonne am Himmel die Sterne (De rer. nat. III 1042–1044: „ipse Epicurus obit decurso lumine vitae, / qui genus humanum ingenio superavit et omnis / restinxit, stellas exortus ut aetherius sol“). Müsse er für seine Leistungen nicht unter die Zahl der Götter aufgenommen werden (De rer. nat. V 50–51: „… nonne decebit / hunc hominem numero 49 Die Bezugspunkte sind sowohl in Lukrez’ De rer nat. V 146 ff. als auch in Epikurs Brief an Menoikeus (Diogenes Laertios X 77 u. 139) zu finden. Letzterer stand im 15. und 16. Jahrhundert als Teil des X. Buches der Vitae philosophorum des Diogenes Laertios in der lateinischen Übersetzung von Ambrogio Traversari in zahlreichen Druckausgaben zur Verfügung. Zitiert wird aus der eben erschienenen kritischen Edition dieses Textes in Kaiser 2019, 379: „Neque enim beatitati conueniunt negotia et curae et irae, aut gratiae, …“; ebd., 409: „Quod beatum atque immortale est, neque ipsum negotia habet, neque alii praebet. Itaque ne ira quidem neque gratia tangitur.“

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divum dignarier esse?“)? Lukrez versichert, dass Epikur wirklich ein Gott war (De rer. nat. V 8: „dicendum est, deus ille fuit, deus, …“). Dass Lukrez seinen Helden Epikur als Gott dargestellt und ihn seiner Leserschaft zur entsprechenden Verehrung anempfohlen hatte, wurde schon von den Kirchenvätern deutlich benannt und kritisiert. So bemerkte etwa Laktanz (ca. 250–ca. 320) über den Eifer des Sängers indigniert:50 Hier ist jener, ‚der das Menschengeschlecht an Geist übertraf und alles überstrahlte wie die aufgehende Sonne am Himmel die Sterne‘. Diese Verse kann ich wahrlich niemals lesen ohne zu lachen. Er hat das nämlich nicht über Sokrates oder wenigstens über Platon gesagt, die gleichsam als Könige der Philosophen gelten, sondern über einen Mann, der in gesundem und kräftigem Zustand derart wahnsinnige Lehren vertrat, wie sie kein Kranker törichter hätte phantasieren können. Und so hat der überaus eitle Dichter eine Maus mit den Lobpreisungen eines Löwen nicht geschmückt, sondern überhäuft und zerstört.

Im selben Abschnitt fasst Laktanz die seiner Ansicht nach schädlichen Implikationen der Lehre Epikurs zusammen:51 Wenn ein Seeräuber- oder Räuberhauptmann seine Männer dazu ermutigen wollte herumzustreichen, würde er andere Worte dafür gebrauchen als diejenigen, die Epikur äußert? Die Götter kümmern sich um nichts; sie werden weder von Zorn noch Gnade erfasst; die Strafen der Unterwelt soll man nicht fürchten, weil die Seelen nach dem Tod ebenfalls sterben und es überhaupt keine Unterwelt gibt; die Lust ist das höchste Gut; es gibt keine menschliche Gemeinschaft; jeder sorgt nur für sich selbst; es gibt niemanden, der den Nächsten liebt, außer aus Eigennutz; ….

Diese Einschätzungen durch Laktanz konnte den an Lukrez interessierten Lesern im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts kaum entgehen, schließlich führte sie Giovanni Battista Pio (um 1475–1543) in seinem 1511 erstmals erschienenen und bereits 1514 in einer Neuedition gedruckten umfassenden Kommentar zu

50 Laktanz, Divinae institutiones III,17 (28–29), hrsg. von Heck/Wlosok 2007, 264: „hic est ille, ‚qui genus humanum ingenio superauit et omnes / restinxit, stellas exortus ut aetherius sol‘. quos equidem uersus numquam sine risu legere possum. non enim de Socrate hoc saltem aut Platone dicebat, qui uelut reges habentur philosophorum, sed de homine, quo sano ac uigente nullus aeger ineptius delirauit. itaque poeta inanissimus leonis laudibus murem non ornauit, sed obruit et obtriuit“. 51 Laktanz, Divinae institutiones III,17 (41–42), hrsg. von Heck/Wlosok 2007, 267: „archipirata quispiam uel latronum ductor si suos ad grassandum cohortetur, quo alio sermone uti potest quam ut eadem dicat quae dicit Epicurus? deos nihil curare; non ira, non gratia tangi; inferorum poenas non esse metuendas, quod animae post mortem occidant nec ulli omnino sint inferi; uoluptatem esse maximum bonum; nullam esse humanam societatem; sibi quemque consulere; neminem esse qui alterum diligat nisi sua causa; …“.

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De rerum natura wörtlich an.52 Dem Diskurs um das lukrezianische Werk ist dessen in den Paratexten regelmäßig präsente Kritik inhärent, die – unter mehreren Dingen – zwei Faktoren, die in vorliegendem Zusammenhang besonders wichtig sind, brandmarkt, nämlich zum einen die Verherrlichung Epikurs durch den römischen Poeten und zum anderen die Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenhalts durch die epikureische Philosophie. Die christliche Tradition hat durchaus Erfahrung damit, den Epikureismus quasi als Konkurrenzreligion wahrzunehmen. Allfällige Parallelen bestehen darin, dass beide Denkrichtungen als Heilslehre auftreten, den jeweiligen Begründer als Heilsbringer stilisieren, zur Verbreitung der Botschaft auf bereitwillige Jünger zurückgreifen, einen psychagogischen Duktus pflegen und generell den Anspruch vertreten, alles Seiende mit einer Letztbegründung zu erklären.53 Die Selbststilisierung des Epikureismus als Religion oder Ersatzreligion, deren Ausdrucksmittel genutzt werden, um dem Absolutheitsanspruch ihrer rationalen Lehre Geltung und Anhängerschaft zu verschaffen,54 wird in der Forschung – gerade zur Epikurrezeption in der Renaissance – sehr gerne vernachlässigt oder gleich ganz übersehen.55 Fracastoros Poem zeigt jedoch, dass dieser

52 Vgl. Giovanni Battista Pio, In Carum Lucretium poetam Commentarii, 1511, fol. 2r u. 85r. Zu Pio und der Editionsgeschichte seines Kommentars vgl. Nicoli 2017, 92–93, 123–124; seine Behandlung der lukrezianischen Epikurlobpreisungen wird diskutiert in Nicoli 2015. Ob allerdings Elena Nicoli mit ihrer Behauptung richtig liegt, wonach Pio das Urteil des Laktanz („unus Lactantius“) als isolierte Einzelmeinung kennzeichnen würde (vgl. Nicoli 2015, 248 und erneut Nicoli 2017, 96), ist als ziemlich spekulativ anzuzweifeln. Da Laktanz nun einmal eine hohe Autorität genoss und die Epikurkritik tatsächlich ein prägendes Charakteristikum des lateinischen Mittelalters und auch der Renaissance darstellt (vgl. dazu ausführlich Kaiser 2019, Teil I), müsste man ein solches gegenüber dem Kirchenvater angeblich negativ eingestelltes Motiv des Kommentators stichhaltiger nachweisen als lediglich mit der fragwürdigen Übersetzung von „unus“ als „der einzige, der“, wie Nicoli es tut. 53 Vgl. Pollmann 2010, 42–43. 54 Vgl. dazu sehr instruktiv Schmid 1962, 746–755. 55 Eine Ausnahme bildet die Studie von Susanna Gambino Longo, allerdings zeigt sich auch bei ihr das in der heutigen Forschung weit verbreitete Vorurteil deutlich, wonach die Lukrezrezeption durch Fracastoro stets ‚positiv‘ zu sein hat. So vermutet sie zwar, dass die lukrezianische Epikur-Elogie Einzug in die Syphilis hält, allerdings meint sie die Reminiszenz nicht im Syphilus-Mythos (wofür hier im vorliegenden Abschnitt argumentiert wird), sondern im II. Buch zu finden, wo der Autor zu Beginn seiner Darstellung der Heilmethoden erklärt, er glaube, dass „uns bestimmte Dinge mit göttlicher Hilfe gefunden worden sind“ (Syph. II 11–12: „Credo equidem et quaedam nobis divinitus esse / Inventa …“). Gambino Longo hält es für „inutile de souligner la proximité avec l’Épicure de Lucrèce“; vgl. Gambino Longo 2004, 201. Doch ist dieser Bezug alles andere als selbstverständlich. Wie die beiden Mythen von Ilceus im II. und Syphilus im III. Buch vor Augen führen, sind mit „divinitus“ tatsächlich göttliche Helferinnen – und nicht antike Philosophen – gemeint, die den Leidenden den Weg zu wirksamen

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Aspekt nicht nur von den patristischen Kritikern, sondern auch von den Lukrezlesern des 16. Jahrhunderts in den Blick genommen wurde. Dabei weist die literarische Weiterverarbeitung naturgemäß kein einheitliches Bild auf. Es ist z. B. bekannt, dass der Florentiner Kaufmann und Seefahrer Amerigo Vespucci (1454–1512), als er in seinem 1502 oder 1503 auf Latein erschienenen Mundus Novus von den Einwohnern der ‚Neuen Welt‘ erzählte, deren Lebensstil als „eher epikureisch als stoisch“ charakterisierte, da es bei ihnen keinen Tempel, kein Gesetz und keine Idolatrie gebe, sondern sie nur gemäß der Natur lebten.56 Dass der Bericht solcherart konstruiert werden konnte, wird gelegentlich mit der zeitgenössischen Lukrezrezeption in Florenz in Verbindung gebracht.57 Dies sei dahingestellt; es ist allerdings unwahrscheinlich, dass diese Skizzierung einen direkten Einfluss auf das Bild der ‚Neuen Welt‘ in Fracastoros Syphilis ausgeübt hat, wie manchmal gemutmaßt wird. Denn schließlich nährt sich die Dramatik des Mythos im III. Buch ja gerade davon, dass es einen ausgeprägten Drang zur religiösen Verehrung unter den Bewohnern gibt, der sich zunächst vom Sonnengott zum König wendet, um schließlich wieder zum rechten Glauben zurückzukehren. Vespuccis Ureinwohner allerdings haben nicht nur keine Religion, sondern auch keinen König und keinen Staat, stattdessen ist sich jeder sein eigener Herr,58 womit sie eher an die oben angeführten Passagen aus Laktanz erinnern. Im Syphilus-Mythos hingegen wird eine andere Dimension problematisiert, nämlich ein politischer Reduktionismus: Nur der säkulare König wird als Bringer von Wohltaten anerkannt, Sol pater aber aus der Welt der zu beachtenden Dinge ausgeschlossen. Beim pastor Syphilus klingt das Theodizee-Problem an, das darin besteht, sich einen guten Gott gleichzeitig als Verursacher oder wenigstens Dulder von menschlichem Leid und Schmerz erklären zu müssen. Der König Alcithous jedoch begrenzt den menschlich-politischen Kosmos vollends auf seine eigene Herrschaft und erhebt sich per Dekret zu der einzig anzubetenden Entität – der Monarch will ein säkularer Gott sein, und nur das Weltliche und Diesseitige habe für seine Untertanen Gültigkeit. Es ist wichtig zu beachten, dass die revolutionären Willensentscheidungen dieser beiden Hauptakteure immense Auswirkungen auf die Gemeinschaft haben. Dem Vorbild des Syphilus Heilmitteln weisen. Allenfalls kann man Fracastoros Anlehnung an Lukrez, falls es an dieser Stelle tatsächlich eine solche ist, höchstens als Aemulatio bzw. Usurpation beschreiben. 56 Ediert in Wallisch 2002, 20: „Preterea nullum habent templum et nullam tenent legem; neque sunt idolatre. Quid ultra dicam? Vivunt secundum naturam, et epicurei potius dici possunt quam stoici.“ 57 Vgl. Brown 2010, 89–90, 109; Ricklin 2012, 168–169, 180. 58 Wallisch 2002, 20: „Vivunt simul sine rege, sine imperio, et unusquisque sibi ipsi dominus est.“

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folgen zunächst alle Bauern und die turba pastorum, und die anschließende Strafe der Seuche betrifft ohne jegliche Differenzierung alle Menschen; die Ansteckung durchzieht das gesamte Land. Im I. Buch der Syphilis hatte Fracastoro eine in diesem Zusammenhang interessante Metapher gebraucht, um das Konzept der contages zu veranschaulichen: Die Ansteckung sei zu Beginn klein, nähre sich allmählich und verbreite sich dann in alle Länder, so wie es häufig geschehe, wenn ein Hirte („pastor“) mit der Glut einer nachlässig auf dem Feld zurückgelassenen Fackel einen Brand verursache, der sich durch zunehmendes Umsichgreifen erhebe, Ernte, Äcker und den benachbarten Hain verwüste und sogar Flammen in die Luft schleudere (Syph. I 41–50: „Commercine igitur causa accessisse putandum est / Deletam contagem ad nos, quae parva sub ipsis / Principiis, mox et vires et pabula sensim / Suscipiens, sese in terras diffuderit omnes? / Ut saepe in stipulas cecidit quum forte favilla / De face, neglectam pastor quam liquit in arvo, / Illa quidem tenuis primum, similisque moranti / Incedit: mox, ut paulatim increvit eundo, / Tollitur, et victrix messem populatur et agros, / Vicinumque nemus, flammasque sub aethera jactat“). Es ist sicher nicht völlig verfehlt, zwischen diesem Bild vom Beginn des Poems und der „geistigen Brandstiftung“ des pastor Syphilus im III. Buch, die zur Verheerung des Landes durch die Seuche führt, eine Verbindung zu ziehen. Traditionellerweise wird seit der Zeit der Kirchenväter der Tatbestand der Verbreitung von subversiven Lehren, die wie ein Flächenbrand wirken können und ganze Menschengruppen, die sich davon beeinflussen und in die ‚Irre‘ leiten lassen, ins Verderben zu stürzen vermögen, unter dem Signum der ‚Häresie‘ verhandelt. Epikur gilt seit der christlichen Spätantike konstant als Haupt der Häretiker und Patron aller Weltanschauungen, die nicht an das Leben nach dem Tod glauben und den Menschen auf sein diesseitig-fleischliches Dasein reduzieren. Im Anschluss an die Häretikerkataloge der Apologeten gelten die solcherart denkenden Menschen für Augustinus und für etliche weitere Kirchenlehrer und theologische Autoritäten als „Epikureer“ (Epicurei), und zwar unabhängig davon, ob die inkriminierten Personen tatsächlich jemals von Epikurs Philosophie Kenntnis genommen hatten oder nicht.59 Am Beispiel Dantes lässt sich das Drama um Epikur konzentriert beobachten: Im Inferno muss Epikur als „Häresiarch“ mit seinen Anhängern eingeschlossen in einem Sarkophag („… Qui son li eresïarche / co’ lor seguaci, d’ogni setta, e molto / più che non credi son le tombe carche“; Inf. IX 127–129) in der „Schmerzensstadt“ („citta dolente“; Inf. IX 32) leiden, weil er die Mortalität der Seele gelehrt hatte, und dasselbe Schicksal widerfährt allen, die das Gleiche 59 Vgl. dazu sehr ausführlich und mit vielfältigem Quellenmaterial Kaiser 2019, 15–37, 131– 164.

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glauben („Suo cimitero da questa parte hanno / con Epicuro tutt’i suoi seguaci, / che l’anima col corpo morta fanno“; Inf. X 13–15). Die Kommentatoren der Commedia bemühten sich in der Folge immer wieder zu erklären, was an dieser Weltsicht so schlimm sein soll und wie die herausgehobene Stellung Epikurs unter den Häretikern zu verstehen sei. Der Karmelitermönch Guido da Pisa etwa legte in seinen zwischen 1335 und 1340 verfassten Expositiones den Charakter des epikureischen Denkens als Wurzel und Ursache weiterer, sich differenzierender Irrlehren dar:60 Die Epikureer sind gleichsam der Anfang aller Häresien. Denn zu lehren, die Seele würde zugleich mit dem Tod des Körpers sterben, ist gleichsam der Weg zu allen anderen Häresien. Erst von der Leichtsinnigkeit nämlich, die darin besteht, dass der Mensch nicht an das andere Leben glaubt, gleitet man in jede Häresie ab. Unter dem Namen der Epikureer vereint der Autor [Dante] so alle Häretiker, welcher Sekte sie auch immer angehören.

Die Verfehlung, die in der Verbreitung falscher Lehren besteht, liegt nicht nur in der Verantwortung des Einzelnen für sein persönliches Schicksal und Seelenheil, sondern zieht auch negative soziale Folgen nach sich. Jede Häresie gefährdet die Gemeinschaft der Rechtgläubigen, indem sie die Herde der ‚Schäfchen‘ in die falsche Richtung zu führen droht. Mit Epikurs Verabschiedung der Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele geht unweigerlich auch die Leugnung des nachtodlichen Lebens und des damit verbundenen Konzepts des göttlichen Gerichts über die individuellen Taten einher. Über das eigene Verhalten richtet also nicht mehr die göttliche Instanz. Für Dante-Exegeten wie Cristoforo Landino (1425–1498) stellt diese Weltsicht deshalb diejenige Häresie dar, die der Menschheit mehr als jede andere geschadet habe, denn sie zerstöre das Fundament jeglichen rechtschaffenen Lebens in der bürgerlichen Gemeinschaft und jeder wahren Religion.61 In einer Zeit, in der die überwiegende Mehrheit die Bedeutung von Gut und Böse, Moral und Gerechtigkeit nicht in erster Linie als zwischen gleichberechtigten Bürgern verhandelbar betrachtet, sondern als „ewig“ und von Gott autorisiert versteht, hat diese Gleichsetzung von radikalsäkularem Denken und politischer Erosion durchaus Sinn. 60 Guido da Pisa, Expositiones et glose super ‚Comediam‘ Dantis X, hrsg. von Rinaldi 2013, 446: „Epycuri sunt quasi principium omnium heresum: nam ponere quod anima simul cum corpore mortuo moriatur istud est quasi via ad omnes alias hereses. De levi nanque, dum homo aliam vitam non credit, in omnem heresim labitur. Sub nomine itaque Epycuriorum concludit autor omnes hereticos cuiuscunque sint secte, …“. 61 Cristoforo Landino, Comento sopra la Comedia, Canto X vv. 10–21, hrsg. von Procaccioli 2001, 581: „… vedendo el poeta nostro le heresie esser tante, che di tutte non potrebbe tractare, pose questa, la quale è piú pernitiosa all’humana generatione che alchuna altra. Imperoché chi pone l’anima mortale toglie ogni fondamento al giusto vivere civile et alla vera religione.“

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Die hier – lediglich exemplarisch, aber dennoch repräsentativ –62 herangezogenen Stimmen zur kritischen Bewertung Epikurs und seines Sängers Lukrez in der Renaissance sollten zur Genüge zeigen, dass sich einigermaßen plausibel die These vertreten lässt, dass Fracastoro auch diese Aspekte gut kennt und in seinen Mythos von Syphilus einwebt. Sein pastoraler Antiheld und dessen Götze vertreten nicht nur explizit epikureische Philosopheme, sondern verhalten sich auch in religiösen Kategorien wie der römische Dichter zu seinem vergöttlichten Idol. Wenn „Sol“ gemäß der Tradition eine allegorische Bezeichnung für Christus ist,63 dann sind Syphilus und Alcithous in einer Lesart, die hinter Fracastoros poetischem Schleier zumindest auch christlich-heilsgeschichtliche Anspielungen erkennen möchte,64 eindeutig als Häretiker zu klassifizieren. Diese Erzählung wird folgerichtig als politischer Mythos präsentiert, sind doch die politisch-sozialen Negativfolgen der epikureischen Häresie wie erwähnt regelmäßig Bestandteil der Paratexte zu wichtigen Werken wie etwa Dantes Commedia oder Lukrez’ De natura rerum selbst, wie etwa Manuzios Dedikationsschreiben oder Pios maßgeblicher Kommentar zeigen. Im Inferno wird Epikur von der Hegemonie der christlichen Weltdeutung übermannt: Sein Leiden ist maximal konstruiert, da er sein höchstes Ziel – Lust und Freiheit von Schmerz – nicht nur verfehlen muss, sondern in der città dolente sogar das Gegenteil erduldet, während er für sein wichtigstes Sakrileg, wonach die Seele mit dem Körper sterbe, dadurch büßen muss, dass seine Seele für immer begraben ist.65 Den Epikureern in der Syphilis wird eine ähnliche Lehre zuteil: Hatten Epikur und Lukrez wie gesehen in ihren Schriften betont, die Götter seien ihrem Wesen nach notwendig weder zornig noch gnädig, so erweist sich dies angesichts des rächenden Sol, der die Entfesselung der Seuche veranlasst, aber auch der mildtätigen göttlichen Wohltäter, die den reuigen Menschen Heilmittel generieren, als fataler Fehlschluss. Die Häretiker Syphilus und Alcithous und mit ihnen alle Mitmenschen spüren ihren Irrtum am eigenen Leib, und es ist ironischerweise – in 62 Viele weitere Quellen, die ähnliche Aussagen treffen, werden diskutiert in Kaiser 2019, Teil I. 63 Vgl. Isidor von Sevilla, De natura rerum XV,3, hrsg. von Becker 1967, 31–32: „Ad uero iuxta spiritalem intellegentiam sol Christus est, sicut in Malachia scribitur: ‚Vobis autem qui creditis orietur sol iustitiae et sanitas in pinnis eius.‘ Merito autem Christus sol intellegitur dictus, quia ortus occidit secundum carnem et secundum spiritum de occasu rursus exortus est. Item sol inluminat et exurit et opaco tempore confouet sanos, febricitantes uero flagrantia geminati caloris incendit, ita et Christus credentes fidei spiritu uegetante inluminat, negantes se aeterni ignis ardore torrebit.“ 64 Laut Pellegrini gibt Fracastoro in seinen Schriften immer wieder beiläufig seine enge Beziehung zur katholischen Kirche und seine Vertrautheit mit den Lehren der Kirchenväter zu erkennen; vgl. dazu Pellegrini 1955, 10. 65 Vgl. dazu Kaiser 2019, 180–181.

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der réécriture der alttestamentlichen Isaak-Geschichte – nur dem Eingreifen der versöhnten Götter im letzten Augenblick zu verdanken, dass Syphilus von seinen Genossen nicht als Menschenopfer zur Besänftigung Sols getötet wird (Syph. III 362–372). Wenn diese Interpretation richtig ist, rezipiert der Veroneser Arzt Lukrez nicht ausschließlich positiv im Sinne eines Erkenntnisgewinns für die medizinische Wissenschaft, sondern integriert zugleich auch das zu seiner Zeit immer noch höchst problematische Profil des dazugehörigen philosophischen Überbaus. In diesen Zusammenhang gehört vielleicht auch die Namensbildung „Syphilus“. In der Forschungsliteratur wurden schon diverse Erklärungen für dessen Etymologie vorgelegt, ohne dass einer der Ansätze vollauf überzeugt hätte. In neuerer Zeit überwiegt die Zustimmung zu einem alten Vorschlag Franz Bolls, wonach der Mythos der Niobe in Ovids Metamorphosen VI 146–312 die Vorlage für die Syphilus-Erzählung sei:66 Niobe mache sich ähnlicher Freveltaten schuldig wie Syphilus und Alcithous, indem sie den Göttern den Dienst verweigere und ihren eigenen Kinderreichtum als demjenigen der Leto überlegen rühme, woraufhin die Kinder der Niobe von den Pfeilen des Apoll und der Artemis getötet werden, darunter auch ihr zweitältester Sohn Sipylus; Fracastoros Syphilus sei nur eine leichte Umgestaltung dieser Figur. Bereits George L. Hendrickson wies auf die gravierenden Unterschiede hin, die darin bestünden, dass Niobes Sipylus ein unschuldiges und bedauernswertes Opfer der Gotteslästerung seiner Mutter und deswegen in keiner Weise mit Fracastoros Syphilus gleichzusetzen sei, der in seinem Affront gegenüber dem Sonnengott doch wohl nur Niobe selbst ähnele.67 Demgegenüber argumentierte Hendrickson, dass der Name „Syphilus“ erst nachträglich erfunden worden sei, und zwar als fiktive Person als Urheber einer Krankheit, die zu Fracastoros Zeit bereits unter dem Namen „Syphilis“ bekannt gewesen sei, auch wenn es keine direkte Quelle dafür vor Fracastoro selbst gebe. Er führte den Begriff „σίφηλις“ auf andere, ähnliche antik-griechische Wörter zurück, darunter „σιφλός“ bzw. „σιπαλός“, das die Bedeutung „beschämend“ oder „verunstaltet“ habe, oder eine Vorform des neugriechischen Wortes „τσίμπλα“, das eine Augenkrankheit bezeichne.68 Weil aber dafür ebenso die absolute Stringenz fehlt, hat Leo Spitzer nicht nur seinen beiden Vorgängern widersprochen, sondern mit dem gleichem Recht der hypostasierten abgewandelten griechischen Form beansprucht, es handele sich bei „Syphilis“ um eine Abkürzung und Umwandlung des Begriffs „ἐρυσίπελας“.69 66 67 68 69

Vgl. Boll 1910, 76–77. Vgl. Hendrickson 1934, 538. Vgl. Hendrickson 1934, 529–537. Vgl. Spitzer 1955, 269–273.

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Hendrickson erwähnte der Vollständigkeit halber noch eine weitere Lesart, die zu seiner Zeit wohl am häufigsten herangezogen worden war, nämlich die Ableitung von „Syphilus“ aus den griechischen Wörtern für „Schwein“ („σῦς“) und „Freund/Liebhaber“ („φιλός“), allerdings wollte er dieser Möglichkeit als „an example of the crudest popular etymologizing“ dezidiert keine weitere Beachtung schenken.70 Offensichtlich hatte er mit dem Begriff „Schwein“ im Kontext der Syphilis nicht das Geringste anzufangen gewusst. Wenn man aber – wie im vorliegenden Beitrag zu zeigen versucht wurde – mit guten Gründen wenn schon nicht eine genaue Identifikation, so doch zumindest eine greifbare Parallelisierung der beiden Paare Epikur/Lukrez und Alcithous/Syphilus ausmachen darf, dann klingt der Name überhaupt nicht mehr abwegig. In der mittelalterlichen Kultur wurde Epikur durchgehend als „Schwein“ tituliert, seine Lehre galt aufgrund ihrer absoluten Beschränkung auf das Diesseitige und das Supremat des Lustvollen als Philosophie für „Tiere“ bzw. „Schweine“, wofür u. a. die entsprechende Kennzeichnung durch die Autoritäten Horaz, Cicero, Plutarch, Klemens von Alexandreia, Augustinus, Hieronymus, Isidor von Sevilla und Albertus Magnus sorgte.71 „Syphilus“ als „Freund/Liebhaber des Schweins“ zu deuten erscheint angesichts der oben besprochenen Epikurverehrung seines Pendants Lukrez nun nicht mehr als abwegig.

5 Fazit: Der Arzt als Poet der ewigen Seuche Das Poem Syphilis behandelt nicht nur ein medizinisches Problem, sondern beinhaltet vor allem auch eine metaphysisch-kosmologische sowie eine anthropologische Dimension, indem größere Zusammenhänge in den Blick genommen werden als nur die Individuen oder Gemeinschaften, die von der Krankheit heimgesucht werden. Es bietet eine Reflexion über die Natur des Menschen und seine Stellung im Ganzen der Weltordnung.72 In der Verwobenheit von neulateinischer Dichtung und einer zwischen antiken und zeitgenössischen Sujets oszillierenden Mythographie bietet Fracastoro seinen Lesern ein Werk dar, das sich jeglicher eindeutiger Vorlagenzuordnung verweigert und gerade im Spiel mit Allusion und Aemulation seinen besonderen Wert zu haben scheint. Dass er sich dabei des nicht-christlichen Autors Lukrez, der doch der Religion so widerstreitende Ansichten hatte, scheinbar ohne Umschweife bediente, sollte eigentlich nicht weiter verwundern, wenn man die gelehrte Tradition berücksichtigt. 70 Hendrickson 1934, 545. 71 Vgl. dazu Kaiser 2019, 423–425 mit Literaturangaben und Belegstellen. 72 Sehr ähnlich wird das Motiv bewertet von Gigliotti 1990, 263 u. 267.

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Bereits in der Patristik hatte es zu den veritablen Strategien christlicher Autoren im Kulturkampf mit heidnischen Traditionen gehört, Versatzstücke literarischer oder intellektueller Art in das eigene Werk einfließen zu lassen, um es durch Umdeutung und ‚falscher‘ Verwendung einer neuen Aussage zuzuführen, die der eigenen Wahrheit (der christlichen Religion) besser entsprach.73 Vor diesem Hintergrund war es Fracastoro möglich, De rerum natura in signifikanter Weise als Vorbild für die eigene Dichtung zu verwenden, und er tat dies ausgiebig und nicht nur hinsichtlich seiner Theorie der „semina“. Tatsächlich schafft Fracastoro einen kohärenten Gesamtentwurf, der nicht nur die verschiedenen medizinischen und literarischen Traditionen seiner Zeit abbildet, sondern diese, die häufig konkurrierende Geltungsansprüche vertraten, noch dazu als wohlgeordneten Kosmos harmonisiert. Wie oben gesehen, bezieht er eine Vielzahl an antiken und biblischen Motiven, seien sie mythologischer oder wissenschaftlicher Herkunft, in seine Lyrik ein, von denen er keines vollständig übernimmt, sondern jedes einzelne in eigener poietischer Anstrengung ummodelliert. Auch und besonders aus medizinischer Sicht fällt sein Drang zur die z. T. widerstreitenden Erklärungsansätze integrierenden Darstellung auf. Das betrifft zum einen die Therapie: Fracastoros Zeitgenossen – insbesondere Ulrich von Hutten (1488–1523) in seinem weitverbreiteten Traktat De Guaiaci medicina, den wohl auch Fracastoro gut kannte und vielleicht als Vorlage für das III. Buch der Syphilis benutzte –74 hatten nach dem Import des Guajaks nach Europa nicht nur große Hoffnungen in dieses neue Wunderheilmittel gesetzt, sondern auch die traditionellen Methoden, allen voran die Behandlung mit Quecksilber, verurteilt. Fracastoro hingegen stellt die Therapieansätze wie gesehen in zwei separaten Büchern nebeneinander, denn so wie die Krankheit nicht nur einen einzigen Ort der Verursachung hat, erwachsen auch die Heilmittel unter verschiedenen „Himmeln“ in differenter Weise. Zum anderen werden auch die unterschiedlichen ätiologischen Modelle in eine vereinigende, stringente Kausalkette überführt. Die „Miasma“-Theorie und theologische Modelle stehen nicht mehr der „semina“-Theorie diametral gegenüber – wie bei Isidor75 und vielen Epigonen –, sondern reihen sich wohlgeord-

73 Karla Pollmann spricht im Zusammenhang von Laktanz’ Übernahme der lukrezianischen Epikurverehrung und deren Umdeutung zur Christuselogie von „Usurpation und dadurch Aufhebung einer Facette der vormaligen paganen Leitkultur“; vgl. Pollmann 2010, 47. 74 Vgl. Ulrich von Hutten, De Guaiaci medicina et morbo gallico liber unus, 1519, inbes. Kap. IV. Zu den möglichen Parallelen zwischen diesem Buch und dem Guajak-Thema in der Syphilis vgl. Hendrickson 1934, 521; zur Debatte über die Wirkungen von Quecksilber und dem aus der Neuen Welt importierten Gehölz vgl. Quétel 1990, 27–32. 75 Vgl. o., Anm. 46 und 47.

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net in eine Hierarchie der Ursachen ein:76 An der Spitze steht der Wille Gottes, sein Zorn ist verantwortlich für die Seuchen, die die Menschen bestrafen. Die göttliche Intervention erfolgt allerdings nicht direkt, sondern vermittelt über die Natur, d. h. zunächst über die Planeten und Sterne, die die Bedingungen dafür schaffen, dass es überhaupt zur Entstehung der Krankheiten kommen kann. Die astralen Einflüsse zeitigen korrumpierende Effekte auf der Erde und im Wasser, die wiederum die Luft beeinflussen und negativ verändern, so dass nun die Transmission in weite Landstriche oder gar global erfolgt. In diesem harmonisierten Modell spielt es wie erwähnt keine Rolle, ob der Schädling in der Luft als „Miasma“ oder als „Krankheitssamen“ identifiziert wird, denn sowohl die Wirkung als auch die Therapie bleiben jeweils gleich. Zu letzterer gehört auch ein gesundheitsförderlicher Lebenswandel, der auf ein ausgeglichenes Verhältnis der Körpersäfte achtet und im Krankheitsfall die schädlichen Stoffe durch Exkretion austreibt. Und auch die durch göttliche Gnade erwachsenen Arzneimittel werden den Menschen nicht direkt durch den Eingriff Gottes geschenkt, sondern nehmen den gleichen Weg der Natur, indem die Sterne das Wachstum der „foelicia semina“ fördern, aus denen anschließend die Remedien auf und unter der Erde erwachsen. Krankheit und Heilung geschehen so durch natürliche Regulation auf Gottes Geheiß. Miteinbezogen wird bei Fracastoro auch – und das wurde bisher übersehen – die Auseinandersetzung mit den epikureischen Denkern, deren zweitwichtigster Vertreter Lukrez ein wichtiges Formmodell und Ideenreservoir für seine Krankheitsbeschreibung in der Syphilis darstellt. Der Veroneser weiß die Problematik, die in der häretischen Philosophie des Epikureismus liegt, sinnvoll auf sein Gesamtkonzept anzuwenden, indem er an der Erstursache, dem Zorn Gottes, ansetzt, ein Attribut, das nach Meinung Epikurs und Lukrez’ eigentlich überhaupt nicht existiere, da es ihrem Gottesbegriff widerspreche. Für die säkulare Hybris werden nicht nur die ‚Epikureer‘ Syphilus und Alcithous als diejenigen bestraft, die den göttlichen Zorn ausgelöst haben, sondern alle. Fracastoro zeigt in seinem Lehrgedicht, wie man die pluralen Konzepte bzgl. der Seuche zusammendenken kann, und führt vor, wie man eine ambivalente Vorlage wie Lukrez in diverser Hinsicht integriert. Man sollte dabei nicht vergessen, dass es sich um gelehrte lateinische Poesie handelt, die von einem Arzt stammt, der sich zu einer Krankheit äußert, die als eine neue, alle Menschen bedrohende Seuche wahrgenommen wurde. In dieser allgemeinen Krise stärkt Fracastoro die Medizin, aber auch das traditionelle Weltbild: Sein Mythos vom Häretiker Syphilus, den er als eine Erzählung von politischem Abfall, säkularistischer Revolte und reuiger Rückkehr zur Gottesherrschaft präsentiert, lässt 76 Zu dieser „hierarchy of causes“ bei Fracastoro vgl. Nutton 1990, 230–231.

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Rückschlüsse darauf zu, wie er seine eigene Rolle als Arzt, Dichter und Philosoph erfüllt sehen wollte. Der Iatropoet erkennt die Zusammenhänge und vermag die vermeintlich ‚neue‘ Seuche in den Weltenlauf einzuordnen. In seiner poetischen Darstellung wird sie zu einem sinnvollen Teil des Ganzen, das zum einen durch Gottes Zorn, aber auch Gottes Gnade, zum anderen durch astrologische und sublunare Determinanten, schließlich auch durch elementare und humorale Gegebenheiten gemäß der Menschennatur konstituiert wird. Er ist insofern auch ein ‚politischer‘ Arzt, als er dezidiert vor Augen führt, dass die Erstursache immer auch eine moralische und soziale Komponente berücksichtigt; der Verfall der Sitten innerhalb der gegebenen menschlichen Gemeinschaft – in der Syphilis exemplifiziert an dem häretischen pastor und seinem die Vorsehung negierenden rex – kann aufgrund der Erregung der göttlichen Rachegelüste die ganze Kausalkette bis hin zur Entstehung ‚neuer‘ Epidemien in Gang setzen. Häresien schädigen nicht nur die betroffenen Abweichler, sondern alle. Die Gesamtaussage des Lehrgedichts scheint zu sein: Menschliche Hybris wird kollektiv bestraft, und nur der frommen Gemeinschaft kann die Gnade der Heilung widerfahren bzw. nur die Achtung der rechten sozialen Ordnung einschließlich der Gottesverehrung kann der Genese weiterer, noch ‚neuerer‘ Übel vorbeugen. Weil die einmal entstandenen Seuchen nicht verschwinden oder von Gott zurückgenommen werden – wie ja die Nymphe Ammerice versichert –, besteht dieser Ordnungszusammenhang „ewig“. Der theologisch und philosophisch gebildete poeta medicus nach Fracastoros Prägung möchte die Welt mit all ihren Seuchen als gerechten Ort der Strafe und der Gnade Gottes erkannt wissen.

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Die bedrohte Stadt Rodrigo de Castro und die Hamburger Pestepidemie von 1596/97

1 Einleitung „Damit sich sowohl die gesamte Stadt als auch jeder Einzelne vor dem aufziehenden Übel wappnen kann …“1 – diesen Anspruch formuliert der Arzt Rodrigo de Castro im Titel seines 1596 bei Jakob Lucius dem Jüngeren in Hamburg gedrucken Tractatus brevis de natura, et causis pestis, quae hoc anno M.D.XCVI. Hamburgensem Civitatem affligit,2 der die Bekämpfung einer in diesem Jahr grassierenden Epidemie zum Ziel hat. Die beiden Pole „Gemeinschaft“ und „Individuum“, die beide von jener als „Pest“ angesprochenen Krankheit3 gleichermaßen bedroht sind, werden bereits von Beginn an untrennbar miteinander verwoben: Suffiziente Maßnahmen betreffen nicht nur den einzelnen Erkrankten (unusquisque), sondern wirken gleichsam auf das Gemeinwesen im Ganzen (universa urbs). Rodrigo de Castro (ca. 1550–1627), der als Arzt zu dieser Zeit seit

1 „Ut tum universa urbs tum etjam unusquisque sese possit ab exorienti malo praeservare …“; vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, Titel [fol. 932r]. 2 Im Folgenden abgekürzt als: Tractatus de natura et causis pestis. Es wird nach dem Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek München (4 Diss. 2077#Beibd. 55) zitiert: https://reader. digitale-sammlungen.de/resolve/display/bsb10157104.html [letzter Aufruf: 15.02.2020]. Das Münchner Exemplar war ursprünglich nicht paginiert, wurde jedoch in einen Folio-Band eingebunden und nachträglich foliiert (fol. 932–953). Um eine leichtere Auffindbarkeit der zitierten Passagen anhand des Digitalisats zu ermöglichen, wird bei Zitaten und Textangaben diese Foliierung in eckigen Klammern angegeben. 3 Die Frage, ob es sich bei den in den frühneuzeitlichen Qellen u. a. als pestis/„Pest“, pestilentia/„Pestilen[t]z“ oder „Sterbensleufft“ angesprochenen Krankheitsbildern jeweils um Epidemien handelte, die von dem 1894 von Alexandre Yersin (1863–1943) isolierten Erreger Yersinia pestis hervorgerufen wurden, kann hier nicht eingehend diskutiert werden. Zum Problem der retrospektiven Diagnose vgl. Kinzelbach 1995, 134–190 (die sich sehr skeptisch bzgl. der Gleichsetzung der Schilderungen mit dem Begriff „Pest“ äußert); Arrizabalaga 2002; Leven 2005, bes. 25–32. Wenn im Folgenden von „Pest“ gesprochen wird, so ist dies vor dem Hintergrund der nicht aufzulösenden epidemiologischen Unsicherheit zu sehen; dass auch die Zeitgenossen durchaus mit der Unsicherheit rangen, ob eine Krankheitswelle als „Pestepidemie“ einzustufen war, zeigt u. a. das hier diskutierte Beispiel de Castros. https://doi.org/10.1515/9783110612349-003

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etwa fünf Jahren in Hamburg lebte und wirkte,4 stellt sich mit der 21 Folio-Seiten umfassenden Schrift in die Tradition der Pesttraktate, die durch das 1348 vom Pariser Collegium medicum anlässlich der ersten verheerenden Epidemie, des „Schwarzen Todes“, begründet wurde.5 Beginnend mit Karl Sudhoffs grundlegenden Arbeiten zur systematischen Erschließung der zahlreichen Pestschriften „der ersten 150 Jahre“ nach der Epidemie von 13486 ist eine reiche Forschungsliteratur entstanden, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven dem Phänomen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Pestepidemien nähert.7 Am Beispiel von de Castros Tractatus de natura et causis pestis soll ein Aspekt der medizinhistorischen Pest-Diskussion herausgegriffen werden, der insbesondere durch Martin Dinges’ wegweisenden Aufsatz systematisch beleuchtet wurde:8 Das Verhältnis von Pest und Staat bzw. Pest und Politik. Dinges’ Verdienst liegt darin begründet, jenseits der traditionellen medizinhistorischen Diskurse, die in der Pestbekämpfung vor allem eine lineare ärztliche Erfolgsgeschichte zeichnet, die „soziale“ Konstruktion der Pest herauszuarbeiten.9 In Zeiten, in denen Krankheiten durch offensichtliche Übertragung und Ausbreitung nicht nur Individuen, sondern auch ihre übergeordnete soziale, organisatori4 Rodrigo de Castro, geboren in Lissabon, emigrierte nach seinem Studium in Coimbra, Évora und Salamanca über Antwerpen nach Hamburg, wo er in der Nähe der St.-Petri-Kirche eine weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Praxis betrieb. Zu den Lebensdaten und zur Biographie de Castros vgl. Arrizabalaga 2009, 111–114; Studemund-Halévy 2001; Studemund-Halévy 2008. Vgl. auch den Beitrag von Mariacarla Gadebusch Bondio und Katharina-Luise Förg in diesem Band. 5 Zum Pariser Pestgutachten, das in lateinischer und altfranzösischer Fassung zirkulierte, vgl. Sies 1977; Schwalb 1990. Das Gutachten sah die Ursache für die Krankheitswelle – neben dem göttlichen Willen – in einer ungünstigen Planetenkonstellation begründet und empfahl die Vermeidung von West- und Südwind sowie die regelmäßige Räucherung der Wohnung. Für eine Forschungsübersicht zum „Schwarzen Tod“ vgl. Bulst 2005; für einen Überblick über die Ereignisgeschichte vgl. Bergdolt 2017. 6 Bislang existiert keine systematische Aufzählung bzw. Katalogisierung aller Pestschriften, ganz zu schweigen der kleineren Formate wie Einblattdrucke; auszugehen ist jedenfalls von mehreren tausend Pestschriften. Vgl. für eine Übersicht Sudhoff 1925; Klebs/Sudhoff 1926; zu den Einblattdrucken vgl. Marr 2010; zu den volkssprachlichen Schriften vgl. Heinrichs 2018, 165–226. 7 An dieser Stelle sei nur das einschlägige Handbuch von Jean-Noël Biraben genannt; vgl. Biraben 1975/1976. 8 Dinges 2005; ein ähnlicher Ansatz findet sich bereits bei Zimmermann 1988 und, bezogen auf die Praxis norditalienischer Städte, bei Bergdolt 1992. 9 Vgl. Dinges 2005, 85–97. Nach Dinges’ Analyse liegt die in vielfacher Weise auf die Gesellschaft und ihre Akteure einwirkende Dimension der Pest „einerseits im Katalysatoreffekt der Seuche, die bereits Angedachtes und vorsichtig Versuchtes nun drängender macht, anderseits in der Entstehung zusätzlicher Problemfelder und Handlungschancen für die Bevölkerung, die Kirche und die Obrigkeiten“; vgl. Dinges 2005, 99.

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sche und politische Gemeinschaft – im frühneuzeitlichen Kontext meist die jeweiligen Städte – bedrohte, entstanden gesellschaftliche Dynamiken, in denen Strategien zur Seuchenbekämpfung häufig Einfluss auf die soziale Ordnung und somit wiederum auf den einzelnen Bürger und seine unmittelbar-alltägliche Lebenswelt nehmen. So wurde, um nur ein Beispiel aus Süddeutschland unter vielen anderen zu nennen, in Nürnberg 1494 verboten, Leichen von Bewohnern des Umlandes innerhalb der Stadtmauern auf den Kirchhöfen von St. Sebald und St. Lorenz zu begraben, 1517 wurde dieses Verbot auf alle nichtklerikalen Stadtbewohner ausgedehnt, ab 1526 waren schließlich auch Geistliche betroffen.10 Diese vom Nürnberger Magistrat beschlossenen Neuerungen veränderten nicht nur die Abläufe der Leichenbestattung, sondern prägten auch den urbanen Raum maßgeblich. Je nach Brennschärfe lassen sich unterschiedliche Gruppen von Akteuren ausmachen, die im Kontext der Pestabwehr mit-, bisweilen auch gegeneinander, agierten. An erster Stelle sind die heilkundig Tätigen, vor allem die Ärzte, zu nennen, die für die Behandlung der Kranken verantwortlich zeichneten. Das Versagen von individuellen Therapien wurde während der Pestepidemie von 1348 rasch deutlich – kein geringerer als Guy de Chauliac (ca. 1298–1368), Leibarzt des Papstes in Avignon, hat als einer der ersten in seiner Chirurgia magna beschrieben, wie aussichtslos der Kampf der Ärzte gegen die Krankheit war.11 Nicht selten war die rechtzeitige Flucht das einzig wirkungsvolle Mittel, das sogar Ärzte – die wiederum selbst häufig unter Inkaufnahme der Schmach die verseuchte Stadt verließen12 – empfahlen. Umso wichtiger erschienen, um eine Ausbreitung der Krankheit zu verhindern, Maßnahmen zur Seuchenprävention, die von einer medizinischen Autorität koordiniert werden mussten. Nicht zuletzt deshalb konnte sich das Amt des Stadtarztes bzw. Stadtphysikus (lat. häufig medicus ordinarius) etablieren und entwickeln, das diesem Bedürfnis Rechnung trug.13 Die Stadtärzte verfassten an der Schnittstelle zwischen dem Magistrat und den Heilberufen regelmäßig Trak10 Dross 2015, 312–313. 11 „Fuit enim inutilis pro medicis et verecundosa, quia non erant ausi visitare propter timorem inficiendi, et quando visitabant parum faciebant et nichil [sic] lucrabantur“; vgl. Guy de Chauliac, Chirurgia magna, tract. 2 doct. 2 cap. 5, hrsg. von McVaugh 1997, 118. 12 Die Kapitulation und Flucht der Ärzte im Angesicht der übermächtigen Erkrankung wurde von vielen prominenten Zeitgenossen wie Francesco Petrarca kritisiert; vgl. hierzu Zimmermann 1988, 1. Von Stadtärzten wurde hingegen erwartet, dass sie ihrer Pflicht zum Verbleib und zur Behandlung nachkamen; vgl. Wallis 2001; Kalff 2014, 385–389; dies wird auch 1651 im Hamburger Eid formuliert, den die Stadtärzte ab 1651 zum Amtsantritt schworen (vgl. u., S. 70). 13 Zum Amt des Stadtarztes (mit Fokus auf den deutschsprachigen Raum) vgl. Stürzbecher 1981; Schilling/Schlegelmilch/Splinter 2011.

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tate, in denen sie den politischen Entscheidungsträgern – der zweiten wichtigen Gruppe – medizinische Beobachtungen mitteilten und Vorschläge erarbeiteten, wie durch präventive Maßnahmen die Bevölkerung vor der Ansteckung an der Pest (und auch vor anderen Krankheiten) geschützt werden konnte.14 Bereits im 15. Jahrhundert gab es im südlichen Europa zu diesem Zweck eingerichtete eigenständig agierende Pestbehörden, die in Pestzeiten prophylaktische und präventive Maßnahmen veranlassten.15 Schließlich lassen sich in der frühneuzeitlichen Gesellschaft noch weitere Bevölkerungs- bzw. Berufsgruppen – etwa Totengräber, fahrende Händler oder Pastoren – ausmachen, die von den (stadt-)ärztlichen und ordnungspolitischen Maßnahmen wie Quarantäne, Kontaktverboten, restriktiven Ein- und Ausfuhrbestimmungen oder veränderten Bestattungsformen betroffen waren. Die Forschung hat sich diesen sozialgeschichtlichen und politischen Implikationen von Pesterkrankung und Pestabwehr, deren Aufarbeitung Dinges 1995 noch als Desiderat bezeichnet hatte,16 mittlerweile in mehreren Einzelstudien gewidmet. So thematisieren etwa die Forschungen Annemarie Kinzelbachs17 – vorwiegend am Beispiel süddeutscher Städte – die Verquickungen von Pestpolitik und städtischem Alltag. Sabine Kalff hat eine detailreiche Monographie zur politischen Medizin in der Frühen Neuzeit vorgelegt, in der sie die ärztlichen und öffentlichen Maßnahmen während der Mailänder Pestepidemie von 1629/ 1630 untersucht.18 Mit ähnlicher Stoßrichtung widmet sich die Dissertation Mariusz Horanins dem Augsburger Quellenmaterial,19 während die Arbeiten John Hendersons Einblicke in den Florentiner Kontext bieten.20 Es liegt in der Natur der Sache, dass angesichts des enormen Quellenreichtums, der kleinstrukturierten Verwaltungseinheiten des frühneuzeitlichen Europas und der großen Zeit14 Dabei ist in der Forschung umstritten, welchen Anteil die (Stadt-)Ärzte an den konkreten Maßnahmen hatten. Eine wichtige Rolle weist ihnen beispielsweise John Henderson zu; vgl. Henderson 1989; für den Augsburger Kontext mit weiterer Literatur Horanin 2019, 173 mit Anm. 544; kritisch dagegen u. a. Dinges 1995, 75. Die unterschiedliche Beurteilung mag sicherlich im jeweiligen Quellenmaterial begründet sein, sodass pauschale Aussagen angesichts der zahlreichen lokalen Kontexte den Befund nur unzureichend spiegeln. 15 Das Süd-Nord-Gefälle beim Organisationsgrad und bei der Qualität der Maßnahmen gegen die Pest, die vor allem in Mailand, Florenz und Venedig (hier wurde bereits 1423 das Lazzaretto Vecchio eingerichet) immer wieder als vorbildlich empfunden wurden, ist in der Forschung hinreichend herausgearbeitet worden; vgl. hierzu Dinges 1994. 16 Vgl. Dinges 1995, 72. 17 Vgl. Kinzelbach 1995; Kinzelbach 1997; Kinzelbach 2006. 18 Vgl. Kalff 2014, speziell zur Mailänder Epidemie: 275–436. 19 Vgl. Horanin 2019. 20 Vgl. Henderson 2019a; Henderson 2019b; für England vgl. z. B. Gilman 2009; einen synthetischen Ansatz verfolgt Bulst 2003.

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spanne, in welcher unter der Klammer „Pest“ bezeichnete Epidemien grassierten, in lokalen Kontexten noch erhebliche Lücken in der Forschungslandschaft bestehen.21 Im Folgenden möchte ich Rodrigo de Castros Tractatus de natura et causis pestis unter den oben skizzierten Prämissen der Verschränkung von Politik und Medizin beleuchten. Dabei sollen die unterschiedlichen „politischen“ Ebenen des Traktats deutlich werden. Zuerst wird textimmanent untersucht, mit welchen (vorwiegend gruppenbezogenen) Maßnahmen de Castro die Ausbreitung der Seuche in Hamburg zu verhindern sucht – wie er also konkrete administrative Schritte der verantwortlichen Politiker einfordert. In einem zweiten Abschnitt soll de Castros Pestschrift mit weiteren Quellen verglichen werden, die – wie die Pestordnung Johann Bökels (1535–1605) – die Hamburger Pestepidemie von 1596/1597 thematisieren. Anhand dieser Analyse soll deutlich werden, dass Pestschriften im Allgemeinen und de Castros Tractatus de natura et causis pestis Teil eines öffentlichen Diskurses sind: Der Verfasser positioniert, ja exponiert sich durch die Veröffentlichung seiner Einschätzung der Krankeitswelle und die Einforderung ordnungspolitischer Maßnahmen in der städtischen Gesellschaft und wird somit selbst zur öffentlichen Figur. Damit sind im Einzelfall durchaus konkrete individuelle Motive, etwa die Bewerbung um ein öffentliches Amt, denkbar – im Hamburger Kontext lässt sich, wie gezeigt werden soll, vermuten, dass de Castro das Amt des Subphysikus anstrebte. Somit können Pesttraktate auch in biographischer Sicht als (standes-)politische Manifeste gelesen werden. In einem kurzen Ausblick soll abschließend ein Blick auf die Bedeutung des Textes, der nach Kenntnis des Verfassers bislang in der de Castro-Forschung abgesehen von einigen Erwähnungen unberücksichtigt gelieben ist,22 für das weitere Œuvre des Autors geworfen werden.

21 Zum Hamburger Befund und zur lokalen Forschungsgeschichte vgl. unten, S. 58–62. 22 Vgl. z. B. Gernet 1869, 137–138; unerwähnt ist die Schrift z. B. bei Eckart 1984; ebensowenig bei Cardoso 2019; vgl. hingegen Arrizabalaga 2009, 112, der den Traktat als „little medical work“ bezeichet; er äußert jedoch bereits – ohne dies weiter auszuführen – den Verdacht, de Castro habe mit diesem Werk in der Stadtöffentlichkeit Aufmerksamkeit erregen wollen.

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2 Rodrigo de Castros Tractatus de natura et causis pestis – ein Appell zur gemeinschaftlichen Pestprävention Rodrigo de Castros Tractatus de natura et causis pestis ist, wie aus der (im Anhang abgedruckten und übersetzten) Widmung (dedicatio) hervorgeht, dem Hamburger Rat23 (senatus) gewidmet, den de Castro von der dringlichen Notwendigkeit der Veröffentlichung der Pestschrift überzeugen möchte. Aus Liebe („amor“) und Achtung („observantia“) gegenüber dem Gemeinwesen bzw. der Stadt Hamburg sieht sich de Castro, der sich rühmt, andernorts bereits Erfahrung in der Bekämpfung von Epidemien gemacht zu haben, in der Pflicht, über die verhängnisvolle Seuche aufzuklären, obwohl er den Traktat „unaufgefordert“ („non interrogatus“) verfasst habe. Ich habe es als meine Aufgabe aus Liebe und Achtung gegenüber dem Gemeinwesen verstanden, und glaube, dass ich mich um das ganze Hamburger Gemeinwesen verdient machen werde, wenn ich diese Aufgabe eingehend prüfe und zu Papier bringe, was in einer solchen Lage zu tun ist, neben dem, was ich in anderen Regionen wahrgenommen und mehrmals mit häufiger Erfahrung als richtig erwiesen habe, und wenn ich einen Weg aufzeige, wie die Sitten, die andernorts in ähnlichen schwierigen Umständen beobachtet werden, auch diesem Gemeinwesen – soweit es die deutsche Gewohnheit zulässt – angepasst und darauf zugeschnitten werden können.24

Es zeigt sich, dass die Frage, ob die Krankheit – die sich, so konstatiert de Castro, von Tag zu Tag weiter ausbreitet – die Pest oder irgendeine andere Seuche 23 Es würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen, die komplexe frühneuzeitliche Verfassung Hamburgs im Einzelnen nachzuzeichnen. Daher seien nur einige Grundzüge erwähnt: Der Rat (bzw. lateinisch senatus), die wichtigste politische Instanz, bestand aus vier Bürgermeistern und 24 Senatoren, die die Stadt nach außen vertraten und die Gerichtsbarkeit ausübten. Dem Rat de iure gleichgestellt war die Bürgerschaft, die sich aus den sog. „Erbgesessenen“ – Bürgern, die einen gewissen Zensus erfüllten – konstituierte und zusammen mit dem Rat die Legislative bildete. St. Petri, St. Nikolai, St. Jacobi, St. Katharinen und St. Michaelis bildeteten als Kirchspiele die politischen wie geistlichen Verwaltungseinheiten, an deren Spitze ein Kollegium von Diakonen stand, das wiederum mit dem Rat verhandelte; vgl. hierzu z. B. Bolland 1977. 24 „mearum partium, id est mei erga Rempub. amoris, et observantiae esse existimavi: ac ita demum de vobis, et de universa Repub. Hamburgensi bene me meriturum duxi, si hoc negotium pensius examinarem, et quid in eo praestandum sit, juxta illud, quod in aliis regionibus animadverti, ac saepius crebra experientia comprobavi, literis mandarem, viamquem sternerem, qua mores, qui alibi in similibus calamitatibus observantur, quantum consuetudo Germanica pateretur, huic etjam Reipub. aptari accomodarique possent“; vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [fol. 934r–v].

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ist, zumindest im öffentlichen Diskurs noch nicht klar beantwortet ist; somit ist es nicht verwunderlich, dass sich de Castro in seinem ersten Hauptteil (fol. 935r–938r) – De natura, causis, et signis hujus cladis –, der sich mit der Natur, den Ursachen und den Zeichen dieses Unheils beschäftigt, um eine möglichst eindeutige Klassifikation bemüht: Weil in dieser Stadt daran [sc. an der Krankheit] auch jetzt sehr viele sterben, und zwar unmittelbar, und nicht ohne [vorhergehende] Ansteckung, weil in jenen Häusern, in denen jemand krank ist oder darnieder liegt, sehr häufig sich auch die anderen [Bewohner] anstecken, ist es sehr sicher, dass sie freilich an der Pest sterben. Es sind nämlich diese zwei Merkmale, die das Wesen und die Natur der Pest ausmachen: die Ansteckung, selbstverständlich, und daraufhin der rasche Eintritt des Todes.25

Zwei Dinge sind für de Castro definitorisch entscheidend: Die Ansteckung (contagium) und der rasche Eintritt des Todes (praeceps mortis invasio).26 Dazu gesellt sich eine Reihe weiterer Symptome – Fieber, Papeln, Beulen –, die bei der aktuellen Krankheitswelle angetroffen werden – dadurch gibt es für ihn „keinen Raum für Zweifel“ an der diagnostischen Sicherheit.27 Bezüglich der Epidemiologie bzw. der Krankheitsausbreitung nennt de Castro zwei unterschiedliche Infektionswege, die in der frühneuzeitlichen Pestliteratur gleichermaßen bekannt sind: Zum einen die Übertragung durch das contagium, d. h. eine direkte Ansteckung von Mensch zu Mensch – die jedoch durchaus auch über ein Medium wie wollene Kleidung vermittelt werden kann –, zum anderen eine Ansteckungs-

25 „Quum itaque plurimi in hac urbe etjam nunc moriantur, idque subitò, et non sine contagio, quia in illis aedibus, ubi quispiam aegrotat aut periclitatur, alii ut plurimum inficiuntur, certissimum est eos quidem peste interire. Sunt enim haec duo, quae pestis essentiam atque naturam constituunt, contagium nimirum, atque praeceps mortis invasio;“ vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [fol. 935r]. 26 Die Vorstellung, dass die Infektion durch das contagium, d. h. eine Ansteckung von Mensch zu Mensch über direkten Umgang – und nicht allein etwa durch unentrinnbare Planetenkonstellationen oder Miasmen („Häuche“), die de Castro jedoch ebenfalls als weitere mögliche Ursachen nennt – erfolgen konnte, ist die Grundvoraussetzung für das Konzept der Prävention durch ordnungspolitische Maßnahmen. Ähnlich argumentiert z. B. auch der Mailänder Stadtarzt Alessandro Tadino anlässlich der Pestepidemie von 1629/1630: Er berichtet in seinem Raguaglio della gran peste contagiosa von 27 Toten aus Chiusi, die sich gegenseitig infiziert hätten und somit erwiesenermaßen an der „echten Pest“ gestorben seien; vgl. hierzu Kalff 2014, 325. 27 „Quae profectò omnia quia in grassante hoc morbo reperiuntur, nullus relinquitur dubitationi locus“; vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [fol. 935r]. Zum Verständnis der frühneuzeitlichen Pestdiagnose, die im Gegensatz zur modernen kausal-erregerbasierten Diagnostik auf eine kontinuierliche Interpretation möglichst kongruenter semiotischer Zeichen durch den Arzt angewiesen war, Kalff 2014, 319–321.

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form über weitere Distanzen mittels (Pest-)Hauch (halitus).28 Gegenwärtig sei die Krankheit in einem Anfangsstadium, sodass vor allem schwächere Naturen wie Frauen oder Kinder betroffen seien, es bestehe aber die Gefahr, dass mit Ausbreitung der Krankheit diese an Intensität gewinne, sodass auch die kräftigeren Männer erfasst würden.29 Zur Genese des Übels (malum) wird folgende Theorie ins Feld geführt: Aufgrund eines übermäßig milden Winters, auf den ein außergewöhnlich feuchter Sommer folgte, sei die Ernte verdorben gewesen; zudem hätten sich die Getreidepreise deutlich erhöht, sodass die Nahrungsversorgung der ärmeren Bevölkerung erschwert worden sei und sich diese überwiegend von fauligen und durchfeuchteten Speisen ernährt habe. Aus diesem Grund, so de Castro, sei es auch nicht verwunderlich, dass besonders in den ärmeren Wohngegenden, die von Schmutz und Feuchtigkeit durchdrungen seien, die Pest als erstes ausgebrochen sei; zudem seien die chronologisch ersten Krankheitsfälle auf der (seit 1273 gepflasterten) Steinstraße (platea lapidea) bemerkt worden, der Hamburger Hauptverkehrsachse, an der im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit besonders viele ärmliche Herbergen angesiedelt waren.30 Im folgenden Abschnitt führt de Castro diese Theorien zur Ansteckung und Ausbreitung weiter aus, um dann wiederum auf die Symptomatik der Erkrankten zurückzukehren: Fieber, Mundtrockenheit, verändertes Hautkolorit, Ekel, Erbrechen, Ausfluss – Symptome, die jedoch nicht immer vorhanden seien; der bisweilen zu beobachtende Befund, dass Puls und Urin unauffällig seien und der Kranke durch das schlummernde Gift dennoch kurz vor dem Tod stehe, erschwere die Diagnose, sodass auch „sehr gebildete Ärzte“ zu Pestzeiten häufig getäuscht würden.31 Der zweite Hauptteil (fol. 938r–944r) – De ratione praeservandi à peste („Wie man der Pest vorbeugt“) – beschäftigt sich mit Präventionsmaßnahmen. Neben dem (nur sehr knapp erwähnten) Flehen um göttlichen Beistand führt de 28 Zu den frühneuzeitlichen, maßgeblich auf Girolamo Fracastoro zurückgehenden Vorstellungen der Ansteckungsformen vgl. Nutton 1983. 29 Vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [fol. 935r–v]. 30 „Ideoque vidimus hujus sortis homines plures infici, quippe qui transpiratione liberoque aëre careant, à quo alioqui spiritus mirum in modum recreantur, atque purgantur. Illis accessit contagium fortasse per homines peste infectos, aut per alia apta ad fomitem mali recipiendum, quae ex urbibus peste laborantibus huc intromissa fuerunt; hinc forsan in illa platea, quam lapideam vocant, ubi pleraque sunt hospitia, haec lues prius debacchata est“; vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [fol. 935v]. 31 „Tunc etiam angustia, anxietas, crebra syncope, et cordis lancinatio, contingit. Quòd si haec qualitas perniciosa delituerit, tunc fit, quod Avicenna notavit: pulsus bonus, et urina bona, et aeger tendit ad mortem, et hoc quidem medicos etjam doctissimos saepe fallit, ideoque tempore pestis, semper omnia symptomata suspecta esse debent“; vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [fol. 937r].

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Castro zum einen die Einhaltung der sex res non naturales32, zum anderen vier in ihrer Zusammensetzung detailliert angegebene, präventiv anzuwendende Arzneimittel auf der Basis von Theriak ins Feld. Die größte präventive Wirksamkeit schreibt de Castro jedoch der moderatio aëris zu, die wiederum gemäß seiner Pathophysiologie der Pestausbreitung zwei Zielrichtungen aufweist: Einerseits die Sauberhaltung der Luft auf öffentlichen Gassen und Plätzen zur Reduktion der halitus, andererseits die Verhinderung der contagium-vermittelten Ansteckung. Zur rectificatio aëris wird die regelmäßige Reinigung und Ausräucherung von privaten und öffentlichen Anlagen mit duftenden Ingredienzien empfohlen; in Spanien mache man sich, so de Castro, zudem den als heilsam geltenden Atem von Rindern zunutze, die man in Scharen durch die Stadt treibe.33 Zudem wird auf individueller Ebene vorausschauendes Verhalten nahegelegt: Größere Menschenansammlungen solle man wegen der sich stauenden Luft vermeiden, zudem sei es – hier leitet de Castro bereits zur Prävention gegen das direkte contagium über – ratsam, anstelle des üblichen Händeschüttelns andere Grußformen zu verwenden.34 Ebenjene Prävention gegen das contagium erfordert Maßnahmen, die über individuelle Verhaltensempfehlungen hinausgehen. In diesem Abschnitt kommt de Castro zu seinen medizinisch-politischen Kernthesen: Erstens fordert er penible öffentliche Sauberkeit ein; keinem Bürger solle mehr erlaubt werden, Schlachtabfälle auf die Straße zu werfen, ebenso seien herumvagabundierende Schweine und Hunde, die als mögliche Träger der fomites mali („Funken des Übels“) ausgemacht werden – auf dem eigenen Grundstück zu halten.35 Zweitens solle der üblichen Verschleierung von Krankheitssymptomen durch die Bestellung von „zwei oder drei Männern“, den sogenannten praefecti sanitatis, in den einzelnen Pfarrgemeinden vorgebeugt werden, deren Aufgabe es ist, dass sie „scharfsinnig den an Ähnlichem Erkrankten nachforschen und diese überreden, dass sie rechtzeitig heilbringende Medikamente anwenden, und dass sie

32 Zu den sex res non naturales zählte nach humoralpathologischen Vorstellungen ein ausgewogenes Verhältnis von Licht und Luft, Speise und Trank, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachsein, Aufnahme und Ausscheidung sowie der Gemütsbewegungen; vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [fol. 938v–939r]. 33 Vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [fol. 941v]; zu den Maßnahmen zur Pestbekämpfung in Spanien, deren Augenzeuge de Castro gewesen sein dürfte, vgl. Carreras Panchón 1976; speziell zur Pestepidemie in Sevilla zu Beginn der 1580er-Jahre Cook/ Cook 2009. 34 „Quanquam vero porrigendi manum consuetudo optima et laudabilis sit, mihi tamen conducibilius viderentur, si, quam diu contagium durat, alio salutationis genere hominis uterentur“; vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [fol. 941r]. 35 Vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [fol. 942v].

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niemanden aus infizierten Häusern herausgehen lassen.“36 Drittens seien Kontakte mit Erkrankten auf das absolut nötige Maß zu beschränken, ansonsten seien Kontaktpersonen für eine Zeit von 40 Tagen unter (die namensgebende) Quarantäne zu stellen. Viertens fordert de Castro, dass aus den Berufsgruppen der Totengräber wie auch der Pastoren, Chirurgen und Ärzte – gerade hier müsse darauf geachtet werden, qualifizierte Vertreter zu finden – einzelne Personen bestellt werden mögen, die auschließlich mit Pestkranken Umgang pflegen.37 Fünftens müsse die Zahl der Erkrankten und Toten in den Kirchspielen (parochium) in regelmäßigen Abständen dem Magistrat gemeldet werden, um durch diese Art der Aufzeichnung bzw. Statistik die Verbreitung der Pest möglichst sicher und detailliert erfassen zu können.38 Als sechste „öffentliche“ Maßnahme zur Pestprävention schlägt de Castro die Einrichtung eines publicum Nosocomium, d. h. einer öffentlichen Krankenanstalt bzw. eines Pesthauses, vor, die zwar außerhalb der Mauern, dennoch stadtnah gelegen sein müsse, um die Erkrankten bequem dorthin zu transportieren und sowohl nach sozialen39 als auch medizinischen und geschlechterspezifischen Kriterien separieren zu können.40 Zuletzt gilt de Castros Aufmerksamkeit der Bestattungspraxis: Entgegen der in Deutschland üblichen Sitte, einen Leichnam erst am dritten Tag zu bestatten, und entgegen der Meinung Guillaume Rondelets (1507–1566), dass die Körper Verstorbener nicht mehr kontagiös seien,41 plädiert er für ein rasches Be36 „Consultissimum et utilissimum fore putarem, si viri adessent duo aut tres, in singulis parochiis (quos alibi ministros sanitatis vocant, et magnae sunt autoritatis), qui diligenter inquirant de similibus aegrotis, persuadeantque, ut salutaria medicamenta in tempore adhibeant, ac neminem permittant à domo infecta exire …“; vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [fol. 942v–943r]. 37 Vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [fol. 943r]. 38 Vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [fol. 943r]. 39 De Castro gesteht reichen Bevölkerungsschichten zu, sich in ihrem eigenen Haus behandeln zu lassen; zur Differenzierung der Behandlungsstrategie nach ökonomischer bzw. sozialer Zugehörigkeit vgl. Rodenwaldt 1953, 78, 118; Ulbricht 2004, 124–125; grundlegend zur Typologie des Pesthauses vgl. Jetter 1963. 40 „Jam vero publicum illud Nosocomium, seu, (ut alibi vocant) sanitatis domus extra urbem eligatur, ad ortum aut septentrionem recipiens, in quem usum commodissimae multae aedes hic circumcirca inveniri possent. Hoc tamen advertendum, ne longe ab urbe distent, quo commodius aegrotantes eo transferri possint. Pluribus conclavibus distributas esse oportet, pro separationes virorum à foeminis, divitum à pauperibus, infectorum ac periclitantium à convalescentibus“; vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [fol. 943r–v]. 41 Vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [fol. 943v]; der französische Arzt und Anatom Guillaume Rondelet berichtet in seiner 1576 erschienenen Methodus curandorum omnium morborum corporis humani, dass er Pestkranke seziert habe, ohne selbst angesteckt worden zu sein, da sie nicht mehr atmeten: „Quare corpora illa mortuorum, quae ampliùs non expirant, nullum venenum eiaculantur. … Siquidem dissecuimus aliquando corpora

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gräbnis und – unter Verweis auf die Gesetzgebung der Republik Venedig – für eine größtmögliche Distanz zu den Totengräbern. Der dritte und vierte Hauptteil (fol. 944r–953r), die sich hauptsächlich mit Heilmitteln, Rezepturen (De ratione curandi Pestem) und ihrer richtigen Anwendung (Dexter remediorum usus) beschäftigen und auf die in diesem Rahmen nicht detailliert eingegangen werden soll, widmen sich der Frage, welche Maßnahmen bei bereits manifester Erkrankung ergriffen werden können. Hier wechselt Rodrigo de Castro erneut die Perspektive, indem er den einzelnen Patienten in den Mittelpunkt rückt. Am Ende des Tractatus de natura et causis pestis schließt de Castro jedoch den Bogen, indem er wiederum den bereits in der dedicatio adressierten Senat anspricht. Maßnahmen gegen die akute Bedrohung würden seiner Ansicht nach nur erfolgreich sein, wenn Politik und Medizin bzw. deren Vertreter ihren Aufgaben gerecht würden. Diese Zweigliedrigkeit betont de Castro explizit: Denn wenn es sich weiter verschlimmerte, wird es Eure Aufgabe sein, mit Eurer einzigartigen Klugheit, Sorgfalt und Umsicht – soweit es menschenmöglich ist – ihre Ausbreitung [sc. der Pest] zu verhindern, indem Ihr Mühe darauf verwendet, dass die Behandlungsvorschriften der Kranken eingehalten werden, dass die versehrten Häuser verschlossen werden und dass der Umgang und Verkehr der Infizierten unterbunden werden; unsere Aufgabe und die der hochberühmten Ärzte des Hamburger Gemeinwesens wird es sein, über die wirksamsten Schutzmaßnahmen (wenn es dann noch welche gibt) genauer nachzudenken ….42

Zusammenfassend lassen sich drei Merkmale festhalten, die für die weitere Analyse wesentlich sind. Erstens verwendet de Castro große Mühe darauf, zu betonen, welch große potenzielle Gefahr für die gesamte Bürgerschaft in den beobachteten Krankheitsfällen begründet ist. Damit einher geht zweitens die eindringliche Warnung vor einer Unterschätzung der Schwere der Epidemie, deren Charakteristika ausführlich geschildert werden; besonderer Wert wird darauf gelegt, nachzuweisen, dass die Krankeit als „Pest“ eingestuft wird. Damit wird – drittens – der Weg für die Einforderung von Maßnahmen bereitet, die über die Möglichkeiten des einzelnen (Pest-)Arztes hinausgehen und Anstren-

mortuorum ex peste, multis spectantibus studiosis sine aliquo damno: propterea quòd mortuo animali perit omne venenum“; vgl. Rondelet, Methodus, 1576, 806. 42 „Quod si amplius exacerbetur, vestrum erit, singulari vestra prudentia, cura, et diligentia, quoad humanitus fieri poterit, eius progressum impedire, operam dando, ut aegrorum ratio habeatur, laesae occludantur aedes, et infectorum consuetudo atque commercia inhibeantur: nostrum et clarissimorum reip. Hamburgensis medicorum de validissimis praesidiis (si quae adhuc sunt) exactius cogitare …“; vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [952r].

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gungen seitens der Behörden wie auch einer koordinierten Ärzteschaft einfordern. Maßnahmen wie die Änderung der Bestattungspraxis greifen weit über die eigentliche medizinische Heilbehandlung hinaus und bedingen tiefgreifende Umstrukturierungen des städtischen Alltags. Die Einrichtung eines öffentlichen Pesthauses bzw. Pesthospitals – dessen Ausstattung und Betrieb deutlich größeren Aufwand als etwa die im deutschsprachigen Raum bereits seit Beginn des 15. Jahrhunderts bekannten innerstädtischen „Pesthäuschen“43 erforderten – war nicht zuletzt auch eine finanzielle Herausforderung, die eines entsprechenden gesellschaftlichen Rückhalts bedurfte. Dies galt umso mehr in protestantischen Gebieten, in denen die traditionelle Finanzierung durch Stiftungen weggefallen war.44 Darüber hinaus greifen Mittel wie die prophylaktische Quarantäne, die Isolation bestimmter Berufsgruppen und die Weitergabe von Krankheitsaktivitäten an eine übergeordnete behördliche Einrichtung massiv in die private Lebenführung ein. Auch wenn keine Akteure namentlich angesprochen sind und de Castro seine Kollegen als „viri sapientissimi, et in arte medica apprimè versati“45 anspricht, so zieht sich doch ein Grundtenor durch die Schrift: Es scheint eine Diskrepanz zwischen der aktuellen öffentlichen Wahrnehmung bzw. der behördlichen und medizinischen Einschätzung der Hamburger Entscheidungsträger einerseits und der Analyse des jüdischen Arztes andererseits zu bestehen. Schenkt man Rodrigo de Castros leidenschaftlichem Plädoyer Glauben, so befand sich Hamburg im Herbst des Jahres 1596 unmittelbar an der Schwelle zu einer verheerenden Pestepidemie, auf die die Stadt nur unzureichend vorbereitet schien.

3 Hamburger Pestepidemien und öffentliche Reaktion im 16. Jahrhundert – ein Überblick Um Rodrigo de Castos Pestschrift zu kontextualisieren, ist es nötig, an dieser Stelle einen Blick auf das frühneuzeitliche Hamburger Medizinalwesen und die Pestepidemien des 16. Jahrhunderts zu werfen. Zwischen dem „Schwarzen Tod“, der spätestens 1350 auch in Hamburg wütete, und der letzten Pestepide43 So z. B. in Wien; vgl. hierzu Ulbricht 2004, bes. 100–102, der terminologisch zwischen den kleineren Pesthäusern bzw. -häuschen und den straff organisierten „Pesthospitälern“ unterscheidet, wie sie z. B. seit 1498 in Nürnberg und 1521 in Augsburg bezeugt sind. In Hamburg dürfte es sich bei den von de Castro und Johann Bökel geforderten Einrichtungen nach dieser Definition um ein „Pesthospital“ gehandelt haben; vgl. hierzu unten, S. 65–66 u. 70. 44 Vgl. Ulbricht 2004, 106. 45 Vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [fol. 934r–v].

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mie in den Jahren 1712–1714, die im Quellenmaterial außergewöhnlich gut dokumentiert ist,46 werden (bei großer definitorischer Unsicherheit) in der traditionellen Hamburger Geschichtsschreibung etwa 18 mehr oder weniger folgenreiche Epidemien gezählt.47 Bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts ist man bei der Rekonstruktion der Krankheitsverläufe und ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen ausschließlich auf archivalische und annalistische Quellen, wie z. B. die Chronik Adam Tratzigers (1523–1584) angewiesen – entsprechend spärlich ist die Überlieferungslage.48 Über präventive und im weiteren Sinne „seuchenpolizeiliche“ Maßnahmen in Pestzeiten fehlt jegliche Information. Die früheste namentliche Erwähnung eines in Hamburg tätigen Arztes fällt in das Jahr 1248, als die Erbsache eines gewissen Jacobus aktenkundig wurde.49 Im 15. Jahrhundert scheint es erstmals Ärzte gegeben zu haben, die zumindest partiell im weiteren Sinne öffentliche Aufgaben innehatten: Eine in den Memoriae Hamburgenses des Johann Albert Fabricius (1668–1736) abgedruckte Series Excellentissimorum Doctorum Physicorum et Subphysicorum50 setzt 1423 mit Johann van Maesbomel ein. Obwohl die Ärzte als physici bezeichnet werden, ist dies nicht zwangsläufig mit der Existenz eines typischens Stadtphysikats verbunden. Diese Institution wird erst ab 1529 greifbar, als im Zuge der in Hamburg maßgeblich von Johannes Bugenhagen (1485–1558) vorangetriebenen Reformation durch den sogenannten „Langen Rezess“ – dieser definierte das Verhältnis von Rat und Erbgesessener Bürgerschaft vertraglich grundlegend neu – die Bestellung eines physicus durch den Rat gefordert wurde.51 Bereits ein Jahr zuvor, 1528, war in der ebenfalls von Bugenhagen veranlassten „Neuen Kir-

46 Vgl. z. B. die gründliche Quellensammlung bei Wohlwill 1893; vgl. auch Boyens 2004. Für einen Überblick über die frühneuzeitlichen Pestepidemien in Norddeutschland vgl. Ribbentrop 2014. 47 Capell, Kurze Verzeichnis, 1712, o. S.; Julius 1826; Gernet 1869, 101–102. 48 Vgl. die immer noch grundlegende Überblicksdarstellung bei Gernet 1869, bes. 101–107. Das Hamburger archivalische Quellenmaterial ist zudem durch den Stadtbrand von 1842 und die Verluste im 2. Weltkrieg stark dezimiert. 49 Vgl. Gernet 1869, 6. 50 Vgl. Fabricius, Memoriarum Hamburgensium, 1710, 1043–1046; vgl. auch Julius 1826, 8; übernommen von Rodegra 1979, 30–31. Die Liste ist allerdings in einigen Jahreszahlen unvollständig bzw. fehlerhaft, so auch bei den Angaben zu Johann Bökel; vgl. Gernet 1869, 125–126. 51 Artikel 48 des Rezesses (in neuhochdeutscher Übersetzung): „Von dem Physico. E. E. Rath will auch zum Behuf dieser guten Stadt einen guten gelehrten Physicus halten, und alle andre practizirende [vermutlich ein Fehler, stattdessen: vagirende] Aerzte, Landläufer, unwissende Practicanten, Frauen oder Männer, sollen in dieser Stadt nicht geduldet werden“; vgl. Bartels, Grundgesetze, 1825, 70.

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chenordnung“ auf die Notwendigkeit dieser Einrichtung verwiesen worden.52 Dem Stadtphysikus sollte man gemäß der Kirchenordnung einen „erfaren chirurgicum edder wunden arsten tho hulpe“53 stellen – damit war das (häufig nicht besetzte) Amt des Subphysikus vorgezeichnet, das zunächst geringer besoldet und erst seit 1642 dem Physikat finanziell gleichgeordnet war. Wiederum ein Jahr früher, 1527, wurde zudem, wenn man der Überlieferung Glauben schenkt, ein erstes gesondertes Gebäude zur Behandlung Pestkranker errichtet; dabei dürfte es sich um ein kleines innerstädtisches Pesthäuschen gehandelt haben, das womöglich nur zu Zeiten einer Epidemie belegt wurde.54 Ab den späten 20er-Jahren des 16. Jahrhunderts lässt sich somit eine zunehmende Professionalisierung bzw. Institutionalisierung des Hamburger Medizinwesens feststellen, die sich zur Jahrhundertmitte auch in einer reicheren Überlieferung widerspiegelt.55 Während man für die Pestepidemien von 1521, 1526, 1547 und 1548 sowie für den Englischen Schweiß von 1530 noch vor allem auf Tratzigers Überlieferungen zurückgreifen muss, ist die besonders heftige Pestwelle von 1564/65, die laut seiner Chronik 30.000 Todesopfer forderte, die erste, „von welcher uns Nachricht durch einen ärztlichen Zeitgenossen überliefert wurde.“56 Als erster Arzt, der eine Hamburger Epidemie aus medizinischer Perspektive schildert, berichtet 1577 auf Latein bzw. 1578 in deutscher Sprache der zu dieser Zeit als Professor an der Universität Helmstedt wirkende Johann Bökel, der auch im Kontext mit de Castros Tractatus de natura et causis pestis eine wichtige Rolle spielt, „von der Pestilentz, welche für Zwölff Jaren in der löblichen Stadt Hamburg grewlich hat regieret.“57 Bökel schildert in dieser Schrift – allerdings ohne Details zu nennen – wie der Krankheitsverlauf die Obrigkeit bewegte, die medizinischen Anstrengungen zu verstärken. Vom Tode des berühmten Arztes Caspar Becker,58 der in Hamburg hohes Ansehen genoss und auf den die Bürgerschaft große Hoffnung in der Bekämpfung der Pestepidemie setzte, sei die ganze Stadt derart erschüttert und aufgerüttelt worden, dass sie auf ex-

52 „Item idt ys van hogen node dusser so groten guden Stadt, dath me holde eynen medicum edder phisicum, den aller gelerdesten und erfarnesten, den me krigen kan“; vgl. Bugenhagen, Kirchenordnung, hrsg. von Bertheau 1529, 40. 53 Vgl. Bugenhagen, Kirchenordnung, hrsg. von Bertheau 1529, 40. 54 Vgl. Gernet 1869, 82; Sieveking 1935; Rodegra 1977, 20; Boedecker 1977, 230. 55 Zu den Umbrüchen insbesondere im norddeutschen Medizinalwesen im Zuge der Reformation, die sich ab 1540 in einem erstarkten Interesse an öffentlicher Seuchenbekämpfung manifestieren, vgl. Heinrichs 2018, bes. 145–152. 56 Vgl. Gernet 1869, 156. 57 Vgl. Bökel, Gründtlicher bericht, 1578; bereits ein Jahr zuvor war die lateinische Version erschienen; vgl. Bökel, De Peste, 1577. 58 Vgl. auch Gernet 1869, 131.

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terne Unterstützung zur Seuchenbekämpfung angewiesen war:59 Man zog konziliarisch den erfahrenen Lübecker Stadtarzt Johannes Paludanus zu Rate, der sich bei der Bekämpfung der dortigen Pestepidemie einen Namen gemacht hatte und nun die Hamburger Bemühungen leitete und koordinierte. Bökel, in dessen Haus er während seines Aufenthaltes untergebracht war, berichtet von den gemeinsamen Anstrengungen zur Seucheneindämmung, die sich ob der Schwere der Epidemie als nahezu wirkungslos erwiesen: „Diese Pest“, so zitiert Bökel Paludanus, „verlacht uns und unsere Heilmittel.“60 Bökel schildert in dieser seiner ersten, in der lateinischen Version 49 Druckseiten umfassenden Pestschrift neben sehr knappen theoretischen Erklärungen etwa zur Ansteckungslehre denn auch kaum mehr als individuelle Heilmittel und Rezepte, deren Anwendung er bei gewissen typischen Symptomatiken empfiehlt; detaillierte seuchenhygienische Maßnahmen im Sinne einer Pestordnung, die etwa vom Rat zu beschließen wären, finden sich nicht. Dennoch stellt sich die Frage, weshalb Johann Bökel nach über einer Dekade, zudem an gänzlich anderem Wirkungsort, diese Pestschrift an den Hamburger Rat adressiert. Eine mögliche Erklärung lässt sich aus der praefatio/dedicatio zumindest indirekt herauslesen: Neben Dankbarkeit gegenüber dem Hamburger Gemeinwesen, die Bökel dazu veranlasst habe, seine auch für künftige Generationen wertvollen Erkenntnisse aus erster Hand bei der Pestbekämpfung festzuhalten, spricht er die „audacia malevolorum quorundam et iniquorum iudicia“ als Motiv an.61 Somit mag es ihm zusätzlich – gerade, wenn er die gemeinsamen Anstrengungen mit Paludanus betont – um eine Richtigstellung der bzw. die Deutungshoheit über die Ereignisse von 1564/65 gegangen sein. Denn auffällig ist, dass weder in dieser Schrift noch in der Pestordnung von 1597 der Name des ei59 „Medicinam tunc temporis isthic faciebat clarissimus vir (piae memoriae) doctrina et experientia Rei Medices peritissimus D. Casparus Becker, quem et honoris, virtutis, ac animi causa, qui in ipso vigebat, nomino, quod primus intrepidè hoc malum isthic exciperet, neque cuiquam laboranti suam negaret operam. At iniquiore fato (proh dolor [sic]) in principio, peste correptus, maximo civitatis luctu, eum spem summam in ipsius experientiam et peritiam colocassent omnes, diem suum obiit, et naturae debitum soluit. Hic casus Senatum non mediocriter percussit, nam saevius malum judicabant plerique, quòd ne Medici quidem ipsi satis sibi ab eo praevavere possent, et à quibus consilium et auxilium erat expectandum, ii primo tanquam in prima acie concoderent“; vgl. Bökel, De Peste, 1577, cap. 3 [o. S.]. Dieselbe Episode referiert Bökel auch in seiner 1597 erschienenen Pestordnung; vgl. Bökel, Pestordnung, 1597, cap. 1, fol. 5r. 60 „Ridet haec pestis nos et pharmaca nostra.“ Vgl. Bökel, De peste, 1577, cap. 3 [o. S.]; ebenso Bökel, Pestordnung, 1597, cap. 1, fol. 5r. 61 „Vobis autem potissimum hoc meum tenue scriptum dicare volui contra malevolorum quorundam audaciam et iniquiorum iudicia, qui minus amici futuri sunt censores“; vgl. Bökel, De Peste, 1577, praefatio/dedicatio [o. S.].

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gentlichen Stadphysikus genannt wird. Seit 1554 hatte der gebürtige Braunschweiger Franz Rodewald das Physikat inne, wobei der zur Zeit der Epidemie etwa dreißigjährige Bökel als Subphysikus fungierte62 – dieses Amt wurde möglicherweise angesichts der Bedrohung durch die Pest erstmals besetzt. Rodewald war entgegen zweier Gutachten, von denen das eine Johannes Brettschneider (Johannes Placotomus), das andere den eben genannten Johannes Paludanus als Nachfolger des Nicolaus Franz Stratius favorisierte, der das Amt niedergelegt hatte, vom Rat zum neuen Stadtphysikus ernannt worden.63 Wenn nun Bökel betont, dass ausgerechnet Paludanus als Konsiliararzt und er selbst als Subphysikus die Pestbehandlungen koordiniert hätten, so mag dies durchaus als Affront gegenüber dem amtierenden Stadtphysikus zu verstehen gewesen sein. Vielleicht hatte sich Bökel Hoffnungen gemacht, nach dem Subphysikat selbst direkt in das höhere Amt aufzusteigen, was jedoch u. a. dadurch verhindert wurde, dass Rodewald als erster Hamburger Stadtphysikus auf Lebenszeit fungierte.64 Neben den leisen Andeutungen in Bökels Pesttraktat, in denen vorsichtig die Hoffnung auf eine künftige Zusammenarbeit mit dem Hamburger Rat geäußert wird, überliefert Hermann Gernet einen Brief Bökels vom 11. Januar 1589 an den Rat, dass er „E[hrenwerten] E[hrbaren] W[ohlweisen] und gemeiner Stadt als meinem geliebten Vaterland zu dienen gantz geneigt und willig [sei] – damit wenn der fall mit Franzisko Rodewaldt (dem ich doch lange gern das leben gönne) nach Gottes willen vorhanden“, er sich „ledig und frei … in E[hrenwerten] E[hrbaren] W[ohlweisen] dienst begeben möchte.“65 Etwa zwei Jahre nach dieser recht unverhohlenen Bewerbung, d. h. vermutlich um das Jahr 1593, wurde Johann Bökel schließlich doch noch mit dem Stadtphysikat betraut, das er bis zu seinem Tod 1605 innehatte.66

62 Dies geht aus Bökels Pestordnung hervor: „So hab ich auch die grewliche, und erschreckliche Pest, welche des lengstabgelauffenen fünff und sechzigsten Jahres in dieser guten Stadt hefftig regiret …, als ich dazumahl bey dieser guten Stadt Subphysicus gewesen, beschrieben …“; vgl. Bökel, Pestordnung, 1597, cap. 1, fol. 1v. 63 Vgl. Gernet 1869, 120–121. 64 Vgl. Gernet 1869, 121–122. 65 Zitiert nach Gernet 1869, 392. 66 Initiativbewerbungen für ein Stadtarztamt waren in der Frühen Neuzeit durchaus gängige Praxis; vgl. hierzu Schlegelmilch 2020, die auch an einem Hamburger Beispiel aus dem Jahre 1660 die Praxis der Ernennung verdeutlicht (S. 101 mit Anm. 93).

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4 Die Epidemie von 1596/97 im Spiegel der Quellen Somit amtierte zum Zeitpunkt der Pestepidemie von 1596/97 mit Johann Bökel ein mit den lokalen Gegebenheiten bestens vertrauter Stadtphysikus, der einerseits selbst umfangreiche Erfahrungen mit der Behandlung Erkrankter gesammelt hatte, andererseits, wie seine Schrift von 1577/78 zeigt, durchaus um das disruptive politische bzw. gesellschaftliche Potenzial einer Pestepidemie wusste – und möglicherweise seine Leistung in den 60er-Jahren auch deshalb so sehr betont hatte, um sich selbst (letztlich erfolgreich) für die Besetzung des Stadtarztamtes in Stellung zu bringen. Über Bökels Anfangsjahre im Amt ist wenig überliefert; von einer weiter zunehmenden strukturellen Professionalisierung des Medizinalwesens zeugt die 1587 vom Rat erlassene Apothekerordnung, die den Stadtphysikus zur Aufsicht über die Arzneimittelherstellung verpflichtete.67 Die erste große gesamtstädtische Herausforderung dürfte die Krankheitswelle gewesen sein, die im Herbst des Jahres 1596 begonnen hatte und die auch im Zentrum von Rodrigo de Castros Tractatus de natura et causis pestis steht. Noch aus dem Jahr 1596 lassen sich neben de Castros Traktat zwei weitere Hinweise auf ein Pestgeschehen rekonstruieren: Zum einen veröffentlichte der bekannte Theologe und Prediger David Wolder (1568–1604) eine ebenfalls bei Jakob Lucius dem Jüngeren gedruckte Historia der biblischen Pest des 2. Buches Samuel (2 Sam 24), der, wie der Titel verrät, Trostschriften Martin Luthers beigegeben sind, die „tho düsser sorcklichen tydt der Pestilentze ydermennichliken nütte unde deenstlick“68 sein mögen; zum anderen wird bei Heinrich Binder in Hamburg ein kleines Büchlein gedruckt, das „Twe korte einfoldige Recept jegen die Pestilentz“ des 1554 in Weimar verstorbenen jüdischen Arztes Moses Staffelsteiner und des Cornelis van der Hamsport enthält.69 Rodrigo de Castro war jedoch, soweit in den Quellen greifbar, mit seiner am 6. November 1596 in den Druck gegebenen Schrift der erste ärztliche Experte, der die womöglich bereits seit Längerem von Teilen der Bevölkerung wahrgenommene Krankheitswelle als Pestausbruch benannte – somit erklärt sich auch die bereits oben konstatierte Beobachtung, dass de Castro derart ausführlich seine Einschätzung begründen musste. Zu Beginn des Jahres 1597 erfolgte dann die schriftliche Reaktion des Stadtphysikus auf die Krankheitswelle: Am Neujahrstag – d. h. etwa zwei Monate später als de Castro – schloss, wie das Vorwort festhält, Johann Bökel die Arbei67 Vgl. Kohlhaas-Christ 1985, 17–31. 68 Vgl. Wolder, Historia, 1596, Titel. 69 Vgl. Staffelsteiner/Hamsport, Recept, 1596.

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ten zu seiner 99 Folio-Seiten umfassenden Pestordnung ab.70 Im Gegensatz zu de Castros Tractatus de natura et causis pestis, der „non interrogatus“ geschrieben hatte (s. o.), verfasste Bökel „auff E[hrenwerten] Ehrnb[aren] Hochw[eisen] günstiges begeren, auch anderer meiner Herrn und Freunde, freundlichs ersuchen und bitten, diese Pestordnung, zur Praeservation und Cura, dieser schrecklichen Plage“71 – er tritt also explizit als Stadtphysikus in öffentlicher Mission auf. Auffällig ist ferner, dass er gleich zu Beginn des ersten Kapitels ausführlich begründet, „dass er bishero geschwiegen, und von der jtzigen in dieser volckreichen Stadt umbschleichenden Pest, nichts geschrieben.“72 Bökel führt zwei Gründe ins Feld: Erstens sei es aufgrund der Vielgestalt der Pestsymptome schwierig, die Krankheit zu erkennen; zweitens habe er das Volk nicht beunruhigen wollen: Zum andern, hab ich alsbald im anfang, in das gemeine volck, alss were so grosse not vorhanden, mit meinem schreiben, kein schrecken jagen wollen. Denn was der angst und schrecken in dieser gifftigen Seuche den menschen, sonderlich den, so sich bald schrecken lassen, für gefahr und schaden bringet, und welcher massen dieselben zum ersten das unglück betrifft, so sich dafür am meisten fürchten, ist menniglich bekandt.73

Die Rücksicht auf die „Psychologie“ der Bevölkerung macht den schmalen Grat deutlich, auf dem (Stadt-)Ärzte und Behörden wandeln und der für Bökel offenbar eine wichtige Rolle spielte: Bei einer voreiligen Ausrufung der Pest und der Einforderung öffentlicher Maßnahmen wäre durch die allgemeine Unruhe ein größerer Schaden als Nutzen entstanden – möglicherweise spielen hier bereits implizit Überlegungen eine Rolle, die sich konkret während der letzten Hamburger Pest zwischen 1712 und 1714 nachweisen lassen: Maßnahmen, die zur Pestbekämpfung erlassen wurden, trafen die auf freien Warenverkehr angewiesene Handelsstadt so empfindlich, dass versucht wurde, die grassierende Pest zu vertuschen oder sie als übliche Fieberkrankung zu verharmlosen.74 Bökel stand, nicht zuletzt durch de Castros Veröffentlichung, diese Option jedenfalls nicht mehr zur Verfügung. Zwischen de Castros Tractatus de natura et causis pestis und Bökels umfangreicherer Pestordnung, die sich deutlich von seiner erheblich knapperen Schrift von 1577/78 absetzt, gibt es neben dem für Pestschriften durchaus üblichen zweigliedrigen Aufbau der Maßnahmen in Prävention und Cura einige er70 Daran angeschlossen ist ein kurzer Exkurs zur Attischen Pest während des Peloponnesischen Krieges, vgl. Bökel, Pestordnung, 1597, fol. 100r–105v. 71 Bökel, Pestordnung, 1597, Vorrede [o. S.]. 72 Bökel, Pestordnung, 1597, cap. 1, fol. 1r. 73 Bökel, Pestordnung, 1597, cap. 1, fol. 2r. 74 Vgl. hierzu Boyens 2004, 301–303.

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staunliche inhaltliche Parallelen (die an dieser Stelle nur kurz diskutiert werden können), besonders in den Ausführungen zur Prävention. Deutlich eindringlicher als de Castro thematisiert Bökel zunächst, wie durch fromme Lebensführung die Gefahr einer Ansteckung aufgrund göttlicher Gunst verringert werden kann.75 Wie de Castro kommt Bökel zum Schluss, dass die beengten Wohnverhältnisse, zumal in den Kellerwohnungen, im Zusammenspiel mit mangelhafter Reinlichkeit der Bewohner faulige Luft verursacht, die wiederum Ursache der Erkrankung ist.76 Obwohl Bökel einräumt, dass Maßnahmen zur Bekämpfung des Unrats – er nennt etwa die Reinhaltung von Gassen und Häusern sowie die Verbannung von Ochsen und Schweinen aus der Stadt – „mehr unter die Policey als die Medizin fallen“ und er nicht den Anschein erwecken möchte, „als wolte [er] hie einem Erbarn Rhat [sic], und gemeiner bürgerschafft vorgreiffen“77, so fordert er dennoch gemeinschaftliche Anstrengungen zur Sauberhaltung der Stadt. De Castros praefecti sanitatis ähneln Bökels provisores oder Custodes sanitatis: Zwei oder drei ehrbare Männer seien zur Unterstützung des Medicus ordinarius pro Kirchspiel auszuwählen, die, gekennzeichnet mit einem weißen Kreuz auf der Brust, darauf achten sollen, dass „alles nach Ordnung eines Erbarn Raths, und gemeiner Bürgerschafft wohl angerichtet sei.“78 Anschließend werden – wiederum ausführlicher als bei de Castro – die Pflichten der Ärzteschaft angesprochen. Laut Bökel muss im jeweiligen Einzelfall genau abgewogen werden, ob die regelmäßige Visite Pestkranker und das damit verbundene Ansteckungsrisiko, insbesondere bei Armen, nicht größer als der Nutzen seien. Bökel schlägt auch hier staatlich besoldete Ärzte vor, die die regelmäßige Visite übernehmen und bei Bedarf dem Stadtarzt Bericht erstatten.79 De Castros Wunsch nach einem neuen Pesthaus entspricht Bökel im Grundsatz, der vorschlägt, im Norden der Stadt in der Nähe des „Immenhoffs“ eine solche Einrichtung nach südländischem Vorbild zu errichten.80 Ähnlich sind auch die

75 Vgl. Bökel, Pestordnung, 1597, cap. 2, fol. 4r–6v; göttlicher Beistand ist, wie die Überschrift des Kapitels suggeriert, das „sicherste Recept wieder diese kranckheit“. 76 Vgl. Bökel, Pestordnung, 1597, cap. 6, fol. 18v; zu den Kellerwohnungen vgl. auch cap. 7, fol. 24v. 77 Vgl. Bökel, Pestordnung, 1597, cap. 6, fol. 18v. 78 Vgl. Bökel, Pestordnung, 1597, cap. 9, 26v; zu den Aufgaben der provisores vgl. fol. 26v–27r. 79 Vgl. Bökel, Pestordnung, 1597, cap. 9, fol. 28v: „Als könnten auch ebener massen, ein oder mehr Medici …, so nicht im Ampt, gehalten werden, welche die krancken visitierten und curirten, die auch, wann ihnen in der kranckheit was fürfiele, darin sie sich nicht zurichten, den Medicum ordinarium zu consuliren hetten. Diese Personenn alle solten von der gemeine besoldet, und mit dem abzeichen des weissen Creutzes, damit man dieselbe zumeiden hette, gezeichnet werden.“ 80 Vgl. Bökel, Pestordnung, 1597, cap. 8, fol. 25r–26v.

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Forderungen nach einem raschen Begräbnis durch gekennzeichnete Totengräber außerhalb der Stadtmauern,81 nach Quarantänemaßnahmen für Bewohner von infizierten Häusern und Vorschriften für die Entsorgung von kontaminierter Kleidung und Hausrat.82 Welche unmittelbaren Auswirkungen die Schrift des Medicus ordinarius auf behördliche Maßnahmen hatte, lässt sich aufgrund der dürftigen Überlieferung der Ratsprotokolle an dieser Stelle nicht ermitteln; in der Forschung wird bisweilen – wobei de Castros Schrift in diesem Zusammenhang meist nicht erwähnt wird – auf die außergewöhnlich fortschrittlichen Thesen Bökels verwiesen, die jedoch zunächst ohne größere Wirkung geblieben seien.83 Vielleicht könnt man vorsichtig vermuten, dass Bökels Forderungen nicht gänzlich ungehört verhallt sind: So wird beispielsweise nicht einmal zehn Jahre nach dem Erscheinen von Bökels Schrift ein außerhalb der Stadtmauern gelegenen Pesthaus – der Vorläufer des Allgemeinen Krankenhauses – in der Nähe des Millerntores errichtet.84 Es existiert ein zweiter indirekter Hinweis, dass im Laufe des Jahres 1597 staatliche Maßnahmen ergriffen wurden: David Wolder, der bereits 1596 die herannahende Pest thematisiert hatte (s. o.), veröffentlicht am 13. September 1597 bei Theodosius Wolder in deutscher Sprache eine Predigt seines Lehrers, des lutherischen Reformators Johannes Matthesius (1504–1565), die jener an einem „vierzehenden Sontag nach Trinitatis“ über das Evangelium „von den zehen Außsetzigen“ (Lukas 17, 11, 9) gehalten habe. In seiner „Vorrede“ appelliert Wolder an die christliche Pflicht, sich trotz der damit verbundenen Einschränkungen an staatliche Maßnahmen zu halten:

81 Vgl. Bökel, Pestordnung, 1597, cap. 9, fol. 30r–31r. 82 Vgl. Bökel, Pestordnung, 1597, cap. 7, fol. 21r–25r. 83 Vgl. Kohlhaas-Christ 1985, 14–16; Klessmann 2002, 127–130; Boyens 2004, 306 mit Anm. 30 unter Verweis auf Gernet, 1869. Bökel dürfte aber durchaus von Zeitgenossen rezipiert worden sein; noch etwa 100 Jahre nach der Entstehung der Pestordnung setzt sich ein in Hamburg erschienener Traktat differenziert mit ihr auseinander; vgl. [o. N.], Anmerckungen, 1680. 84 Davon berichtet der Eintrag in einer Chronik, die ein Anonymus in Fortsetzung des Werkes Tratzigers angefertigt hatte (in Hamburg kursierten im 16. und 17. Jahrhundert mehrere unterschiedliche Fortsetzungen): „Anno 1606. ist das pesthauß außerhalb Millern Thors angeordnet worden, dahin die armen gebracht werden, welche mit der Pestile(n)tz und andern hitzigen gifftigen seuchen behafftet seyn, und daselbst wohl gepfleget, gewartet, mit Artzeney, auch mit einen guten Barbier oder pestmeister wohl versehen werden soll; haben auch einen eigenen Prediger, der die Krancken und sterbenden Trösten, und die Gesunden vermahnen kann“; zitert nach der von Mathias Nagel edierten online-Version: http://www.hamburger-chronik.de/ pag358c.html [letzter Aufruf: 13.02.2020]. Zum neuen Pesthaus vgl. ferner Rodegra 1977, 20–21; Sieveking 1940 (dort jeweils als „Pesthof“ bezeichnet).

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Ist demnach pestilentz mehr ein gifft, dann aussatz, und andere anhangende seuche, welcher auch mehr dann andern contagijis und schmeissende kranckheiten, ein jedermann mit Christlicher busse und ein Obrigkeit mit loblichen seinen ordnungen schuldigkeit ist zu steuren. Solten auch billich alle frommen Bürger und Untersassen, wan eine Christliche Obrigkeit amptes und gewissens halben solche Ordnungen machet, es gehorsamlich, und mit großem Deo gratias annehmen, und nicht karglich, sondern miltiglich dazu contribuiren und geben.85

Selbst nach einer vorübergehenden Besserung – die Zahl der Toten war tatsächlich, wie Wolder berichtet, bereits rückläufig – solle man sich an die nicht weiter spezifizierte „Ordnung“ halten: Wie aber? wenn es die hohe not nicht erfordert, als, so die Pestilentz ablesset, oder so ein Gemeine damit noch nit ist behafftet, solte mann als dann dieser grossen mühe und unkostung nicht können müssig gehen? Nein, sage ich, bey gutem gewissen unnd rühmlicher nachsage mag solchs nicht geschehen. Dan müglich ists, dass solche besserung wegen grosser Gottlosigkeit und missordnung, nicht bestendig ist und bleibt ….86

Auch in der abgedruckten Predigt des Johannes Matthesius wird immer wieder auf die zwar lästige, aber zwingend notwendige christliche Pflicht zur Einhaltung der Ordnungen verwiesen.87 Denn obwohl in christlicher Interpretation die Pest als göttliche Strafe galt, musste doch jeder Einzelne wie auch die Gesellschaft als Ganzes jedes Mittel unternehmen, um sie zu bekämpfen: Was nun solcher guter und nützlicher ordnung, die nicht wieder Gottes gebott sein, von der Oberkeit und Christlichen gemeinen angestelt, solcher sol ein frommer und gehorsamer bürger, umb der pflicht und straff, und ein rechtschaffener Christenmensch umb Gottes willen und seines gewissens und Christlicher liebe, gehorsamlich und geduldiglich geleben.88

David Wolders Zeugnis der Pest von 1596/97 ist für unsere Fragestellung nach der „politischen“ Dimension der Epidemie noch in einem epidemiologischen Detail bemerkenswert: Wolder berichtet unter explizitem Verweis auf die Pest von 1565, als, trotz der damals geringeren Einwohnerzahl, etwa 200 bis 300 Tote pro Tag zu beklagen waren, dass die Pest bereits im Abklingen sei. Die höchste Zahl an Begräbnissen sei am 21. August registriert worden, als 72 Tote bestattet wurden; aktuell würden 20 Personen pro Tag an der Krankheit verster85 Vgl. Wolder, Von der Pestilentz, 1597, Vorrede [o. S.]. 86 Vgl. Wolder, Von der Pestilentz, 1597, Vorrede [o. S.]. 87 Vgl. Wolder, Von der Pestilentz, 1597, cap. „Von den Bürgerlichen Ordnungen in Sterbenszeiten“ [o. S.]. 88 Vgl. Wolder, Von der Pestilentz, 1597, cap. „Von den Bürgerlichen Ordnungen in Sterbenszeiten“ [o. S.].

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ben.89 Diese Beobachtung ist m. E. vor allem insofern interessant, als die Pest von 1596/97, von der ja auch de Castro gesagt hatte, dass sie „unter die milderen zu zählen sei“ (s. o.), sowohl hinsichtlich der Symptomatik als auch bezüglich der Todesopfer (etwa 6.00090) deutlich weniger bedrohlich als die Pestwelle von 1565 war, und dennoch in der Überlieferung ungleich reichere Spuren hinterlassen hat. Zudem zeigen die Zahlenangaben Wolders, für die er keine Quelle anführt, dass 1597 tatsächlich sehr detailliert beobachtet und aufgezeichnet wurde, wie der Krankheitsverlauf einzuschätzen war. Um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert herrschte, wie uns die Schriften Bökels und de Castros sowie die Reaktionen Wolders auf die Pestepidemie zeigen, ein deutlich stärkeres Bedürfnis, mittels politischer Maßnahmen wirksame Strategien zur Seuchenprävention zu entwickeln. Ähnliche Diskurse lassen sich auch in weiteren (nord-)deutschen Städten greifen: Bereits 1584 hatte etwa der damalige Bremer Stadtphysikus Johannes Ewich (1525–1588) eine Pestschrift auf Latein verfasst, in der er detailliert die Pflichten der Obrigkeit zur Seucheneindämmung auflistet.91 Der Traktat erschien in verschiedenen Auflagen und Übersetzungen.92 Mit ähnlichem Nachdruck foderte David Herlicius, seinerzeit Stadtarzt in Greifswald, Prenzlau und Anklam im Jahr 1621 in seinem in deutscher Sprache verfassten (aber mit lateinischem Titel versehenen) Consilium Politico-Physicum öffentliche Maßnahmen ein. Eine seiner wichtigsten Referenzen ist dabei, etwa bei der Forderung nach der Einführung einer Krankenstatistik, der raschen Bestattung der Toten und der Errichtung eines Pesthospitals, bezeichnenderweise Rodrigo de Castros Tractatus de natura et causis pestis, den er passagenweise ausführlich sowohl im Original zitiert als auch ins Deutsche übersetzt.93

89 Vgl. Wolder, Von der Pestilentz, 1597, Vorrede [o. S.]. 90 Vgl. Gernet 1869, 158. 91 Vgl. Ewich, De officio prudentis magistratus, 1582. 92 So z. B. eine lateinische Version in Basel 1577 sowie eine deutsche in Mühlhausen (1597); eine englische Auflage erschien 1583 in London; 1656 erschien erneut eine lateinische Auflage in Bremen. 93 Vgl. Herlicius, Consilium Politico-Physicum, 1621, 9 (zum Pesthospital): „Rodericus à Castro beschreibet solche Pestilentz heuser mit folgenden Worten, arcu C. 4. a. Jam verò publicum illud Nosocomium, seu, (ut alibi vocant) sanitatis domus eligatur …“; 57–58 (zur Berichterstattung bzw. den Bestattungsriten): „Rodericus à Castro arcu C. 4. a gibt diesen rath, das man alle Wochen, auss allen Pfarrkirchen oder Capellen der Obrigkeit die zahl der verstorbenen nennen soll, damit man wissen möge, ob die seuche ab oder zunehme, und man nicht heimlich nicht andere kranckheiten, für die Pestilentz ansehe und urtheile, und also gute Leute sicher gemachet, oder unvermutens und gleicher gestalt von der Pest weggeraffet werden. Hie neben ist auch zu wissen, dass man die Toten nicht lange unbegraben liegen lassen solle …“. Weitere

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Schließlich muss die Frage nach der persönlichen Motivation de Castros zur Abfassung des Tractatus de natura et causis pestis gestellt werden, gerade vor dem Hintergrund der chronologischen Reihe der jeweiligen Veröffentlichungen und der auffälligen Parallelen zwischen de Castros und Bökels Schrift. Ob und wenn ja, in welchem Ausmaß sich de Castro und Bökel austauschten, konnte bisher nicht rekonstruiert werden; keiner nennt in den Pestschriften jeweils den anderen – bei de Castro wird bezeichnenderweise nicht einmal das Amt des Stadtarztes, geschweige denn Bökel persönlich, genannt. Bökels ausführliche Rechtfertigungen, weshalb er so lange geschwiegen habe, lassen vermuten, dass Stadtarzt und Obrigkeit unter Druck standen, suffiziente Maßnahmen zu ergreifen. Dass Bökels Schrift erst als konkrete Reaktion auf de Castros Traktat konzipiert und verfasst wurde, ist angesichts des kurzen zeitlichen Abstandes der jeweiligen Veröffentlichung unwahrscheinlich; vielmehr dürften beide parallel gearbeitet haben, wobei de Castro die erste Publikation gelang – Bökel hingegen hebt hervor, dass er über den Sommer und Herbst durch die Behandlung der Erkrankten stark eingespannt war.94 Ebenfalls unwahrscheinlich ist, dass das Physikat Bökels selbst zur Disposition stand; eine mögliche Intention Rodrigo de Castros könnte hingegen gewesen sein, sich durch seine Schrift zumindest für das Subphysikat ins Spiel zu bringen – jenes Amt, das gerade in Pestzeiten besondere Bedeutung erlang, bisweilen als Sprungbrett zum Physikat diente und das Bökel, wie erwähnt, in der Pestepidemie von 1565 selbst bekleidet und seine Leistung in späteren Schriften durchaus mit Eigenlob erwähnt hatte.95 Darin liegt, wenn diese Hypothese zutrifft, jene zweite „politische“ Ebene des Tractus de natura et causis pestis begründet: De Castro gelingt es durch sein eindrucksvolles und bedrohliches Bild der Epidemie, sich als einen um die Bürgerschaft besorgten Arzt darzustellen; somit tritt er, obwohl aktuell ohne offizielles Amt, als „politischer“ Arzt in Erscheinung. Das Subphysikat wurde tatsächlich 1597 neu besetzt – allerdings errang Johannes Santmann (1570– 1621) das Amt, der in diesem Jahr ernannt wurde und 1605 die Nachfolge Johann Bökels antrat – ihm war also tatsächlich der direkte Aufstieg vom Subphysikat in das Amt des Stadtarztes gelungen.

Passagen mit Parallelen zu de Castro: S. 24 (streunende Schweine und Hunde sollen aus der Stadt entfernt werden); S. 81 (de Castro wird als diagnostische Referenz herangezogen). 94 Vgl. Bökel, Pestordnung, 1597, cap. 1, fol. 2r. 95 Vgl. Arrizabalaga 2009, 112: „His [sc. de Castros] plague treatise should be considered not only the result of his medical concerns, but also as a source of income and a way of self-promotion in a highly demanding context for this sort of medical literature.“ Arrizabalaga (ebd., Anm. 22) verweist ferner auf die spanischen Parallelbeispiele des Lluís Alcanyís und des Andrés de Laguna.

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Die in Santmanns Amtszeit und die seines Nachfolgers Johannes Ebelingk (Stadtarzt von 1621–1657) fallenden Pestereignisse von 1603/04 (während dieser Epidemie verstarb David Wolder), 161096 und 1628, die erneut die Dringlichkeit der seuchenhygienischen Postulate de Castros und Bökels vor Augen führen und Ebelingk zu einer eigenen Pestschrift veranlassen,97 münden schließlich in greifbare Reaktionen der Politik. Neben der bereits erwähnten Errichtung des neuen Pesthauses wird in der 1638 erlassenen Neufassung der Apothekerordnung von 1586 explizit die Rolle von Physikus und Subphysikus hervorgehoben: Man werde „bey solcher alten löblichen Ordnung und Gewohnheit inskünfftig verbleiben ….“98 Ab dem Jahr 1651 ist ein – möglicherweise bereits vorher existenter – Eid bezeugt, den die Stadärzte bei Amtsantritt ablegen mussten. Er schließt mit den Pflichten der bestallten Ärzte bei Epidemien: Wenn Gott die Stadt mit ansteckenden Krankheiten heimsuchen sollte, will ich nicht entweichen, vielmehr an nöthiger Aufsicht über die dazu zu bestellenden Medicos, Chirurgos, und übrigen E[hrbaren] Hochw[eisen] Raths Veranstaltungen, nichts ermangeln lassen, und sowohl hierinn, als überhaupt alles dasjenige thun, was einem rechtschaffenen Physico (Sub-Physico) zu thun geziemet.99

Spätestens zur Mitte des 17. Jahrhunderts ist in Hamburg somit auch von Seiten des Rates das Bestreben nach einer medizinisch und politisch koordinierten Bekämpfung von Seuchen und Krankheitswellen dokumentiert. Das Amt des Stadtphysikus fungierte an der Schnittstelle zwischen den beiden Sphären – in seinen Zuständigkeitsbereich fiel es, Maßnahmen zu veranlassen und zu koordinieren, wie sie in Rodrigo de Castros und Johann Bökels Schriften über die Pest von 1596/97 in Hamburg gefordert waren.

96 Von der 1610 in Norddeutschland grassierenden Pest scheint Hamburg weitgehend verschont geblieben zu sein; vgl. Gernet 1869, 178–179. 97 Vgl. Ebelingk, Idaea Loimodes, 1628. 98 Vgl. Hamburger Rat, Apothekenordnung, hrsg. 1773; zu den im Erlass dokumentierten Aufgaben des Stadtphysikus gehört neben der Kontrolle der Apotheken, der Überwachung der Hebammen und gutachterlichen Tätigkeit auch die Zulassung externer Ärzte; vgl. hierzu Kohlhaas-Christ 1985, 32–41. 99 Zitiert nach Gernet 1869, 182.

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5 Fazit: Rodrigo de Castros Pestschrift – die Schrift eines Medicus-politicus? Rodrigo de Castros Tractatus de natura et causis pestis ist ein Text, der einen schlaglichtartigen Einblick in die Dynamiken der Hamburger Pest von 1596/97 gewährt. In historisch-chronologischer Perspektive ist bedeutsam, dass er – und nicht der bis heute prominentere Johann Bökel – der erste war, der den Hamburger Rat im Jahr 1596 unaufgefordert ermahnte, präventiv gegen eine zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Pest klassifizierte Seuche vorzugehen. Mit seiner eindeutigen Festlegung, dass es sich hierbei um die gefürchtete und in Hamburg leidlich bekannte Pest handelte, war ein Stein ins Rollen gebracht, der möglicherweise – zumal sich zu Beginn des Jahres 1597 der Stadtphysikus Bökel mit einer eigenen Pestordnung zu den Geschehnissen äußerte – in öffentliche Zwangsmaßnahmen mündete, um deren Einhaltung, wie der Appell des lutherischen Predigers David Wolder vermuten lässt, noch mühsam gerungen werden musste. In de Castros Plädoyer für politische Lösungen eines zunächst medizinischen Problems manifestiert sich ferner ein ärztliches Selbstverständnis, das den Schutz des Einzelnen nicht nur durch Lebensführung, Medikamente und Therapien, sondern gemeinschaftliche Anstrengungen sicherstellen möchte – selbst bei einer Krankheit wie der Pest, die bereits 1565, als Johann Bökel Subphysikus in Hamburg gewesen war, die Hilflosigkeit der ärztlichen Interventionsmöglichkeiten vor Augen geführt hatte. Somit lässt sich zum Ende des 16. Jahrhunderts in den Schriftquellen beobachten, wie auch in Hamburg politische Maßnahmen explizit eingefordert werden. Der im frühen 18. Jahrhundert dokumentierte Konflikt zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Handelsstadt, die durch die seuchenhygienischen Maßnahmen stark beeinträchtigt waren, weswegen die Pest erst verspätet öffentlich als solche benannt wurde, und der medizinisch notwendigen Prävention lässt sich für die Epidemie von 1596/97 nur indirekt in der möglicherweise von einigen als spät empfundenen „offiziellen“ Reaktion des Stadtphysikus Bökel verorten. Auch wenn die Hamburger Zeugnisse des 16. Jahrhunderts im deutschen bzw. europäischen Vergleich letztlich weder zeitlich noch in Art und Umfang des Quellenmaterials eine herausgehobene Stellung einnehmen, so lassen sich an de Castros Schrift im Kontext der Ereignisse der Jahre 1596/97 die vielfältigen politischen Funktionen, die frühneuzeitliche Pestschriften erfüllen konnten, in nuce ablesen. Das postulierte eigene Streben nach dem Amt des Stadtarztes macht den Tractatus de natura et causis pestis zu einer Schrift, die neben dem inhaltlichen Anliegen mutmaßlich auch eine persönliche Agenda verfolgte.

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Obwohl sich diese Hoffnungen nicht erfüllten, dürfte Rodrigo de Castros Pestschrift nicht ohne Auswirkungen auf sein weiteres Werk gewesen sein. Eines der zentralen Themen des Tracatus de natura et causis pestis ist, wie gezeigt wurde, der Beitrag genuin ärztlicher Maßnahmen zum öffentlichen Wohl. Dieses Anliegen zieht sich leitmotivisch durch de Castros Schaffen: In der praefatio zu seinem 1603 erschienenen frauenheilkundlichen Werk gibt er an, die Wahl seines Sujets – die Konzentration auf das bis dato weniger beachtete Genre der Gynäkologie – sei der communis utilitas verpflichtet.100 In seinem Hauptwerk, dem 1614 erschienenen Medicus-politicus, erwähnt de Castro seine Pestschrift nicht explizit; er zählt die Erkrankung dort jedoch unter die morbi incurabiles, die man in schwereren Verlaufsformen nicht heilen, sondern der man nur vorbeugen könne.101 Doch dürfte vor allem der im Medicus-politicus häufig wiederkehrende Gedanke, dass Körper und Staat über einen ähnlichen Aufbau verfügen,102 bereits in der Pestschrift mitschwingen: Wenn de Castro im Tracatus de natura et causis pestis vom Herzen als arx („Burg“) spricht,103 dann scheint bereits an dieser Stelle die im Medicus-politicus systematisch ausgebreitete Körper-Staat-Analogie hervor. Das ärztliche Ideal eines sowohl um die Fachdisziplin der Medizin als auch um das Gemeinwesen bemühten Mediziners104 – nicht zuletzt könnte für den Medicus-politicus de Castros eigenes Handeln während der Pest von 1596/97 Pate gestanden haben.

100 Vgl. de Castro, De universa mulierum medicina, 1603, Bd. 1, praefatio [o. S.]. 101 Vgl. de Castro, Medicus-politicus, 1614, lib. 3, cap. 18, 176. 102 Vgl. vor allem de Castro, Medicus-politicus, 1614, lib. 4, cap. 6, 238–239. 103 Vgl. de Castro, Tractatus de natura et causis pestis, 1596, o. S. [fol. 938v]. 104 Vgl. Gadebusch Bondio 2018.

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6 Anhang: Rodrigo de Castro, Tractatus brevis de natura et causis pestis, 1596, dedicatio [fol. 933r–934v] Teil 1: Lateinischer Text Amplissimo, splendidissimoque ordini senatorio, praestantissimae Reipub[licae] Hamburgensis, Dominis suis colendissimis Rodericus à Castro Philosophiae et Medicinae Doctor S[alutem] P[lurimam] D[icit]. Sapiens, inquit Philosopus [sic],105 est, qui interrogatus de illis, quorum scientiam tenet, verum dicit. Ego autem splendidissimi viri, dominique observandissimi, etsi vera et utilia proferam, minùs fortasse sapiens videbor, siquidem non interrogatus loquor. Verùm enimvero satis interrogatus, qui ex officio loqui tenetur; impellente praesertim in Rempub[licam] amore, et observantia maxima in magistratum, cui gratum acceptumque fore nostrum hoc studium non dubitamus, utpote, cui nihil prius unquàm extiterit, quàm civium suorum incolumitatem, et florentissimae Reipub[licae] augmentum, dignitatemque conservare. Probè cognoscentes illud Platonis 2. de legibus, tria esse hominibus potissimum expetenda, sanitatem, egregiam formam; et divitias, fraude non acquisitas,106 ex quibus bonam valetudinem Plutarchus maxime divinum bonum esse censet, longeque blandissimum totius vitae condimentum;107 probè, inquam, hoc cognoscentes. Nam quo zelo fortitudine animi, et in gubernando integritate, Rempub[licam] semper administraveritis, testes sunt vastissimi vestri adeoque dilatati termini, testis ex remotissimis provinciis in hanc urbem, quasi in totius Germaniae pergulam, hominum frequentia, atque confluxus: cujus etjam laudibus adductus ego tanta jam diu exarsi vivendi apud vos ac vobis inserviendi cupiditate, ut nullam aliam urbem praeter istam incolendam mihi proponerem. Ut enim de mercatoribus taceam, qui omnes norunt, quanta immunitate, ac rerum suarum securitate apud vos versentur; quid de iis, qui rerum contemplationi, et studiis vitam consecrarunt, dicam? Qui in hanc Rempub[licam] quasi in univer105 Die Stelle konnte nicht belegt werden. 106 Vgl. Platon, Laws [Nomoi], 2 (= 661a), hrsg. von Bury 1926, 114: „λέγεται γὰρ ὡς ἄριστον μὲν ὑγιαίνειν, δεύτερον δὲ κάλλος, τρίτον δὲ πλοῦτος, μυρία δὲ ἄλλα ἀγαθὰ λέγεται ….“ 107 Vgl. Plutarch, De tuenda sanitate (= Moralia 122b–137e), 126d, hrsg. von Babbitt 1928, 238: „… ἀληθέστερον δ᾽ἄν τις εἴποι τὴν ὑγίειαν ἥδυσμα θειότατον εἶναι καὶ προσηνέστατον ….“

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si orbis sanctissimum hospitium sese recipiunt, ubi pacatè, et quietè studia tractant: dumque adeò aliis turbatur agris, ipsi apud vos formosam resonare docent Amarillida sylvas, hoc est, animo tranquillo, de sapientia disputant, philosophantur, et conferunt cum eruditissimis, ac sapientissimis viris, quorum Hamburgensis Respub[lica] uberrimum alit numerum; imò quorum in vestro hoc praestantissimo senatorio ordine plurimi etjam reperiuntur non solùm prudentia, et multarum rerum cognitione, sed etjam omnigena eruditione insigniter praediti. Macti igitur tanta prudentia, tantaque virtute viri! Pergite, quod facitis, facere, et triplici hoc nodo, qui, dicente illo, non facile solvitur, fortunae bonis, justitia, et literis florentissimam, felicissimamque Rempub[licam] munitote. Verum haec cum absque salutis integritate minùs eluceant, eamque pericilitari videam; ac plures in hac urbe grassante ista contagiosa clade interire animadvertam, malumque indies magis, magisque grassari; nec satis adhuc hominibus compertum esse, pestis ne illa sit an alia lues: mearum partium, id est, mei erga Rempub[licam] amoris, et observantiae esse existimavi: ac ita demum de vobis, et de universa Repub[lica] Hamburgensi bene me meriturum duxi; si hoc negotium pensius examinarem, et quid in eo praestandum sit, juxta illud, quod in aliis regionibus animadverti, ac saepius crebra experientia comprobavi, literis mandarem, viamque sternerem, qua mores, qui alibi in similibus calamitatibus observantur, quantum consuetudo Germanica pateretur, huic etjam Reipub[licae] aptari accomodarique possent. Sunt quidem in hac urbe viri sapientissimi, et in arte medica apprimè versati, qui eruditissimis, et salutaribus suis consiliis, possunt Rempub[licam] adjuvare: ideoque minus necessaria nostra haec opera videbitur. Caeterùm non tàm quòd indigeatis, quàm quòd cupio meam erga vos, et erga magistratum voluntatem, et observantiam cognitam, testatamque esse, aliquid etjam hac de re vobis offerendum esse existimavi. Id vos viri clarissimi atque splendidissimi aequi bonique consulatis exopto. Nam Deo optimo max [imo] gratum fore haud dubito; quippe cui nihil gratius sit, quàm ut universam vitam, ad commune commodum conferamus. Idcirco enim ratione, et oratione nos Deus decoravit, mentem et ingenium concessit, manus, pedes, et vires corporis, inquit Chrysostomus, ut his omnibus, nosmetipsos, et proximos tutaremur.108 Id autem eo diligentiùs faciendum putavi, quia, ut dici solet, nequicquam monet, qui serò monet. Quaecunque dixero, utinam in gloriam Dei, et Rei108 Vgl. Chrysostomus, In Matthaeum homilia LXXVIII. (al. LXXIX.), hrsg. von Migne 1862, 714–715: „Οὐδὲν γὰρ οὕτως ἐστὶ τῷ θεῷ φίλον, ὡς τὸ κοινωφελῶς ζῇν. Διὰ τοῦτο λόγον ἡμῖν ἔδωκεν ὁ θεὸς, καὶ χεῖρα καὶ πόδαs, καὶ σώματος ἰσχὺν, καὶ νοῦν, καὶ σύνεσιν, ἵνα πᾶσιν τούτοις καὶ εἰς τὴν ἡμῶν αὐτῶν σωτηρίαν καὶ εἰς τὴν τῶν πλησίον ὠφέλειαν χρησώμεθα.“

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pub[licae] utilitatem dicta sint, eaque ab hoc zelo orta, et in hunc finem ordinata, acceptum iri spero atque confido. Deus opt[imus] max[imus] vestram dignitatem incolumem diu servet, et pestilentem luem, ab hac Repub[lica] clementissimè avertat. Datum Hamburgi. Anno 1596. Novembris. 6. V[estrae] Amplitudini atque praestantiae Deditissimus Rodericus à Castro D.

Teil 2: Übersetzung Dem großartigsten und überaus glänzenden Senat, dem vorzüglichen Hamburger Gemeinwesen und seinen hochehrwürdigen Herren entbietet Rodrigo de Castro, Doktor der Philosophie und Medizin, seine Grüße. Weise ist, sagt der Philosoph, wer auf die Frage nach jenen Dingen, von denen er Kenntnis hat, die Wahrheit spricht. Ich aber, hochbedeutende Männer und sehr geschätzte Herren, werde, auch wenn ich Richtiges und Nützliches vorbringe, vielleicht weniger weise erscheinen, weil ich ja ungefragt spreche. Aber tatsächlich ist derjenige ausreichend gefragt, der sich aus Pflichtgefühl zu sprechen gehalten sieht; zumal aus Liebe zum Gemeinwesen und aus größter Achtung gegenüber dem Rat, der für dieses unser Bestreben zweifellos dankbar sein wird und es annehmen wird, dem nichts jemals über die Bewahrung der Unversehrtheit seiner Bürger und von Wachstum und Würde des blühenden Gemeinwesens ging. Ihr kennt gut jenen [Satz] Platons im zweiten [Buch] De legibus [= Nomoi], dass Menschen besonders nach drei Dingen streben müssen: Gesundheit, außerordentliche Schönheit und Reichtum, der nicht auf betrügerische Weise erworben wurde; unter diesen ist nach Plutarch vor allem eine gute Gesundheit ein göttliches Geschenk und bei weitem die mildeste Würze des gesamten Lebens – gut kennt Ihr ihn, wie ich sage. Denn mit welchem Eifer, mit welchem Mut und mit welcher Redlichkeit in der Regierungsführung Ihr das Gemeinwesen immer gelenkt habt, bezeugen Eure weitläufigen und sogar noch erweiterten Grenzen, bezeugen die Zahl und der Zustrom von Menschen aus den entlegensten Provinzen in diese Stadt, fast wie in ein Observatorium des gesamten Deutschen Reiches. Angezogen durch ihren Ruhm bin ich schon lange von der Begierde, bei Euch zu leben und Euch zu dienen, entbrannt, sodass ich es mir vornahm, keine andere Stadt als diese zu bewohnen. Ganz zu schweigen von den Kaufleuten, die bei allen bekannt sind, mit wieviel Privilegien und Sicherheiten für ihr Hab und Gut sie bei euch verweilen; was soll ich über die sagen, die ihr Leben der theoretischen Betrachtung der Dinge und den Wissen-

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schaften gewidmet haben? Diese haben sich in dieses Gemeinwesen wie in eine hochheilige Herberge zurückgezogen, wo sie ungestört und in Ruhe ihre Studien vorantreiben können. Und während andernorts Chaos herrscht, lehren sie selbst bei euch die Wälder „schöne Amaryllis“ widerzuhallen,109 das heißt: mit ruhigem Geiste disputieren sie über die Weisheit, sie philosophieren, und kommen mit den gebildesten und weisesten Männern zusammen, von denen das Hamburger Gemeinwesen eine überreiche Zahl nährt. Ja, unter ihnen finden sich viele in Eurem vorzüglichsten Senatorenstand, die nicht nur mit Klugheit und Kenntnissen in vielen Dingen besonders ausgestattet sind, sondern auch mit einer allumfassenden Bildung. Heil, Ihr Männer mit so viel Klugheit, so viel Tugend! Schickt Euch an, das zu tun, was Ihr immer tut, mit diesem dreifachen Knoten, der, wie jener sagt, nicht leicht gelöst wird: mit den Gütern des Glücks, mit Gerechtigkeit und Wissenschaften sollt Ihr die überaus blühende und glückliche Stadt schützen. Nachdem aber all diese Dinge ohne die Unversehrtheit der Gesundheit in weniger hellem Licht erscheint und ich sehe, dass es [sc. das Gemeinwesen] in Gefahr gerät, und bemerke, dass mehrere in dieser Stadt an dem grassierenden, ansteckenden Unheil zugrunde gehen, und dass das Übel von Tag zu Tag zunimmt und die Leute noch nicht ausreichend verstanden haben, ob es sich bei jener Krankheit um die Pest oder eine andere Seuche handelt: Ich habe es als meine Aufgabe aus Liebe und Achtung gegenüber dem Gemeinwesen verstanden, und glaube, dass ich mich um das ganze Hamburger Gemeinwesen verdient machen werde, wenn ich diese Aufgabe eingehend prüfe und zu Papier bringe, was in einer solchen Lage zu tun ist neben dem, was ich in anderen Regionen wahrgenommen und mehrmals mit häufiger Erfahrung als richtig erwiesen habe, und wenn ich einen Weg aufzeige, wie die Sitten, die andernorts in ähnlichen schwierigen Umständen beobachtet werden, auch diesem Gemeinwesen – soweit es die deutsche Gewohnheit zulässt – angepasst und auf sie zugeschnitten werden können. Es gibt freilich in dieser Stadt sehr weise und in der Medizin äußerst versierte Männer, die durch ihre höchst gelehrten und heilbringenden 109 De Castro spielt hier auf das erste Gedicht von Vergils Eklogen bzw. Bucolica an: Vgl. Vergil, Bucolica, 1, 1–5, hrsg. von Götte/Götte 61995, 28: „M[eliboeus]: Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi/silvestrem tenui musam meditaris avena:/nos patriae finis et dulcia linquimus arva./nos patriam fugimus – tu, Tityre, lentus in umbra/formosam resonare doces Amaryllida silvas.“ In der dialogisch angelegten Ekloge, die vor dem Hintergrund des einschneidenden Bürgerkrieges 42 v. Chr. zu lesen ist, trifft der heimatvertriebene Hirte Meliboeus auf Tityrus, der an einem Baum ruht und offensichtlich ein ruhiges, beschauliches Leben genießt und seine Geliebte Amaryllis besingt; während Meliboeus das Schicksal seiner Vertreibung beklagt und heimatlos ist, hat sich Tityrus mit den neuen Verhältnissen arrangiert.

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Ratschläge dem Gemeinwesen helfen können; umso weniger nötig wird dieses unser Werk erscheinen. Im Übrigen glaubte ich nicht so sehr, weil Ihr Mangel hättet, als deswegen, weil ich wollte, dass meine Gewogenheit und Achtung gegenüber Euch und den Magistrat bedacht und bezeugt würde, etwas über diese Sache Euch anbieten zu müssen. Ich wünsche mir, dass Ihr, hochberühmte und überaus bedeutende Männer, es gerecht und günstig beurteilt. Denn Gott, dem besten und größten, wird es zweifellos willkommen sein, ist ihm zumal doch nichts willkommener, als dass wir das gesamte Leben dem öffentlichen Wohl widmen. Aus dem Grund hat uns Gott nämlich mit Vernunft und Redegabe ausgestattet, hat uns Verstand und Begabung zugestanden, Hände, Füße und Körperkräfte, wie Chrysostomus sagt, damit wir mit ihnen allen uns selbst und die nächsten beschützen. Dies aber glaubte ich umso sorgfältiger tun zu müssen, weil, wie man sagt, vergebens mahnt, wer zu spät mahnt. Was auch immer ich sagen werde: Es möge zum Ruhm Gottes und zum Nutzen des Gemeinwesens gesagt sein, und ich hoffe und vertraue darauf, dass das, was mit diesem Eifer begonnen und zu diesem Zweck zusammengestellt wurde, angenommen wird. Gott, der beste und größte, möge Eure Bürgerschaft über lange Zeit unversehrt bewahren, und möge die Pestseuche von dieser Stadt sanftmütigst abwehren. Gedruckt in Hamburg, im Jahre 1596, am 6. November. Eurer Größe und Vorzüglichkeit höchst ergebener Rodrigo de Castro.

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Als Arzt politisch handeln Rodrigo de Castros Medicus-politicus zwischen Anspruch, Ideal und Praxis Im Jahre 1614, im Alter von 68 Jahren, gab der in Hamburg praktizierende Arzt Rodrigo de Castro (1546–1627)1 sein letztes Werk zum Druck. Der Titel lautete programmatisch: Medicus-politicus sive de officiis medico-politicis Tractatus (Der politische Arzt oder Traktat über die ärztlich-politischen Pflichten).2 Im Untertitel spezifizierte de Castro sein Verständnis von den „ärztlich-politischen Pflichten“: die Sitten und Tugenden („mores ac virtutes“) guter Ärzte auf der einen sowie die Täuschungen und Betrügereien („fraudes et imposturae“) schlechter 1 Rodrigo de Castro (Rodericus à Castro) stammte aus einer Familie portugiesischer Conversos (Juden, die zum Christentum [zwangs-]konvertierten), und war von der Iberischen Halbinsel schließlich nach Hamburg emigriert. Er studierte in Salamanca Medizin und praktizierte anschließend in Évora und Lissabon. Das Angebot des spanischen Königs Philipp II., seit 1580 auch König von Portugal, eine Indienreise für botanische Forschungen in der Nachfolge von Garcia da Orta und Cristovão da Costa anzutreten, lehnte er ab. Nachdem er offenbar als Gutachterarzt im Kontext der Aushebung für die spanische Armada tätig gewesen war (im Jahr 1588; de Castro, Medicus-politicus, 1614, 251 [lib. IV, cap. 9]), verließ er Portugal Ende der 1580er-Jahre oder zu Beginn der 1590er-Jahre und ließ sich nach einem Aufenthalt in Antwerpen schließlich wohl im Jahr 1594 in der Stadt an der Elbe nieder, kehrte zum Glauben der Väter zurück und bekannte sich öffentlich dazu. Vgl. de Castro 1934, 16–18; Arrizabalaga 2009, bes. 110–14; Braden 2016, 240–241; vgl. auch de Castro, Medicus-politicus, 1614, 55 (lib. II, cap. 1), 55; 68 (lib. II, cap. 3). 2 Die Schreibweise Medicus-politicus ergibt sich aus der praefatio, in deren letztem Absatz (A 3v) de Castro sein Werk selbst in dieser Form benennt. Auf der Titelseite und auf Seite 1 ist der Werktitel in Majuskeln und inkongruenter Setzung des Viertelgeviertstrichs angegeben. Die Übersetzung von Medicus-politicus mit „Politischer Arzt“ lehnt sich an die Übersetzung von F. Hoffmanns Medicus politicus (Leiden 1738) durch J. M. Auerbach (Leipzig 1752) an, der den Titel mit Politischer Medicus wiedergab (s. unten). In diesem Beitrag stellen wir Ergebnisse unseres Teilprojekts „Medicus Politicus – ärztliche Entwürfe zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Natur in Zeiten der Krise“ vor, das im Rahmen der DFG Forschungsgruppe FOR 1986 „Natur in politischen Ordnungsentwürfen: Antike – Mittelalter – Frühe Neuzeit“ von 2013 bis 2019 gefördert wurde. Rodrigo de Castros medizinethisch bedeutsamer Traktat Medicus-politicus wurde in Kooperation mit der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel als digitale Ausgabe publiziert (URL: http://diglib.hab.de? link=095). Auf Grundlage der Transkription des lateinischen Textes konnten verschiedene Elemente wie zitierte Autoren und Werke codiert und mit Normdaten oder weiterführenden Links versehen werden. https://doi.org/10.1515/9783110612349-004

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Ärzte auf der anderen Seite. Seine Ausführungen seien für Ärzte, Patienten und deren Angehörige gleichermaßen nützlich („opus admodum utile“). Schließlich erweiterte er das Zielpublikum der profitierenden Leser um zwei Gruppen, nämlich allgemein Gebildete und speziell Politiker. An letztere, namentlich an zwei Hamburger Konsuln, richtete er das Vorwort (praefatio) des Medicus-politicus. Im Begriff der „Politik“ sind auf der einen Seite also die Eigenschaften und das Verhalten des Arztes dem Patienten gegenüber gebündelt. Auf der anderen Seite impliziert de Castro, wie aus dem Vorwort und dem allerersten Kapitel des Werkes hervorgeht, damit gleichermaßen den Beitrag, den eine gute Medizin zum Gemeinwohl leisten sollte. Mit dem Medicus-politicus verwirklichte de Castro ein besonderes Anliegen und schien so seine Arztkarriere krönen zu wollen. Er stilisierte sich im Buchtitel als ein in Europa sehr bekannter Philosoph und Mediziner („Roderici a Castri Lusitani Philosophi ac Medici doctoris per Europam notissimi“). So schien er das galenische Ideal eines philosophisch ausgebildeten Arztes personifizieren zu wollen.3 Mit Recht und ohne Anmaßung konnte de Castro auf seinen internationalen Wirkungsraum hinweisen. Seine Heimat war Lissabon, die Studienjahre hatte er in Salamanca verbracht. Aus religiös-politischen Gründen hatte er sich mit seiner Familie dazu veranlasst gesehen, zuerst nach Antwerpen und schließlich nach Hamburg zu emigrieren. Ähnlich wie der zeitgenössische Kollege Amatus Lusitanus (João Rodrigues de Castelo Branco),4 gehörte de Castro zu einer Gruppe von angesehenen und untereinander gut vernetzten Ärzten jüdischer Abstammung, denen es trotz der erlebten Verfolgungen und i. d. R. auch Zwangskonversion zum katholischen Christentum gelang, eine erfolgreiche Karriere im europäischen Raum zu verfolgen. Die Bezeichnung des ärztlichen Verhaltens gegenüber den Patienten und des damit einhergehenden Engagements für das Gemeinwesen als „Politik“ („politia“) stellt in der frühneuzeitlichen Medizin ein Novum dar. Im Folgenden soll daher de Castros Entwurf des idealen Medicus-politicus, dessen Rahmenbedingungen er im Vorwort und im ersten Kapitel des ersten der vier Bücher, in die das Werk unterteilt ist, skizziert, vorgestellt und kontextualisiert werden. Zu diesem Zweck werden hier die Titelseite, das Verzeichnis der Bücher (Librorum elenchus), das Vorwort (praefatio)5 sowie das erste Kapitel des ersten Buches 3 Galens Schrift über die Notwendigkeit, dass ein Arzt auch Philosoph zu sein hat, war in der Frühen Neuzeit von Erasmus von Rotterdam ins Lateinische übersetzt worden (Erasmus, Galeni quod optimus medicus idem sit et philosophus, in: Erasmus, Opera omnia, hrsg. von Kumaniecki et al. 1969, 665–669). 4 Vgl. den Aufsatz von D. v. Engelhardt im vorliegenden Band. 5 Die praefatio wurde im Rahmen unseres Projektes an mehreren Stellen ausschnittsweise vorgestellt: Gadebusch Bondio 2018, 194–197; Förg/Link 2019, 245–247.

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(Operis et argumentum et auctoris institutum) am Ende des Beitrags sowohl im lateinischen Original als auch erstmals in deutscher Übersetzung in voller Länge abgedruckt. An die inhaltliche Analyse schließen sich Beobachtungen zu den verschiedenen Drucken des Werkes an.

Das Programm eines idealen, politischen Arztes Wie im Titelblatt angekündigt stehen im Zentrum des Medicus-politicus die Tugenden („virtutes“), die dem idealen Arzt eigen sein sollten, und das Fehlverhalten bzw. die Fehler („vitia“), das bzw. die er zu vermeiden hat. Dies konkretisiert de Castro im Vorwort dahingehend, nicht nur einen Sittenkodex zu entwerfen („mores candidiores moneo, et statuta medicis servanda propono“), sondern auch die Täuschungen der „Anderen“ aufzudecken, bei denen sein Werk deshalb nicht auf Gefallen stoßen dürfte. Das Aufzeigen der Fehler Anderer, ihr „Demaskieren“,6 und die Gegenüberstellung mit seinen eigenen, von ihm als richtig empfundenen Ansichten zieht sich gleich einem roten Faden durch den Medicus-politicus.7 Die Spannung zwischen dem fehlerhaften und dem tugendhaften Verhalten eines Mediziners ist im Aufbau und im Verhältnis der vier Bücher zueinander gut erkennbar. Die „stacheligen Disteln der Irrtümer“ („senticosi errorum tribuli“) und die „Geschosse der Gegner“ („oppugnantium tela“),8 vor denen die Medizin geschützt werden soll, bilden den Ausgangspunkt im ersten Buch. Hier soll die Medizin auf der Basis ihrer Entstehungsgeschichte und in Bezug auf die anderen Künste richtig positioniert werden. Das zweite Buch widmet sich dem Wissen, das der Arzt erlangen, und den Fertigkeiten, die er beherrschen muss, sowie den Büchern, die in seiner Bibliothek nicht fehlen dürfen. Im Zentrum des dritten Buches stehen erneut die zu bekämpfenden Fehler, damit eine solide Grundlage für die anzustrebenden Tugenden geschaffen wird. Haltung, Sitten und Handlungen des umsichtigen und klugen Arztes werden hier detailliert beschrieben. Im vierten Buch behandelt de Castro vielschichtige Themen: die Analogie zwischen dem menschlichen Körper (Mikrokosmos) und dem Universum (Makrokosmos) sowie einem wohlgeordneten Staat, die verborgenen Ursachen der Dinge, die Gutachtertätigkeit des Arztes und den Gebrauch der Musik für die Heilung von Krankheiten. Nachdem er seine Ausführungen zur Anwendung von Musik in der Medizin im letz6 Vgl. auch Gadebusch Bondio 2018, 197. 7 Z. B. de Castro, Medicus-politicus, 1614, 23 (lib. I, cap. 7); 37 (lib. I, cap. 10); 113–114 (lib. III, cap. 2). 8 De Castro, Medicus-politicus, 1614, A1v (Librorum elenchus).

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ten Kapitel des vierten Buches beendet hat, beschließt de Castro den Medicuspoliticus mit einer Ermahnung, die gleichzeitig einen Seitenhieb gegen die „Anderen“ enthält: Ich habe dies aber nicht geschrieben, um jemanden zu tadeln oder frech anzugreifen. Meine Absicht ist nicht, ein Kritiker zu sein, sondern ein Mahner. Da es nicht meine Aufgabe ist, einen Missbrauch abzustellen, sondern einen Weg zu dem zu zeigen, was nützlich und lobenswert ist, glaube ich, dass dieser Weg zu mancherlei Gutem führt. Außerdem mahne ich zu beachten, wie viel bei den einfachen Leuten die Gewohnheit vermag, die macht, dass Unschuldige, die neue Sitten empfehlen, als Schuldige und Tadelnswerte angesehen werden, aber Leute, die das Übliche verbreiten, mit tauben Ohren und geschlossenen Augen vorübergehen, weil die Gewohnheit des Althergebrachten meistens so groß geworden ist, dass den meisten Leuten auch eingestandene Fehler gefallen.9

In seiner Rolle als Mahner („monitor“), kritisiert de Castro diejenigen scharf, die aufgrund der Macht der Gewohnheit lieber bei Althergebrachtem verharren als Neues anzunehmen.10 Diese innovationsfreudige Haltung wird jedoch nicht nur am Ende, sondern auch zu Beginn des Werkes bei der Erläuterung der Eigenschaften eines vollendeten Arztes („medicus perfectus“) gepriesen (I, 1). Kohärent zu dieser Idealvorstellung stilisiert sich de Castro selbst als Innovator, der vom überlieferten Wissen nur das übernahm, das einer kritischen Prüfung standhielt. In einem eingangs gelieferten Rückblick betont er, die bisherigen medizinischen Autoren hätten sich auf die Darstellung des theoretischen und/ oder praktischen Teils der Medizin konzentriert. Durch den Fokus auf das Disziplinär-Inhaltliche hätten sie keinerlei Interesse für die Eigenschaften desjenigen gezeigt, der die Kunst der Medizin ausübt („artifex“). Nur Hippokrates habe – wenn auch punktuell – das Auftreten des Arztes selbst thematisiert.11 De Castro sieht sich in der Tradition des Hippokrates, insofern er nun der Erste sei, der sich nach ihm mit diesem Thema befasst. Die sich von der Antike durch das Mittelalter bis hin zur frühen Neuzeit entfaltende Tradition deontologischer Schrif-

9 De Castro, Medicus-politicus, 1614, 277 (lib. IV, cap. 16; Übers.: nach F. J. Schmidt): „Non tamen haec scripsi, quod quendam perstringere, aut in aliquem petulantius grassari, animus sit, nec enim criminatorem ago, sed monitorem: sed quia ut abusus mutare meum non est: ita ad id, quod utile et laudabile existit, viam monstrare cuilibet bono pertinere existimo. Obiter tamen considerandum moneo, quantum apud vulgares consuetudo valeat, quae facit, ut inculpatos, sed sibi novos mores violentius impetant: noxios et reprobatissimos, sed qui iam usu increbuerunt, surdâ aure et conniventibus oculis praetereant: quia tanta interdum est vetustatis consuetudo, ut etiam confessa plerisque vitia placeant.“ 10 Vgl. auch die Randglosse: „Consuetudinis mira vis in moribus.“ – „Der Gewohnheit wunderbare Macht bei den Sitten.“ 11 Vgl. dazu Gadebusch Bondio 2018, 196–197.

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ten, die sich sehr wohl mit den Eigenschaften eines guten Arztes befassen,12 lässt de Castro gänzlich unerwähnt. Er postuliert vielmehr, dass die – vermeintliche – Vernachlässigung dieses Themenkomplexes zum einen in der Geringschätzung von Verhaltensregeln liege; zum anderen habe die Vorstellung, dass ärztliche Tugenden von der Natur gegeben und daher nicht erlernbar seien („â natura et non ab arte provenire“), dazu beigetragen, das Thema der ärztlichen Ausbildung stillschweigend zu ignorieren. In der Überzeugung, dass Klugheit und Souveränität („prudentia et generositas“) des Arztes sich von der Kunst ableiten lassen, widmet sich de Castro eben der Aufstellung eines entsprechenden Regelwerkes.

Ärztliche „Ökonomie“ und „Politik“ Gleich zu Beginn des Werkes definiert de Castro – analog zum antiken Verständnis von Ökonomie (οἰκονομία) als das Spektrum der Tätigkeiten und menschlichen Beziehungen innerhalb des Hauses – eine medizinische Ökonomie. Der Begriff umfasst für de Castro die Handlungen des Arztes im Umgang mit dem Patienten und den Angehörigen, weshalb die medizinische Ökonomie ein Bereich ist, in dem ein Arzt besonders gewandt sein sollte. Denn Ärzte würden in ihrer Ausbildung zwar lernen, was sie verabreichen müssen, sie würden aber wenig über die korrekte Anwendung dessen wissen, was sie gelernt haben. Hier übernahm er von Hippokrates die Vorstellung, dass der Arzt eine gewisse Ökonomie anwenden solle („oeconomiam quandam adhibere“),13 und exemplifizierte diese an einer Reihe von fürsorglichen Tätigkeiten im Umgang mit dem 12 Zur lebhaften Tradition der medicus optimus-Schriften, zu der Mediziner wie Gabriele Zerbi, Alessandro Benedetti, Johannes Siccus, Leonardo Botallo usw. im 16. Jahrhundert beigetragen haben, vgl. Bergdolt 2004, bes. 133–172; Gadebusch Bondio 2012; Gadebusch Bondio 2013. 13 De Castro, Medicus-politicus, 1614, 1–2 (lib. I, cap. 1); vgl. Hippokrates, Epid. VI, 2, 24 (Littré V, 290): „Ἡ περὶ τὸν νοσέοντα οἰκονομίη, καὶ ἐς τὴν νοῦσον ἐρώτησις· ἃ διηγεῖται, οἷα, ὡς ἀποδεκτέον, οἱ λόγοι· τὰ πρὸς τὸν νοσέοντα, τὰ πρὸς τοὺς παρεόντας, καὶ τὰ ἔξωθεν.“ („Die Ökonomie gegenüber dem Kranken, und das Fragen über die Krankheit; was beschrieben wird, wie beschaffen, wie es anzunehmen ist, die Gespräche; das gegenüber dem Kranken, gegenüber den Anwesenden, und (gegenüber) denen außerhalb.“ Übers.: K.-L. Förg); vgl. dazu Ayache 2012, bes. 25–26. Vgl. auch de Sobremonte Ramires, Disputatio apologetica, 1669, 246. Der gelehrte spanische Mediziner de Sobremonte Ramires (1603–1683) zitiert an mehreren Stellen de Castros Medicus-politicus und befasst sich ausführlich mit dem Verhältnis von Medizin und Politik (ebd., 24, 104, 109, 112, 194). Die Passage zur Ökonomie übernimmt er – wie de Castro – fast wortgleich von Galens Kommentar zu den Epidemien: Galen, In Hipp. Epid. comm., II, 45 (CMG V 10,2,2, 115–118).

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Patienten und auch mit sich selbst. Auf den Punkt gebracht: „So ist auch in der Medizin die Kunst zu lernen und das Gelernte recht anzuwenden nicht dasselbe.“14 Als selbstbewusster, erfolgreich in einer prosperierenden Stadt wirkender Arzt brachte de Castro mit seinem Medicus-politicus einen in der vorangegangenen Texttradition des medicus optimus nicht vorhandenen Akzent ein: das Politische am Arztberuf. Das bonum commune rückt somit in den Vordergrund. Gute Medizin befördere die Gesundheit Vieler und darin liege ihre Bedeutung für die Gemeinschaft und die Verantwortungsträger. Schlechte oder fehlende Beherrschung der ärztlichen Ökonomie habe zur Folge, dass viele ansonsten hervorragende und erfahrene Ärzte („multi alioqui praestantissimi, et suae artis peritissimi medici“) den Patienten nicht nur unlieb und hassenswert, sondern sogar nutzlos würden („ingrati, odiosi, inutiles“). Deshalb sei eine Vermittlung dieser Regeln dringend notwendig. Gleichsam als Synonym zur seit Hippokrates etablierten „Ökonomie“ („oeconomia“) des Arztes führte de Castro den Begriff der „Politik“ („politia“) in die frühneuzeitliche medizinische Literatur ein („oeconomia sive politia“).15 Das Adjektiv politicus, das im Werktitel zweimal Verwendung findet, leitet sich von politia ab und weist auf die Kompetenzen des Arztes im Umgang mit Patienten und Angehörigen hin. Ferner wird mit der Begrifflichkeit des Politischen seit dem späten 16. Jahrhundert der öffentliche, gesellschaftliche Raum gegenüber dem Privaten bezeichnet, wie W. Steinmetz zeigen konnte.16 Nach W. Eckart, der sich wiederum auf G. Frühsorge stützt, ist darüber hinaus auch eine reziproke Übertragung bestimmter Verhaltensregeln aus dem öffentlichen in den privaten Bereich, in dem der Arzt agiert, gemeint: „Politisch sein oder handeln“ rekurriere im 17. Jahrhundert „also gerade auf den im modernen Sinne des Wortes politisch inaktiven Bürger, meint die Orientierung an bestimmten, festen, wenn auch nicht gänzlich unverrückbaren, moralischen, besser weltmännischen Verhaltensanweisungen.“17 De Castros innovative Verwendung des Poli14 De Castro, Medicus-politicus, 1614, 2 (lib. I, cap. 1): „… sic et in medicina artem discere, et iis, quae quis didicit, apposite uti non idem est.“ 15 De Castro, Medicus-politicus, 1614, 2 (lib. I, cap. 1): „Quippe multi alioqui praestantissimi, et suae artis peritissimi medici cum ad hanc oeconomiam sive politiam exercendam malè se comparent, adeò fiunt multis ingrati, et odiosi, ut ob hoc ipsum evadant inutiles.“ Vgl. auch ebd., 110 (lib. II, cap. 1): „Iam verò medici gubernationem aggrediamur, quam sive prudentiam, sive oeconomiam, sive politiam nomines, non magni refert.“ 16 Steinmetz 2007, 29–30. 17 Eckart 1992, 115–116. Nach Eckart leitet de Castros Werk die medicus politicus-Literatur des 17. Jahrhunderts ein (Eckart 1992, 115–116, 123–127). Dabei „soll [die Figur des ‚Medicus Politicus‘] auf sich all die Tugenden des öffentlichen und privaten Lebens vereinigen, wie sie sich auch mit den häufig parallel benutzten Begriffen ‚prudentia‘, ‚oeconomia‘, ‚decorum‘ oder

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tik-Begriffs für das ärztliche Agieren trägt also zwei Bedeutungen, indem mit der politia erstens das ideale Verhalten eines Arztes gemeint ist, das in der bestmöglichen Behandlung der Bürger zweitens einen großen Beitrag zum öffentlichen Gemeinwohl leistet. Hinzukommt eine weitere, metaphorische Ebene des Begriffs, die de Castro an verschiedenen Stellen, am deutlichsten jedoch bei der Vorstellung seines Konzeptes des Mikro-, Meso- und Makrokosmos im vierten Buch des Medicuspoliticus ausführt:18 Der Arzt verhalte sich demnach zum menschlichen Körper, und damit zum Patienten, wie ein Staatsmann („politicus“) oder im Kriegsfall gar ein Feldherr („dux“) zu seinem Gemeinwesen.19 Pointiert formuliert hebt er als höchstes Ziel des guten Arztes den „Frieden des Körpers“ („corporis pax“) hervor.20 Mit der programmatischen, semantischen Bündelung von oeconomia und politia stellt sich de Castro in die philosophiegeschichtliche Tradition, in der die Politik als „Disziplin oder Kunstlehre … parallel zur Ökonomie der Ethik bei- oder untergeordnet“ war.21 Mit dem Neologismus des Medicus-politicus konnte er die Funktionen des Arztes an der Schnittstelle zwischen dem Individuellen, dem Privaten, und dem Allgemeinen, dem Öffentlichen, bestmöglich explizieren. Wie der Arzt die Ökonomie in der Pflege des einzelnen Patienten perfekt zu beherrschen hat, so soll er das bonum commune nie aus den Augen verlieren und seine politische Medizin ausführen. Diesen idealen, klugen, politischen und angemessen auftretenden Arzt („prudens, politicus, generosusque medicus“) versuchte de Castro in seinem Medicus-politicus darzustellen und angehenden Ärzten für dieses erstrebenswerte Ziel ein Kompendium an die Hand zu geben.22

eben ‚politia‘ umschreiben lassen (116–117).“ Vgl. auch Meunier 1905; Elkeles 1979, 191–194; Elkeles 1992. 18 Förg/Link 2019, 254–260. 19 Dieses Ideal eines guten Staatsmannes schreibt de Castro den beiden Widmungsempfängern des Medicus-politicus zu; s. unten. 20 De Castro, Medicus-politicus, 1614, 37 (lib. I, cap. 10) und 40–41 (lib. I, cap. 11). Dazu ausführlich Gadebusch Bondio 2018, 199–203. 21 Steinmetz 2007, 28–29. 22 De Castro, Medicus-politicus, 1614, 2 (lib. I, cap. 1; Übers.: F. J. Schmidt): „… idcirco quid intersit inter medicum, ac prudentem, politicum, generosumq(ue) medicum, et praeclara arte dignum: simulq(ue), quibus artibus hanc sibi laudem comparare queat, expedire: et quae sit optima medicinam factitandi ratio, quantâ potuero diligentiâ prosequi, et explicare decrevi.“ – „Welch ein Unterschied ist zwischen einem bloßen Arzt und einem klugen, politischen, edlen und seiner herrlichen Kunst würdigen! Mit welchen Künsten er sich dieses Lob verschaffen kann und welches die beste Methode sei, die Medizin auszuüben, verfolge ich mit Fleiß so gut ich kann und will es erklären.“

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Motiv und Widmung Privates und Öffentliches verknüpfte de Castro auch in der erklärten doppelten Zielsetzung des Medicus-politicus. Er beabsichtigte damit, einerseits dem öffentlichen Nutzen zu dienen und andererseits seinen beiden Söhnen Benedikt und Andreas, die ebenfalls Ärzte wurden,23 eine Sammlung von Wissen an die Hand zu geben, die sie in dieser Form in keiner schulischen bzw. universitären Ausbildung lernen konnten. Dieses Wissen basierte wiederum auf zwei Pfeilern, zum einen auf den Erkenntnissen der seit der Antike anerkanntesten Mediziner, zum anderen auf seinen eigenen Erfahrungen, die er im Laufe seiner langen Tätigkeit gesammelt hatte („à rudibus annis sum professus“). Sein Werk bezeichnete de Castro metaphorisch als Gärtchen („hortulum“), das sowohl althergebrachte als auch neuartige Pflänzchen in sich vereinte. So wollte er sich gegen negative Kritiken – sein Werk stütze sich nur auf jahrhunderte- bzw. jahrtausendealtes Wissen und vernachlässige neuere Erkenntnisse oder, vice versa, es konzentriere sich nur auf Neuheiten und verschweige das seit Jahrhunderten bekannte Wissen – schützen. Das Bewusstsein, die altbekannten Autoritäten, allen voran Galen, könnten zumindest punktuell durch neueren Erkenntnisgewinn widerlegt sein, formulierte de Castro auch in der Vorstellung des literarischen Kanons, dessen Kenntnis er den angehenden Ärzten nachdrücklich empfahl (lib. II, cap. 9).24 Auch in seiner Widmung berücksichtigte de Castro Personen, die politisches Gewicht in der Bürgerschaft hatten: Er dedizierte den Medicus-politicus zwei Mitgliedern des Hamburger Senats, den Konsuln Vinzenz Moller (1560– 1621 oder 1568–1625) und Hieronymus Vogeler (1565–1642).25 Eine Schrift zur Be23 Förg/Link 2019, 246, Anm. 12. Benedikt (1597–1684), der Leibarzt der Königin Christine von Schweden wurde, verfasste abgesehen von seiner Replik Flagellum Calumniantium Seu Apologia In qua Anonymi cujusdam calumniae refutantur ejusdem mentiendi libido detegitur, Clarissimorum Lusitanorum Medicorum legitima methodus commendatur, empiricorum inscitia ac temeritas tamquam perniciosa Reipublicae damnatur (1631) ein seiner Dienstherrin gewidmetes Werk mit dem Titel Monomachia sive certamen medicum (Hamburg 1647). Andreas (geb. 1599) war Leibarzt des Königs Christian I. von Dänemark, für den bereits sein Vater tätig gewesen war (de Castro 1934, 18). 24 Vgl. dazu Förg/Link 2019, 247–254. 25 Förg/Link 2019, 245 Anm. 10. Zu Vinzenz Moller vgl. auch Moller 1856, 25–36. Um 1600 waren zwei Personen namens Vinzenz Moller politisch in Hamburg aktiv (neben einem weiteren Vinzenz Moller aus der Hamburger Familie, der in Bremen Syndicus und Ratsmitglied war; Moller 1856, 21). Der eine, geboren 1560, war J. U. L., also Lizenziat beider Rechte, wurde 1596 Ratsmitglied und 1599 Bürgermeister von Hamburg. Der andere, geboren 1568, studierte ebenfalls Jura, wurde darin jedoch promoviert. Er wurde 1601 Subsyndicus in Hamburg und vertrat die Stadt in den folgenden Jahren und Jahrzehnten in etlichen diplomatischen Angelegenhei-

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kämpfung einer Pestepidemie im Jahre 1596, sein Erstlingswerk, hatte de Castro Ad Amplissimum splendidissimumque ejusdem urbis (sc. Hamburgensis) Senatum gewidmet, also der Gesamtheit des Hamburger Senats.26 Widmungsträger seines zweiten Werkes, erstmals 1603 in Köln unter dem Titel De universa mulierum medicina publiziert, ist Benedikt von Ahlefeldt, Gutsherr eines adligen Gutes namens Lehmkuhlen im heutigen Schleswig-Holstein.27 Seine Entscheidung, sein Spätwerk gerade Moller und Vogeler zuzueignen, rechtfertigte er mittels einer Analogie: Als größte Vertreter der politischen Wissenschaft („politicae disciplinae cultores maximi“) würden Moller und Vogeler am Staatskörper das leisten, was der nicht zuletzt durch de Castros Medicus-politicus zum idealen Arzt gewordene Mediziner zur Instandhaltung des menschlichen Körpers beitragen könne.28 Um seine Verehrung der beiden Konsuln Gestalt annehmen zu lassen und aus Dank für das ihm entgegengebrachte Wohlwollen habe er sich entschlossen, das vorliegende Werk ihnen beiden zu widmen.29

Nachleben und Rezeption des Medicus-politicus In dem Absatz, der das Vorwort beschließt, greift de Castro die eingangs en passant formulierte und zu Beginn des ersten Buches weiter ausgeführte Neuartigkeit seines Unterfangens („res nova“) wieder auf. Da er durch dieses Forschungsdesiderat unbekanntes Terrain betrete, möge man ihm potenzielle Fehler nachsehen, die der menschlichen Unwissenheit („humana caligo“) und nicht dem göttlichen Geist („animus“) entsprangen. Das Ziel des Werkes, den idealen Medicus-politicus darzustellen, sei aber aufgrund der fast gänzlich neu-

ten, teils in Zusammenarbeit mit dem Bürgermeister Hieronymus Vogeler. Aus de Castros Medicus-politicus geht nicht hervor, welchem Vinzenz Moller er seinen Traktat widmete. 26 Vgl. den Aufsatz von M. Förg im vorliegenden Band. 27 Vgl. Gadebusch Bondio/Förg 2020, 221, Anm. 15. 28 Vgl. auch Gadebusch Bondio 2018, 195. 29 Außerdem würden die beiden von Natur aus nach Schriften dürsten („litterarum, quarum estis natura sitientissimi, publico monumento id efficere decrevi“). Dies war keine leere Floskel, da Moller und Vogeler einzeln oder gemeinsam in den ersten drei Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts Schriften verschiedenster Gattung gewidmet wurden. So dedizierte beispielweise Peter Thomas Torn diesen und fünf weiteren Ratsmitgliedern ebenfalls im Jahr 1614 eine Predigtsammlung, und Gerhard Meier widmete Moller und Vogeler sowie zwei weiteren Konsuln und Mollers Mit-Syndicus eine Schrift über den Sieg des Christentums über die Hölle (Torn, Güldenes Flüß, 1614; Meier, Meditatio, 1614).

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artigen Thematik schwer zu erreichen.30 Deshalb hoffte er, durch den von ihm gemachten Anfang Andere zu weiterer Beschäftigung mit diesem essentiellen Teil der Kunst der Medizin anzuregen. Dies gelang de Castro zumindest teilweise, denn beispielsweise der bayerische Chirurg und Feldarzt Tobias Geiger (1575–ca. 1657) rekurrierte in seinem ca. 40 Jahre später handgeschriebenen Discursus Medicus et Politicus nicht nur dem Titel nach auf de Castros Medicus-politicus. An einigen Stellen griff er inhaltlich darauf zurück und übernahm ganze Passagen, jedoch ohne seine Referenzquelle zu zitieren oder auch nur zu erwähnen.31 Zu Geigers Vorbildern gehört der süddeutsche Chirurg Wilhelm Fabry von Hilden (1560–1634), der de Castros deontologisches Werk kannte und in seiner Schrift über die Anatomie zitierte.32 Ferner fand de Castros Medicus-politicus Eingang in Ludwig von Hörnigks (1600–1667) Politia medica.33 Auch der römische Mediziner Paolo Zacchia (1584–1659) bezog sich in seinen Quaestiones medico-legales auf de Castros Medicus-politicus.34 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts erschienen nach Geigers Discursus Medicus et Politicus und von Hörnigks Politia medica zwei weitere Werke, die die ärztliche Politik im Titel trugen: Friedrich Hoffmanns Medicus politicus sive Regulae prudentiae Secundum quas Medicus juvenis studia sua et vitae rationem dirigere debet, Si famam sibi felicemque praxin et cito acquirere et conservare cupit (Leiden 1738) und Karl Friedrich Udens Medizinische Politik (Leipzig 1783).35 Hoffmann (1660–1742) war Professor für Medizin und Physik an der neu gegründe30 De Castro, Medicus-politicus, 1614, A3v (praefatio): „Et quia argumentum, quod tracto nullis unquam seculis, uti dixi, à quopiam ex professo tentatum fuit, pronior ad veniam mihi via relinquetur, …“ – „Und weil das Thema, das zu keiner Zeit jemals, wie ich gesagt habe, von jemandem aus dem Beruf untersucht wurde, wird mir ein leichterer Weg zur Nachsicht bleiben, …“ Vgl. auch ebd., 2 (lib. I, cap. 1): „… quibus artibus hanc sibi laudem comparare queat, expedire: et quae sit optima medicinam factitandi ratio, quantâ potuero diligentiâ prosequi, et explicare decrevi.“ – „Mit welchen Künsten er sich dieses Lob verschaffen kann und welches die beste Methode sei, die Medizin auszuüben, verfolge ich mit Fleiß so gut ich kann und will es erklären.“ 31 Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656; vgl. dazu den Beitrag von S. Schlegelmilch im vorliegenden Band, die auch auf die etwas andere Schwerpunktsetzung Geigers im Vergleich mit den übrigen deontologischen Texten hinweist. – Die Exempla über die Wertschätzung und Bezahlung guter Ärzte durch antike und zeitgenössische Herrscher übernahm T. Geiger (fol. 8v–9v) jedoch abgesehen von einigen Auslassungen und Umstellungen wortgleich aus de Castro, Medicus-politicus, 1614, 193–194. 32 Fabry, Fürtrefflichkeit, hrsg. von de Quervain/Bloesch 1936, 125–126; vgl. dazu Gadebusch Bondio 2018, 193–194. 33 von Hörnigk, Politia medica, 1638, 6–10 (tit. 1). 34 Zacchia, Quaestiones medico-legales, 1630, z.B. 65 (lib. III, tit. 1, quaest. 7). 35 Eckart 1992, bes. 125–127 zu diesen und thematisch ähnlichen Werken, die allerdings nicht die Politik des Arztes im Titel tragen; zu Hoffmanns Medicus politicus vgl. auch die deutsche

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ten Universität zu Halle. Uden (18. Jh.) wirkte als praktizierender Arzt in Berlin und legte mit seiner Medizinischen Politik eine umgearbeitete Fassung von Hoffmanns Medicus politicus vor, weil aber manches nur dem Zeitalter, in welchem Hoffmann schrieb, angemessen war, manches nach unserer jetzigen Lage nicht mehr statt fand, oder Abänderung nöthig hatte: so hielt ich für rathsam, den genannten Medicus politicus nicht geradezu zu übersetzen, sondern lieber umzuarbeiten, und so zu sagen nur zum Grunde, zum Leitfaden meiner eigenen Reflexionen anzunehmen.36

Doch Uden ließ de Castros Medicus-politicus unerwähnt – wie Hoffmann vor ihm auch.37 Hoffmann lehnte sich beispielsweise im Kapitel über die Gutachtertätigkeit des Arztes an Autoren wie Paolo Zacchia und Johannes Bohn (1640– 1718) an.38 Zumindest aus den Quaestiones medico-legales von Paolo Zacchia müsste Hoffmann von der Existenz der zwei größeren Werke de Castros erfahren haben (De universa muliebrium morborum medicina und Medicus-politicus). Doch die zu Beginn seines Werkes pointierte Charakterisierung des idealen Arztes als Christ lässt vermuten,39 dass Hoffmann jene Autoren bevorzugte, die seinem Ideal eines christlichen Arztes entsprachen. Während also im 17. Jahrhundert auf de Castros Medicus-politicus in chirurgischen Observationes, anatomischen Ausführungen oder forensischen Quaestiones-Traktaten hingewiesen wurde, scheinen sich die Fortsetzer der durch de Castro initiierten Gattung zwar seiner Terminologie bedient, aber zugleich von ihm distanziert zu haben.40

Übersetzung von J. M. Auerbach, Friedrich Hoffmanns … Politischer Medicus, oder Klugheits-Regeln (Leipzig 1752); vgl. Meunier 1902; Ettinger Baril 2008, 86–87, 184–195. 36 Uden, Medizinische Politik, 1783, I (Vorrede). 37 In seinem Vergleich von de Castros Medicus-politicus mit Hoffmanns gleichnamigem Werk postuliert Ettinger Baril, dass der Titel durch Hoffmanns Schüler, die die Schriften ihres Lehrers veröffentlichten, entstanden sei (Ettinger Baril 2008, 87): „Nor does Hoffmann make any reference to de Castro. As Hoffmann’s lecture notes were published by his students as the Medicus Politicus (The Politic Physician), there is no reason to expect that the title was even selected by Hoffmann. It is more likely that the title was selected by the publisher.“ 38 Hoffmann, Medicus politicus, 1738, 102–116 (pars II, cap. IV, reg. 1–2). 39 Hoffmann, Medicus politicus, 1738, 1–3 (pars I, cap. I, reg. 1): „Medicus sit Christianus.“ 40 Vgl. auch Schleiner 1995, 70–93, bes. 82. Bereits W. Schleiner wies auf das Paradoxon hin, dass sich Ludwig von Hörnigks Traktat Politia medica terminologisch und auch punktuell inhaltlich auf Rodrigo de Castros Medicus-politicus stützte, obwohl Ludwig von Hörnigk gleichzeitig entschiedener Gegner jüdischer Ärzte war (vgl. von Hörnigk, Medicaster Apella oder Juden Artzt, 1631).

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Buchgeschichte Der Medicus-politicus erschien im Jahr 1614 beim Verlagsbuchhändler Georg Ludwig Froben (1566–1645) in Hamburg.41 Von dieser Auflage haben sich zwei Ausgabetypen erhalten, die sich sowohl im Signet als auch – damit verbunden – marginal im Schriftsatz der Titelseite unterscheiden. Eine Ausgabe (A; Abb. 1)42 wurde mit Georg Ludwig Frobens Signet versehen. Dieses zeigt in einer barocken, von zwei Statuen43 gestützten Ädikula eine männliche Person, die einen Baum pflanzt. Ein Spruchband trägt den Titel „POSTERITATI“, zu deutsch: „Der Nachwelt“.44 In der Basis unterhalb des Spruchbandes ist eine vereinfachte Stadtansicht abgebildet, bestehend aus drei Gebäuden, die vermutlich die Stadt Hamburg darstellt.45 Ort und Name der Verlagsbuchhandlung („Hamburgi. Ex Bibliopolio Frobeniano“) sind auf zwei Zeilen unterhalb des Signets verteilt.

41 Eine zweite Auflage des Medicus-politicus verlegte Zacharias Härtel im Jahr 1662 ebenfalls in Hamburg. Dieser publizierte im selben Jahr de Castros De universa muliebrium morborum medicina in mittlerweile vierter Auflage; vgl. dazu Gadebusch Bondio/Förg 2020, 221, Anm. 15. 42 Vgl. beispielsweise das Exemplar in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, in der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg oder das eine von zwei Exemplaren in der Bayerischen Staatsbibliothek München (Signatur: Res/4 Anat. 100#Beibd.1). 43 Hierbei dürfte es sich aufgrund der Attribute um Demeter/Ceres (Füllhorn) und Athene/ Minerva (Helm, Schild, Lanze) handeln. 44 Vgl. auch Henze 1991, 63. In anderen Drucken mit diesem Signet ist in der Basis unterhalb des Spruchbandes ein Putto dargestellt. – Das Motiv der Ädikula, wenn auch mit zwei Schlangensäulen, um die sich Weinreben ranken, die aus einem mittig stehenden Volutenkrater erwachsen, begegnet in zahlreichen anderen Drucken aus dem Hause Froben (zwischen 1603 und 1619), sodass die Ädikula auch zum zentralen Bildmotiv des Signets von Georg Ludwig Froben gezählt werden sollte, das nach Henze aus dem Baumpflanzer und dem Spruchband „POSTERITATI“ besteht. 45 Das Signet in der beschriebenen Motivzusammensetzung fand in weiteren Drucken aus dem Hause Froben Anwendung (z. B. de Castro, De universa, 1617; Liddell, Ars medica, 1617; Wilhelm/Gruter, M. Tullii Ciceronis opera omnia, 1618, Bd. 1–4). Da dieses Motiv auch mit einer Variation in der Basis, nämlich einer detaillierten Stadtansicht von Hamburg, begegnet (z. B. Wilhelm/Gruter, M. Tullii Ciceronis opera omnia, 1618, Bd. 1; Froben, Penu Tullianum, 1619), dürfte es sich bei der auf drei Gebäude reduzierten Ansicht ebenfalls um die Stadt Hamburg handeln.

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Abb. 1: Rodrigo de Castro, Medicus-politicus, 1614, Titelseite; Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München, Signatur: Res/4 Anat. 100#Beibd.1.

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Abb. 2: Rodrigo de Castro, Medicus-politicus, 1614, Titelseite; Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München, Signatur: 4 Med.g. 62.

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Abb. 2a: Ausschnitt von Abb. 2.

Die andere Ausgabe (B; Abb. 2)46 ziert anstelle des Signets ein Wappen (Abb. 2a): Im Zentrum steht ein von zwei Füllhörnern eingerahmter Wehrturm. Darüber ist die Innenseite einer zum oberen Bildrand gestreckten rechten Hand abgebildet.47 Ein wiederum über dieser Hand schwebendes Spruchband trägt den Text „Castrúm et fortitudo mea Deus“, zu deutsch: „(Meine) Burg und meine Kraft (sind) Gott“. Bei diesem Wappen handelt es sich nach Carlos de Castro um ein Nebenwappen der Familie de Castro, welches von der Hamburger Linie der Familie zusätzlich zum Hauptwappen geführt wurde, das von allen drei ursprünglichen, spanischen Familienzweigen in jeweils unterschiedlicher Farbgebung verwendet wurde.48 Bei dem zentralen Turm des (Neben-)Wappens könnte es sich um einen Hinweis auf den Ursprung des Geschlechts de Castro handeln, der nach Carlos de Castro in der Burg Castrogeriz liegt, die um 700 von einem gewissen Ritter de Layn Fernandez Calvo erobert wurde. Gut 200 Jahre später 46 Vgl. beispielsweise das andere Exemplar in der Bayerischen Staatsbibliothek München (Signatur: 4 Med.g. 62). 47 Die Hand ist ein beliebtes Motiv in (Drucker-)Signets, sei es als Wolkenhand vom oberen oder seitlichen Bildrand oder als in der Regel vom oberen Bildrand nach unten zeigende Hand, die Gottes Wirken kennzeichnet (vgl. Wolkenhauer 2002, 201). 48 „Zweites Wappen der Familie de Castro“: de Castro 1934, 13 (ebenso Schmidt 1984, Fasc. A, 4), 23 Anmerkung (o. N.).

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wurde einer seiner Nachkommen zum „Herrn von Castro“ ernannt, dessen Familie sich schließlich in drei Linien spaltete. Rodrigo de Castro gehörte dem ursprünglichen Geschlecht an, das auf dem Stammsitz in der heutigen spanischen Provinz Kastilien-León verblieb, bis es im 16. Jahrhundert ins heutige Portugal abwanderte.49 Das Nebenwappen erscheint jedoch nicht erst im 1614 publizierten Medicus-politicus, sondern bereits im 1603 in Köln erstmals gedruckten ersten Teil von de Castros zweitem Werk De universa mulierum Medicina (Abb. 3). Auch in den ebenfalls 1603 bei Froben in Hamburg gedruckten beiden Teilen der De universa mulierum Medicina fand es Verwendung. Und noch über 30 Jahre nach dem Erscheinen von Rodrigo de Castros Medicus-politicus wurde dieses Wappen in der Monomachia sive Certamen Medicum (Hamburg 1647) seines Sohnes Benedikt de Castro abgebildet. In den beiden Ausgaben des Medicus-politicus aus dem Jahr 1614 unterscheidet sich auch die Textführung unter dem de Castro-Wappen leicht von der Textführung im Falle des Froben-Signets: Ort und Verlagsbuchhandlung sind unter dem de Castro-Wappen in einer Zeile im Unterschied zum Zweizeiler unter dem Froben-Signet gehalten. Die Titelseiten der beiden Ausgaben A und B wurden also in unterschiedlichen Sätzen angefertigt. Außerdem wurde das de Castro-Wappen offensichtlich nicht zusammen mit dem Schriftsatz gedruckt, sondern nachträglich eingefügt.50 Im Unterschied dazu wurde es im ersten Teil der Kölner Ausgabe von De universa mulierum Medicina aus dem Jahr 1603 zusammen mit dem Text der Titelseite gefertigt und nicht in einem zweiten Arbeitsschritt nachträglich hinzugefügt. Möglicherweise wurde der in der Kölner Publikation verwendete Stempel, der Rodrigo de Castros Wappen trug, von Froben weiterverwendet und konnte – aus technischen Gründen? – nicht zusammen mit dem Schriftsatz benutzt werden, sondern musste nach dem Druck der Schrift hinzugefügt werden. 49 De Castro 1934, 14–16. 50 In der Autopsie der beiden in der Bayerischen Staatsbibliothek München vorhandenen Exemplare des Medicus-politicus (1614) und der von Froben im Jahr 1603 und 1604 verlegten Teile der De universa mulierum Medicina fällt auf, dass das de Castro-Wappen in einer rechteckigen Fläche sehr stark auf das Papier gepresst wurde. Allerdings gibt es, wie die Autopsie des in der Augsburger Staats- und Stadtbibliothek vorhandenen Exemplars der Hamburger Drucke der De universa mulierum Medicina (Teil 1 und 2; 1603) ergab, auch von der Titelseite von Teil 1 zwei Ausgaben, die sich in der Stempelführung des de Castro-Wappens und dem Schriftsatz unterhalb des Wappens unterscheiden: Erstens scheint das Wappen aufgrund keiner sichtbaren Pressspuren zusammen mit dem Schriftsatz gedruckt worden zu sein. Zweitens fehlt im Augsburger Exemplar der zwischen Wappen und Verlagsort angegebene Zusatz Cum gratia & privilegio S(acr)ae Caesarae Majestatis, der auch in der in München befindlichen Ausgabe des Kölner Druckes des 1. Teils (1603) steht. Auf der Titelseite von Teil 2 (1603) finden sich jedoch Pressspuren des Wappen-Stempels wie im Münchner Exemplar.

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Abb. 3: Rodrigo de Castro, De universa mulierum medicina, 1603. Titelseite.

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Es stellt sich noch die Frage, weshalb überhaupt zwei Ausgaben der Titelseite hergestellt wurden. Dies wird nicht abschließend zu klären sein, ein möglicher Grund könnte darin liegen, dass Georg Ludwig Froben zunächst sein Signet einfügte,51 und Rodrigo de Castro dann sein Wappen, das bereits elf Jahre vorher Verwendung gefunden hatte, auf der Titelseite seines Spätwerks abgebildet wissen wollte. Die restlichen Exemplare wären dann mit leicht verändertem Satz für das nach dem Schriftdruck einzufügende de Castro-Wappen angefertigt worden. Hinzukommt eine letzte Beobachtung: Im Münchner Exemplar des Medicus-politicus aus dem Jahr 1614 wurde de Castros Wappen um 180 Grad gedreht eingefügt, wodurch nicht nur der Wehrturm, sondern auch die Schrift im Spruchband auf dem Kopf stehen. Eventuell ist dies auf das Bildmotiv der Hand zurückzuführen, die vom oberen Bildrand kommend häufig das Wirken Gottes symbolisiert,52 das ja auch im Text des Spruchbandes anklingt.

Anmerkungen zur Transkription Grundlage der digitalisierten Ausgabe wie auch des vorliegenden Beitrags bildet das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München, auf dessen Titelseite de Castros Wappen auf dem Kopf stehend gedruckt wurde.53 Das Werk wurde zwar paginiert, aber die Seitenzählung beginnt erst auf der ersten Seite des ersten Kapitels. Das Verzeichnis der vier Bücher (Librorum elenchus), das Vorwort (praefatio), das Inhaltsverzeichnis (Index capitum) sowie der Schlagwörter-Index (Index rerum praecipuarum) blieben dadurch unpaginiert. Die einzelnen Seiten der genannten Abschnitte lassen sich allerdings über die Bogensignaturen zählen, die sich zentral auf Höhe der untersten Zeile des Schriftsatzes finden, in der rechtsbündig der Textbeginn der folgenden Seite steht. Die Signaturen finden sich stets auf der Vorderseite (Recto) der Bögen und fehlen abgesehen von der Titelseite im Inhaltsverzeichnis und der jeweils vierten Seite einer jeden Bogengruppe, die nach Buchstaben (von A bis Pp) geordnet sind und in der Regel aus vier Bögen bestehen, deren erster jeweils nicht nummeriert wurde.54 Der Text enthält zahlreiche Abkürzungen, beispielsweise für ein ange51 Dessen Verwendung lässt sich von 1603 bis 1628 (in simplifizierter Form, z. B. Liddell, Ars Medica [Letzte Auflage, Hamburg 1628] oder Rodrigo de Castro, De universa muliebrium morborum Medicina [3. Auflage, Hamburg 1628]) nachweisen. 52 Vgl. Anm. 47. 53 Signatur: 4 Med.g. 62. 54 Dabei fehlen die Buchstaben J, U und W; nach Z geht es mit Aa, Bb, etc. weiter. Abgesehen von dem oben genannten systematischen Fehlen der Signatur fehlt sie auf den Bögen I2 und Dd2.

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hängtes -que („und“), das et-Zeichen (&) oder Nasalstriche über Vokalen für ein darauffolgendes M oder N. Die aufgelösten Abkürzungen sind durch runde Klammern kenntlich gemacht; das et-Zeichen wurde stillschweigend zu et aufgelöst. In den 1980er-Jahren übersetzte F. J. Schmidt de Castros Medicus-politicus.55 Nach eigenen Angaben hatte Schmidt durch Zufall Nachfahren de Castros getroffen, woraufhin er begann, sich mit der Familiengeschichte zu befassen und dabei auf die 1662 gedruckten Exemplare der De universa muliebrium morborum Medicina und des Medicus-politicus stieß. Letzteren Traktat, dessen Titel er mit „Verhaltenskunde für einen in der Öffentlichkeit stehenden Arzt“ wiedergibt, übersetzte er ins Deutsche, weil er „darin ein gerade heute recht aktuelles Thema angesprochen“ sah.56 Die Übersetzung legte Schmidt in vier maschinegeschriebenen Heften vor. Unsere Übersetzung lehnt sich teilweise an die Übersetzung von Schmidt an; stellenweise wurde seine Übersetzung komplett überarbeitet.

55 Schmidt 1984. 56 Schmidt 1984, Fasc. A, Vorbemerkungen. F. J. Schmidt scheint Historiker gewesen zu sein, der mehrere Werke der Frühen Neuzeit herausgab und selbst zu einigen Themen über die Frühe Neuzeit publizierte (DNB-Datensatz: http://d-nb.info/gnd/109129857, Zugriff am 10.03.2019).

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Anhang Rodrigo de Castro, Medicus-politicus RODERICI À CASTRO LUSITANI PHILOS(OPHIAE) AC MEDIC(INAE) DOCT(ORIS) PER EUROPAM NOTISSIMI. MEDICUS-POLITICUS: SIVE DE OFFICIIS MEDICOPOLITICIS TRACTATUS, QUATUOR DISTINCTUS LIBRIS: IN QUIBUS NON SOLUM BONORUM MEDICORUM MORES AC VIRTUTES EXPRIMUNTUR, MALORUM VERÒ FRAUDES ET IMPOSTURAE DETEGUNTUR: VERUM ETIAM PLERAQ(UE) ALIA CIRCA NOVUM HOC ARGUMENTUM UTILIA ATQ(UE) JUCUNDA EXACTISSIMÈ PROPONUNTUR. OPUS ADMODUM UTILE MEDICIS, AEGROTIS, AEGROTORUM ASSISTENTIBUS, ET CUNCTIS ALIIS LITTERARUM, ATQUE ADEO POLITICAE DISCIPLINAE CULTORIBUS. CUM DUPLICI INDICE, UNO CAPITUM: ALTERO RERUM PRAECIPUARUM. ANNO [de Castro-Wappen] CLƆ. IƆ. C. XIV. HAMBURGI, EX BIBLIOPOLIO FROBENIANO.

LIBRORUM ELENCHUS. 1. Oppressis priùs senticosis errorum tribulis: repressisq(ue) oppugnantium telis, Medicina suo loco collocatur, ejus origo traditur, et respectus ad alias facultates. 2. Medicus necessariis imbuitur disciplinis, instrumentis aptis munitur, bibliothecâ selectâ, et fortunae bonis convenientibus. 3. Vitia appunguntur medico inprimis fugienda, virtutes prosequendae commendantur, amictus ipsius, vultus, ingressus, mores, actiones, et reliqua quae ad circumspectionem ac prudentiam utilia sunt, referuntur. 4. Quae inprimis ad medici ornatum facere videntur, quid de fascinatione, philtris, et salutatorum operâ sentiendum sit, exponitur: humani corporis cum aliis rebus similitudines, causae rerum abditae, facetiae, testificandi modus, musicae usus in morbis, et pleraq(ue), alia proponuntur.

[A 2r] AMPLISSIMIS, CLARISSIMIS, ET SAPIENTISSIMIS VIRIS, D(OMI)N(O) VINCENTIO MOLLERO J(URIS) U(TRIUSQUE) L(ICENTIATO) PERITISSIMO, ET D(OMI)N(O) HIERONYMO VOGELERO, FLORENTISSIMAE REIPUBLICAE HAMBURGENSIS

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CONSULIBUS VIGILANTISSIMIS. RODERICUS À CASTRO PHILOSOPHUS AC DOCTOR MEDICUS, S(ALUTEM) P(LURIMAM) D(ICIT). Amplissimi, Clarissimi, et Sapientissimi Domini Consules. In omnibus facultatibus id semper oper(a)e pretium existimavi, ut earum professores, aut novi aliquid invenirent, aut certè jam inventa, perfectiora, politioraq(ue) redderent: Perinde ratus optima quaeq(ue) ad summum fastigium perducere, aut inferiora, dummodo utilia sint, de novo inculcare. In hâc verò quam à rudibus annis sum professus, medicâ disciplinâ posteaquam ea, quae semiperfecta videbantur, ad finem perducere tentavi in opere de mulierum medicina; nunc reliqua artis praecepta majoribus relinquens, ipsius medici vit(a)e instituta documentis comprehendo, rem quidem arduam, novam, et laboriosam, quam tamen non sine fructu perfecisse existimo. Itaque orsus [A 2v] ab ejusdem studiis, et genere disciplinae, ad medico virtutes amplexandas, fugiendaque vitia me confero: nec tamen in omnes virtutum, aut vitiorum locos egredior, sed in eos duntaxat, qui maximè videntur medicis peculiares: tunc deinde mores candidiores moneo, et statuta medicis servanda propono, ac fraudes detego quorundam, quibus haud dubiè odiosus noster hic labor erit. Sed non est novum malis, odisse benè monentes: sanctius tamen colenda veritas, quam ut non asseratur, eoru(m) metu, quibus placuisse, culpa et vituperio non careret. Molestus est medicus furenti: non tamen propterea neganda est infirmo medicina. Cordatos verò et optimos medicos officii sui admoneo, caeteros interdum paulò acrius reprehe(n)di, tum ut ipsi foeditatem morum suorum, veluti in tabella depictam, intueantur, et erubescant, ac desinant erubescenda facere: tùm ut boni se ab illis vitiis procul abesse gaudeant, et operam dent, ut longiùs etiam recedant, ac intimas virtutis sedes penetrare queant, iis quidem documentis et moribus, quibus et Deo grati et hominibus, praestantissimae disciplinae pristinum suum decus restituere adnitantur. Porro id in hac jam ingravescente aetate mihi faciendum putavi, tum ut public(a)e utilitati consulerem, tum quia liberos habeo, quos in eadem professione, Deo auxiliante, erudiri decrevi: Atq(ue) ea, quae praeveniente fortasse morte voce tenus à me audire non poterunt, nec in scholis inculcantur, scriptis consignare studui, ut tùm ipsi, tùm c(a)eteri medici, qui posthac fuerint, earum legum exemplar habeant, quas nec ipsi plerumq(ue) tenent, qui in hac professione diutissimè incanuerunt. Erui ea non solum ex iis scriptoribus, quos probo vehementer, et sequor libenter, sed [A 3r] praecipuè ex propriis inventis experimentisque. Ita quasi hortulum ex nativis, et aliunde translatis plantulis concinnavi, ne aut sine auctoritate novitatis contemptu opus vilesceret, aut, citra novitatis gratiam, situ exolesceret. Eadem vero, veterem secutus morem, vobis, Viri amplissimi, nuncupanda, dedicandaq(ue) censui, ut politicae disciplinae cultoribus maximis, quo vitae

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genere, per gradus virtutum, et dignitatum vobis jamdiu gloriam immortalem, patri(a)e verò eximium decus et ingentem felicitatem peperistis. Ut enim innumera alia vestrarum laudum luculentissima encomia subticeam, quinam unquam Reipublicae corpus, ex tot membrorum compagine consolidatum felicius prudentiusq(ue) gubernârunt? qui moderatiùs rexêre, et in officio tot et tam varias nationes suavius continuerunt? quod quidem prudentiae civilis, et politicae disciplinae praecipuum et maxime peculiare opus est. Altera hujus instituti causa fuit, ut posteriores medici vobis acceptas referant eas leges, quae sub vestro patrocinio publici juris factae sunt. His accedit singularis erga vos, Viri clarissimi, et hanc amplissimam Rempublicam à multis jam annis animus meus, cujus ut testimonium aliquod exhiberem, cum alia ratione nequeam, et me imparem esse sciam summae vestrae erga me benevolentiae atque propensioni, tandem litterarum, quarum estis natura sitientissimi, publico monumento id efficere decrevi. Sic frondibus coronantur divorum altaria, et mola litant, qui thura non habent. Nec vero mihi vitio vertetur, si politissimis viris politica offero, quasi velim lumen soli mutuari: non enim hoc ago; quin po|tius [A 3v] propterea vobis haec nuncupanda fuerunt, à quibus lumen et splendorem capere possent. Et ea semper fuit litterarum excellentia, ut eas qualescunque, dummodo virtutem, et publicam utilitatem spectent, apud se foveri, sibique dicari summi viri honestum et gloriosum putârint. Tantò idipsum aequiori animo vos laturos confido, qui quoties à gravissimis reipublicae laboribus respirare licet, quidquid subsecivi nanciscimini otij, id totum studiis litterarum assidue impenditis. Unde factum ut nullae nunquam insignes animi dotes in ullius reipublicae moderatoribus, vel singulae exstiterint, quae non confertim omnes in vobis clarius eluceant. Ab earum tamen enumeratione et vestris nobilissimis elogiis, ob res domi forisque praeclarè gestas, supersedeo, gnarus modestiae vestrae, qui virtutes laudari, quam vos ipsos potius vultis. Si quid tamen attigi, id quidem factum, quia celebrari virtutes nequeunt, quin pariter commendentur ij, qui in ipsis plurimum praestant atque excellunt. Caeterum feliciter cum Medico-politico agi existimabo, si eum in vestram protectionem susceperitis, ita nimirum commendatum satis, ac probatum se esse intelliget, ubi judicio vestro acerrimo politissimoque non displicuerit. Si verò in quibusdam aliter contingat dicta, indicta sunto. Et quia argumentum, quod tracto nullis unquam seculis, uti dixi, à quopiam ex professo tentatum fuit, pronior ad veniam mihi via relinquetur, interdum, ut fieri potest, non animo sed humanâ caligine coecutienti. Quod si uti ab animo, vobis deditissimo, profecta sunt, ita, ut spero, vestro favore aspersa, tutataq(ue) fuerint, nil utique erit, quod verear virulentum malignantium livorem, et rugosos censores facile contemnam. Valete.

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[p. 1] RODERICI À CASTRO LUSITANI PHILOSOPHIAE AC MEDICINAE DOCTORIS PER EUROPAM NOTISSIMI MEDICUS POLITICUS, SIVE DE OFFICIIS MEDICO-POLITICIS: LIBER PRIMUS. OPERIS ARGUMENTUM, ET AUCTORIS INSTITUTUM. CAPUT. I. Quicunq(ue) medicas tractationes hactenus scripserunt, id unum sibi proposuerunt, ut aut in theoria aut in praxi, aut certè in utraq(ue) medicinae parte medicum apprimè instituerent: Omniaq(ue) artis potius ipsius praecepta, quàm medici perfecti circumstantias prosequerentur. De ipsius artificis prudentia generositateq(ue) (uno excepto Hippocrate, qui pauca quaedam hac de re scripsit) perexiguam aut ferè nullam mentionem fecerunt: Vel quia minus necessariam esse existimârunt: vel quia â natura et non ab arte provenire nec ullis praeceptionum cancellis contineri posse crediderunt. Idq(ue) Arabs Avicenna sentire videtur, sic enim eius verba intelligo, dum, posteaquam totius medicinae partes retulit, quidquid (inquit) supra hoc est, incomprehensibile est: cum sit Dei et naturae donu(m) medici prudentia, sine qua universalis doctrina ex libris comparata nullius est momenti, quippe quae in medicina discuntur, omnia ferè medici prudentiae relinquu(n)tur determinanda: Quod tamen Hippocrates, nomine profectò satis idoneo, oeconomiam circa aegrotantem vocavit.57 Nam cu(m) mitti sanguinem, aut propinari pharmacum, aut emplastrum admoveri, aut tale quidpiam medicus facere jubet, medicam artem exercere: cùm verò fe|nestras [p. 2] aut januas aperire, aut claudi; lectum aegroti huc, aut illuc verti; hos haberi ab ingredientibus sermones; haec nunciari; haec caelari; et ipse ita, aut ita se gerit, oeconomiam quandam adhibere videtur. Quemadmodum enim in vita omnia opportuna possidere, vestes, vasa, servos, ad jugum idonea animalia, aedes, frumentum, legumina, vinum, oleum aliaque id genus ab eorum convenienti usu, quam oeconomiam vocant longe differt: sic et in medicina artem discere, et iis, quae quis didicit, apposite uti non idem est. Et certe quanquam prima illa cura, quae ad medicinalia instrumenta pertinet, majoris sit momenti, tamen hanc postremam no(n) exigui esse censeo. Quippe multi alioqui praestantissimi, et suae artis peritissimi medici cum ad hanc oeconomiam sive politiam exercendam malè se comparent, adeò fiunt multis ingrati, et odiosi, ut ob hoc ipsum evadant inutiles: alij contra non admodum periti, ita huic curae sese accommodant, ut perpauca, quae alicujus momenti sunt, facientes, plerisq(ue) non parum utiles esse videantur. Quoniam igitur non artium duntaxat seminaria, verum etiam omnium virtutum, nedum prudentiae ipsius, igniculi quidam mortalibus â natura inditi, certis quibusdam regulis ac praeceptis magis elucent, et perfici57 Hippokrates, Epid. VI, 2, 24; vgl. dazu oben Anm. 13.

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untur, quibus qui caret, tametsi artem calleat medicinae, non tamen generosus nec prudens medicus mihi videtur; idcirco quid intersit inter medicum, ac prudentem, politicum, generosumq(ue) medicum, et praeclara arte dignum: simulq(ue), quibus artibus hanc sibi laudem comparare queat, expedire: et quae sit optima medicinam factitandi ratio, quantâ potuero diligentiâ prosequi, et explicare decrevi: idq(ue) non tam spe perficiendi propositu(m) hoc egregium, quod vix quisquam antehac tentare ausus fuit, quàm animo frangendi glaciem ac reliquis praebendi ansam perficiendi id, quod inchoamus: Et vereor etiam, ne si id, quod cupio, perficerem, eumque medicum expressero, quales omnes esse vellem, summum nimirum ac perfectissimum, tardem (quod de oratore dixit Cicero) studia multorum bonorum qui desperatione debilitati experiri id nollent, quod se assequi posse diffidant.58 Veruntamen horum teneat quisque eum cursum, quem poterit, non enim solus Homerus in poetis locum habet, nec solus Hippocrates in medicis, aut in philosophis Aristoteles, sed dummodo ab hac generositate non deficiant, mirabitur semper summos medicos posteritas, inferioresque probabit, quia magna etiam sunt ea, quae sunt optimis proxi|ma [p. 3]. Quidquid tamen est, de quo ratione, ac methodo disquiritur, id ad ultimam perfectissimamque sui generis formam redigendum est.

58 Cicero, orat. 1, 3.

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RODRIGO DE CASTROS, DES PORTUGIESISCHEN DOKTORS DER PHILOSOPHIE UND DER MEDIZIN, DER IN EUROPA ÄUßERST BEKANNT IST, MEDICUS-POLITICUS [POLITISCHER ARZT] ODER TRAKTAT ÜBER DIE ÄRZTLICH-POLITISCHEN PFLICHTEN, UNTERTEILT IN VIER BÜCHER: IN DENEN NICHT NUR DER GUTEN ÄRZTE MORAL UND TUGENDEN DARGELEGT UND DIE TÄUSCHUNGEN UND BETRÜGEREIEN SCHLECHTER (ÄRZTE) AUFGEDECKT WERDEN, SONDERN AUCH VIELE ANDERE NÜTZLICHE UND ANGENEHME DINGE ÜBER DIESES NEUARTIGE THEMA PRÄZISE AUSGEBREITET WERDEN. EIN WERK, NÜTZLICH FÜR ÄRZTE, KRANKE, PFLEGER VON KRANKEN UND ALLE ANDEREN GEBILDETEN UND BESONDERS DIEJENIGEN, DIE POLITIK BETREIBEN. MIT DOPPELTEM INDEX, DER EINE BEZOGEN AUF KAPITEL UND DER ANDERE AUF SCHLAGWÖRTER. IM JAHRE 1614. HAMBURG, AUS DER FROBENIANSCHEN VERLAGSBUCHHANDLUNG.

Verzeichnis der Bücher: 1. Nachdem zuvorderst die stachligen Disteln der Irrtümer ausgemerzt und die Geschosse der Gegner abgewehrt worden sind, wird die Medizin an ihren rechten Platz gerückt, ihr Ursprung wird berichtet und sie wird zu den anderen Fakultäten in Beziehung gesetzt. 2. Der Arzt wird mit den notwendigen Studieninhalten vertraut gemacht, mit geeigneten Instrumenten ausgestattet, einer ausgewählten Bibliothek und den Gütern, die mit dem Glück einhergehen. 3. Es werden die Fehler bekämpft, die vom Arzt besonders zu fliehen sind, die Tugenden empfohlen, die zu verfolgen sind, sein Gewand, Miene, Eintreten, Moral, Handlungen und das Übrige, was zur Umsicht und Klugheit nützlich ist, vorgetragen. 4. Was besonders zum Schmuck des Arztes beiträgt, wird gezeigt, was von der Behexung, Liebestränken und dem Wirken von Amuletten zu halten ist, wird ausgeführt: die Ähnlichkeiten des menschlichen Körpers mit anderen Dingen, die verborgenen Ursachen der Dinge, Witze, das Gutachterwesen, Gebrauch der Musik bei Krankheiten und vieles andere wird dargelegt. [A 2r] DEN HOCHGEEHRTESTEN, BERÜHMTESTEN UND WEISESTEN MÄNNERN, DEM HERRN VINZENZ MOLLER, LIZENTIAT BEIDER RECHTE UND DARIN HÖCHST BEWANDERT, UND DEM HERRN HIERONYMUS VOGELER, DER BLÜHENDSTEN STADT HAMBURG WACHSAMSTEN KONSULN, ENTBIETET RODRIGO DE CASTRO, PHILOSOPH UND DOKTOR DER MEDIZIN, SEINE GRÜSSE.

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Hochgeehrteste, berühmteste und weiseste Herren Konsuln. In allen Disziplinen habe ich es immer der Mühe wertgehalten, dass ihre Professoren entweder etwas Neues erfinden oder bereits Erfundenes vollendeter und glänzender machen. Deshalb glaubte ich, man solle das Beste zu höchstem Rang führen und Niedrigeres, solange es nützlich ist, von Neuem einprägen. In der Disziplin der Medizin, die ich ja seit jungen Jahren betrieben habe, habe ich später das, was unvollständig schien, in einem Werk über Frauenheilkunde zu Ende geführt; nun, indem ich die übrigen Vorschriften der Kunst den Vorfahren überlasse, fasse ich die Grundsätze eben dieses ärztlichen Lebens schriftlich zusammen, ein schwieriges, neues und mühsames Anliegen, das ich, wie ich meine, dennoch nicht ohne Ertrag vollbracht habe. Ausgehend von den [A 2v] Studieninhalten und der Gattung dieser Disziplin (sc. der Medizin), wende ich mich deshalb nun den Tugenden zu, die ein Arzt annehmen muss, und den Fehlern, die er meiden muss: Und dennoch gehe ich nicht auf alle möglichen Tugenden oder Laster ein, sondern nur auf diejenigen, die den Ärzten besonders eigen scheinen: Dann mahne ich zu einer reineren Moral und stelle Regeln auf, die den Ärzten dienen sollen, und decke die Täuschungen gewisser Leute auf, denen diese unsere Arbeit zweifellos verhasst sein wird. Aber es ist nichts Neues, dass schlechte Leute diejenigen hassen, die in guter Absicht mahnen: Dennoch ist die Wahrheit höher zu schätzen. Wenn diese nicht verteidigt würde aus Furcht vor jenen und um ihnen zu gefallen, wäre das ein Vergehen und würde Tadel verdienen. Lästig ist der Arzt dem Tobenden: Dennoch darf man dem Kranken deswegen die Medizin nicht verweigern. Die beherzten und besten Ärzte ermahne ich zu ihrer Pflicht, die übrigen habe ich mitunter ein wenig schärfer getadelt, damit sie dann selbst die Schlechtigkeit ihrer Moral, wie auf einem Täfelchen abgebildet, betrachten und sich schämen und aufhören, das Beschämende zu tun: Dann, damit sich die Guten freuen, dass sie von jenen Fehlern weit entfernt sind, und sich Mühe geben, dass sie noch größeren Abstand davon nehmen und sich bemühen, die inneren Sitze der Tugend zu erlangen; mit diesen Zeugnissen und Sitten freilich, durch die sie sowohl Gott als auch den Menschen lieb sind, mögen sie danach streben, der vortrefflichsten Disziplin ihren alten Glanz wiederzugeben. Ferner glaubte ich, dies in diesem bereits fortgeschrittenen Alter tun zu müssen, um sowohl dem öffentlichen Nutzen zu dienen, als auch, weil ich Kinder habe und beschlossen habe, sie im selben Beruf, mit Gottes Hilfe, zu unterrichten: Und ich habe mich bemüht, dasjenige, das sie bei einem vielleicht vorzeitigen Tod mündlich von mir nicht werden hören können und auch in Schulen nicht erwähnt wird, in einem Buch aufzuzeichnen, damit sowohl sie selbst als auch die übrigen Ärzte, die nachfolgen werden, ein Exemplar dieser Vorschriften haben, die selbst diejenigen sehr oft nicht beherrschen, die in die-

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sem Beruf seit Langem ergrauen. Ich habe dies nicht nur aus den Autoren zusammengestellt, die ich mit Nachdruck empfehle und denen ich gerne folge, sondern [A 3r] besonders aus eigenen Erkenntnissen und Erfahrungen. Auf diese Weise habe ich sozusagen ein Gärtlein aus heimischen und von anderswoher übertragenen Pflänzchen zusammengestellt, damit das Werk weder ohne Autorität, durch Geringschätzung des Neuen, bedeutungslos wird noch, jenseits der Gunst der Neuheit, in Vergessenheit gerät. Ich habe beschlossen, dies Euch, hochberühmte Männer, altem Brauch folgend, zu widmen, als den größten Vertretern der politischen Wissenschaft, die Ihr durch Lebensweise, durch den Rang der Tugenden und Würden Euch schon lange unsterblichen Ruhm, dem Vaterland aber höchste Zierde und unermessliches Glück erworben habt. Um nämlich zahllose andere glänzende Zeugnisse Eurer Verdienste stillschweigend zu übergehen – wer nämlich hat jemals den Körper eines Staates, der aus einem Gefüge so vieler Glieder besteht, glücklicher und weiser gelenkt? Wer hat gemäßigter regiert und in seinem Amt so viele und so verschiedene Nationen harmonischer zusammengehalten? Dies freilich ist ein besonderes und eigentümliches Werk der Rechtsgelehrtheit und politischen Wissenschaft. Ein anderer Grund dieses Unterfangens war, dass künftige Ärzte Euch diese Gesetze zuschreiben werden, die unter Eurem Schutz der öffentlichen Rechtsprechung geschaffen wurden. Hinzukommt meine bereits seit vielen Jahren bestehende, besondere Zuneigung zu Euch, hochberühmte Männer, und diesem glänzenden Staat. Damit ich davon ein Zeugnis ablege – nachdem ich es auf keine andere Weise kann und weiß, dass ich Eurer großen Wohltaten und Großzügigkeit mir gegenüber nicht gewachsen bin – habe ich schließlich entschieden, dies mit einem öffentlichen Monument aus Schriften, nach denen ihr von Natur aus dürstet, zu beweisen. So werden die Altäre der Götter mit Laub bekränzt und diejenigen, die keinen Weihrauch haben, opfern Mehl. Man soll es mir aber nicht als Vergehen anrechnen, wenn ich meine Darlegungen zur ‚Politik‘ Männern, die in der Politik selbst höchst bewandert sind, darreiche, als wollte ich das Licht mit der Sonne vertauschen: dies tue ich nämlich nicht; ja vielmehr [A 3v] sollten sie Euch deshalb gewidmet werden, von denen sie Licht und Glanz erlangen können. Und dies war immer der Vorzug wissenschaftlicher Studien, dass die höchsten Männer es für ehrenhaft und ruhmvoll erachteten, dass diese – was auch immer sie behandeln, solange sie nur die Tugend und den öffentlichen Nutzen berücksichtigen – von ihnen gefördert und ihnen gewidmet werden. Ich vertraue darauf, dass Ihr dies selbst mit umso ruhigerem Gemüte tragen werdet, die ihr, sooft es erlaubt ist, sich von den sehr mühsamen Arbeiten für den Staat zu erholen, soviel Ihr Mußestunden erlangt, dies ganz für die Studien der Wissenschaften beharrlich aufwendet. Daher kommt es, dass es keine außergewöhnlichen Geistesgaben, die jemals bei

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Staatslenkern oder Einzelnen hervortraten, gibt, die nicht alle in Euch vereinigt noch heller hervorleuchteten. Von der Aufzählung dieser Gaben und der allzu berühmten Lobreden auf Euch aufgrund Eurer vortrefflichen Taten zuhause und außerhalb der Stadt sehe ich ab, in Kenntnis Eurer Bescheidenheit, der (ich weiß), dass Ihr lieber wollt, dass die Tugenden gelobt werden als Ihr selbst. Wenn ich dennoch etwas erwähnt habe, so ist es freilich geschehen, weil Tugenden nicht gerühmt werden können, ohne dass zugleich diejenigen erwähnt werden, die in diesen selbst am meisten hervorragen und sich auszeichnen. Im Übrigen glaube ich, dass es mit meinem Medicus-politicus einen erfolgreichen Verlauf nimmt, wenn Ihr ihn unter Euren Schutz genommen haben werdet, so wird er einsehen, dass er ohne Zweifel genügend empfohlen und gutgeheißen wird, sobald als er Eurem äußerst scharfen und gebildeten Urteil nicht missfallen hat. Wenn aber bei Einigen anderes gesagt wird, sei es ungesagt. Und weil das Thema, das zu keiner Zeit jemals, wie ich gesagt habe, von jemandem aus dem Beruf untersucht wurde, wird mir ein leichterer Weg zur Nachsicht bleiben, wenn ich mich zuweilen, wie es geschehen kann, nicht dem Geist, sondern der menschlichen Unwissenheit nähere. Wie mein Werk einer Euch äußerst ergebenen Gesinnung entsprungen ist, so hoffe ich, wird es auch mit Eurer Gunst versehen und geschützt sein; nichts wird es dann geben, weshalb ich den Neid giftiger Überwollender fürchten müsste, und faltenreiche Kritiker verachte ich leichten Gemüts. Lebt wohl!

[p. 1] RODRIGO DE CASTROS, DES PORTUGIESISCHEN DOKTORS DER PHILOSOPHIE UND DER MEDIZIN, DER IN EUROPA ÄUSSERST BEKANNT IST, MEDICUS-POLITICUS [POLITISCHER ARZT]: ODER TRAKTAT ÜBER DIE ÄRZTLICH-POLITISCHEN PFLICHTEN, ERSTES BUCH. DAS THEMA DES WERKES UND DIE ABSICHT DES AUTORS. KAPITEL I. Alle, die bisher medizinische Abhandlungen geschrieben haben, nehmen sich dieses Eine vor, entweder in der Theorie oder in der Praxis oder in beiden Teilen der Medizin den Arzt vorzüglich zu unterrichten. Alle Vorschriften der Kunst selbst hatten sie eher im Blick als die Umstände des perfekten Arztes. Von der Klugheit des Künstlers und seiner Generosität haben sie (mit Ausnahme von Hippokrates, der weniges darüber schrieb) sehr wenig oder fast nichts erwähnt. Teils haben sie das für weniger notwendig gehalten, teils mochten sie glauben, sie leite sich von der Natur und nicht von der Kunst ab und könne nicht in Regeln gefasst werden. Das scheint auch der Araber Avicenna gemeint zu haben. So verstehe ich nämlich seine Worte, wenn er, nachdem er alle Teile der Medi-

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zin besprochen hat, sagt: „Was darüber hinausgeht, ist nicht erfassbar.“ Da die Klugheit des Arztes ein Geschenk Gottes und der Natur sei, habe ohne diese die gesamte Lehre, die man aus Büchern entnehmen kann, keinen Wert, denn was man in der Medizin lernen könne, bleibe fast alles erst durch die Klugheit des Arztes zu bestimmen. Das hat Hippokrates mit einem recht passenden Namen gegenüber dem Kranken als „Ökonomie“ bezeichnet. Denn einen Aderlass vornehmen, ein Medikament zu trinken zu geben, ein Pflaster aufzulegen oder sonst etwas zu tun, was der Arzt anordnet, nennt er Ausübung der ärztlichen Kunst. Aber auch wenn [p. 2] er Fenster und Türen öffnen und schließen lässt, dem Kranken das Bett hierhin oder dahin richtet, über die Verfahren spricht, Boten schickt, Zeichnungen anfertigt, sich selbst so oder so verhält, scheint er eine gewisse Ökonomie anzuwenden. Auf solche Weise unterscheidet sich alles, was man zum Leben braucht, Kleidung, Gefäße, Diener, geeignete Zugtiere, Gebäude, Getreide, Gemüse, Wein, Öl deutlich von dem, was eben „Ökonomie“ genannt wurde. So ist auch in der Medizin die Kunst zu lernen und das Gelernte recht anzuwenden nicht dasselbe. Und obwohl sicher jene erste Sorge, die sich auf medizinische Instrumente bezieht, von größerer Bedeutung ist, halte ich doch auch diese letztere nicht für gering. Da viele sonst hervorragende und in ihrer Kunst ausgezeichnete Ärzte sich auf die Ausübung dieser Ökonomie oder Politik schlecht verstehen, werden sie vielen Patienten so unlieb und hassenswert, dass sie ihnen nutzlos werden. Dagegen passen sich andere nicht so erfahrene dieser Fürsorge so sehr an, dass sie ihnen nicht wenig nützlich erscheinen. Wenn jemand nicht in den Schulen der Künste, aber in allen Tugenden, vor allem der Klugheit, mit deren Funken alle Sterblichen von Natur aus begabt sind, durch gewisse Regeln und Vorschriften hervorleuchtet und sich in dem vervollkommnet, was ihm fehlt, versteht er trotzdem die Kunst der Medizin. Dennoch betrachte ich ihn nicht als edlen und klugen Arzt. Welch ein Unterschied ist zwischen einem bloßen Arzt und einem klugen, politischen, edlen und seiner herrlichen Kunst würdigen! Mit welchen Künsten er sich dieses Lob verschaffen kann und welches die beste Methode sei, die Medizin auszuüben, verfolge ich mit Fleiß so gut ich kann und will es erklären. Nicht so sehr in der Hoffnung, dieses herrliche Vorhaben zu vollenden, das kaum je vorher einer zu versuchen gewagt hat, als in der Absicht, das Eis zu brechen und den Übrigen einen Anlass zu geben, zu vollenden, was ich beginne. Ich fürchte nur, dass ich nicht vollende, was ich wünsche, indem ich einen Arzt darstelle, wie alle sein sollten, einen höchsten und vollkommenen, später (was Cicero über den Redner sagt) könnten die Studien vieler Guter, durch Verzweiflung geschwächt, das nicht erfahren wollen, was zu erlangen sie sich nicht zutrauten. Aber so mag schließlich jeder seinen Lauf nehmen wie er kann. Nicht nur Homer hat einen Platz unter den Dichtern, nicht nur Hippokrates unter den Ärzten oder Aristote-

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les unter den Philosophen. Wenn sie nur von dieser edlen Gesinnung nicht ablassen, wird sie die Nachwelt immer als große Ärzte bewundern und auch die kleineren anerkennen, denn auch das ist groß, was sich dem Besten annähert. [p. 3] Was aber so ist, dass man es mit Vernunft und Methode untersucht, das soll man zur letzten und vollkommenen Form seiner Art steigern.

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114  Mariacarla Gadebusch Bondio und Katharina-Luise Förg

Hörnigk, Ludwig von (1638): Politia medica oder Beschreibung dessen was die Medici … So dann endlichen: Die Patienten und Krancke selbsten zu thun, und was, auch wie sie in Obacht zu nehmen, Allen Herrn, Höfen, Republicken, und Gemeinden zu sonderbarem Nutzen und guten (sic!). Frankfurt/Main: Clemens Schleichen und Mitverwandten. Hörnigk, Ludwig von (1631): Medicaster Apella oder Juden Artzt. Straßburg: Marx von der Heiden. Hoffmann, Friedrich (1738): Medicus politicus sive Regulae prudentiae Secundum quas Medicus juvenis studia sua et vitae rationem dirigere debet, Si famam sibi felicemque praxin et cito acquirere et conservare cupit. Leiden: Philipp Bonk. Liddell, Duncan (21617): Ars Medica, Succincte Et Perspicue explicata. Hamburg: Georg Ludwig Froben. Meier, Gerhard (1614): ΜΕΛΕΤΗΜΑ ΕΙΣ ΝΙΚΗΝ ΧΡΙΣΤΟΥ ΕΞ ΑΔΟΥ ΓΡΑΦΘΕΝ – Meditatio In Victoriam Christi Ex Inferno. Hamburg: Paul Lange. Meunier, L. (1902): „La ‚Politique du Médecin‘ de Frédéric Hoffmann“, in: Bulletin de la Société Française d’Histoire de la Médicine 1, 192–213. Meunier, L. (1905): „Deontologie médicale rétrospective. ‚La politique du médecin‘ de Roderic de Castro (1555–1637)“, in: Janus 10, 482–490. 532–542. Moller, Ulrich Ph. (1856): Die Hamburgische Familie Moller. Hamburg: Fabricius. Schleiner, Winfried (1995): Medical Ethics in the Renaissance. Washington, D. C.: Georgetown University Press. Schmidt, Franz Joseph (1984): Roderici a Castro, Lusitani, … Medicus-politicus: …, aus dem Lateinischen übersetzt von Dr. Franz Joseph Schmidt. Heft 46 (A)–(D). Hamm: Selbstverlag. Steinmetz, Willibald (2007): „Neue Wege einer historischen Semantik des Politischen“, in: Steinmetz, Willibald (Hrsg.): „Politik“. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 9–40. Torn, Peter Thomas (1614): Güldene Flüß. Hamburg: Lorenz Schneider. Uden, Karl F. (1783): Medizinische Politik. Leipzig: Weygand. Wilhelm, Janus/Gruter, Janus (1618a–d): M. Tullii Ciceronis opera omnia quae exstant. 4 Bände. Hamburg: Georg Ludwig Froben. Wolkenhauer, Anja (2002): Zu schwer für Apoll. Die Antike in humanistischen Druckerzeichen des 16. Jahrhunderts. Wiesbaden: Harrassowitz. (= Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, 35). Zacchia, Paolo (1630): Quaestiones medico-legales. 4 Bände. Leipzig: Elias Rehefeld.

Abbildungsnachweis Abb. 1: Rodrigo de Castro, Medicus-politicus, 1614, Titelseite; Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München, Signatur: Res/4 Anat. 100#Beibd.1. Abb. 2: Rodrigo de Castro, Medicus-politicus, 1614, Titelseite; Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München, Signatur: 4 Med.g. 62. Abb. 2a: Ausschnitt von Abb. 2. Abb. 3: Rodrigo de Castro, De universa mulierum medicina …. Pars prima Theoretica, 1603. Köln: o. A. Titelseite; Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München, Signatur: 2 Path. 21-1/2.

Dietrich von Engelhardt

Amato Lusitano (1511–1568) Leben und Werk eines religiös-politisch verfolgten Botanikers und Arztes auf der Flucht von Portugal ins Osmanische Reich

I Leben: Stationen – Kontakte – Erfahrungen Leben und Werk des 1511 im portugiesischen Castelo Branco geborenen jüdischen Botanikers und Mediziners Amato Lusitano stehen im Kontext der Kultur-, Wissenschafts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und vor allem der politischreligiösen Bewegungen und Ereignisse des 15. und 16. Jahrhunderts.1 Der allgemeine Kontext lässt sich mit einigen Stichworten angemessen beschreiben: Entdeckung Amerikas; Erfindung des Buchdrucks; Kriege in verschiedenen Ländern; Entwicklung der Wirtschaft mit neuen Handelsverbindungen; Bauernkriege und Hungersnöte; Reformation und Gegenreformation; Einrichtung der Inquisition; Gründung des Jesuitenordens; Bücherverbrennungen; Fortschritte in Naturwissenschaften und Medizin in Forschung und Lehre, Diagnostik und Therapie; Gründung wissenschaftlicher Akademien und gelehrter Gesellschaften; Edition naturwissenschaftlich-medizinischer Texte der Antike; Emanzipation der Wissenschaften von Theologie und Philosophie; Orientierung an Praxis und Empirie, Natur, Gesellschaft und Individuum; weiterhin Einfluss von Aberglaube, Mystik, Astrologie, Alchemie. Hinzu kommt die spezifische Situation der Juden in Spanien und Portugal: vollständige Rückeroberung Spaniens (Reconquista) durch die Reyes Católicos Isabella von Kastilien (1451–1504) und Ferdinand von Aragón (1452–1516) mit der Vertreibung der Araber 1492 aus dem letzten Emirat von Granada unter Muhamad XII. (um 1459–um 1535) (Ende der „Convivencia“); zeitlich begrenzte Aufnahme der 1482 aus Spanien exilierten Juden in Portugal; Behinderung ihrer Weiterreise und grausame Verfolgung; christliche Zwangstaufen der Juden (Marranos oder Conversos, Cristianos nuevos, Cristãos-novos); heimliches Festhalten am israelitischen Glauben; zugleich Teilnahme am kulturellen Leben der Zeit, an Handel und Wirtschaft, Wissenschaften, Medizin und Künsten; Dekret des portugiesischen Königs Johann III. (1502–1557) von 1532 mit dem Verbot für Marranos, das Land zu verlassen; Einschränkung oder Verbot der Berufsaus1 Vgl. Beinart 2002; Benbassa/Rodrigue 2005; Berger 1997; Carrete Parrondo 2000; Friedenwald 1967; Sachs 2014. https://doi.org/10.1515/9783110612349-005

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übung für jüdische Apotheker und Ärzte; am 23. Mai 1536 Einführung der Inquisition in Portugal durch die Bulle Cum ad nihil magis von Papst Paul III. (1468, 1534–1549); bevorzugte Orte des jüdischen Exils sind Antwerpen, London, Ferrara, Venedig, Ancona, Ragusa und Thessaloniki. Geboren wird João Rodrigues de Castelo Branco unter seinem christlichen Taufnamen – latinisiert Joannus Rodericus Casteli Albi und später Amatus Lusitanus – als Kind von Rodrigo Amado (15.–16. Jh.) und Catarina Pires (um 1485– 1567) in einer 1492 aus Spanien eingewanderten und 1496/97 zwangsbekehrten Familie wohlhabender Juden in dem portugiesischen Städtchen Castelo Branco (Castellum album) westlich der Universitätsstadt Coimbra, die über eine bedeutende jüdische Gemeinde verfügt.2 Amato Lusitano hat vier Brüder, unter ihnen ein Kaufmann, ein Jurist und ebenfalls ein Arzt; ein Onkel mütterlicherseits ist der reiche Kaufmann Henrique Pires (um 1490–1556), von dem er immer wieder finanzielle Unterstützung erhält, ein Sohn von Pires ist der Dichter Diogo Pires (1517–1599); ob Amatus Lusitanus verheiratet war, konnte bislang nicht geklärt werden. Die Erziehung von Amato Lusitano erfolgt im jüdischen Glauben und macht ihn mit der hebräischen, arabischen und – damals in Portugal in höheren Kreisen verbreitet – auch griechischen Sprache vertraut; später erwirbt er sich neben dem theoretischen Wissen und den praktischen Fähigkeiten in den Naturwissenschaften und der Medizin Kenntnisse auf seinem bewegten Lebensweg durch viele Länder Europas in der lateinischen, spanischen, französischen, italienischen, deutschen und englischen Sprache, die für seine Forschungen wichtig sind und sich in seinen Publikationen niederschlagen. 1528 beginnt Amato Lusitano mit dem Studium der Medizin in Salamanca, der ältesten – und zu dieser Zeit besonders fortschrittlichen – Universität Spaniens, die nach seinem Urteil alle anderen Universitäten Spaniens und Europas weit übertrifft: „florentissimum Hispaniarum, imo totius orbis omnium doctrinarum gymnasium.“3 In Salamanca existiert eine der frühesten jüdischen Gemeinden Spaniens, seit dem 13. Jahrhundert mit einer Judería und mehreren Synagogen. Das Studium der Fächer der Artistenfakultät (artes liberales) und dann der medizinischen Disziplinen beendet Amato Lusitano, unter intensiver Beachtung der Chirurgie, nach zehn öffentlichen Vorlesungen und einer münd-

2 Vgl. Andrade de Gouveia 1985; Correia 1968; Dias 2011; v. Engelhardt/v. Engelhardt 2015; Morais 2011; Dujovich 1974; Friedenwald 1937; Keller 1973; Leibowitz 1957; 1958; 1960; Lopes Dias 1955. 3 Amato Lusitano, In Dioscoridis Anazarbei de medica materia libros quinque enarrationes, 1558, Buch I, Enaratio 133, 197.

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lichen Prüfung am 19. März 1532 mit dem Grad eines medizinischen Bakkalaureus („bachiller en medicina“). Zu seinen Lehrern in Salamanca gehören die Professoren Juan Pontano (16. Jh.) und Santiago Diego de Olivares (gest. 1585). Mitstudenten sind Andrés Laguna (1499–1559), wie Amato Lusitano Verfasser eines Dioskurideskommentars, Francisco Díez (16. Jh.), Cristóbal de Orozco (geb. 1517), Luís Nunes (1510–1570) von Santarém sowie Juan de Aguilera (gest.1561). Kritisch beurteilt Amato Lusitano den zeitgenössischen Zustand der Fächer Anatomie und Pharmakologie in Salamanca, denen sein spezielles Interesse gilt; wer sich mit „simplicia“ beschäftige, werde für einfältig, für einen „simplex“ gehalten.4 Bereits während des Studiums betreut Amato Lusitano Patienten, ist auf Empfehlung seiner Lehrer Pontano und Olivares in den Hospitälern Santa Cruz und Santa Maria la Branca als Arzt aktiv. 1532 kehrt er nach Portugal zurück, hält sich für kurze Zeit in seinem Geburtsort Castelo Branco auf, nimmt im Colégio de São Domingos de Cima an einer öffentlichen Disputation teil („conclusiones varias publice sustinerem“5), übt in Lissabon seinen Beruf aus, steht dort mit den Medizinern Leonardo Nunes (um 1500–1569), Luís Nunes de Santarém und António Luís (geb. 1565) in Kontakt und führt botanische Exkursionen in den portugiesischen Orten Coimbra, Oeiras und Setúbal durch. 1533 verlässt Amato Lusitano aus Sorge um seine Zukunft als Marrano die portugiesische Heimat und begibt sich nach Antwerpen, einer toleranten, wirtschaftlich-kulturell führenden Stadt Europas mit 200.000 Einwohnern und seit der iberischen Vertreibung mit einer großen jüdischen Gemeinde.6 Hier haben sich vermögende Verwandte von ihm unter Zusicherung von Privilegien des Kaisers Maximilian I. (1459–1519) bereits erfolgreich als Händler niedergelassen, unter ihnen auch sein Onkel Henrique Pires. 1526 erlaubt Kaiser Karl V. (1500– 1558) den Juden das Wohnrecht in der Stadt; durch Erlasse von 1545 und 1549 werden jüdische Händler aus Portugal allerdings bereits wieder gezwungen, das Land zu verlassen. Sieben Jahre lebt Amato Lusitano in Antwerpen, beschäftigt sich intensiv mit medizinischer Pflanzenkunde und engagiert sich zugleich als Arzt für Kranke aus allen Schichten und Glaubensrichtungen – ein durchgängiges Charakteristikum während seines ganzen Lebens und Ausdruck seiner ethischen Haltung. 1536 erscheint in Antwerpen als Ergebnis der bisherigen botanischen Forschungen der in kleiner Auflage und nur in wenigen Bibliotheken vorhandene 4 Amato Lusitano, In Dioscoridis Anazarbei de medica materia libros quinque enarrationes, 1558, Buch I, Enaratio 135, 188. 5 Amato Lusitano, Curationum medicinalium centuria quarta, 1557, Curatio 70, 612. 6 Vgl. Tucker 1998.

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und auch später nicht wieder aufgelegte Index Dioscoridis mit einem Kommentar der beiden ersten Bände der Materia medica des Dioskurides (1. Jh. n. Chr.) unter seinem christlichen Taufnamen Joannus Rodericus Casteli Albi Lusitanus; seit der Publikation der I. Centurie seiner Krankengeschichten im Jahre 1551 wird von ihm der lateinische Name Amatus Lusitanus benutzt. Im Sommer 1540 folgt Amato Lusitano – vielleicht auch bereits auf Grund seines Rufes als Naturforscher und Arzt – einer Einladung des Herzogs Ercole II. d’Este (1508–1559) an die Universität von Ferrara, das in jener Zeit ein Zufluchtsort für viele Juden ist. Die aufwendige und nicht ungefährliche Reise führt ihn wohl über Köln auf dem Rhein nach Basel, von dort mit der Kutsche nach Luzern, weiter schließlich über die Alpen in die Lombardei und mit dem Schiff auf dem Po bis nach Ferrara. Ferrara erlebt in dieser Zeit mit 100 000 Einwohnern einen kulturell-wissenschaftlichen Aufschwung. Der Herzog setzt sich wie sein Bruder Kardinal Ippolito II. (1509–1572) für religiöse Freiheit und die Entwicklung der Wissenschaften und Künste ein.7 Seine gebildete Ehefrau Renée de France (1510–1574), Tochter des französischen Königs Louis XII. (1462–1515), rettet während der Religionskriege Calvinisten das Leben, unterstützt die Einrichtung einer reformierten Kirche, bietet protestantischen Gelehrten Zuflucht an, so auch für wenige Wochen 1536 Johannes Calvin (1509–1564).8 Die jüdische Gemeinde besitzt eine weit zurückreichende Tradition mit Privilegien seit dem 13. Jahrhundert. Jüdische Flüchtlinge, auch Marranos, werden aufgenommen, die offene Ausübung des Glaubens ist erlaubt, um 1550 gibt es über zehn Synagogen;9 die 1481 errichtete Synagoge besteht heute noch. Ferrara verfügt über eine berühmte Universität; hervorragende Professoren konnten unter guter Bezahlung aus dem In- und Ausland berufen werden. Jüdische Professoren sind in der medizinischen Fakultät zugelassen; für zwei Jahre wird sogar 1541 ein Lehrstuhl für Hebräisch eingerichtet („cattedra di lezioni ebraiche“). Amato Lusitano unterrichtet 1541/1542 an dieser Universität Theoretische Medizin („lectura theoricae medicinae“10), führt Sektionen mit anatomischen Entdeckungen durch, setzt zugleich seine ärztliche Tätigkeit fort, betreut auch in dieser Stadt nicht nur Kardinäle, Aristokraten, Botschafter und hochstehende Bürger der Stadt, sondern ebenso Soldaten, Kaufleute, Seeleute – offensichtlich mit Erfolg, da er von einer prächtigen Wohnung in Ferrara berichtet. Zugleich wird die Beschäftigung mit der Botanik fortgesetzt. 7 Vgl. Balletti 1997. 8 Vgl. Taddei 2004. 9 Vgl. Di Leone Leoni 2011. 10 Vgl. Franceschini 1970, 44, 236.

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Wissenschaftliche und persönliche Beziehungen bestehen zu den Medizinern und Naturforschern Nicolás Monardes (1493–1588), Giambattista Canano (1515–1579), Gabriele Falloppio (1523–1562), Gaspare de Gabrieli (1494–1553), John Falconer (gest. 1547), Giovanni Francesco Rossi (16. Jh.) und vor allem zu Antonio Musa Brassavola (1500–1555), Professor in allen vier Fakultäten der Universität, Autor zahlreicher medizinischer Schriften, auch über Medizinalpflanzen (Examen omnium simplicium medicamentorum, 1536). Amato Lusitanos Urteile über die Universität in Ferrara fallen begeistert aus; jedem, der Botanik und Medizin studieren wolle, würde er zum Besuch dieser Universität raten: „ad quam, quicunque de re herbaria, veluti de bona medicina exacta notitiam habere desiderat, accedat consulo.“11 Die Kollegen seien hochgelehrte Ärzte und profunde Kenner der Natur. Brassavola, mit dem er freundschaftlich verbunden ist, zeichne sich im Verhalten wie im Wissen aus; Canano verdiene als Anatom alle Bewunderung und könne als zweiter Vesal (1514–1564) gelten; der in seinen botanischen Forschungen herausragende Gabrieli halte Vorlesungen über Medizinalpflanzen, wiederholt habe er Rossi, Philosoph und Mediziner, 1531 Rektor der Universität und verantwortlich für den chirurgischen Unterricht, zu Konsultationen heranziehen können; der Engländer Falconer erforsche unermüdlich die Medizinalpflanzen und besitze ein eindrucksvolles Herbarium mit einer Fülle getrockneter Pflanzen; der in verschiedenen Disziplinen gelehrte Falloppio trage zur Zeit an der Universität über Dioskurides vor. 1546 beginnt Amato Lusitano mit der Niederschrift von Krankengeschichten, die überaus informative und wertvolle Hinweise über die damalige Situation der Naturforschung und Medizin sowie vor allem über wesentliche Ereignisse und Kontakte seiner bewegten Vita enthalten; die I. Centurie dieser 700 Erfahrungsberichte seines ärztlichen Engagements erscheint 1551 im Druck, die siebte und letzte 1566. Im Jahr 1546 endet bereits der Vertrag mit der Universität von Ferrara, wofür politische Hintergründe verantwortlich gewesen sein werden. Der Herzog gibt auf päpstlichen Druck seine Politik der religiösen Toleranz auf; die Inquisition wird im Herzogtum eingerichtet und der Orden der Jesuiten zugelassen. Amato Lusitano muss sich nach neuen Lebensmöglichkeiten umschauen. Die ihm vom polnischen König Sigismund II. August (1520–1572) angebotene Stelle schlägt er aus, angenommen wird dagegen die Einladung zur Übernahme der Position eines Stadtarztes in Ragusa, dem heutigen Dubrovnik.

11 Amato Lusitano, In Dioscoridis Anazarbei de medica materia libros quinque enarrationes, 1558, Buch IV, Enaratio 3, 583.

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Amato Lusitano verlässt Ferrara im Mai 1547 – aus Sorge, aber nicht als Flüchtling – und reist in Erwartung des Vertragsabschlusses mit Ragusa in die nahegelegene, 1532 gewaltsam von Papst Clemens VII. (1478, 1523–1534) in den Kirchenstaat eingegliederte Hafenstadt Ancona. In dieser Stadt, wohin viele Juden, um Handel treiben zu können und Verfolgungen zu entgehen, aus dem Orient, Süditalien, Spanien und Portugal geflüchtet sind und dort mehrere Synagogen errichtet haben, befindet sich im 16. Jahrhundert eine beachtliche jüdische Kolonie.12 Der zu jener Zeit für Ancona verantwortliche Papst Julius III. (1487, 1550–1555) ist ein Förderer der Wissenschaften und Künste, vertritt eine tolerante Politik gegenüber Juden und Marranos, denen er – allerdings nicht Protestanten – Schutz vor der Inquisition gewährt. Ancona unterhält auf Grund seiner Lage am Meer ausgedehnte Handelsbeziehungen mit dem Orient und Europa, mit Spanien, Portugal, Frankreich, Belgien, Deutschland, auch den skandinavischen Ländern. In Ancona behandelt Amato Lusitano erneut Kranke aller Bevölkerungsgruppen und Glaubensrichtungen: Papst Julius III., dessen Schwester Jacoba del Monte (um 1492–1560), ihren Neffen Vicente de Nobilibus (um 1515–1560), den Bürgermeister von Ancona, Mönche des Augustiner- und Dominikanerklosters. Amato Lusitano beendet die erste Centurie der Krankengeschichten, setzt zugleich seine botanischen Studien fort, hat Kontakte zu dem portugiesischen Arzt Francisco Barbosa (um 1500 bis um 1558) und dem spanischen Philologen Ambrosio Nicandro (16. Jh.). In einem Brief an den Kaufmann Antonio Barberini (1494–1559) berichtet Nicandro am 13. Februar 1533 von Amato Lusitano, dem außergewöhnlichen Arzt portugiesischer Herkunft („medicus homo minimè malus, natione Lusitanus“), von seinen Forschungen über Dioskurides, den gelehrten und klugen Erörterungen schwieriger medizinischer Fragen („difficilia in medicina loca et docte et prudenter disputata“) und dem weit über seine Schriften hinausgehenden Wissen („longè doctiorem quam eius scripta ostendebant“).13 Die 1549 in Aussicht gestellte Position als Leibarzt („ut apud eum medici officio fungeremus“) des christlichen Fürsten von Thrakien (wohl der damals noch unmündige Johann Sigismund Zápolya [1540–1571]) unter osmanischer Oberhoheit wird von ihm mit Rücksicht – wie er selbst hervorhebt – auf sein Alter von 38 (!) Jahren und klimatische Bedingungen, da er auf Wärme angewiesen sei, abgelehnt: „quia regio illa, dispar complexioni meae est, ut pote frigidissima, nam trigesimum octavum aetatis meae annum perago,

12 Vgl. Di Leone Leoni 2000; Simonsohn 1985. 13 Amato Lusitano, Curationem medicinalium centuriae septem, 1620, 359.

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pro qua tuenda, ut pote declinante, calidam regionem incolere necessum mihi est.“14 Von Ancona unternimmt Amato Lusitano in diesen Jahren Reisen an verschiedene Orte. In Venedig kooperiert er mit den Medizinern Giovanni Battista Montano (1498–1551), Victor Trincavella (1496–1568) und dem aus Ravenna stammenden Arzt Bartolomeo Abioso (16. Jh.). In Rom behandelt er Papst Julius III. an einer Atemwegserkrankung, möglicherweise auch an Syphilis, ebenso den portugiesischen Botschafter im Vatikan Alfonso I. de Alencastre (1510– 1565) sowie Mitglieder der herzoglichen Colonnafamilie und seinen eigenen Bruder José Amato. In Florenz steht er mehrfach Kranken bei und hat Kontakt mit dem Herzog Cosimo I. (1519–1574), seit 1569 Großherzog, der wirtschaftlich potente und intellektuell angesehene Mitglieder der jüdischen Gemeinde aus Ancona nach Florenz einlädt sowie zur Erneuerung der Universität von Pisa Gelehrte und Forscher aus Italien und anderen Ländern beruft. Einen Hinweis auf einen fachlich naheliegenden Besuch des von dem Botaniker und Mediziner Luca Ghini (1490–1556) 1543 in Pisa gegründeten botanischen Gartens15 hat sich bislang nicht gefunden. 1552 kehrt Amato Lusitano nach Ancona zurück, führt seine Praxis fort und veröffentlicht 1553 einen umfassenden Kommentar aller Bände der Materia medica des Dioskurides, den er dem Senat von Ragusa in Anerkennung der Freiheit und Gastfreundschaft widmet, die Flüchtlingen in dieser Stadt geboten werden. Am 23. März 1555 stirbt der den Juden wohlgesonnene Papst Julius III. Für wenige Wochen gelangt Marcellus II. (1501, 1555–1555) auf den Papstthron, dem der erbitterte Gegner der Juden und Protestanten im Kirchenstaat – und damit auch in Ancona – Papst Paul IV. (1476, 1555–1559) folgt. Mit der Bulle Cum nimis absurdum vom 14. Juli 1555 werden einschneidende Bestimmungen für Juden und Marranos erlassen; der Zugang zur Universität wird untersagt, allein das Studium der Medizin ist gestattet, zugleich wird jüdischen Ärzten die Behandlung von Christen verboten. Als einziger Ausweg bleiben Zwangstaufe und Flucht, sonst drohen Sklaverei oder Tod. Diese lebensgefährliche Situation bewegt Amato Lusitano Ende 1555 zur Flucht aus Ancona und zwar in die nahegelegene Hafenstadt Pesaro – unter Aufgabe seines gesamten Besitzes, dem Verlust einer umfangreichen Bibliothek sowie verschiedener Manuskripte, unter ihnen der Entwurf der V. Centurie der Krankengeschichten, der von Freunden gerettet werden kann, sowie seines

14 Amato Lusitano, In Dioscoridis Anazarbei de medica materia libros quinque enarrationes, 1558, Buch V, Enaratio 40, 756. 15 Vgl. v. Engelhardt 2011.

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Kommentars zum I. Buch des Canon medicinae von Avicenna (um 980–1037).16 In der Widmung dieser V. Centurie an den mit ihm befreundeten marranischen Gelehrten, Bankier und Diplomaten Joseph Nasi (mit christlichem Namen João Micas, 1524–1579) schildert er seine Flucht aus Ancona zunächst nach Pesaro und dann nach Ragusa. Pesaro ist seit 1523 Hauptstadt des Herzogtums Urbino, das nach Trockenlegung der Sümpfe als „Garten von Italien“ („Italiae totius hortus“) gilt. Der liberale und gebildete Herzog Guidobaldo II. della Rovere (1514–1574) nimmt jüdische Flüchtlinge aus Spanien, Portugal und Italien auf, so auch aus Ferrara und Ancona. Amato Lusitano, der den Herzog sehr bewundert („regnum suum magna cum iustitia substinet“17), setzt in Pesaro die Niederschrift seiner Krankengeschichten fort, kooperiert als Arzt mit dem aus Portugal stammenden jüdischen Arzt und Chirurgen Abraham Aloya (16. Jh.), dem jüdischen Arzt Laudadio (Laudadeus) Blanes (16. Jh.), den Ärzten Baptista Gualterius (16. Jh.), Hieronymus Carmenas (16. Jh.) und Bartolomeo Eustachio (um 1510–1574). Auf päpstlichen Druck gibt allerdings auch der Herzog von Urbino nach kurzer Zeit seine tolerante Haltung gegenüber Juden und Marranos wieder auf und läßt ihre Verfolgung in seinem Herrschaftsgebiet zu.18 Von Pesaro reist Amato Lusitano, erneut auf der Flucht, im Sommer 1556 mit dem Schiff über das Adriatische Meer nach Ragusa, einer in jener Zeit geistig offenen und wirtschaftlich aktiven Stadt mit 30.000 Einwohnern, die seit 1526 unter dem osmanischen Protektorat von Süleyman I. (um 1495–1566) steht. Der Sultan widerruft die päpstlichen Vertreibungsdekrete, erlaubt jüdischen Flüchtlingen aus Spanien, Portugal und Italien die Niederlassung in der Stadt und setzt sich sogar, dazu von der in Konstantinopel lebenden jüdischen Mäzenatin Gracia Nasi (1510–1569)19 stimuliert, in einem Schreiben vom 9. März 1556 an Papst Paul IV. für die Marranos in Ancona ein: „Perciò preghiamo la Santità Vostra, che … voglia esser contenta di liberare li prefati sudditi.“20 Diese Initiative kommt zu spät und hätte wohl auch wenig erreicht: 24 zwangsbekehrte Juden werden verbrannt. Der heute noch existierenden Synagoge von 1532 ist ein öffentlich zugängliches Museum angeschlossen, das eine von spanischen Juden mitgebrachte mittelalterliche Thora besitzt. 1557 erhält Amato Lusitano die Erlaubnis zur medizinischen Tätigkeit, kann Anfang 1558 die ihm versprochene Stelle des Stadtarztes antreten, muss sie aber 16 Vgl. Andrade/Crespo 2012. 17 Amato Lusitano, Curationum medicinalium centuriae duae, quinta videlicet ac sexta, 1560, V. Centurie, Curatio 95, 145. 18 Vgl. Di Leone Leoni 2000. 19 Vgl. Brooks 2002. 20 Ruscelli, Delle lettere dei Principi, 1581, 172; vgl. Graetz 1996, 535.

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schon kurze Zeit später auf Grund eines Dekretes von Papst Paul IV. und einer entsprechenden Entscheidung des Senats von Ragusa wieder aufgeben; seinem ärztlichen Beruf kann er jedoch in Ragusa und der Umgebung weiter nachgehen.21 Neben Kranken jeder Gesellschaftsklasse behandelt er auch Selim II. (1524–1574), Sohn des Sultans Süleyman I. Die Verfassung der Stadt beurteilt er als republikanisch-aristokratisch, neben Reichtum herrsche große Armut, durch die östlichen Winde seien die Einwohner im Winter oft krank. Die Regierenden der Stadt lobt er, wie in ganz Italien, wenn nicht sogar Europa bekannt sei, als Förderer der Wissenschaften, der „optimarum literarum disciplinarum“.22 Mit der Eroberung von Ragusa am 8. Januar 1558 durch den Herzog von Guise (1519–1563) entsteht erneut eine für Juden und Marranos bedrohliche Lage. Amato Lusitano verlässt, um der Verhaftung zu entgehen, im Frühjahr des Jahres die Stadt und begibt sich nach Thessaloniki, das damals zum Osmanischen Reich gehört und von pragmatischer Toleranz gegenüber Juden bestimmt ist. Die Hälfte der Bevölkerung der Stadt ist jüdisch und genießt verschiedene Privilegien; die größte Kolonie iberischer Juden lebt in dieser Stadt.23 Die lebenslange Flucht aus Portugal und Spanien, durch Belgien und Italien findet nach fast 50 Jahren nun ein Ende; jetzt kann sich Amato Lusitano offen zu seinem jüdischen Glauben bekennen, kann die Veröffentlichung der Krankengeschichten in Überstimmung mit seiner Religion fertigstellen, ist unter dem jüdischen Namen Habib Ha-Sefardi anerkannt, betreut Kranke aus allen Schichten und mit unterschiedlichsten Leiden, steht mit Medizinern und Naturforschern der Stadt in Kontakt. Am 21. Januar 1568 stirbt Amato Lusitano an der in jenen Jahrzehnten mehrfach in Thessaloniki grassierenden Pest, die er sich bei der Behandlung von Kranken zugezogen hat; er wird auf dem heute nicht mehr bestehenden jüdischen Friedhof der Stadt beerdigt. Sein Dichtervetter Diogo Pires, der ihn bis nach Ragusa begleitet hat, entwirft in einem Epitaph ein Bild seines Lebens und Wirkens. „Ihm, der so oft die fliehende Seele im kranken Körper festhielt“ („qui totiens fugientem animam sistebat in aegro corpore“), „danken einfache Menschen wie mächtige Herrscher“ („gratis ob id populis et magnis regibus aeque“), „seine Heimat ist Lusitanien, sein Grab Mazedonien“ („Lusitanus domus, Macedum telluri sepul-

21 Vgl. Dürrigl/Fatovic-Ferencic 2002. 22 Amato Lusitano, In Dioscoridis Anazarbei de medica materia libros quinque enarrationes, 1558, Widmung. 23 Vgl. Epstein 1980; Levy 2003; Nehama 1951.

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crum“), „doch führt von jedem Ort ein Weg hinab zum Styx und den Manen“ („ad Styga et ad Manes undique prona via est“).24

II Werk: Botanik – Medizin – Ethik Das wissenschaftliche Werk von Amato Lusitano ist ein wesentliches Dokument neuzeitlicher Botanik und Medizin mit ihrer empirischen Orientierung an den Naturphänomenen, der von der Erfahrung geleiteten Theorie und Praxis der Krankheiten und ihrer Behandlung. Verloren gegangen sind sein Kommentar der lateinischen Übersetzung des I. Buches des Canon (1025) von Avicenna aus dem Arabischen durch den jüdischen Gelehrten und Arzt Jacob Mantino ben Samuel (1490–1549) sowie seine spanische Übersetzung des lateinischen Geschichtswerkes Breviarium ab urbe condita des römischen Politikers und Schriftstellers Eutropius (gest. nach 390); unausgeführt bleibt im Übrigen eine von ihm geplante Abhandlung über Steine. Der volle Titel des mit 56 Seiten recht knappen Dioskurideskommentars von 1536 lautet: Index Dioscoridis. En candidade Lector. Historiales Dioscoridis campi, Exegemataque simplicium, atque eorundem Collationes cum his quae in officinis habentur, ne dum medicis, et Myropoliorum Seplasiariis, sed bonarum literarum studiosissimis perquam necessarium opus. 136 Pflanzen werden in jeweils drei Abschnitten behandelt: 1. Philologia, 2. Historia Dioscoridis, 3. Iuditium nostrum. Im ersten philologischen Abschnitt werden, wenn auch nicht durchgängig, die Namen der Pflanzen – ein Zeugnis seiner Sprachkenntnisse – in griechischer, lateinischer, arabischer, französischer, portugiesischer, spanischer und immer wieder auch deutscher Sprache angeführt, ihre Etymologie wird erläutert und auf Synonyma wird hingewiesen. Im zweiten historischen Teil werden die Ausführungen von Dioskurides wiedergegeben. Der dritte und meist besonders ausführliche Teil enthält seine eigenen empirischen Beobachtungen und theoretischen Überlegungen. Viele in Portugal und auf portugiesischen Inseln einheimische Pflanzen werden erstmalig beschrieben; immer wieder wird auf medizinische Aspekte eingegangen. Im Vordergrund steht aber die empirische Orientierung an den Pflanzen. 1553 folgt in Venedig der Druck des Kommentars aller fünf Bände der Materia medica von Dioskurides unter dem Titel: In Dioscoridis Anazarbei de medica materia libros quinque enarrationes. Mehrere Auflagen in den kommenden Jahren, allein sechs bis 1655, belegen die anhaltende Beachtung dieser Schrift mit 24 Pires, Cato minor, 1592, 145; dt. v. Engelhardt/v. Engelhardt 2015.

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einer Fülle neuer Pflanzenbeschreibungen, die von Forschern auf diesem Gebiet wiederholt zitiert werden; zahlreiche falsche Benennungen und Beschreibungen werden korrigiert und spezifische Hinweise zur lokalen Verbreitung gegeben. Insgesamt dominiert auch hier das Interesse an der Realität der Pflanzen unabhängig von ihrem medizinischen Nutzen, zugleich belegt das Werk eine immense Kenntnis historischer Quellen und zeitgenössischer Forschungsbeiträge. Ganz im Sinne von Dioskurides soll sich der Arzt, wie Amato Lusitano betont, nicht nur in der Heilwirkung der Pflanzen, sondern ebenso in ihrer Natur, ihren Unterschieden, ihrer Verbreitung, den Methoden der Sammlung und Aufbewahrung auskennen: „Quod medicus non solum herbarum ac simplicium medicamentorum notitiam tenere debeat, verum etiam eorum differentias, naturas, positiones, tempus collectionis, ac reposituram observare, in praesentia monet Dioscorides.“25 Auf medizinischem Gebiet beruht die wissenschaftliche Leistung von Amato Lusitano in den 700 Krankengeschichten seiner Curationum medicinalium centuriae in lateinischer Sprache mit spezifischen Theorien und therapeutischen Erfahrungen und Innovationen; die erste Centurie erscheint 1551, die siebte Centurie 1566. Alle Centurien zusammen gelangen 1580 zum Druck, erleben verschiedene Auflagen, aber Übersetzungen weder in spanischer noch englischer oder deutscher, sondern bislang nur in portugiesischer Sprache; einzelne Centurien in den Jahren seit 1946, alle in zwei Bänden vollständig im Jahr 2010 unter dem Titel: Centúrias de curas medicinais. Separat werden aus den Centurien die Commentatio de introitu medici ad aegrotantem und De crisi et diebus decretariis 1577 und 1620 gedruckt. Der Eid von Amato Lusitano aus der VI. Centurie – in einer etwas anderen Version später auch in der VII. Centurie – wird in verschiedenen Studien über Amato Lusitano vollständig wiedergegeben. Die Centurien stellen eine wesentliche Quelle der Medizin-, Sozial- und Kulturgeschichte des 16. Jahrhunderts dar. Geschildert werden körperliche und geistige Krankheiten von Patienten, die Amato Lusitano während seines Lebensweges vom portugiesischen Castelo Branco bis zum osmanischen Thessaloniki in verschiedenen europäischen Ländern ärztlich betreut hat. Erwähnt werden private, professionelle und öffentliche Kontakte, politische, soziale, religiöse Ereignisse und entscheidende Personen der Zeit, auch Naturverhältnisse und Lebensbedingungen der Bevölkerung. Die Fallgeschichten erfolgen in drei Schritten: 1. Klinische Beschreibung, 2. Therapie (Curatio), 3. Diskussion (Scholia). 25 Amato Lusitano, In Dioscoridis Anazarbei de medica materia libros quinque enarrationes, 1558, Buch I, Prooemium, 1.

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Die Centurien verbinden Krankheits- und Krankengeschichten, Objektivität und Subjektivität, Beobachtung, Experiment und Schlussfolgerung. Unterschiedliche Literaturformen stehen nebeneinander: faktische Berichte, Gespräche, Briefe, Anekdoten, wissenschaftliche und ethische Ausführungen. Immer wieder werden unter namentlicher Nennung konkrete Hinweise zur Identität von Kranken gegeben, über ihr Alter und Geschlecht, ihre Konstitution, ihre soziale Position, ihre Religion. Eingegangen wird auf Symptomatologie, Pathogenese, Diagnose und Therapie sowohl von physischen wie psychischen Krankheiten. Wert wird im Geist der neuzeitlichen Naturwissenschaft und Medizin – und lange vor Francis Bacon (1561–1626) – ausdrücklich auf Begründung gelegt, auf Rationalität gegenüber bloßer Empirie. Auf Autoritäten könne man sich nicht verlassen, entscheidend seien vielmehr Beweise und Begründungen, die von zeitgenössischen Forschern leider nur zu oft vernachlässigt würden: „Omnes ita scribunt, sed rationes, cur ita sit, ignorant.“26 Intensiv werden von Amato Lusitano antike, arabische und moderne Texte zitiert, Irrtümer und Fehler benannt und angebliche Widersprüche zwischen Autoren – wie etwa zwischen Galen und Avicenna – auf sprachliche Unkenntnis zurückgeführt. Lob steht neben Kritik, oberstes Ziel der Krankengeschichten ist der Nutzen für die Medizin und nicht die Vermehrung des eigenen Ruhms. Anatomie wird von Amato Lusitano für ausgesprochen wichtig erklärt; ein Arzt oder ein Chirurg, der Krankheiten ohne Beachtung der genauen Lokalisierung im Körper heilen wolle, gleiche einem Zimmermann, der mit einer schweren Augenerkrankung Holz für den Bau eines Stuhles zuschneiden wolle. Unabdingbar seien eigene Erfahrungen aus selbst durchgeführten Sektionen: „oportet igitur medicum, vel chirurgum in corporum dissectione apprime instructum esse.“27 Referiert werden Diagnostik und Behandlung von Kranken aus allen Schichten, Altersstufen und beiden Geschlechtern: Päpste, Aristokraten, Wissenschaftler, Kaufleute, Mönche, Soldaten, Seeleute, Kurtisanen, auch Mediziner. Bei der Therapie kommt es, wie Amato Lusitano ausdrücklich unterstreicht, vor allem auf Individualisierung an; der kluge Arzt richte sich in der Wahl der Medikamente nach der spezifischen Verfassung des Patienten, seinem Alter, seinem Geschlecht, seinem Wohnort und behandle nicht alle Patienten nach der gleichen Methode, als seien sie alle nach einer identischen Form gebildet und würden sich nicht in vielen Momenten unterscheiden: „prudens medicus haec ac in statera et lance aeque librans, medicamenta variat aegrotantis na26 Amato Lusitano, Curationum medicinalium centuriae duae, quinta videlicet ac sexta, 1560, VI. Centurie, Curatio 100, 342. 27 Amato Lusitano, Curationum medicinalium centuria secunda, 1552, Curatio 83, Scholia, 219.

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turam, regionem, aetatem, tempus, ac iis similia considerans: non ut imperiti faciunt, qui omnibus unico medicantur pharmaco, ac si omnes uno calapodio sint calciandi.“28 Die Centurien sind nicht nur konkrete Erfahrungsberichte über die Krankheiten einzelner Patienten, sondern enthalten stets auch theoretische Überlegungen und praktische Entdeckungen und Erfindungen auf allen Gebieten der Medizin und Chirurgie, die in zeitgenössischen Quellen und der wissenschaftlichen Forschung auch wiederholt erwähnt und diskutiert werden.29 Zu den Schwerpunkten der Centurien gehören: Konzept der Kritischen Tage mit Periodizität und Rhythmus auf der Basis der Musik (Oktave = konsonant, Septime = dissonant) und beeinflusst von antiker und jüdischer Zahlenmystik; die Rolle von Diätetik und Hygiene im antiken Sinn der sex res non naturales (Umgang mit Luft und Licht, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Ausscheidungen, Gefühle); Abhängigkeit der Gesundheit und Krankheit sowie Lebensdauer vom Klima; Indikation und Kontraindikation des Aderlasses; Klappen der Vena azygos mit Konsequenzen für den Aderlass, wenn auch ohne Verständnis für ihre Funktion im Blutkreislauf; Veränderung der Milz bei chronischer Malaria; Verlauf von Grippeepidemien; Kräfteverfall beim Quartanfieber; humoralpathologische Theorie der Melancholie in Abgrenzung zur Manie; Frauenkrankheiten; Kritik des Aberglaubens und der Astrologie; Todesfeststellung; Ethik der Medizin. Praktische Innovationen liegen ebenfalls auf verschiedenen Gebieten: Syphilistherapie mit Quecksilber, Guajak, Chinarinde; Eingriffe bei Eiterung der weiblichen Brustdrüse; Diagnose und Behandlung von Harnwegserkrankungen (Bougie); Drainage bei Lungenerkrankungen; Verschlussplatte bei Defekten des Gaumens (Obturator); Therapie von Hydrocephalus, Hernien, Luxationen wie ebenfalls psychischer Erkrankungen. Seine Aufmerksamkeit richtet Amato Lusitano auch auf ethische Fragen der Medizin, auf das Ethos des Arztes, seine Einstellung, sein Verhalten, seine Beziehung zum Kranken. Diesen Themen gilt der von ihm entworfene Eid (Iusiurandum, 1561), der in der Geschichte der Eide und Deklarationen seit der Antike bis in die Gegenwart einen besonderen Platz einnimmt – mit Geboten und Verboten in hippokratischer und zugleich jüdischer Tradition –, sowie eine Studie über die Arzt-Patienten-Beziehung (Introitus medici ad aegrotantem, 1551).30 Weitere konkrete ethische Beobachtungen und Forderungen finden sich in den 28 Amato Lusitano, Curationum medicinalium centuria prima, 1551, Curatio 60, Scholia, 283– 284. 29 Hinweise zur Sekundärliteratur bei v. Engelhardt/v. Engelhardt 2015, Anm. 82, 78. 30 Vgl. d’Esaguy 1955; Simon 1972.

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Centurien nicht nur im Blick auf den Arzt, sondern auch den Kranken. Das Auftreten des Arztes soll gewissenhaft, heiter und würdevoll sein („diligenter, hilaris et gravis“ 31), Schweigepflicht muss eingehalten werden, Tötung und Beihilfe zur Tötung wie ebenfalls Abtreibung sind gleichermaßen abzulehnen, zentral ist der sittliche Respekt vor dem Kranken, Arme sollen umsonst behandelt werden, der Arzt hat allein das Wohl des Kranken und der Menschheit zu beachten, kein Unterschied darf zwischen Juden, Christen oder Moslems gemacht werden, persönliche Vorlieben und spezielle Belastungen dürfen das Engagement des Arztes in Therapie, Lehre und Forschung nicht einschränken. Eine für Amato Lusitano enttäuschende Kontroverse findet zwischen ihm und dem Naturforscher und Arzt Pietro Andrea Mattioli (1501–1577) statt. Mattiolis Dioskurideskommentar aus dem Jahre 1544 wird von Amato Lusitano mit Anerkennung, aber auch kritisch beurteilt.32 Dem Kollegen werden in sachlichem Ton objektive Irrtümer nachgewiesen („Mathiolus fallitur“33, „inepté Theophrastum reprehendit“34, „Mathiolus Senensis falso Plinium accusat“35), zugleich werden seine Kenntnisse in der Botanik und Medizin gepriesen: „Mathiolus Senensis, vir mea sententia, in re herbaria veluti caeteris medicinae partibus, satis instructus.“36 Vor allem wird seine italienische Übersetzung von Dioskurides ausdrücklich gelobt. Amato Lusitano weist nicht nur bei Mattioli auf Fehler hin, sondern ebenso bei anderen Autoren, selbst bei dem von ihm hochgeschätzten Brassavola. Höher als die Nachsicht mit Freunden stehe aber in der Wissenschaft die Liebe zur Wahrheit: „parcat Amicus, quum magis amica sit veritas ipsa, quae nullius vel odio, vel amicitia deferenda est“37. Mattioli, der sich selbst in seinem Kommentar zur Materia medica von Dioskurides keineswegs mit Kritik an vergangenen und zeitgenössischen Autoren zurückhält, reagiert 1558 mit der polemischen und bösartigen Apologia adversus Amathum Lusitanum. Bereits der Titel ist eine Beleidigung, da mit „Amathus“ auf die griechische Bedeutung von ἀμαθής (dumm) angespielt wird. Amato Lusitano sei Jude, Marrano, Häretiker, Apostat, Plagiator, ohne Pietät und Glaube, 31 Amato Lusitano, Curationum medicinalium centuria prima, 1551, Curatio 11, Scholia, 1. 32 Vgl. Valderas 2000. 33 Amato Lusitano, In Dioscoridis Anazarbei de medica materia libros quinque enarrationes, 1558, Buch I, Enaratio 3, 12. 34 Amato Lusitano, In Dioscoridis Anazarbei de medica materia libros quinque enarrationes, 1558, Buch I, Enarratio 78, 105. 35 Amato Lusitano, In Dioscoridis Anazarbei de medica materia libros quinque enarrationes, 1558, Buch I, Enarratio 1, 5. 36 Amato Lusitano, In Dioscoridis Anazarbei de medica materia libros quinque enarrationes, 1558, Buch III, Enarratio 14, 592. 37 Amato Lusitano, In Dioscoridis Anazarbei de medica materia libros quinque enarrationes, 1558, Buch I, Enaratio 6, 23.

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vollkommen unwissend auch in der von ihm zu Unrecht vertretenen Medizin. Eine ausgewogene Erwiderung von Amato Lusitano – „ut magno radicisecae Senensi satisfaciamus“38 – auf Mattiolis Attacken erscheint nicht im Druck, was von Amato Lusitano sehr bedauert wird und wahrscheinlich auf Eingriffe der kirchlichen Zensurbehörde in Venedig zurückgeht.39 Ambivalent fallen die Urteile über Amato Lusitanos Entdeckung der Klappen der Vena azygos aus, die dieser in Gegenwart von Canano bei zwölf Sektionen gemacht haben will.40 Falloppio glaubt wie auch Vesal nicht an die Existenz der Venenklappen, die Canano während einer Sektion Amato Lusitano gezeigt haben soll.41 Der Naturforscher und Mediziner Albrecht von Haller (1708– 1777) spricht Canano das Verdienst der Entdeckung der Klappen der Vena azygos zu: „Es hat auch Amato Lusitano, ein Mann, der sonsten nicht unter die Zergliederer gehöret, im Jahr 1547 in Gegenwart des Cannanos, der sie ihm auch ohne Zweifel selbst gezeiget, kleine Fallthürchen in dem Anfange der ungepaarten Blutader wahrgenommen, welche durch ihre Gegenwart verhindern, daß das Blut dieser Adern nicht in die Hohlader wieder zurücktreten könne.“42 Mehrfach werden Beobachtungen und Erklärungen von Amato Lusitano zur Syphilis zustimmend zitiert. Luigi Luisini (1526–nach 1576) führt in seiner Sammlung De morbo gallico (1566/67) von Syphilistexten des 16. Jahrhunderts drei Berichte aus der I. und II. Centurie an.43 Jean Astruc (1684–1766) erwähnt in seiner Syphilisstudie De morbis venereis von 1736 neben einer Skizze der Lebensstationen von Amato Lusitano und der Angabe seiner Werke mehrere in den Krankengeschichten angeführte Fälle von Syphilis mit entsprechenden Vorschlägen der Heilung.44 Im Frontispiz von Andreas Vesals anatomischem Werk De humani corporis fabrica von 1543 findet sich Amato Lusitano in der Nähe von Mattioli und Ghini wiedergegeben (Abb. 1 und 2),45 im Frontispiz von Johann Bauhins (1541–1613) Historia plantarum universalis (Bd. 1, posthum 1650) ebenfalls mit Mattioli und dem Botaniker und Mediziner Melchior Wieland (1520– 1589) sowie der zutreffenden Legende über ihre abweichenden Auffassungen: „dissentimus“ (Abb. 3 und 4). 38 Amato Lusitano, Curationum medicinalium centuria septima, 1566, Curatio 41, 80. 39 Amato Lusitano, Curationum medicinalium centuriae duae, quinta et sexta, 1576, V. Centurie, Widmung, 5. 40 Amato Lusitano, Curationum medicinalium centuria prima, 1551, Curatio 51, Scholia, 259. 41 Falloppio, Observationes anatomicae, 1562, 191. 42 Haller, Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers, 1759, 313. 43 Luisinus, De morbo gallico omnia quae extant apud omnes medicos cuiuscumque nationis, 1566/67, 560–564. 44 Astruc, De morbis venereis, 1736, 735–740. 45 Pérez Fontana 1963, 221–230.

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Abb. 1: Vesalius, De humani corporis fabrica, 1543, Frontispiz.

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Abb. 2: Vesalius, De humani corporis fabrica, 1543, Frontispiz (Ausschnitt).

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Abb. 3: Bauhin, Historia plantarum universalis, 1650, Frontispiz.

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Abb. 4: Bauhin, Historia plantarum universalis, 1650, Frontispiz (Ausschnitt).

III Perspektiven: Wirkung und Resonanz Der jüdische Botaniker und Mediziner Amato Lusitano aus dem 16. Jahrhundert gewinnt mit seinen theoretischen und praktischen Beiträgen zu seiner Zeit und auch später immer wieder Beachtung – seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen, sein ärztliches Engagement, seine Entdeckungen und Erfindungen, sein Lebensschicksal. Allein die verschiedenen Auflagen des Dioskurideskommentars von 1553 und der Centurien von 1551–1561 mit ihren Widmungen belegen die weitgespannten Verbindungen: I. Centurie (1551): Cosimo I.; II. Centurie (1552): Kardinal Ippolito II. d’Este; III. Centurie (1556): portugiesischer Botschafter im Vatikan Alphonso de Lencastre; IV. Centurie (1556): Philologe Ambrosio Nicandro und Mediziner Antonio Barberino; V. Centurie (1560): jüdischer Diplomat Joseph Nasi; VI. Centurie (1560): Aristokraten Johannes Gradius, Simon Benesius und Paschalis Cervinius in Ragusa; VII. Centurie (1566): jüdischer Dichter Guedelia Yahia. In historischen Werken über die Entwicklung der Naturwissenschaften und Medizin werden Vita und Werk von Amato Lusitano wiederholt gewürdigt. Vor allem von portugiesischen Forschern der Gegenwart liegen zahlreiche Studien über Amato Lusitano vor. Allein die Zeitschrift Medicina na Beira Interior da Pré-Historia ao Século XXI enthält seit 1989 bis in die Gegenwart mehr als 60 entsprechende Aufsätze. Der Literaturwissenschaftler und Historiker António

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Manuel Lopes Andrade leitet mit einem Forschungsteam an der Universität von Aveiro das Projekt Dioscórides e o Humanismo Portuguĕs. Os Comentários de Amato Lusitano. An Ehrungen und Würdigungen fehlt es im portugiesischen Geburtsland nicht. In der Escola Médico-Círugica do Campo de Santana in Lissabon hängt ein Fresko von José Maria Veloso Salgado (1864–1945), das Amato Lusitano beim Studium der Venenklappen zeigt. Eine Statue von ihm steht am Eingang der Medizinischen Fakultät der Universität von Coimbra, ein überlebensgroßes Denkmal auf der Praça do Municipio in Castelo Branco. Verschiedentlich wurden Symposien über ihn durchgeführt sowie Sammelbände und Ausstellungskataloge in portugiesischer Sprache zu seinem 400. und 500. Geburtstag publiziert. Ein weltweit einzigartiges Dokument für den Umgang mit der Unterdrückung und Vertreibung der Juden ist ein in Spanien und Portugal erlassenes Gesetz aus dem Jahre 2015: Nachkommen der sephardischen Juden wird die Rückkehr in ihre Heimat, der Erwerb der Staatsangehörigkeit und eines Passes angeboten, ohne die Verpflichtung zur Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft. Interesse zeigen Juden vor allem in Kleinasien, Nordafrika, Israel und Südamerika.46 Für zukünftige Forschungen stellen sich im Blick auf Leben und Werk von Amato Lusitano zahlreiche Fragen: Untersuchung des Zusammenspiels von Wissenschaft, Glaube und Wirtschaft in der ärztlichen Tätigkeit, in den Publikationen; Vergleich seines Dioskurideskommentars mit anderen Kommentaren des 16. Jahrhunderts; Analyse der Centurien mit ihren Kranken- und Krankheitsgeschichten im Kontext der Historie der Pathographie; Einordnung des Eides von Amato Lusitano in die Geschichte medizinischer Eide seit Hippokrates bis in die Gegenwart; biographische Untersuchungen über Naturforscher, Mediziner und Menschen aus allen Lebensbereichen, mit denen Amato Lusitano persönlich in Kontakt stand; Edition seiner Korrespondenz; universitäre Berufungspolitik von Cosimo I. für Pisa und Ercole II. d’Este für Ferrara. Amato Lusitano ist eine zentrale Figur der europäischen Wissenschaftssituation des 16. Jahrhunderts, zugleich ein bewegendes Zeugnis für das Schicksal eines jüdischen und insbesondere marranischen Mediziners und Botanikers in dieser von Kriegen und Verfolgungen erfüllten und zugleich an naturwissenschaftlich-medizinischen Fortschritten wie kulturellen Leistungen überaus reichen Epoche. Während der jahrzehntelangen Flucht durch verschiedene europäische Länder und Staaten, mit einem ständigen Wechsel von Höhen und 46 Real Decreto 893/2015, de 2 de octubre, por el que se concede la nacionalidad española por carta de naturaleza a determinados sefardíes originarios de España.

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Tiefen, von Armut und Reichtum, von Toleranz und Intoleranz, immer wieder von geistigen und weltlichen Herrschern, Gelehrten und Medizinern sowohl unterstützt wie im Stich gelassen, anerkannt und verleumdet, gelingt Amato Lusitano mit den pharmakologisch-botanischen Schriften und den 700 Krankengeschichten ein Werk, das ihn zu einem der bedeutendsten Vertreter der Botanik und Medizin seiner Zeit werden ließ – zugleich zu einem herausragenden Beispiel für das komplexe Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik und Religion. Amato Lusitano war Forscher und Arzt, geprägt von Ethos und Wissenschaft. Seinen Verwandten, Freunden und Kranken erscheint er – in den Worten von Ambrosio Nicandro – nicht nur dem Namen nach liebenswert, sondern auch in der Realität: „ipse amabilis et re et nomine.“47

Anhang: Der Eid von Amato Lusitano Ich schwöre vor dem ewigen Gott und bei den zehn allerheiligsten Geboten, die auf dem Berg Sinai durch Moses nach der ägyptischen Gefangenschaft dem jüdischen Volk gegeben wurden, dass mich in meiner vergangenen ärztlichen Tätigkeit nichts mehr angetrieben hat, als der Nachwelt ein Zeugnis meiner unbedingten Wahrhaftigkeit in allen Dingen zu überliefern. Ich habe nichts vorgetäuscht, nichts hinzugefügt oder zu meiner Ehre verändert. Ich war immer nur darum bemüht, den Interessen der Sterblichen zu dienen. Ich habe niemandem geschmeichelt, keinen getadelt oder aus persönlichen Gefühlen geschont, es sei denn, die Liebe zur Wahrheit hätte es erfordert. Wenn ich gefehlt habe, soll der Zorn des Herrn und seines Dieners Raffael für immer über mich kommen und niemand mehr nach meiner Heilkunst verlangen. Nach Lohn, den man gewöhnlich Ärzten gibt, habe ich im übrigen nicht sehr getrachtet, oft habe ich Kranke nicht nur mit Hingabe, sondern sogar umsonst behandelt und sogar von vielen angebotenen Bezahlungen einige selbstlos und entschieden abgelehnt, da es mir mehr darum ging, den Kranken durch mein Tun und meine Sorgfalt ihre verlorene Gesundheit wieder zurückzugeben, als durch ihre Freigiebigkeit oder ihr Geld reicher zu werden. Mir war es auch immer gleich, von welcher Religion die Menschen waren, ob Juden, Christen oder Anhänger des mohammedanischen Gesetzes. Nach Ehre habe ich wahrlich nicht sehr gestrebt und dieselbe Sorgfalt den Armen wie den vornehm Geborenen erwiesen. Nie habe ich eine Krankheit verursacht und in meinen Prognosen stets gesagt, wovon ich überzeugt war. Ich habe keinen Apotheker anderen Apothekern vorgezogen, es sei denn, er übertraf sie nach meinem Wissen an ärztlicher Erfahrung und Herzensgüte. Bei der Verschreibung von Medikamenten habe ich mich stets nach der körperlichen Verfassung des Patienten gerichtet. Das mir anvertraute Geheimnis habe ich niemals verraten, habe nie jemandem ein tödliches Gift zu trinken gegeben, nie bei einer Frau eine Abtreibung vorgenommen, nie in einem Haus, in dem ich tätig war, mich unsittlich verhalten. Insgesamt habe ich nichts begangen, was 47 Amato Lusitano, Curationem medicinalium centuriae septem, 1620, 359; vgl. Graetz 1996, 327.

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sich für einen angesehenen und hervorragenden Arzt nicht gehört. Immer habe ich mich bemüht, die Väter der Heilkunst Hippokrates und Galen nachzuahmen, ohne die Werke anderer in der Heilkunst herausragender Meister zu übergehen. In meinen Studien war ich so vertieft, dass mich keine noch so dringende Aufgabe von der Lektüre guter Autoren abhalten konnte. Weder persönliche Verluste, noch Reisen zu Wasser oder immer wieder von Land zu Land und auch nicht das Exil haben bislang meine starke und unbesiegte Seele erschüttert, ganz wie es sich für einen Philosophen gehört. Die Schüler, die ich bis heute in großer Zahl hatte, habe ich immer wie meine eigenen Söhne erzogen, sie vor allem zu begeistern versucht, den besten Vorbildern nachzueifern. Meine medizinischen Bücher habe ich mit keinem anderen Ehrgeiz veröffentlicht, als um zum Wohl der Menschen beizutragen. Ob mir das gelungen ist, überlasse ich dem Urteil anderer Menschen. Ich selbst bin fest davon überzeugt, dass dies stets meine Absicht und meine höchste Verpflichtung gewesen ist. So verfasst in Saloniki im Jahr der Welt 5319.48

Bibliographie Quellen Amato Lusitano (1536): Index Dioscoridis. En candidade Lector. Historiales Dioscoridis campi, Exegemataque simplicium, atque eorundem Collationes cum his quae in officinis habentur, ne dum medicis, et Myropoliorum Seplasiariis, sed bonarum literarum studiosissimis perquam necessarium. Antwerpen: Vidua Martini Caesaris. Amato Lusitano (1551): Curationum medicinalium centuria prima. Firenze: Lorenzo Torrentino. Amato Lusitano (1552): Curationum medicinalium centuria secunda. Venezia: Vincenzo Valgrisi. Amato Lusitano (1557): Curationum medicinalium centuria quarta. Venezia: Vincenzo Valgrisi. Amato Lusitano (1558): In Dioscoridis Anazarbei de medica materia libros quinque enarrationes. Leiden: Gulielmum Rouillium. Amato Lusitano (1560): Curationum medicinalium centuriae duae, quinta videlicet ac sexta. Venezia: Vincenzo Valgrisi. Amato Lusitano (1566): Curationum medicinalium centuria septima. Venezia: Vincenzo Valgrisi. Amato Lusitano (1576): Curationum medicinalium centuriae duae, quinta et sexta. Leiden: Gulielmum Rouillium. Amato Lusitano (1620): Curationem medicinalium centuriae septem. Bordeaux: Gilbert Vernot. Amato Lusitano (2010): Centúrias de curas medicinais. Hrsg. u. übersetzt von Firmino Crespo. 2 Bde. Lisboa: CELO. Astruc, Jean (1736): De morbis venereis. Bd. 2. Paris: Guillaume Cavelier.

48 Amato Lusitano, Curationum medicinalium centuriae duae, quinta videlicet ac sexta, 1560, VI. Centurie, Ende; dt. v. Engelhardt/v. Engelhardt 2015.

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Amato Lusitano (1511–1568) 

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Sabine Schlegelmilch

Das Selbstbewusstsein der Chirurgen Tobias Geigers Traktat Discursus Medicus et Politicus (1656)

Einleitung Als im Frühjahr des Jahres 1676 in der Universität Marburg die Ankündigung der Veranstaltungen des folgenden Sommersemesters ausgehängt wurde, konnten die Studenten unter den Privatkollegien der Medizinischen Fakultät auch das Folgende finden: Da dies auch andere anmahnen, wird er einen Vergleich des Machiavellus Medicus mit dem Machiavellus Politicus anbieten, wobei er in Gänze dem Aufbau des Traktats folgt, der von Niccolò Machiavelli mit dem Titel Discursus de Republica überschrieben wurde. So können die Herren Studenten sehen, auf Grundlage welcher und wievieler kunstreicher Techniken einmal die Staaten, einmal die Ökonomien des Lebens eingerichtet, bewahrt, verspielt und zerstört zu werden pflegen.1

Es war Johann Jacob Waldschmidt (1644–1689), Professor der Medizinischen Fakultät, der dieses Thema ankündigte, und es ist anzunehmen, dass er auch dieses Kolleg in ähnlicher Weise nutzte wie die anderen seiner kurzen Laufbahn, nämlich mit dem Ziel, eine in seinen Augen „falsche“ durch die „richtige“ Medizin zu ersetzen.2 Leider sind ausgerechnet aus diesem Kolleg keine gedruckten Dissertationen hervorgegangen; es bleibt unklar, worin die comparatio bestanden haben mag, ob z. B. auch eine Politik des Körpers entworfen wurde, wie sie schon zu Beginn des Jahrhunderts Bartholomäus Fritzsche in seiner Dissertation vorgeführt hatte.3 Einen Hinweis gibt jedoch die unter Waldschmidts Federführung entstandene und von seinem eigenen Sohn Wilhelm Huldrich vertei1 Indices lectionum in Academia Marburgensi habendarum, 1644–1745, o. Nr.: „Monentibus etiam aliis Machiavelli Medici comparationem instituet cum Machiavello politico, servans per omnia ordinem Tractatus, discursus de Republica a Nicolao Machiavello inscripti, ut D[omi] n[es] Studiosi videre possint, quibus quotque artibus tum Respublicae tum œconomiae animales soleant institui, conservari, eludi & destrui.“ Die Schrift „Machiavellus Medicus“ wurde 1698 zum ersten Mal gedruckt, kursierte aber, wie Wolfgang Eckart beschreibt, bereits in den Jahrzehnten zuvor in Abschriften: vgl. Eckart 1984, 215. 2 Vgl. S. Schlegelmilch 2020. 3 Fritzsche eröffnete seine Theses Medico-Politicae mit einer Vorrede, in der er die Gleichsetzung der Medizin mit der Politik vornahm und damit auch die des Arztes mit einem Regierungslenker, der für die „corporis Republica“ verantwortlich sei: Fritzsche, Specimen inauguhttps://doi.org/10.1515/9783110612349-006

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digte Dissertation Chirurgus Cartesianus (1687). Hier lesen wir von Personen, die die rechte Medizin – personifiziert in Waldschmidt – bedrohen: In einer Phalanx erheben sich die Chirurgen, ihre Kleidung, Haartracht und Bärte elegant gerichtet, mit goldenen und silbernen Schüsselchen, Spateln, Nadeln und spitzen Messern, und der übrigen blitzenden Ausrüstung an Gerätschaften, im einträchtigen Versuch, die ihnen gemeinsame Bedrohung zurückzuschlagen und mich hinterrücks zu attackieren. Aber freilich schreckt mich dieses Lügengesicht nicht, denn wer für die Wahrheit spricht, den stellt das Blendwerk aus Gold und Silber nicht in den Schatten und es fügt ihm auch keinen Schaden zu. Das öffentliche Wohl ist hier die eherne Mauer, die auch mich gegen ganz gleich welche Rammböcke schützen und diese Irrläufer selbst zur rechten Umkehr bringen wird.4

Mag die Galanterie- und Luxusschelte auch der gängigen Machiavellus MedicusTopik entspringen,5 so scheint hinter dem Bild der hier geschilderten Phalanx – einem nicht zufällig gewählten Begriff aus der Sphäre des Krieges und des Kampfs – doch mehr zu stecken. Sieht man über die Übertreibungen hinweg, die den Konventionen der Polemik geschuldet sind (Chirurgen besaßen gewöhnlich nur wenige silberne oder gar goldene Instrumente),6 zielt die Schilderung im Kern zum einen auf die öffentlich wahrnehmbaren Standesmerkmale der angegriffenen Berufsgruppe (wie einen bestimmten Kleiderstil), zum anderen auf den augenfälligsten Ausweis ihrer professionellen Kompetenz: die chirurgischen Instrumente. Gerade letztere markierten ein Terrain, zu dem den studierten Ärzten des Alten Reiches durch Zunftgesetze der Zutritt verboten war, obgleich viele von ihnen den Gebrauch chirurgischer Gerätschaften an Universitäten außerhalb der Reichsgrenzen studiert hatten.7 Es wird somit in diesem kurzen Ausschnitt ein das ganze 17. Jahrhundert beherrschender Konflikt greifbar: der Kompetenzstreit zwischen der akademischen Medizin und der handwerklichen Chirurgie, den die universitäre Medizin im 18. Jahrhundert, so we-

rale, hrsg. von Schröter 1608, A2a. Zu diesem zuerst von Rodrigo de Castro entwickelten Vergleich vgl. Gadebusch Bondio 2018, 201–202. 4 Waldschmidt/Waldschmidt, Chirurgus Cartesianus, hrsg. von Stock 1687, A2v: „Assurget Chirurgorum Phalanx, vestibus, comis & barbis ad elegantiam compositis, aureis atque argenteis scutellis, Spatulis, stylis, mucronibus, cœteroque splendido apparatu armatorum, qui commune periculum concordia propulsare & tergo meo assultare nitentur. Verum nec vanus ille me quidem terret aspectus, auri enim atque argenti fulgor neque tegit neque vulnerat pro veritate dicentem. Salus publica hic murus aheneus, qui & me contra quoscunque tuebitur arietes, atque ipsos errantes ad metam recti invitabit.“ 5 Vgl. Eckart 1984, 213, 221. 6 Vgl. Sander 1989, 79. 7 Vgl. hierzu U. Schlegelmilch 2020.

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nigstens das gängige Narrativ der Medizingeschichtsschreibung, schließlich zu ihren Gunsten entscheiden sollte. Vor nunmehr bereits drei Jahrzehnten legte Sabine Sander in ihrer klugen Studie zu den Handwerkschirurgen dar, wie wenig gerade eine solche Entwicklung einer gesellschaftlichen Notwendigkeit entsprach. Sie machte deutlich, dass die zunehmende Dominanz der akademischen Medizin im Wesentlichen als Ergebnis eines massiven standespolitischen Agierens zu verstehen ist, keineswegs aber einer diesem Prozess immanenten Logik des „Fortschritts“ entsprach, wie ihn die ältere medizinhistorische Forschung gerne konstruierte. Lange Zeit speiste die zuweilen schon schreibwütig anmutende Publikationsund Korrespondenztätigkeit akademischer Ärzte, die ihnen bis heute in Archiven die Papierhoheit gegenüber anderen Heiltätigen sichert, diese ihrerseits standespolitisch motivierte Erzählung.8 Quellen aus der Berufsgruppe der Chirurgen, wie sie v. a. Annemarie Kinzelbach erschlossen hat,9 sind dagegen vergleichsweise seltener. Der nur handschriftlich überlieferte Discursus Medicus et Politicus Tobias Geigers (1575–ca. 1657) aus dem Jahr 1656 ist daher besonders interessant, da es hier ein Chirurg war, der zur Feder griff, um seine Perspektive in den gesundheitspolitischen Diskurs einzubringen. Im Folgenden wird Geigers Traktat, insbesondere sein aus der chirurgischen Praxis heraus entwickelter Entwurf eines „rechten Medicus“ vorgestellt. Da der Text nicht gedruckt wurde, könnte Geiger leicht als kurioser Einzelfall betrachtet werden: Der Discursus muss deswegen im größeren Kontext chirurgischer Publikationen (und Handschriften) seiner Zeit gesehen werden. Es bieten sich hier v. a. die Werke Georg Bartischs (1535–1606) und Wilhelm Fabrys (1560–1634) zum Vergleich an, die, wie auch die Schriften Malachias Geigers (1606–1671), Tobias Geigers Sohn, eine zunehmende Öffentlichkeitsorientierung in der Selbstdarstellung der gebildeten Chirurgen belegen. All diese Texte dokumentieren ein professionelles Selbstbewusstsein der Chirurgen, das sich mit dem der akademischen Ärzte durchaus messen kann und will und das dafür, wie zu zeigen sein wird, mit großer Selbstverständlichkeit auch deren Strategien adaptiert, um eigene Positionen in den politischen Diskurs einzubringen.10 8 Vgl. die Forschungsberichte bei Sanders 1989, 12–17; Loetz 1993, 21–23. 9 Vgl. zuletzt ihre Studie zu den aufwendig illustrierten „Geschworenen- und Meisterbüchlein“ der Chirurgenzunft in Ulm: Kinzelbach 2014 bzw. 2016. 10 Die Akademisierung der Chirurgie im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert bildet das übergeordnete Thema dieses Beitrags. Um die verschiedenen auf diesen Prozess Einfluss nehmenden Akteure präzise differenzieren zu können, bedarf es einer terminologischen Festlegung: Ich benutze im Folgenden den Begriff „Chirurg“ für alle Personen, die eine geregelte handwerkliche Ausbildung in der Bader- und Barbierzunft absolviert hatten (auch wenn sie später studierten und z. T. auch promovierten), den Begriff „Arzt“ für die rein universitär aus-

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Anlass, Absicht und Adressat des Discursus Geigers Manuskript umfasst insgesamt 45 Blatt und ist als ein fortlaufender Text angelegt, dem eine eigentliche Gliederung fehlt. Lange Passagen bestreitet er mit exempla, also illustrierenden Geschichten, die der Untermauerung seiner Argumentation dienen sollen.11 Er beginnt seine Schrift mit biographischen Informationen, die bereits Teil ebendieser Argumentation sind; sie erscheint im weiteren Verlauf dann vorwiegend assoziativ und kreist eher repetitiv um die Kernpunkte seines Anliegens, als dass ein wirklich stringenter Aufbau erkennbar wäre. Tobias Geiger war, wie seinen eigenen Worten zu entnehmen ist, zum Zeitpunkt der Abfassung über 82 Jahre alt.12 Er eröffnet seinen Discursus, indem er zuerst von seinen beiden Söhnen erzählt (hierzu s. u.), dann über sich selbst: Er hat, so lesen wir, „von Jugent an in den Spitälern und castris“13 gelernt. Neben und nach seiner Teilnahme an diversen Feldzügen (s. u.) habe er über 30 Jahre lang Dienst in Münchner Spitälern getan.14 An anderer Stelle benennt er diese: Es handelte sich um das „Brüderhaus“, das Herzogspital (Geiger nennt es das „St. Elisabeth Spital“) sowie das „Josephhaus“.15 Auf Missstände in letzterem geht er auf den letzten zehn Seiten seines Traktats umfänglich ein. Die hier enthaltene (und sich bis auf die Aufzählung einzelner Posten falsch gekaufter Heilmittel erstreckende) Invektive gegen den „Speuto-Chirurgus“16, der die Leitung innehatte, sowie die detaillierten Vorschläge zu einer lokalen Lohn- und Aufgabenumverteilung machen deutlich, dass es sich trotz ihrer Länge und auch genereller Forderungen um eine Schrift handelte, die nicht für den Druck, sondern als Eingabe an das Fürstenhaus gedacht war (s. u.). Vermutlich sandte Geiger sie zusammen mit einem Geleitbrief, der heute nicht mehr erhalten ist. Anlass für eine politische Intervention sind gewöhnlich Missstände, die es zu benennen und für die es eine Lösung zu finden gilt. Geiger formulierte all gebildeten Akademiker (auch wenn sie vielleicht an einer ausländischen Universität chirurgische Handgriffe erlernt und z. T. sogar praktiziert hatten). 11 Zu der Tradition der „erlebten Exempel“ v. a. auch in volkssprachlichen Texten, die neben der rein medizinischen Observatio stehen: vgl. Gadebusch Bondio 2008, 148–156. 12 Vgl. Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 41v. Tobias Geiger wurde 1575 in Rosenheim geboren und starb vermutlich 1657, ein Jahr nach Abfassung des Discursus, in München: vgl. die Biographie bei Falk 1906, 346–353; hier 346, 352. 13 Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 2v. 14 Zur Lokalisierung der erwähnten Spitäler in München vgl. ebd., 25r: „Als ich aber wieder nach Haus und nach München khama“. 15 Vgl. zu diesen Spitälern Falk 1906, 346, 347, 351. 16 Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 35v. Mit dem „Speuto“- (zuweilen auch „Speudo“-) Chirurgus ist wohl ein Pseudo-Chirurg gemeint.

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dies bereits komprimiert auf dem Titelblatt.17 Für ihn bestanden die dort erwähnten „abusus in facultate medica“ nicht nur im lokalen Missmanagement des Josephhauses; die dortigen Verhältnisse sah er vielmehr als Begleitsymptom eines viel größeren Problems. Um es zu illustrieren, konnte er Beispiele aus gleich drei verschiedenen Betätigungsfeldern anführen. Er selbst stammte bereits aus einer Wundarztfamilie: Sein Vater Johann Jacob Geiger arbeitete ab 1576 als Chirurg in Rosenheim, später in Augsburg.18 Wie seine jüngsten Brüder Samuel und Daniel lernte Tobias das Handwerk bei seinem Vater, bevor er dann als Feldscher weitere Erfahrungen bei militärischen Unternehmungen sammelte – ein üblicher Schritt für junge Chirurgen, von denen wie von jungen Medizinern erwartet wurde, dass sie reisten und sich auswärtig fortbildeten.19 Nachdem er so in jungen Jahren 1594/95 am Türkenfeldzug in Ungarn teilgenommen hatte, begleitete er 1608 – bereits in gutbezahlter Stellung – den Feldzug gegen Donauwörth, 1611 den gegen Salzburg, 1620 den gegen Böhmen, 1621 schließlich die Eroberung der Pfalz.20 Die an diesen Kriegsschauplätzen gesammelte praktische Erfahrung spielte eine entscheidende Rolle in Geigers gesundheitspolitischer Argumentation. Er verfasste vor dem Discursus bereits eine Schrift zur Lazarettorganisation,21 eine Wortmeldung, die nebst anderem vielleicht dazu führte, dass er offizieller Beisitzer des Münchner Collegium Medicum für den Bereich der Wundarznei wurde.22 In diesem Amt hatte er fahrende Heiltätige zu prüfen und erlebte die Krise des städtischen Gesundheitswesens in München während der Pest in den 1630er Jahren mit. Beispiel über Beispiel im Discursus belegen, dass ihm seiner Ansicht nach all das, was er als ausgebildeter Chirurg, Feldscher und Amtsträger beobachtet hatte, die Autorität verlieh,

17 Vgl. den vollständigen Titel im Quellenverzeichnis. 18 Vgl. Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 24v; Falk 1906, 344–346. 19 Zur Wanderschaft als Teil der Chirurgen-Ausbildung vgl. Sander 1989, 153–166; zur Tätigkeit als Feldscher während dieser Zeit: 166–167. Zu den z. T. weiten (Aus)Bildungsreisen von Chirurgen vgl. auch Kinzelbach 2016, 51–55. 20 Vgl. Grienwaldt, Album Bavariae iatricae, hrsg. von Riedlin 1733, 46: „An. 1594 bin ich in der Belägerung Comorren Feldscherer gewest“; 48: „An. eodem [1607, Anm. d. Verf.] bin ich bey Einnemmung der Statt Donauwert gewest pro Chirurgo Castrensi: hab das Monath 100 fl. gehabt, und auf zween Diener Bestallung“; „Anno 1611. bin ich bey Einnemmung des Stiffts Salzburg gewesen“; „An. 1620 bin ich pro Medico Castrensi in Bohem bey der Schlacht zu Prag und Einnemmung des Lands ob der Ems (!), under Oesterreich, und ganz Bohem mit gewest“; „An. 1621. bin ich abermahl pro Medico castrensi mit gewest bey Einnemmung des ganzen Pfalz. Bin besoldet gewesen das Monath 200. Fl. sambt meiner Tafel und Besoldung auf zween Diener.“ Vgl. auch Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 2v–3r. 21 Vgl. Falk 1906, 347. 22 Vgl. von Hoffmeister 1975, 79.

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das Kernproblem der zeitgenössischen Gesundheitsversorgung zu benennen: das Fehlen „rechter Medici“. Geiger untermauerte sein diesbezügliches Konzept (s. u.) mit dem Hinweis, dass nur ein in seinem Sinne entworfener „rechter Medicus“ der Obrigkeit ein guter Ratgeber sein könne. Kontrastierend identifizierte er in einem eigenen kleinen Abschnitt des Discursus gleich drei Gruppen schlechter Ratgeber: Da waren zum einen die idolatri, die den Fürsten „nit genugsamben bericht ihres Rats, und conclusiones stellen“, um sie nicht auf Unangenehmes hinweisen zu müssen; dann gab es die Atheisten, „die alles auf das Regiment und die alte leyren sezen, … alles auf ain politischen praetext sezen, alles nur obenhin über die khnie abbrechen, und daryber fluderen [d. h.: flattern, Anm. d. Verf.], als wie der Haan über die haissen khollen“ (also immer nur situationsbedingte, kurzfristige Lösungen anbieten – und damit nicht das Gebot Gottes befolgen, dem Allgemeinwohl zu dienen); und schließlich die Epikureer („Epicuren“), die „auf sich allein in all ihrem thun … achtung geben, das nur ihnen allein wol seye, es gehe dem publico bono wie es wolle“.23 Das entsprechende Gegenmodell folgt umgehend, formuliert in einer rhetorischen Frage: dann was khan ein fürst, oder potentat fir ein notwendigeren, nutzlicheren, und annemblicheren Rats haben als einen rechtschaffenen medicum, auf welchen er sich tempore pacis, pestis et belli auf allen begebendten fäll cordate zuverlassen hat, wie Alexander Magnus sich auf sein medicum Phillippum [!] verlassen hat, und was ist ainem ganzen Landt und dem publico bono mehrers vonethen, als ain loblichen gueten Regenten bey seiner gesundheit zu erhalten …?24

Jedem Leser musste an dieser Stelle klar werden, dass Geiger eigentlich von sich selbst sprach: Dass er fachkundig raten konnte, auch vor der Benennung von Missständen nicht zurückschreckte (was die vielen Exempla im Discursus bewiesen), machte ihn nach textimmanenter Logik selbst zu einem rechtschaffenen Medicus. Dass in der zitierten Passage Ratgebertätigkeit und ärztliche Dienste für einen Fürsten zusammengebunden wurden, ist ebenfalls kein Zufall: Tobias Geiger wurde in seinen späten Jahren zum Leibmedicus des Kurfürsten Maximilian I. von Bayern (1573–1651) ernannt.25 Obwohl im Text kein Adressat genannt wird, war der Discursus auf das Fürstenhaus ausgerichtet und vermutlich für Maximilians Nachfolger, Herzog Ferdinand Maria von Bayern (1626–1679), geschrieben. Dies unterstreichen die Passagen, in denen Geiger Missstände in der medizinischen Versorgung des Heeres (wozu er auch fehlen23 Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 7r–v. 24 Ebd., 8r. 25 Vgl. von Hoffmeister 1975, 18.

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de Hygiene und Verpflegungsmängel zählte) mit der Schwächung der militärischen Kampfkraft in Verbindung brachte, oder sehr konkret den Verlust von Steuereinnahmen in großer Höhe anführte, den er als Konsequenz einer falschen Einstellungspolitik in Pestzeiten darstellte.26

Der rechte Medicus Um den stark deontologischen Entwurf ärztlicher Ausbildung verständlich zu machen, mit dem sich Tobias Geiger in den gesundheitspolitischen Diskurs seiner Zeit einbrachte, ist es nötig, seinen eigenen Ausbildungsweg sowie den nachfolgender Mitglieder seiner Familie zu skizzieren. Er lernte, wie bereits erwähnt, sein Handwerk bei seinem Vater und zog dann 1594 mit dem Heer des „Obristen General Leitenants herrn Christoph Rosswurm“27 ins Feld. Erst nach diesem Abschnitt seiner Ausbildung – man könnte ihn als qualifizierendes Praktikum verstehen – legte er vier Jahre später (1598) das zweiteilige Barbierexamen ab.28 Es bestand im ersten Teil in einer Befragung, bei der als Vertreter der Obrigkeit zwei Ratsangehörige und der Stadtarzt, als Vertreter der Zunft drei Meister sowie ein herzoglicher Leibchirurg die Prüfungskommission bildeten: An. 1598. den 5. Dec. hab ich das Examen verricht: dabey seynd gewest zwey Herren des Raths, Herr Voglmair aus den innern Rath, und Hr. Vogl aus dem äusseren Rath; Doctor Adam der Statt-Medicus, von Meistern: Meister Georg Schmid der ältest Meister, Caspar Engelschalcke, &c. Herzogs Wilhelmi in Bayrn Leib-Barbierer, Meister Georg Hofstetter Führer der Zeit, Meister Bernhard Schmid Schnitt-Arzt.

Zwei Tage später absolvierte Geiger den zweiten, praktischen Teil der Prüfung, die unter Aufsicht erfolgende Anfertigung seiner Meisterstücke, d. h. bestimmter äußerlich anzuwendender Medikamente:

26 Geigers Argumentation soll an dieser Stelle nicht im Detail verfolgt werden. Es entsteht zeitgleich zur Abfassung dieses Beitrags eine medizinische Dissertation am Lehrstuhl für Geschichte der Medizin in Würzburg, die auf die lokalen Gegebenheiten, auf die die Schrift sich bezieht, sowie auf die erfahrungsgestützte Argumentation Geigers vertieft eingeht: Stephanie Meyer, Der „Discursus medicus et politicus“ von Tobias Geiger (1656). Edition und Kommentar [Arbeitstitel]. 27 Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 2v. 28 Vgl. zum Folgenden das Kapitel über die verschiedenen Abschnitte einer Chirurgenausbildung bei Sander 1989, 135–175.

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Den 7ten Tag ernannten Monaths hab ich kocht meine Pflaster Diachylon &c. Emplastrum nigrum, Unguentum Apostolorum, Unguentum Basilicon &c. und das übrige praepariert in Gegenwart Herrn Vogl des Raths, Meister Caspar Engelschalck, Meisters Georg Hofstetters Führers, Meisters Georg Herbstmayr Führers &c.

Anschließend folgte ein vom Prüfling zu spendierender Umtrunk („Dabey haben wir verdruncken 16. Mass Wein, die Maas à 13. kr.“), am darauffolgenden Tag die Prüfung der fertigen Meisterstücke („Den 8ten bin ich vor Rath gewest und meine Stuck gezeigt“) und schließlich die Entrichtung einer Gebühr an die Examinatoren („Den Tag hab ich ob erzehlten Herren des Raths jeden 2 fl. bezahlt, Herrn Doctor 1. fl., jeden geschwornen 1 fl., jedem Führer 2.fl.“).29 Jana Madlen Schütte hat in ihrer Monographie zur Medizin im Konflikt zu Recht auf die starken Parallelen aufmerksam gemacht, die die Ausbildungsstrukturen akademischer und handwerklicher Heilkunde in der Frühen Neuzeit aufwiesen: „Fakultät und Zunft zeigen auf den ersten Blick Gemeinsamkeiten im Aufbau; so sind die Magister und Doktoren den Meistern, die Lizentiaten und Bakkalare den Gesellen und die Studenten den Lehrlingen vergleichbar.“30 Auch der oben geschilderte Ablauf des Geigerschen Barbierexamens mit seiner mündlichen Prüfung, dem gemeinsamen Gelage und dem Entrichten der Gebühr entspricht, abgesehen vom praktischen Teil der Prüfung, dem einer akademischen Promotion, und man darf fragen, ob sich das Bild allein an der Universität angesiedelter Professionalität hätte verfestigen können, wären chirurgische Prüfungsgespräche ebenfalls reihenweise gedruckt worden, wie es akademisches Ritual bei den Disputationen war.31 Zünfte und Fakultäten entsprachen gleichermaßen der Organisationsstruktur von Gilden, d. h. durch einen Eid definierter Personenvereinigungen mit eigener Gerichtsbarkeit (hier geregelt durch Bader- und Barbierordnungen, dort durch Universitätsstatuten); nur ein geprüfter Barbier konnte sich um eine Aufnahme in die Zunft bewerben, nur ein promovierter Akademiker um die Aufnahme in die Fakultät.32 Von beiden wurde eine ihre Kenntnisse vertiefende Reise erwartet (s. o.). Die jüngst von Annemarie Kinzelbach publizierten, aufwendig in Farbe ausgeführten Individual- und Gruppenporträts der Ulmer Barbiere und Bader, die u. a. die Geschworenen der Zunft in ehrwürdiger Kleidung als Collegium in seinem Zunftraum (mit Instrumenten, Geld und Rechnungsbuch) zeigen, dokumentieren das Selbstver29 Alle hier angeführten Zitate bei: Grienwaldt, Album Bavariae iatricae, hrsg. von Riedlin 1733, 47; ähnlich wurden auch die Leipziger Barbiere geprüft: vgl. Schütte 2017, 212–213. 30 Vgl. Schütte 2017, 202. 31 Aufzeichnungen solcher Prüfungsgespräche existieren durchaus; vgl. z. B. die Prüfungsfragen mit entsprechenden Antworten in Bartisch, Kunstbuch, 1575, 36v–41v. 32 Schütte 2017, 202–203.

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ständnis dieser Berufsgruppen auf die gleiche Weise wie die zeitgleich an den Universitäten gefertigten Ölporträts der Professoren.33 Diese nahezu identische, nur in verschiedenen Bereichen und auf verschiedenen Standesebenen stattfindende, gleichermaßen aber von ständischem Selbstbewusstsein geprägte Sozialisation für den eigenen Beruf sollte stets in Erinnerung sein, wo von einer sukzessiven „Professionalisierung“ der Medizin die Rede ist, bei der die Akademisierung traditionell als ein von oben nach unten wirkender, disziplinierender Prozess interpretiert wurde.34 Aus der Perspektive der zünftig organisierten Barbiere musste sich das eigene Ausbildungssystem als gleichwertig mit dem universitären darstellen, mit dem einzigen Unterschied, dass dessen Absolventen einem höheren Stand angehörten und sich auf die innere Medizin in Form der theoretischen Physiologie und Pharmakologie spezialisiert hatten. Tobias Geiger verfügte jedenfalls bereits über ein nach einem geregelten Ausbildungsverlauf erworbenes und durch Prüfungen attestiertes Wissen, als er beschloss, eben dieses noch auszuweiten. Im Oktober 1603, nach fünfjähriger Berufsausübung, begann er, sich eigenständig Lateinkenntnisse anzueignen, wiederum vier Jahre später, an der Universität Ingolstadt zu studieren. An dieser Stelle in Geigers Biographie setzt der Discursus ein. Noch bevor der Autor mitteilt, er habe seit seiner Jugend in Spitälern und Feldlagern gelernt (s. o.), führt er als Auftakt ein langes lateinisches Zitat des Greifswalder Medizinprofessors Franz von Joel (1508–1579) an, mit dem er zum einen seine akademische Sprachfähigkeit beweist, das zum anderen aber auch bereits seine Kernforderung hinsichtlich des rechten Medicus enthält: Dieser muss Chirurgie nicht nur „aus Büchern daher plappern“ können, sondern tatsächlich über Erfahrung und geübte Hände verfügen („et experientia et manuale exercitium“); gleichzeitig muss er aber auch wissen, wie er Symptome, die nach einer Operation auftreten (wie Entzündungen, Fieber, Tumoren etc.), behandeln kann.35 Eben dieses Wissen eignete sich Geiger nun an, indem ich bey obgedachten herrn doctor Mörmann sel. institutiones medicinae fuxii [d. h.: des Leonhard Fuchs, Anm. d. Verf.], artem parvam Galeni, septem libros Aphorismorum Hipp [ocratis] ex Galeno de causis morbis, et de symthonatibus [!], de urinis, de pulsibus, de curatione febrium, de differentiis febrium, de Tumoribus ad Glauconem Andream Laurentium in Anathomicis, Titelmanum in philosophicis und noch über diss sechs ganzer Jahr

33 Vgl. Kinzelbach 2016, 37–38; S. Schlegelmilch 2018, 44–45. Vgl. in diesem Kontext auch die Miniatur, die sich der Wundarzt Hans Seyff von seiner berühmtesten Amputation (im Beisein diverser Wundärzte und Doctores) anfertigen ließ: Schütte 2017, 252. 34 Vgl. hierzu Anm. 59. 35 Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 1r–v.

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mehrgedachten herrn doctor Mirmano bis zu seinem seeligen hintritt aufgewarthet, alda für alzeit de rebus medicis gehandlet, gehert, und also privatim absolviert habe.36

Der Chirurg studierte also, unterbrochen von der Teilnahme an zwei Feldzügen (1608/1611) und praxisbegleitend (zuerst privat praktizierend, dann, ab 1613, bestallt am St. Elisabeth-Spital), in vollem Umfang Medizin.37 In der abschließenden Formulierung, er habe seine medizinischen Studien „privatim absolviert“ verbirgt sich eine Information, die im Discursus nicht expliziert wird, sich aber in Geigers selbst verfasstem Lebenslauf findet: „An. 1614. den 16. Apr. hab ich in Medicina Physica promovirt und Doctor worden, und den 15. bemelten Monaths in Chirurgia.“38 Offensichtlich disputierte Geiger zweimal in einem Privatkolleg seines akademischen Lehrers Thomas Mermann (1547–1612),39 ohne dass er aber die zugehörigen Dissertationsheftchen drucken ließ. Dies und die Unterschlagung des Doktortitels in den biographischen Passagen des Discursus sind als implizite Belege dafür zu werten, dass Geiger das akademische Wissen als sekundäre Qualifikation sah, sich selbst aber weiterhin als Chirurg definierte und als solcher von dem Adressaten des Discursus primär wahrgenommen werden wollte. Nach seinem eigenen Vorbild instruierte Geiger dann auch seine beiden jüngeren Brüder, Daniel und Samuel, und ließ deren Erziehung wiederum in dem Spital beginnen, in dem er arbeitete. Hier lernten sie von ihm jedoch nicht nur das Handwerk; vielmehr bemühte er sich, ihnen nach akademischem Vorbild den Aufbau des Körpers nahezubringen, also Anatomieunterricht zu erteilen: damit ich sye von Jugent auf bey der praxis erziechen khunde, auch mit wahrheit sagen khan, das ich gewiß über. 100. cadavera secciert, von deren ich khaum nit ain haller gehabt habe für mein bemühung.40

36 Ebd., 2r–v. 37 Sein Sohn Malachias beschreibt diesen Ausbildungsweg des Vaters in seinem Microcosmus hypochondriacus, zollt dessen Leistung Respekt und lässt dabei auch anklingen, dass Tobias Geiger mit seinen Plänen durchaus auf Widerstand stieß; er studierte demnach „non sine magna aliquorum malevolentium invidia“ (Geiger, Microcosmus hypochondriacus, hrsg. von Straub 1652, 312). 38 Grienwaldt, Album Bavariae iatricae, hrsg. von Riedlin 1733, 48. 39 Zu Thomas Mermann vgl. Falk 1905. Vgl. den Fall des Studenten Stephan Bacher, der 1595 mit Verweis auf den Usus an italienischen Universitäten in Basel einen Doktortitel der Chirurgie erwerben wollte, was ihm nur im Rahmen eines Privatkollegs (privatim) erlaubt wurde; chirurgische Vorlesungen waren wohl des öfteren noch eher im Freiraum der Privatkollegien angesiedelt: U. Schlegelmilch 2020. 40 Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 3v.

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Geiger scheint demnach – wie es im Zuge der Etablierung der Kliniken in späterer Zeit üblich wurde – Armenpatienten in das Spital aufgenommen und versorgt zu haben, deren Körper er im Falle ihres Ablebens zu Ausbildungszwecken sezierte.41 Er setzte damit bereits eine der Forderungen, die er im Discursus für die zukünftige Ausbildung „rechter Medici“ stellte, in die Tat um: die Umwandlung der Spitäler in praktisch orientierte Ausbildungsstätten nach italienischem Vorbild. Im Folgenden argumentierte Geiger nun politisch: Die Ärzte, die sich vormals um die Verbesserung der Spitäler wenigstens begonnen hatten zu bemühen, seien gestorben, bevor sie etwas erreichen konnten, und es habe sich seither khainer mehr funden, welcher dergleichen eyfer erzaigt, und ain solche Notitiam auch wissenschaft gehabt hete, der Italianischen Spitäller, oder der deroselben scopum observiert hete, das dergleichen Spitäller ain rechte schul wehre, Junge angehundte medicos darbey zu exercieren, in Chirurgicis, Anathomicis, pharmaceuticis, potanicis, Chimicis …

Zwischen diesem Wissensdefizit, dem daraus resultierenden Reformstau und dem gegenwärtigen desolaten Zustand der Spitäler stellte er einen klaren Zusammenhang her: „daher mehr gedachte Spitäller guthen thails in confusione verbliben, und noch ohne rechte perfection, und ordnung verbleiben“.42 Damit trat er nun selbst an die Stelle der verstorbenen Doktoren und zugleich an die des politischen Ratgebers, der einen Missstand benannte, der Obrigkeit aber auch den Grund dafür und eine Möglichkeit zur Abhilfe aufzeigen wollte. Zwar war auch er nicht in Italien gewesen, er hatte jedoch Daniel (nachdem er ihn bereits als Gehilfen auf einen Feldzug mitgenommen hatte) und Samuel an die damals für die Chirurgie berühmteste Ausbildungsstätte Italiens geschickt: zumassen ich dann meine zwey brieder darbei erzogen hab Samuelen und Danielen, die Geiger, die auch in utraque facultate zu Padua in Italia promoviert haben, welche beede hernach nit nur vulgares doctores medicinae daraus worden sein …43

Die Negativfolie für den rechten Medicus stellte also in Geigers Augen der „vulgaris doctor“ dar; was darunter zu verstehen ist, lesen wir in seinem Bericht über die Ausbildung seiner eigenen beiden Söhne, Esaias und Malachias:

41 Im auf das Zitat folgenden Text erklärt Geiger sein Verdienstmodell, indem er diese Armenpatienten mit anderen kontrastiert, bei denen ihm die Behandlung eines einzigen mehr als seine Jahresbesoldung eingebracht habe. Vgl. einen ähnlichen, die spätere Klinik vorausnehmenden Ansatz bei Johannes Magirus (1615–1697), der Armenpatienten kostenlos behandelte, um seine Studenten am Krankenbett zu unterrichten: S. Schlegelmilch 2018, 277–279. 42 Dieses und das vorhergehende Zitat: Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 6v–7r. 43 Ebd., 3v–4r.

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Weill ich dann observiert, das zu ainem rechten medico nit genug, vill wort, geschwätz, und disputierens, und das kheiner perfectus medicus seye, qui non sit perfectus Chirurgus, zu welchem aber auch gehert, das ein rechter medicus ein Anathomicus, Podanicus, Chimicus und sonderlich in pharmaceuticis woll solle versiert sein, also hab ich mich mit meinen beeden Söhnen khainen Unkhossten tauren [d. h.: zu teuer sein, Anm. d. Verf.] lassen, sye erstlich, nachdem sye philosophiam zu Ingolstatt absolviert haben, hab ich dieselben nach Lewen verschickt …44

In Löwen hörten Geigers Söhne Esaias und Malachias bei Thomas Fienus (1567– 1631) Vorlesungen zu den anspruchsvollsten Operationen ihrer Zeit.45 Interessant ist jedoch vor allem, dass Geiger bezüglich dieser chirurgischen Behandlungen betont, aus welchen curationibus, ehe sye ad philosophiam khomen sein, deretliche vor selbst exerciert haben, aber dergleichen bey und in oberteitschlant bei etlichen Academiis nec per somnium wol deren oder daran gedenken.46

Esaias und Malachias waren also schon chirurgisch ausgebildet und operierten auch bereits, bevor sie an die Universität Ingolstadt gingen, um das Grundstudium der artes aufzunehmen. Die Komplexität dieser Operationen übertraf – nach Ansicht Tobias Geigers – alles, was die Universität in Deutschland zu diesem Zeitpunkt zum Thema Chirurgie vermitteln konnte: Die akademische Lehre war somit von der professionellen Chirurgie bereits überholt worden. Dementsprechend schickte Geiger seine Söhne, wie schon seine Brüder, gar nicht erst an eine deutsche Universität, um Medizin zu studieren, sondern gleich ins Ausland. Außer in Löwen studierten sie Anatomie in Paris bei Jean Riolan (1580–1657), einem Ort, wo zahlreiche Sektionen zu sehen waren („man in ai44 Ebd., 4v–5r. Geiger wiederholt diese Differenzierung an verschiedenen Stellen, so z. B. auch 20v: „wie dann ain ieder medicus, wan er gleich von der Chirurgia schwezen, darumb fir kain Chirurgum zu halten, sondern derjenige, der die handt selbst anlegen kan“. 45 Folgende Operationen wurden behandelt (ebd., 5r): De Trepano sine apertione Cranii (Trepanation ohne Schädelöffnung), De depositione catarractae (Beseitigung des Stars), De depositione ungulae (Beseitigung eines Hornhautabszesses), De laryngotomia sine sectione asperae arteriae (Kehlkopfschnitt ohne Schneiden der Luftröhre), De paracentesi Thoracis (Punktion des Brustkorbs), De paracentesi abdominis (Punktion der Bauchhöhle bei Flüssigkeitsansammlung), De Arteriotomia sine sectione anteriae [!] (Arterienöffnung ohne Vorschnitt), De Hysterotomia sine sectione foetus ex utero viventis matris (Gebärmutterschnitt bei lebender Mutter ohne Schneiden des Foetus = Kaiserschnitt), De sectione calculi (Steinschnitt), De sectione Herniarum (Bruchschnitt), De amputatione membrorum externorum (Amputation äußerer Körperglieder), De Nasi amputati ex carne brachii restitutione (Rekonstruktion einer amputierten Nase aus dem Fleisch des Arms); zu dieser bereits im 15. Jahrhundert in Italien entwickelten Operationsmethode vgl. Gadebusch Bondio 2017, 42–47. 46 Ebd., 5r–v.

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nem Wüntter über 30. subiecta haben kann, da man etwa in teutschlandt in ainem wintter mit einem subiecto sich in etlichen Academiis behelfen thut“) und in Montpellier, wo sie den medizinischen Kräutergarten besuchten und bei dem dortigen Experten für Arzneilehre die Zubereitung von Medikamenten lernten.47 Tobias Geiger benennt nicht genauer, welche der aufgezählten Operationen seine Söhne bereits als junge Männer durchführen konnten, es ist aber anzunehmen, dass es sich dabei um Augenoperationen, Stein- und Bruchschnitt handelte, da er dies alles auch selbst praktizierte. Gerade die beiden erstgenannten Operationen wurden oft von spezialisierten Starstechern und Lithotomen ausgeführt, die dem fahrenden Volk angehörten; Georg Bartisch, von dem später noch die Rede sein wird, stellt ein prominentes Beispiel eines solchen professionell ausgebildeten Landfahrers dar. Dieser Gruppe nicht-akademischer Heiltätiger galt Geigers weiteres Interesse. Obwohl er im Discursus von zahlreichen Fällen zu berichten weiß, bei denen er als Mitglied des Collegium medicum unqualifizierte Praktizierende vorgeführt bekam, war er weit davon entfernt, alle nicht sesshaften Heiltätigen über einen Kamm zu scheren. Wie es charakteristisch nicht nur für die studierten Ärzte, sondern auch professionelle Handwerkschirurgen seiner Zeit war, sparte er freilich nicht mit Polemik gegen die, die er für un(aus)gebildete Laienheiler hielt,48 er nahm jedoch die Gruppe der Landfahrenden in Schutz, die aus ökonomischen Gründen auf eine Sesshaftigkeit verzichten mussten.49 Mit der von ihm propagierten Reform des Spitalbetriebs plante er, nicht nur Ausbildungsdefizite zu beseitigen, sondern auch dem Problem der unkontrollierten Landfahrerei entgegenzuwirken: Wie nott es wehre auch in disem Landt dergleichen anzustellen von wegen der armen leith, die mit Stain, brüchen, und dergleichen mangelhafften beladen sein, derffte darumb khein ganzes Schnitthaus sein, sondern nur ein aigene schnidtstuben bestendig im Spitall aigenstendig darzue verordnet werden, dergleichen ain aignes stibl zu denen Augen mengeln, und leith darzue bestelt und besoldet …50

Durch Einrichtung solcher Spezialabteilungen für Steinschnitt und Augenoperationen in den Spitälern müsse die Bevölkerung bei Bedarf nicht warten, bis irgendein fahrender Behandler (ohne sichere Qualifikation) vor Ort auftauche. 47 Ebd., 5v–6r. 48 Ebd., 29r: „allerlei hailloses gesindel, gleich den Zingerinern (= Zigeunern), von huren, und buben, hurer, Ehebrecher, henkersknecht, von unausgelehrnten Badersknechten, und buben, entlassenen Soldaten, und dergleichen hudelmansgesindt, je ainer mehr als der ander, nach dem er das maull brauche, und ain aufschneider gegeben, herfier gethan, sich grosse kunst geriembt, die gemaine leuth betrogen, beides umbd gelt, und viell umb leib und leben …“. 49 Vgl. Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 41v; vgl. Sander 1989, 66. 50 Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 25v–26r.

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Gleichzeitig könnten ehrliche Oculisten, Stein- und Bruchspezialisten dort bestallt werden, oder, noch besser: „rechte Medici“, die umfassend ausgebildet worden seien, auch noch diese Sparten der medizinischen Behandlung übernehmen. Geiger berichtet in diesem Kontext auch davon, wie er selbst von den Fuggern nach Augsburg gebeten worden sei, nachdem diese mit dem Ableben des promovierten Chirurgen (!) Stromair Bedarf an einem Nachfolger für ihr Schnitthaus hatten, und wie er dort an einem Vormittag zwei Patienten einen Steinschnitt und acht weiteren eine Bruchbehandlung angedeihen ließ.51 Marcus Fugger sei von dieser Leistung sehr beeindruckt gewesen und habe ihn abwerben wollen. Das Erzählen solcher Abwerbungsgeschichten gehörte zu den üblichen Strategien, um die Obrigkeit auf die eigenen Fähigkeiten aufmerksam zu machen,52 und ließ Tobias Geiger einmal mehr als den „rechten Medicus“ erscheinen, der als Stein- und Bruchschneider auch noch diese Fähigkeiten in den Spitaldienst einbringen konnte. Tobias Geigers Forderungen im Discursus lassen sich somit folgendermaßen zusammenfassen: Zum ersten müssten endlich fähige Medici ausgebildet werden. Dies kann nur geschehen auf der Grundlage einer traditionellen chirurgischen Ausbildung, die nicht so schnell zu haben ist wie ein Universitätsstudium;53 es muss die Einsicht vorhanden sein, das solche [erg. kunst] nit khan erlehrnt, oder begriffen werden, in zweyen oder dreyen Jährlein, von wegen der langen experienz, so darzue erfordert wirdt, daher sye niemandt solche gelehrnt, als in ihrer freundschafft, als der Vatter seine Söhn, oder wann sye weit gangen, ihrer töchter Männer, die stetigs umb einander sein khinden, von allerlei fällen, und zue stundten conversieren, und handeln kinden, sich nit selbst faillbotten, sonder erwarthet, wer ihrer begehrt, oder bedirfftig gewest, an einem ohrt heißlichen, und burgerlich still gesessen …54

Geigers Modell basiert also auf der traditionellen Ausbildung in Familienstrukturen („freundschafft“), wo jederzeit Fälle diskutiert werden und sich das Wissen von Generationen verbinden kann. Erst nach dieser Ausbildung sollen die jungen Chirurgen – so zeigt es das Beispiel seiner Söhne – auf die Universität gehen, um sich als sekundäre (und in kürzerer Zeit zu erwerbende) Qualifikation Grundlagen der Physica und damit auch der inneren medikamentösen The51 Das schnelle Schneiden gehörte zu den Merkmalen einer gekonnten chirurgischen Behandlung; auch Bartisch spricht von einer Operationsdauer von insgesamt (!) höchstens einer Viertelstunde für eine Steinentfernung (s. u.). 52 Vgl. Schlegelmilch 2019b. 53 Sabine Sander weist bspw. für die altwürttembergischen Chirurgen eine Ausbildungszeit von neun Jahren nach: Sander 1989, 151. 54 Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 28v.

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rapie anzueignen, um Fieber und andere mit Behandlungen einhergehende Erkrankungen behandeln zu können. Durch zahlreiche Beispiele promovierter Chirurgen (s. u.) wird als ideales Ziel dieser Ausbildung eine Doppelpromotion vorzugsweise im Ausland (Italien) entworfen. Zum zweiten müssten die deutschen Spitäler in diesem Modell mit der Zeit selbst zu Ausbildungsorten nach italienischem Vorbild werden, wo erfahrene Behandler (wie Geiger) praxisorientierten Unterricht in Anatomie, Botanik und Chemie abhalten, Leib Barbiere mit Söhnen …, die beraits thails die humaniora dahin absolvieren, thails schon logicam, diese kundten ainem Spitall anstatt der bader algemach gebraucht, und erzogen werden, auf die weis, wie ich meine Söhn …55

Zum dritten müssten die Fürsten Spitalstrukturen schaffen, die eine zuverlässige Versorgung der jeweiligen Stadtbevölkerung gewährleisten, indem sie (nur) auf die geschilderte Art und Weise ausgebildete Medici an den Spitälern bestallen. Dies würde zugleich das Problem der Landfahrerei lösen, denn dann könnten auf das verbleibende fahrende Volk die (durchaus vorhandenen, aber bislang nicht durchgesetzten) „in der hailsamen Landtspollizei hailsame statuta und Satzungen“56 angewandt werden, was auch das Problem der aus Italien kommenden Landfahrer („Nursini“) lösen würde.57 Geigers gesundheitspolitische Intervention zielt, wie zu sehen ist, also nicht nur auf die Abschaffung lokaler Missstände (ungeeignetes Personal im Münchner Josephhaus), sie enthält gleichzeitig auch eine Kritik am universitären Ausbildungsbetrieb (er bringt nur „vulgares doctores“ hervor), benennt generelle Versorgungsmängel (Kranke müssen auf fahrende – und nicht immer qualifizierte – Spezialisten warten) und mahnt die Durchsetzung polizeilicher Verordnungen gegenüber fahrenden Behandlern an. All diese Probleme betrafen die fürstliche Zuständigkeit – das Josephhaus als herzogliches Spital, die Universität als landesherrliche Institution, die Gesundheitsversorgung der Residenzstadt, die Landesordnung –, und für all das hatte Geiger eine Lösung anzubieten: seinen „rechten Medicus“.

55 Ebd., 35v–36r. 56 Ebd., 29r–v. 57 Zu dieser speziellen, aus dem Ausland nach Süddeutschland eindringenden Konkurrenz vgl. die in Anm. 26 angeführte Dissertation von Stephanie Meyer.

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Tobias Geiger in seiner Zeit Tobias Geiger war nicht der erste Chirurg, der über eine zusätzliche universitäre Ausbildung den Aufstieg versuchte; ein frühes Beispiel von eigenständiger Fortbildung bietet schon der Wundarzt Hans Seyff (1440–1518), der ebenfalls autodidaktisch Latein lernte.58 Geigers Fall ist jedoch besonders interessant, da er für eine gesellschaftliche Entwicklung steht, die bereits im 16. Jahrhundert begann und sich über das ganze 17. und bis in das 18. Jahrhundert hinein erstreckte: die Akademisierung der Chirurgie. Dass dieser Prozess nicht wirklich eine Belehrung bzw. Disziplinierung der „ungebildeten“ Chirurgen durch „naturwissenschaftlich“ systematisch forschende und praktizierende Mediziner bedeutete,59 wird umso deutlicher, wenn man einen etwas größeren Zeitraum vor und nach Geigers Schrift in den Blick nimmt. Im Folgenden wird es um die Frage gehen, was mit Blick auf die Gesundheitspolitik des 16. und 17. Jahrhunderts die Motivation von Chirurgen wie Tobias Geiger war, an die Universitäten zu drängen und einen eigenen Entwurf effektiver Medizin in die Diskussion der Zeit einzubringen. Warum sollten Mediziner wie der eingangs zitierte Waldschmidt solche Chirurgen als Bedrohung empfinden? Richard Toellner schrieb in seinem Beitrag Der Arzt als Gelehrter (2000), dass bereits im 16. Jahrhundert „Bestrebungen einsetzten, Medizin und Chirurgie, die Kompetenz für innere und äußere Krankheiten, die Theorie und Praxis in einen hochprofessionalisierten Einheitsstand zu bringen.“60 Es nehme nicht wunder, dass diese Bestrebungen von den Chirurgen ausgegangen seien, die erkannt hätten: „Die Chirurgie musste auf das professionelle Niveau der Medizin angehoben, Chirurgie zur Wissenschaft erhoben werden.“ Toellner bemerkt im Anschluss zu Recht, dass dies im 16. Jahrhundert v. a. bedeutete, die antiken medizinischen Autoren zu kennen. Später lesen wir jedoch: „So kann er [Georg Bartisch] auch über seine Tradition nicht hinauskommen, so lange er seine Kunst der kritischen Kraft der Gelehrsamkeit nicht wirklich aussetzt.“61 Toellner fällt hier unbewusst wieder zurück in das traditionelle Narrativ einer fortschrittlich und nach dem Verständnis der Aufklärung kritisch denkenden akademi58 Vgl. Schütte 2017, 240–241. 59 Vgl. die Studie von Franziska Loetz, die nur wenige Jahre nach Sabine Sander kritisierte, dass in Reaktion auf eine lange dominierende fortschrittsgeschichtliche Medizingeschichtsschreibung auch „das Foucaultsche Medikalisierungsmodell … derart ungefragt übernommen worden“ sei: Loetz 1993, 40. Loetz betonte stattdessen die Rolle „gesellschaftlicher Wechselbeziehungen“ (ebd.), wie sie auch für das Verhältnis der Handwerkschirurgie zur gelehrten Medizin zum Tragen kommen. 60 Toellner 2016, 147; hier auch das Folgende. 61 Ebd., 158.

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schen Medizin (gegenüber einem offenbar statischen Chirurgenwissen) und bleibt auch stets mit seinen Beobachtungen der Sphäre der Universität und der Gelehrsamkeit verhaftet. Für praktizierende Heiltätige – ganz gleich, ob Ärzte, Chirurgen oder andere – dürfte jedoch der tatsächliche (städtische) Berufsalltag von viel größerer Bedeutung gewesen sein als Buchdiskussionen.62 Mit der allmählichen Konsolidierung der Fürstentümer, wie sie aus den konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts hervorgingen, veränderte sich auch das Medizinalwesen des jeweiligen Territoriums. Es entwickelte sich – mancherorts früher, mancherorts später – eine Medizinalgesetzgebung, die sanitäts- und seuchenbezogene Vorschriften fixierte sowie die Zuständigkeit bzw. Legitimität einzelner Heilberufe festschrieb. Reflexe solcher Ordnungsversuche lassen sich auch in Geigers Schrift finden, wie z. B. die bereits erwähnten Bemerkungen zu den (wirkungslosen) Gesetzen gegen Landfahrerei. Angesichts all dieser Entwicklungen, in deren Verlauf auch das Verhältnis zwischen akademischer Ärzteschaft und handwerkschirurgischer Zunft neu geregelt wurde, sollte stets in Erinnerung sein, dass hier „die dem Arzt eingeräumte Vorrangstellung in der Hierarchie des Medizinalpersonals … nicht auf praktischem Expertenwissen, sondern auf seinem Gelehrtenstatus“ basierte.63 Ich habe bereits an anderer Stelle die Frage gestellt, warum eigentlich die Städte im Reichsgebiet Stadtarztstellen mit akademischen Ärzten besetzten, wenn amtliche Korrespondenzen und Ratsprotokolle doch belegen, dass Patienten wie auch Obrigkeit zum einen nicht gelehrtes Wissen, sondern praktische Erfahrung als wichtigste Qualifikation betrachteten, zum anderen der universitären Medizin keine Überlegenheit gegenüber der handwerklichen zusprachen.64 Meine These hierzu ist, dass die akademischen Ärzte im Hinblick auf Qualifikationen eingestellt wurden, die gar nicht medizinischer Natur waren. Denn mit der Umsetzung der gesundheitspolizeilichen Maßnahmen ging ein ständig wachsendes Ausmaß an Bürokratie einher, die den an diesem Prozess beteiligten Akteuren die Fähigkeit abverlangte, Vorgänge zu dokumentieren, Zeugnisse auszustellen, Beschlüsse zu formulieren u. ä. Die obligatorische Ausbildung in den artes, die jeder Arzt als Grundlage des Fachstudiums hatte absolvieren müssen, taugte, um normgerechte Texte und Formulare zu entwerfen, angemessene Eingaben zu schreiben und hier die richtigen Argumentationsmuster anzuwenden. Auch diese „papierene“ Seite der Gesundheitspolitik ist im Discursus präsent: Tobias Geiger berichtet von einem Lithotomen, bei dessen Prüfung vor dem Collegium medicum es sich herausstellte, dass er noch nie den Stein geschnitten oder auch 62 Vgl. S. Schlegelmilch 2019b. 63 Sander 1989, 42. 64 Vgl. S. Schlegelmilch 2019b.

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nur einen Steinschnitt gesehen habe; auf die Frage, warum das dann in seinem Lehrbrief stehe, habe der Mann geantwortet, „dass es die schreiber, die ihm dergleichen brieff geschrieben, diesen ihr begehren selbst schreiben“65 – er ließ sich also von professionellen Schreibern einen Brief entwerfen, den diese entsprechend den Vorgaben für ein solches Schriftstück komponierten.66 Der Hintergrund der Geschichte bildet die zeitgenössische Situation ab: (Akademische) Stadtärzte und (akademische) Collegia medica arbeiteten in dieser mehr und mehr Raum greifenden Gesundheitspolitik als Kontrollinstanzen bei der Prüfung und Beurteilung auch von Chirurgen. Nachweislich verfolgte die akademische Ärzteschaft in diesen Gremien – trotz des Beisitzes von Vertretern der Chirurgenzunft, wie es Tobias Geiger im erzählten Beispiel selbst war – oft standespolitische Ziele, die nichts mit einer inhaltlichen Kenntnis des Chirurgengeschäfts zu tun hatten.67 Für etablierte Chirurgen, denen an der Entwicklung städtischer und zünftischer Strukturen lag und die als angesehene Bürger ihrer Stadt eine aktive Rolle in der Gesundheitspolitik innehaben wollten,68 entstand aus dieser Konstellation vermutlich eine große Motivation, sich eben die Fähigkeit anzueignen, mittels derer die Ärzte sich bislang noch besonders profilieren konnten: eine auch für politische Zwecke zu instrumentalisierende, akademische Schrift- und Textkenntnis. Der Abschluss eines artes-Studiums bedeutete nicht nur einen ständischen Aufstieg, sondern v. a. auch den Erwerb von spezifischen Kommunikationsfähigkeiten, z. B. des topischen Schreibens.69 Dass Tobias Geiger davon spricht, dass ideale Spital-Medici solche seien, die „thails die humaniora dahin absolvieren, thails schon logicam“ (s. o.) absolviert hätten, also die Lateinschule und die artes (bevor sie dann, so ja der weitere Entwurf, in einem Spital nach Paduaner Vorbild in wichtigen Ergänzungsfächern ausgebildet werden), zeigt aus seiner Perspektive den Wert der artes-Qualifikation gegenüber dem eines universitären Medizinstudiums (in Deutschland). 65 Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 30r. 66 Die große Bedeutung von Schriftstücken im politischen Prozess – nicht nur als Inhaltsträger, sondern als symbolische Objekte – begegnet in der Frühen Neuzeit des öfteren. Tobias Geigers Vater entzettelte (im Wortsinne) einen Streit mit dem Rat von Rosenheim, weil dieser seine Abschiedsurkunde auf Papier und nicht Pergament geschrieben hatte, Johann Jacob Geiger aber keinen „solchen spöttischen Pierzettl alweil er [= der Rat] wol ein Pergament zu bezahlen vermag“ akzeptierte: Falk 1906, 345; Annemarie Kinzelbach beschreibt einen Konflikt am Ende des 16. Jahrhunderts, der an einem von einem Chirurgen geschriebenen und von einem Arzt zerrissenen Schauzettel entbrannte: Kinzelbach 2019. 67 Vgl. Sander 1989, 34. 68 Chirurgen zählten meist zur Honoratiorenschicht der Städte und waren, anders als Akademiker, oft auch Ratsmitglieder: vgl. Sander 1989, 125–129. 69 Vgl. S. Schlegelmilch 2019b.

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Sabine Sander hat anhand von Besitzstandsinventaren von dreizehn Waiblinger und Wildberger Chirurgen aufgezeigt, dass in allen von ihr untersuchten Haushalten privater Buchbesitz vorhanden war. Insgesamt konnte sie ca. 90 der Fachliteratur zuzuordnende (deutschsprachige) Buchtitel identifizieren.70 Allerdings bezieht sich ihre Studie auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts und beschreibt damit einen Befund, wie er ein Jahrhundert nach Tobias Geigers Schrift vorlag. Der Discursus stellt also auch insofern eine interessante Quelle dar, als er die literarische (Selbst-)Bildung eines Chirurgen in der Mitte des 17. Jahrhunderts dokumentiert, und wie dieser sie einsetzte, um politisch zu intervenieren. Schon der Titel seines Discursus Medicus et Politicus zeigt literarische Kenntnis, klingt doch im Titel der bekannte Traktat Medicus-politicus des Rodrigo de Castro (1614) an.71 Ihn nennt Geiger allerdings nicht, und die Formulierung „Medicus et Politicus“ legt die Betonung mehr auf die Doppelqualifikation des Ratgebers als auf eine Deontologie ärztlichen Verhaltens. Die längeren lateinischen Zitate des Discursus entstammen u. a. der Chirurgie des Franz von Joel (s. o.), der Praefatio Wilhelm Fabrys zu seinen Opera Omnia sowie der Daniel Sennerts zu seinen Practica, also allesamt lateinischen Texten, die sich zur Chirurgie äußern.72 Andere lateinische Einschübe wirken eher wie Teile aus eigenen Notizen.73 Geiger unterschied deutlich, wen er als Autorität für welches Gebiet gelten ließ: Dem Arzt Raimund Minderer, Verfasser einer Medicina Militaris (oder: Gemaine Handstücklein zur Kriegs Artzney gehörig), erteilte er eine gehörige Abfuhr; seine Schrift könne „nit helfen weil dieselb hinter dem Ofen geschriben worden, im Volk aber bei sovilen groben und starken zuestanden ein anders erfordert wirdt.“74 Ein deutlicher Einfluss auf den Discursus ergab sich sicherlich aus Geigers Lektüre der Werke Wilhelm Fabrys von Hilden. 1646 erschienen dessen Opera Omnia, die Geiger nachweislich studiert hatte; für ihn war Fabry das Beispiel eines nicht-akademischen, jedoch erfahrenen und gebildeten Chirurgen:

70 Vgl. Sander 1989, 83. 71 Vgl. dazu auch den Beitrag von Mariacarla Gadebusch Bondio und Katharina-Luise Förg in vorliegendem Band. 72 Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 1r–v, 16r–v, 37r–v. 73 So 8v–9v: hier werden Exempla für die Wertschätzung guter Medici durch Potentaten angeführt, von denen bspw. das erste eine Paraphrase der ersten der hippokratischen Epistolae darstellt. Geigers Aufzählung seiner Studienthemen oder der von seinen Söhnen besuchten Vorlesungen (s. o.) wirken ebenfalls wie Abschriften aus Studiennotizen. 74 Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 15v. Tatsächlich schreibt Minderer in der Vorrede seines Werkes explizit, dass er keinerlei Kriegserfahrung habe: Minderer, Medicina Militaris, 1620, Vorrede an den Leser (unpag.).

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Als zu Bern im Schweizer landt ist der weitberimbt und wolgelehrte herr Wilhelmus Fabricus Hillanus [!] gewest, welcher ob er wol kein gradum Academicum nit gehabt hat, weder Bacalaureus, noch Magister, weder Licentiatus noch doctor gewest, so geben doch seine scripta, observationes, und opera zu erkennen, wer es gewest seye, nemblichen in allen operationibus, und curationibus chirurgicis zu seiner Zeit seinesgleichen nit baldt im oberteutschland gewest ist, wie er dann in ganz teutschlandt, und vast in ganz Europa mit allen firnhemen medicis correspondiert, welche ihme dessen Zeugnus geben, wie aus seinen epistolis und andern zu sehen.75

In Fabrys Vorrede zu den Opera findet sich nicht nur die Definition des bonum publicum als Christenpflicht,76 sondern auch Pfuscherschelte und der Aufruf zur Examinierung aller nicht-akademischer Heiltätiger.77 Über Geiger hinausgehend, weist er hinsichtlich der „Politica“ auf die Nützlichkeit solider chirurgischer Kenntnisse bei Foltermaßnahmen hin.78 Mit Blick auf den Discursus ist jedoch wesentlicher, dass auch hier sowohl die Unabdingbarkeit einer vieljährigen handwerklichen Erfahrung betont wird79 wie auch die Notwendigkeit von Zusatzkenntnissen im Bereich der Anatomie,80 der Botanik81 und der Krankheitslehre82, die Fabry als theoretisches Modell charakterisiert („Haec omnia ex lectione optimorum authorum, non autem oculari inspectione Magistrorum discuntur“).83 Auch er übertritt also mit seinen Forderungen bereits die Grenze zur akademischen Medizin und damit auch deren Zuständigkeitsbereich, ja benennt den akademischen Arzt implizit sogar als ersetzbar durch einen gut aus75 Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 21r. 76 Fabricius, Opera observationum et curationum, hrsg. von Beyer 1646, [3] (erste Lage unpag.); vgl. die entsprechende Stelle bei Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 7v: „wie Hildanus in seiner praefatione observationum schreibt …“. Vgl. hierzu und zu beiden folgenden Fußnoten: Gadebusch Bondio 2018, 187–191. 77 Vgl. Fabricius, Opera observationum et curationum, hrsg. von Beyer 1646, [2], [4]. 78 Wenn der Gefangene zu schwer verletzt werde, werde er keine wahren Aussagen mehr machen; oft stürben auch Menschen während der Folter: vgl. ebd., [4]. Fabry begibt sich hier eigentlich schon in den Zuständigkeitsbereich der Scharfrichter, die zu Abschreckungszwecken bspw. Strafamputationen durchführen können mussten, ohne dass die Bestraften starben. 79 Ebd.: „Quum enim artem illam nostram ab experientia, usu, atque exercitatione procreatam, nullamque esse aliam, in qua experientia adeo sit necessaria, probe animadverterem, coepi ante annos quadraginta consignare ea, quae in tractandis aegrotis, & faciendis operationibus rara, & notatu digna mihi occurrebant.“ 80 ):( ):( 2r (Seitenangabe so im Original). 81 ):( ):( 2r–v. 82 Ebd., [4]: „Non enim sufficit Cheirurgum, manum, ad hanc vel illam operationem administrandam, expeditam habere, sed hoc imprimis etiam in eo requiritur, ut gravia symptomata, sectionem interdum consequentia, ut sunt dolores, tumores, inflammatio, gangraena, spasmus, febres ardentes, delirium, immoderatae vigiliae, & similia praecavere sciat.“ 83 ):( ):( 2r.

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gebildeten Chirurgen („non enim semper Medicum ad manus habere potest“).84 Dies ist ein Gedanke, den Geiger in seiner Argumentation in Bezug auf die Feldärzte mittels zahlreicher Exempla ausbaut.85 Waren Fürsten solchen Argumenten zugänglich? Es existieren Belege, dass Patienten Chirurgen, die auch Medikamente verschrieben, generell bevorzugten.86 Weitere Quellenfunde machen deutlich, dass einige der Fürsten bereits ab dem 16. Jahrhundert selbst Anstrengungen bezüglich einer Professionalisierung der Wundarznei unternahmen, die z. B. muttersprachlichen Unterricht für Wundärzte an der Universität sowie einen Transfer chirurgischen Wissens aus italienischen wie (süd)französischen Universitäten vorsahen.87 Die verärgerte Äußerung Kurfürst Augusts von Sachsen aus dem Jahr 1554, die Professoren der Medizin hätten hierzu „nicht sonderliche lust gehapt“88, zeigt den Widerstand, den die akademische Medizin an den Tag legte, um ihre vergleichsweise junge Disziplin zu schützen, aber auch, dass Forderungen, wie Fabry und Geiger sie erhoben, ungeachtet der Ansichten der universitären Medizin durchaus bei der Obrigkeit auf geneigte Ohren stoßen konnten. Wenn also der promovierte Chirurg Tobias Geiger Latein las, es auch insoweit beherrschte, als es für gelehrte Einschübe in einem deutschen Text nötig war, wenn er Gedanken aus dem Gelesenen übernahm und sie im Sinne seiner gesundheitspolitischen Argumentation in Bezug zu realen, lokalen Gegebenheiten und Problemen setzte, dann entsprach dies im Wesentlichen dem, was auch akademische Ärzte beim Abfassen ihrer Verwaltungsakten, Supplikationsschreiben und Gutachtentexte taten; und wenn noch dazu die Fürsten solchen Modellen gar nicht abgeneigt schienen, so wird nun deutlich, wieso sich die Ärzte in ihrer bislang nur ständisch begründeten Vormachtstellung bedroht fühlen mussten. Personen wie Tobias Geiger 84 Ebd. 85 Vgl. z. B. die Geschichte Johann de Werths, der am linken Arm von zwei Kugeln getroffen wurde, und „wann derselb nit wehre durch rechte medicos, die zuglaich Chirurgi gewest, recht wehre curiert worden, het es ihm gar wol das leben gelten khinden“ (stattdessen war er in der Lage, noch eine Festung zu erobern): Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 15v–16r. 86 Sander 1989, 108. Die strikte Trennung zwischen den Behandlungszuständigkeiten war gewöhnlich ohnehin nicht in allen Fällen gegeben (vgl. S. Schlegelmilch 2018, 206–207) und wurde nur thematisiert, wenn sich eine Partei in ihren Rechten beeinträchtigt sah: vgl. Sander 1989, 101 zu einem Chirurgen, der einträchtig mit einem Apotheker zusammenarbeitete, obwohl dieser ihn beim lokalen Collegium medicum hätte anzeigen müssen. 87 Vgl. U. Schlegelmilch 2020; Herzog Johann Friedrich von Württemberg an die Medizinische Fakultät Tübingen, Stuttgart, 18.04.1613 (Universitätsarchiv Tübingen, 20/3a, Nr. 3,3, Regest [T. Walter] unter: http://www.aerztebriefe.de/id/00006527, Zugriff: 18.08.2018). 88 Kurfürst August von Sachsen an die Medizinische Universität Leipzig, Freiberg, 11.06.1554 (Hauptstaatsarchiv Dresden, Bestand 10004 Kopiale, Nr. 260, 229v–230v, Regest [U. Schlegelmilch] unter: http://www.aerztebriefe.de/id/00034897, Zugriff: 18.08.2018).

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konnten mit Verweis auf Spitalorganisation, Militärversorgung und Seuchenbekämpfung umfassende praxisbezogene Lösungen entwerfen, wobei sie als Argument anführen konnten, durch ihre Doppelqualifikation zu allen medizinischen Therapien – im Bereich der äußeren wie inneren Medizin – in der Lage zu sein. Eben jenem August von Sachsen, der sich so verärgert über die Medizinprofessoren seiner Universität gezeigt hatte, widmete „Georg Bartisch vonn Königesbrück, Oculist, Schnitt und Wundt Arzt. Im Alten Dresden wohnhafftig. 1575“ sein „Kunstbuch. Darinnen ist der ganze gründliche volkommene rechte gewisse bericht underweisung und Lehr des hartenn Reissenden Schmerzhafftigen peinlichen Blasenn Steines …“. Wir besitzen damit neben Geigers Discursus eine zweite nur handschriftlich erhaltene Quelle, die sich aber mit Inhaltsverzeichnis, farbigen Kapitelüberschriften, Bucheinteilung sowie hervorragenden kolorierten Zeichnungen durchaus als eine Publikation (vermutlich für die Fürstenbibliothek) verstand. Als Schnittarzt und damit Heiler der schmerzhaftesten Zustände, die zum Krankheitsalltag der Frühen Neuzeit gehörten, machte Bartisch seinem Fürsten klar, dass er durchführen konnte, was kein akademischer Arzt vermochte, nämlich „greifbare“ Therapien: Aber der Kunst des Steinschneidens ist eine sölche Kunst, das mann einem Menschenn, der mit dem grausamen schmertzenn unnd Pein des Steins beladen ist, mit Gottes Hülff in einer Viertel stunden und manchmal viel eher, seine schmerzenns unnd Kranckheyt kann aus dem Leibe nehmen, dem Patienten in seine Handt und faust geben, das erß mit Augenn sehenn, mit feusten greiffen. Das sonst kein Artzt ann keiner Kranckheit noch schadenn thun kann.89

Die ausschließlich auf Medikation beschränkten Künste der akademischen Medizin erfuhren dagegen keine große Wertschätzung von ihm: Das achte Ich vor keine Kunst, unnd ist auch keine Kunst, wann man ann einem Pacienten, Vier, Fünff, Acht, Zehenn oder Zwölff wochen Curirt oder heilet. Ja offt ein halbes oder gantzes, auch wol Zwey, drey Jahr lang und lenger. Und den Menschen umb Zwenzig, Dreissig, Vierzigk, fünffzig, ia oft umb ezliche hundert Guldenn oder Taler bringet. Unnd wirdt dennoch wol dem Menschen nicht geholffen, Stirbet auch zum offtermal gar darüber.

Das Kunstbuch enthält also nicht nur Informationen zum Steinschnitt, sondern auch gesundheitspolitische Äußerungen, von denen uns einige bekannt vorkommen: Polemik gegen ungelernte (und offensichtlich auch: rein akademische) Heiltätige; die Aufforderung, Fahrende zu examinieren und professionelle 89 Bartisch, Kunstbuch, 1575, 4r.

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Schnittärzte und Okulisten in den Städten zu bestallen, so dass ihnen die Sesshaftigkeit und der Bevölkerung eine geregelte Versorgung ermöglicht werde; schließlich die Ermahnung an die eigene Zunft, grundständig chirurgisch auszubilden und sich persönlich durch Buchlektüre (auch auf Latein) weiterzubilden.90 Was von Tobias Geiger nicht thematisiert wurde, da es thematisch nicht zur Stoßrichtung seiner Intervention passte, aber das wichtigste Anliegen des Kunstbuch ist, ist eine Darstellung des konkreten Wissens, das die chirurgisch tätigen Heiler den akademischen aus ihrer Perspektive voraus hatten: das Wissen der tastenden Hände und den Gebrauch der Instrumente. Hier steht in eindrucksvollen Bildern der Chirurgia medica der Universität die Chirurgia instrumentalis der Handwerkschirurgen gegenüber. Die abgebildeten Zeichnungen Bartischs (Abb. 1–3) machen zudem deutlich, dass die späteren Entwicklungen einer „professionalisierten“ Frauenheilkunde ebenfalls aus dem Wissen der Chirurgen, nicht dem der akademischen Ärzte hervorgehen sollten.91

Abb. 1: Handhaltung beim Ertasten des Steins. Bartisch, Kunstbuch, 1575, 97v. 90 Vgl. Bartisch, Kunstbuch, 1575, 7r–v, 8v–9r, 14r–v, 20r–v, 22r. 91 Sowohl die heute in der Gynäkologie noch als „Steinschnittlage“ bezeichnete Position der Frau auf dem Untersuchungsstuhl wie auch das Speculum als ursprünglich für die Spreizung von Wunden verwendetes Instrument illustrieren den Einfluss der Chirurgen auf die sich neu entwickelnde Frauenheilkunde; vgl. S. Schlegelmilch, 2019a. Die abgebildete Handhaltung (Abb. 1) wurde ebenfalls, nur mit einem statt zwei Fingern, für das diagnostische Tasten in die Frauenheilkunde übernommen; vgl. Busch 1838, Tafel XXVII, Figur 185.

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Abb. 2: Vorbereiten des Patienten in korrekter Position für die Operation. Bartisch, Kunstbuch, 1575, 141r.

Abb. 3: Specula zur Schnitterweiterung vor Entfernen des Steins. Bartisch, Kunstbuch, 1575, 102v.

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Ebenso wie das diagnostische Tastwissen der Ärzte in der älteren Medizingeschichtsschreibung einer überstrapazierten Trennung von Chirurgie und Medizin zum Opfer fiel,92 so wurde das Wissen der Chirurgen, wenn überhaupt als solches thematisiert, auf den Gebrauch von Gerätschaften reduziert. Das besondere Interesse der Chirurgen an der Anatomie, insbesondere den Sektionen, zielte jedoch vermutlich nicht nur auf eine Verbesserung sicherer Schnittverfahren u. ä., sondern auch auf das Verständnis des Ertastbaren. Dass in diesem Tastwissen eine besondere Kompetenz guter Chirurgen lag, macht Bartischs Forderung deutlich, sich im Lautenspiel o. ä. zu üben: „Dadurch bekömpt ein Artzt seine gelencke gefüge. Subtile, gelinde gliedt massen und finger. die einen Zu dieser Kunst sehr nützlich und nötig sein.“93 Die ersten Zeichnungen im „Kunstbuch“ zeigen auch nicht Instrumente, sondern nach Bartischs Selbstporträt mit Messer und „Probierinstrument“ eine Sektionsszene und eigenhändige anatomische Zeichnungen des männlichen und weiblichen Urogenitaltraktes, die als aufklappbare Bilder gestaltet sind; sie zeigen so zum einen Schichten, die bei einem Steinschnitt zu durchtrennen sind, visualisieren aber auch, was zu ertasten ist.94 Auch in den Observationes Wilhelm Fabrys scheint dieses Tastwissen in einzelnen Fallgeschichten auf.95 Prominenter steht freilich bei Bartisch und v. a. allen nachfolgenden Publikationen aus der Feder von Chirurgen das Instrumentenwissen; es wird zu einem einschlägigen Merkmal der Profilierung. Sowohl Wilhelm Fabry wie auch Johannes Scultetus (1595–1645), der eine umfassende Bestandsaufnahme chirurgischer Instrumente und Verfahren verfasst, benennen das Bemühen um eine möglichst präzise, maßstabsgetreue Abbildung der von ihnen verwendeten, v. a. auch neu entwickelten, verbesserten Instrumente als Ziel ihrer Werke, Scultetus betitelte das seine sogar als „Waffenkammer“: Armamentarium Chirurgicum (1655). Unwillkürlich lässt dies wieder an Johann Jacob Waldschmidt und seine „Phalanx“ der mit Instrumenten bewaffneten Chirurgen denken.

92 Vgl. S. Schlegelmilch 2018, 173–175. 93 Bartisch, Kunstbuch, 1575, 11v–12r. 94 Vgl. „Das erste Buch“ (unpag.). 95 Vgl. z. B. Fabricius, Opera observationum et curationum, hrsg. von Beyer 1646, 34 (Obs. I, 60) zum Anbringen eines setaceum im Nacken eines Patienten: Der Chirurg zeichnet zuerst in der Mitte des Nackens den Verlauf der Wirbelsäule nach, danach rechts und links davon zwei Punkte entweder zwischen dem zweiten und dritten, oder dem dritten und vierten Halswirbel, wo der Gehilfe die Haut mit Fingern anheben muss, damit der Chirurg sie durchbohren kann.

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Abb. 4: Porträt von Malachias Geiger mit den Attributen für Studium und Handwerk innerhalb und außerhalb der Vignette: Bücher und Instrumente. Kupferstich von Johann Christoph Smischek.

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All diese Beobachtungen machen deutlich, dass Tobias Geiger mit seiner Schrift von 1656 hinsichtlich seiner Selbstwahrnehmung sowie Selbstdarstellung in einer Tradition stand, die bereits im 16. Jahrhundert ihren Anfang genommen hatte. Er beschränkte sich in seiner Eingabe an den Fürsten auf gesundheitspolitische Vorschläge (von denen einige bereits bei früheren Autoren zu finden sind), konnte sich aber von chirurgischen Publikationen wie denen Fabrys oder des Scultetus flankiert wissen, die der akademischen Welt das professionelle Wissen seiner Zunft vor Augen führten. Ich möchte diesen Aufriss eines guten Jahrhunderts Chirurgiegeschichte (Bartisch schrieb 1575, Waldschmidt 1687) mit einem Blick auf Malachias Geiger (Abb. 4) beschließen, Tobias’ Sohn, der exemplarisch für die „rechten Medici“ in zweiter Generation steht. Wie Tobias’ Brüder, wie die Söhne von Fabry, Scultetus und die anderer Chirurgenfamilien war er handwerklich ausgebildet und studierte im Ausland.96 Malachias Geiger publizierte auf Latein; seine Keleagraphia (1637) oder der Microcosmus hypochondriacus sive de melancholica hypochondriaca tractatus (1652), die sein Vater stolz in seinem Discursus erwähnte,97 werden aufgrund ihrer Abfassungssprache und ihrer Themenwahl von der traditionellen Medizingeschichtsschreibung gewöhnlich unbesehen einer akademischen Medizin zugeschlagen, die als gegensätzlich zu nicht-akademischen Heilberufen verstanden wurde. Der volle Titel der Keleagraphia, nämlich: sive descriptio herniarum cum earundem curationibus tam medicis tam chirurgicis verrät aber bereits, was in Widmungsbrief und Vorrede des Druckes dann umso deutlicher wird. Malachias Geiger widmete seinen Traktat dem Kurfürsten Maximilian I., gleichzeitig aber auch seinem eigenen Vater, dem er an dieser Stelle für seine Ausbildung dankte. In der Vorrede vertrat er nun selbst dessen gesundheitspolitische Forderungen und verbreitete sie – im Druck und in der Gelehrtensprache: Um die Chirurgie stehe es schlecht, da die Medizin nicht mehr wie zu Hippokrates’ Zeiten ver-

96 Zu Tobias Geigers Brüdern Daniel und Samuel sowie seinen Söhnen s. o.; Peter Fabricius studierte in Padua: vgl. Jones 1960, 118; Johannes Scultetus der Jüngere studierte nach der chirurgischen Ausbildung durch seinen Adoptivvater in Straßburg und Padua: Seiz 1974, 25; Tobias Geiger nennt außerdem als Beispiele „rechter Medici“ (21v–22v) „die Englberger … zu Lindau am Podensee gesessen, Vatter, Söhn, brider, und Schwäger, darundter Magistri, doctores gewest, von welchen noch geschribene tractat verhandten“, in Augsburg „die Stromaier gebrider, die auch doctores medicinae et Chirurgiae gewest“ (und beides als Spitalleiter praktiziert haben) und „nit weniger doctor Damiller, dessen Vatter erstlich ein Barbierer gewest ist, nach deme er aber pro doctore Chirurgiae ist zu Padua creiert worden, ist derselb auch zu einem Leibmedico angenommen und von Augsburg nach München komen“ (Vater und Sohn praktizierten dann die ganze Bandbreite chirurgischer Behandlungen). 97 Geiger, Discursus Medicus et Politicus, 1656, 6v.

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einigt sei („Medicina interior cum exteriore coniuncta“);98 stattdessen gelte die Chirurgie den Ärzten als schmutziges Geschäft.99 Jedoch stellten, wenn man Malachias Geiger glauben wollte, die doppelt qualifizierten Chirurgen-Ärzte die eigentlich kompetenten Führungskräfte im Medizinalwesen dar. Er schilderte dem Fürsten selbstbewusst seine Rolle während der auf den Krieg folgenden Pestjahre: Wieviele bislang ungewohnte und unbekannte Erkrankungen aber unseren Einwohnern und Bürgern durch diese Geißeln Gottes hinterlassen wurden; das zeigen offen die in unserer Stadt durch die christliche Wohltäterschaft, Freigiebigkeit, Nächstenliebe und Barmherzigkeit der Fürsten gegründeten Gästehäuser für die Reisenden, Krankenhäuser für die Kranken, Kinderheime für die Mündel, Altenheime für die Greise, Brüder- und Waisenhäuser für die ärmeren und von Not betroffenen unserer Bürger und deren Kinder; und deren Heilung habe ich, sowohl Arzt wie Chirurg, bald 20 Jahre in Folge, mit wenigen Gehilfen, sowohl in medizinischen, wie in chirurgischen wie auch in Steinschnitt-Fällen, wie ein Kapitän unter Seeleuten, wie ein Architekt unter Bauleuten und Arbeitern, ein Führer unter Soldaten, nicht nur als Befehlshaber, sondern oft und selbst durch eigenes Handanlegen vorgestanden und tue es immer noch.100

Hier finden wir erneut einen Befund, der im Konkurrenzkampf zwischen Medizin und Chirurgie nicht ignoriert werden konnte: Nicht der abstrakte Raum der Publikationslandschaft, in die die Chirurgen nun mit ihren Darstellungen eindrangen, war der eigentliche Kampfplatz der Disziplinen, sondern der städtische Alltag, in dem nun promovierte Chirurgen praktizierten. Sie waren durch den ständischen Aufstieg zu Gelehrten den akademischen Ärzten gleichrangig, konnten aber die nötigen Lehrbriefe und Ausbildungszeugnisse vorweisen, um sich in den Städten bei der jeweiligen Zunft das Recht zu erwerben, auch als 98 Geiger, Keleagraphia, hrsg. von Heinrich 1637, Praefatio unpag. [3]; zum „HippokratesTrick“ als einer rhetorischen Strategie der Autorisierung vgl. Schlegelmilch 2020. 99 Ebd., [4–5]: „Chirurgia itaque hoc modo a Medicis neglecta, excussa & reiecta est, hincque lautiores effecti, chirurgicam operam ministerium vile, & officium sordidum esse sunt arbitrati, tractare nimirum vulnera, extergere saniem, mundare sinus ac fistulas, & similia, abscoenitatis (!) opera esse reputantes.“ 100 Geiger, Microcosmus hypochondriacus, hrsg. von Straub 1652, A4v: „Quantas autem haec Dei flagella … incolis & civibus nostris relinquerint, antehac inusitatas & incognitas aegritudines, hoc Xenodochia quae peregrinis, Nosocomia quae aegris, Paedotrophia quae pupillis, Gerontodochia quae senectae aetati, Adelphotrophia & Orphanotrophia que Civibus nostris pauperioribus, inopia consumptis, & librorum eorum in nostra urbe ex Christiana Principum & aliorum benignitate, liberalitate, charitate, & misericordia fundata patent, & quorum curationibus, ego tanquam Medicus & Chirurgus, iam per viginti annos continuos, cum ammanuensibus paucis, tam in medicis, quam in chirurgicis, & lithotomicis casibus, tanquam Nauclerus inter nautas, Architectus inter operarios & opifices, Dux inter milites, non solum imperando, sed saepius ipsemet manum administrando, praefui & adhuc praesum.“

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Chirurgen tätig zu sein.101 Malachias Geiger praktizierte in München (wie auch Wilhelm Fabry in Bern und Johannes Scultetus d. Ä. in Ulm) in der Funktion eines Stadtarztes gleichzeitig als Chirurg und als Arzt.102 Dieses Phänomen war offensichtlich auch nicht auf den süddeutschen Raum begrenzt: Ulrich Schlegelmilch benennt mit Andreas Adam (in Helmstedt), Matthias Glandorp und Michael Harmes (beide in Bremen) gleich drei promovierte Chirurgen, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Norddeutschland doppelte Praxen führten.103 Als Inhaber des Amtes wurde Geiger außerdem Mitglied im Münchner Collegium Medicum, Hof- und Leibarzt und gelangte zu beträchtlichem Wohlstand – wie schon sein Vater. Tobias Geiger hinterließ nicht nur acht verschiedene Bauerngüter, sondern richtete überdies mit Geldern aus deren jährlichem Ertrag ein (bis in das 19. Jahrhundert bestehendes) Stipendium ein, das dafür Sorge tragen sollte, dass auch in künftigen Generationen die Mitglieder der Familie Geiger studieren konnten.104 Nach seinem Vorbild sollten noch viele Geigers „rechte Medici“ werden.

Zusammenfassung Ziel dieses Beitrages war es, ausgehend von Tobias Geigers Traktat Discursus Medicus et Politicus das Selbstbild einer spezifischen Berufsgruppe zu analysieren. Für den Zeitraum der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ließen sich dabei anhand von Manuskripten und Drucken aus der Feder verschiedener Chirurgen bestimmte Charakteristika in der Wahrnehmung der eigenen Profession sowie deren politischer Anliegen feststellen. Sie sollen aufgrund der Vielfalt des behandelten Materials an dieser Stelle noch einmal zusammengefasst sein: Die Selbstdarstellung der hier vorgestellten Chirurgen dominiert ein aus der Expertise ihres Handwerks hervorgehendes Selbstbewusstsein, das sich auf 101 Chirurgen, die nicht in der entsprechenden Stadt ausgebildet worden waren, mussten sich dafür gegen Gebühr in eine Zunft einkaufen, so z. B. Wilhelm Fabry in Köln: vgl. Jones 1960, 115. 102 Zu Fabry vgl. Jones 1960, 118. Zu Scultetus vgl. Seiz 1974, 14–17. Seiz’ Vermutung, Scultetus habe nur als Chirurg für die Stadt Ulm fungiert, wird durch die von ihr selbst im folgenden geschilderten Behandlungen widerlegt; sie thematisiert auch Scultetus’ doppelte Identität: „Dass der Wundarzt sich durchaus als Arzt verstand, beweisen z. B. hier in Ulm zahlreiche Bildinschriften im Handwerksbuch der Baderzunft.“ (Seiz 1974, 20.) 103 Adam hatte in Basel promoviert, während Glandorp und Harmes nach Padua gegangen waren: vgl. U. Schlegelmilch 2020, mit Anm. 65. 104 Vgl. Falk 1906, 352.

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eine der universitären Laufbahn nicht unähnlich strukturierte Ausbildung berief. Die aus dieser Ausbildung hervorgehenden erworbenen Wissensbestände umfassten ein strukturiertes Körper-, Instrumenten- und Pharmaziewissen, dessen langjährige Einübung besondere Betonung erfuhr. Dass akademische Ärzte der Frühen Neuzeit unentwegt die eigene experientia als Schlüsselkompetenz ihrer Disziplin bewarben, muss auch vor diesem Hintergrund einer im Alltag gegenwärtigen Konkurrenz gesehen werden. Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wird innerhalb der Berufsgruppe der Chirurgen der (ständische) Aufstiegswille einer Teilgruppe bemerkbar, die sich akademisiert, was primär als Reaktion auf die sich neu entwickelnden Medizinalordnungen der Fürstentümer und die dort verankerte Kontrollmacht der akademischen Ärzte zu verstehen ist. Die Stoßrichtung dieser Akademisierung war in politischer Hinsicht zweifach motiviert: Die Chirurgen stiegen nicht nur in den Gelehrtenstand auf, sie erwarben auch – von der Medizin gänzlich unabhängige, in Sprach- und Textkenntnis verankerte – normierte Kommunikationsfähigkeiten, die sie zum Vertreten einer eigenen (schriftlichen) Position in der Gesundheitspolitik befähigten. Tobias Geigers Traktat steht hierfür exemplarisch. Was die inhaltliche Weiterbildung betraf, so verstanden die Chirurgen diese offensichtlich als Vertiefung und Ausdifferenzierung ihres bereits vorhandenen Wissens und somit als eine sekundäre Qualifikation: Durch den Einblick in einen toten Körper während der anatomischen Sektionen ergänzten sie ihr durch Tasten und Schneiden erworbenes Körperwissen; durch Studien der Botanik und Arzneilehre bauten sie das eigene, bereits in den Meisterstücken abgeprüfte Medikamentenwissen aus; die an den Universitäten vermittelte Krankheitslehre verstanden sie als ein ergänzendes Buchwissen, das man sich, gemessen an der langen Ausbildungszeit im Handwerk, relativ schnell und im Eigenstudium aneignen konnte. Es ist hierbei auffällig, wie viele Chirurgensöhne, die nicht wie Tobias Geiger ein selbstfinanziertes Studium neben der Ausübung der Praxis verfolgten, ihre Studien und die Promotion an ausländischen Universitäten (hier v. a. Padua) absolvierten, wo im Gegensatz zum Reichsgebiet eine praxisorientierte Lehre stattfand und die Trennung von Medizin und Chirurgie nicht existierte. Kamen sie zurück, stellten sie eine starke Konkurrenz für die akademischen Ärzte dar, da sie als Chirurgen und Ärzte praktizieren durften, was den Patienten als Modell sinnvoll und der Obrigkeit ökonomisch überzeugend erscheinen musste. Wichtig ist, dass diese studierten Chirurgensöhne sich weiterhin stark mit dem Handwerk identifizierten, wie auch das Porträt Malachias Geigers erkennen lässt (vgl. Abb.4). Wenn dieser mit der Antike argumentierte, um einen (wiederzubelebenden) Zustand der Einheit von Medizin und Chirurgie heraufzubeschwören, bediente er sich einer bekannten akademischen Strategie, benann-

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te im Kern aber eigentlich ein Problem, das sich spezifisch für das Gebiet des Alten Reiches erst mit dem 16. Jahrhundert entwickelt hatte: Mit der Gründung der zahlreichen Universitäten durch die sich neu konsolidierenden Fürstentümer drangen mehr und mehr akademische Ärzte auf einen bereits bestehenden medikalen Markt und beanspruchten, abgeleitet aus ihrem Stand und ihrem Buchwissen, eine führende Rolle im Gesundheitssystem und einen eigenen Zuständigkeitsbereich in der Krankenbehandlung (Medikation von inneren Krankheiten). Wie am Beispiel Georg Bartischs zu sehen war, lässt sich bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hiergegen ein Widerstand der Chirurgen spüren, deren „alte chirurgische Traditionslinie, … die Herstellung äußerlich applizierbarer Medikamente und Wundtränke“105 bereits im Gebiet der Arzneimittellehre verankert war, und die gleichzeitig eine große Bandbreite anderer Leiden professionell behandeln konnten. Sabine Sander übersetzte die Behandlungskompetenzen der Chirurgen provokant in moderne Terminologie und zählte die Disziplinen auf, die sie ausübten: „Augenheilkunde, Chirurgie, Dermatologie, Geburtshilfe, Gynäkologie, Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Orthopädie, Proktologie, Rechtsmedizin, Urologie, Venerologie und Zahnmedizin.“ Sie resümierte: „Wie die Untersuchung der Ressorts der akademischen Ärzte und der Chirurgen im traditionellen Gesundheitswesen eindeutig zeigt, waren die späteren Spezialfächer vorher chirurgische Arbeitsgebiete. Nicht die innere Medizin, sondern allein die Chirurgie kann die ‚Mutterrolle‘ für sich beanspruchen.“106 Kommentare wie die Bartischs, es wäre viel sinnvoller, die Leichen solcher Personen zu sezieren, die lange krank waren oder ganz plötzlich verstorben sind, als die gehängter Verbrecher (wie es an den Universitäten geschah),107 Tobias Geigers ebenfalls in diese Richtung gehende Sektionen von Armenpatienten im Spital sowie seine Forderungen nach Spezialabteilungen, oder auch ganz generell die Ausbildung der jungen Chirurgen im direkten Patientenkontakt nehmen ohne Zweifel bereits spätere Strukturen der Klinik vorweg. Auch die Profilierung der Medizin über neuerfundene Instrumente und Operationsverfahren als spezifisches Erbe der Chirurgia instrumentalis zieht sich mindestens bis ins späte 19. Jahrhundert, wo sich dann bei mittlerweile industrieller Reihenanfertigung die Namen der „Erfinder“ in die Instrumente graviert finden.

105 Sander 1989, 69. 106 Ebd., 60. 107 Bartisch, Kunstbuch, 1575, 3v: „Wann mann so viele tode vorstorbene Menschenn, die Zuvor sehr und lange Kranck gelegen weren, offte auch plotz und jehling gestorben, Auffschnitte, im Leibe besuchte, wo würde man mehr neuer Kranckheittenn, Innerliche scheden und gebrechenn bey ihnen, alß bey gehengten Dieben am galgenn, findenn.“

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Man muss sich somit wundern, wie stark die Berufsgruppe der Chirurgen tatsächlich von der traditionellen Medizingeschichtsschreibung verdrängt worden ist. Gleichzeitig sollte man vorsichtig sein, die Rolle der Chirurgen hinsichtlich der Entwicklungen der frühneuzeitlichen Medizin nun in gleichem Maße einseitig überzubewerten wie es zuvor mit Blick auf die akademischen Ärzte geschah. Alle hier analysierten Texte sind auf ihre Art und Weise Höhenkammliteratur. Alle Autoren hätten Johann Jacob Waldschmidt in dem Punkt seiner Polemik zugestimmt, dass es unerhört sei, dass Chirurgen Lehrlinge annehmen, die nicht lesen und schreiben können.108 Gleichzeitig schrieb nur Bartisch noch auf Deutsch, Fabry ließ seine Observationes in Lateinische übersetzen;109 dies bedeutete zwar die Aneignung eines bis dahin der akademischen Medizin vorbehaltenen Mediums durch die Chirurgie,110 aber welcher Lehrling konnte sich durch solche Bücher fortbilden? Kein Latein zu können, war andererseits nicht gleich wieder gleichzusetzen mit vollständigem Analphabetentum; handschriftliche Gebrauchstexte von Chirurgen, wie z. B. das Deutsche Arzneystücklein des Chirurgen Adam Scholtz, auf dessen Titelblatt dieser die Inhalte seiner Ausbildung und seinen Meister vermerkte,111 sind bislang von der Forschung nicht beachtet und noch weniger gezielt gesucht worden. Ebenso unerforscht sind bislang die Übersetzung lateinischer und andere fremdsprachiger Werke zur Chirurgie ins Deutsche, also die Erschließung des publizierten Wissens für die Berufsgruppe, die es wirklich betraf.112 Schließlich fehlen auch Studien zur sozialen Schichtung der Studenten an deutschen, v. a. aber an den einschlägigen Universitäten im Ausland, um den Anteil der „Aufsteiger“ unter den Chirurgen und damit auch das Ausmaß ihrer potentiellen Einflussnahme auf die Gesundheits- (und damit auch: Bildungs-)politik zu untersuchen. Tobias Geigers Discursus stellt eine spannende Quelle dar; aber bislang bleibt die Frage offen, welche Rolle die „rechten Medici“ im weiteren Verlauf 17. und des 18. Jahrhunderts tatsächlich spielten.

108 Waldschmidt/Waldschmidt, Chirurgus Cartesianus, hrsg. von Stock 1687, A3r: „nam solent nunc Chirurgi pueros ad tyrocinium Chirurgiae admittere, qui vix literas pingere norunt, nedum in humanioribus jecere fundamenta“. 109 In der Vorrede zu seinen Opera Omnia erzählt Fabry, wie es dazu kam: Johannes Rheterius, ein in den drei heiligen Sprachen wohlbewanderter Theologe, habe ihn zuhause besucht, sich seine Fälle durchgelesen und Fabry ermutigt, sie zu publizieren; Rheterius habe dann auch die Übersetzung der Fälle besorgt; Fabricius, Opera observationum et curationum, hrsg. von Beyer 1646, ):( ):(r. 110 Vgl. Meli 2017, 115. 111 Vgl. Quellenverzeichnis. 112 Ein entsprechendes Projekt wird von der Verf. vorbereitet.

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Friedrich Hoffmann widmete in seinem 1738 erschienenen Traktat Medicus politicus ein ganzes Kapitel dem Umgang des Arztes mit dem Chirurgen. Die Teilkapitel verraten einen deutlichen Dominanzwillen gegenüber dem als untergeordnet verstandenen Kollegen. Nicht zu übersehen ist jedoch, dass zu den auf dem Titelblatt angekündigten „Regeln der Klugheit“ (regulae prudentiae) für eine erfolgreiche Praxis eine Forderung zu finden ist, die so 100 Jahre zuvor nicht formuliert worden wäre: „Medicus nosse debet Chirurgiam“ – „ein Arzt muss die Chirurgie kennen“.

Bibliographie Handschriftliche Quellen Bartisch, Georg (1575): Kunstbuch. Darinnen ist der gantze gründliche volkommene rechte gewisse bericht underweisung und Lehr des hartenn Reissenden Schmerzhafftigen peinlichen Blasenn Steines … Durch Georg Bartisch vonn Königesbrück, Oculist, Schnitt und Wundt Arzt. Im Alten Dresden wohnhafftig. 1575. Sächsische Landesbibliothek, Staatsund Universitätsbibliothek Dresden, Mscr.Dresd.C.291. Geiger, Tobias (1656): Discursus Medicus et Politicus. Was bey einem LeibMedico in facultate medica zu considerieren, das derselb tempore pacis, belli et pestis also qualificiert, das man sich auf denselben verlassen derffe, darbey auch zu sechen, was für abusus in facultate medica seyen eingerissen, wie dieselben zuverbessern, unnd wider auszureitten wehren, unnd durch mittl aines ansechlichen ordentlichen Spitals Junge Medici, welche nit allein in Physicis, Chirurgicis, Anathomicis, Podanicis, Chimicis, unnd Pharmaceuticis mechten erzogen werden, bey welchem alzeit nit weniger woll stundte, unnd hechtens von nethen wehre, das sye in Lithotomia, Ophtalmia, unnd Curatione Herniarum versiert wehren. Anno 1656. Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 3733. Herzog Johann Friedrich von Württemberg an die Medizinische Fakultät Tübingen, Stuttgart, 18.04.1613 (Universitätsarchiv Tübingen, 20/3a, Nr. 3,3, Regest [T. Walter] unter: http:// www.aerztebriefe.de/id/00006527, Zugriff: 18.08.2018). Kurfürst August von Sachsen an die Medizinische Universität Leipzig, Freiberg, 11.06.1554 (Hauptstaatsarchiv Dresden, Bestand 10004 Kopiale, Nr. 260, 229v–230v, Regest [U. Schlegelmilch] unter: http://www.aerztebriefe.de/id/00034897, Zugriff: 18.08.2018). Scholtz, Adam (1570): Deutsches Arzneystücklein. Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu, M 1026.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1–3: Farbzeichnungen aus dem „Kunstbuch“ des Georg Bartisch (1585), SLUB Dresden/ Mscr.Dresd.C.291, hier Bl. 79 v, fol. 102v, fol. 141r. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Sächsische Landesbibliothek, Staats- und Universitätsbibliothek Dresden. Abb. 4: Porträt von Malachias Geiger. Kupferstich von Johann Christoph Smischek. Abbdruck mit freundlicher Genehmigung von: LWL-Museum für Kunst und Kultur (Westfälisches Landesmuseum), Münster /Porträtarchiv Diepenboick.

Daniel Schäfer

Gutes Alter(n) als Tugend? Medizinische und theologisch-philosophische Impulse aus der Frühen Neuzeit Alterungsvorgänge sind aus Sicht der modernen Gerontologie und Geriatrie multifaktoriell bedingt: Neben genetischen und Umwelteinflüssen, Krankheiten und Ernährung gelten inzwischen auch sozialer und psychischer Stress als wesentliche Ursachen für rasches Altern.1 Angesichts dieser vielfältigen Ätiologie wird in der medizinischen Forschung biologisches Altern (ähnlich wie Gesundheit) auch als ein individueller Vorgang angesehen, der hinsichtlich seiner inund extrinsischen Faktoren bis zu einem gewissen Grad beeinflusst werden kann, beispielsweise durch Ernährung und Lebensgestaltung. Gleichwohl wird die – aufgrund dieser Forschungsergebnisse eigentlich naheliegende – moralische Überlegung, dass viele Menschen für ihren früheren oder späteren Alterungsprozess und auch für die Qualität ihres Alterns ein Stück weit selbst verantwortlich sind, nur selten explizit geäußert und die medico-politische Dimension dieser Ansicht gänzlich außer Acht gelassen.2 Vielmehr erscheint vielen Menschen Altern immer noch als ein schicksalhafter, lebenslanger Vorgang, den man hinnehmen muss, aber nicht aktiv steuert. Allerdings fasst der seit den 1980er Jahren popularisierte Slogan „Erfolgreich altern“3 (successful ageing) multidisziplinär nicht nur Bedingungen zusammen, unter denen Altern zu einem insgesamt positiven Prozess sich entwickeln kann (Adaptation an biologische, psychologische und soziale Veränderungen im Alter, Kompensation bzw. Coping der entsprechenden Stressoren),4 sondern er impliziert auch, dass damit für die Einzelnen Aufgaben verbunden sind: Erfolg ist in unserer Leistungsgesellschaft meist Folge von Einsatz und Leistung. Dass Altern – genauso wie Gesundheit5 – eine Tugend sein könnte und damit im weiteren Sinne auch eine individuelle oder gesellschaftspolitische Aufgabe, war in früheren Epochen wesentlich geläufiger. Gerontologische Themen wurden in der frühneuzeitlichen Medizin schon lange, bevor es die Begriffe Ge1 Nach Entringer 2014 kann Stress beispielsweise zelluläre Reparaturvorgänge (etwa durch das Enzym Telomerase) hormoninduziert im Körper einschränken. 2 Am ehesten findet sich das Argument eines verantworteten Alterns noch in der präventiven Anti-Ageing-Medizin oder im kosmetischen Bereich. 3 Zur kritischen Diskussion dieses Begriffs vgl. Wahl 2015. 4 Vgl. Jopp 2002, 11–13. 5 Vgl. Bergdolt 1999, 15. https://doi.org/10.1515/9783110612349-007

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rontologie und Geriatrie gab,6 systematisch abgehandelt. Neben der Pathologie und Therapie standen Überlegungen zur Altersphysiologie im Zentrum des Interesses. Protogeriatrische Schriften und Texte zur Langlebigkeit – letztere häufig von Außenseitern der gelehrten Medizin verfasst – befassten sich häufig mit diesem Thema.7 In beiden Textgruppen finden sich dabei auch Hinweise auf eine moralische Verantwortung für Alterungsprozesse. In einem ersten Abschnitt dieses Beitrags sollen daher einschlägige Theorien des 16. bis 18. Jahrhunderts zur Alterung und ihre moralischen Implikationen kursorisch vorgestellt werden. Um 1600 kam es außerdem in Kreisen des theologisch-philosophischen Späthumanismus zu einem Revival der altersdefensiven (das Alter verteidigenden) Cato-Maior-Schrift Ciceros unter besonderem Vorzeichen: Hier wurde Alter(n) nicht nur als positive Lebensphase, sondern explizit auch als Frucht eines tugendhaften Lebens imaginiert. Daher wird im zweiten Teil des Beitrags dieses „Gut des Alters“ (Bonum senectutis) und sein historisches Umfeld vorgestellt und interpretiert. Und abschließend soll überlegt werden, was von diesen Konzepten eines „tugendhaften Alter(n)s“ in der aktuellen gerontologischen Praxis unter Berücksichtigung des Ziels successful ageing noch relevant sein könnte.

Medizinische Alter(n)skonzepte und die Frage nach der Tugend Die frühneuzeitliche Heilkunde Europas systematisierte gerontologisches und geriatrisches Wissen aus der klassischen Antike und dem islamischen und europäischen Mittelalter und entwickelte es sukzessive weiter.8 Im Bereich der Altersphysiologie dominierte bis etwa 1650 die Theorie des Galenismus, wie sie beispielsweise in Galens Schriften De marcore und De sanitate tuenda lib. V angelegt, aber erst in den Kompilationen der islamischen Medizin entfaltet wurde: Altern ist demnach ein lebenslanger Prozess der Austrocknung und Abkühlung; der Mensch wird mit einem Maximum an Wärme (Calor innatus) und Feuchtigkeit (Humidum radicale) geboren und verliert diese Lebensgrundlagen fortwährend. Alte Menschen sind daher (entsprechend dem Schema der Säfte- und Qualitätenlehre) intrinsisch kalt und trocken und damit tendenziell schwarzgallig („melancholisch“). Da ihre Verdauung durch Wärmemangel insuffizient ist, 6 Vgl. Schäfer/Moog 2005. 7 Vgl. Schäfer 2008. 8 Für die folgende Übersicht grundlegend Schäfer 2004.

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können sie Nahrung nur unvollständig in Blut und Lebenswärme verwandeln, weshalb die partiell mögliche Wiederherstellung (reparatio) der Lebensgrundlagen sich fortwährend verschlechtert – ein Circulus vitiosus, der den Alterungsprozess beschleunigt. Gleichzeitig sammeln sich un- oder schlecht verdaute Nahrungsreste als flüssig-schleimige Abfallstoffe im alternden Körper an; er ist daher extrinsisch feucht und neigt daher über die melancholia hinaus zur Pathologie des Phlegmatischen. Dieses im Grunde materialistische Konzept orientierte sich primär an Analogien zur Natur9 und stellte den Alterungsvorgang explizit als natürlichen Prozess dar, der unvermeidlich und (trotz Annäherungen an die Fieberpathologie des Marasmus) per se keine Krankheit ist.10 Trotzdem stellen protogeriatrische, insbesondere aber Texte zur Langlebigkeit mannigfaltige Einflussmöglichkeiten auf diesen Prozess heraus. Denn „natürlich“ werden nicht alle Menschen mit demselben Quantum an Wärme und Feuchtigkeit geboren; die Anlagen der Eltern, deren Alter bei der Zeugung und sogar die Umstände beim Zeugungsakt (hier werden ggf. astrologische Konstellationen einbezogen) spielen eine wichtige Rolle. Spekuliert wird über eine generelle Abnahme der maximalen menschlichen Lebenszeit beispielsweise als Folge des Sündenfalls (Vertreibung vom Baum des Lebens), der Sintflut (Miasmen durch viele Kadaver), des Fleischkonsums oder eines (vorzeitigen) Geschlechtsverkehrs. Auch verläuft die oben skizzierte individuelle Abnahme der Lebensessenzen nicht unbedingt gleichförmig, sondern in Abhängigkeit von Krankheiten, geographischen, klimatischen und ggf. astrologischen Bedingungen rascher oder langsamer. Einen besonderen Einfluss besitzt die gewählte Lebensweise: Ernährung, Bewegung, Schlaf, Sexualität, Unterstützung der Verdauung etc. beeinflussen von Kindheit an die verbleibenden Ressourcen für ein längeres oder kürzeres Leben. Insbesondere ein (besonders der Jugend zugeschriebenes) ausschweifendes Leben zehrt an den Reserven. Seriöse Protogeriatrie verheißt daher dem Menschen keine Verlängerung des Lebens mit Hilfe medizinischer Maßnahmen, sondern versucht lediglich, durch geeignete Beeinflussung seines Lebens (Diätetik) der Verkürzung Einhalt zu gebieten.11 An dieser Vielzahl möglicher Faktoren für früheres oder späteres Altern12 wird deutlich, wie die galenistische Medizin in der Frühen Neuzeit – ähnlich wie heute – versuchte, das Rätsel des unterschiedlichen individuellen Alterns 9 Vgl. Schäfer 2012. 10 Vgl. Schäfer 2002. 11 So beispielsweise im Responsum des Maimonides (vgl. Maimonides, Über die Lebensdauer, hrsg. und übersetzt von Weil 1953) ausgeführt. 12 Breit dargestellt beispielsweise bei Anselmi, Gerocomica sive de senum regimine, 1606, 56– 65 (Kap. I 9 De causis longitudinis et brevitatis vite, citiorique, et tardiori senectute).

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multifaktoriell zu erklären. Dabei spielten (ähnlich wie bei der Ätiologie vieler Krankheiten) moralische Argumente im Kontext des zeitgenössischen Tugendund Lasterdiskurses zumindest indirekt eine Rolle: Altern ist zwar unausweichlich, aber keinesfalls ein ausschließlich kontingent ablaufendes Ereignis, sondern Ergebnis einer Fülle teils kontingenter, teils planbarer Umstände vor und nach der Geburt sowie der selbstgewählten Lebensweise. Doch mit der knappen Benennung der beeinflussbaren Faktoren (die sich weitgehend aus dem Bereich der diätetischen res non naturales speisen) verbanden die geriatrischen Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts in der Regel keine unmittelbare Aufforderung, das Verhalten zu ändern. Eine Ausnahme bildeten die in ganz Europa Aufsehen erregenden Schriften des venezianischen Adligen Alvise (Luigi) Cornaro, der um 1560 an seiner eigenen Person die Vorteile einer Reduktionsdiät (vita sobria) zur Vermeidung von Krankheiten und für eine Verlangsamung des Alterungsprozesses demonstrierte und seine Erfahrung auf den Punkt brachte: Wer in seinem Leben (insgesamt) viel essen wolle, solle wenig essen.13 Und interessanterweise sind es vor allem kirchlich gebundene Ärzte wie der niederländische Arzt und Kanoniker Leonard Leys (Lessius), die Cornaros Impuls aufgreifen; allerdings überhöht Lessius die einfache Diätetik Cornaros zu einer geistlichen Tugend der Sancta sobrietas, die den Theologen nicht fremd sei und die er mit Hilfe biblischer Beispiele und geistlicher Schriftsteller belegt.14 Ein anderer prominenter Italiener, der Universalgelehrte, Arzt, Mathematiker und Philosoph Gerolamo Cardano (1501–1576), empfahl ebenfalls eine rechtzeitige Vorbereitung auf das Altern, allerdings nicht, um es hinauszuzögern, sondern um es erträglicher zu gestalten. In seiner zeitgleich zu Cornaro verfassten düsteren Altersvision heißt es sinngemäß: Es gebe kein größeres und zugleich weniger reparables Übel als das Alter. Ciceros Beispiel des agilen Cato Maior sei als Wunder anzusehen und sicherlich nicht der Normalfall. Neben Krankheiten und körperlicher Schwäche existierten geistige und charakterliche Defizite der Greise; es sei Tatsache, dass sie für die Angehörigen unsichtbar seien, also von ihnen gemieden würden. Doch gebe es einen Ausweg aus dieser schlimmen Situation: Man müsse den Verstand nutzen, der erst nach dem Körper, nämlich zuletzt mit den Sinnen altere. Es sei wie im Krieg: Man müsse sich im Alter wie im Feindesland bewegen, sich nicht auf Verpflegung vor Ort verlassen, sondern rechtzeitig durch Vorbereitung Reserven schaffen. Dafür gebe es verschiedenste Möglichkeiten: Etwa solle man sich rechtzeitig Nachkommen schaffen, solange man noch fruchtbar sei. Wichtig sei auch, sich die Freunde zu 13 Vgl. Bergdolt 1999, 202–208; Cornaro, Vom maßvollen Leben, hrsg. von Bergdolt 1997, 45. 14 Lessius, Hygiasticon, seu vera ratio valetudinis bonae et vitae una cum sensuum, iudicii, et memoriae integritate ad extremam senectutem conservandae, 1614, 5.

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erhalten. Man meide also viele Klagen und Geschwätz und gewöhne sich an gute Tischsitten. Insbesondere schweige man beim Essen, denn dadurch könne man auch das Herausfallen von Nahrungspartikeln aus dem zahnlosen Mund oder das Anspucken des Gegenübers vermeiden. Ferner betreibe man eine gründliche Mundhygiene, um den Gestank und den Anblick der Nahrungsreste sowie der schwarzen Zähne zu vermeiden. Von den Tieren solle man lernen, mit den Waffen zu kämpfen, die für die eigene Art am geeignetsten sind. Also suche man im Alter nicht mit Stärke oder Schnelligkeit, sondern mit Verstand und Rat den andern zu überwinden und für sich zu gewinnen, unter Umständen auch mit dem Einsatz für das öffentliche Wohl. Zur Vorbereitung auf Lebensmöglichkeiten im Alter gehöre auch die materielle Vorsorge, um später jede Mühe im Alter vermeiden zu können.15 Nach 1650 änderten sich zwar sukzessive die Alterskonzepte; die Frage nach der Bedeutung des persönlichen Verhaltens wurde jedoch ähnlich beantwortet. Beispielsweise ging die besonders von Halle (Friedrich Hoffmann) aus weit verbreitete iatromechanische Theorie von einem lebenslangen Verhärtungs- und Abnutzungsprozess der festen Körperbestandteile (Solida) als Folge des beständigen hydraulischen Drucks der Flüssigkeiten, insbesondere des Herz-Kreislauf-Systems, aus. Im Gegensatz zum galenistischen Denken galt dieser Alterungsvorgang meist als pathologisch, gleichwohl aber als unvermeidlich und naturgegeben. Doch auch hier betonten Ärzte die unterschiedliche Geschwindigkeit des Prozesses und erklärten sie unter anderem mit der unterschiedlichen Lebensweise. Ein wichtiger Einflussfaktor auf das hydraulische System sei nämlich die Blutmenge, die je nach Diät größer oder kleiner ausfalle. Ein diesbezüglich viel diskutiertes Hauptleiden der Zeit war die Plethora (Blutfülle), angeblich Folge einer sich immer weiter verbreitenden sitzenden Tätigkeit und zu üppiger Ernährung. Wer dieser chronischen Krankheit nicht durch geeignete Diät und regelmäßige Aderlässe Einhalt gebiete, leide nicht nur an einer der vielen Folgekrankheiten, sondern altere und sterbe früh(er).16 Es fällt nun auf, überrascht aber angesichts des moralisch-didaktischen Programms der europäischen Aufklärung auch wiederum nicht, dass Ärzte im 18. Jahrhundert nun deutlicher als früher auf die Selbstverantwortung für das Altern hinweisen. Zwei Dissertationen aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts thematisieren explizit die Gründe für vorzeitiges Altern. Johann Heinrich Buihring nennt 1765 als wichtige Faktoren vorzeitigen Alterns eine „üppigere Le15 Cardano, De utilitate ex adversis capienda, 1663, Bd. II 50–52 (lib. II 4 De senectute). 16 Ausführlich erörtert bei Büchner/Gorn, De plethora senum eiusque rationali therapeutica tractatione per venaesectionem speciatim suscipienda, 1750; Literaturübersicht bei Schäfer 2004, 247–248, Fußnote 187.

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bensweise, zu ausgiebiger Müßiggang, zu viel Arbeit/Mühe, übermäßiger Geschlechtsverkehr sowie das Durchleiden vieler Krankheiten“17 und qualifiziert einen Teil dieser caussas [!] alias obendrein als morales unter Einbezug verschiedener Laster: Eine sitzende Lebensweise, nächtliches Wachsein, fortwährendes tiefsinniges Nachdenken, Kummer, Neid, Zorn und Habgier würden Anfälle erzeugen und durch Anspannung den freien Fluss der Säfte durch die festen Körperteile behindern.18 Und Karl Narziss Premauer verweist darüber hinaus auf den schädlichen Einfluss von Spirituosen: In Schweden seien in denselben Landstrichen, in denen früher siebzigjährige Großväter behände gearbeitet hätten, nun schon Fünfzigjährige vom Gebrauch des Getreideschnapses entkräftet.19 Im Zeitalter der „Medicinischen Policey“20 bieten demnach auch Alterungsprozesse für aufgeklärte Ärzte einen (im doppelten Sinne) Anstoß, Gesellschaft und Individuum für notwendige Reformen in die Pflicht zu nehmen.

Die „Seele des Lebens“ – Paleottis Perspektive auf die letzte Lebensphase Angesichts dieser überwiegend negativen, weil auf körperliche und geistige Defekte21 fokussierenden Alterskonzepte in der frühneuzeitlichen Protogeriatrie – Premauer spricht explizit von einer „tragoedia senectus“22 – wirkt ein Gegenprogramm, welches kurz vor 1600 propagiert und bis weit in das 17. Jahrhundert (gelegentlich sogar in der Medizin) rezipiert wurde, auf den ersten Blick erstaunlich. Aber wenn man die Autorschaft und den kulturhistorischen Kontext der Entstehung betrachtet, lässt sich der Entwurf leicht einordnen und besser verstehen. 17 Juncker/Buihring, Dissertatio, 1765, 21: „Alias caussas praematurae senectutis, quales sunt crassior victus, otium nimium, nimius labor, abusus veneris et multi morbi perpessi“. 18 Ebd., [16]: „Per caussas alias, morales in primis, vitam sedentariam, vigilias, meditationes profundas et continuas, moerores, invidiam, iracundiam, auaritiam eiusmodi accidere soleant accessiones, atque humores in partes adeo densas et per adstrictionem tonicam rigidas altius non admittantur ac insinuentur“. 19 Premauer, Dissertatio inauguralis medica sistens causas praematuri senii et mortis, 1782, 16: „In ipsa suecia, iisdem in pagis, in quibus anno septuagesimo alacriter avi laborabant, ab usu spiritus frumenti quinquagesimo anno iam sunt enervati“. 20 Wahrig 2003, insbes. 55–56 („Moralisierung der Patienten“). 21 Nach einem Bonmot von Anselmi, Gerocomica, 1606, 13. 24, bedeutet Senectus defectus, ein grundsätzlicher Mangel in den Lebensäußerungen (operationes viventis). 22 Premauer, Dissertatio, 1782, 5.

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Der greise Bologneser Kirchenrechtler und Kardinal Gabriele Paleotti (1522– 1597),23 ein vormals wichtiger Mediator des Tridentinischen Konzils und Experte für das künstlerische Programm der Gegenreformation, gab 1595 einen umfangreichen Traktat über das „Gut des Alters“ (De bono senectutis) in den Druck. Das Autorprofil passt in mehrfacher Hinsicht zu dem gewählten Thema: Alte Menschen schreiben zumindest in der Frühen Neuzeit häufiger als jüngere über Altersfragen, Juristen positiver als etwa Ärzte, und die vor allem nach Anciennität strukturierte Hierarchie des Klerus kann generell als besonders altersfreundlich gelten. Der Text wurde vermutlich anlässlich des bevorstehenden 80. Geburtstags des Priesters Filippo Neri verfasst, zu dessen „Kongregation vom Oratorium“ (später kurz Oratorianer genannt) Paleotti gehörte. Der noch im Jahr der Drucklegung verstorbene Neri wird im Vorwort als idealer Greis apostrophiert; das Werk und sein Thema ist ohne die Verehrung, die der Autor und seine Zeitgenossen dem später Heiliggesprochenen schon zu Lebzeiten entgegenbrachten, nicht zu verstehen.24 De bono senectutis steht natürlich in der Tradition altersdefensiver Texte, geht aber weit über einen einschlägigen Klassiker der Antike, den bei Cardano schon erwähnten und im 16. Jahrhundert vielkommentierten Cato Maior de senectute, hinaus.25 Für Paleotti bildet der antike Text aber nur einen von vielen Ausgangspunkten für eine normative Diskussion des Alters, die, wie bei Gelehrten seiner Zeit noch üblich,26 zunächst mit Hilfe von Autoritäten der vorchristlichen Antike, dann auch mit Zitaten der Kirchenväter und -lehrer geführt wird; dabei kommen im ersten Teil seines Traktats zunächst neben den Vorwürfen, gegen die schon Cicero opponiert – das Alter hindere an einer vita activa, beraube den Körper seiner Stärke, unterbinde sinnliche Vergnügungen und sei dem Tode nahe – durchaus noch weitere negative Stimmen zu Wort. Insbesondere beschreibt Paleotti die tristitia animi, eine seelische Niedergeschlagenheit angesichts der vielen Einschränkungen und Anfechtungen, die das Alter mit sich 23 Ausführlich zu Paleotti Prodi 1967; zur Altersschrift De bono senectutis ebd. Bd. II, 563–594; vgl. auch Lines 2013, 57–70; d’Anger 1960, 39–49. 24 De bono senectutis enthält aber offensichtlich auch Material aus Paleottis handschriftlichem Commentarius über ein unpubliziertes Werk des Veroneser Bischofs Agostino Valier, De senectute recreanda (1593); Bologna, Archivio Isolani F 16.85.3 bzw. F 63.145; vgl. Prodi 1967, Bd. II, 571. Das Opus Valiers wird in Paleottis De bono senectutis ausdrücklich erwähnt: Paleotti, De bono senectutis, 1595, 176v–177r; offensichtlich vertrat der Veroneser Kardinal darin die schlichte Meinung, dass alte Menschen durch ihnen entsprechende „Vergnügungen“ (oblectamenta) belebt werden könnten und sollten. 25 Diese Schrift Ciceros gehörte zu den Standardwerken des humanistischen Unterrichts bis ins 19. Jahrhundert. „Wer hat nicht Cicero de senectute gelesen?“ fragt Jacob Grimm rhetorisch in seiner „Rede über das Alter“ von 1863; vgl. Schäfer 2017. 26 Vgl. Gadebusch Bondio 2008.

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bringe.27 Gegen körperliche Gebrechen bringt der römische Kardinalbischof medizinische, gegen die tristitia dagegen philosophische remedia (Heilmittel) in Anschlag. Genau hier ist auch die nachfolgende Diskussion des Bonum senectutis im Hauptteil des Traktats verortet: Sie soll alten Menschen helfen, ihre Lebensphase prinzipiell positiv zu deuten, ungeachtet aller negativen Begleitumstände. Wie der folgende zweite Teil des Traktats deutlich macht, geht es aber nicht nur um Verteidigung oder Trost im Sinne der konsolatorischen Tradition, sondern um eine grundsätzliche Bestimmung des höheren Lebensalters. Was genau ist für Paleotti und seine Zeitgenossen ein Bonum? Primär rekurriert der Universitätsgelehrte auf die aristotelisch-thomistische Definition: Ein menschliches Gut ist demnach etwas, was seiner eigenen „Form“ entspricht; beim Menschen bedeutet das: ein Zustand, der mit der ratio („Vernunft“ als wichtigstes formales Kennzeichen des Menschlichen) in Einklang steht und daher angestrebt wird. Ein Gut muss also nicht unbedingt „gut“ im Sinne von angenehm oder gefällig sein, wohl aber „vernunftgemäß“. Und so fordert der Autor von vornherein, dass ein Bonum senectutis auch für alte Menschen gelten soll, denen es körperlich oder seelisch nicht „gut“ geht, also zum Beispiel auch für Bettlägerige (languentes), die Paleotti immer wieder anspricht. Der Titel des Traktats meint also kein Oxymoron, verbindet nicht Gegenteiliges (obwohl dieses Stilmittel mitschwingt), sondern zielt auf eine mit Hilfe der Vernunft anzustrebende beziehungsweise zu erkennende reale Möglichkeit ab. Paleotti nennt unter Einsatz geläufiger Baum-Metaphorik zunächst fünf Wurzeln für das Bonum senectutis (und gegen Ende des Traktats auch Äste und Früchte des Alters, siehe unten). Unter die Wurzeln (radices), die entscheidende, durch Natur oder im Lebensverlauf ausgebildete Voraussetzungen für ein Gut des Alters symbolisieren, rechnet er: 1. Eine verminderte Anfälligkeit für Beunruhigungen (perturbationes) der Sinne und für Erregungen (motus) der Seele. Dies sei nicht zuletzt der Fall, weil die Sinne abgestumpft seien, die Kraft der (verminderten) inneren Wärme weniger angefacht werden könne und gleichzeitig die Ruhe (tranquillitas) der Seele im Vergleich zu den anderen Lebensaltern stärker ausgeprägt sei. Paleotti nennt als Unruhestifter explizit den Wunsch nach Rache oder Vergnügen, ferner Neid und Zorn sowie jede Form von Begehrlichkeit, die es natürlich auch im Alter gebe, doch eben meist nur in abgeschwächter Form. 2. Eine große Erfahrung, die sich von einem langjährigen Gebrauch der Dinge und von der Erinnerung daran herleitet und die keineswegs mit intellektuel27 Stern/Cassirer 1946 interpretieren die einschlägigen Passagen als frühe Beschreibung einer Altersdepression.

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lem (Bücher-)Wissen gleichzusetzen ist. Sie ist für alle Lebens- und Arbeitsbereiche (zum Beispiel Landwirtschaft, Kriegswesen, Handwerk, Medizin und Künste) wesentlich, hat aber besondere Bedeutung in Staatsämtern, für die alte Menschen prädisponiert sind. Durch ihre Erfahrung lassen sich alte Menschen von vergänglichen Erscheinungen wie Schönheit, Stärke oder Eloquenz nicht leicht blenden: Schwierig sei es daher, einem Greis etwas zu entgegnen.28 3. Aus der Erfahrung folgt die Tugend der Klugheit, die in öffentlichen und privaten Angelegenheiten essentiell und eine wichtige Voraussetzung für alle anderen Tugenden ist. Ihre drei Wirkungen (actus) sind die Erinnerung an das Vergangene, das Verständnis des Gegenwärtigen und die Voraussicht des Zukünftigen. Zwar können Personen jeden Lebensalters klug sein, doch im Bereich der Schlussfolgerung (ratiocinandum) und generell der höheren Verstandestätigkeiten sind alte Menschen führend. Weil nun beim Menschen die ratio das entscheidende Wesensmerkmal ist (s. o.), kann das menschliche Alter als „Seele des Lebens“ bezeichnet werden.29 4. Die Vorbereitung oder Betrachtung des Todes (meditatio mortis) ergibt sich aus der Natur alter Menschen. Paleotti betont mit Cicero die Vorzüge dieser Lebensleistung älterer Menschen: Sie stärkt nicht nur die (religiöse) Ehrfurcht vor Gott, sondern führt auch zur Freiheit des Geistes, zur Reinigung des Gewissens, zur Verachtung menschlicher Angelegenheiten, zur Aufrichtigkeit des Sprechens, zu dem Wunsch, anderen zu helfen, zur Unerschütterlichkeit (animi securitas) und zur Besserung des Lebens. Doch gibt es trotz aller Belege für diese Vorzüge der Todesnähe auch Einschränkungen und gegenteilige Überzeugungen aus der heidnischen Philosophie; nur aus dem christlichen Glauben heraus kann der bevorstehende Tod heiter erwartet werden. 5. Als letzte Wurzel des Bonum senectutis nennt Paleotti Autorität (auctoritas) und Würde (dignitas, gravitas). Das Ansehen der Greise ist insbesondere Folge ihrer Klugheit (s. o.); sie stehen aber auch bezüglich ihres Lebenswandels unter besonderer Beobachtung: Was im früheren Lebensalter durchaus noch schicklich war, ist ihnen verwehrt, so dass die Reputation durch soziale Kontrolle verstärkt wird. Paleotti vergleicht zum Abschluss dieses Teils das höhere Lebensalter mit der mythischen Gestalt des Dionysos-Erziehers Silenos, der äußerlich hässlich dargestellt wird, hinsichtlich seiner Eigenschaften aber als elegant und weise gilt (daher wird in Platons Symposion Sokrates als Silen apostrophiert). Der Vergleich ist deshalb pikant, weil Silene meist als trunkene Begleiter des Weingottes dargestellt werden – und in der Tat nennt Paleotti unter den folgenden elf (!) 28 Paleotti, De bono senectutis, 1595, 75: „difficile esse, dare verba seni“. 29 Paleotti, De bono senectutis, 1595, 82: „senectus vitae anima appellate“.

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Vorwürfen gegen das Greisenalter, auf die er ausführlich eingeht, auch deren angebliche Neigung zu geistigen Getränken. Doch ist der Wein für alte Menschen ein Heilmittel, solange er in Maßen getrunken wird. In gleicher Weise erörtert der Autor ausführlich die übrigen angeblichen Schwächen des Alters und verteidigt es letztlich immer gegen die Vorwürfe: Auch sie können dem Bonum senectutis dienen. Der Zorn beispielsweise ist, wenn er sich gegen das Böse richtet, ein Hilfsmittel der Tugend (instrumentum virtutis). Und selbst die Habgier, der als wichtigstem Vorwurf bald ein Fünftel des gesamten Traktats gewidmet ist, kann, auf Geistliches gewendet, positiv wirken. Der dritte und letzte Teil des Traktats wendet sich erneut dem Hauptthema zu. Dabei pointiert Paleotti seine Vorstellung vom Bonum senectutis: Es ist nicht mit dem absolut Guten (im Diesseits unerreichbar) identisch und auch keineswegs bei allen alten Menschen in gleichem Maße vorhanden. Denn das Gut des Alters ist kein Geschenk der Natur, sondern eine Frage des menschlichen Willens, der Wahl. Gleichwohl ist aus den genannten Gründen kein anderes Lebensalter dafür so geeignet, „ehrenvoll zu leben, Tugenden zu kultivieren und an der menschlichen Natur, die mit Vernunft begabt ist, schicklich zu arbeiten“.30 Diese knappe Definition des Bonum umreißt – im Unterschied zum guten Alter (bona senectus), das mit Langlebigkeit, körperlicher und geistiger Gesundheit konnotiert wird – nicht einen äußerlichen Zustand, sondern ein generelles moralisches und religiöses Ziel, dessen Erreichen sich freilich an konkreten Ernteerträgen (fructus messis) erkennen lässt. Aus dem zeitgenössischen christlichen Kontext heraus erwartet Paleotti, dass Schwäche und Krankheiten, wie sie für das Alter typisch und als Adiaphora an sich weder positiv noch negativ zu bewerten sind, doch häufig Tugenden fördern. Selbst Böses, das Gott eigentlich nicht will, kann durch ihn zu guten Zielen gewendet und verwandt werden: „Wenn ich schwach bin, so bin ich stark“ (2. Kor. 12,10). Im Folgenden benutzt Paleotti die bei den Wurzeln des Bonum senectutis bereits eingeführte Baummetapher, um die Bedingungen für das Erreichen und Genießen von dessen Früchten genauer zu erläutern. Dabei setzt er schematisch drei Lebensalter in Bezug zu bestimmten Aufgaben der (Baum-)„Pflege“, denn auf das Gut des Alters muss lebenslang hingearbeitet werden: Die Jugend ist aufgrund ihrer Formbarkeit besonders geeignet, sittlich einwandfreie Lebenshaltungen einzuüben bzw. auszubilden (disciplina). Umgekehrt sind Altersschwäche(n) häufig die Folge jugendlicher Laster, die, einmal in der Jugend erworben, nur schwer zu ändern sind. Im mittleren Lebensalter gelte es, der gewählten bzw. vorgegebenen Berufung entsprechend ehrenvoll 30 Paleotti, De bono senectutis, 1595, 165r: „Bonum senectutis est honeste vivere, virtutes colere, et naturae hominis, quae ratione praedita est, convenienter operari“.

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und anständig (decorum) zu handeln und die guten Stunden auszunützen. Und selbst im Greisenalter, das hier mit einem Königtum verglichen wird, muss man darauf achten, nicht Sklave des Vermögens, der Vergnügungen oder der Trunksucht zu werden und auf diese Weise das Ehrenkleid (schema honorabile) des Alters zu zerstören. Allen Lebensaltern ist also gemeinsam, dass mit Mühe und Eifer, in Gedanken und Taten nach Tugend gestrebt werden muss. Allein das Greisenalter zeichnet sich aber vor den ersten beiden Lebensaltern dadurch aus, dass auch Früchte dieser Haltung geerntet und genossen werden können: Unter dem fortwährenden Einfluss der Tugend ist das Alter fruchtbar (Ps. 91/ 92,15: senecta ubera; im Kontrast zur physiologischen Sterilität des Alters) und wie ein Feld zur Ernte reif (aetas matura31). Generell definiert Paleotti die Frucht als Akt der Tugend und mit Augustinus als „guten Gebrauch des freien Willens“32, sinngemäß also als freiwillige Hinwendung zum Guten. Konkret unterscheidet er bei den Früchten des Bonum senectutis drei Arten: im Blick auf Gott, den Nächsten und den alten Menschen selbst. Unter dem Einfluss der „theologischen“, also sich auf Gott beziehenden Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung) wachsen entsprechende Früchte der Religion, der Devotion, der Meditation und des Gebets, der Dankbarkeit, des gottesfürchtigen Gehorsams und der Tapferkeit (animi fortitudo), Mühen um Christi willen zu ertragen. Gegenüber den Nächsten imponieren erneut (s. o. vierte Wurzel) Freiheit und Aufrichtigkeit der Rede, da der alte Mensch weder Vor- noch Nachteile von seiner Umgebung zu erwarten hat. Als Autorität und gleichsam öffentliches Orakel kann er Jüngeren ein Beispiel dafür geben, Gott mehr als den Menschen zu vertrauen, und ihnen Rat, Hilfe, Unterweisung und Schutz (patrocinium) geben. Eine besondere Frucht, die anderen nützt, ist das Schreiben von Büchern. Früchte für sich selbst erfährt der alte Mensch, wenn er durch äußere Krankheit und Sinnesminderung von Begierden und Maßlosigkeiten aller Art abgehalten und zur Nüchternheit und Tugend angehalten wird. Gegen innere Leiden hilft allein das Universalheilmittel (Diacatholicon), das von den heiligen (Kirchen-)Vätern überliefert wird und letztlich zur Geduld führt. Und schließlich heilt die lange Erfahrung mit sich selbst eine überzogene Selbstliebe, da der alte Mensch seine Schwächen kennt und sich richtig einschätzen kann. Daraus 31 Paleotti, De bono senectutis, 1595, 213r; analog zu dieser Metapher vom „reifen Alter“ spricht die mittelalterliche und frühneuzeitliche Theologie mit Cicero (De divinatione I 36) auch von der mors matura des Greisenalters. 32 Paleotti, De bono senectutis, 1595, 211: „Quod cum fructus … nil aliud esse intelligamus, quàm actiones maturae aetatis cum virtute coniunctas; actus autem virtutis nihil aliud sit, quàm bonus usus liberi arbitrij“.

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entsteht nicht Trübsal, sondern größte Heiterkeit, die sich auch aus der nahe bevorstehenden (jenseitigen) Würde und Besserung speist.

Rezeption und Kritik des Bonum senectutis Diese knappe Darstellung fokussiert auf ein späthumanistisches und zugleich klerikales Werk, das innerhalb der europäischen Gelehrtenkultur zunächst intensiv rezipiert wurde: Neben Drucken in Rom (1595), Venedig (1597, 1598, 1754) und Antwerpen (1598) gab es schon früh eine Übersetzung ins Italienische (1597, 1609). Der Text löste außerdem einen kleinen Boom von nachfolgenden Schriften durchweg klerikaler Provenienz aus, sogar über konfessionelle Grenzen hinweg: Bereits 1599 erschien ein etwas schlichterer Traktat De senectute aus der Feder des hugenottischen reformierten Theologen Daniel Toussain (Tossanus; 1541–1602), der schon in der Vorrede auf Paleotti Bezug nimmt, wie dieser zunächst propädeutische Fragen klärt, zwischen wahren und angeblichen Nachteilen des Alters unterscheidet und schließlich ausführlich auf geistige und geistliche Schutzmittel (praesidia) rekurriert.33 1637 beschrieb der Pariser Theologe Jean Filesac (ca. 1550–1638) in einem kürzeren gelehrten Text die Senectus veneranda (das zu verehrende Greisenalter) in einer Zusammenstellung zahlreicher Zitate antiker Autoritäten.34 Zehn Jahre später unternimmt der Jurist und Abt Jean Chokier de Surlet (1571–ca. 1650) erneut den Versuch einer systematischen Darstellung des Alters, die einige der fructus Paleottis zitiert und in eine Empfehlung von elf diätetischen Regeln zur Erhaltung des guten Alters mündet.35 Das Thema Altern am ausführlichsten erörtert der flämische Theologieprofessor und Zisterzienser-Prior Benedictus de Bacquere (Benoît de Backer; 1613– 1678), der eine siebenbändige, aus heutiger Sicht interdisziplinäre Senectutis Academia plante, von der allerdings (nach bisherigem Kenntnisstand) nur drei Bände erschienen: der aus heutiger Sicht propädeutische Senum anatomicus (1678), der medizinisch-diätetische Senum medicus (1673) und der pastoraltheologisch-konsolatorische Senum salvator (1673), der im Besonderen den patristischen Gedanken der jenseitigen Erneuerung aufgreift.36 Paleottis (bzw. Ciceros) 33 Tossanus, De senectute tractatus christianus et consolatorius, 1599; zu diesem Traktat vgl. auch Emberger 2012. 34 Filesac, Senectus veneranda, 1637, 3–41. 35 Chokier de Surlet, Tractatus de senectute, 1647. 36 Anhand der nicht erschienenen Bände lässt sich erkennen, was aus Sicht eines frühneuzeitlichen Autors zu einer umfassenden Beschreibung des Alters außerdem gehörte: die juristische Perspektive (Senum advocatus für das Verfahrensrecht und Senum benefactor für die

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Anliegen wurde aber auch in mehreren volkssprachlichen Traktaten des 16. bis frühen 18. Jahrhunderts aufgegriffen, und seine Darstellung des Bonum senectutis findet sich sogar bei ärztlichen Schriftstellern erwähnt.37 Mit der im Zuge der Aufklärung zunehmenden Säkularisierung verschwindet jedoch der Text aus dem literarischen Gedächtnis, und andere, in erster Linie immanente Idealisierungen und Moralisierungen des Alters halten Einzug. Insgesamt zeigt diese Rezeption deutliche Abschwächungen der steilen Vorlage Paleottis; im Vordergrund stehen vielmehr (wie bei Cicero) verteidigende oder konsolatorische Argumente. Dass Altern im Sinne der Tugendethik ein eigenes Bonum mit speziellen Früchten darstellt und als solches auch eine Aufgabe bildet, wird nur bei Paleotti umfassend dargestellt und exemplifiziert. Es bereitet aus heutiger Sicht keine großen Schwierigkeiten, das Modell des Bonum senectutis für obsolet zu erklären. In spätscholastischer Manier wählt sein Schöpfer fast beliebig und weitschweifig antike und mittelalterliche Quellen als autoritative Belege für normative Behauptungen über den idealtypischen Greis aus,38 ohne auf die (auch damals schon existierende) reale Vielfalt des Alters und alter Menschen (zum Beispiel Frauen!) näher einzugehen. Holzschnittartig werden drei Altersstufen miteinander verglichen bzw. gegeneinander geführt. Der – in der Frühen Neuzeit allerdings kaum hinterfragte – starre Tugendund Lasterdiskurs dient als universelle Folie für alle Lebensbereiche und wirkt mit seinen Vorgaben und Forderungen ausgesprochen elitär, auch wenn der Text an einzelnen Stellen nicht gebildete Personen in den Blick nimmt. An verschiedenen Stellen offenbaren sich Zirkelschlüsse, wenn zum Beispiel Wurzeln und Früchte des Bonum sich wechselseitig bedingen oder gar austauschbar sind. Bei schwierigen Fragen (zum Beispiel Altensuizid) ordnet sich die stoischantike Tradition dem Kirchendogma klar unter, wie überhaupt das Modell ohne religiöse Vorannahmen (zum Beispiel christliche Normen, die Schwäche in Stärke umdeuten, Leiden teleologisch aufwerten und eine jenseitige Belohnung als letztgültige Begründung diesseitigen Verhaltens implementieren) nicht auskommt. Damit eng verknüpft ist eine Dominanz des Geistig-Geistlichen über körperliche Schwächen; dementsprechend findet die Möglichkeit geistiger Defizite im Alter kaum Erwähnung.39

Sonderrechte), eine umfassende Darstellung des Alterslobs (Senum encomiastes) sowie die Erörterung des Todes als letzter Grenze des Alters (Senum terminus). 37 Beispielsweise bei Anselmi, Gerocomica, 1606, 56. 38 Dieser normative Charakter lässt sich im lateinischen Text auch schon rein sprachlich an der exorbitanten Häufung von Gerundiv-Formen festmachen, die meistens als Aufforderungen oder Bestimmungen zu verstehen sind. 39 Vgl. Schäfer 2004, 313.

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„Tugendhaftes Altern“ in Kontrast zum „erfolgreichen“ Altern Die hier vorgestellten Texte protogeriatrischer und geistlicher Provenienz belegen die eingangs formulierte These, dass frühneuzeitliche Autoren moralische Mitverantwortung für Alterungsprozesse mittelbar oder unmittelbar ansprechen. Von Seiten der Medizin geschah dies explizit erst verhältnismäßig spät im Kontext der Aufklärung. Theologen verknüpften hingegen den Tugend- und Lasterkanon traditionell mit der Diätetik,40 so dass das moralische Argument in deren gerontologischen Schriften um 1600 nicht überrascht. Doch über diese Moralisierung hinaus entwickelte der Kirchenrechtler Paleotti mit seinem Bonum senectutis eine neue Dimension der Altersbewertung, die den traditionellen Dualismus zwischen Alterslob und -tadel teilweise überwindet und die Option eröffnet, Alter per se als eine potentiell von Tugend geprägte Lebensphase zu betrachten. Ungeachtet der skizzierten Schwächen seiner Darlegung wirkt dieses Konzept auf den ersten Blick wie eine Vorwegnahme des modernen successful ageing, bei genauerem Hinsehen aber eher wie ein Gegenmodell dazu. Lässt man die religiösen und philosophischen Rahmenbedingungen von Paleottis Modell beiseite, so geht es in seinem Kern um eine Umdeutung des Alters: Der Blick soll weg von (keineswegs geleugneten) Defektzuständen hin zu den Gewinnen („Früchten“) gelenkt werden, die in dieser Lebensphase zu „ernten“ sind. Dazu ist aber eine praktisch lebenslange Vorbereitung im Sinne einer Einübung von Tugend notwendig, die (nach Aristoteles) nicht angeboren, sondern zu erwerben ist. Successful ageing verfolgt zum Teil eine ähnliche Strategie. Inzwischen gibt es viele Modelle erfolgreichen Alterns, die sich je nach zugrundeliegender Disziplin und Methode deutlich voneinander unterscheiden.41 (1.) Die biomedizinischen unter ihnen gehen bei erfolgreichem Altern ex negativo von fehlender Krankheit und Gebrechen bzw. entsprechenden Risikofaktoren aus; mit einem entsprechend hohen Gesundheitslevel verbinden sie physisches und mentales „Funktionieren“ (functioning) sowie sekundär Unabhängigkeit, Mobilität und soziale Einbindung bzw. Engagement. Rowe und Kahn unterscheiden sogar explizit „normales“ Altern mit zunehmenden Einschränkungen vom successful

40 Bereits in den hoch- und spätmittelalterlichen Beichtspiegeln wird beispielsweise der diätetische „Selbstmord mit Messer und Gabel“ im Zusammenhang mit der Todsünde der gula thematisiert; vgl. Bruder Berthold, Rechtssumme, hrsg. von Steer 1987, Bd. IV, 2122, Artikel T[od] 11, 4–7 sowie Bd. II, 956–1053, Artikel F[rasheit] 39. 41 Vgl. Bowling/Dieppe 2005.

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ageing, bei dem impairments (wenigstens weitgehend) fehlen.42 – (2.) Psychosoziale Modelle fokussieren gegenüber den biomedizinischen auf Lebenszufriedenheit, soziale Teilhabe, bestimmte psychologische Eigenschaften und Ressourcen (z. B. Autonomie, Kontrolle, Selbstachtung und -wahrnehmung, Fähigkeit zu Adaptation und Bewältigung, Zielorientiertheit) sowie ein Wachsen in der Persönlichkeit (personal growth). – (3.) Bei Umfragen unter Laien nach den Kennzeichen von erfolgreichem Altern wurden außerdem positiv besetzte Umstände und Eigenschaften wie Lebensbewältigung, Nahrungsgenuss, finanzielle Sicherheit, gelingende Nachbarschaftlichkeit, gutes körperliches Erscheinungsbild, Sinn für Humor, Zweckempfinden und Spiritualität genannt. Gleichzeitig wurde bei den Erhebungen der letzten zehn Jahre deutlich, dass Altern unter subjektiv sehr unterschiedlichen Umständen als gelungen interpretiert und dass die Einschätzung der genannten Faktoren von sozioökonomischer Schicht, Rasse, Geschlecht, Kultur etc. stark beeinflusst wird.43 Paleotti würde biomedizinisch gelingendes Altern und auch die meisten von Laien genannten Faktoren wohl eher als „gutes Altern“ (senectus bona; Altern unter äußerlich günstigen Umständen) apostrophieren, das er vom Bonum senectutis, bei dem (im Sinne „normalen Alterns“) körperliche Einschränkungen durchaus möglich sind, deutlich unterscheidet. Auch die eingangs schon erwähnten biomedizinischen Forderungen für ein erfolgreiches Altern, nämlich Krankheitsvermeidung und Verhaltensweisen zu Gesundheitsförderung und kognitiver Stimulation, lassen sich in seinem frühneuzeitlichen Traktat nicht nachweisen. Bei den psychosozialen Merkmalen für successful ageing gibt es hingegen deutliche Überschneidungen zum Bonum senectutis: Erfahrung, gesellschaftliche Anerkennung (Würde und Autorität) und Teilhabe durch Engagement sowie Humor (Lachen über sich selbst) gehören in beiden Konzepten dazu; insbesondere aber das Wachsen der Persönlichkeit als Charakteristikum erfolgreichen Alterns scheint kongruent zu Paleottis stark ausdifferenzierter Baummetapher zu sein, und die von Laien genannte Spiritualität trifft sich mit den in De bono senectutis apostrophierten religiösen Früchten. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass diese Parallelen nur äußerlich bei einigen Eigenschaften, gewissermaßen Sekundärtugenden, vorliegen, die Unterschiede zwischen den Konzepten aber gravierend sind: – Paleotti geht explizit von einer lebenslangen Einübung bestimmter Tugenden aus, einem willentlich gesteuerten dynamischen Wachstum bestimmter Eigenschaften und dem konsequenten Vermeiden entgegengesetzter Laster. Dagegen thematisieren psychosoziale Modelle für successful ageing nicht 42 Vgl. Rowe/Kahn 1998. 43 Vgl. Bowling/Dieppe 2005.

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die Ursachen für die Herausbildung bestimmter positiver Merkmale, sondern analysieren lediglich den Status quo. Gerade weil Ursachen nicht thematisiert werden, dominieren in den psychosozialen Modellen (im Unterschied zu den medizinischen) kontingente (zufallsgesteuerte) Elemente. Bestensfalls ist erfolgreiches Altern keine lebenslange, sondern eine situative Aufgabe des alten Menschen. Paleotti betont demgegenüber, dass auch bei widrigen Umständen ein Bonum senectutis möglich sei, da der Wille zu einer zielführenden Lebensweise entscheidend sei. Die Betonung des Rationalen (im Sinne einer Basis menschlichen Seins und Handelns) als Voraussetzung für das Bonum ist nur mit einem Teil der successful ageing-Merkmale (z. B. Autonomie/Kontrolle) kompatibel. Und schließlich würde ein Bonum senectutis ohne eine gesellschaftlich anerkannte, transzendente Perspektive – den Trost der Religion und die Vorbereitung auf ein Leben nach dem Tod – nur ein Torso bilden; erst das bürgerliche Zeitalter liefert ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts tugendethische Modelle, die weitgehend ohne diese Erweiterung auskommen.44

Resümee: Moralische Altersutopien – ein Fremdkörper in der Postmoderne Die hier kursorisch vorgestellten und interpretierten frühneuzeitlichen Alterskonzepte passen aufgrund ihrer spezifischen sozialhistorischen Kontextualisierungen und ihrer moralischen Implikationen nicht in unsere komplexen und individualisierten Vorstellungen von Altersprozessen und -realitäten. Insofern eignen sie sich keinesfalls als aktuelles Modell für gutes Altern wie etwa das successful ageing. Vielmehr bilden sie historische Fremdkörper, an denen wir uns reiben können. Sympathisch an ihnen ist, dass sie ohne Anti-Ageing-Visionen auskommen, die das Altern möglichst negieren oder durch strapaziöse Selbstoptimierungen ungeschehen machen wollen. Speziell das Bonum senectutis fordert keine äußere Veränderung der Situation oder Aktivität alter Menschen, sondern lädt ein zu einer Umdeutung der bestehenden Zustände unter Berücksichtigung von immaterieller Lebensleistung und -qualität. Bemerkenswert an den frühneuzeitlichen „medizinischen“ Konzepten ist, dass ihnen zufolge Gesundheit wie auch gesundes Alter in der Ära der selbst verantworteten Lebensregel (Diätetik) nicht (nur) Zufall, sondern (auch) Ergeb44 Vgl. Göckenjan 2000, 101–149.

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nis einer lebenslangen Beachtung von Ordnungen sind; umgekehrt werden Krankheiten häufig auf Fehler in der Lebensweise zurückgeführt. Dass diese Einschätzung einseitig die Last fehlender Gesundheit den Kranken und Alten aufbürdet, erkannten kritische Geister wie Friedrich Hebbel schon im frühen 19. Jahrhundert. In einem (häufig missverstandenen) Bonmot beantwortete er Frage „Was ist Tugend?“ mit der ironischen Antwort „Ein schöner Name für das einfachste Ding: Gesundheit.“45 Wer gesund ist, hat es demnach leicht, tugendhaft zu sein oder zu wirken – er oder sie hat alles richtig gemacht. Kranke und Alte stehen dagegen unter dem Generalverdacht eines nicht gesundheitskonformen Lebenswandels. Doch im Blick auf viele sogenannte Zivilisations- oder Wohlstandskrankheiten und deren selbstverantwortete Risikofaktoren könnte dieses einstige Modell von der Gesundheit als Tugend wieder aktuell werden, auch wenn man den Umstand heute anders benennt: beispielsweise Wahrnehmung von Gesundheitskompetenz (health literacy), oder – mit negativer Konnotierung – Gesundheitsdiktat.46 Paleottis Vision hingegen ist es, sich lebenslang moralisch für das Alter zu rüsten und es positiv als Zeit zu begreifen, in der der Wert der Tugend sich auszahlt. Auf diese Weise kann ihm zufolge so etwas wie „Alterskompetenz“ entstehen; „gutes Altern“ wäre dann das Ergebnis von Arbeit an der eigenen Persönlichkeit und damit Teil des lebenslangen Lernens. So gesehen wäre das Bonum senectutis als Ergebnis vernunftgesteuerter Arbeit an der menschlichen Natur durchaus anschlussfähig an moderne Konzepte der Entwicklungspsychologie und der kognitiven Verhaltenstherapie. Doch ist es heute noch nachvollziehbar, dass ein von Jugend an „tugendhaftes Verhalten“ eine wichtige Voraussetzung für gutes Altern bildet, indem Einstellungen eingeübt werden, die später – wie auch immer – „Frucht tragen“? Am ehesten leuchtet das Argument für den (möglichst frühen) Erwerb von Schlüsselkompetenzen ein: Lesen, Rechnen, Kommunizieren, Netzwerken, aber auch das Bedienen von Informationsund Assistenzsystemen aller Art sind heutzutage wichtige Voraussetzungen, ein komplexes Leben auch im Alter zu meistern. Aber Paleottis frühneuzeitliche Forderungen zielen eher auf moralische Schlüsselkompetenzen, die wir hinterfragen müssen: „Zahlt“ es sich für das Alter aus, sich in Ehrlichkeit, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, aber auch in der Bereitschaft, Hilfe zu suchen und anzunehmen, etc. zu üben? Kann man den konstruktiven Umgang mit eigenen und fremden Schicksalsschlägen, der im Alter vermutlich wichtiger wird, trainieren? Angesichts der Pluralität von Lebensentwürfen und -zielen ist eine allgemeingültige Antwort auf keinen Fall möglich. Besonders schwierig wird dieser mora45 Hebbel, Tagebücher, hrsg. von Ritzer 2017, 204. 46 Vgl. Schäfer 2015.

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lisch-lerntheoretische Ansatz, wenn man auch die Abnahme geistiger und eventuell auch moralischer Kompetenzen in Betracht zieht, wenn also kulturell eingeübte Haltungen wieder schwinden und stattdessen Verhaltensmuster und Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend wieder zu Tage treten. Das im Bonum senectutis implementierte Altersbild vom äußerlich unansehnlichen, aber innerlich wertvollen Silen könnte trotzdem helfen, eigenes und fremdes Altern neu zu bewerten und aufzuwerten.

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Gutes Alter(n) als Tugend?



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Oliver Bach

„Kunst auf des Königs Gefahr“ Medizinische Wahrheit und politische Funktion in Johann Michael von Loëns Der redliche Mann am Hofe (1740)

I Literaturgeschichtliche Vorbemerkung: Dichtung als Labor Der König von Aquitanien ist krank: Seine Leibärzte halten ihn in überheizten Gemächern, ohne Frischluftzufuhr. Der König sucht daher beim tugendhaften Grafen von Rivera Rat: Er [d. i. der König; O. B.] klagte ihm [d. i. dem Graf von Rivera; O. B.] darauf seine Noth, und wie er fürchtete, daß er sterben müste: der Graf aber redete ihm einen Muth ein; und versprach, ihn mit GOttes Hülf wieder zurecht zu bringen, wenn er sich seiner Cur anvertrauen wolte. Wie, sprach der König, wie wolt ihr mich zurecht bringen, ihr seyd ja kein Doctor? Ich kenne nichts destoweniger Ew. Maj. Natur und Temperament besser, als wenn ich ein Doctor wär, erwiederte der Graf. Ew Majestät erlauben mir, daß ich meine Gedanken darüber dero zweyten Leib-Medico entdecken mögte. Der Graf stund damit auf, gieng in ein Neben-Zimmer, und ließ den Herrn Hippon, so nante sich der Leib-Arzt, zu sich kommen. Mein werthster Herr Doctor, redete er ihn an, ich habe die Ehre, sie als einen sehr vernünftigen und gelehrten Mann zu kennen; ich kan mir deswegen nicht einbilden, wie sie mit den andern Herren Leib-Aerzten übereinstimmen solten, den König auf eine solche Art zu tractiren, die seiner ganzen Natur entgegen ist, und solche wohl gar aufreiben dürfte, wenn sie damit fortfahren solten. Der Herr Hippon zuckte darüber die Schultern, und bekante dem Grafen, daß er mit seinen Herren Collegen nicht einerley Meynung wäre: er seye aber überstimmet; Der Aelteste unter ihnen gab sich in seinen Aussprüchen das Ansehen der Unfehlbarkeit; der andere wär sein Schüler, der durch ihn sein Glück gemacht hätte, und nehm sich deswegen wohl in acht, ihm nicht zu widersprechen. Also, sprach der Graf, übet ihr Herren eure Kunst auf des Königs Gefahr, um das Ansehen eurer Wissenschaften zu erhalten? Was wollen aber der Herr Graf, fragte Hippon, daß man bey der Sache thun soll? Ich will ihnen, erwiederte der Graf, meine Meinung sagen, und wenn wir, wie ich vermuthe, darinn übereinstimmen, so lassen sie mich machen.1

1 von Loën, Der redliche Mann am Hofe, hrsg. von Reichert 1966, 236. Im Originaldruck ‚Loen‘. Das ‚ë‘ wurde erst im 20. Jahrhundert, mutmaßlich von den in den Niederlanden wohnenden Nachkommen eingeführt, um einer falschen Aussprache als ‚Luhn‘ vorzubeugen. Weil sich die Schreibweise ‚Loën‘ seither eingebürgert hat, wird sie hier beibehalten. Für diesen Hinweis danke ich Christopher Meid (Freiburg). https://doi.org/10.1515/9783110612349-008

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Mit diesem Zitat aus dem Roman Der redliche Mann am Hofe (1740) Johann Michael von Loëns (1694–1776), des Großonkels Johann Wolfgang von Goethes, möchte der vorliegende Aufsatz in das Feld der poetischen Reflexion des Zusammenhanges von Medizin und Politik einführen, auf den ersten Blick sogar entführen. Denn schließlich erscheint dieses literarische Feld, auf den ersten Blick als Spielfeld, als Bereich mithin, der es bei der Behandlung des hier interessierenden Gegenstandes am nötigen Ernst fehlen lässt und insofern gar nicht eigentlich als ein Ort der angemessenen Reflexion der Probleme dieses Gegenstandes gelten kann. Allerdings sollte es erst 1795 Friedrich Schiller sein, der die Kunst als bevorzugtes Feld des freien Spiels bestimmt, und zwar eines freien Spiels des erkennenden Subjekts mit den Informationen, die es erkannt hat.2 In den literarischen Epochen vor dieser freien Ästhetik, der sogenannten Autonomieästhetik also, war die Dichtung durchaus auf das Kriterium der Wahrscheinlichkeit und Glaubhaftigkeit verpflichtet und auf den Zweck der moralischen Belehrung ausgerichtet.3 Dichtung konnte sogar als „argumentative Disziplin“ gelten,4 und zwar insofern sie Zusammenhänge fingiert, die für eine bestimmte Wissenschaft besonders interessant sind. Diesen Begriff einer historia pragmatica prägten mit Blick auf den Roman Christian Thomasius, Gottlieb Stolle und Nicolaus Hieronymus Gundling, die drei großen Vertreter der sogenannten Gelehrsamkeitsgeschichte (historia literaria), um 1700 in Halle an der Saale.5 Geprägt vom Begründer der deutschen historia literaria, Georg Daniel Morhof, genauso wie von der ersten Geschichte des Romans, Pierre Daniel Huets Traitté de l’origine des romans (1670),6 sahen sie nicht nur ein großes pädagogisches, sondern auch Erkenntnispotenzial des Romans. Das große Anliegen der Hallenser war vor allem die moralisch-praktische Unterweisung und Verbesserung des Menschen und Bürgers. Dabei waren sie von der Überzeugung geleitet, dass praktisches Wissen nicht nur aus abstrakten Maximen abzuleiten ist, sondern auch aus historischer Erfahrung gewonnen werden kann und muss: Gerade diese Nobilitierung empirischen Wissens zeichnet sie als Vertreter der historia literaria aus – eine praktische Philosophie bliebe noch zu theoretisch, wenn sie auf die Praxis nur angewendet werden wollte und nicht auch von dieser induktiv Erkenntnisse gewönne. Zugleich erkennt 2 Auch Schiller besagt damit jedoch lediglich, dass das Subjekt als Dichter die erinnerten Gegenstände seiner Vorstellung nicht ihrem natürlichen Zusammenhang nach kombiniert, sondern diesen Zusammenhang selbst bestimmt: Schiller, Ästhetische Erziehung, hrsg. von Alt/ Meier/Riedel 2004, Bd. V, 664. 3 Vgl. Wels 2009, 17–19. 4 Wels 2009, 11–42. 5 Scattola 2002, 82–89; Scattola 2005, 296–314; Scattola 2007, 37–63. 6 Scattola 2002, 62–65, 73–77.

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die historia literaria die Geltung bestimmter theoretischer Prämissen der praktischen Philosophie durchaus an. Dieses Spannungsverhältnis zwischen induktiv-historischer und deduktiv-systematischer Methode stellte ein auch für die Hallenser erkennbares Problem dar: Einerseits ist Erfahrungswissen als Lieferant von Fallproben notwendig, andererseits wartet die Faktengeschichte nicht immer mit ausreichend vielen und nicht mit hinreichend paradigmatischen Beispielen auf, um induktiv eine entsprechend gesicherte praktische Lehre aus ihnen ziehen zu können. Daraus schlussfolgern die Vertreter der historia literaria die Notwendigkeit der Fiktion solcher Beispiele: Genau dies ist die historia pragmatica. Der fiktive Status der Romanfiktion tut dem Wahrheitsgehalt ihres moralischen Inhalts keinen Abbruch; dies hält Gundling 1738 in einer Rezension der Schriften der Madeleine de Scudéry ausdrücklich fest: Sonst hatt die Mademoiselle Scudery, so, nur neulich, im 80ten Jahre ihres Alters, gestorben ist, die Romans, am besten poliret. … Ja sie suchte gar Moralia, in Conversations zu bringen. Denn die Moral kann ich, per exempla, lernen; Et exemplorum non requiruntur veritates. Ob die Person Octavius, oder anders, heißet; Das importiret Nichts. Genug, wann ich nur etwas, daraus, lerne. Mich bekümmert es nicht; Ob das Exempel wahr ist, oder falsch. Herr Thomasius (Christ.[ian]) hatt dahero gewiesen; Daß man aus des Happels (Everh.[ard] Vvern.[er]) Africanischen Roman, Vieles lernen können; So gar auch in Politischen Dingen.7

Mehr noch: Den Fiktionen des Romans schrieben Thomasius, Stolle und Gundling einen spezifischen Erkenntnismehrwert zu: Die empirische Voraussetzungslosigkeit der tabula rasa fiktionaler Rede ermöglicht die unverfälschte Prüfung theoretischer Voraussetzungen. Wie in einem Labor können bei einem „poetischen Experiment“ eben bestimmte Voraussetzungen eingehalten, andere, verfälschende Faktoren hingegen ausgeschlossen werden. Gerade unter diesen Voraussetzungen, so Christian Thomasius, gelingt eine Vermittlung zwischen moralphilosophischen Postulaten (Sollen) und anthropologischer Wirklichkeit (Sein): Menschen seien allezeit Menschen / und auch die grösten Helden wären menschlichen Schwachheiten unterworffen. Sie ässen / träncken / schlieffen / liebten / hasseten / erzürneten sich / u. s. w. wie andere Leute. Solcher Gestalt aber wäre es gantz nicht recht / daß man die Helden in diesen Romanen fürstellete / als wenn sie beynahe nichts menschliches an sich hätten … Aber doch / streuete mein Freund ein / soll man in Romanen nicht das vorstellen quid fiat, sed quid fieri debeat, und also allezeit eine ideam hominis perfectissimi im Sinne haben. Aber doch / antwortete ich hinwiederumb / müste man auch die ideas nicht so subtiel machen / daß lauter entia rationis daraus würden / denn auf diese Art würden alle disciplinen und Wissenschafften verderbet. Was hülffe es einem Medico, 7 Gundling, Collegium Historico-Literarium, 1738, 647 (cap. 4, §27).

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wenn er sanitatem in idea sich einbildete / die bey keinem Menschen anzutreffen wäre? Was einem Politico, wenn er gleich des Platonis libros de Republica auswendig könte / und könte die Bürger / die darzu gehöreten / nirgend als in des Mori Utopia antreffen; Was nutzte es einem Juristen, wenn er sich die Justitiam in idea einbilden wolte / und wäre doch dabey versichert / daß er die Menschen nimmermehr darzu bringen würde … Mann müste freylich vorstellen quid fieri debeat, aber auch zugleich bedacht seyn / quid fieri possit, und homo perfectissimus wäre nicht perfectissimus, wenn er nicht zu gleich homo bliebe.8

Im Sinne dieser frühaufklärerischen Romantheorie verteidigt auch von Loën selbst 1751 sein Werk Der redliche Mann am Hofe gegen die Kritik des Memminger Superintendenten Christian Erhardt, der bereits kurz nach Erscheinen des Romans dessen Gattungswahl bemängelt hatte. Von Loën repliziert darauf mit allem Nachdruck: „Nichts rühret, nichts überzeuget mehr als Exempeln. Es wird darinn nicht erfordert, daß sie alle wahr seyen. Genug, wann sie wahrscheinlich sind, und auf eine lebhafte und bewegende Art vorgestellet werden.“9 Das poetische Experiment des Johann Michael von Loën nun gilt eben dem Verhältnis von Medizin und Politik. Und in diesem poetischen Experiment, in Der redliche Mann am Hofe, lässt von Loën die folgenden bestimmten Voraussetzungen aufeinandertreffen: Da ist erstens der Titelheld, der Graf von Rivera, der dermaßen vortrefflich erzogen, allgemein gebildet und tugendhaft ist, dass niemand sich mehr für das Amt des engsten Beraters des Königs eignet. Da ist zweitens dieser König, der König von Aquitanien, der körperlich krank ist, dabei aber auch ein „unordentliches Gemüt“10 hat, also auch seelisch erkrankt ist und sein Amt als König die erste Hälfte des Romans hindurch schlecht versieht. Da ist drittens der aquitanische Hofstaat, der vom Kanzler bis zu den Hofärzten aus dermaßen schlecht erzogenen, ungebildeten und lasterhaften Persönlichkeiten besteht, dass niemand sich so wenig als enge Berater des Königs eignet wie diese. Der körperliche und der seelische Zustand des Königs stehen zueinander und zu seiner Amtsführung ebenso in einem Bedingungsverhältnis wie zu der schlechten Qualität der bisherigen medizinischen und politischen Beratung. Diese fehlerhaften Bedingungen zu erkennen, zu beheben, neue Bedingungen zu schaffen und damit sowohl den König zu heilen als auch die Politik des Königreichs Aquitanien zu verbessern, fällt dem redlichen Mann am Hofe, dem Grafen von Rivera zu. Dies ist nicht der einzige, aber entscheidende Handlungsstrang des Romans. Im Folgenden soll nachgezeichnet werden, wie der Roman 8 Thomasius, Freymüthige Jedoch Vernunfft- und Gesetzmäßige Gedancken, 1690, 731–732 [September 1689; Rezension von Eberhard Werner Happels Africanischer Tarnolast]. 9 von Loën, Die vertheidigte Sitten-Lehre durch Exempeln, hrsg. von Müller/Bernhard 1972, 391. 10 von Loën, Der redliche Mann am Hofe, hrsg. von Reichert 1966, 236.

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dieses Bedingungsverhältnis von körperlicher und seelischer Krankheit, von angemessener medizinischer und politischer Beratung und damit von politischem Erfolg bestimmt.

II Medizin und Weisheit Natürlich fallen zunächst des Königs Einwand auf, dass der Graf von Rivera „ja kein Doctor“ sei sowie die Erwiderung des Grafen: „Ich kenne nichts destoweniger Ew. Maj. Natur und Temperament besser, als wenn ich ein Doctor wär“.11 In der Tat erscheinen schon das Selbstbewusstsein des Grafen und sein Lösungsansatz als Kritik an der Medizin als einer „Spezialwissenschaft“ überhaupt. Der Leser erhält Gelegenheit zu erfahren, was der Graf von Rivera damit genauer meint: Der Graf nämlich hat einen kleinen Traktat Von der Verbesserung des Staats verfasst,12 in dessen Kapitel Von dem gelehrten Stand zu lesen ist: [W]as findet man nicht unter den Gelehrten für seltsame Menschen? Man solte es in der That für keine Glückseligkeit halten, etwas zu wissen, wenn uns die Erlernung der Wissenschaften in Gefahr setzet, die elendeste unter den vernünftigen Geschöpffen zu werden. Ehedessen hielt man auf blosse Weisheit, und man lernte die Wissenschaften in keiner andern Absicht, als um weise zu werden. Heutiges Tages machen wir daraus ein Handwerck, die Menschen und den Staat zu verwirren.13

Der Graf lehnt die Spezialwissenschaften also keineswegs rundheraus ab: Vielmehr geht es ihm darum, dass alle Wissenschaften auf einen ihnen gemeinsamen Zweck ausgerichtet sind und nur mit Blick auf diesen Zweck legitim sind: „um weise zu werden“. Der Zweck wiederum der Weisheit ist die Glückseligkeit. Mit dieser Glückseligkeit ist aber weder im Redlichen Mann am Hofe noch in der zeitgenössischen Philosophie das allein jenseitige Seelenheil gemeint, sondern auch die „Glückseligkeit der Menschen in diesem Leben“.14 Diese besteht in der zugleich individuellen und gemeinschaftlichen Vervollkommnung; mehr noch: Sowohl Christian Wolff als auch Johann Christoph Gottsched leiten das Gegensatzpaar Eigennutz und gemeinen Nutzen gleichermaßen aus dem Glückselig11 von Loën, Der redliche Mann am Hofe, hrsg. von Reichert 1966, 236. 12 von Loën, Der redliche Mann am Hofe, hrsg. von Reichert 1966, 537–576. Dieser Traktat ist als Appendix der Romanhandlung beigegeben; trotzdem ist er in dieselbe eingebunden (dort 388) und hat damit den Status metadiegetischer Rede, also einer Binnenerzählung. Vgl. Martinez/Scheffel 2005, 75–76. 13 von Loën, Der redliche Mann am Hofe, hrsg. von Reichert 1966, 556. 14 von Loën, Der redliche Mann am Hofe, hrsg. von Reichert 1966, 387.

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keitszweck her und befinden beide in demselben für je schon angemessen vermittelt: Unter den Glückseligkeitszweck fallen alle Mittel der Vervollkommnung, d. h. sowohl diejenigen der Vervollkommnung meiner selbst als auch diejenigen der Vervollkommnung anderer.15 Mithin hat auch die auf die Glückseligkeit abzielende Weisheit nicht nur individuellen Charakter, sondern betrifft auch die menschliche Gemeinschaft.16 Indem von Loën jedoch nicht nur die praktischen, sondern alle Wissenschaften auf die Glückseligkeit ausrichtet, hat Weisheit mehr als nur den Charakter einer „Wissenschaft der Glückseeligkeit“ wie bei Leibniz und Wolff:17 Sie wird nachgerade zur Generalwissenschaft, vor der sich alle Spezialwissenschaften ob ihrer Zuträglichkeit zur Glückseligkeit zu rechtfertigen haben. Vor allem stellt die Weisheit mit ihrer strengen Nutzenausrichtung jede Wissenschaft, eben auch die theoretische, unter den Primat eines praktischen Anliegens, der Glückseligkeit. Mit dieser Wissenschaftssystematik knüpft der Autor von Loën nicht nur an Christian Thomasius an, bei dem er 1712 bis 1715 in Halle studierte,18 sondern eben auch an Christian Wolff und vor allem an Johann Christoph Gottscheds Ersten Gründen der gesamten Weltweisheit von 1733.19 Die Leibärzte des Königs sind mithin deshalb schlechte Mediziner, weil sie den eigentlichen Zweck ihrer Wissenschaft aus dem Blick verloren haben. „Der Aelteste unter ihnen gab sich in seinen Aussprüchen das Ansehen der Unfehlbarkeit.“20 Der älteste Hofarzt begeht mithin Hybris. „[D]er andere wär sein Schüler, der durch ihn sein Glück gemacht hätte, und nehm sich deswegen wohl in acht, ihm nicht zu widersprechen“.21 Der zweite Hofarzt schaut mithin nur auf seine Glückseligkeit, ohne auf diejenige des Königs zu schauen und damit auf diejenige des Gemeinwesens Aquitanien. Dass er damit auch die eigene Glückseligkeit gefährdet, weil dieselbe eben auch vom Gemeinwohl abhängt: Diesen Widerspruch sieht der zweite Hofarzt nicht. Das medizinische Denken des ersten und zweiten Hofarztes leidet also unter profunden grundlagentheoretischen Mängeln. Dass der dritte Hofarzt, Herr von Hippon, daher „überstimmet“ wurde,22 weist darüber hinaus auf einen profunden methodischen Mangel der aquitanischen Hofmedizin hin: In ihr zählt weniger die Qualität des über15 Wolff, Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, 1743, 16 (§ 19); Gottsched, Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, 1743, 24 (§ 32); vgl. Meierhofer 2014, 352–353. 16 Vgl. Engelhardt 1981, 37–79. 17 Arend 2019, 227; Grunert 1995, 441. 18 Vollhardt 2001, 198–208; Grunert 2005, 143. 19 Vgl. Schneiders 1983, 13–14; Grunert 2014, 71–72. 20 von Loën, Der redliche Mann am Hofe, hrsg. von Reichert 1966, 236. 21 von Loën, Der redliche Mann am Hofe, hrsg. von Reichert 1966, 236. 22 von Loën, Der redliche Mann am Hofe, hrsg. von Reichert 1966, 236.

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zeugenderen Argumentes, sondern die Quantität der auf ein Argument sich versammelnden Stimmen. Ihr geht es nicht um medizinische Wahrheit, zu deren Zweck der kritische Widerspruch erlaubt sein muss, sondern ihr geht es um „Ansehen“, zu dessen Zweck Korpsgeist verlangt und Widerspruch gerade unerwünscht ist. Diese Hofmedizin ist „Kunst auf des Königs Gefahr“.23

III Krankheit als Strafe – Moral als Medizin Worin die eigentlichen Ursachen des schlechten Zustands des Königs bestehen, macht der Graf von Rivera im unmittelbaren Anschluss gegenüber dem Leibarzt Hippon deutlich: Daß sich der König so übel befindet, fuhr der Graf fort, kommt von dreyerley Ursachen: Erstlich von einem unordentlichen und unmäßigen Leben: zweytens, von verschiedenen heftigen Gemüths-Bewegungen: und drittens von dem stets anhaltenden Gebrauch vieler Arzneyen. Was daraus, mein Herr, wenn diese Dinge zusammen kommen, in dem menschlichen Cörper vor Unheil entstehet, wissen sie besser als ich. … Ich meyne, der ehrliche Hippocrates habe gesagt: wer einen kranken Cörper nähret, der nähret nur die Krankheit: erfüllet ein zähes und dickes Blut die Adern-Gänge und böse schleimigte Säfte verhindern die Verdauung des Magens, so lehret uns die Natur, daß eine freye Luft und eine gemäßigte Bewegung besser sey, das Geblüt zu verdünnen, und den Magen seiner Pflicht zu erinnern, als warme Bette, geheitzte Stuben, und zugesperrte Zimmer.24

Der Graf plädiert für einen Kuraufenthalt des Königs in einer naheliegenden Einsiedelei, in welcher der König nicht nur von der stickigen Luft seiner Gemächer befreit und der frischen Luft des Landlebens zugeführt wird, sondern in welcher er für die Dauer seines Aufenthaltes auch und vor allem dem Stress des Hoflebens entzogen wird. Damit aktualisiert von Loën nicht nur nochmals die Temperamenten- und Säftelehre, sondern sieht sie ihrerseits eingebunden in ein System, in dem sowohl das physische Dispositiv die Seele als auch umgekehrt der seelische Zustand das körperliche Befinden beeinflusst. Darzustellen, wie sehr von Loën damit tatsächlich noch dem vom Grafen angerufenen Hippokrates oder dem im Eigennamen des dritten Leibarztes erinnerten Hippon von Samos folgt, wie sehr also die hier sich niederschlagende animistische Spielart der Temperamentenlehre z. B. von Georg Ernst Stahl geprägt sein könnte und von dessen Bestimmung der Seele als vorzüglicher Ursache körperlicher Verän-

23 von Loën, Der redliche Mann am Hofe, hrsg. von Reichert 1966, 236. 24 von Loën, Der redliche Mann am Hofe, hrsg. von Reichert 1966, 237–238.

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derungen, wäre Gegenstand medizinhistorischer Untersuchungen.25 Mit Blick auf die Rolle jedenfalls, welche den „Gemüths-Bewegungen“ als Ursache körperlichen Unwohlseins im Redlichen Mann am Hofe zukommt, sind diejenigen Maßnahmen aufschlussreich, die der Graf in der Einsiedelei zur Heilung des Königs unternehmen wird; zum anderen erhellt hieraus, dass der Roman nicht nur die Funktion der Medizin für die Politik hebt, sondern vor allem auch die Funktion der Moral für die Medizin stärkt. Denn in der Diätetik der Einsiedelei ist es nicht nur mit frischer Luft und „leichter“ Kost getan26 – u. a. mit Lammbraten, Wildbret, Rotwein und Biscuit –,27 sondern notwendig ist vor allem eine sowohl verhaltensethische als auch handlungsmoralische Umstellung. Von den Belustigungen des Menschen heißt es nämlich ebenso wie von seinen Handlungen: Die besten Sachen in der Welt können durch einen verkehrten und unordentlichen Gebrauch böse werden: die Strafen folgen hier dem Verbrechen auf dem Fusse nach; GOtt strafet dergleichen Laster und Ausschweifungen nicht: sie rächen sich selbst, und strafen die Übertretter der Göttlichen Unordnungen mit einem ihrem Verbrechen gemässen Leiden.28

Krankheit wird hier als Strafe bestimmt, die mit den unmittelbaren Folgen der Tat identisch ist: Krankheit ist eine von der de jure strafbaren Handlung unmittelbar und damit de facto verursachte Wirkung negativer Art, die selbst schon als Vergeltung angesehen wird.29 Dies bedarf einer rechtsgeschichtlichen Anmerkung: Diese unmittelbare Identifikation von Tatfolgen und Rechtsfolgen darf nicht ohne weiteres verwechselt werden mit der kirchenrechtlichen Identifikation von Tatstrafe (poena latae sententiae) und Spruchstrafe (poena ferendae sententiae). Diese Distinktion besagt lediglich, dass die Tatstrafe mit Vollzug der Straftat in Kraft tritt, ohne dass hierzu ein zusätzliches instanzielles Urteil, ein Spruch, erforderlich wäre; sie besagt jedoch nicht, dass die Strafe von der Tat unmittelbar verursacht wird.30 Es bleibt also ein Unterschied zwischen Tat25 Bauer 2000; Eckart 2009, 123, 137. 26 von Loën, Der redliche Mann am Hofe, hrsg. von Reichert 1966, 252: „Die Tafel war klein, und mit wenig Speisen besetzt. Fette Suppen, Fricasseen, Pasteten, Torten, Fische, MehlMilch- Back- und Zuckerwerk, zusammt dem Obst, welches der König überaus liebte; imgleichen dicke, süsse und schwere Weine, die jenseit der Gräntze von Itrurien wachsen, und von keiner leichten volatilischen Natur sind; alles dieses war hier nicht zu finden.“ 27 von Loën, Der redliche Mann am Hofe, hrsg. von Reichert 1966, 242, 259. 28 von Loën, Der redliche Mann am Hofe, hrsg. von Reichert 1966, 256. 29 Dies ist keineswegs eine abwegige, sondern auch im heutigen Strafrecht bedenkenswerte und auch bedachte Überlegung, wie unlängst der sogenannte „Gartenlaube-Prozess“ bzw. die „Tragödie von Arnstein“ veranschaulichte: Prantl 2017. 30 So erfolgt z. B. die Exkommunikation auf eine Reihe von Vergehen (z. B. Häresie und Gewaltverbrechen gegen den Papst) bereits mit Vollzug der strafbaren Handlung selbst: Die De-

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strafe und Tatfolge bestehen, der nur durch die Naturalisierung ersterer – der Tatstrafe – bzw. die Moralisierung letzterer – der Tatfolge – nivelliert würde. Offenbar geschieht aber genau dies in von Loëns Redlichen Mann am Hofe und gibt damit ein Paradebeispiel ab für Diskursformationen, die in der DFG-Forschungsgruppe FOR 1986 Natur in politischen Ordnungsentwürfen untersucht werden: Sowohl wird Moral naturalisiert, um ihr universale Geltung zuschreiben zu können; als auch wird Natur moralisiert, um eine universale Wirksamkeit der Moral in der Welt nachweisen zu können. Unter diesen Voraussetzungen ist erstens die Gesundheit des Königs von Aquitanien bloß materiale Voraussetzung dafür, sein Amt überhaupt versehen zu können, zweitens ist sie Voraussetzung dafür, sein Amt moralisch gut versehen zu können, und drittens hängt die Gesundheit des Königs selbst von der Bedingung ab, dass er moralisch gut ausgebildet ist und handelt.

IV Wahrheit und Gemeinwohl Medizinische Vorsorge besteht mithin vor allem in der moralischen Belehrung und der aus ihr hervorgehenden angemessenen Bewertung der Ziele, die man sich setzt, und der Mittel, die man dazu gebraucht. Es verwundert vor diesem Hintergrund folglich nicht, dass die Heilung des Königs erst dadurch vervollständigt ist, dass der Graf von Rivera ihm eine solche moralische Belehrung angedeihen lässt, und zwar indem er ihn eine Reihe allegorischer Gemälde betrachten lässt. Diese Strategie ist im Sinne des anthropologischen Diskurses „vernünftiger Ärzte“, der an der Schnittstelle von Ästhetik, Diätetik und (Psycho-)Therapie die These vertritt, dass eine dem Menschen angemessene Kunst auch dessen Gemütskrankheiten zu heilen im Stande ist.31 Im Folgenden sollen zwei dieser Gemäldeschilderungen sowie die jeweilige Auslegung ihrer Allegorien durch den Grafen von Rivera erläutert werden. Das erste Beispiel schließt gewissermaßen den Bogen zu dem oben (s. o., S. 201 f.) bestimmten Weisheitsbegriff:

linquenten „in canonem latae sententiae incidant, ut ipso facto sint excommunicationis vinculo innodati“ (Corpus Iuris Canonici, hrsg. von Richter/Friedberg 1881, Extra, liber 5, titulus 39, cap. 29). Vgl. die bündige Formulierung im heutigen katholischen Kirchenrecht: Johannes Paul II. (Promulg.), Codex iuris canonici, 2017, Canon 1314: „Poena plerumque est ferendae sententiae, ita ut reum non teneat, nisi postquam irrogata sit; est autem latae sententiae, ita ut in eam incurratur ipso facto commissi delicti, si lex vel praeceptum id expresse statuat.“ 31 Vgl. Zelle 2005, 97–99; Godel 2005, 125–128.

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Das dritte [Gemälde; O. B.], worüber der König selbst eine Auslegung verlangte, war ein Feld voll allerhand Waffen und Rüstungen, in dessen Mitte ein geharnischter Plock stunde, wobey sich Pallas in den Wolken zeigte: mit der Umschrift: Was nutzen diese / wo jene abwesend ist? Dieses erkläret sich leicht, antwortete der Graf; die Waffen bedeuten Macht und Stärke; wo aber die Weisheit, welche hier durch die Pallas vorgestellet wird, abwesend ist; da kann mit allen Waffen und verkehrten Anstalten nichts ausgerichtet werden.32

Nicht nur wird hier abermals der übergeordnete Status der Weisheit bestärkt, sondern auch wird die Weisheit im vorgestellten Gemälde als übergeordnete Instanz auch und vor allem für die politische Praxis bestimmt. Bereits gegenüber dem Leibarzt Hippon hatte der Graf betont, dass die Weisheit die übrigen Wissenschaften zum einen grundlegt und ihnen zum anderen durch die Ausrichtung auf den allen gemeinsamen Glückseligkeitszweck auch das entscheidende Kriterium ihrer Praktikabilität an die Hand gibt (s. o., S. 201 f.). Hier nun wird diese praktische Bedeutung der Weisheit so sehr gestärkt, dass unweises Handeln selbst dann, wenn die Mittel vorhanden sind (Waffen und Rüstungen), vollkommen wirkungslos ist. Dürfen Macht und Stärke insofern zwar als Materialursache politischen Handelns gelten, so beschränkt sich die Rolle der Weisheit nicht auf die Formursache: Die allegorisierte Warnung, dass ein unweiser Herrscher nicht mehr sei als ein Holzklotz im Harnisch,33 zeigt an, dass der Mensch ohne Weisheit auf der scala naturae auf die Stufe unbelebter Materie herabsinke und insofern als moralfähiges Wesen, dessen Handlungen ihm zugeschrieben werden können, aufhörte zu existieren. Die Weisheit macht den Menschen als solchen aus und hat damit auch an der Wirkursache aller guten Praxis teil. Diese relative Anthropologie des Gemäldes kann dem König mithin auch anzeigen, dass er bei Fortführung seiner schlechten Regierung nicht nur seinen Status als König zu verlieren droht, sondern auch seinen Status als Mensch überhaupt. Es ist daher interessant, dass sich die Bildauslegung des Grafen selbst nicht auf diese Dimension des Gemäldes bezieht; er belässt es bei der Interpretation der Weisheit als Formgeberin guten Handelns. Die vom Gemälde selbst eigentlich vorgestellte Drohkulisse – so kann man vermuten – wäre dem ohnehin unruhigen Gemüt des Königs wohl kaum zuträglich. Bemerkenswert ist daher schon die Anordnung der Gemälde: Diese bestehen ja nicht nur aus der pictura, sondern auch aus einer inscriptio; in diesem Falle „Was nutzen diese / wo jene abwesend ist?“34 Der Leser des Romans fühlt sich zurecht an die im Barock und in der Frühaufklärung beliebte 32 von Loën, Der redliche Mann am Hofe, hrsg. von Reichert 1966, 250. 33 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 13, 1887, Sp. 1935. 34 Vgl. Anm. 32.

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Gattung des Emblems erinnert, eine bestimmte dreiteilige Text-Bild-Relation, bestehend aus dem Bild, der pictura, der kurzen inscriptio und schließlich einer ausführlicheren subscriptio, die eine verbindliche Erläuterung von pictura und inscriptio lieferte.35 Die subscriptiones fehlen in dieser Gemäldegalerie, werden aber ersetzt durch die mündlichen Erläuterungen des Grafen von Rivera. Während der König von Aquitanien auf intradiegetischer Ebene, also auf der Handlungsebene tatsächlich nur mit einem zweiteiligen Text-Bild-Verhältnis konfrontiert ist, ergibt sich erst auf extradiegetischer Ebene, also für den Leser, eine dreiteilige Text-Bild-Relation, ein echtes Emblem mithin. Dies gibt dem Grafen einen sozusagen therapeutischen Spielraum, innerhalb dessen er dem König die ihm augenblicklich zuträglichste subscriptio angedeihen lassen kann. Anders verhält sich der Graf bei der Auslegung eines anderen Gemäldes, des zweiten Beispiels, das hier angeführt werden soll. Was bedeutet dann, forschte der König weiter, dieses vortreffliche Geschirr, da so viel Leute nach einander kommen, und was sie in ihren Gefässen tragen, hineinschütten; welches aber alles unten wieder durchläuft, und von Kröten, Erdexen, Schlangen und anderem Ungeziefer aufgelecket wird? Die Unterschrift lautet: Wir füllen vergebens. Dieses, allergnädigster König, hat wohl eine nachdenkliche Bedeutung. Der schöne Topf, den Ew. Majestät hier sehen, ist dero Schatz-Cammer: die Leute, die Most und Oel hinein schütten, sind dero Unterthanen: das Loch, wo unten alles durchlauft, zeiget eine üble Haushaltung; und die daherum sich einfindende Ungeziefer, sind die viele Schlemmer und Müßiggänger, die sich an dero Königl. Hofe befinden. Genug, Graf, sprach der König, ihr solt mir heut kein Sinnbild mehr auslegen: ich sehe ihr seyd ziemlich aufgeräumt, mir die Wahrheit zu sagen. Wolte GOtt! versetzte der Graf, mit einer demüthigen Gebehrdung, ich könte Ew. Majestät nur so viele und wichtige Wahrheiten sagen, daß sie mögten gesünder, ruhiger und der glückseeligste Monarch in der Welt werden: dieses ist der einzige Zweck von meinen freyen Reden. Der König druckte hierauf den Grafen mit einer herzlichen Bewegung an seine Brust: redet nur mit mir, sprach er, als mit eurem Freund: ich sehe wohl, daß ihr aufrichtig seyd, und es gut mit mir meynet.36

Bemerkenswert ist natürlich erstens der Inhalt des Gemäldes: Es hat einen politischen Inhalt, bestehend in der guten Verwendung des Vermögens des Gemeinwesens zum Wohle desselben. Dessen schlechte Verwendung, die „üble Haushaltung“, fällt nur zum Wohle Weniger aus – ein politischer Zustand, den Aristoteles bekanntermaßen als Oligarchie gebrandmarkt hatte.37 Das Gemälde und seine Erläuterung durch den Grafen von Rivera zeigen mithin nicht nur die ökonomischen Probleme des Königreichs Aquitanien an, sondern weisen auch auf eine ihnen zugrundeliegende Verfassungskrise hin: Denn zum einen dient 35 Scholz 2007. 36 von Loën, Der redliche Mann am Hofe, hrsg. von Reichert 1966, 251–252. 37 Aristoteles, Politik, hrsg. von Gigon 1981, 114 (1279a–b).

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die gegenwärtige Regierung nicht dem Wohle Aller; zum anderen ist der König ganz offensichtlich nicht mehr Herr im eigenen Staate. Am aquitanischen Hof haben sich über seinen Kopf hinweg aristokratische Strukturen etabliert, deren Missbrauch oligarchische Folgen nach sich zieht. Ist die Möglichkeit eines Machtmissbrauchs zugunsten einer gesellschaftlichen Teilgruppe in der Aristokratie systemisch angelegt, so wird diese Möglichkeit dort verwirklicht, wo diese Teilgruppe aus lasterhaften „Kröten, Erdexen, Schlangen und anderem Ungeziefer“ besteht. Blickt man auf Studien, welche die Hofkritik in der longue durée betrachten wie diejenige Helmuth Kiesels, so lässt sich sogar vermuten, dass von Loën hier eine der bedeutendsten frühmodernen Entwicklungen des europäischen Hofes kritisiert: Denn für ihn wie schon für Baldassare Castigliones Libro del Cortegiano (1528) ist die Aristokratisierung das prägende Moment der jüngeren Sozialgeschichte.38 Allerdings beobachtet von Loën anders als Castiglione nicht eine (Re-)Aristokratisierung der Gesellschaft überhaupt und auch ist sie in seinen Augen nicht Ursache eines Aufblühens der Hofkultur. Vielmehr beschränkt sich die Aristokratisierung auf den Hof, während die übrigen Gesellschaftsbereiche unter dieser wie unter einer Oligarchie leiden. Seit dem Mittelalter, namentlich seit Aegidius Romanus und Bartolus von Sassoferrato, existiert die Kontroverse, ob die Monarchie oder die Aristokratie das größte Risiko bergen: Die Monarchie hat den Vorteil für sich, dass ein gerechter Monarch in seiner Rechtschaffenheit durch niemanden neben sich behindert wird; sie hat den Nachteil, dass ein ungerechter Monarch gleichfalls durch niemanden neben sich behindert wird (zumindest nicht in den anti-monarchomachischen Systemen); insbesondere ist die Willensbildung des Monarchen für Außenstehende nicht einsehbar und damit grundsätzlich opak (Bartolus). Die Aristokratie hat den Vorteil, dass es zu ungerechten Aristokraten ein Gegengewicht durch gerechte Aristokraten gibt, dass mithin eine durchweg ungerechte Aristokratie weitaus unwahrscheinlicher ist als eine ungerechte Monarchie, denn die Willensbildung erfolgt in der Aristokratie im offenen Austausch und ist insofern für Außenstehende nachvollziehbar; die Aristokratie hat indessen den Nachteil, dass eine durchweg gerechte Aristokratie ebenso unwahrscheinlicher ist als eine gerechte Monarchie (Aegidius).39 Johann Michael von Loën nimmt sichtbar eine aristokratiekritische Position ein. Der Hof darf nicht als kryptoaristokratischer Scheinsouverän fungieren und die politische Willensbildung darf sich nicht durch ihn vollziehen, sondern Sou38 Kiesel 1979, 78–88, 199–207. 39 Vgl. Bartolus de Sassoferrato, Tractatus de regimine civitatis, hrsg. von Quaglioni 1983, 154– 156; Bach 2016, 123–126.

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verän ist der Monarch und seine absolute Position allein ist formale Bedingung der politischen Willensbildung. Dem Hofe kommt allein die Aufgabe zu, die materialen Bedingungen dieser Willensbildung zu beliefern, d. h. dem Monarchen diejenigen Kenntnisse zu vermitteln und diejenige Gesundheit zu gewährleisten, die er zum Fassen und Durchsetzen seiner Entschlüsse benötigt. Bemerkenswert ist daher zweitens die Funktion der Gemälde und ihrer „nachdenklichen Bedeutung“: Denn dem Grafen geht es ja nicht nur um die Behebung dieser ökonomischen und politischen Missstände in Aquitanien. Zu einem Königreich, das den Namen verdient, kann er Aquitanien ja nur dadurch machen, dass er den König, wie es heißt, „gesünder, ruhiger und zum glückseeligsten Monarch in der Welt“ macht, also den König wieder in die Lage versetzt, sein Amt auszufüllen und die Oligarchie des Hofes zu beenden. Dieses Ziel erreicht er zum einen durch den Inhalt dieser Belehrung – der König weiß nun, was zu tun ist – und zum anderen durch die Wirkung dieser Belehrung: Richtige Einsicht bewirkt nämlich ein „ordentliches Gemüt“ und damit die Gesundung des Königs. Die Bedingungskette in von Loëns Konzept einer politischen Medizin wird erkennbar: Das Gemeinwohl hängt vom Wohl des Königs ab; dieses wiederum besteht nicht nur in körperlicher, sondern auch in seelischer Gesundheit insofern, als die seelische Gesundheit Bedingung für die körperliche ist; seelische Gesundheit wiederum hängt nicht nur von der Pflege der unteren Seelenvermögen, sondern auch von der Pflege der oberen Seelenvermögen ab und daher vor allem von der richtigen Einsicht des Verstandes in das, was ist, und in das, was sein soll. Es ist besonders diese moralische Adäquanz eines „ordentlichen Gemüts“, die dem redlichen Mann am Hofe abverlangt, sowohl ein medicus politicus als auch ein philosophus medicus zu sein. Wenn die gräflichen Gemäldeinterpretationen hinsichtlich ihrer moraldidaktischen Bedeutung und Wirkung so wichtig sind, wie ist es folglich um ihre Verbindlichkeit bestellt? Auf der Handlungsebene bleibt nämlich genau die Verbindlichkeit der gräflichen Erläuterung prekär. Denn schließlich verfügt der König zunächst sehr ungehalten: „Genug, Graf, … ihr solt mir heut kein Sinnbild mehr auslegen“. Dass der Graf „ziemlich aufgeräumt“ ist, dem König „die Wahrheit zu sagen“, wird von diesem keineswegs ohne weiteres goutiert. Wie aber bereits angedeutet, ist Wahrheit Voraussetzung für ein ordentliches Gemüt, und zwar nicht nur medizinische Wahrheit, sondern auch moralische und politische Wahrheit. Will der Graf den König folglich zum Wohle aller heilen, so muss er im Dienste der Wahrheitsfindung frei reden. Seinem eigenen Dafürhalten nach offenbart der Graf seinem König sogar noch zu wenige Wahrheiten: „Wolte GOtt … ich könte Ew. Majestät nur so viele und wichtige Wahrheiten sagen, daß sie mögten gesünder, ruhiger und der glückseeligste Monarch in der Welt werden: dieses ist der einzige Zweck von meinen freyen Reden“.

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Von Loën verhandelt hier nichts geringeres als die politisch zwingende Notwendigkeit freier Rede auch ohne hoheitliches Mandat – eine Notwendigkeit, die gerade mit Blick auf das Gemeinwohl schon 150 Jahre vor von Loëns Roman in der medizinischen Traktatistik gesehen wurde: Der Arzt Rodrigo de Castro beteuert bereits 1596 in der Widmungsvorrede seiner Pestschrift, vom Hamburger Senat zwar ungefragt, aber gleichwohl in weiser Absicht die Wahrheit vorzutragen.40 Wahrheit als Bedingung der seelischen, mithin der körperlichen Gesundung des Königs und damit des politischen Gemeinwohls hat einen genuinen Wert. Dieser Wahrheitswert ist nicht nur vom Ansehen irgendeines Hofarztes oder von der Korpsgesinnung unter den Leibärzten unabhängig, sondern auch von dem Gutdünken des absoluten Herrschers; er setzt im Gegenteil auch dessen Offenheit für das bessere Argument voraus.

V Wahrheit und Absolutismus Diese Offenheit, so gut sie gemeinwohltheoretisch auch begründet sein mag, setzt gleichwohl kommunikationstheoretisch eine relative Einebnung der höfischen Hierarchie voraus. Selten wird die Frage nach dem Patientenverhalten interessant wie in dem Falle, dass der Patient zugleich König ist: Erst in demjenigen Moment, in dem der König seinen Berater als Freund ansieht, ist er bereit, dessen Rat auch anzunehmen. Der König bestimmt über diesen Moment, der allererst Voraussetzung für jede weitere freie Rede des Grafen ist. Zuvor aber war des Grafen freie Rede ein risikoreiches Unternehmen. Insofern erfolgt die Einebnung der Hierarchie zwischen König und Graf einseitig und nur unter königlichem Vorbehalt. Insofern ist diese Stelle auch paradigmatisch für das Problem, was man sich unter dem Terminus Aufgeklärter Absolutismus systematisch überhaupt vorzustellen habe:41 Wenn man beim Regenten erst unter der Bedingung Gehör findet, dass er jemanden als Freund statt als Bürger annimmt, wenn er ihm weniger mit Pflichtgefühl als mit Wohlwollen begegnet, so scheint dies den Despotismus nicht zu mindern. Vielmehr scheint diese Moralisierung eines intersubjektiven Verhältnisses, das doch eigentlich Rechtsfrieden herstellen soll, 40 de Castro, Tractatus brevis de natura et causis pestis, 1596, f. A2 r: „Sapiens, inquit Philosophus, est, qui interrogatus de illis, quorum scientiam tenet, verum dicit. Ego autem, splendissimi viri, dominique observandissimi, etsi vera & utilia proferam, minùs fortasse sapiens videbor siquidem non interrogatus loquor.“ Vgl. den Beitrag Manuel Förgs im vorliegenden Band. 41 Zu Der redliche Mann am Hofe in diesem Zusammenhang vgl. Kiesel 1979, 204–207; Jacobs 2001, 9.

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den Despotismus vielmehr zu verstärken. Bei all der deutlichen Kritik, die von Loën am Hofwesen übt, stärkt er einem „sanften Despotismus“ noch den Rücken. Nicht zu Unrecht urteilt nämlich Immanuel Kant fünfzig Jahre später, 1793, im Gemeinspruch: Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind … wäre der größte denkbare Despotismus.42

Zwar kann von Loëns Graf von Rivera durchaus unterscheiden, was ihm und dem Gemeinwohl nützlich oder schädlich ist; solange der König von Aquitanien sich jedoch nicht bereitfindet, den Rat des Grafen anzunehmen, um das Gemeinwohl zu verbessern, ist auch dieser „sich bloß passiv zu verhalten genötigt“. So sehr Johann Michael von Loën auch die seelische und die körperliche Gesundheit des Königs als Bedingung guter Politik und damit medizinische Wahrheit als Bedingung politischer Funktionalität bestimmt: Voraussetzung ihrer praktischen Wirksamkeit ist und bleibt der durch nichts eingeschränkte, nur Gott verantwortliche Wille des absolutistischen Souveräns. Der gewollt widersprüchliche – und insofern zu Recht umstrittene – Begriff Aufgeklärter Absolutismus43 taugt eben nur als Begriff einer empirischen, nicht aber rationalen Ideengeschichte:44 Medizinische Wahrheit, von der sich von Loën überzeugt zeigt, wird zwar nicht an ihr selbst politisch konstruiert, sondern aus allgemeinen Prinzipien und Erfahrung gewonnen – diese Position von Loëns mag man als aufgeklärt bewerten. Ob die wahrheitsfähigen medizinischen Aussagen des Grafen von Rivera jedoch praktisch wirksam werden, wird nicht nach medizinischen Prinzipien, sondern nach politischem Gutdünken entschieden – das bleibt das absolutistische Element auch in von Loëns Roman.

42 Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, hrsg. von Klemme 1992, 22 (AA VIII, 29033–29104); vgl. Grunert 2006, 23–25; zur utopischen Tradition des „sanften Despotismus“ vgl. Stiening 2017, 13–44. 43 Vgl. nach wie vor Aretin 1974; Kossok 1988; Vogler 1996, 272. 44 Vgl. zu dieser Unterscheidung Flasch 2005.

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Eva Maria Hofer

Wer schläft, sündigt nicht? Gerichtsmedizinische Betrachtung des Schlafwandelns in der Frühen Neuzeit am Beispiel eines Falls aus Kiel

Barfuß um Mitternacht „Es ist eine sonderbare Menschenart“,1 beginnt der Jurist Johann Heinrich Fricke (1740–1775) seine 1773 veröffentlichte Schrift Commentatio de noctambulis. Im selben Jahr war Fricke, Rechtsgelehrter und Universitätsprofessor, von der Universität in Kiel nach Halle gewechselt,2 wo er sich in seiner Veröffentlichung mit einem ungewöhnlichen Kriminalfall beschäftigte, welcher sich ein Jahr zuvor in Kiel ereignet hatte. Als sonderbar bezeichnet er solche Menschen, „die sich im tiefen Schlaf erheben, herumgehen, mannigfaltig herplappern, singen, alltäglichen Beschäftigungen nachgehen, ja sogar Dachgiebel emporsteigen und höchst Gefährliches wagen.“3 Die Rede ist von Nachtwandlern, noctambuli genannt, welche im Schlaf das Bett verlassen, ungewöhnliche Verhaltensweisen zeigen und sich dadurch bisweilen in Gefahrensituationen begeben. Die verkehrte Natur des Schlafwandlers wieder in ihre richtige Bahn zu lenken, so Fricke, sei grundsätzlich die Aufgabe eines Arztes, der den Gesundheitszustand des Betroffenen bessern solle.4 Gelegentlich würden Nachtwandler jedoch von solcher Leidenschaft angetrieben werden, dass aus deren nächtlichen Tätigkeiten Schaden an Leib und Gut anderer Menschen hervorgehe. In solchen Fällen

1 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 3: „Est mirum mortalium genus …“. 2 Zur Vita des jung verstorbenen Johann Heinrich Fricke ist nur wenig bekannt. Aufschluss bietet die von dem deutschen Rechtsanwalt Christoph Weidlich 1789 verfasste Sammlung sämtlicher juristischer Disputationen der Königlich Preußischen Friedrichs-Universität zu Halle, welche u. a. eine Biographie von Fricke enthält. J. H. Fricke wurde am 01. November 1740 in Wolfenbüttel geboren, studierte Theologie, Philologie und Recht in Helmstedt und Göttingen, bevor er 1770 als ordentlicher Professor der Rechte an die Universität in Kiel berufen wurde und 1773 den Ruf nach Halle folgte. Dort verstarb er bereits 1775 im Alter von 35 Jahren. Vgl. Weidlich, Vollständiges Verzeichniß, 1789, 65–66. 3 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 3: „… qui somno sepulti surgunt, obambulant, distincta voce garriunt, canunt, opera diurna retractant, quin aedium ascendunt fastigia et perniciosissima audent …“. 4 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 3. https://doi.org/10.1515/9783110612349-009

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komme auch ein Richter in Kontakt mit Schlafwandlern, dessen Aufgabe es sei, den Tatbestand auf seine Rechtmäßigkeit hin zu untersuchen.5 Der Gerichtsfall, mit welchem sich Fricke 1772 in Kiel konfrontiert sah, war nun folgender: In der Nacht vom 5. auf den 6. September 1772 überfiel der 24jährige Jürgen Heick, Bediensteter des Oberstleutnant v. Gollowin, lediglich mit einem Hemd bekleidet und barfuß um Mitternacht seinen schlafenden Freund, den Bediensteten des Hofgerichtsadvokaten Balemann, Gabriel Kirchner, der in demselben Haus wohnte. Er griff diesem an die Kehle und schlug ihn mit seiner Faust mehrmals ins Gesicht. Selbst als der aus dem Schlaf gerissene Kirchner hinter dem Angreifer seinen Freund Jürgen erkannte, dessen Namen rief, sich zur Wehr setzte und diesem in die Finger bis auf die Knöchel biss, erwachte Jürgen Heick nicht aus seinem Schlaf und ließ nicht von seinem Tun gegen Gabriel ab. Über längere Zeit rangen die Freunde am Boden, warfen dabei Stühle und Tische um, bis es Gabriel Kirchner schließlich gelang, während des Kampfes mit seinen Füßen gegen die Kammertüre zu klopfen, womit er die übrigen Hausbewohner aufweckte, die ihm zu Hilfe eilten. Da erst erwachte auch Jürgen Heick.6 Heick, der nach dem Vorfall ins Nachbarhaus floh und später angab, „daß er nicht wisse, wie es dazu gekommen“7 sei, wurde schließlich festgenommen und „vor dem Policeygerichte in Untersuchung gezogen“8, bis der Fall schließlich ausgeweitet und daraufhin criminaliter untersucht wurde.9 Bei dem vorliegenden Fallbericht handelt es sich, wenn auch nicht um den einzigen, so doch um einen seltenen seiner Art.10 Dass die Beschäftigung mit 5 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 3–4: „Tanto autem interdum cerebri sanguinisque excitantur fervore, ut hominum vitae bonisque actiones nocivas intendant. Igitur iudicis quoque est, quid iustum, si noctambulo usserit, fregerit, vulneravit, occiderit, cognoscere.“ 6 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 4: „Heickius quidam solo indusio amictus nudisque pedibus, ut erat de lecto surgens, noctu ingressus cubiculum amici Kirchneri, huius in lectu decumbentis guttur altera manu multa vi compressit, altera iteratis verberibus ora percussit. Diu luctati sunt et lecto devoluti in terram compugnarunt tantu aestu, ut sellas mensasque secum volutarent. Inter hocce pugnitus gestum certamen Kirchnerus Heickium nomine suo invocavit et digitos faucibus forte comprehensos tam fortiter momordit …. Ille tamen neque nominis succlamatione … neque ullas doloris notas edidit. Tandem foribus improbo impetu pulsatis somno excussus est“. Die deutsche und etwas erweiterte Fassung des Tatbestandes findet sich im Anhang: Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 24–25. 7 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 25. 8 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 26. 9 Das Bekanntwerden des ungeklärten Todes zweier früherer Brodfrauen, welche zu Heicks Dienstzeiten beide plötzlich tot im Bett aufgefunden worden waren, begründete zusammen mit dem Verdacht auf das Vorliegen eines Falls von Schlafwandel den Wechsel des Zuständigkeitsbereiches. Vgl. dazu Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 26. 10 Aggressive und potenziell zu Straftaten neigende Schlafwandler finden in frühneuzeitlichen Abhandlungen derselben oder juristischen Traktaten über den Schlaf gelegentlich Erwäh-

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Straftaten, welche im Schlaf begangen werden, nicht an der Tagesordnung eines Juristen standen, lässt auch Fricke durchblicken, der es gerade deshalb für besonders lohnenswert hielt, den Fall publik zu machen.11 Mit der veröffentlichten Falldarstellung und ihrer Diskussion ist zuallererst das Interesse am Schlafwandeln an sich verbunden. Zudem wirft die Beschäftigung mit einem schlafwandelnden Straftäter Fragen bezüglich seiner Schuldfähigkeit auf. Diese Fragen sind eng verbunden mit dem Problem der Einordnung des Schlafwandelns in den Zustand des Wachseins oder Schlafens und der Klärung des Bewusstseinsgrades. Dass sich dieses wissenschaftliche Interesse nicht erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte, sondern vielmehr ausgehend vom Ende des 16. Jahrhunderts auch von Medizinern, Philosophen und Vertretern angrenzender Fachdisziplinen geteilt wurde, wird anhand der zunehmenden Anzahl von veröffentlichten Traktaten, Disputationen, Monographien und gesammelten Observationes über das Schlafwandeln zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert deutlich. Der regen Diskussion über das Schlafwandeln in der damaligen medizinischen Literatur steht eine nur lückenhafte medizinhistorische Forschungslage gegenüber.12 Eine systematische Darstellung der Auseinandersetzung frühneunung, so etwa im ersten Buch des siebenbändigen Werkes Παρατηρήσεων sive Observationum medicarum rararum von Schenck von Grafenberg (in der von mir konsultierten Ausgabe von 1609, Staatsbibliothek München: Med.g. 151 unter dem Titel De noctambulis observatio, 75). Siehe auch Thomasius, Tractatio iuridica de jure circa somnum et somnia, 1723, 78–79 sowie: Romoli, Compendium seu tractatus, in utilißima & quotidiana materia homicidii, 1569, 77–78. Frickes Commentatio de noctambulis erweist sich unter ihnen als sehr umfangreich bezüglich der Tatschilderung sowie der genauen Falldokumentation und Argumentation der Strafwürdigkeit des Täters. So sind neben den medizinischen Gutachten des verletzten Jürgen Heick und Gabriel Kirchner auch die genauen Kosten vermerkt, die im Rahmen der Gutachten durch Ärzte und Rechtsgelehrte entstanden waren. 11 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 4. 12 Während Themenfelder wie Schlaf, Traum oder der künstliche Somnambulismus rege in (medizin)historischen Untersuchungen auftauchen und fundiert untersucht wurden, wurde das diesen Themen verwandte Gebiet der Schlafwandler dort bisweilen vernachlässigt und wenn, dann nur beiläufig erwähnt, zumindest jedoch nicht ausführlicher behandelt. Dietlinde Goltz bezeichnete 1993 diese fehlende Aufarbeitung gar als „Nachtseite der Medizingeschichte“ (Goltz 1993, 322). Eine umfangreiche medizinhistorische Untersuchung zum Schlafwandeln, welche insbesondere die Frühe Neuzeit fokussiert, in welcher das Schlafwandeln ärztlicher Gegenstand wird, blieb jedoch auch nach 1993 aus. Zu erwähnen sind jedoch zwei aktuellere Aufsätze, welche sich mit mittelalterlichen Quellen zum Nachtwandel auseinandersetzen. Zum einen handelt es sich dabei um den 2016 erschienenen Artikel Sleepwalking Through the Thirteenth Century von Thörnqvist, zum anderen um den Beitrag Sleepwalking, Violence and Desire in the Middle Ages von 2013 von MacLehose. An dieser Stelle soll auch der Aufsatz Sleepwalking, Subjectivity and the Nervous Body in Eighteenth-Century Britain von Handley aus dem Jahr

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zeitlicher Ärzte mit Schlafwandlern und eine Rekonstruktion des Medikalisierungsprozesses bzw. der „Pathologisierung“ dieser fehlen bislang und stellen ein Forschungsdesiderat dar.13 Dieser Beitrag soll einen Einblick in das Forschungsgebiet der Schlafwandler in der Frühen Neuzeit geben. Anhand des konkreten Falls aus Kiel, in welchem es zu aggressivem Verhalten eines Schlafwandlers während seiner schlafwandlerischen Episode gekommen war, soll der interdisziplinäre Umgang mit diesem Thema beleuchtet werden. Dabei wird insbesondere auf die Sachverständigen-Rolle des Mediziners vor Gericht in Bezug auf den straftätigen Schlafwandler eingegangen werden, auf dessen diagnostisches Vorgehen sowie die Schwierigkeiten, die sich im Falle Heick für praktisch tätige Ärzte, Juristen und Gerichtsmediziner ergaben. Welche Rolle spielten Ärzte in diesem gerichtlichen Ausnahmefall und weshalb wurden sie mit dem Fall betraut? Welche Aufgaben übernahmen Mediziner in dieser Angelegenheit und wie rechtsbindend waren deren Schlüsse, die sie aus dem Fall zogen? Frickes Schrift Commentatio de noctambulis besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil, der in 17 Paragraphen untergliedert ist, stellt eine theoretische Abhandlung über das Schlafwandeln an sich sowie über das gerichtliche bzw. gerichtsmedizinische Vorgehen in Fällen von in diesem Zustand verübten Vergehen dar. Der zweite Teil, der Anhang, enthält das „Urtheil in Untersuchungssachen wider Jürgen Heick“14, wobei sich dieses aus der Schilderung des Tatbestandes (status causae), der Vorbringung von Zweifeln am Tatbestand (rationes dubitandi) und schließlich der Begründung der letztendlichen richterlichen Entscheidung (rationes decidendi) im Fall Heick zusammensetzt. Für seine eigenen Erläuterungen und Argumente griff Fricke auf die Ausführungen zeitgenössischer und auf dem Gebiet des Schlafwandelns häufig zitierter Ärzte zu diesem Phänomen zurück. Bei Frickes Gesamtdarstellung des Schlafwandelns wird deutlich, dass diese das Schlussurteil, welches im Falle Heick gesprochen wurde, rechtfertigen und unterstützen sollte. Dass es dazu nötig war, etablierte gerichtsmedizinische Vorgehensweisen und Meinungen zum Schlafwandeln zu kritisieren und zu widerlegen, wird sich später noch zeigen. Zu den gerichtsmedizinischen Schriften, in welchen eine ausführlichere ärztliche Auseinandersetzung mit Schlafwandlern stattfand, zählen die Quaestiones medico-legales15 des italienischen Mediziners Paolo Zacchia (1584–1659) sowie die von dem Leipziger Mediziner Johannes Bohn (1640–1718) 1717 verfass2012 genannt werden, in welchem die Entwicklung der Auseinandersetzung mit Schlafwandlern im 18. Jahrhundert mit dem age of sensibility in Zusammenhang gebracht wird. 13 Dieses Forschungsdesiderat versucht die Autorin im Rahmen der im Entstehen begriffenen Doktorarbeit zu füllen. 14 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 23. 15 Zacchia, Quaestionum medico-legalium tomi tres, hrsg. von Franckenau 1688.

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te und 1760 von Albrecht Haller in einem Sammelband veröffentlichte Schrift Casus aegri noctambulationis morbo laborantis resolutus16. Paolo Zacchia greift in seinen Ausführungen auf bereits vorbeschriebene Fallberichte zurück und benutzt diese, um deren Aussagen zu hinterfragen und mit seiner eigenen Anschauung zu ergänzen. Johannes Bohn wiederum steht in der Tradition von Zacchia, wobei Bohns Augenmerk insbesondere auf der Simulation von Schlafwandel liegt. Juristische Vorlagen, auf welche Zacchia und spätere Zeitgenossen zurückgriffen, waren zum einen die Aussagen des italienischen Juristen Giacomo Menochio (1532–1607) bezüglich der Bestrafung von Schlafwandlern17 sowie die des französischen Rechtsgelehrten André Tiraqueau (1488–1558).18 Die Tatsache, dass gegen Ende des 16. Jahrhunderts Mediziner begannen, den Schlafwandler als ihren Patienten zu betrachten und als solchen zu behandeln, brachte die Einführung eines Fachterminus zur Bezeichnung eines Schlafwandlers mit sich, wobei sich im Lateinischen überwiegend der Begriff noctambulus oder später somnambulus etablierte.19 Einstimmig setzte sich außerdem unter Ärzten der Frühen Neuzeit die Definition von Schlafwandlern durch als Menschen „qui dormientes ambulant“, also solche, die schlafend herumgehen. Neben dieser Basisdefinition waren weitere Kriterien von einem noctambulus zu erfüllen: So setzt die Bezeichnung außerdem voraus, dass sich der Betroffene vor seiner schlafwandlerischen Episode zum Schlaf hingelegt hatte. Ein Nachtwandler hatte sich darauf mitten in der Nacht noch schlafend aus dem Bett zu erheben, dieses zu verlassen und diverse Tätigkeiten zu verrichten, um anschließend wieder in sein Bett zurückzukehren. Als wesentlicher Bestandteil der Definition eines Schlafwandlers zählt schließlich dessen Amnesie für das 16 Bohn/Vipacher, Casus aegri noctambulationis morbo laborantis resolutus, hrsg. von Haller 1760. 17 Menochio, De arbitrariis iudicum quaestionibus et causis libri duo, 1615, 453. 18 Tiraqueau, Opera omnia, 1616, Bd. 7, 18–20. 19 Die genannten lateinischen Termini finden sich im klassischen Latein nicht. Auch fehlt es an antiken Termini, mit denen ausdrücklich das Schlafwandeln oder Schlafwandler bezeichnet wurden. In der Frühen Neuzeit wurden zur Beschreibung eines Schlafwandlers die Begriffe noctambulus und somnambulus synonym verwendet, wobei unterschiedliche Autoren mehr zu dem einen oder anderen Begriff tendierten. Hauptkritikpunkt an der Verwendung des Wortes noctambulus war, dass sich dieser Terminus lediglich auf solche Menschen bezog, die in der Nacht schlafend herumgingen und diese ausschloss, die tagsüber eingeschlafen waren und daraufhin schlafwandelten. Vgl. dazu Horst/Langius, Exetasis Physike de Somno et Somniis, 1606, fehlende Paginierung. Eine ausführliche Darstellung der Entwicklung eines Fachterminus für das Schlafwandeln sowie auch über dessen überwiegende Verwendung für männliche Schlafwandler und zum Verhältnis der Geschlechter bei diesem Phänomen beinhaltet die entstehende Doktorarbeit der Autorin. Die deutschen Bezeichnungen Nachtwandler und Schlafwandler werden in diesem Text synonym verwendet.

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Vorgefallene während des Nachtwandels nach dem Erwachen. An dieser Stelle erscheint es wichtig zu erwähnen, dass die Episoden, von welchen hier die Rede ist, sozusagen intrinsisch bzw. natürlich entstehen, also keines expliziten Einflusses von außen bedürfen – im Gegensatz zu künstlich hervorgerufenen somnambulen Zuständen wie unter dem animalischen Magnetismus oder kataleptischen, d. h. hypnotischen Zuständen, wie sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts populär wurden.

Ein psychopathologisches Phänomen Der Schlaf und das im Schlaf begangene Vergehen nimmt in den Gesetzen und damit auch in der Rechtsmedizin der Frühen Neuzeit eine Sonderstellung ein. Dabei wird auf das antike Bild zum Schlaf zurückgegriffen: So gilt nach antiker Vorstellung der Schlaf als des Todes Bruder als todähnlicher Zustand oder zumindest als ein, wie in Aristoteles’ De generatione animalium geschildert, Zwischenzustand zwischen Leben und Nichtleben. In seinem Dialogwerk Nomoi lässt Platon den athenischen Dialogsprecher sogar so weit gehen, dass er dem Schlaf jeglichen Wert abspricht, „denn wer schläft hat keinen Wert, genauso wenig wie ein Toter.“20 Für Platon liegt der Grund der Wertlosigkeit des Schlafes in der in diesem Zustand fehlenden geistigen Tätigkeit. In der Tat wird der Schlaf rechtlich gesehen bei Zacchia dem Zustand der dementia bzw. der amentia zugeordnet, wobei die Bezeichnung dementia als Überbegriff für sämtliche psychopathologische Veränderungen und Störungen dient.21 Im II. Buch seiner Quaestiones medico-legales widmet sich Zacchia in insgesamt 23 Unterkapiteln, die unter dem Titel De dementia et rationis laesione et morbis omnibus, qui rationem laedunt zusammengefasst werden, solchen Störungen. Nach einer Einführung in den Begriff der dementia, ihrer Einteilung sowie ihrer Kennzeichen und Ursachen geht er schließlich auf einzelne Formen abnormer Geisteszustände ein. So zählt der italienische Mediziner neben den Einfältigen und Dummen, den Taubstummen, Melancholikern, den Verliebten 20 Platon, Lg. VII 808b6–7: „Καθεύδων γὰρ οὐδεὶς οὐδενὸς ἄξιος, οὐδὲν μᾶλλον τοῦ μὴ ζῶντος.“ 21 Zacchia, Quaestionum medico-legalium tomi tres, hrsg. von Franckenau 1688, 151: „Constituamus ergo nos unum quoddam genericum nomen, comprehendens sub se omnes affectus, in quibus mens vel errat, vel debiliter operatur, quod non aliud esse debet, quam hoc nomen Dementia; quocunque enim modo, ac in quocunque tempore, aut morbo, Rationalis animae functiones non bene, ac naturaliter celebrantur, sed vel nullo modo, vel debiliter, vel depravate, tunc dementia fit …“.

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und Betrunkenen auch die Schlafenden und Nachtwandelnden an 12. Stelle auf, gefolgt von weiteren Zuständen wie Lethargus, Coma oder Epilepsie. Zacchia unterscheidet weiter drei Formen der dementia, nämlich der insania als der schwersten Unterform, bei der ein Verlust des Vernunftgebrauches besteht, der phrenitis als verzerrter und der fatuitas als geschwächter oder verminderter Vernunft. Das Gebiet der dementia und damit auch das des Schlafwandlers fiel primär in den Aufgabenbereich des Arztes, da dieser und nur er, so Zacchia, in der Lage sei, solche Zustände (passiones) zu erkennen.22 Aus diesem Grund griffen Rechtsgelehrte in Fällen, in welchen Zustände von eingeschränktem oder fehlendem Vernunftgebrauch zu delinquenten Verhaltensweisen geführt hatten, auf die Expertise von Medizinern zurück, die den Täter bezüglich des Vorliegens einer dementia beurteilen sowie eine Aussage hinsichtlich der Ausprägung und der Einschränkung des Vernunftgebrauches machen sollten.23 Auch Fricke gibt zu Beginn seiner Commentatio an, das Themengebiet der Schlafwandler gehöre vorrangig in die Hände von Ärzten. Aus diesem Grund werde er für seine eigene Argumentation bezüglich des Urteils im Falle Heick auf den Erfahrungsschatz der Ärzte zurückgreifen, indem er deren Beispiele (exempla) verwendet.24 Jedoch schafft sich Fricke mit dem Zusatz, dass selbst Ärzte und Philosophen beklagten, bei der Erschließung des Schlafwandelns wegen seiner individuellen Ausprägung bei jedem Kranken auf Schwierigkeiten zu stoßen,25 genügend Spielraum bei der Interpretation des vorliegenden Kriminalfalls, wie sich später noch zeigen wird. Zur ersten Einschätzung abnormer Geisteszustände diente die Beobachtung der Handlungen des Betroffenen (actus bzw. facta) sowie dessen Art zu sprechen (verba). Diese Beobachtungen konnten vom Juristen selbst zur groben Orientierung vorgenommen werden, galten jedoch als sehr störanfällig und brachten die Gefahr mit sich, eine falsche (laienhafte) Diagnose zu stellen. Solchen Situationen sollte der fachmännische Blick eines Arztes, welcher sich nicht al22 Vgl. Zacchia, Quaestionum medico-legalium tomi tres, hrsg. von Franckenau 1688, 151. 23 Eine im Vergleich zu Fricke aktuellere Forderung, dass Ärzte in Fällen von Geisteskrankheiten oder Wahnsinn gerichtlich mit einbezogen werden müssen, stammt von dem deutschen Mediziner Johann Zacharias Platner (1694–1747), vgl. hierzu Fischer-Homberger 1983, 160–163; vgl. außerdem Schenck/Theisner, Dissertatio medica de ambulatione in somno, 1671, [3]. 24 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 4–5: „Prior quaestio in medicorum est iudicio. Temerarium itaque foret, si Aesculapii sacris haud initiatus suo Marte de illa arroganter disputaret. Igitur exemplis utar, quibus et medici utuntur.“ 25 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 5: „At viri, tam philosophi, quam medici, nimia sui fiducia haud occaecati, fatentur ingenue, se naturam atque indolem noctambulonum penitus non noscere, mirum esse et impenetrabile singularitate sua ac varietate in singulis aegrotantibus huius morbi genus.“

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lein auf die acta und verba beschränkte, entgegenwirken. Das diagnostische Vorgehen der Ärzte in derartigen Fällen, so Zacchia, bestünde in der Beobachtung und Beurteilung der Gemütsbewegungen, der Gesichtszüge und des körperlichen Erscheinungsbildes des Patienten sowie der Miteinbeziehung weiterer äußerer Einflussfaktoren.26 Unter Berücksichtigung all dieser Aspekte wurde dann ein medizinisches Urteil über den Geisteszustand des Patienten bzw. des Angeklagten gefällt. Zum Schlaf und zu seiner Auswirkung auf die Geistestätigkeit meint Zacchia: Es ist zweifellos so, dass es im Schlaf zu einem Verlust der Vernunft oder besser gesagt zu deren Verblendung und Verzerrung kommt. Da die Ursache davon jedoch eine natürliche ist, kann man sagen, dass es sich dabei um eine natürliche dementia handelt, weshalb die Rechtsgelehrten die Schlafenden auch zu den Wahnsinnigen zählen und sie dem Rasenden und dem geistig Abwesenden gleichstellen.27

Wenn auch der Zustand des Schlafes mit einer Veränderung der Vernunft und des Verstandes einhergeht, so ist er doch unumgänglich und liegt in der Natur des Menschen. Eine Zuordnung der Schlafenden zu der Gruppe der insani sieht Zacchia in Anlehnung an den Arzt und Gelehrten Girolamo Fracastoro (um 1477–1553)28 deshalb als falsch an.29 Da es sich beim Schlaf um eine natürliche Ursache der dementia handelt, spricht Zacchia in diesem Fall von einer dementia naturalis. Damit hebt sich der Schlaf als Ursache einer eingeschränkten Vernunft von den übrigen Formen der dementia ab.30 Welche Folge hat nun die gezeigte Zuordnung des Schlafes für die Beurteilung von Schlafwandlern, insbesondere für solche, welche in ihren nächtlichen Episoden straffällig wurden und sich vor Gericht verantworten mussten? Und welche Rolle spielten Mediziner im weiteren Verlauf solcher gerichtlichen Untersuchungen? 26 Zacchia, Quaestionum medico-legalium tomi tres, hrsg. von Franckenau 1688, 155: „Caeterum praeter signa dementiae, quae universaliter ex factis, & verbis desumuntur, & quae passim Jurisconsulti adducunt, alia sunt, quae multo magis ad vivum rei naturam patefaciunt, a Medicis proposita, quae partim ex animi passionibus, partim autem ex faciei, & corporis aspectu, ac partim denique ex quibusdam ab extra accidentibus habentur.“ 27 Zacchia, Quaestionum medico-legalium tomi tres, hrsg. von Franckenau 1688, 181: „In somno quoque mentis occasum, seu potius errorem, ac depravationem evenire, certo certius est: quia tamen naturalem causam habet …, naturalis quaedam dementia ea esse dici potest unde jure Legumperiti etiam dormientes inter dementes connumerant, eos enim furioso, & absenti aequ parant …“. 28 Fracastoro, Turrius sive de intellectione dialogus, hrsg. von Boenke 2006, 200A: „Porrò neque dormientes, quanquam falsa concipiant, insanos appellamus, quoniam tempus indebitum est.“ 29 Vgl. Zacchia, Quaestionum medico-legalium tomi tres, hrsg. von Franckenau 1688, 157. 30 Vgl. Zacchia, Quaestionum medico-legalium tomi tres, hrsg. von Franckenau 1688, 157.

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Der Schlafwandler und der Arzt Da der überwiegende Teil der Schlafwandler während ihrer nächtlichen Episoden kein gewaltsames oder delinquentes Potenzial zeigte, hatten Ärzte in der Regel lediglich Kontakt zu „einfachen“ Schlafwandlern: Solche, welche alltäglichen Beschäftigungen während der Nachtzeit im Schlaf nachgingen und wegen ihres Leidensdruckes Rat bei einem Mediziner suchten. Kontakt zu einem Arzt entstand jedoch nicht nur bei ausgeprägtem Leidensdruck des schlafwandelnden Patienten, sondern offenbar auch bei aus den Anfällen heraus entstandener Fremdgefährdung oder zumindest unerlaubtem Verhalten jeglicher Art mit nachfolgender richterlicher Untersuchung des Falls. Bei derartigen komplexen Prozessen wurden laut Zacchia Mediziner hinsichtlich der Fragestellung hinzugezogen, „ob freilich einer von ihnen, der einen Menschen ermordet oder ein beliebiges anderes Vergehen verübt, bestraft oder eher freigesprochen werden muss.“31 Prinzipiell galt ein Schlafender in der Tradition der Clementinae32 als immun im Falle eines verübten Vergehens.33 Interessant an der vorherigen Aussage von Zacchia ist, dass dieser die allgemeine Forderung der Clementinae, in welcher der Schlafende gleich dem Rasenden und dem Kind für seine Tat im Sinne einer fehlenden Irregularität keine Verantwortung zu tragen hat, modifiziert. Der geläufige Vergleich des Schlafes mit dem Tod und der daraus folgende Umkehrschluss, dass ein Schlafender ebenso wenig wie ein Toter sündige, findet bei Zacchia keine absolute Anwendung. Vielmehr sei, wie auch schon der italienische Jurist Giacomo Menochio (1532–1607) kritisch dargestellt hatte, eine Differenzierung der im Schlafwandel verübten Tat und des Schlafwandlers hinsichtlich seiner Kenntnis der eigenen Disposition zum Schlafwandeln, aber

31 Zacchia, Quaestionum medico-legalium tomi tres, hrsg. von Franckenau 1688, 182: „Hos Medici, ex eo quod nocte ambulent, Noctambulos vocamus, de quibus peculiaris quaestio esse potest: nam proponitur communiter a Doctoribus dubium, an scilicet aliquis ex his hominem occidens, vel quodvis aliud delictum committens, puniendus sit, vel potius excusandus; an item irregularis evadat, si quis patraverit irregularitatem inducens.“ 32 Die Clementinae (Constitutiones clementinae) sind Bestandteil des Corpus Iuris Canonici. Sie wurden am 23. Oktober 1317 von Papst Johannes XXII. veröffentlicht und stellen eine Sammlung von Dekreten dar, die ursprünglich von Papst Clemens V. nach dem Konzil von Vienne (1311/12) zusammengetragen worden waren, der diese vor seinem Tod jedoch nicht mehr verkünden konnte. Das Corpus Iuris Canonici galt von 1500 bis zu seiner Ablösung durch den Codex Iuris Canonici 1917 als anerkannte Rechtsquelle der katholischen Kirche; vgl. dazu Duve 2009, 218–225. 33 Clemens V., Clem. 5.4.1: „Si furiosus, aut infans seu dormiens, hominem mutilet vel occidat, nullam ex hoc irregularitatem incurrit.“

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auch bezüglich einer fehlenden Amnesie für das Vorgefallene vonnöten.34 Dadurch lässt es Zacchia vorerst offen, ggf. eine Regelwidrigkeit bei derlei Vorkommen anzunehmen und eine Bestrafung des schlafgewandelten Täters zu erwirken. Aus Zacchias Bemühen zur überlegten Differenzierung des im Schlafwandel verübten Verbrechens spricht die Forderung nach einer genauen Untersuchung des Falls, welche aufgrund seiner Zugehörigkeit zur dementia vorerst einem Arzt überlassen werden sollte. Zur genaueren Beurteilung eines Schlafwandlers durch einen Mediziner im Rahmen einer richterlichen Konsultation zählte die Begutachtung des angeblich schlafgewandelten Täters unter Berücksichtigung des geschilderten Tathergangs. Zur Untersuchung des Täters gehörte die Dokumentation etwaiger Verletzungen, welche sich der Schlafwandler während der Episode zugezogen hatte, seines allgemeinen körperlichen Zustandes sowie seiner psychischen Verfassung. Neben dem Täter selbst erfolgte auch eine Inspektion des Opfers hinsichtlich Verletzungen und ggf. Todesursache. Der Tathergang sollte daraufhin auf seine Plausibilität hin geprüft werden sowie auf seine Vereinbarkeit mit dem Zustand des Schlafwandelns.35 Die genaue Prüfung der Umstände des Tathergangs, des Täters und des Opfers diente drei Zwecken: Zum einen der Dokumentation und Aufarbeitung des Falls als Grundlage im weiteren richterlichen Prozess, zum anderen aber auch, um eine definitive Aussage darüber zu treffen, ob es sich beim Täter tatsächlich um einen Schlafwandler handelte oder ob dieser lediglich simuliert hatte, geschlafwandelt zu sein. So fehlt es nicht an Berichten von Angeklagten, welche ihre Neigung zum Schlafwandeln vorgeschoben hätten, um der Schuld und der gesetzmäßigen Strafe für ihre Tat zu entgehen.36 Und drittens, sollte der Mediziner zu dem Schluss gekommen sein, dass es sich beim Täter um einen Schlafwandler handeln müsse, so sollte aus der genauen Untersuchung hervorgehen, ob sich der Delinquent fahrlässig verhalten und damit schuldig gemacht hatte. Die zusammengefassten Ergebnisse aus den medizinischen Untersuchungen, welche aus dem zu Beginn geschilderten Fall aus Kiel hervorgingen, wurden in Frickes Commentatio de noctambulis im Anhang mit aufgenommen. Aus ihnen lässt sich entnehmen, dass sich die Freunde Heick und Kirchner im Ge34 Menochio, De arbitrariis iudicum quaestionibus et causis, 1615, 453; vgl. Zacchia, Quaestionum medico-legalium tomi tres, hrsg. von Franckenau 1688, 182. 35 Als Referenz für solche Einschätzungen könnten publizierte Fallberichte bzw. exempla gedient haben. Vgl. dazu Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 5: „Ideoque in singulis causis … animadvertat … num status, quo delictum peractum, congruat indoli noctambulationis, quatenus de ea exemplis habemus compertum.“ 36 Vgl. z. B. Bohn/Vipacher, Casus aegri noctambulationis morbo laborantis resolutus, hrsg. von Haller 1760, 449–450.

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fecht gegenseitig diverse Verletzungen zugefügt hatten. Die Inspektion von Kirchner, die der Ratschirurg Bussenius durchgeführt hatte, ergab ein blutiges Bild aus Blessuren im Gesicht, am Hinterhaupt und an den Schläfen, Kratzwunden am Hals sowie diversen Hämatomen.37 Heick, dessen körperlicher Zustand vom Kompanie-Feldscherer Dusmeny dokumentiert wurde, hatte aus dem Kampf Verwundungen an zwei Fingern und an beiden Füßen davongetragen.38 Im Rahmen der körperlichen Untersuchung Heicks hatte der Feldscherer am Morgen nach der Tatnacht auch einen Aderlass vorgenommen, wobei das Blut von Heick „ein erhitztes, dickes und schwärzliches Ansehen“39 zeigte. Die Prüfung der Beschaffenheit des Blutes mittels Aderlass diente in diesem Fall dem Zwecke der Klärung des Temperaments und damit der Disposition des Täters zum Schlafwandeln. Aus der allgemein vertretenen Annahme einer gesteigerten Einbildungskraft als Ursache für das Schlafwandeln folgt die Suche nach Umständen,40 welche die imaginatio bzw. die phantasia und damit die Neigung zum Schlafwandel verstärken. Insbesondere feine und hitzige spiritus sollten die Arbeit der Einbildungskraft begünstigen. Da die Einbildungskraft nach Ansicht vieler Mediziner der Frühen Neuzeit bei Melancholikern und Hypochondern als stark ausgeprägt galt, wurde eben solchen Menschen ein Hang zum Schlafwandeln nachgesagt.41 Auch Choleriker galten wegen ihrer hitzigen

37 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 25: „… voller Blut im Gesichte und am Hinterhaupte stark verwundet gewesen, an den Schläfen starke Contusionen, am Halse unterschiedene mit Nägeln gekratzte Wunden, über den ganzen Rücken, in der linken Seite und über den Bauch braune und blaue Flecken gehabt …“. 38 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 25 f.: „… und sein Gegenpart Heick nach dem Zeugniß des Compagnie Feldscherer Dusmeny an zwey Fingern jedoch ohne Läsion einer Junktur verwundet, und an beyden Füssen geschunden gewesen …“. 39 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 26. 40 Beispielhaft seien hier nur einige der häufig in der Frühen Neuzeit bzgl. des Schlafwandelns zitierten Autoren erwähnt: Petrus Salius Diversus, De febre pestilenti tractatus et curationes quorundam particularium morborum, 1586, 305: „Causa igitur, quod in dormientibus vel motus tantum, vel una cum motu etiam sensus ipsi, reserventur, erit fortis imaginativa una cum spirituum tenuitate & subtilitate.“ Vgl. auch Horst, De natura, differentiis et causis eorum, qui dormientes ambulant, 1595, 209. Die Ursache eines phantasma movens findet sich auch in mittelalterlichen Quellen, so auch bei Albertus Magnus, der sich Aristoteles’ Theorie von der Bewegung im Schlaf anschließt. Albertus Magnus, Opera omnia, hrsg. von Borgnet 1891, Bd. 9, 145. 41 Die Disposition zum Schlafwandeln bei Melancholikern erklärte sich durch die Beobachtung, dass diese stark zum Sinnieren und Gedankenkreisen neigten, was durch deren kalte und trockene Hirnbeschaffenheit begründet war, woraus besonders feine spiritus entstehen konnten. Neben den Vertretern dieser Theorie (darunter Salius Diversus) fanden sich jedoch viele Kritiker, die Patienten von melancholischem Gemüt wegen ihrer Trägheit und Ängstlich-

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spiritus als prädisponiert. Neben der Melancholie oder einer hypochondrischen Veranlagung galt auch die Epilepsie als mit dem Schlafwandeln vergesellschaftet.

Die Rekonstruktion des Falles Wie geschah nun die Beurteilung der Tat hinsichtlich ihrer Plausibilität im Allgemeinen und speziell im Kieler Fall Heick? Zacchia empfiehlt, bei der Falluntersuchung zuallererst herauszufinden, ob es sich bei der schlafwandlerischen Episode, welche zu der Straftat geführt hatte, um das erstmalige Auftreten einer solchen handelte oder aber ob der Täter bereits in der Vergangenheit durch Schlafwandeln aufgefallen war: Hatte der Täter schon früher häufiger das Bett in der Nacht schlafend verlassen, war er durch das Schlafzimmer auf und ab gegangen oder hatte er ähnliche Verhaltensweisen wie in der Tatnacht gezeigt?42 Die glaubhafte Schilderung eines bereits vorbekannten Leidens am Nachtwandel, welches sich in der Vergangenheit in schlafwandlerischem Verhalten bemerkbar gemacht oder sich sogar in seinem Ausmaß schrittweise verschlimmert hatte, galt als weniger der Simulation verdächtig als der Bericht von einem Täter mit einer plötzlich und zum ersten Mal aufgetretenen Episode, welche sich schon beim Erstauftritt als so heftig erwies, dass der Betroffene zu den Waffen griff und diese gegen einen Feind wendete.43 Im nächsten Schritt galt es, den Tathergang zu rekonstruieren. Welche Wegstrecke musste der Schlafwandler von seinem Bett aus zum Tatort zurücklegen und welche Hürden waren von ihm dabei zu überwinden? Mussten fest verschlossene Türen geöffnet werden oder waren Hindernisse im Weg, gegen welche der Schlafwandler stoßen konnte?44 Gerade letzterer Umstand machte das Vorliegen von Schlafwandel unwahrscheinlich. Weite Strecken zum Tatort oder hochkomplexe Handlungen, um zu ihm zu gelangen, betrachtet Zacchia als nicht plausibel und mit dem Schlafwandel nicht vereinbar. Auf die Fülle an Fallberichten über Schlafwandler, in welchen diese durchaus wagemutige Unternehmungen auf sich nehmen, auf Hausdächer klettern, Treppen auf- und absteigen und dergleichen anstellen, geht Zacchia an dieser Stelle nicht ein. Gleichwohl dürften ihm derartige Beispiele vorgelegen haben, da er deren Aukeit nicht dazu in der Lage sahen, sich des Nachts zum Schlafwandeln aufzuraffen; vgl. z. B. Horst, De natura, differentiis et causis eorum, qui dormientes ambulant, 1595, 207–209. 42 Vgl. Zacchia, Quaestionum medico-legalium tomi tres, hrsg. von Franckenau 1688, 182. 43 Vgl. Zacchia, Quaestionum medico-legalium tomi tres, hrsg. von Franckenau 1688, 182–183. 44 Vgl. Zacchia, Quaestionum medico-legalium tomi tres, hrsg. von Franckenau 1688, 183.

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toren in seinem Kapitel über Schlafwandler bezüglich anderer Erkenntnisse zitiert und deren Aussagen für seine Argumentation benutzt.45 Zur Rekonstruktion des Tathergangs zählt neben der Ermittlung des zurückgelegten Weges auch die Klärung, ob Waffen bei der Tat im Spiel waren und wenn ja, ob diese dem Schlafwandler griffbereit zur Hand lagen oder von ihm erst unter größeren Schwierigkeiten oder Anstrengungen geholt werden mussten. Schließlich gehörte dazu auch die Frage nach der Art der Tatwaffe und ob sie leicht zu bedienen war oder gewisse Expertise, wie sie etwa die Bedienung von Gewehr und Armbrust erfordern, von seinem Träger verlangte.46 Zuletzt geht Zacchia bei der Begutachtung eines Schlafwandlers noch auf die Rolle der vom Täter nach der Tat im Wachzustand gezeigten Reue bzw. deren Fehlen ein: So gebühre demjenigen, der im Schlaf ein Verbrechen begangen hätte und dieses im Wachzustand nicht bereuen, sondern billigen würde, die Strafe.47 Strafbar machte sich ein Nachtwandler ebenfalls, wenn sich bei der Untersuchung zeigte, dass sich dieser fahrlässig verhalten hatte. Unter diesen Umständen konnte dem Angeklagten zumindest eine Teilschuld gegeben und damit eine Strafe gegen ihn verhängt werden. Eine solche sei laut Zacchia nämlich in derartigen Fällen in Erwägung zu ziehen, in welchen der Täter bekanntermaßen gewohnt gewesen sei zu töten und von seiner nachtwandlerischen Disposition gewusst hätte. Zweitens auch dann, wenn der Tat eine außerordentliche Gemütsbewegung vorangegangen wäre, welche die schlafwandlerische Episode und ihr darin gezeigtes aggressives Verhalten begünstigt hätte, wie etwa ein Streit mit dem zukünftigen Opfer oder auch ein heftiges Verlangen nach einer Frau oder einem Mädchen und die andauernde geistige Beschäftigung damit, wie dieses Verlangen gestillt werden könnte. Würde der Schlafwandler, der von solchen Emotionen getrieben wird, mit dem Kontrahenten bzw. der begehrten Frau unter einem Dach schlafen, so würden derlei Geschehnisse, in welchen es zum Mord oder zur Vergewaltigung käme, provoziert werden und könnten un45 So findet sich etwa bei Horst ein sehr ausführlich geschilderter Fall dreier Brüder im Schloss Bernstein, von denen der eine im Schlaf durch das Fenster auf den Dachgiebel steigt und dort aus einem Vogelnest die Jungen herausnimmt; vgl. Horst, De natura, differentiis et causis eorum, qui dormientes ambulant, 1595, 173–174. Ähnlich komplex muten auch die bei Schenck von Grafenberg beschriebenen Tätigkeiten von Schlafwandlern an, die auf dem Fenster reiten, Türen öffnen oder Treppen auf- und absteigen; vgl. Schenck von Grafenberg, Παρατηρήσεων sive observationum medicarum rararum, novarum, admirabilium, & monstrosarum, 1609, 75. 46 Vgl. Zacchia, Quaestionum medico-legalium tomi tres, hrsg. von Franckenau 1688, 183. 47 Zacchia, Quaestionum medico-legalium tomi tres, hrsg. von Franckenau 1688, 183. Diese Stelle übernimmt Zacchia von Menochio; vgl. Menochio, De arbitrariis iudicum quaestionibus et causis, 1615, 453: „Dormiens si deliquit, & deinde vigilando ratum habuit quod fecit, poena ordinaria punitur.“

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gehindert geschehen. Hätte der Schlafwandler solchen Situationen Gelegenheit gegeben, indem er wissentlich im Zustand eines heftigen Affekts mit seinem zukünftigen Opfer im selben Haus genächtigt hätte, so wäre er durchaus für sein Handeln vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen.48 Allerdings sollte dann die Strafe milder ausfallen, da bei im Schlaf verübten Verbrechen von einem Fehlen der Willensfreiheit auszugehen sei, das ein Zügeln der Mordlust bzw. des körperlichen Verlangens nicht zulasse.49 Die Textpassage bei Zacchia zeigt, dass ein Teil der Verantwortung für sein Tun an den Schlafwandler abgegeben und dieser trotz oder gerade wegen der fehlenden Einsichtsfähigkeit während seiner Episoden zur Eigenverantwortung herangezogen wurde. Der Schlafwandler als potenzielle Gefährdung für seine Mitmenschen hatte selbständig Vorkehrungen zu treffen, die gewaltsame Handlungen im Schlaf gegen seine Umwelt verhindern sollten. Diese Forderung setzte sich allgemein in gerichtsmedizinischen Traktaten zum Schlafwandeln in der nachfolgenden Zeit durch. So hatte ein Schlafwandler, welcher von seinen nächtlichen Verhaltensweisen wusste bzw. ein Mensch, der beispielsweise von Beruf aus an Waffen und Töten gewohnt war und zu schlafwandlerischen Anfällen neigte, seine Mitmenschen über seine Zustände zu informieren und zu warnen. Außerdem wurde von ihm gefordert, zum Schlafen ein Bett für sich allein zu benutzen, am besten auch über ein eigenes Schlafzimmer zu verfügen und dieses ggf. für die Nacht zu verriegeln, um ein unkontrolliertes Verlassen des Zimmers zu verhindern. Alternativ ließen sich auch Gegenstände als Hindernisse im Zimmer verteilen, gegen welche der Schlafwandler während der Nacht stoßen und davon aufwachen sollte. War der Betroffene im Besitz von Waffen, so waren solche wegzuschließen und derart zu verwahren, dass sie vom Schlafwandler nicht leicht zu ergreifen waren. Da Mediziner, wie oben bereits beschrieben, zusätzlich beobachteten, dass dem Schlafwandel, insbesondere seiner aggressiven Form, häufig heftige Emotionen vorausgingen, die dann zu gewaltsamen Handlungen führen konnten, wurde vom Prädisponierten zusätzlich ein hohes Maß an Selbstbeherrschung und -maßregelung verlangt, wodurch es dem Schlafwandler gelingen sollte,

48 Vgl. Zacchia, Quaestionum medico-legalium tomi tres, hrsg. von Franckenau 1688, 182. 49 Vgl. Zacchia, Quaestionum medico-legalium tomi tres, hrsg. von Franckenau 1688, 182: „… licet mitius in tali casu agi debeat ob rationis defectum, quae, ut supra dixi, in somnis non est sui juris, ut patet; nam praesupponi debet, quod etiam stante summo desiderio occidendi inimicum, vel puella potiundi, tamen potuerit ille, ratione sui juris existente, desiderium illud coercere … sed quia voluntas non erat libera, idcirco citra illam operatur dormiens.“

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starke Emotionen zu vermeiden bzw. sich selbst zu zügeln, sobald solche aufwallen würden.50

Das ärztliche Gutachten Im Fall Heick wurde das ärztliche Gutachten zu dem bekannten Vorfall von der medizinischen Fakultät in Kiel ausgestellt. Das Gutachten geht von einer Klassifizierung des Schlafwandelns in eine leichte und eine schwerere Form aus. Merkmal der leichten Form sei zum einen das darin gezeigte Verhalten. So würden von ihr Betroffene „nur gemäßigte, ihnen des Tages gewöhnliche und dabey ungefährliche Handlungen“51 ausüben. Dabei bleibt ein Teil des Bewusstseins erhalten. Menschen mit dieser Affektion erwachen frühzeitig bei Gegenwehr oder Zurufen ihres Namens aus ihrem schlafwandlerischen Zustand und erlangen so wieder ihr volles Bewusstsein. Die schwerere Ausprägung des Schlafwandelns dagegen ist bei den sog. lunatici, also den Mondsüchtigen, anzutreffen. Diese erleiden in Abhängigkeit der Mondphasen ihre Episoden und weisen ein deutlich komplexeres und aggressiveres Verhalten auf.52 Da Jürgen Heick in der Tatnacht weder durch das Rufen seines Namens noch durch Schmerzreize zu erwecken war, konnte er dem leichteren Grad des Schlafwandelns nicht zugeordnet werden. Eine Anerkennung als Schlafwandler des höheren, schwerwiegenderen Grades sahen die das Gutachten verfassenden Ärzte jedoch als ebenso kritisch. Diese Form setzte zum einen ein Prodromalstadium von der bereits beschriebenen leichten Ausprägung des Schlafwandelns voraus, zum anderen, da es sich um eine chronische Erkrankung (morbus chronicus) handelte, das Fortbestehen solcher Anfälle über einen Paroxysmus hinaus. Da die Eigen- und Fremdanamnese zu Heick bezüglich solcher Vorkommnisse in der Vergangenheit jedoch leer war und auch der unter Beobachtung stehende Angeklagte nach der Tatnacht derartige Episoden nicht erneut erlitt, konnte dieser ebenfalls dem zweiten Ausprägungsgrad des Schlafwandelns nicht sicher zugeordnet werden.53 Zudem erschien der geschilderte Tathergang mit dem beispiellosen blutigen Zweikampf, der laut Aussagen des Opfers über

50 Zu den geforderten Vorsichtsmaßnahmen vgl. z. B. Thomasius, Tractatio iuridica de jure circa somnum et somnia, 1723, 79 oder Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 15–16. 51 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 29. 52 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 29. 53 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 29–30.

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eine halbe Stunde angedauert und dennoch,54 trotz der gewaltsamen Auseinandersetzungen aus „Rufen, Schreyen, Herumwälzen, Stoßen, Kratzen, Schlagen und Beissen“55, nicht zum Aufwachen des Jürgen Heick geführt habe, den Gutachtern als unrealistisch. Aus dem Ergebnis des Aderlasses, welcher am Morgen nach der Tatnacht bei Jürgen Heick vorgenommen wurde und ein schwarzes, dickes und erhitztes Blute zeigte, schlossen die Mediziner auf Heicks gute körperliche Verfassung und allgemeinen einwandfreien gesundheitlichen Zustand.56 Jedoch erfährt der Leser weiter, dass Heick im Untersuchungszeitraum während seiner Gefangenschaft einen epileptischen Anfall erlitt und dass epileptische Anfälle beim Angeklagten bereits in der Vorgeschichte aufgetreten waren.57 Das medizinische Gutachten kam schließlich nach den beschriebenen körperlichen Untersuchungen des Täters und des Opfers sowie der Prüfung des Tathergangs und der Umstände, welche zu diesem geführt hatten, zu dem Schluss, dass es sich bei Jürgen Heick nicht um einen Schlafwandler, sondern um einen gesunden Menschen und damit um einen Simulanten handeln müsse, der seine Straftat gegen Gabriel Kirchner im Voraus geplant hatte und erst,58 als es Kirchner gelang, Hilfe zu alarmieren, erkannte, dass sein Plan gescheitert war und hierauf vorgetäuscht hatte, aus seinem Schlafzustand zu erwachen. Hinzu komme, so noch ein weiteres Argument, das im Gutachten gegen Heick ausgesprochen wird, dass, sollte es sich beim Angeklagten doch um einen Schlafwandler handeln, er sich im Wachzustand Gedanken zu einem solchen heimtückischen Vergehen gemacht haben müsse. Schließlich würden Nachtwandler solchen Absichten, mit welchen sie sich tagsüber beschäftigt hätten, des Nachts in ihren Episoden nachgehen.59 54 In der Fallschilderung des seiner Schrift angehängten Urteils heißt es bei Fricke, dass Gabriel Kirchner erst nach einer halben Stunde seinen Freund als den Angreifer erkannte und hierauf dessen Namen rief. Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 24: „Und ob gleich Deponent, der Anfangs geglaubt, daß er von Mördern angefallen werde, sich aber fast nach einer halben Stunde erst besonnen, und gemerkt, daß es Heick sey, diesen bey seinem Vornamen, Jürgen, angerufen, wovon er jedoch nicht sagen kann, ob es mehr, als das eine mahl, geschehen …“. 55 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 29. 56 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 29: „… wobey übrigens auf das dicke und schwärzliche Ansehen des ihm des folgenden Morgen abgelassenen Geblüts, aus welchem man so wenig auf eine verdorbene Leibesbeschaffenheit, als aus dem hochrothen Ansehen auf einen gesunden Zustand eines Menschen schließen dürfe …“. 57 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 26: „… und ist derselbe nachgehends Act. nr. 10. mit der Epilepsie befallen, von der er schon in vorigen Zeiten Anstösse gehabt hat.“ 58 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 29–30. 59 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 30.

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Dieser letzte Punkt in der Argumentationsreihe des Gutachtens innerhalb des Teils rationes dubitandi gleicht einem moralischen Zeigefinger. Er scheint den Zweck der absoluten Rechtfertigung vertreten zu haben, einen delinquenten Schlafwandler unter allen Umständen als schuldig und damit als einer Strafe würdig zu erachten. Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass sich sein straffälliges Verhalten tatsächlich im Schlafwandel ereignet hätte, wäre Heick dadurch allein schon wegen seiner mörderischen Gedanken im Wachzustand als schlechter Mensch entlarvt worden. Aus dem aus der Schilderung des Tathergangs und dem medizinischen Gutachten hervorgegangenen Zweifel an der Echtheit des geschilderten Falls resultierte die Forderung nach der Spezialinquisition für Jürgen Heick. Zumindest aber sei ein purgatorio60 angemessen und – sollte er doch von derlei Folgen gerichtlich befreit werden – so seien wenigstens die im Prozess verursachten Kosten von dem Angeklagten zu tragen, worunter neben den Kurkosten für den verwundeten Kirchner auch die Zahlung eines Schmerzensgeldes für diesen sowie der finanzielle Aufwand fielen, welcher im Rahmen der notwendigen Untersuchungen angefallen war.61

Das richterliche Urteil Nachdem die gerichtlich angeordnete Untersuchung im Kriminalfall Heick und das in diesem Zusammenhang entstandene medizinische Gutachten der Universität Kiel im Text aufgeführt wurden sowie die Forderungen, welche daraus aufgrund der Zweifel hervorgingen, wird es nun an dieser Stelle zu prüfen sein, welches Gewicht diese ersten Überlegungen samt dem medizinischen Gutachten bei dem vorliegenden Kriminalfall letztendlich einnahmen. Welche Rolle spielte die Einschätzung der Ärzte und ihre Expertise hinsichtlich des Phänomens Schlafwandeln im vorliegenden Gerichtsprozess? Fest steht, so erfahren wir aus Frickes Kurzzusammenfassung des Falls, dass Jürgen Heick im Gerichtsverfahren vorerst tatsächlich – wie es auch von den Ärzten für gut geheißen wurde – als Simulant eingestuft wurde und mehrere Monate im Gefängnis (carcere vinculisque) ausharren musste.62

60 Ein Angeklagter konnte sich durch die Leistung eines Purgationseides (iuramentum purgatorium) von den Anschuldigungen eines Prozesses freisprechen. Dieses Rechtsverfahren ist insbesondere für die Zeit des Mittelalters dokumentiert, wurde jedoch auch noch in der Frühen Neuzeit praktiziert, vgl. Helmholz 2009, 104–106. 61 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 30. 62 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 4.

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Aus dem angefügten Urteil im Anhang kann der genauere Prozessverlauf nachvollzogen werden. So geht daraus hervor, dass auf das medizinische Gutachten hin in Verbindung mit dem Bekanntwerden des Todes zweier Dienstfrauen zu Heicks Amtszeiten der Fall dem Stadtmagistrat übergeben wurde, um diesen criminaliter zu untersuchen,63 und dass nach einer stattgehabten Generalinquisition die Frage nach der Rechtfertigung für eine Spezialinquisition im Raum stand. An späterer Stelle des Urteils heißt es sogar, „die Untersuchung und der eigentliche Anfang der Generalinquisition [hätten] ohne das medicinische Gutachten schwerlich ihren Fortgang gehabt“,64 wodurch sich die Prozesskosten erhöht hätten. Das ärztliche Urteil war offensichtlich ernst genommen und für die Entscheidungsfindung im weiteren Prozess verwendet worden. Dass es sich bei der Beurteilung des vorliegenden Falls jedoch um keine eindeutige Angelegenheit handelte, welche eine klare Entscheidung hinsichtlich der Echtheit des geschilderten Schlafwandels sowie der angemessenen Bestrafung der Tat erlaubt hätte, lässt sich aus Frickes Äußerung erahnen, dem der Fall Heick in der juristischen Fakultät in Kiel begegnete und der kurz erwähnt, der Fall hätte bei einer doch ziemlich großen Menschenmenge Unentschlossenheit ausgelöst.65 Ähnlich muss es sich bei der definitiven Rechtsprechung verhalten haben, die sich mit diversen Zeugenaussagen, Gutachten und ihrer eigenen Einschätzung des Geschehenen konfrontiert sah. So heißt es bezüglich des medizinischen Gutachtens im letzten Gliederungspunkt (rationes decidendi) des Urteils: Und wenn man gleich … es denen artis peritis allerdings zutrauen kann und muß, daß der in dem medicinischen Gutachten angenommene geringere und größere Grad der Nachtwanderung und der nach selbigem unter noctambulonibus und lunaticis gemachte Unterschied auf Erfahrungen oder Zeugnissen anderer Aerzte … zur Rechtfertigung seinen Grund haben mag; … gleichwohl … es unleugbar ist, daß die Nachtwanderer von gar sehr unterschiedenen Arten sind ….66

Diese Aussage bezweckt einerseits, das Fachwissen und die Gelehrtheit der Ärzte nicht in Frage zu stellen. Denn aufgrund der ihnen vorliegenden Fallbeispie63 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 26: „Es ist nun diese Sache anfänglich, so lange man sie als eine Policeysache betrachtet hat, vor dem Policeygerichte in Untersuchung gezogen, nachgehends aber ist auf ein von der hiesigen medicinischen Fakultät über diesen Vorfall, und des Inculpaten angebliches Nachtwandern … ausgestelltes responsum, welches gänzlich gegen ihn ausgefallen, durch ein Regierungsrescript vom 9. Dec. v. J. … dem Stadtmagistrat … diese Sache nunmehr criminaliter zu untersuchen …“. 64 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 39. 65 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 4. 66 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 32–33.

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le, aus welchen die Mediziner ihre Schlüsse zu Jürgen Heick gezogen hatten, legten die Ärzte durchaus überzeugende Gründe vor, Heick als Simulanten zu beurteilen. Andererseits macht ebendiese Aussage deutlich, dass die große Diversität unter Schlafwandlern nicht immer durch ein bekanntes Fallbeispiel abgedeckt werden kann und dass Erkenntnisse, welche aus einem exemplum abgeleitet werden, zwar für den einen Schlafwandler gelten können, auf einen anderen jedoch nicht anwendbar sind. Ärzte zogen in ihrer Praxis und damit auch beim Erstellen medizinischer Gutachten tradiertes Wissen von medizinischen Autoritäten zu Rate, um daraus ihre Entscheidungen für ihre Einschätzungen und für ihr Handeln zu treffen.67 So auch im Fall Heick, bei welchem das Gutachten großenteils den von dem Mediziner Zacchia aufgestellten Regeln folgte. Aus dem bei Fricke angeführten Schlussurteil lässt sich die Kritik an den Ärzten, welche das Gutachten ausgestellt hatten, lesen: Die Ärzte hätten sich in ihrer Untersuchung des Falles zwar an die für die forensische Praxis gängigen Regeln gehalten,68 diese jedoch als zu absolut und immer gültig verwendet. Genau darin meint der Rechtsgelehrte aber einen Fehler erkannt zu haben, denn die Ärzte, welche gemeinhin gern exempla zur Begründung ihrer Argumentation verwenden, hätten die zahlreichen Gegenbeispiele, die einer notwendigen Graduierung bzw. einer progredienten Verschlimmerung schlafwandlerischer Episoden bei einem Menschen widersprechen, übersehen.69 So gäbe es nicht nur die eine Art von Nachtwandlern bzw. deren Einordnung in zwei Grade. Vielmehr würden sie sich untereinander hinsichtlich ihrer im Anfall gezeigten Verhaltensweisen, die alltäglich bis gefährlich ausfallen können, ihres Bewusstseinszustandes und ihrer individuellen Reizschwelle, die sie zum Erwachen bringt, unterscheiden.70 Fricke geht sogar so weit, dass er von einem error Zacchiae71 spricht und damit die Aussagen der rechtsmedizinischen Koryphäe Pao67 Bezüglich der Vielgestaltigkeit medizinischer exempla in der Frühen Neuzeit sowie ihrer Bedeutung hinsichtlich des Sammelns und des Weitergebens von Wissen vgl. Gadebusch Bondio 2008, 129–170. Hinsichtlich der Bedeutung der Bezugnahme auf antike oder zeitgenössische Autoritäten zur Gewinnung von Glaubwürdigkeit in medizinischen Gutachten vgl. Lindner 2018, 179–189. 68 Gemeint sind hier Empfehlungen, wie sie etwa bei Zacchia aufgeführt werden. 69 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 33. Als Gegenbeispiele werden in dem Urteil Schilderungen von Nachtwandlern bei den Ärzten Theodor Zwinger III., Johannes Schenck von Grafenberg, Georg Gottlob Richter u. a. angeführt. 70 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 33: „… es unleugbar ist, daß die Nachtwanderer von gar sehr unterschiedenen Arten sind, indem einige sich nach dem Mondwechsel richten, andere nicht, einige nur gewöhnliche, andere aber gefährliche Handlungen unternehmen, einige von den unternommenen Handlungen gar kein, andern nur ein geringes Bewustseyn … haben, einige … leicht zu sich selbst zu bringen, andere aber ganz unempfindlich sind …“. 71 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 7–9.

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lo Zacchia bezüglich der Einordnung des Schlafwandelns in zwei Grade sowie dessen Äußerungen bezüglich der Möglichkeit der Überwindung von Hindernissen durch einen Schlafwandler in Frage stellt. Dies tut er durch Verwendung einer Reihe von Gegenbeispielen von anderen medizinischen Autoritäten zu diesem Thema, darunter Wilhelm Fabry (1560–1634), Johannes Schenck von Grafenberg (1531–1598), Jakob Horst (1537–1600), dem Verfasser der ersten Monographie über das Schlafwandeln, sowie weiterer Mediziner. Ein starres Festhalten, so Fricke, an einmal gewonnenen Erkenntnissen bezüglich des Schlafwandelns und deren universelle Anwendung auf sämtliche Fälle, wie es indirekt den Ärzten vorgeworfen wird, würde die fatale Gefahr bergen, Fehlentscheidungen zu treffen. Daraus eröffnete sich im Prozess die Möglichkeit, dass die von den Ärzten zum Gutachten verwendeten Fallbeispiele und tradierten Erfahrungen nicht auf Jürgen Heick angewendet werden konnten, da es sich bei diesem um einen Sonderfall (per modum exceptionis) des Schlafwandelns hätte handeln können, welcher sich durch ein fehlendes oder nur geringes Bewusstsein auszeichnete und in welchem der Betroffene seine Einbildungskraft voll und ganz auf seine Handlungen fixierte. Dieser Umstand könnte erklären, heißt es weiter, weshalb Heick weder auf das Rufen seines Namens reagierte noch durch starke Schmerzreize in der Tatnacht aufzuwecken war.72 Was die schrittweise Verschlechterung schlafwandlerischer Anfälle im Sinne einer Häufung solcher Paroxysmen oder einer zunehmenden Komplexität der darin gezeigten Handlungen angeht, welche von den Ärzten als Vorbedingung für gewaltsame Handlungen im Nachtwandel gefordert wurde, sahen die Rechtsgelehrten eine zu harte Anwendung der ärztlichen Regeln auf den vorliegenden Fall. Sie beziehen sich neben zahlreichen bereits an anderer Stelle erwähnten Gegenbeispielen, in welchen eine nicht unerhebliche Ausprägung des Schlafwandelns plötzlich aufgetreten war, auch auf die allgemein vertretene Lehrmeinung, dass das prädisponierende Alter für Schlafwandler die Jugend sei, in welcher sich auch Jürgen Heick befand. So sei es nicht unwahrscheinlich, dass dieser im Alter von 24 Jahren, „wenn die Kräfte in einer gewissen Stärke und Lebhaftigkeit sich finden“,73 zum ersten Mal eine schlafwandlerische Episode erlitten hätte.74 Auch der Umstand, dass der Beschuldigte in den nachfolgenden Nächten nicht erneut schlafwandelte, was die Ärzte noch als Beweis für das Schlafwandeln hätten gelten lassen wollen, steht dem letztendlichen Urteil im Fall Heick dessen Unschuld nicht entgegen. Im Gegenteil geht dieses davon aus, dass des72 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773. 73 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 35. 74 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 34–35.

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sen Zustände erstens nicht periodisch wie bei den Mondsüchtigen aufträten und zweitens, dass Heick durch die Inquisition, welche mit Gefängnishaft und Ketten verbunden war, sozusagen von seinem Leiden geheilt worden wäre, da die Angst vor der mit dem Schlafwandeln assoziierten Strafe eine wirksame Kur des Nachtwandelns sei.75 Als alternativer Erklärungsansatz für das Ausbleiben weiterer schlafwandlerischer Episoden wird außerdem die Tatsache angeführt, dass während der Haft ein epileptischer Anfall von Heick dokumentiert worden war und sich das Übel des Schlafwandelns zur Epilepsie hin entwickelt hätte.76 Aus der Pathophysiologie des Schlafwandelns, welches zum einen durch eine ausgeprägte Einbildungskraft, zum anderen aber auch durch die Eigenschaft besonders hitziger spiritus erklärt wurde, ließ sich auch auf die Beschaffenheit des Blutes Betroffener schließen. Die Tatsache, dass der Aderlass des Beschuldigten „erhitzt, dick und schwärzlich“77 war, widerspricht nach Anschauung der meisten frühneuzeitlichen Ärzte nicht der schlafwandlerischen Konstitution. Im Gegenteil galt gerade eine solche Blutzusammensetzung als besonders prädisponierend.78 Umso mehr mag die Schlussfolgerung der Kieler Ärzte irritieren, welche Heick bezüglich des Aderlasses einen ausgezeichneten Gesundheitszustand attestierten. Dieser Widerspruch wird auch im Schlussurteil zu Jürgen Heick kritisch erwähnt, da doch „das erhitzte und gallische Geblüt“79 bekanntermaßen die Einbildungskraft schärfen und das Risiko, schlafwandlerische Episoden zu entwickeln, erhöhen würde. Gleichzeitig würde es sich bei der Interpretation des Aderlasses um eine sehr vage Angelegenheit handeln, da ein „solches Geblüt unter tausend Fällen kaum ein mahl das Nachtwandern veranlasse, wenn nicht zugleich andere Ursachen, die im Gehirn und

75 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 35. Die Theorie hinter dieser doch etwas eigenartig anmutenden Erklärung für das mögliche Sistieren des Schlafwandelns bei Heick wird von mehreren Medizinern geteilt. So empfiehlt z. B. auch der Arzt Jakob Horst, besonders verwegene Schlafwandler im Anfall mit Schlägen wieder zu Bewusstsein zu bringen. Alternativ kann auch eine Schüssel voll Wasser, welche dem umhergehenden Nachtwandler in den Weg gestellt wird, zur Abkühlung der erhitzten spiritus führen, sobald dieser hineintritt. Der Schrecken, der durch die kalte Überraschung resultiert, soll zukünftigen Episoden vorbeugen; vgl. Horst, De natura, differentiis et causis eorum, qui dormientes ambulant, 1595, 251. 76 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 35. 77 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 35. 78 Vgl. dazu beispielsweise Horst, De natura, differentiis et causis eorum, qui dormientes ambulant, 1595, 230. Selbst bei Zacchia ist als Ursache für das Schlafwandeln von calor die Rede: Zacchia, Quaestionum medico-legalium tomi tres, hrsg. von Franckenau 1688, 182. 79 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 36.

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den Lebensgeistern liegen, dabey concurriren“.80 Wegen der Unzuverlässigkeit der Temperamentbestimmung im Prozess gegen Schlafwandler rät Fricke auch seinen Kollegen, sich nicht allein auf das Ergebnis des Aderlasses zu stützen, sondern vielmehr nach weiteren Hinweisen zu suchen, die Aufschluss über den Fall liefern können.81 Als ebenso ungültig wird das Aufdecken der moralischen Schuld eines straftätigen Schlafwandlers betrachtet. Im Schlaf sei es nicht möglich, ein Verbrechen, welches im Wachzustand geplant wurde, auszuüben, heißt es weiter im richterlichen Entschluss.82 Demnach kann einem Schlafwandler, der raubt, vergewaltigt oder mordet, auch nicht nachgesagt werden, er hätte sich im Wachzustand mit solchen Gedanken beschäftigt. Vielmehr verfügt der Schlafwandler in seinem Anfall über keine Willensfreiheit. Er unterliegt einem kompletten Kontrollverlust, der ihn letztendlich für seine Taten entschuldigt und von der Schuld befreit. Da Jürgen Heick nie zuvor geschlafwandelt war und folglich auch nichts von seiner Disposition zum Nachtwandeln wusste, war es ihm folglich nicht möglich, Vorkehrungen zum Schutz seiner Mitmenschen zu treffen, so dass ihm auch daraus kein Vorwurf entstehen konnte.83 Nachdem die Ergebnisse und Argumente des medizinischen Gutachtens Schritt für Schritt durch Gegenargumente aus den juristischen Reihen widerlegt wurden, kommt das Gericht im Schlussurteil zu der Entscheidung, dass das medizinische Gutachten lediglich eine „Möglichkeit“ der Fallauslegung darstellen würde, „als sey Inculpat vielleicht kein Nachtwanderer oder Mondsüchtiger bey der Mishandlung gewesen“.84 Es sei im Falle Heick also Ansichtssache, dem ärztlichen Gutachten stattzugeben und den Angeklagten als Simulanten zu beurteilen. Das medizinische Gutachten wird damit als potenziell fehlerhaft dargestellt. Es dient lediglich zur Hilfe im Entscheidungsprozess, indem es eine mögliche Interpretation des Falles, nämlich die der Simulation begründet. Alternativ lässt sich, wie im Urteil weiter dargelegt, auch dahingehend argumentieren, dass es sich bei Jürgen Heick um einen tatsächlichen Schlafwandler und bei seiner Tat um ein nicht geplantes, dem Willen entzogenes Vergehen handelt. Die 80 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 36. Zitiert wird hier der Mediziner Georg Gottlob Richter (1694–1773). Vgl. Richter, Disputatio solemnis medica de statu mixto somni et vigiliae, 1756, 28. 81 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 6: „Iudex itaque, qui non ex ea unica causa, quod reo sit melancholica corporis temperies, noctambulationis sigmentum quaerit, sed vestigia, quae praeter temperiem adsunt, premit, et, his ad corporis illud vitium ducentibus, ex nullo mortalium temperamento fortem decidendi rationem sibi persuadet, omnino ibit tutior.“ 82 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 36. 83 Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 38. 84 Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 36.

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zweite Variante, also die der Unschuld des Heick, erschien den Rechtsgelehrten umso realistischer, als Heick durch mehrere Zeugen ein einwandfreier Leumund bescheinigt wurde. So wurde ihm nachgesagt, er sei „treu, fleißig und ehrlich“, meide den Alkoholgenuss, hege keine Feindschaften und würde sich allgemein „schicklich und friedlich“ verhalten.85 Dem Angeklagten konnten wegen seiner tadellosen Referenzen keine schlechten Persönlichkeitszüge nachgesagt werden, die Grund zur Annahme für einen listigen Hinterhalt gegen seinen Freund Gabriel und damit Grund für eine Bestrafung gegeben hätten.86 Durch die sukzessive Widerlegung der medizinischen Auslegung des Falles wird dem medizinischen Gutachten schließlich dessen Aussagekraft und Wert genommen. Es wird zur möglichen Alternative zu den juristischen Erkenntnissen degradiert und erscheint geradezu entbehrlich. Die von Zacchia unbedingt geforderte ärztliche Einschätzung des Schlafwandlers, der aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Zustand der dementia in den Aufgabenbereich der Medizin fällt, findet im Falle Heick zwar scheinbar statt, wird jedoch nicht weiter beachtet. Ebenso wenig wurde den Empfehlungen gefolgt, eine Spezialinquisition einzuleiten oder doch wenigstens Heick die entstandenen Kosten decken zu lassen. Da die Willensfreiheit in der Tatnacht nicht gegeben war, heißt es in dem Schlussurteil, würde es sich bei dem Vorfall um einen casus fortuitus handeln, wodurch der Angeklagte gesetzlich auch von der Kostenerstattung befreit wurde.87 Und so wurde am 9. Februar 1773 unter Hinzuziehung der juristischen Fakultät in Kiel für Recht gesprochen, es sei gegen Inculpaten Jürgen Heick in Ermangelung redlicher Anzeigen wegen … derer an Gabriel Kirchner in der Nacht vom 5. auf den 6. Sept. v. J. begangenen Thathandlungen halber weiter nichts vorzunehmen, sondern derselbe mit der Specialinquisition zu verschonen, somit von der angestellten Untersuchung zu entbinden und loßzusprechen, und … der Haft zu entlassen; ingleichen von Erstattung derer … Unkosten … freyzusprechen.88

Fazit Die Beschäftigung mit Schlafwandlern und deren Pathophysiologie fiel im 18. Jahrhundert in das Interessens- und Aufgabengebiet von Medizinern und wurde diesen auch von Seiten der Justiz zugesprochen. Vor dem Hintergrund der Zuordnung solcher Zustände zur dementia erklärt sich die Tatsache, dass im Falle 85 86 87 88

Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 37. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 37. Vgl. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 39. Fricke, Commentatio de noctambulis, 1773, 23–24.

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des Kieler Gerichtsprozesses um den Schlafwandler Jürgen Heick ein medizinisches Gutachten für den Beschuldigten und für die Fallrekonstruktion angefordert wurde. In ihrem Gutachten orientierten sich die Ärzte an dem Vorgehen und an den Lehrmeinungen von medizinischen Autoritäten, insbesondere an Paolo Zacchia. Dem medizinischen Gutachten und seinen Forderungen wurde vorerst vonseiten des Gerichts entsprochen und Heick, der von den Ärzten als Simulant benannt wurde, weiter inhaftiert, während der Fall nachfolgend genauer untersucht wurde. Die juristische Aufarbeitung des Falles kam jedoch zu einem dem ärztlichen Gutachten entgegengesetzten Schlussurteil, indem es Heick als Schlafwandler anerkannte und ihn von der Schuld und der Strafe freisprach. Das medizinische Gutachten wurde aus Sicht der Justiz lediglich als Entscheidungshilfe und mögliche Fallauslegung verstanden. Die Ärzte wiederum traf der Vorwurf, durch das Beharren auf den einseitigen Aussagen medizinischer Autoritäten zu starr an dem Allgemeinfall gebunden zu sein und aus diesem Grund Spezialfälle (wie den von Heick) nicht hinreichend beurteilen zu können.89 Der Rechtsgelehrte Johann Fricke argumentierte gegen die Allgemeingültigkeit der Aussagen des Paolo Zacchia, indem er Deutungen und Exempla anderer medizinischer Autoritäten benutzte. Durch die geschickte Argumentation mittels Aussagen dieser medizinischen Koryphäen wurde das Urteil der Ärzte, die als die eigentlichen Experten hinsichtlich des Schlafwandels angesehen wurden, durch Gegenbeispiele ihrer eigenen Autoritäten in seiner Bedeutung abgeschwächt und war offensichtlich weniger bindend im Vergleich zur juristischen Stellungnahme. Die Justiz behielt in dem vorliegenden Fall, indem sie Argumente bzw. Gegenargumente bekannter Mediziner gebrauchte, gegenüber dem Gutachten der medizinischen Fakultät die Deutungshoheit.

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89 Hier zeichnet sich der Trend ab, Autoritäten nicht als Grundlage, sondern lediglich als Illustration für die eigene Argumentation zu nutzen, wie er für gerichtsmedizinische Gutachten des 17. und 18. Jahrhunderts bei Lindner beschrieben wird; vgl. Lindner 2018, 180–181.

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Felix Sommer

Eine Verlockung? – Psychiatrie im Dienst der Politik Is revolution … a pathological symptom? Throughout the nineteenth century most psychiatrists thought so and said so, stigmatizing the nefarious effects on people of any exaltation of democratic aspirations, including anxiety, stupefaction, persecution complexes, and so on.1

Politik und Wahnsinn Am 13. Februar 2017 konstatierten 35 Psychiater*innen in der New York Times, dass zu viel auf dem Spiel stehe, um länger zu schweigen.2 Die Person, um die es ging, ist Donald Trump, der derzeitige Präsident der Vereinigten Staaten. Die Fachleute sahen sich berufen, durch die Beobachtung aus der Ferne, durch die Betrachtung seiner Gestik, durch das Hören seiner Reden zu diagnostizieren, dass Trump aufgrund seiner „grave emotional instability“, die seinen Auftritten entspringe, sowie eines angeblich krankhaften Narzissmus „incapable of serving safely as president“ sei.3 Darf man das als Psychiater*in? Man sollte zunächst Folgendes betrachten, das auf den ersten Blick wie ein Wort- oder Betonungsspiel erscheinen mag: ‚Politischer Wahnsinn‘, davon redet man im heutigen Diskurs gern und rasch. Der ‚Brexit‘ beispielsweise ist für viele verrückte, absurde Politik, wahnsinnige Politik.4 Doch worum es im vorliegenden Beitrag geht, ist ‚politischer Wahnsinn‘, also konstruierter Wahnsinn, politisch gewollt und genutzt. Barry Goldwater zum Beispiel, einem US-Senator, der einige Jahrzehnte vor Trump, im Jahr 1964, um die Präsidentschaft kandidiert hatte, wurde krankhafter Narzissmus attestiert. Das Magazin Fact machte eine Umfrage unter Psychiater*innen und veröffentlichte kurz vor der Wahl einen Artikel mit der Schlagzeile „1.189 Psychiater sagen, dass Goldwater psychologisch nicht geeignet ist,

1 Murat 2014, 147. 2 Zitiert nach McCarthy 2017, 864. Siehe Printausgabe der New York Times vom 14.02.2017, Section A, 26. 3 Ebd. 4 Siehe unter anderem: https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-01/wef-davos-brexit-alexanderbetts, zuletzt abgerufen am 21. August 2019. https://doi.org/10.1515/9783110612349-010

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Präsident zu sein.“5 Die angeschriebenen Psychiater*innen hatten – unter Verwendung ihrer Fachsprache – entsprechend lautende Aussagen eingesandt, um über eine Person zu urteilen, die sie nie untersucht hatten und die wohl auch nie einer Untersuchung und der nachfolgenden Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse zugestimmt hätte.6 Im Nachhinein gewann Goldwater einen Prozess gegen den Journalisten Ralph Ginzburg, der die Umfrage veröffentlicht hatte. Seit 1973 gilt die Goldwater Rule der American Psychiatric Association (APA). Sie beinhaltet neben anderem die klare Aussage: „It is unethical for a psychiatrist to offer a professional opinion unless he or she has conducted an examination and has been granted proper authorization for such a statement.“7 Gegen die Anwendung der Goldwater Rule bringen die Befürworter*innen psychiatrischer Aussagen über Personen in den Medien die sogenannte Tarasoff Rule ins Spiel, nach der Psychiater*innen eine Pflicht haben zu warnen – und zwar dann, wenn sie glauben, dass eine/r ihrer Patient*innen, also eine Person, die sie aus eigener Anschauung und Untersuchung kennen, eine Bedrohung für andere werden könnte.8 Aber eben auch nur dann. Somit widerspricht die Tarasoff Rule eigentlich auch nicht fundamental (wie oft dargestellt) der Goldwater Rule, die unter anderem verhindern soll, dass professionelle Aussagen psychiatrischer Art parteiische Einflussnahme nach sich ziehen können.9 Denn: „After all, the reason your opinion is sought is that you are a psychiatrist. So, … any opinion you offer is a psychiatric opinion.“10 Auch im 20. und 21. Jahrhundert wird also darüber debattiert, ob sich die Psychiatrie in die Politik einmischen darf, manchmal vielleicht sogar muss – oder eben nicht. Eine nicht abgeschlossene Diskussion, die seit ungefähr 200 Jahren geführt wird.

Macht und Psychiatrie – „Nova insaniae forma“ Oft ging und geht es darum, Menschen aus dem Kreis der sogenannten ‚Normalen‘ auszugliedern, um nach diesem Vorgang des Ausgliederns den Versuch ei5 Vgl. Martin-Joy 2015, 729 und Schweitzer 2017; siehe „The Unconscious of a Conservative: A Special Issue on the Mind of Barry Goldwater“, Fact 1964, 1(5). 6 Friedman 2008, 1348. 7 Siehe https://www.psychiatry.org/newsroom/goldwater-rule und Robertson/Walter/Bloch 2016, 27 sowie Lenzer 2017, 1087–1088 („It is unethical for psychiatrists to diagnose mental illness in people they haven’t examined and whose consent they have not obtained.“). 8 Vgl. Lenzer 2017, 1087. 9 Robertson/Walter/Bloch 2016, 27. 10 Post 2002, 644.

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ner ‚Heilung‘ zu unternehmen – mit dem Ziel, dass sich die Ausgegliederten „sozial unauffällig und angepasst“ verhielten bzw. verhalten.11 Psychiatrie übt also Macht aus: „In the past, and still today in some societies, adaptation to society has tended to be highly valued … as a sign of mental health; and failure to adapt has been even more strongly regarded as a sign of mental ill-health.“12 Im 19. Jahrhundert wurde der ‚politische Wahnsinn‘ geboren, ein Mittel, um Gegner ausschalten zu können. Mit Hilfe der Psychiatrie gelang es jetzt, ‚geistige Hinrichtungen‘ unliebsamer Personen zu vollziehen. Von Bedeutung ist hier eine Promotionsarbeit aus dem Jahr 1849 von Carl Theodor Groddeck (1826– 1885) mit dem bezeichnenden Titel De morbo democratico. Nova insaniae forma.13 Verteidigt wurde die Dissertation im März 1850 an der Berliner FriedrichWilhelms-Universität.14 Nicht abschließend geklärt ist, von wem die Doktorarbeit betreut wurde; vermutlich handelt es sich bei Groddecks Doktorvater jedoch um Justus Hecker (1795–1850), Medizinhistoriker und Begründer der historischen Pathologie.15 In Groddecks Text verschwimmen die Grenzen von Medizin und Politik, der Gegenstand der Dissertation liegt streng genommen außerhalb der Grenzen ärztlichen Handelns.16 Jedenfalls war sie eine Steilvorlage für alle, die sich der Psychiatrie bedienen wollten, um politische Gegner aus ihrem Amt zu drängen. In der Zeit nach 1848 wurde der Begriff des ‚politischen Wahnsinns‘ zu einem wahren Phänomen in politisch-medizinischen Debatten, ja zu einem „Paradetyp kollektiver Geistesstörungen“17. Bestimmte politische Ideen, Phänomene und Herangehensweisen wurden pathologisiert und damit abgewertet oder als Gefahr dargestellt.18 Für die meisten Psychiater war klar, dass politische Agitation mit Wahnsinn einhergeht, ja sogar Geisteskrankheiten hervorruft.19 Die erwähnte Arbeit Carl Groddecks bildete einen, wenn nicht den Ausgangspunkt der Debatte (wobei angemerkt sei, dass manche die Dissertation Groddecks als Satire ansehen20 – an diesem Streit muss man sich allerdings nicht zwangsläufig beteiligen, immerhin wurde Groddeck von seiner Universität mit dieser Ar11 Deutschle 1999, 68. 12 Kenneth Soddy, Cross-Cultural Studies in Mental Health: Identity, Mental Health, and Value Systems (Chicago, 1962), 70, zitiert nach Szasz 1970, 37. 13 Groddeck, De morbo democratico. Nova insaniae forma [Deutsche Ausgabe 1850, Die demokratische Krankheit, eine neue Wahnsinnsform] 1849/1850. 14 Weidner 2012, 161. 15 Jaeger 1995, 282. 16 Weidner 2012, 165. 17 Ebd., 159. 18 Vgl. ebd., 158. 19 Vgl. Murat 2014, 158. 20 Weidner 2012, 161.

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beit promoviert). Die Psychopathologisierung politischer Aktivitäten und Ideen ging oftmals einher mit einer einseitigen Parteinahme gegen demokratische Bestrebungen nach der Revolution von 1848. Die Medizin wurde von Groddeck zur Vertretung einer bestimmten Fraktion und Weltanschauung genutzt. Geleitet vom „Interesse der Menschheit“ zog er gegen die „krankhaften Zustände unserer Zeit“ zu Felde. Die „demokratische Krankheit“, wie Groddeck nosologisch fragwürdig bzw. die Nosologie missbrauchend anführte, entstand „durch krankhafte Steigerung der durch die Zeitverhältnisse hervorgerufenen Ideen“ als „geistige Seuche“, die „die Bevölkerung ganzer Länder ergreifen und selbst die Aufgeklärtesten ihrer Zeit in den Banden wahnwitzigen Aberglaubens gefangen halten“.21 Und weiter heißt es: Schon eine oberflächliche Betrachtung zeigt, dass wir es hier mit einer krankhaften Steigerung des Nachahmungstriebes und des Triebes nach äusserer Freiheit, in allen seinen einzelnen Richtungen, zu thun haben …. Der Nachahmungstrieb fand in der peinvollen Erwartung Aller einen fruchtbaren Boden, und die Sturmvögel der Revolution durchstreiften geschäftig das Land, den überall bereiten Zunder zu entzünden.22

Groddecks Vermischung von Positionen politischer und medizinischer Art stieß zwar bereits unter Zeitgenossen auf Widerstand, mehrere Berliner Dekane sowie der damalige Rektor der Berliner Universität, der Theologe August Detlev Christian Twesten (1789–1876), hatten sich gar gegen die Zulassung des Promotionsthemas ausgesprochen (das Kultusministerium erlaubte die Promotion schließlich).23 Unterstützer fanden sich jedoch ebenfalls zahlreich – zumeist außerhalb medizinischer Veröffentlichungen.24 Doch auch in den Reihen der Mediziner und Psychiater gab es durchaus Sympathisanten. Zu ihnen bzw. zu ähnlich Denkenden ist wohl der Pathologe Carl Gustav Carus (1789–1869) zu zählen, der in seiner Schrift Über Geistes-Epidemien der Menschheit 1852 in jenem „grossen Sturme, welcher 1848 in der Menschheit … sich erhob“, den „Charakter einer gewissen Geistesepidemie“ nicht verkennen wollte.25 Die politisch-medizinische Grenzüberschreitung Groddecks kritisch sah der Gründer der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde Heinrich Damerow (1798–1866). Zwar lobte er die „gewandte Feder“ Groddecks und sah „klug gewählte … Lesefrüchte“ in der Dissertation.26 Jedoch lehnte er es ab, die sogenannte demokratische Krank21 22 23 24 25 26

Groddeck, Die demokratische Krankheit, 1850, 49, 51, 61. Ebd., 51–52. Weidner 2012, 162. Ebd., 166. Carus, Ueber Geistes-Epidemien der Menschheit, 1852, 55–56. Zitiert nach Weidner 2012, 167.

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heit in der wissenschaftlichen Psychiatrie zu verorten: „Die Bezeichnung ‚wahnsinnig‘ darf nur in den exoterischen Kreisen der Gesellschaft, der Clubs und der politischen Tagesliteratur als eine hyperbolische ge- und missbraucht werden. An und für diese Kreise hat der Vf. bei seiner medicinischen Doctor-Dissertation wirklich auch nur gedacht.“27 Was also wurde unter ‚politischem Wahnsinn‘ subsumiert? Zunächst einmal demokratische und republikanische Tendenzen. Aber auch „emotionalisierte Massenphänomene“28, „hochtrabende, überspannte Ideen aus dem Bereich der Politik“29. Auf diesem Humus und in einem solchen Umfeld konnten psychiatrische Begutachtungen entstehen, die dazu dienen sollten, Menschen politisch zu beurteilen, deren Verhaltensweisen einer anderen politischen oder dynastischen Gruppe suspekt erschienen. Und selbst vor einem anerkannten Arzt und aus medizinhistorischer Perspektive als ‚Medicus politicus‘30 geltenden Mann wie Rudolf Virchow (1821–1902) machte die Reaktion nicht Halt: Friedrich Wilhelm Felix von Bärensprung (1822–1864) unterstellte seinem Kollegen Virchow „politische Berauschung“31 – wegen dessen Eintretens für eine Medizin als soziale Wissenschaft und wegen seines Engagements bei der Errichtung kommunaler Krankenhäuser wie in Friedrichshain und Am Urban in Berlin sowie seines Einsatzes für „Freiheit mit ihren Töchtern Bildung und Wohlstand“. Eine oppositionelle Grundhaltung galt vielen als „tendenziell fanatisch“32 – und war daher in die Nähe des Psychopathologischen zu rücken. Groddeck selbst hatte für die Krankheit des politischen Wahnsinns sogar Heilung im Blick: Da „in der Masse der Nation … keinerlei Beziehungen zu einer republikanischen Verfassungsform“ zu sehen seien und „ihre Geschichte … eine wesentlich monarchische“ sei, müsse die Prognose der Krankheit als Volkskrankheit als eine gute betrachtet werden.33 Das heißt: Die Krankheit werde früher oder später verschwinden. Die Reaktionsära nach 1848 sollte ihm in gewisser Weise recht geben. Und für besonders hartnäckige Fälle hatte Groddeck die entsprechende Behandlung parat: 27 Zitiert nach Weidner 2012, 167. „Vf.“ im Original entsprechend abgekürzt. 28 Weidner 2012, 169. 29 Zitiert nach Weidner 2012, 178. 30 Ein ‚Medicus politicus‘ hat „Verständnis für die ärztliche Wissenschaft und die Schwierigkeiten der ärztlichen Praxis“, verfügt über „realitätsbezogene Anteilnahme … ohne Ressentiments“, nimmt sich „mit Überzeugung und Anteilnahme [seiner] Mitmenschen“ an und sieht die „Medizin als soziale Wissenschaft“ und sich selbst als Gestalter der Umwelt (siehe Schadewaldt 1973, 3307, 3308, 3337). 31 Zitiert nach Weidner 2012, 184. 32 Weidner 2012, 187. 33 Groddeck, Die demokratische Krankheit, 1850, 58.

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Die erste Aufgabe wird hier, wie bei der Behandlung aller Geisteskranken, die sein, diejenigen Lebensäusserungen derselben, die dem Kranken selbst wie der Allgemeinheit der Gesellschaft Gefahr bringen, zu beschränken. Dieser Zweck wird erreicht durch die Anwendung des äussern Zwanges ….34

Die Psychiatrie, die Politik und die Begutachteten In einer Welt, in der Politik und Psychiatrie mit dem ‚politischen Wahnsinn‘ ein neues Instrument gewonnen hatten,35 um unliebsame politische Meinungen einzugrenzen oder auszuschalten sowie unbequem gewordene Führungspersonen loszuwerden, wird man sich nicht wundern, dass auch davon Gebrauch gemacht wurde;36 „Verleumdung und Verfolgung wurden von mächtigen Faktoren unterstützt, konnten sich verbreiten und ihre Trümpfe ausspielen …“37. Einer der prominentesten Fälle im Kontext politischer Psychiatrie ist derjenige des bayerischen Königs Ludwig II. (1845–1886). Am 8. Juni 1886 schlug hier die Stunde des Psychiaters Bernhard von Gudden (1824–1886). Er konstatierte, Ludwig sei „in sehr weit fortgeschrittenem Grade seelengestört“38, ein Weiterregieren damit unmöglich. Von Gudden, der die Irrenanstalt Werneck in Franken zu einer der damals modernsten Einrichtungen Deutschlands umgebaut hatte, hatte den Auftrag erhalten, dem Treiben des Königs ein Ende zu setzen. Von der königlichen Familie in Bayern und damit seinen Auftraggebern als bedeutendster Psychiater Deutschlands39 gelobt, musste von Gudden von manchen Kollegen allerdings erhebliche Kritik einstecken. Emil Kraepelin (1856–1926), ehemals Assistent bei von Gudden und später Gründer der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie (heute: Max-Planck-Institut für Psychiatrie), vermerkte beispielsweise: Von Gudden stellte mit dem Gefühle der Sicherheit … eigentlich nur eine einzige Diagnose, diejenige der Paralyse, bei der er sich auf körperliche Zeichen stützen konnte. Jedem Versuch, andere Krankheitsbilder abzugrenzen oder den feinen Unterschieden des seelischen Verhaltens nachzugehen, stand er durchaus ablehnend und zweifelnd gegenüber … Sein ganzes wis-

34 Ebd., 59. 35 „The entire nineteenth century was marked by this idea of madness linked to progress and the form of government“; vgl. Murat 2014, 161. 36 Vgl. ausführlich Sommer 2009. 37 Louise von Coburg 1926, zitiert nach Sommer 2009, 272. 38 Psychiatrisches Gutachten vom 8. Juni 1886, zitiert nach Wöbking 1986, 318. 39 Vgl. Häfner/Sommer 2011, 613.

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senschaftliches Streben richtete sich … mit nie erlahmender Tatkraft auf das Kaninchenhirn.40

Von Gudden habe nichts von der klinischen Beobachtung gehalten. Beste Voraussetzungen also für eine Scheinbegutachtung im Sinne des bayerischen Herrscherhauses. Zur Beurteilung des Sonderlings Ludwig genügten ihm einige negative Aussagen von Hofbediensteten sowie Dokumentfetzen aus privaten Papierkörben Ludwigs. Tatsächlich ausschlaggebend für die Begutachtung des Königs war insbesondere die steigende persönliche Schuldenlast, für die die Familie Ludwigs teilweise schon Bürgschaften übernommen hatte. Die Wittelsbacher sahen durch den extensiven Schlösserbau große finanzielle Probleme auf sich zukommen. Eine grobe Pflichtvernachlässigung durch Ludwig II. ist zu verneinen. Das belegen die Signatenbücher der Jahre 1864 bis 1886. Sämtliche Ministerialanträge wurden dem König zur Genehmigung vorgelegt. Die Menge der zu bearbeitenden Papiere lag durchschnittlich zwischen 500 und 700 Dokumenten pro Jahr. Im Jahr 1884 beschäftigte sich Ludwig II. mit 657, im Jahr 1885 mit 562, in den Monaten bis zum 8. Juni des Jahres 1886 mit 267 Bitten und Anträgen. Auch 1886 wurden die Unterschriften in den meisten Fällen innerhalb weniger Tage geleistet. Von Gudden schrieb dazu jedoch: „Der Einlauf, welcher gesiegelt aus dem Kabinet [sic!] zu Seiner Majestät kam, lag von Allerhöchstdemselben geöffnet, längere Zeit, oft Tage lang, obwohl die wichtigsten Staatsangelegenheiten sich darunter befanden, offen vor den Augen der Dienerschaft.“41 Es war also letztendlich eine Mischung aus hochtrabenden Ideen, überspannten politischen Ansichten (der extreme Bogen reichte vom Gottesgnadentumsabsolutismus bis zur persönlichen Begnadigung von zum Tode Verurteilten), Sympathie für die Politik Frankreichs, Verschwendungssucht, exzentrischem Verhalten und homoerotischen Umtrieben, die die Hintergründe für die politisch motivierte Fernbegutachtung bildete, die Minister Johann von Lutz, Ludwigs Onkel Luitpold von Bayern und dessen Söhne anstießen.42 Das Gudden-Gutachten nannte den König – wie bereits weiter oben zitiert – „in sehr weit fortgeschrittenem Grade seelengestört“. Einstimmig kamen von Gudden und seine drei Mitunterzeichner Friedrich Wilhelm Hagen, Hubert von Grashey und Max Hubrich zu der Diagnose „Paranoia“. Da die wahren Gründe verschleiert werden mussten, wurden zur Untermauerung sowohl angebliche Halluzinationen als auch krankhafte Störungen der Sinnes- und Denktätigkeit herangezogen. Häufige Abwesenheiten des Königs und technische Besonderhei40 Zitiert nach Hippius/Peters/Ploog 1983, 15, 16. 41 Vgl. oben, zitiert nach Wöbking 1986; vgl. auch Häfner 2011, 508. 42 Dazu u. a.: Häfner 2019, 1–6; Häfner/Sommer 2011, 611–617; Kapfhammer 2011, 598.

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ten in den Königsbauten genügten dem Psychiater Bernhard von Gudden, den Eindruck des Krankhaften in Ludwigs Verhalten als einen „sofort durchschlagenden“43 anzusehen. Das umfassende Quellenstudium und die Untersuchung der Aussagen von Zeitzeugen zeigen, dass dem Gutachter von Gudden und seinen Kollegen von Grashey, Hagen und Hubrich eine – offensichtlich aus politischen Gründen bewusst herbeigeführte – ethisch und fachlich zweifelhafte Leistung zu attestieren ist.44 Bei dem Gutachten handelte es sich um eine Aneinanderreihung skandalöser Kurzgeschichten ohne jeden Ansatz einer kritischen Abwägung ihres Wahrheitsgehalts. Auch nach Maßstäben des 19. Jahrhunderts wurden die für ein neutrales Gutachten notwendigen Schritte missachtet. Eine dieser von Richard von Krafft-Ebing in seinem Lehrbuch der Gerichtlichen Psychopathologie mit Berücksichtung der Gesetzgebung von Österreich, Deutschland und Frankreich von 1876 bzw. 1881 formulierten Regeln lautet: „Der synthetische Weg der Begutachtung ist der einzig richtige.“ Es ging dabei um die „vorurtheilslose Auffassung der gesammten Thatsachen.“45 Eine Untersuchung wäre im konkreten Fall aber gar nicht zweckdienlich gewesen – und war daher auch nicht gewollt. Ludwig II. ist – wie angedeutet – kein Einzelfall auf dem Gebiet politpsychiatrischer Möglichkeiten. Erwähnt sei auch der Fall des osmanischen Sultans Murad V., der in einem ähnlichen Verfahren zehn Jahre vor Ludwig seines Amtes enthoben und für psychisch krank erklärt worden ist.46 Ludwig II. war dieser Fall bekannt. Bei seiner eigenen Festnahme bemerkte der König gegenüber von Gudden, man könne es „ja so machen wie mit dem Sultan, es ist ja leicht, einen Menschen aus der Welt zu schaffen.“47

‚Medicus politicus‘ – im Dienst der Menschen oder im Dienst der Politik? An dieser Stelle kann mit Erich Wulff, ehemals Professor für Sozialpsychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover, konstatiert werden: „Die Verschränkung der Psychiatrie mit staatlicher Macht ist ebenso alt wie die Psychia-

43 Psychiatrisches Gutachten vom 8. Juni 1886, zitiert nach Wöbking 1986, 311. 44 Zu dem gesamten Begutachtungskomplex vgl. Häfner 2011; Sommer 2009. 45 von Krafft-Ebing, Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie, 1881, 43. 46 Ausführliche Darstellung dieses Falls: Sommer 2019. 47 Ludwig II. von Bayern am 11. Juni 1886, zitiert nach Hacker 1972, 367; vgl. auch von Böhm 1922, 611.

Eine Verlockung? – Psychiatrie im Dienst der Politik



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trie selbst.“48 Psychiatrie im Dienst der Politik gibt es seit dem 19. Jahrhundert – bis heute (und im Nationalsozialismus auf ganz besonders furchteinflößende und mörderische Art und Weise). Wäre Groddecks Arbeit ein singulärer und Theorie gebliebener Fall gewesen, könnte man diesen als Satire abhaken und darüber hinweggehen. Doch Psychiatrie und Politik, dieses medico-politische Gespann, bewährte sich im Lauf der Zeit immer wieder von Neuem. Allerdings: Wilhelm Griesinger (1817–1868), einer der Wegbereiter des Übergangs von der Anstalts- zur Universitätspsychiatrie und zudem ein Verfechter einer Behandlung psychiatrischer Patient*innen mit möglichst wenig Zwang (no restraint), schrieb 1868/69 im Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten: Weil eine gewisse Anzahl Geisteskranker ihrer Umgebung gefährlich werden kann, behandelt man eine große Zahl derselben wie wenn sie gefährlich wären; weil eine gewisse Anzahl keiner Freiheit sich erfreuen kann, macht man die Freiheits-Entziehung zur allgemeinen Regel. Ich meine nicht, daß geisteskranken Personen jemals dieselbe Freiheit wie Gesunden gegeben werden soll, aber ich meine, daß ihnen diejenige Freiheit zu gewähren sei, welche mit der Sicherheit und dem Wohlsein der bürgerlichen Gesellschaft und mit dem eigenen Zustande der Kranken verträglich ist, ich meine daher, daß sehr vielen unter ihnen viel mehr von einer weise geregelten Freiheit gegeben werden kann, also auch gegeben werden muß ….49

Und in seinem Werk Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Aerzte und Studirende betonte Griesinger schon 1845 die Geltung der Menschenrechte: … zunächst aber und hauptsächlich der eigentliche Philanthropismus, der den Irren ihre Rechte vom Standpunkte der allgemeinen Menschenrechte vindicirte, war es, der es durchsetzte, dass die Gesellschaft in den Irren Menschen anerkannte, denen sie Schutz und Hilfe schuldig ist, dass sie immer mehr zum Gegenstande ernstlicher Fürsorge von Seiten des Staates und tieferer, zum Zwecke der Heilung angestellter Forschung der Wissenschaft wurden.50

Und weiter: Nirgends ist das Bedürfnis strengen Individualisirens grösser, als in der Irrenbehandlung, nirgends ist ein stetes Bewusstsein darüber nothwendiger, dass nicht eine Krankheit, sondern ein einzelner Kranker, nicht die Tobsucht, sondern ein tobsüchtig Gewordener das Object unserer Behandlung sei.51 48 Wulff 1978, 504. 49 Griesinger, zitiert nach Blasius 1994, 106. 50 Griesinger, Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, 1845, 341. 51 Ebd., 344.

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Hinzu kommt: Richard von Krafft-Ebing hielt – wie weiter oben schon erwähnt – in der zweiten Auflage seines Lehrbuch[s] der Gerichtlichen Psychopathologie 1881 fest: „Nicht Einzelsymptome, sondern die Würdigung der ganzen Persönlichkeit, nicht Präsumption, sondern vorurtheilslose Auffassung der gesammten Thatsachen müssen die Diagnose herbeiführen.“52 Es gab sie also, die Regeln. Regeln, gegen die Ferndiagnosen und Mutmaßungen und politische Psychiatrie schon im 19. Jahrhundert verstießen. Aber es gab eben auch Groddeck und eine Psychiatrie, die als wirksame Waffe fungieren konnte. Etwaige Regeln sowie die Achtung vor der eigenen Wissenschaft und der eigenen Berufsgruppe wurden dann zweitrangig. Da die Psychiatrie Gerichtsverhandlungen entscheiden, Menschen internieren und ihre Bürgerrechte einschränken kann, fallen ihr insbesondere im Zusammenwirken mit Staat und Politik eine Sonderrolle und damit ein Machtfaktor gesellschaftspolitischer Art zu.53 Politik und Psychiatrie waren und sind sich nah. Psychiater im Dienst der Politik – eine Verlockung also. Der Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow (1921–1989) beklagte 1973, also 123 Jahre nach der Geburt des ‚politischen Wahnsinns‘, dass Personen ohne medizinische Indikation „heute ebenso wie früher oft, wenn nicht sogar noch öfter als früher, für geisteskrank erklärt und zur Zwangsheilung vorwiegend in Spezial-Krankenanstalten eingewiesen werden.“54 Er bezog sich dabei auf die Psychiatrie als politische Waffe in der Sowjetunion. Zurück zum Anfang. ‚Politischer Wahnsinn‘ und ‚politischer Wahnsinn‘ – beides gibt es. So wie es Psychiater im Dienst der Politik gab und gibt. Selbst wenn also ‚wahnsinnige Politik‘ vorliegt: daraus ‚politischen Wahnsinn‘ auf dem Weg einer Fernbegutachtung zu machen, davor sollte man sich mit Blick auf die Geschichte hüten. Auch im Fall Trump. Denn ein ‚Medicus politicus‘ zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass er sein medizinisch-politisches Engagement einsetzt, um die Gesellschaft vor schlechter Medizin zu schützen. Und nicht, um die Gesellschaft mit schlechter Medizin vor vermeintlich Verrückten zu schützen.

52 von Krafft-Ebing, Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie, 1881, 43. 53 Storz 1978, 65. 54 Sacharow 1973/1986, 61.

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Personenregister A Abioso, Bartolomeo 121 Adam, Andreas 147, 169 Aguilera, Juan de 117 Ahlefeldt, Benedikt von 91 Alamanni, Luigi 26 Albertus Magnus 22, 38, 225 Alcanyís, Lluís 69 Alcithous 16, 29, 33, 36–38, 40 Alencastre, Alfonso I. de 121 Alexander der Große 146 Alighieri, Dante 34–36 Aloya, Abraham 122 Alt, Peter-André 198 Amaryllis 76 Amato Lusitano (João Rodrigues de Castelo Branco) 11, 86, 92, 115–136 Ammerice 29–30, 41 Andrade, António Manuel Lopes 122, 134 Andree, Christian 1 Anselmi, Aurelio 179, 182, 188 Apollon 29, 37 Arend, Stefanie 202 Aristoteles 29, 106, 111, 184, 190, 207, 220, 225 Arrizabalaga, Jon 14–15, 23, 47–48, 51, 69, 83 Artemis 37 Astruc, Jean 129 Athene (Pallas) 94, 206 Auerbach, Johann Moritz 83, 93 Augustinus 22, 34, 38, 187 August von Sachsen 161–162 Avicenna 54, 105, 110, 122, 124, 126 Ayache, Laurent 87 B Babbitt, Frank Cole 73 Bacon, Francis 126 Bacher, Stephan 150 Bacquere, Benedictus de 188 Bailey, Cyril 18 Balletti, Andrea 118 Barberini, Antonio 120 Barbosa, Francisco 120 https://doi.org/10.1515/9783110612349-011

Bärensprung, Friedrich Wilhelm Felix von 245 Bartels, Johann Heinrich 59 Bartisch, Georg 8, 143, 148, 153–154, 156, 162–165, 167, 171–172 Bartolus de Sassoferrato 208 Bauer, Axel W. 204 Bauhin, Johann 129, 132–133 Baumgartner, Leona 13 Becker, Caspar 60–61 Becker, Gustav 27–28, 36 Beinart, Ḥayyîm 115 Benbassa, Esther 115 Benedetti, Alessandro 87 Benesius, Simon 133 Beretta, Marco 17 Bergdolt, Klaus 48, 87, 177, 180 Berger, Naṭalyā 115 Bernhard, Johann 200 Bertheau, Carl 60 Beyer, Johannes 160, 165, 172 Binder, H(e)inrich 63 Biraben, Jean-Noël 48 Blanes, Laudadio (Laudadeus) 122 Blasius, Dirk 249 Bleker, Johanna 1 Bloch, Sidney 242 Bloesch, Hans 92 Boedecker, Dieter 60 Böhm, Gottfried von 248 Bökel, Johann 51, 58–66, 68–71 Boenke, Michaela 222 Bohn, Johannes 93, 218–219, 224 Boll, Franz 37 Bolland, Jürgen 52 Bonaventura 22 Borgnet, Auguste 225 Botallo, Leonardo 87 Botticelli, Sandro 26 Bowling, Ann 190–191 Boyens, Kathrin 59, 64, 66 Bracciolini, Poggio 23 Braden, Jutta 83 Brassavola, Antonio Musa 119, 128 Brettschneider, Johannes 62

254  Personenregister

Brooks, Andrée Aelion 122 Brown, Alison 26, 33 Büchner, Andreas Elias 181 Bugenhagen, Johannes 59–60 Buihring, Johann Heinrich 181–182 Bulst, Neithard 48, 50 Bury, Robert Gregg 73 C Cairns, Francis 17 Calvin, Johannes 118 Canano, Giambattista 119, 129 Capell, Diederich Matthias 59 Cardano, Girolamo 180–181, 183 Cardoso, Adelino 51 Carmenas, Hieronymus 122 Carreras Panchón, Antonio 55 Carrete Parrondo, Carlos 115 Carus, Carl Gustav 244 Cassirer, Thomas 184 Castiglione, Baldassare 208 Castro, Andreas de 90 Castro, Benedikt de 90, 98 Castro, Rodrigo de 1, 6–9, 11, 47–81, 83–114, 142, 159, 210 Catullus, G. Valerius 17 Celikates, Robin 5 Ceres 94 Cervinius, Paschalis 133 Charles VIII. von Frankreich 14 Christian I. von Dänemark 90 Christine von Schweden 90 Chrysostomus, Johannes 74, 77 Cicero, M. Tullius 27, 38, 94, 106, 111, 178, 180, 183, 185, 187–189 Clemens V. 223 Clemens VII. 120 Coburg, Louise von 246 Codronchi, Battista 6 Columbus, Christopher 14, 17, 28 Cook, Noble David 55 Cook, Alexandra Parma 55 Cornaro, Alvise 180 Correia, Maximino 116 Cosimo I. 121, 133–134 Costa, Cristovão da 83 Crespo, Hugo Miguel 122

D Damerow, Heinrich 244 d’Anger, Julien-Eymard 183 Davidson, Nicholas S. 24–27 Demeter 94 Deutschle, Gabriela 243 Di Leone Leoni, Aron 118, 120, 122 Diana 28–29 Dias, João José Alves 116 Dieppe, Paul 190–191 Díez, Francisco 117 Dinges, Martin 48, 50 Diogenes Laertios 27, 30 Dionysos 185 Dioskurides 117–121, 124–125, 128, 133–134 Dross, Fritz 49 Dujovich, Adolfo 116 Dürrigl, Marija-Ana 123 Duve, Thomas 223 E Eatough, Geoffrey 15 Ebelingk, Johannes 70 Eckart, Wolfgang U. 2, 5, 10, 16, 51, 88, 92, 141–142, 204 Elkeles, Barbara 89 Emberger, Peter 188 Engelhardt, Dietrich von 7, 11, 84, 116, 121, 124, 127, 136 Engelhardt, Ulrich 202 Engelhardt, Ulrike von 116, 124, 127, 136 Engelschalck(e), Caspar 147–148 Entringer, Sonja 177 Epikur 9, 13, 16, 20–21, 24–28, 30–36, 38– 40, 146 Epstein, Mark Alan 123 Erasmus von Rotterdam 84 Ercole II. d’Este 118, 134 Erhardt, Christian 200 d’Esaguy, Augusto 127 Esposito, Roberto 4–5 Ettinger Baril, Thomas 93 Eustachio, Bartolomeo 122 Eutropius 124 Ewich, Johannes 68

Namensregister 

F Fabry von Hilden, Wilhelm 7–8, 92, 143, 159– 161, 165, 167, 169, 172, 234 Fabricius, Johann Albert 59 Fabricius, Peter 167 Fahrion, Georg 1 Falconer, John 119 Falk, Gustav 144–145, 150, 158, 169 Falloppio, Gabriele 119, 129 Fatovic-Ferencic, Stella 123 Ferdinand Maria von Bayern 146 Ferdinand von Aragón 115 Ficino, Marsilio 22 Fienus, Thomas 152 Filesac, Jean 188 Filippetti, Andrea 17, 19 Fischer-Homberger, Esther 221 Foucault, Michel 4–5, 11–12, 156 Fracastoro, Girolamo 9–10, 13–45, 54, 222 Franceschini, Adriano 118 Franck von Franckenau, Georg 218, 220–224, 226–228, 235 French, Roger 14–15, 23 Fricke, Johann Heinrich 215–218, 221, 224– 225, 229–238 Friedberg, Emil 205 Friedenwald, Harry 115–116 Friedman, Richard A. 242 Fritzsche, Bartholomäus 141 Froben, Georg Ludwig 94, 98, 100–101, 106 Frühsorge, G. 88 Fuchs, Leonhard 149 Fugger, Marcus 154 Fulton, John F. 13 G Gabrieli, Gaspare de 119 Gadebusch Bondio, Mariacarla 7, 48, 71–72, 84–87, 89, 91–92, 94, 142, 144, 152, 159– 160, 183, 233 Galen 6, 18, 22, 84, 87, 90, 126, 136, 149, 178, 179, 181 Gambino Longo, Susanna 24, 32 Gassendi, Pierre 25 Geiger, Daniel 150–151, 167 Geiger, Esaias 152 Geiger, Johann Jakob 145, 158

255

Geiger, Malachias 8, 143, 150, 152, 166–170 Geiger, Samuel 150–151, 167 Geiger, Tobias 8, 92, 141–176 Gernet, Herman Gustav 51, 59–60, 62, 66, 68–70 Ghini, Luca 121, 129 Gigliotti, Gilbert L. 38 Gigon, Olof 207 Gilman, Ernest B. 50 Ginzburg, Ralph 242 Glandorp, Matthias 169 Göckenjan, Gerd 192 Goddard, Charlotte 21 Godel, Rainer 205 Goethe, Johann Wolfgang von 198 Goldwater, Barry 241–242 Goltz, Dietlinde 217 Gorn, Gottlieb Ernst 181 Götte, Johannes 74 Götte, Maria 74 Gottsched, Johann Christoph 201–202 Gouveia, Andrade de 116 Gradius, Johannes 133 Gradmann, Christoph 2 Graetz, Heinrich 122, 135 Grashey, Hubert von 247–248 Grienwaldt, Franz Joseph 145, 148, 150 Griesinger, Wilhelm 249 Grimm, Jacob 183, 206 Groddeck, Carl Theodor 243–245, 249–250 Grunert, Frank 202, 211 Gualterius, Baptista 122 Gudden, Bernhard von 246–248 Guido da Pisa 35 Gundling, Nicolaus Hieronymus 198–199 Guy de Chauliac 49 H Hacker, Rupert 248 Häfner, Heinz 246–248 Hagen, Friedrich Wilhelm 247–248 Haller, Albrecht von 129, 219, 224 Hamsport, Cornelis van der 63 Handley, Sasha 217 Happel, Eberhard Werner 199–200 Harmes, Michael 169 Härtel, Zacharias 94

256  Personenregister

Haskell, Yasmin 26 Hebbel, Friedrich 193 Heck, Eberhard 31 Hecker, Justus 243 Heick, Jürgen 216–218, 221, 224–226, 229– 238 Heinrich, Nicolaus 168 Heinrichs, Erik A. 48, 60 Helmholz, R. H. 231 Henderson, John 14–15, 23, 50 Hendrickson, Georg L. 37–39 Henze, Eberhard 94 Herbstmayr, Georg 148 Herlicius, David 68 Hieronymus, Sophronius Eusebius 38 Hippius, Hanns 247 Hippokrates 1, 6, 11, 18, 86–88, 105–106, 110–111, 127, 134, 136, 149, 159, 167–168, 203 Hippon 197, 202–203, 206 Hirai, Hiro 22 Hobbes, Thomas 5 Hoffmann, Friedrich 83, 92–93, 173, 181 Hoffmeister, Alexander von 145–146 Hofmann, Heinz 17, 28 Hofstetter, Georg 147–148 Homer 28, 106, 111 Horanin, Mariusz 50 Horatius Flaccus, Q. 38 Hörnigk, Ludwig von 92–93 Horst, Gregor 219 Horst, Jakob 225–227, 234–235 Houghton, Luke B. T. 19 Hubrich, Max 247–248 Huet, Pierre Daniel 198 Hutten, Ulrich von 39 I Ilceus 28–29, 32 Ippolito II. d’Este 118, 133 Isaak 37 Isabella von Kastilien 115 Isidor von Sevilla 27–28, 36, 38–39 J Jacobs, Jürgen C. 210 Jaeger, Siegfried 243

Jesus Christus 24, 36, 39 Jetter, Dieter 56 Joel, Franz von 149, 159 Johann III. von Portugal 115 Johann Friedrich von Württemberg 161 Johannes XXII. (Papst) 223 Johannes Paul II. (Papst) 205 Johnson, Monte 21 Jones, Ellis 169, 169 Jopp, Daniela 177 Julius, Nikolaus Heinrich 59 Julius III. (Papst) 120–121 Juncker, Friedrich Christian 182 Jütte, Robert 10 K Kahn, Robert L. 190–191 Kalff, Sabine 49–50, 53 Kant, Immanuel 211 Kapfhammer, Hans-Peter 247 Karl V. (deutscher Kaiser) 117 Keller, Alexander G. 116 Kiesel, Helmuth 208, 210 Kinzelbach, Annemarie 47, 50, 143, 145, 148–149, 158 Kirchner, Gabriel 216–217, 224–225, 230– 231, 237 Klebs, Arnold C. 48 Klemens von Alexandria 38 Klessmann, Eckart 66 Knoblauch zu Hatzbach, Gottfried von 3 Kohlhaas-Christ, Cornelia 63, 66, 70 Kraepelin, Emil 246 Krafft-Ebing, Richard von 248, 250 L Lactantius, L. Caelius Firmianus 31–33, 39 Laguna, Andrés de 69, 117 Landino, Christoforo 35 Langius, Daniel 219 Latour, Bruno 4 Laurentius, Andreas 149 Leibowitz, Joshua O. 116 Lencastre, Alphonso de 133 Lenzer, Jeanne 242 Lessius, Leonard 180 Leto 37

Namensregister

Leto, Pomponio 25 Leven, Karl-Heinz 47 Levy, Avigdor 123 Li, Wenliang 1–2 Liddell, Duncan 94, 100 Lindner, Bettina 233, 238 Lines, David A. 183 Loën, Johann Michael von 10, 197–214 Loetz, Franziska 143, 156 Lopes Dias, José 116 Louis XII. von Frankreich 118 Lucius Jr., Jakob 47, 63 Lucretius Carus, T. 9, 13–45 Ludwig II. von Bayern 246–248 Luís, António 117 Luisini, Luigi 129 Luitpold von Bayern 247 Luther, Martin 63, 66, 71 Lutz, Johanna von 247 M Machiavelli, Niccolò 25, 141 MacLehose, William 217 Maesbomel, Johann van 59 Magirus, Johannes 151 Maimonides, Moses 179 Maizière, Thomas de 2–3 Manuzio, Aldo Pio 24–25, 36 Marcellus, Nonius 23 Marcellus II. (Papst) 121 Marr, Jan 48 Martin-Joy, John 242 Martinez, Matias 201 Marullus, Michael 26 Matthesius, Johannes 66–67 Mattioli, Pietro Andrea 128–129 Maurette, Pablo 17, 21 Maximilian I. (deutscher Kaiser) 117 Maximilian I. von Bayern 146, 167 McCarthy, Michael 241 McVaugh, Michael 49 Meid, Christopher 197 Meier, Albert 198 Meier, Gerhard 91 Meierhofer, Christian 202 Meli, Bertolino 172 Meliboeus 76



Menochio, Giacomo 219, 223–224, 227 Menoikeus 30 Mermann, Thomas 150 Meunier, L. 89, 93 Meyer, Stephanie 147, 155 Migne, Jacques-Paul 74 Minderer, Raimund 159 Minerva 94 Moller, Vinzenz 90–91, 102, 107 Monardes, Nicolás 119 Montano, Giovanni Battista 121 Monte, Jacoba del 120 Montgomery, Frank Ulrich 3 Moog, Ferdinand Peter 178 Morais, João Augusto David de 116 Morhof, Georg Daniel 198 Moses 135 Muhamad XII. 115 Müller, Johann C. 200 Murad V. 248 Murat, Laure 241, 243, 246 N Nagel, Mathias 66 Nasi, Garcia 122 Nasi, Joseph (João Micas) 122, 133 Navagero, Andrea 23–24 Nehama, Joseph 123 Neri, Filippo 183 Nicandro, Ambrosio 120, 133, 135 Niccoli, Niccolò 23 Nicoli, Elena 21, 25, 32 Niobe 37 Nobilibus, Vicente de 120 Nunes de Santarém, Luís 117 Nunes, Leonardo 117 Nutton, Vivian 16–19, 22, 40, 54 O Olivares, Santiago Diego de 117 Oriel, J. David 14 Orozco, Cristóbal de 117 Orta, Garcia da 83 Ovidius Naso, P. 19, 28, 37 P Paleotti, Gabriele 182–193 Palmer, Ada 23–26

257

258  Personenregister

Paludanus, Johannes 61–62 Paul III. (Papst) 116 Paul IV. (Papst) 121–123 Pellegrini, Francesco 24, 36 Pennuto, Concetta 22 Pérez Fontana, Velarde 129 Perfetti, Amalia 17 Peters, Gerd 247 Petrarca, Francesco 49 Philipp II. von Spanien und Portugal 83 Phillips, Joanne H. 21 Pigeaud, Jackie 21 Pio, Alberto 24 Pio, Giovanni Battista 21, 31–32, 36 Pires, Catarina 116 Pires, Diogo 116, 123–124 Pires, Henrique 116–117 Platon 22, 24, 28, 31, 73–75, 185, 200, 220 Platner, Johann Zacharias 221 Plinius 128 Ploog, Detlev 247 Plutarch 38, 73–75 Poliziano, Angelo 26 Pollmann, Karla 32, 39 Pontano, Giovanni 26 Pontano, Juan 117 Post, Jerrold M. 242 Prantl, Heribert 204 Premauer, Carolus Narcissus 182 Priscian 23 Procaccioli, Paolo 35 Prodi, Paolo 183 Prosperi, Valentina 25–26 Q Quaglioni, Diego 208 Quervain, Fritz de 92 Quétel, Claude 14, 23, 39 R Raffael 135 Reeve, Michael 23 Reichert, Karl 197, 200–206, 207 Renée de France 118 Rheterius, Johannes 172 Ribbentrop, Sonja 59 Richter, Emil Ludwig 205

Richter, Georg Gottlob 233, 235 Ricklin, Thomas 26, 33 Riedel, Wolfgang 198 Riedlin, Maria Magdalena 145, 148, 150 Rinaldi, Michele 35 Riolan, Jean 152 Ritzer, Monika 193 Robertson, Michael 242 Roccasalva, Alessandro 21 Rodegra, Heinz 59–60, 66 Rodenwaldt, Ernst 56 Rodewald, Franz 62 Rodrigue, Aron 115 Roellenbleck, Georg 21–22 Romanus, Aegidius 208 Romoli, Bartolommeo 217 Rondelet, Guillaume de 56–57 Rossi, Giovanni Francesco 119 Rosswurm, Christoph 147 Rovere, Guidobaldo II. della 122 Rowe, John W. 190–191 Ruscelli, Girolamo 122 S Sacharow, Andrej 250 Sachs, Régis-Nessim 115 Salgado, José Maria Veloso 134 Salius Diversus, Petrus 225 Samuel, Jacob Mantino ben 124 Sander, Sabine 142–143, 145, 147, 153–154, 156–159, 161, 171 Santmann, Johannes 70 Scattola, Merio 198 Schadewaldt, Hans 245 Schäfer, Daniel 178–181, 189, 193 Scheffel, Michael 201 Schenck, Johann Theodor 221 Schenck von Grafenberg, Johannes 217, 227, 233–234 Schiller, Friedrich (von) 198 Schilling, Ruth 49 Schlegelmilch, Sabine 7, 8, 49, 62, 92, 141, 149, 151, 154, 157–158, 161, 163, 165 Schlegelmilch, Ulrich 142, 150, 161, 168–169 Schleiner, Winfried 15, 93 Schmid, Bernhard 147 Schmid, Georg 147

Namensregister 

Schmid, Wolfgang 32 Schmidt, Franz Joseph 86, 89, 97, 101 Schneiders, Werner 202 Scholtz, Adam 172 Scholz, Bernhard F. 207 Schröter, Johannes 142 Schütte, Jana Madlen 148–149, 156 Schwalb, Andrea Birgit 48 Schweitzer, Jan 242 Scudéry, Madeleine de 199 Scultetus, Johannes 8, 165, 167, 169 Seiz, Anneliese 167, 169 Selim II. 123 Seneca, A. Lucius 27 Sennert, Daniel 159 Seyff, Hans 149, 156 Siccus, Johannes 87 Sies, Rudolf 48 Sieveking, Georg Herman 60, 66 Sigismund II. August von Polen 119 Silenos 185, 194 Simon, Isidore 127 Simonsohn, Shlomo 120 Singer, Charles 18, 22, 24 Singer, Dorothea 18, 22, 24 Sipylus 37 Smischek, Johann Christoph 166 Sobremonte Ramires, Gaspar Bravo de 87 Soddy, Kenneth 243 Sokrates 31, 185 Sol Pater 28–30, 33, 36–37 Solaro, Giuseppe 23 Spitzer, Leo 37 Splinter, Susan 49 Stahl, Georg Ernst 203 Staffelsteiner, Mo(y)ses 63 Steer, Georg 190 Steinmetz, Willibald 88–89 Stern, Karl 184 Stock, Johann Heinrich 142, 172 Stolle, Gottlieb 198–199 Storz, Dieter 250 Stratius, Nicolaus Franz 62 Straub, Lucas 150, 168 Studemund-Halévy, Michael 48 Stürzbecher, Manfred 49

259

Sudhoff, Karl 48 Süleyman I. 122–123 Surlet, Jean Chokier de 188 Syphilus 9, 13, 16–17, 28–30, 32–34, 36–38, 40 Szasz, Thomas S. 243 T Taddei, Elena 118 Tadino, Alessandro 53 Theisner, Johannes Jakob 221 Theophrast 128 Thomas von Aquin 184 Thomasius, Christian 198–200, 202, 217, 229 Thörnqvist, Thomsen 217 Thukydides 19 Tiraqueau, André 219 Tityrus 76 Toellner, Richard 156 Tognotti, Eugenia 14 Torn, Peter Thomas 91 Tossanus, Daniel 188 Tratziger, Adam 59–60, 66 Traversari, Ambrogio 30 Trincavella, Victor 121 Trump, Donald 241, 250 Tucker, George Hugo 117 Tutrone, Fabio 20–22 Twesten, Detlev Christian 244 U Uden, Karl Friedrich 92–93 Ulbricht, Otto 56, 58 Usener, Hermann 27 V Valderas, José María 128 Valier, Agostino 183 Vergilius Maro, P. 17, 28, 76 Vesalius, Andreas 119, 129–131 Vespucci, Amerigo 33 Vipacher, David 219, 224 Virchow, Rudolf 1, 245 Vogeler, Hieronymus 90–91, 102, 107 Vollhardt, Friedrich 202

260  Personenregister

W Wahl, Hans-Werner 177 Wahrig, Bettina 182 Waldschmidt, Johann Jacob 141–142, 156, 165, 167, 172 Waldschmidt, Wilhelm Huldrich 141–142, 172 Wallis, Patrick 49 Wallisch, Robert 33 Walter, Garry 242 Waszink, Jan Hendrik 84 Weidlich, Christoph 215 Weidner, Tobias 243–245 Weil, Gotthold 179 Wels, Volkhard 198 Werth, Johann de 161 Wieland, Melchior 129 Wilhelm, Janus 94 Wilson, Catherine 21 Wlosok, Antonie 31 Wöbking, Wilhelm 246–248

Wohlwill, Adolf 59 Wöhrle, Georg 15 Wolder, David 63, 66–68, 70–71 Wolder, Theodosius 66 Wolff, Christian von 201–202 Wolkenhauer, Anja 97 Wulff, Erich 248–249 Y Yahia, Guedelia 133 Yersin, Alexandre 47 Z Zacchia, Paolo 9, 92–93, 218–224, 226–228, 234–235, 237–238 Zápolya, Johann Sigismund 120 Zelle, Carsten 205 Zerbi, Gabriele 87 Zimmermann, Volker 48–49 Zwinger III., Theodor 233