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German Pages 480 Year 2014
Sabine Kalff Politische Medizin der Frühen Neuzeit
Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext
Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 189
Sabine Kalff
Politische Medizin der Frühen Neuzeit
Die Figur des Arztes in Italien und England im frühen 17. Jahrhundert
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf
ISBN 978-3-11-032284-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-032328-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038983-8 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ©2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Danksagung | IX 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.2
Einleitung | 1 Einführung | 1 Forschungskontexte | 3 Die Debatte um die Staatsräson | 5 Medizin und Politik in der Frühen Neuzeit | 10 Methodische Überlegungen: Metaphern und Narrative | 12 Kapitelübersicht | 16 Quellen und Forschungsstand | 18
Teil I 2 2.1
2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6
Physiologie der natürlichen und politischen Körper | 29 Der Körper als Schlachtfeld – Dynamik in der Physiologie und politischen Theorie bei Antonio Palazzo und Tommaso Campanella | 29 Politische und physiologische Dynamik bei Palazzo | 29 Campanellas Fiebertheorie | 37 Kosmologische und politische Dynamik | 47 Das Prinzip des konstruktiven Antagonismus | 50 Pathophysiologie des politischen Aufstands – physiologische und politische Dynamik bei Francis Bacon | 54 Bacons Naturphilosophie | 54 Pathophysiologie des politischen Aufstands | 56 Bacons Fiebertheorie | 63 Die hierarchische Ordnung der politischen Dynamik | 67 Koordination und Regulierung von Bewegung | 70 Die harmonische Modulation der Dynamik von Herz und Blut bei William Harvey | 73 Galenische Physiologie | 75 Zyklische Dynamik und das Problem des Erhalts der Bewegung | 77 Harveys Herz- und Blutdynamik | 81 Die harmonische Modulation der Herz- und Blutbewegung | 87 Hierarchie und Kooperation der Organe in Bewegung | 92 Politische Physiologie | 95
VI
Inhalt
Teil II 3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.4
3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.4.6 3.4.7
Politische und medizinische Krisenanalyse | 101 Tommaso Campanella und die Krise des Jahres 1600 | 101 Die Krise des Jahres 1600 | 101 Zukunftswissenschaft und Prognostik | 104 Die eschatologische Krise | 107 Die medizinische Krise | 111 Krankheitszeichen | 115 Die kritischen Jahre | 117 Nach der Krise | 120 Keine Krise: Jean Bodin und das Jahr 1583 | 129 Die Datierung der Schöpfung | 133 Die ‚Geburt‘ Roms | 136 Sterben nach Zahlen | 140 Die Krise des Individuums – Politische Prognostik am römischen Hof um 1630 | 146 Die Zukunft des Papstes | 148 Das Projekt der Kardinäle | 154 Retrospektive Ursachenforschung und vergleichende Krisenanalyse | 161 Das Universalarchiv der Sterne | 169 Die Krise von Individuum und Kollektiv: Placido Titis astromedizinische Analyse der neapolitanischen Revolte von 1647–1648 | 171 Die neapolitanische Revolte von 1647–1648 | 174 Die Vorzeichen der Krise | 176 Der Verlauf der Revolte | 179 Die Krise des Masaniello | 184 Die Revolte als chronische Krankheit | 189 Die Rezeption der Revolte und der Krisenanalyse Titis | 190 Elitäre astrologische Praktiken und die Geschichtsschreibung | 192
Teil III 4 4.1 4.1.1
Die Staatsräson und die Alterung und Verjüngung des Staates | 199 Die Figur des Arztes und der Diskurs der Staatsräson | 199 Die Lehre der Staatsräson und der politische Diskurs der Frühen Neuzeit | 199
Inhalt
4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3
VII
Die italienische Literatur der Staatsräson | 203 Das Wesen der Staatsräson | 208 Die Figur des Arztes im Diskurs der Staatsräson | 215 Arcana imperii und arcana naturae | 219 Alterung und Mortalität der Staatskörper: Verjüngungskuren für den Staat bei Niccolò Machiavelli und Ludovico Zuccolo | 225 Die hippokratisch-galenische Theorie des Alterns | 228 Die Lebensdauer der Staaten | 230 Die Lebensdauer der Republik bei Zuccolo | 236 Das Lebenselixier | 246 Der Diskurs der Lebensverlängerung und Francis Bacons Historia vitae et mortis (1623) | 253 Fluchtversuche des spiritus | 253 Mittel zur inneren Anwendung | 259 Erneuerung und Reparatur von Körperflüssigkeiten und Körperteilen | 268
Teil IV 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.2
5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4
Seuchenpolitik und Staatsräson: Die Mailänder Epidemie von 1629–1630 | 275 Die Mailänder Pest von 1629–1630 im Spiegel der zeitgenössischen Pesttraktate | 275 Pest oder nicht Pest? Probleme der historischen Seuchenforschung | 281 Das Genre der Pesttraktate | 286 Die Entstehung der Pest im Herzogtum Mailand: Vorzeichen und Ursachen der Epidemie bei Alessandro Tadino und Ludovico Settala | 292 Der Ursprung des Kontagiums und das Lazarett | 294 Vorzeichen der Pest und Pestursachen bei Tadino | 300 Die Medien der Pestausbreitung | 304 Astrologische Pestursachen | 306 Vorzeichen der Pest und Pestursachen bei Settala | 311 Die Praxis der Pestdiagnose und Beginn der Epidemie in der Stadt Mailand | 319 Die frühneuzeitliche Praxis der Pestdiagnose | 319 Die Pestdiagnose während der Epidemie von 1629–1630 | 322 Die Rekonstruktion der Infektionskette in Mailand | 329 Die von der Pest belagerte Stadt | 332
VIII
5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.6 5.6.1 5.6.2 5.6.3 5.6.4 5.6.5 5.6.6 5.6.7 5.7 5.7.1 5.7.2 5.7.3 5.7.4 6
Inhalt
Höhepunkt der Epidemie und die Verschwörungstheorie der Pestschmierereien | 335 Eine neue Pestursache | 335 Funktionen des Phantasmas der Pestschmierereien | 344 Medizinische Erklärungen der Pestschmierereien | 352 Nebenwirkungen der Pestmaßnahmen | 354 Pest und Triumph des Todes bei Agostino Lampugnano | 357 Pest und Staatsräson als göttliche Strafen | 357 Die Pest als akustische Erfahrung | 366 Das Regime des Todes | 369 Das mailändische Pestregime | 372 Die Mailänder Gesundheitsbehörde nach Settala | 374 Die Lazarettordnung | 378 Die Pestpolitik | 383 Unfreiwillige Abenteurer: Ärztlicher Heroismus | 385 Die Pest als lokale Infektion des politischen Körpers | 389 Präventive und therapeutische Isolationsmaßnahmen im Staat | 395 Die politische Medizin der Generalquarantäne | 399 Politische Krankheiten in Settalas Della Ragion di Stato (1627) | 403 Politik als Wissenschaft | 406 Settalas politische Pathologie | 412 Therapeutische Grundsätze des politischen Handelns | 422 Immer regieren, als ob Gefahr herrscht | 429 Resümee | 437
Literaturverzeichnis | 442 Abbildungsverzeichnis | 464 Personenregister | 466
Danksagung Die vorliegende Arbeit ist die gekürzte und überarbeitete Fassung meiner Doktorarbeit, die im Frühjahr 2011 an der Universität Hamburg eingereicht wurde. Sie wäre nicht zustande gekommen ohne die Unterstützung zahlreicher Personen und Institutionen. Mein Dank gilt insbesondere dem DFG Graduiertenkolleg Codierung von Gewalt im medialen Wandel an der Humboldt-Universität zu Berlin. Obwohl es 2007 bereits wenige Monate nach meiner Aufnahme endete, empfing ich von den Gesprächen und Diskussionen mit den Kollegiaten und beteiligten Professoren viele wichtige Anregungen zur Ausarbeitung des Projekts. 2007 bis 2008 war ich Stipendiatin am DFG Graduiertenkolleg Archiv – Macht – Wissen an der Universität Bielefeld. Der Austausch im Kolleg führte zu einer methodischen Schärfung in geschichtswissenschaftlicher Hinsicht, was der interdisziplinären Anlage der Arbeit zugute kam. Vor allem aber hat mir die Gerda Henkel Stiftung seit 2008 durch ihre großzügige und stets unbürokratische Unterstützung die kontinuierliche Arbeit an der Dissertation und ihren Abschluss ermöglicht. Ganz besonders möchte ich den beiden Betreuern meiner Arbeit, Claudia Benthien und Heinz-Peter Schmiedebach danken. Claudia Benthien hat mir während allen Phasen der Arbeit mit kritischer Reflexion und loyaler Unterstützung beigestanden. Heinz-Peter Schmiedebach hat mir geholfen, die medizingeschichtlichen Aspekte methodisch zu schärfen und hat mich fachlich bei der Ausarbeitung stets unterstützt. Darüber hinaus danke ich all jenen, die mich im Lauf der Arbeit mit freundlicher und kritischer Rückmeldung begleitet haben, insbesondere Karl Enenkel, Germana Ernst, Eva Horn, Bernhard Jussen, Joachim Küpper, Helmut Lethen, Thomas Macho, Martin Mulsow, Nikola Roßbach, Rudolf Schlögl, Ulrike Vedder, Joseph Vogl und Claus Zittel. Weiterhin bin ich zahlreichen Freunden und Kollegen für ihre Anregungen, Hinweise und Diskussionsbereitschaft zum Dank verpflichtet, besonders Andreea Badea, Constanze Baum, Hendrik Blumentrath, Elke Dubbels, Rupert Gaderer, Guido Giglioni, Karin Harrasser, Silke Herrmann, Gernot Kamecke, Malte Kleinwort, Christoph Schmälzle, Thomas Weitin, Sven Werkmeister, Burkhardt Wolf, Michaela Wünsch und Barbara Wurm. Weiterhin danke ich Christian Jaser und Maria Conforti für ihre hervorragenden Literaturhinweise. Andrea Rutigliano danke ich sehr für seine ausdauernde Bereitschaft, lateinische Zitate und ihre Übersetzungen zu prüfen. Für die aufmerksamen Korrekturen des Manuskripts danke ich Astrid Fendt, Marie-Jeanne Schimala und Eva Schönle herzlich. Nicht zuletzt danke ich meinen Eltern Annemarie und Alexander Kalff, ohne deren langjährige Unterstützung gar nicht an eine Doktorarbeit zu denken
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Danksagung
gewesen wäre. Auch meinem früh verstorbenen Onkel Wilhelm Kalff danke ich. Er hat mich auf seine Weise zur Wissenschaft angeregt. Der größte Dank aber gilt Johannes Groschupf. Er hat mir in allen Momenten der Arbeit unerschütterlich zur Seite gestanden und mich ohne Einschränkung unterstützt.
1 Einleitung 1.1 Einführung In Johann Rists Das friedewünschende Teutschland (1647) befindet sich Teutschland, die Personifikation des Deutschen Reichs, in einem mehraktigen Todeskampf, bei dem ihr Meister Ratio Status in Form eines Feldscherers gegenübertritt. Dieser ist mit allen Attributen des Chirurgenberufes ausgestattet: „Er träget seine Wundarzt-Lade unter dem Arm, hält in der Hand ein paar Gläser, Büchsen mit Salben, allerhand Instrumente und derogleichen.“¹ Der Wundarzt offeriert dem kranken Staatskörper ein ganzes Arsenal von chirurgischen und medikamentösen Maßnahmen, um die durch den Dreißigjährigen Krieg zugefügten Wunden zu kurieren: Aber, halt still Teutschland, da muß ich Dir erstlich etliche heilsame Plaster auff die äusserlichen Wunden legen, und Dir hernach die innerlichen Schäden mit etlichen köstlichen Tränken oder portionibus wieder zu recht bringen.²
Teutschland erkennt in Meister Ratio Status einen Abgesandten des Kriegsgottes Mars und bleibt skeptisch. Er bietet seiner Patientin politische Maßnahmen an, die er in das therapeutische Register übersetzt. Doch Teutschland lehnt alle Arten von Pflastern ab, das Emplastrum ligae ebenso wie das Emplastrum unionis, das Emplastrum neutralitatis und das Emplastrum confoederationis. Meister Ratio Status empfiehlt innere Anwendungen wie das „Tränklein der Simulation“, mit einigen Tröpfchen Dissimulation versetzt, und schließlich pharmazeutische Produkte wie Heuchelpillen (pillulae hipocriticae). Teutschland aber erweist sich als therapieresistent und begnügt sich mit einem Apfel. Meister Ratio Status zieht schließlich weiter zu den Nachbarstaaten, in denen es an politischen und medizinischen Problemen nicht mangelt. Der Arzt, der kranke Staatskörper und die Staatsräson – auf wenigen Seiten umreißt der Mediziner, Theologe und Dichter Johann Rist in seinem Drama exemplarisch die konstitutive Verbindung von Medizin und Politik in der Frühen Neuzeit. Diese Interferenz zwischen den beiden Wissensgebieten mündete in einer regelrechten ‚politischen Medizin‘, ein Begriff, der dem frühneuzeitlichen
1 Johann Rist: Das Friedewünschende Teutschland. In ders.: Das friedewünschende Teutschland und Das friedejauchzende Teutschland. Zwei Singspiele. Hg. von Hans Michael Schletterer. Augsburg 1864, III, 3, S. 73. 2 Ebd., S. 74.
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Einleitung
Publikum geläufig war. So versprach etwa Bartolomeo Pietragrassas diätetische Schrift Politica medica per il governo conservativo del corpo humano (1650) schon im Titel die richtige ‚Politik‘, mittels derer der Körper zu regieren war. Ungefähr zeitgleich erschien die ‚politische Gicht‘ des Hofmediziners Liberato Liberati (Podagra politica seu Tractatus Podagricus civilis, 1637), der in den Diensten des Herzogs Odoardo Farnese stand. Seine Affinität zur politischen Sphäre veranlasste Liberati, Parallelen zwischen politischen Unruhen und Krankheiten zu ziehen. Ähnlich präsentierte Marco Cesare Salbriggio die politischen Missstände Genuas als politische Krankheiten und kündigte dem Leser geeignete Therapieformen an (Le politiche malattie della Repubblica di Genova e le loro medicine, 1655). Auch Rodrigo de Castro legte mit dem Medicus politicus (1614) eine Schrift vor, in der es um das ärztliche Verhalten ging. Mehrere gelehrte Mediziner des frühen siebzehnten Jahrhunderts behaupteten also bereits im Titel ihrer Schriften einen Konnex von Medizin und Politik. Andere standen für einen inhaltlichen Zusammenhang ein, indem sie über beide Themengebiete schrieben. Zu ihnen zählten der Theoretiker der Staatsräson Ludovico Settala und der Tacitist Filippo Cavriana. Während Settala als protomedico, als oberster Gesundheitsbeamter, das Gesundheitswesen des Herzogtums Mailand kontrollierte, war Cavriana Leibarzt der französischen Regentin Caterina de’Medici. Auch der Staatsräsontheoretiker Pietro Andrea Canoniero war gelehrter Mediziner. Die Darstellung von Herrschaftstechniken als medizinische Praktiken in der Frühen Neuzeit florierte, da sie auf einem Verständnis von Medizin und Politik als ‚Erfahrungswissenschaften‘ gründete. Anhand von überwiegend italienischen, aber auch englischen und französischen Quellen vor allem aus dem Zeitraum von 1600 bis 1630, wird der interdisziplinären Fragestellung mit wissenschaftsgeschichtlichen Methoden nachgegangen. Da Medizin und Politik in den italienischen Territorien sowohl theoretisch als auch praktisch besonders weit entwickelt und gut verzahnt waren, sind die italienischen Texte der Zeit besonders interessant und zugleich wenig erforscht. Im Anschluss an Nancy Siraisis Ausführungen über medizinische Narrative wird der Konnex zwischen Politik und Medizin weniger metaphorologisch denn in Hinblick auf die in den medizinischen und politischen Schriften verwendeten literarischen und historiographischen Verfahren untersucht. Der historische Zusammenschluss zwischen Medizin und Politik um 1600 wird in vier Diskurszusammenhängen analysiert. Dabei gerät zunächst der Konnex zwischen politischer Theorie und Physiologie in den Blick. Im zweiten Teil wird die frühneuzeitliche Krisendebatte analysiert. Im dritten Teil geht es um die Debatte der Lebensverlängerung von Lebewesen wie von Staaten, wie sie vor allem im Genre der Staatsräsontraktate geführt wurde. Im letzten Teil wird die konkreteste, institutionalisierte Verbindung von politischen und medizinischen
Einführung
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Konzeptionen am Beispiel der Epidemien und der gegen sie gerichteten Seuchenmaßnahmen untersucht.
1.1.1 Forschungskontexte Studien zum politischen Körper in der Frühen Neuzeit sind zahlreich.³ Gleichwohl gibt es keine umfassende Darstellung der Interferenz von Medizin und Politik in dieser Zeit. Die meisten Untersuchungen konzentrieren sich auf wenige medizinische Themen wie die Anatomie. Mehrere der hier angesprochenen Felder, so etwa die Krisenkonzeptionen (Teil II)⁴ und die Problematik der Alterung und Lebensverlängerung von Staaten (Teil III) sind noch gar nicht im Zusammenhang des politischen Körpers diskutiert worden. Daher liefert diese Arbeit im Unterschied zu den bestehenden Studien eine Übersicht über ein weites Spektrum von Interferenzen zwischen Medizin und Politik, das Physiologie, Krisendiskurs, Makrobiotik und Epidemiologie einschließt. Für diese Arbeit haben die Studien zum politischen Körper zumindest drei Nachteile.⁵ Der erste Nachteil besteht darin, dass die vorliegenden Untersu-
3 Einen wichtigen Ausgangspunkt bildet Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1990. Auch sein Schüler Ralph Giesey hat mehrere maßgebliche Schriften verfasst. Ralph E. Giesey: The Royal Funeral Ceremony in Renaissance France. Genf 1960; ders.: The Juristic Basis of Dynastic Right to the French Throne. In: Transactions of the American Philosophical Society. 60, 5 (1961), S. 1–42. Zwei bedeutende ältere Studien sind Paul Archambault: The Analogy of the ‘Body’ in Renaissance Political Literature. In: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance. Bd. XXIX. Genf 1967, S. 21–53 und David George Hale: The Body Politic. A Political Metaphor in Renaissance English Literature. Den Haag, Paris 1971. Zum historischen Wandel der Körperkonzeptionen vgl. Gerhard Dohrn-van Rossum: Politischer Körper, Organismus, Organisation. Zur Geschichte naturaler Metaphorik und Begrifflichkeit in der politischen Sprache. Diss. Bielefeld 1977 und Jacques Le Goff: Head or Heart? The Political Use of Body Metaphors in the Middle Ages. In: Michael Feher u. a.: Fragments for a History of the Human Body. Bd. III. New York 1989, S. 12–27. Zwei selektive Bibliographien liegen vor mit Maren Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit: Einführung in die Körpergeschichte. Tübingen 2000 und Studies of the Body. A Selected, Annotated Bibliography in Progress der History and Sociology of Science, University of Pennsylvania. Vgl. http://ccat.sas.upenn.edu/~nsivin/bib414. html (10. April 2014). 4 Margaret Healy deutet zwar im Titel eine solche Untersuchung an, unternimmt sie aber nicht. Margaret Healy: Curing the ‘Frenzy’: Humanism, Medical Idiom and ‘Crises’ of Counsel in Sixteenth-Century England. In: Textual Practice 18, 3 (2004), S. 333–350, S. 333. 5 Darüber hinaus fokussieren manche Studien ausschließlich juristische Aspekte und sind deshalb für die Fragestellung uninteressant. Albrecht Koschorke u. a.: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt/M. 2007. Susanne Lüdemann
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Einleitung
chungen fast ausnahmslos von der medizinischen Metaphorik in der politischen Theorie ausgehen und nur punktuell auf zeitgenössische medizinische Konzeptionen zugreifen.⁶ Diese werden dadurch dekontextualisiert, was zu einer Verzerrung medizinhistorischer Zusammenhänge führt. Die Beurteilung der Bedeutung einzelner medizinischer Konzeptionen wie des doppelten Blutkreislaufs eines William Harveys oder der Ansteckungslehre Girolamo Fracastoros⁷ ohne eine Untersuchung ihres medizinhistorischen Kontextes ist methodisch problematisch. Neuere medizinhistorische Untersuchungen widersprechen häufig den Befunden der älteren, fortschrittsgeschichtlichen Medizingeschichtsschreibung. Die neuen Forschungsergebnisse werden in den Studien über den politischen Körper fast nie berücksichtigt. Das führt zu einer verzerrten Einschätzung der politischen Argumentation, die an die medizinische Konzeption anschließt. Diese Arbeit verfolgt die entgegengesetzte Strategie und untersucht politische Analysen und Narrative ausgehend von den medizinischen Konzeptionen in ihrem fachlichen Kontext. Der zweite Nachteil besteht in der Fokussierung eines Teilgebiets der Medizin, das in der Frühen Neuzeit nicht einmal ein selbständiges war, nämlich die Anatomie.⁸ So wurde die politische Literatur seit dem dreizehnten Jahrhundert mehrfach daraufhin durchforstet, ob der Herrscher als Haupt oder als Herz des politischen Körpers in Erscheinung trat, was die anatomische Frage nach der Relevanz der Glieder in Hinblick auf ihre Position innerhalb eines hierarchisch strukturierten Körpers aufwarf. Seltener wurde die Interferenz von politischer Theorie und physiologischen Konzeptionen der Frühen Neuzeit in den Blick genommen, abgesehen von William Harveys Theorie des doppelten Blutkreislaufs, deren Bedeutung in den Studien zum politischen Körper mangels medizinhistorischer Kontextualisierung sogar überschätzt wird. Wo die Physiologie stark gemacht wird, so in der Regel unter Rekurs auf einen anachronistischen Physiologiebegriff. Denn die Frühe Neuzeit unterschied die Physiologie nicht streng
argumentiert überwiegend soziologisch. Vgl. dies.: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären. München 2004. 6 Eine Ausnahme bildet die Studie des Medizinhistorikers Roy Porter: Bodies Politic. Disease, Death and Doctors in Britain, 1650–1900. London 2001. Allerdings wird das Thema auf anatomische Aspekte verengt. 7 So setzt etwa Jonathan Gil Harris die Ansteckungslehre Fracastoros in Gegensatz zur galenischen Humoralpathologie und hält sie für eine neue Konzeption. Jonathan Gil Harris: Foreign Bodies and the Body Politic. Discourses of Social Pathology in Early Modern England. Cambridge u. a. 1998, S. 24. 8 Vgl. etwa Jonathan Sawday: The Body Emblazoned. Dissection and the Human Body in Renaissance Culture. London, New York 1995.
Einführung
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von der Anatomie. Sie beschäftigte sich vielmehr mit der Funktion von Organen und Körperteilen, den Elementen, Temperamenten, Körpersäften, medizinischen Spiritus sowie Kräften und Fakultäten, die im Körper wirkten, aber auch mit der anatomischen Struktur der Organe.⁹ Die Physiologie war tatsächlich das umfassendste und spekulativste Gebiet des seit der Antike verbindlichen Fächerkanons der Medizin. Sie erforschte die Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten, die allen natürlichen Prozessen im Kosmos zugrunde lagen, nicht nur jene, die innerhalb der Lebewesen stattfanden. Daher war die Physiologie der Frühen Neuzeit ein theoretisches und fundamentales Fach der Medizin und konvergierte nahezu mit der allgemeinen Naturphilosophie.¹⁰ Die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Physiologie und politischer Theorie muss dem weiten frühneuzeitlichen Physiologiebegriff Rechnung tragen. Das geschieht jedoch in der Regel nicht.¹¹ Aus der geschilderten Konzentration auf wenige medizinische Aspekte ergibt sich der dritte Nachteil der Studien zum politischen Körper. Viele politische, naturphilosophische und medizinische Texte sind noch nie in diesem Zusammenhang berücksichtigt worden, während eine mehr oder minder willkürliche Auswahl von Texten immer wieder untersucht wurde. Daher werden in dieser Arbeit – mit Ausnahme Harveys, dessen Kontextualisierung angestrebt wird – ausschließlich Texte untersucht, die noch nie in diesem Zusammenhang betrachtet wurden.
1.1.2 Die Debatte um die Staatsräson Der frühneuzeitliche Diskurs der Staatsräson wird häufig mit der zeitgleichen souveränitätstheoretischen Debatte kontrastiert, die von Jean Bodins Six Livres de la République (1576) ausging.¹² Bodin war weniger der Begründer einer neuen
9 Jerome J. Bylebyl: Disputation and Description in the Renaissance Pulse Controversy. In: A. Wear; R.K. French; I.M. Lonie (Hg.): The Medical Renaissance of the Sixteenth Century. Cambridge u. a. 1985, S. 223–245, S. 224. 10 Vivian Nutton: Physiologia, From Galen to Jacob Bording. In: Manfred Horstmanshoff, Helen King, Claus Zittel (Hg.): Blood, Sweat and Tears. The Changing Concepts of Physiology into Early Modern Europe. Leiden u. a. 2012, S. 27–40 (Intersections. Interdisciplinary Studies in Early Modern Culture 25). 11 Eine Ausnahme stellt Ann Blairs Studie über die Naturphilosophie Jean Bodins dar. Ann Blair: The Theater of Nature. Jean Bodin and Renaissance Science. Princeton 1997. 12 Z.B. Michel Foucault: Omnes et singulatim: zu einer Kritik der politischen Vernunft. In ders.: Schriften in vier Bänden. Bd. 4. Dits et écrits. Hg. von Daniel Defert und François Éwald. Frankfurt 2005, S. 165–198, S. 188.
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Einleitung
Souveränitätstheorie als der Vollender einer Tradition der politischen Ideengeschichte, deren Beginn um 1250 anzusetzen ist. Die tendenziell ‚absolutistische‘ Souveränitätstheorie besaß ihren Widerpart im mittelalterlichen Republikanismus, der ‚konstitutionalistischen‘ Konzeption des status mixtus oder der gemischten Verfassung.¹³ Bodin definierte die Souveränität als „die dem Staat eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt“, als „maiestas“ und „oberste Befehlsgewalt“¹⁴ und insistierte auf ihrer Unteilbarkeit. Er bestritt die Existenz einer gemischten oder republikanischen Verfassung, die sich aus Elementen der drei reinen und positiv konnotierten Staatsformen der Monarchie, Aristokratie und Republik zusammensetzte. Damit führte er den Konflikt zwischen souveränitätsrechtlicher und republikanischer Theorie fort, der schon die Kontroversen um die Kirchenverfassung¹⁵ und um die säkulare politische Ordnung seit dem Spätmittelalter prägte.¹⁶ Die Souveränitätstheorie deutete die lex regia als permanente Übertragung der Macht an den Herrscher durch Gott direkt oder durch Gott und das Volk, verstanden als eine korporative universitas. Die höchste Macht gelangte in einem bedingungslosen und einmaligen Transfer an den Herrscher nicht in Person, sondern in genere. Daher fiel sie nicht mit jedem Herrschertod an das Volk zurück. Alle Macht lag damit beim Herrscher. Er war die einzige Quelle der Befehlsgewalt. Die republikanische Theorie deutete die lex regia als eingeschränkte und widerrufliche Übertragung an den Herrscher in persona.¹⁷ Die Übertragung der Souveränität war bedingt und widerruflich. Die Souveränität ging vom Volk aus, und der Herrscher verfügte über sie nur als administrator, als Verwalter einer ihm eigentumsrechtlich fremden Sache. Verstieß er gegen seine Pflicht der ordentlichen Verwaltung, verlor er ipso iure seine Stellung als summus magistratus und wurde zur Privatperson.¹⁸ Die Untertanen waren nur solange zum Gehor-
13 Die Begriffe des Absolutismus und des Konstitutionalismus stammen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Ihre Anwendung auf das siebzehnte Jahrhundert ist eigentlich anachronistisch. 14 Jean Bodin: Sechs Bücher über den Staat. Hg. von P.C. Mayer-Tasch. 2 Bde. Bd. 1. München 1981, S. 205 [Im Folgenden zitiert als Staat I]. 15 Brian Tierney verfolgt den mittelalterlichen Konstitutionalismus bis ins Kirchenrecht des zwölften Jahrhunderts zurück. Brian Tierney: Foundations of the Conciliar Theory. The Contribution of the Medieval Canonists From Gratian to the Great Schism. Leiden u. a. 1998. 16 Otto von Gierke: Das deutsche Genossenschaftsrecht. 4 Bde. Graz 1954. 17 Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 121. 18 Howell A. Lloyd: Constitutionalism. In: J.H. Burns (Hg.): The Cambridge History of Political Thought 1450–1700. Cambridge u. a. 1991, S. 254–297, S. 263.
Einführung
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sam verpflichtet, wie der König seine Pflichten erfüllte, und ‚wenn nicht, dann nicht‘.¹⁹ Die Debatte um die Staatsräson wurde seit dem späten sechzehnten Jahrhundert vor allem im Anschluss an Niccolò Machiavelli geführt, auch wenn der Begriff nicht von ihm stammte.²⁰ Die Debatte war weniger rechtlich geprägt und erörterte politisches Handeln vorzüglich hinsichtlich seiner Effizienz.²¹ Giovanni Botero definierte die Staatsräson folgendermaßen: „Der Staat ist eine stabile Herrschaft über Völker, und Staatsräson ist die Kenntnis der geeigneten Mittel, eine solche Herrschaft zu begründen, zu erhalten und zu erweitern.“²² Wie sich diese Mittel zur rechtlichen Ordnung verhielten, wurde im Genre der Staatsräsontraktate kontrovers diskutiert. Das Genre war politisch sehr heterogen. Boteros Della ragion di stato (1589)²³ bildete den Auftakt einer Welle von Publikationen zur Staatsräson. Diese geriet zu einem regelrechten Modebegriff. So war die Staatsräson um 1600 gemäß Ludovico Zuccolo auch Handwerkern und Barbieren ein Begriff.²⁴ Neben Staatsräsontraktaten spielten auch Tacituskommentare als Fortsetzung der Staatsräsontraktate mit historischen Mitteln eine Rolle, sowie politische Klugheitslehren wie etwa jene von Justus Lipsius (Politicorum libri sex, 1589), der mit der Staatsklugheit (prudentia) einen Alternativbegriff zur Staats-
19 Das war die Formel des Eids der Könige von Aragon, ein republikanischer Mythos. Ralph E. Giesey: If Not, Not. The Oath of the Aragonese and the Legendary Laws of Sobrarbe. Princeton 1968. Zu rechtlichen Fiktionen vgl. auch Ian Maclean: Legal Fictions and Fictional Entities in Renaissance Jurisprudence. In: The Journal of Legal History 20 (1999), S. 1–24. 20 Die Lehre der Staatsräson hat eine Vorgeschichte im Spätmittelalter. So Gaines Post: Studies in Medieval Legal Thought. Public Law and the State 1100–1322. Princeton 1964, S. 253–269. Der Begriff ist erstmals bei Giovanni della Casa im Jahr 1547 belegt. Peter Burke: Tacitism, Scepticism and Reason of State. In: J.H. Burns (Hg.): The Cambridge History of Political Thought 1450–1700. Cambridge u. a. 1991, S. 479–498, S. 479. 21 Burke, Tacitism, S. 483. 22 „Stato è un dominio fermo sopra popoli; e Ragione di Stato è notizia di mezi atti a fondare, conservare, e ampliare un Dominio così fatto.“ Giovanni Botero: Della ragion di stato libri dieci. Venetia 1589, S. 9. Die Übersetzungen aller italienischen, französischen und lateinischen Zitate im Folgenden stammen von der Autorin. Auch Machiavelli wurde selbst übersetzt, um die medizinischen und naturphilosophischen Konnotationen besser herauszustellen. Englische Zitate werden grundsätzlich nicht übersetzt. 23 Die in Klammern genannten Jahreszahlen beziehen sich auf den Erstdruck. Wenn Druck und Niederschrift zeitlich weit auseinanderliegen oder verschiedene Fassungen desselben Textes bestehen, werden in der Fußnote Angaben zur Textentstehung gemacht. 24 Ludovico Zuccolo: Considerationi politiche, e morali sopra cento oracoli d’illustri personaggi antichi. Venedig 1621, S. 54 f.
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räson propagierte.²⁵ Weiterhin partizipierte die antimachiavellistische Literatur an der Debatte um die Staatsräson.²⁶ Zu den wichtigsten italienischen Staatsräsontraktaten zählten Girolamo Frachettas L’idea del libro de’governi di Stato et di Guerra (1592)²⁷ und sein Il seminario de’governi di Stato, et di guerra (1617),²⁸ Filippo Cavrianas Discorsi sopra i primi cinque libri di Cornelio Tacito (1597),²⁹ Scipione Ammirato Discorsi sopra Cornelio Tacito (1594),³⁰ Antonio Palazzos Discorso del governo e della ragion vera di stato (1604), Ludovico Zuccolos Considerazioni politiche, e morali (1621) und Ludovico Settalas Della Ragion di stato (1627),³¹ Pietro Andrea Canonieros Dell’introduzione alla Politica, alla Ragion di Stato e alla pratica del buon governo (1614),³² Federico Bonaventuras Della Ragion di Stato et della prudenza politica (1623),³³ Gabriele Zinanis Ragione de gli Stati (1626)³⁴ und Scipione Chiaramontis Della Ragione di Stato (1635).³⁵ Auch Traiano Boccalinis literarische und
25 Quentin Skinner: The Foundations of Modern Political Thought. Bd. 1.: The Renaissance. Cambridge u. a. 1978, S. 254. Dem Thema der Staatsräsontraktate widmet dieser wichtige Vertreter der Cambridge School in seinem Grundlagenwerk über die politische Ideengeschichte von 1300 bis 1600 leider nur eine Fußnote. Ebd., S. 248, Fn. 1. 26 Ein typischer Fall ist Campanella, der die Lehre der Staatsräson zwar ablehnte, aber dieselben Argumente und Themen diskutierte, ohne ihre Herkunft zu benennen. Hier lag eine mit negativem Vorzeichen versehene Rezeption der Lehre der Staatsräson vor. Pascal Bouvier: Machiavel ou Campanella. Une alternative moderne. Paris 2007, S. 160. 27 Girolamo Frachetta: L’idea del libro de’governi di Stato et di Guerra. Venedig 1592. 28 Girolamo Frachetta: Il seminario de’governi di Stato, et di guerra. Venedig 1617. 29 Filippo Cavriana: Discorsi sopra i primi cinque libri di Cornelio Tacito. Con una tavola copiosissima delle materie piu notabili. Florenz 1597. 30 Die hier benutzte Ausgabe Scipione Ammirato: Discorsi sopra Cornelio Tacito. Padua 1642. 31 In Hinblick auf die Verfügbarkeit des Textes wird, sofern enthalten, nach der gekürzten Fassung zitiert. Ludovico Settala: Della Ragion di stato. In: Benedetto Croce, Santino Caramella (Hg.): Politici e moralisti del seicento. Strada – Zuccolo – Settala – Accetto – Brignole Sale – Malvezzi. Bari 1930, S. 45–141. Darin nicht enthaltener Text wird im Folgenden zitiert als Settala, Ragion di stato 1752 nach ders.: De ratione status libri septem. Sermone quidem italico: Juncta tamen a latere dextro versione latina Joannis Garmersij. In ders.: Opera omnia. Editio Nova. Venedig 1752. 32 Pietro Andrea Canoniero: Dell’introduzione alla Politica, alla Ragion di Stato e alla pratica del buon governo. Antwerpen 1614. Er verfasste auch den Tacitus-Kommentar Quaestiones ac discursus in duos primos libros Annalium C. Cornelii Taciti. Rom 1609. 33 Federico Bonaventura: Della Ragion di Stato et della prudenza politica libri quatro. Urbino 1623. Das Traktat entstand etwa 20 Jahre früher. 34 Gabriele Zinani: Della Ragione de gli Stati libri XII. Venedig 1626. 35 Scipione Chiaramonti: Della Ragione di Stato, Florenz 1635.
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satirische Darstellung in den Ragguagli di Parnaso (1612–1613) gehörte in das Spektrum.³⁶ Die italienischen Staatsräsontraktate divergierten bezüglich der in ihnen vorgetragenen politischen Konzeptionen erheblich. Die prominente deutsche Rezeption der politischen Ideengeschichte von Machiavelli über Thomas Hobbes bis hin zu Carl Schmitt erweckt der Eindruck, die Lehre der Staatsräson sei fest mit absolutistischen und obrigkeitsstaatlichen Positionen verbunden.³⁷ In Großbritannien und in den USA gilt Machiavelli geradezu als Gründervater des modernen Republikanismus.³⁸ Diese These ist von der Cambridge School der politischen Ideengeschichte³⁹ im Anschluss an Quentin Skinner⁴⁰ und John G.A. Pocock⁴¹ vertreten worden. Die Ambivalenz zwischen republikanischen und autokratischen Thesen war schon bei Machiavelli selbst angelegt. Während seine Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (1531)⁴² republikanische Konzeptionen vertraten, waren die bevorzugten Adressaten seiner politischen Ratschläge im Principe (1532)⁴³ die sogenannten neuen Fürsten, die durch Eroberung oder Machtaneignung, etwa in Form von Staatsstreichen zur Herrschaft kamen, und nicht durch Erbfolge. Die italienische Staatsräsonliteratur fächerte die schon bei Machiavelli angelegte Bandbreite von Konzeptionen auf. Während Palazzo und Cavriana, die mit der zeitgenössischen Souveränitätstheorie vertraut waren, dem autokratischroyalistischen Spektrum zuzurechnen waren, vertraten Zuccolo und Settala republikanische Theorien. Boccalinis Ragguagli di Parnaso fanden großen Anklang bei der Bewegung der Rosenkreuzer, die geneigt waren, die von ihnen angestrebte universale Reform mittels einer Revolte herbeizuführen. Auch bei Tommaso Cam-
36 Traiano Boccalini: Ragguagli di Parnaso. Centuria prima. Venedig 1612; Centuria seconda Venedig 1613. 37 Herfried Münkler: Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens aus der Krise der Republik Florenz. Frankfurt/M. 1982. Vgl. auch den Münkler-Schüler Marcus Llanque: Politische Ideengeschichte: ein Gewebe politischer Diskurse. München u. a. 2008. 38 Vgl. etwa die neueren Publikationen Gisela Bock, Quentin Skinner, Maurizio Viroli (Hg.): Machiavelli and Republicanism. Cambridge u. a. 1990; Vickie B. Sullivan: Machiavelli, Hobbes, and the Formation of a Liberal Republicanism in England. Cambridge u. a. 2004. 39 Martin Mulsow, Andreas Mahler (Hg.): Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte. Frankfurt/M. 2010. 40 Quentin Skinner: Foundations of Modern Political Thought. 2 Bde. Cambridge 1978. 41 John G.A. Pocock: The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton 1975. 42 Verfasst zwischen 1513 und 1519. 43 Das Traktat zirkulierte handschriftlich unter lateinischem Titel De principatibus bereits seit 1513.
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panella ging die Rezeption der Lehre der Staatsräson mit revolutionären Bestrebungen einher.⁴⁴
1.1.3 Medizin und Politik in der Frühen Neuzeit Die Verschränkung von Medizin und Politik um 1600 hatte verschiedene Ursachen. Manche von ihnen waren institutioneller Natur. So war die Medizin in Italien schon seit dem dreizehnten Jahrhundert als Universitätsfach etabliert.⁴⁵ Das machte Mediziner allgemein zahlreich und führte einige von ihnen in die Nähe der Politik. So waren sie als Leibärzte an den Höfen der Fürsten und Päpste tätig,⁴⁶ als Stadtärzte bei den Kommunen⁴⁷ oder standen als protomedici im Staatsdienst. Ihre Einflussmöglichkeiten auf die Politik schwankten von Territorium zu Territorium. Manche Potentaten schätzten die Diskussion medizinischer Probleme mehr als die Umsetzung von ärztlichen Ratschlägen, sei es bezüglich der öffentlichen Gesundheit oder ihrer eigenen.⁴⁸ Wenn Ärzte ihr Wissen herrschaftsrelevant nannten, diente dies auch der Kundenakquise. Neben institutionelle Gründe für die Affinität von Medizin und Politik traten theoretische und methodische. Ein wichtiges Verbindungsglied war die aristotelische Philosophie, die bei Jacopo Zabarella im sechzehnten Jahrhundert an der Universität Padua zur Formulierung einer neuen wissenschaftlichen Methodik führte.⁴⁹ Während der Einfluss des Aristotelismus, wie er an der Universität Padua gepflegt wurde,⁵⁰ auf die Formulierung neuer medizinischer Theorien etwa bei William
44 Campanella wird selten in dieser Tradition verortet, so etwa etwas provokativ von Villari. Rosario Villari: Introduzione. In ders. (Hg.): Scrittori politici dell’età barocca. Rom 1995, S. VII– XXXII, S. VIII. 45 Paul F. Grendler: The Universities of the Italian Renaissance. Baltimore 2002, S. 45. 46 Vivian Nutton: Introduction. In: Vivian Nutton (Hg.): Medicine at the Courts of Europe, 1500– 1837. London, New York 1990, S. 1–14, S. 2. Der Sammelband gibt einen guten Überblick über das breite Spektrum der Hofmediziner, ihren Status und ihren Einfluss. 47 Zur Geschichte der Institution der Stadtärzte vgl. Andrew W. Russell (Hg.): The Town and State Physician in Europe from the Middle Ages to the Enlightenment. Wolfenbüttel 1981. 48 Richard Palmer: Medicine at the Papal Court in the Sixteenth Century. In: Vivian Nutton (Hg.): Medicine at the Courts of Europe, 1500–1837. London, New York 1990, S. 49–78, S. 63. 49 Ian Maclean: Logic, Signs and Nature in the Renaissance. The Case of Learned Medicine. Cambridge u. a. 2002, S. 74 f. 50 Jerome J. Bylebyl: The School of Padua: Humanistic Medicine in the Sixteenth Century. In: Charles Webster (Hg.): Health, Medicine and Mortality in the Sixteenth Century. Cambridge 1979, S. 335–370, S. 368 f.
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Harvey und Andreas Vesalius inzwischen unstrittig ist,⁵¹ steht dieselbe intellektuelle Strömung in politischem Zusammenhang im Verdacht, eine überkommene Schulphilosophie zu sein.⁵² Gleichwohl ging auch in politischer Hinsicht der Impuls für neuartige Konzeptionen von aristotelischen Prämissen aus und führte bei Zuccolo und Settala zum Entwurf der Politik als selbständigem Wissensgebiet, das im Rahmen der aristotelischen Wissenschaftsklassifikation zu verorten war. Die Allianz von Medizin und Politik hatte in der Theologie einen dritten Bundesgenossen. Das wurde besonders im epidemischen Kontext deutlich, in dem sich politische, medizinische und religiöse Kompetenzen regelmäßig überschnitten. Ärzte gaben politische Anweisungen, Politiker trafen medizinische Maßnahmen und Ordensleute waren traditionell nicht nur für die Seelsorge, sondern für die Krankenpflege zuständig.⁵³ Auch jenseits von Epidemien waren Medizin und Theologie eng verbunden, was sich in quasireligiösen medizinischen Konzeptionen äußerte. So bezeichnete Marsilio Ficino das Verhältnis der Medizin der Seele zu jener des Körpers als komplementär.⁵⁴ Darüber hinaus schrieb er dem Arzt eine Doppelnatur zu und nannte ihn “a god amongst men”.⁵⁵ Ähnlich verglich Paracelsus das Wirken Gottes mit einem Arzt⁵⁶ oder Apotheker.⁵⁷ Zudem hielt er alle Menschen für mit zwei Leibern gesegnet: „also ist der mensch vermelet der großen welt, das ist, beiden corporibus, das ist siderisch und elementisch, die
51 Auch in der Medizingeschichte florierte zunächst die These der Innovation durch Abwendung vom Aristotelismus, doch hier wurde die Schlacht bereits erfolgreich zugunsten einer Aufwertung des Aristotelismus geschlagen. Walter Pagel: The Reaction to Aristotle in Seventeenth Century Biological Thought. Campanella, van Helmont, Glanvill, Charleton, Harvey, Glisson, Descartes. In: E. Ashworth Underwood (Hg.): Science, Medicine and History. Essays on the Evolution of Scientific Thought and Medical Practice Written in Honour of Charles Singer. Bd. 1. London 1953, S. 489–509. 52 Horst Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die Politica des Henning Arnisaeus (ca. 1575–1636). Wiesbaden 1970, S. 6 f. 53 Colin Jones: Plague and Its Metaphors in Early Modern France. In: Representations 53 (1996), S. 97–127, S. 111. 54 Marsilio Ficino: Three Books on Life. Übers. von Carol V. Kaske, John R. Clarke. Binghampton, New York 1989, S. 103. Zitate aus dem Lateinischen werden im Folgenden grundsätzlich nach Übersetzungen in moderne Sprachen zitiert, wenn sie existieren. 55 Marsilio Ficino: The Letters. Bd. 1. Hg. von Paul Oskar Kristeller. London, Dallas 1975, Brief Nr. 81, S. 128. 56 „also ist auch der größte arzt im firmament, der alle krankheiten erkent und sicht die selbig, was uns finster vor unsern augen ist.“ Paracelsus: Astronomia magna oder die ganze Philosophia sagax der großen und kleinen Welt samt Beiwerk. In ders.: Sämtliche Werke. 1. Abt. Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. 14 Bde. Bd 12. Hg. von Karl Sudhoff. München, Berlin 1929, S. 168. 57 Ebd., S. 189.
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dan nur für eins genomen werden und nicht für zwei.“⁵⁸ In paracelsischer Perspektive verfügten also nicht nur Könige über zwei Körper, sondern die gesamte menschliche Spezies.⁵⁹ Die Identifikation Gottes mit einem Arzt oder Apotheker betraf auch dessen Sohn. Zahlreiche bildliche Darstellungen aus der Frühen Neuzeit stellten Christus als Arzt oder Apotheker dar.⁶⁰ Die Interferenz mit der Theologie wird im Folgenden jedoch nur punktuell aufgezeigt.
1.1.4 Methodische Überlegungen: Metaphern und Narrative Ältere Studien zur Geschichte des politischen Körpers rekurrieren methodisch zumeist auf repräsentationale Metapherntheorien und bringen den ‚realen‘ Körper regelmäßig gegen den ‚metaphorischen‘ politischen Körper in Stellung. Die These der erkenntnistheoretischen Inferiorität der Metapher gegenüber dem abstrakten wissenschaftlichen Begriff wirkt sich negativ auf die Einschätzung der Bedeutung von Befunden metaphorologischer Untersuchungen aus.⁶¹ In Auseinandersetzung mit Hans Blumenbergs Metapherntheorie hat sich ein neues Verständnis von Metaphern und ihrem erkenntnistheoretischen Gehalt gebildet,⁶² das in der Literaturwissenschaft vor allem von Anselm Haverkamp weitergedacht wurde.⁶³ Die Umwertung stützt sich unter anderem auf ältere nicht-repräsentationale Metapherntheorien wie jene Friedrich Nietzsches, der Begriffe bezeichnete als „Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind.“⁶⁴ Auch die Geschichtswis-
58 Paracelsus, Labyrinthus Medicorum Errantium. In: ders.: Drey Bücher. Köln 1546, S. 57–135, S. 65. 59 Zur Trinitätslehre bei Paracelsus vgl. Hartmut Rudolph: Kosmosspekulation und Trinitätslehre. Ein Beitrag zur Beziehung zwischen Weltbild und Theologie bei Paracelsus. In: Salzburger Beiträge zur Paracelsusforschung 21 (1980), S. 32–47. 60 Vgl. Kap. 5.4, hier Abb. 11. 61 Die Argumentation gegen repräsentationale Metapherntheorien nimmt beinahe die gesamte Einleitung von Dohn-van Rossums Dissertation ein. Vgl. Dohrn-van Rossum, Politischer Körper, Organismus, Organisation, S. 1–34. 62 Zum Verhältnis von Begriff und Metapher vgl. v. a. Hans Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit. Hg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt/M. 2007; Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt/M. 1998. 63 Vgl. etwa die jüngste Publikation Anselm Haverkamp, Dirk Mende: Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie. Frankfurt/M. 2009. 64 Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. In ders.: Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873. Hg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari. München 19882, S. 873–890, S. 883.
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senschaft scheint zunehmend Ansätze der Begriffs- und Diskursgeschichte und der historischen Semantik miteinander zu verschmelzen.⁶⁵ Diese Arbeit behandelt politische und medizinische Begriffe und Metaphern als erkenntnistheoretisch gleichrangig. Darüber hinaus nimmt sie die literarischen Verfahren in den Blick, die in den politischen und medizinischen Texten verwendet werden. Denn wissenschaftliche Texte verwendeten nicht nur viele Metaphern und Begriffe, sondern warteten mit veritablen literarischen Narrativen auf. Nicht nur Klio, auch Scientia dichtete.⁶⁶ Aus diesem Grund sollten auch wissenschaftliche Texte einer literaturwissenschaftlichen Analyse unterzogen werden. Ein solches Vorgehen kann sich methodisch auf die Poetologie des Wissens stützen, die aufgrund ihrer sozialkonstruktivistischen Inspiration geeignet erscheint, literarische Verfahrensweisen naturphilosophischer und medizinischer Schriften zu untersuchen, auch wenn sie bislang vor allem für ökonomische, soziologische und juristische Texte reklamiert wurde. So berief sich Joseph Vogl in seinem Plädoyer für eine Poetologie des Wissens mit Ludwik Fleck und Gaston Bachelard auf zwei Wissenschaftshistoriker des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die davon ausgingen, dass die wissenschaftliche Begriffsbildung nicht vom Gegenstand zum Begriff verliefe, sondern sich systematisch in einem vorbegrifflichen, aber bereits diskursiven Feld vollzog.⁶⁷ In dieser Perspektive erscheint die Konstitution einer wissenschaftlichen Tatsache nicht als mimetischer oder repräsentationaler Vorgang, sondern als ein poetisches Verfahren.⁶⁸ Dieses ermöglichte, dass wissenschaftliche Gemeinschaften oder Denkkollektive, wie Fleck sie nannte, im Verlauf der Jahrhunderte allerhand mit eigenen Augen erblickten, was der Existenz entbehrte.⁶⁹ Auch das
65 Hans Erich Bödeker (Hg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte. Göttingen 2002; und Carsten Dutt (Hg.): Herausforderungen der Begriffsgeschichte. Heidelberg 2003. Hier wird der in der Geschichtswissenschaft oft behauptete Gegensatz zwischen Begriffsund Diskursgeschichte zurückgenommen. Zur Begriffsgeschichte vgl. Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichten. Frankfurt/M. 2006. 66 Zu literarischen Verfahren in der Historiographie vgl. Hayden White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen: Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1991. 67 Joseph Vogl: Für eine Poetologie des Wissens. In: Karl Richter (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Stuttgart 1997, S. 107–127, S. 114. 68 Joseph Vogl: Einleitung. In ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, S. 7–16, S. 12 f. 69 So schlossen Sektionsberichte mit den absurdesten Beobachtungen regelmäßig mit der Phrase „quod dissectionisbus adparet“. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt/M. 1980, S. 50.
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wichtigste Instrument der Krankheitsprognose und -diagnose, die Lehre von den kritischen Tagen, ließ Ärzte und Laien jahrhundertelang beobachten, was gar nicht existierte, nämlich zyklische Verläufe von Krankheiten und Krisen in vieroder siebentätigen Rhythmen. Deren Existenz wurde erst im späten neunzehnten Jahrhundert statistisch widerlegt. Die These der sozialen und kulturellen Konstruktion medizinischer Begriffe, wie Fleck sie bereits 1935 anhand des Krankheitsbegriffs der Syphilis entwickelte, kann für die Untersuchung der historischen medizinischen Konzeptionen hier fruchtbar gemacht werden. Vogl verknüpfte Flecks Begriff des Denkstils, ein „ausgebautes, geschlossenes Meinungssystem“⁷⁰ oder vielmehr ein wissenschaftliches Glaubenssystem, das die wissenschaftliche Wahrnehmung steuerte, mit der diskursiven Ordnung eines Dispositivs im Sinne Michel Foucaults. Damit brachte Vogl Flecks Annahme von heterogenen Elementen innerhalb eines Denkstils mit Foucaults Postulat der heterogenen, diskontinuierlichen Struktur von Diskursen in Konvergenz. So forderte Vogl eine Geschichte des Wissens, die in der Poetologie ihrer Formen bestünde, wodurch sich der Fokus von den Einzelwissenschaften auf Argumentationsstrukturen, die quer zu den Einzeldisziplinen verlaufen, verschiebt.⁷¹ In dieser Perspektive erscheinen Metaphern oder Begriffe als vor- oder protowissenschaftliche Denkfiguren, als Wissen, das zwar vorbegrifflich sein mag, aber nicht vordiskursiv.⁷² Denkfiguren, verstanden als vorwissenschaftliche, aber nicht vordiskursive Begriffe oder Metaphern, sind daher als diskursive Knotenpunkte zu betrachten. Darüber hinaus sind Begriffe oder Metaphern nicht rein sprachlicher Natur, sondern mit einem Geflecht von Institutionen und Machtstrukturen verbunden.⁷³ Die Verschränkung von medizinischen und politischen Konzeptionen, ihre Inkonsistenzen, Brüche und Widersprüche werden daher vor dem Hintergrund der institutionellen Verflechtungen in den Blick genommen. Dazu ist eine interdisziplinäre Vorgehensweise nötig, zumal frühneuzeitliche wissenschaftliche Literatur kaum anders als interdisziplinär zu untersuchen ist.⁷⁴ Ein besonderes Augenmerk liegt auf den narrativen Verfahren, die in den Texten zur Anwendung kamen. Obwohl narrative Verfahren in der medizinischen Literatur erst systematisch im Zusammenhang der psychologischen Fallge-
70 Ebd., S. 40. 71 Vogl, Für eine Poetologie des Wissens, S. 118. 72 Ebd., S. 118. 73 Ralf Konersmann: Wörter und Sachen. Zur Deutungsarbeit der Historischen Semantik. In: Ernst Müller (Hg.): Begriffsgeschichte im Umbruch? Hamburg 2005, S. 21–32, S. 27. 74 Vgl. Anthony Grafton: Introduction. In: Horst Bredekamp: The Lure of Antiquity and the Cult of the Machine. Princeton 1995, S. VII–XXV, S. XI.
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schichte untersucht worden sind,⁷⁵ stellen frühneuzeitliche Publikationen ebenfalls einen reichen Fundus dar.⁷⁶ Nancy Siraisi bezeichnet den Einsatz narrativer Verfahren als Charakteristikum der frühneuzeitlichen medizinischen Literatur und führt ihn auf ein verstärktes Interesse an individuellen Krankheitserscheinungen zurück.⁷⁷ Narrative Verfahren kennzeichneten vor allem frühneuzeitliche Krankengeschichten, die sich in verschiedenen medizinischen Genres wie der Konsilienliteratur finden. In den seit dem dreizehnten Jahrhundert bezeugten Consilia fanden sich oft Hunderte von Fallgeschichten. Dabei handelte es sich um Protokolle ärztlicher Konsultationen, die Krankengeschichte, Symptome und Krankheitsverlauf erörterten und Ratschläge für die Behandlung gaben.⁷⁸ Diese Art von Krankengeschichten ist medizingeschichtlich kaum erforscht.⁷⁹ Viele narrative Verfahren in den Genres der gelehrten Medizin – von den nicht-gelehrten ganz zu schweigen⁸⁰ – wie die Krankheitsnarrative in den astromedizinischen Traktaten über die Lehre von den kritischen Tagen sind völlig unerforscht. Narrative waren gerade für die frühneuzeitliche Medizin von besonderer Bedeutung, weil sie stark von Praktiken der Zeichendeutung bestimmt wurde. Prognose und Diagnose, das Erschließen von Krankheitszeichen und ihre
75 Eine Ausnahme stellt der Band Medizinische Schreibweisen dar, der auch die frühe Neuzeit behandelt. Allerdings wird nicht geklärt, was ‚medizinische Schreibweisen‘ in den verschiedenen Epochen waren. Auch werden die frühneuzeitlichen medizinischen Schreibweisen jenseits der Medizin nur selten in Bezug zur zeitgenössischen Medizin gesetzt. So bleibt der Zusammenhang eine bloße Behauptung. Vgl. Nicolas Pethes, Sandra Richter (Hg.): Medizinische Schreibweisen. Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600–1900). Tübingen 2008. 76 Vgl. das Kapitel “Historia, Narrative, and Medicine” in Nancy Siraisi: The Clock and the Mirror: Girolamo Cardano and Renaissance Medicine. Princeton 1997, S. 195–231 und dies.: Anatomizing the Past: Physicians and History in Renaissance Culture. In: Renaissance Quarterly 53 (2000), S. 1–30. 77 Siraisi, Anatomizing the Past, S. 6. 78 Siraisi, Clock, S. 203. 79 Volker Hess: Der Wandel der Krankengeschichte durch die Entwicklung der Krankenhausverwaltung – Ein altbekanntes Instrument im Wandel der Zeit. In: Klinikarzt 37, 1 (2008), S. 27–30. Es gibt mehrere Editions- und Digitalisierungsprojekte von Ärzte- und Patientenbriefen. Z. B. Frühneuzeitliche Ärztebriefe des deutschsprachigen Raums (1500–1700) der Arbeitsstelle der Bayerischen Akademie der Wissenschaften an der Universität Würzburg. http://www.medizingeschichte.uni-wuerzburg.de/akademie/index.html (14. April 2014). 80 Zu “‘lay’ narratives of illness” in den Akten von Kanonisationsprozessen, Briefen, Heiligenviten und Chroniken vgl. Siraisi, Clock, S. 200. Auch Leichenpredigten sind eine mögliche Quelle. Vgl. den Gesamtkatalog von ca. 250.000 deutschsprachigen Leichenpredigten in Marbach. http://web.uni-marburg.de/fpmr/html/db/gesainfo.html (10. April 2014).
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Deutung, basierten wesentlich auf einem semiotischen Verfahren.⁸¹ Die medizinische Kunst der Zeichenlektüre verlief quer zu dem medizinischen Fächerkanon. Sie war selbst Teil einer allgemeinen Zeichenlehre,⁸² die in einer ganzen Reihe von praktischen Künsten oder artes wie der Astrologie, Physiognomie, Handlesekunst, Stirnlesekunst, Traumdeutung und der Meteorologie zur Anwendung kam. Semiotische Praktiken wurden zu prognostischen Zwecken häufig auf große Unternehmungen mit ungewissem Ausgang angewendet. Zu diesen zählten die Agrikultur und die Seefahrt, medizinische Eingriffe und die Politik.⁸³ Diese Künste galten als mutmaßende Künste, als artes coniecturales, da ihr Wissen nicht sicher, sondern nur wahrscheinlich war. Die Medizin partizipierte somit an einer fächerübergreifenden Semiotik, die auf der aristotelischen Sprachtheorie und stoischen Logik gründete.⁸⁴ Das rückte sie in die Nähe eines Fachs, das man heute kaum mit ihr assoziieren würde: der Rhetorik. Diese Arbeit wird die in Vergessenheit geratene frühneuzeitliche Allianz von Medizin, Politik und Rhetorik im Zeichen der Semiotik rekonstruieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Interferenz von Medizin und Politik nur rhetorisch vermittelt war. Medizin, Politik und Rhetorik waren sowohl theoretische als auch praktische Künste. Als artes factivae verstanden sie sich als adoperative Praktiken und zielten auf das Handeln ab.
1.1.5 Kapitelübersicht Die Arbeit gliedert sich in vier Hauptteile. In Teil I über die Physiologie der natürlichen und politischen Körper steht die Interdependenz zwischen physiologischen und politischen Konzeptionen im Vordergrund. Es wird in den Blick genommen, inwiefern physiologische Prozesse als heuristisches Modell zur Erklärung politischer Dynamik fungierten. Als Vermittlungsinstanz zwischen politischem und medizinischem Diskurs trat die Physiologie auf, die sich mit den naturphilosophischen Prinzipien befasste, welche allen natürlichen Prozessen, nicht nur jenen innerhalb der Lebewesen, zugrunde lagen. Als Beispiel dient Campanellas Fieberlehre, die das Fieber als Paradigma des körperinternen Konflikts auffasste. Campanella sah dieselbe konfliktuelle Dynamik von Krankheitsent-
81 Volker Hess: Von der semiotischen zur diagnostischen Medizin. Die Entstehung der klinischen Methode zwischen 1750 und 1850. Husum 1993, S. 10. 82 Maclean, Logic, Signs and Nature, S. 280. 83 Ebd., S. 281. 84 Ebd., S. 149.
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wicklungen in allen Sphären der Natur am Werk, selbstverständlich auch in der Politik. Mit Francis Bacons spiritus-basierter physiologischer Konzeption wird ein weiteres Modell analysiert, das die Notwendigkeit der politischen und physiologischen Dynamik behauptete, wenn auch eine hierarchisch abgestufte. Als Kontrast zu den beiden spiritus-basierten Physiologien Campanellas und Bacons wird William Harveys Konzeption der Herz- und Blutdynamik untersucht und ihre aristotelischen Prämissen aufgezeigt. Harvey postulierte die Notwendigkeit der harmonischen Modulation von Bewegungen, wie er sie bei dem Zusammenspiel der Herz- und Blutbewegung im Gang sah. Es wird untersucht, inwiefern physiologische Konzeptionen bei Campanella, Bacon und Harvey als Modell zur Beschreibung und Analyse von politischer Dynamik fungierten, und wie umgekehrt politische Konflikte paradigmatisch für das Verständnis der Entstehung von Bewegung und Wärme in medizinischem Zusammenhang werden konnten. In Teil II über die politische und medizinische Krisenanalyse wird der frühneuzeitliche Krisendiskurs untersucht. Es wird aufgezeigt, wie die medizinische Krisenprognostik und -diagnostik samt ihren astrologischen Implikationen als Instrument der politischen Krisenanalyse fruchtbar gemacht wurde. Der Zusammenhang zwischen medizinischer, astrologischer und politischer Krisenanalyse wurde durch ihren gemeinsamen Gebrauch semiotischer Verfahren in der Prognose und Diagnose gestiftet, mittels derer Zeichen – Krankheitszeichen, astrale Zeichen oder sonstige Zeichen der Natur – gedeutet werden konnten. Anhand von astromedizinischen Traktaten wie jenen Thomas Bodiers, Giovanni Antonio Maginis, Andrea Argolis und Placido Titis werden die narrativen Verfahren der Krisenanalyse aufgezeigt, die retrospektiv die Ergründung von Ursachen sowohl medizinischer als auch politischer Ereignisse ermöglichten. In Teil III über die Staatsräson und die Alterung und Verjüngung des Staates stehen wie in Teil IV über die Seuchenpolitik und Staatsräson weniger semiotische Deutungsverfahren als vielmehr Praktiken im Vordergrund. Im Kontext der Literatur der Staatsräson rückt die Figur des Arztes mit ihren Techniken der Prävention, der Diätetik und der therapeutischen Intervention ins Zentrum der Analyse. Es wird untersucht, wie im italienischen Diskurs der Staatsräson, namentlich bei Ludovico Zuccolo, präventive und kurative medizinische Maßnahmen zum bevorzugten Modell der Pragmatik des Regierungshandelns avancierten. Da mehrere der Autoren gelehrte Mediziner waren, ist es nicht verwunderlich, dass sie die Frage der Mortalität von Staaten vor dem Hintergrund der zeitgenössischen medizinischen Debatte um die Lebensverlängerung diskutierten. Auch Francis Bacons Schrift über die Physiologie des Alterns, History of Life and Death, und die darin erörterten makrobiotischen Maßnahmen und Möglichkeiten zur Verjüngung sind eng verzahnt mit seinen politischen Konzeptionen von politischer Größe und der Expansion von Imperien.
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In Teil IV wird mit „Seuchenpolitik und Staatsräson“ anhand des epidemischen Szenarios der Mailänder Epidemie von 1629–1630 die engste Verbindung zwischen Politik und Medizin aufgezeigt. Der Autor der Staatsräson Ludovico Settala und Alessandro Tadino standen als protomedici des Herzogtums Mailand als Mediziner im Staatsdienst. Darüber hinaus fungierten sie während der Epidemie als Ärzte der mailändischen Pestbehörde, des Tribunale di sanità, und waren Teil des Pestregimes. Es wird untersucht, wie sich die aktive Beteiligung der Autoren an der städtischen Pestpolitik in ihren medizinischen Schriften, namentlich in den Pesttraktaten und in ihren politischen Werken spiegelte und welche Allianzen politische und medizinische Konzeptionen und Praktiken im epidemischen Kontext eingingen.
1.2 Quellen und Forschungsstand Der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit liegt zwischen den Jahren 1576 und 1660. Den Schwerpunkt bildet der Zeitraum von 1600 bis 1630. Die Quellen stammen überwiegend aus dem italienischen und englischen Sprachraum und sind größtenteils noch nie im Zusammenhang der Interferenz von Medizin und Politik untersucht worden.⁸⁵ Das gilt insbesondere für die medizinischen und naturphilosophischen Schriften Campanellas und Bacons (Teil I), die astromedizinischen Traktate und Horoskopsammlungen (Teil II) und die medizinischen und politischen Schriften Settalas (Kap. 5.7). Italienische Quellen stehen im Vordergrund, da sie schlechter erforscht sind⁸⁶ als die englischen und französischen,⁸⁷ die von einer extensiven medizin-
85 Der Forschungsstand kann aufgrund der interdisziplinären Vorgehensweise hier nicht vollständig referiert werden. Ergänzende bibliographische Angaben finden sich jeweils zu Beginn der Kapitel. 86 Zum Zusammenhang von Politik und Medizin vgl. den Aufsatz von Silvana d’Alessio: Per una nuova scienza. Medicina e politica nella prima età moderna. In: Antonella Argenio (Hg.): Biopolitiche. Rom 2006, S. 1–27. 87 Für das frühneuzeitliche England gibt es viele Untersuchungen, darunter Margaret Healy: Fictions of Disease in Early Modern England: Bodies, Plagues and Politics. Basingstoke u. a. 2001; ein interessanter Aufsatz auf der Grundlage französische Quellen ist Jacob Soll: Healing the Body Politic: French Royal Doctors, History, and the Birth of a Nation 1560–1634. In: Renaissance Quarterly 55 (2002), S. 1259–1286. Dem Anspruch, den Beitrag der französischen königlichen Leibärzte zur Begründung einer empirischen politischen Wissenschaft zu untersuchen, wird er jedoch nicht gerecht. Medizinische Aspekte werden zu kursorisch behandelt, um ein Urteil zu erlauben.
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geschichtlichen Forschung flankiert werden.⁸⁸ Die räumliche Begrenzung auf Neapel, Rom und Mailand ermöglicht die historisch-politische Kontextualisierung der Ereignisse und die Nachzeichnung des diskursiven Panoramas in dem genannten Zeitraum. Die Kalabresische Revolte des Jahres 1599 und der neapolitanische Aufstand 1647–1648 bilden den Hintergrund für die Analyse physiologischer Konzeptionen (Kap. 2.1) und dem Krisendiskurs (Kap. 3.1 und 3.4). Auch das Jahr 1630 gerät aus zwei verschiedenen Perspektiven in den Blick, zunächst hinsichtlich des päpstlichen Prozesses wegen politischer Prognostik im Vorfeld des Galilei-Prozesses (Kap. 3.3), anschließend im Zusammenhang der großen mailändischen Epidemie von 1629–1630 (Kap. 5.1–5.7). Die verschiedenen Debatten über Revolten erhellen und perspektivieren sich wechselseitig. Neben der territorialen Schwerpunktsetzung gibt der Rezeptionszusammenhang etwa zwischen Campanella und Bacon⁸⁹ und zwischen Zuccolo und Settala⁹⁰ den Ausschlag für die Textauswahl. In Teil I werden mit dem Epilogo magno [Fisiologia italiana] (1623) und den Medicinalium iuxta propria principia libri septem (1635)⁹¹ wenig rezipierte medizinische Schriften Campanellas und Bacons Historia vitae et mortis (History of Life and Death, 1623)⁹² zugrunde gelegt und mit den politischen Konzeptionen der Autoren ins Verhältnis gesetzt. Untersuchungen zur Interferenz von Politik und Medizin bei Campanella und Bacon gibt es nicht.⁹³ Campanellas naturphilosophische und medizinische Werke sind
88 Mary J. Dobson: Contours of Death and Disease in Early Modern England. Cambridge u. a. 1997; die bereits genannte Studie von Roy Porter und Andrew Wear: Knowledge and Practice in English Medicine, 1550–1680. Cambridge u. a. 2000. Für Frankreich gilt Ähnliches wie für England. Vgl. die maßgebliche Studie von Laurence Brockliss, Colin Jones: The Medical World of Early Modern France. Oxford 1997. 89 Vgl. Kap. 2.1 und Kap. 2.2. 90 Vgl. Kap. 4.2 und Kap. 5.7. 91 Zu Medizin und Naturphilosophie vgl. Michael W. Mönnich: Tommaso Campanella. Sein Beitrag zur Medizin und Pharmazie der Renaissance. Stuttgart 1990. Zu den philosophischen Voraussetzungen der medizinischen Konzeptionen vgl. Marie-Dominique Couzinet: Notes sur les Medicinalia de Tommaso Campanella. In: Nuncius XIII (1998), S. 39–67; Guido Giglioni: La Medicina di Tommaso Campanella tra metafisica e cultura popolare. In: Germana Ernst, Caterina Fiorani (Hg.): Laboratorio Campanella. Biografia – Contesti – Iniziative in Corso. Atti del Convegno della Fondazione Camillo Caetani. Roma, 19–20 ottobre 2006. Rom 2007, S. 177–195. 92 Die Forschung zu Bacons Naturphilosophie geht von Graham Rees aus. Graham Rees: Matter Theory: A Unifying Factor in Bacon’s Natural Philosophy? In: Ambix 24 (1977), S. 110–125, S. 121. Graham Rees: Francis Bacon’s Biological Ideas: A New Manuscript Source. In: Brian Vickers (Hg.): Occult and Scientific Mentalities in the Renaissance. Cambridge u. a. 1984. S. 297–314. Inzwischen hat auch Guido Giglioni mehrere Aufsätze vorgelegt. 93 Germana Ernst deutet ein solches Projekt zwar an, führt es aber nicht durch. Vgl. dies.: Tommaso Campanella. Il libro e il corpo della natura. Rom, Bari 2002. Neuerdings auf Englisch dies.:
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schlecht editiert, wobei sich neuerdings eine Wende abzeichnet.⁹⁴ Die politische Philosophie beider Autoren ist besser erforscht.⁹⁵ ⁹⁶ Die Konzeption des doppelten Blutkreislaufs, wie Harvey ihn in De motu cordis et sanguinis (1628) und De generatione (1651) formulierte, ist ein gut erforschtes Kapitel der frühneuzeitlichen Medizingeschichte. Hier wurde an die Studien Walter Pagels⁹⁷ sowie die neuere Untersuchung von Thomas Fuchs⁹⁸ angeschlossen, die entgegen einer mechanistischen Deutung auf der aristotelischen Inspiration Harveys bestehen. Auch die Kontroverse zwischen Christopher Hill und Gweneth Whitteridge⁹⁹ um die politischen Implikationen von Harveys Theorie des doppelten Blutkreislaufs wurde berücksichtigt.¹⁰⁰ In Teil II wurden alle Quellen für den frühneuzeitlichen Krisendiskurs neu erschlossen. Jenseits der ökonomischen Modelle ist die Krise in der Frühen Neuzeit kaum erforscht. Im Anschluss an Reinhart Kosellecks Überlegungen zu den theologischen, medizinischen und juristischen Dimensionen des Krisenbegriffs¹⁰¹ ist auf astronomische Krisenkonzeptionen einzugehen, zu denen sich Koselleck nicht geäußert hat.
Tommaso Campanella: the Book and the Body of Nature. Dordrecht u. a. 2010 [im Folgenden wird die italienische Ausgabe verwendet]. 94 Tommaso Campanella: Del senso delle cose e della magia. Hg. von Germana Ernst. Rom, Bari 2007; Tommaso Campanella: Opuscoli astrologici. Come evitare il fato astrale. Apologetico. Disputa sulle Bolle. Hg. und übers. von Germana Ernst. Mailand 2003. 95 Markku Peltonen: Politics and Science: Francis Bacon and the True Greatness of States. In: The Historical Journal 35, 2 (1992), S. 279–305; ders.: Bacon’s Political Philosophy. In ders. (Hg.): The Cambridge Companion to Bacon. Cambridge u. a. 1996, S. 283–310. 96 Zum Verhältnis Campanellas zur Staatsräson vgl. Germana Ernst: La mauvaise raison d’État: Campanella contre Machiavel et les politiques. In: Yves Charles Zarka (Hg.): Raison et déraison d’État. Théoriciens et théories de la raison d’Etat aux XVIe et XVIIe siècles. Paris 1994, S. 121–149; Bouvier: Machiavel ou Campanella, Vittorio Frajese: Profezia e machiavellismo. Il giovane Campanella. Rom 2002. 97 Walter Pagel: William Harvey’s Biological Ideas. Basel, New York 1967; ders.: New Light on William Harvey. Basel 1976. 98 Thomas Fuchs: Die Mechanisierung des Herzens. Harvey und Descartes – Der vitale und der mechanische Aspekt des Kreislaufs. Frankfurt/M. 1992. 99 Christopher Hill: William Harvey and the Idea of Monarchy. In: Past and Present 27 (1964), S. 54–72; Gweneth Whitteridge: William Harvey: A Royalist and No Parliamentarian. In: Past and Present 30 (1965), S. 104–109; Christopher Hill: William Harvey (No Parliamentarian, No Heretic) and the Idea of Monarchy. Past and Present 31 (1965), S. 97–103. 100 Weitere Untersuchungen sind Bernard Cohen: Harrington and Harvey: A Theory of the State Based on the New Physiology. In: Journal of the History of Ideas 55, 2 (1994), S. 187–210 und Roy Porter: Bodies Politic. Disease, Death and Doctors in Britain, 1650–1900. London 2001. 101 Reinhart Koselleck: Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von ‚Krise‘. In ders.: Begriffsgeschichten. Frankfurt/M. 2006, S. 203–217.
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Es werden Untersuchungen zur astrologischen Prognostik in England¹⁰² und in Wittenberg¹⁰³ herangezogen. Medizinische Krisenlehren sind deutlich weniger untersucht¹⁰⁴ als astronomisch-astrologische Krisenkonzeptionen wie die Lehre von den großen Konjunktionen. Die Studien betreffen allerdings nur selten den Untersuchungszeitraum oder die hier untersuchten Autoren.¹⁰⁵ Eine Ausnahme stellt Campanellas Prognostik dar, die zumindest editionskritisch erschlossen und teilweise erforscht ist.¹⁰⁶ Jean Bodin ist ein gut erforschter politischer Theoretiker. Seine Krisenkonzeptionen sind es nicht.¹⁰⁷ Es werden mehrere Untersuchungen Anthony Graftons zur Zeitrechnung, Geschichtskonstruktion und Astrologie bei Joseph Justus
102 Margaret E. Aston: The Fiery Trigon Conjunction: An Elizabethan Astrological Prediction. In: Isis 61, 2 (1970), S. 158–187; Patrick Curry: Prophecy and Power. Astrology in Early Modern England. Cambridge 1989. 103 Claudia Brosseder: Im Bann der Sterne. Caspar Peucer, Philipp Melanchthon und andere Wittenberger Astrologen. Berlin 2004. 104 Die umfassendste Darstellung der Lehre von den kritischen Tagen ist Giuseppe Dell’Anna: Dies critici: La teoria della ciclicità delle patologie nel XIV secolo. Bd. 1 (Dies et crises). Lecce 1999. Sie endet jedoch im vierzehnten Jahrhundert. Für einen kursorischen Überblick vgl. Karl Sudhoff: Iatromathematiker vornehmlich im 15. und 16. Jahrhundert. Breslau 1902; und die über mehrere Bände verstreuten Hinweise bei Lynn Thorndike: A History of Magic and Experimental Science. 8 Bde. New York 1923–1958. Zu den kritischen Jahren vgl. Daniel Schäfer: Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Der ärztliche Blick auf die letzte Lebensphase. Frankfurt, New York 2004. 105 Der Untersuchungszeitraum liegt zumeist vor dem siebzehnten Jahrhundert. Vgl. Laura Smoller: History, Prophecy and the Stars. The Christian Astrology of Pierre d’Ailly 1350–1420. Princeton 1994; Friedrich von Bezold: Astrologische Geschichtskonstruktion im Mittelalter. In ders.: Aus Mittelalter und Renaissance. Kulturgeschichtliche Studien. München, Berlin 1918, S. 165–195; 106 Vgl. die Edition von Campanellas Verteidigungsschriften durch Luigi Firpo mit sehr gutem Anmerkungsapparat. Vgl. ders.: Il supplizio di Tommaso Campanella. Narrazioni – Documenti – Verbali delle torture. Rom 1985. Daran anknüpfend Germana Ernst: From the Watery Trigon to the Fiery Trigon: Celestial Signs, Prophecies and History. In: Zambelli, Paola (Hg.): ‘Astrologi hallucinati.’ Stars and the End of the World in Luther’s Time. Berlin, New York 1986, S. 265–280; Germana Ernst: Religione, ragione e natura. Ricerche su Tommaso Campanella e il tardo Rinascimento. Mailand 1991; Gisela Bock: Thomas Campanella. Politisches Interesse und philosophische Spekulation. Tübingen 1974. 107 Bodins eigenwillige Geschichtsperiodisierung nach Zahlen wird zwar verschiedentlich erwähnt, aber nicht untersucht. Vgl. Nicholas Campion: Astrological Historiography in the Renaissance: The Work of Jean Bodin and Louis Le Roy. In: Annabella Kitson (Hg.): History and Astrology: Clio and Urania Confer. London 1989, S. 89–136.
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Scaliger und Girolamo Cardano hinzugezogen.¹⁰⁸ Über den römischen Prozess gegen Orazio Morandi (Kap. 3.3) gab es bislang keine deutschsprachige Forschung.¹⁰⁹ Das Archivmaterial wurde mehrfach unter verschiedenen Gesichtspunkten von italienischen und angloamerikanischen Forschern untersucht.¹¹⁰ Die Auseinandersetzung mit der in den Prozessakten enthaltenen handschriftlichen Horoskopsammlung und den zeitgenössischen Konklaveschriften machte eigene Archivarbeit notwendig. Die Analyse von Morandis Horoskopsammlung und den in den Schriften über die kritischen Tage enthaltenen medizinischen Horoskopsammlungen erfolgt hauptsächlich auf der Grundlage der Primärtexte, namentlich Thomas Bodiers De ratione et usu dierum criticorum (1555), Giovanni Antonio Maginis De astrologica ratione, ac usu dierum criticorum, seu decretiorum (1607), Andrea Argolis De diebus criticis et de aegrorum decubitu libri duo (1639/1652) und Placido Titis De diebus decretoriis et aegrorum decubitu (1660/1665). Die Geschichte der Krankengeschichte ist für das frühe siebzehnte Jahrhundert wenig erschlossen.¹¹¹ Über die astromedizinischen Horoskopsammlungen gibt es kaum Forschungsliteratur.¹¹²
108 Anthony Grafton, Noel M. Swerdlow: Technical Chronology and Astrological History in Varro, Censorinus and Others. In: The Classical Quarterly, New Series 35, 2 (1985), S. 454–465; Anthony Grafton: Joseph Scaliger. A Study in the History of Classical Scholarship. Bd. 2. Historical Chronology. Oxford 1993; ders.: Some Uses of Eclipses in Early Modern Chronology. In: Journal of the History of Ideas 64, 2 (2003), S. 213–229. 109 Sabine Kalff: Die Schrift der Sterne – Das astropolitische Archiv der Bibliothek Morandi. In: Anja Horstmann, Vanina Kopp (Hg.): Archiv – Macht – Wissen. Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven. Frankfurt/M. 2010, S. 107–122; dies.: Das Universalarchiv der Sterne – Astropolitische Prognostik und die Horoskopsammlungen Orazio Morandis, Andrea Argolis und Placido Titis. In: Thomas Weitin, Niels Werber, Burkhardt Wolf (Hg.): Gewalt der Archive. Beiträge zur Kulturgeschichte der Wissensspeicherung. Konstanz 2012, S. 115–139. 110 Zur Frühgeschichte des Journalismus vgl. Antonino Bertolotti: Giornalisti, astrologi e negromanti in Roma nel secolo XVII. In: Rivista Europea 5 (1878), S. 466–514; zum Ablauf des Prozesses vgl. Germana Ernst: Scienza, astrologia e politica nella Roma barocca. La biblioteca di Don Orazio Morandi. In: Eugenio Canone (Hg.): Bibliothecae selectae da Cusano a Leopardi. Florenz 1993, S. 217–252; Brendan Dooley: Morandi’s Last Prophecy and the End of Renaissance Politics. Princeton, Oxford 2002. 111 Julia Epstein: Altered Conditions. Disease, Medicine and Storytelling. New York, London 1995, S. 26. 112 Steven Vanden Broecke: Evidence and Conjecture in Cardano’s Horoscope Collections. In: Günter Oestmann, H. Darrel Rutkin, Kocku von Stuckrad (Hg.): Horoscopes and Public Spheres. Essays on the History of Astrology. Berlin, New York 2005, S. 207–223.
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Placido Titis astromedizinische Analyse der neapolitanischen Revolte 1647– 1648, die in der Horoskopsammlung De diebus decretoriis et aegrorum decubitu enthalten ist, wurde bislang noch gar nicht als Quelle zur Rezeption des neapolitanischen Aufstands erkannt.¹¹³ Daher gibt es auch keine Forschungsliteratur. Die Revolte ist durch die Kontroverse zwischen Peter Burke¹¹⁴ und Rosario Villari¹¹⁵ gut erschlossen. Darüber hinaus existieren Studien zur Rezeption der Revolte, die jedoch unvollständig sind.¹¹⁶ Sehr wahrscheinlich lagern in italienischen Archiven noch weitere unerschlossene Quellen – wie der Fall Titis zeigt, auch in gedruckten Schriften.¹¹⁷ Zu Titi gibt es, da er als Erfinder eines neuen Häusersystems gilt, astrologiehistorische Untersuchungen.¹¹⁸ Die Frage des individuellen Alterns und der Lebensverlängerung von Staaten (Teil III) wurde noch gar nicht untersucht. Die Verbindung zu den teilweise erforschten medizinischen Traktaten zur Lebensverlängerung wurde selbst gezogen.¹¹⁹ Die italienische Literatur der Staatsräson ist trotz ihrer frühneuzeitlichen Popularität nur mäßig erforscht.¹²⁰ Ein wichtiger Impuls ging von Luigi Firpo aus,
113 Die einzigen, die von ihr zu wissen scheinen, sind Astrologen mit historischem Interesse. Giuseppe Bezza hat den Text ins Italienische übersetzt. Vgl. Placido Titi: La rivolta di Masaniello. http://www.cieloeterra.it/testi.masaniello/masaniello.html. Übers. von Giuseppe Bezza (10. April 2014). 114 Peter Burke: The Virgin of the Carmine and the Revolt of Masaniello. In: Past and Present 99 (1983), S. 3–21; ders.: Masaniello: A Response. In: Past and Present 114 (1987), S. 197–199. 115 Rosario Villari: Masaniello: Contemporary and Recent Interpretations. In: Past and Present 108 (1985), S. 117–132; ders.: The Revolt of Naples. Cambridge 1993. 116 Roberto de Simone u. a.: Masaniello nella drammaturgia europea e nella iconografia del suo secolo. Neapel 1998. 117 Das vermutet Villari, der mehrere solcher Fundstücke in den Druck gegeben hat. Rosario Villari: (Hg.): Scrittori politici dell’età barocca. Botero, Ammirato, Settala, Boccalini, Tassoni, Zuccolo, Micanzio, Genoino, Spinola, Sammarco, Malvezzi, Accetto, Contarini et altri autori anonimi. Rom 1998, S. 25. 118 Vgl. die exzellente Studie von John North: Horoscopes and History. London 1986. 119 Die eingehendste Untersuchung ist Daniel Schäfer: Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Der ärztliche Blick auf die letzte Lebensphase. Frankfurt, New York 2004. Vgl. auch Gerald J. Gruman: A History of Ideas About the Prolongation of Life. The Evolution of Prolongevity Hypotheses to 1800. In: Transactions of the American Philosophical Society 59, 9 (1966); Henry E. Sigerist: The Quest For Long Life in the Renaissance. In ders.: Landmarks in the History of Hygiene. London u. a. 1956, S. 36–46. 120 Eine Übersicht über den Forschungsstand gibt die Bibliographie in A. Enzo Baldini: Ragion di Stato, Tacitismo, Machiavellismo e Antimachiavellismo tra Italia ed Europa nell’età della Controriforma. Bibliografia (1860–1999). In A. Enzo Baldini (Hg.): La ragion di stato dopo Meinecke e Croce. Dibattito su recenti pubblicazioni. Atti del seminario internazionale di Torino.
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der neben zahlreichen Veröffentlichungen in Turin eine Bibliothek mit Sammlungsschwerpunkt auf der politischen Literatur des sechzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts und eine entsprechende Publikationsreihe begründete.¹²¹ Rodolfo de Mattei hat mehrere Publikationen über die italienische Machiavelli-Rezeption und die Staatsräson vorgelegt.¹²² Darüber hinaus existieren italienische Monographien über Botero,¹²³ Zuccolo,¹²⁴ Settala¹²⁵ und Frachetta.¹²⁶ Nicht-italienische Forschung gibt es kaum. Zu dieser zählen Maurizio Virolis From Politics to Reason of State¹²⁷ und die ältere Studie von Friedrich Meinecke, dessen kritische Haltung zur Qualität dieser Traktate allerdings nicht gerade zu ihrer Erforschung anregte.¹²⁸ Die schlechte Forschungslage spiegelt sich in der Editionspraxis. Die Traktate sind nur in frühneuzeitlichen Ausgaben zugänglich.¹²⁹ Um die Verfügbarkeit der Texte zu verbessern, haben Benedetto Croce und Santino Caramella mehrere
21.–22. Oktober 1994. Genua 1999. Vgl. auch die Bibliographie des Archivio della Ragione di Stato an der Università degli Studi di Napoli Federico II., die bis zum Jahr 2007 reicht: A Bibliography on Reason of State, Tacitism and Machiavellianism. http://www.filosofia.unina.it/ars/bibrds.pdf (10. April 2014). Vgl. auch A. Enzo Baldini (Hg.): Aristotelismo politico e ragion di stato. Atti del Convegno internazionale di Torino (11–13 febbraio 1993). Florenz 1995. 121 Die Reihe Fondazione Luigi Firpo. Centro di studi sul pensiero politico erscheint im Verlag Edizioni Olschki, Florenz. 122 Vgl. insbesondere Rodolfo de Mattei: Dal premachiavellismo all’antimachiavellismo. Florenz 1969; ders.: Il problema della ‚Ragion di Stato‘ nell’età della Controriforma. Mailand, Neapel 1979 und ders.: Il pensiero politico italiano dell’età della Controriforma. 2 Bde. Mailand, Neapel 1982–1984. 123 Botero ist der am besten rezipierte Theoretiker der Staatsräson. 124 Paolo Pissavino: Lodovico Zuccolo: Dall’audizione a corte alla politica. Florenz 1984; ders.: Le ragioni della Repubblica: la „Città felice“ di Lodovico Zuccolo. San Marino 2007. Zudem existiert eine Aufsatzsammlung: Convegno di studi in onore di Lodovico Zuccolo nel quarto centenario della nascita. Faenza, 15.–16. März 1969. Fratelli Lega 1969. 125 Silvia Rota Ghibaudi: Ricerche su Ludovico Settala. Florenz 1959. 126 Enzo Baldini: Per la biografia di Girolamo Frachetta. La famiglia e gli anni di Rovigo e di Padova (1558–1581). In: Atti e memorie dell’Accademia patavina di scienze, lettere ed arte XCII, iii, S. 40–44; ders.: Puntigli spagnoleschi e intrichi politici nella Roma di Clemente VIII. Girolamo Frachetta e la sua relazione del 1603 sui cardinali. Mailand 1981. 127 Maurizio Viroli: From Politics to Reason of State: the Acquisition and Transformation of a Language of Politics, 1250–1650. Cambridge u. a. 1993. Die Autoren nach 1600 kommen denen des sechzehnten Jahrhunderts gegenüber etwas kurz. 128 Friedrich Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. München u. a. 1929, S. 140. 129 Das gilt für Cavriana, Frachetta, Zinani, Settala, Canoniero und Zuccolo. Settalas Staatsräsontraktat wurde im zwanzigsten Jahrhundert auf Spanisch publiziert.
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seltene Staatsräsontraktate auszugsweise gedruckt.¹³⁰ Eine ähnliche Anthologie mit anderer Textauswahl stammt von Rosario Villari.¹³¹ Deutsche Übersetzungen existieren nur, sofern sie in der Frühen Neuzeit entstanden.¹³² Der letzte Themenkomplex (Teil IV) untersucht den Zusammenhang von Seuchenpolitik und Staatsräson am Beispiel der mailändischen Epidemie von 1629–1630 auf der Grundlage von Agostino Lampugnanos La pestilenza seguita in Milano l’anno 1630 (1634), Alessandro Tadinos Raguaglio dell’origine et giornali successi della gran peste contagiosa, venefica, et malefica (1648) und Ludovico Settalas De peste et pestiferis affectibus libri quinque (1622). Dazu kommen zwei medizinische Pestschriften Ludovico Settalas, Cura locale de’tumori pestilentiali (1629) und Preservatione dalla Peste (1630) und dessen Staatsräsontraktat. In der englischsprachigen Forschung ist der Ansteckungs- und Seuchendiskurs schon verschiedentlich auf der Grundlage von Pesttraktaten erörtert worden,¹³³ zuletzt von Margaret Healy, die frühneuzeitliche Pesttraktate noch 2003 als vernachlässigtes Genre bezeichnete.¹³⁴ Die literaturwissenschaftlichen Arbeiten sind nicht immer gut über den medizingeschichtlichen Forschungsstand zu Konzepten der Ansteckung und Krankheitsübertragung¹³⁵ und ihrer Relevanz für Pestmaßnahmen informiert,¹³⁶ berücksichtigen jedoch die narrative Struktur der Quellen besser als die historischen Studien. Für Medizinhistoriker und Historiker sind Pesttraktate eher ein unbequemes Genre, für dessen Nutzung jedoch Colin Jones plädierte.¹³⁷ Diesem Plädoyer folgte
130 Benedetto Croce, Santino Caramella (Hg.): Politici e moralisti del seicento. Strada – Zuccolo – Settala – Accetto – Brignole Sale – Malvezzi. Bari 1930. 131 Villari, Scrittori politici dell’età barocca. 132 Eine Ausnahme stellt Traiano Boccalinis Ragguagli di Parnaso dar. Mehrere frühneuzeitliche Übersetzungen ins Deutsche sind als Faksimile verfügbar. Vgl. Traiano Boccalini: Relationen aus Parnasso. Übersetzungen von 1614, 1616, 1617 und 1644. 2 Bde. Hg. von Bettina Bosold-DasGupta, Alfred Noe. Berlin 2009. 133 Harris, Foreign Bodies and the Body Politic; Melissa Smith: Personifications of Plague in Three Tudor Interludes: Triall of Treasure, The Longer Thou Livest, the More Foole Thou Art; and Inough is as Good as a Feast. In: Literature and Medicine 26, 2 (2007), S. 364–387. 134 Margaret Healy: Defoe’s Journal and the English Plague Writing Tradition. In: Literature and Medicine 22, 1 (2003), S. 25–45, S. 27. 135 Vivian Nutton: The Seeds of Disease: An Explanation of Contagion From the Greeks to the Renaissance. In: Medical History 27, 1 (1983), S. 1–34; ders.: The Reception of Fracastoro’s Theory of Contagion. The Seed That Fell among Thorns? In: Osiris 6 (1990), S. 196–234. 136 Ann G. Carmichael: Plague Legislation in the Italian Renaissance. In: Bulletin for the History of Medicine 57, 4 (1983), S. 508–525; dies.: Contagion Theory and Contagion Practice in Fifteenth-Century Milan. In: Renaissance Quarterly 44, 2 (1991), S. 213–256. 137 Jones, Plagues and Its Metaphors.
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Samuel Kline Cohn, der 2010 die wohl erste umfassende Studie auf der Grundlage von Pesttraktaten zur italienischen Epidemie von 1575–1577 vorgelegt hat.¹³⁸ Die mailändische Epidemie von 1629–1630 ist nicht schlecht erforscht,¹³⁹ da sie den Hintergrund von Alessandro Manzonis berühmtem historischen Roman I promessi sposi bildete und die verheerendste und letzte große Seuche war, von der Mailand im siebzehnten Jahrhundert heimgesucht wurde.¹⁴⁰ Zum Zusammenhang zwischen Pest und Staat gibt es wenige Untersuchungen,¹⁴¹ sofern man von der Armen- und Sozialpolitik absieht.¹⁴² Der Zusammenhang zwischen Staatsräson und Seuchenpolitik ist bezüglich Settala ganz unerforscht.
138 Samuel Kline Cohn: Cultures of Plague. Medical Thought at the End of the Renaissance. Oxford, New York u. a. 2010. 139 Romano Canosa: Tempo di peste: magistrati ed untori nel 1630 a Milano. Rom 1985; Fausto Nicolini: Peste e untori nei ‚Promessi sposi‘ e nella realtà storica. Bari 1937. 140 Gemessen an ihrer Bedeutung sind zwei Monographien und einige Aufsätze allerdings nicht viel. Vgl. Fausto Nicolini: La peste del 1629–30. In: Storia di Milano. 16 Bde. Bd. 10. Fondazione Treccani degli Alfieri per la storia di Milano. Mailand 1957, S. 499–557; Ann G. Carmichael: The Last Past Plague. The Uses of Memory in Renaissance Epidemics. In: Journal of the History of Medicine 53 (1998), S. 132–160. Mit allgemeinerem Fokus Paolo Preti: Epidemia, paura e politica nell’Italia moderna. Bari 1987 und William G. Naphy: Plague-Spreading Conspiracies in the Western Alps c. 1530–1640. Manchester, New York 2002. 141 Die wichtigste stammt von Martin Dinges: Pest und Staat: Von der Institutionengeschichte zur sozialen Konstruktion. In ders.: Thomas Schlich (Hg.): Neue Wege in der Seuchengeschichte. Stuttgart 1995, S. 71–103. Anregungen liefert auch Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M. 1994. 142 Ann G. Carmichael: Plague and the Poor in Renaissance Florence. Cambridge 1986; Samuel Kline Cohn: Lust for Liberty. The Politics of Social Revolt in Medieval Europe, 1200–1425; Italy, France, and Flanders. Cambridge, Mass. 2006.
Teil I
2 Physiologie der natürlichen und politischen Körper 2.1 Der Körper als Schlachtfeld – Dynamik in der Physiologie und politischen Theorie bei Antonio Palazzo und Tommaso Campanella 2.1.1 Politische und physiologische Dynamik bei Palazzo Michel Foucault stellt in seiner Geschichte der Gouvernementalität in Abrede, dass politische Dynamik vor dem Westfälischen Frieden im Jahr 1648 überhaupt als positiver Faktor im politischen Diskurs in Erscheinung getreten sei. Diese These wird hier zunächst anhand seines Kronzeugen, dem neapolitanischen Juristen und Sekretär Antonio Palazzo,¹ vorgestellt. Foucault postuliert eine Dichotomie zwischen ‚Statikern‘ und ‚Dynamikern‘ der Staatsräson. Während die ‚Statiker‘ ausschließlich auf den Erhalt des Staates abzielten und daher jede Art von politischer Dynamik als Gefahr für den Fortbestand des Staates deuteten, die es zu vermeiden galt, trachteten die ‚Dynamiker‘ der Staatsräson nach einer Vergrößerung des Staates. Aufgrund der expansiven Bestrebungen befanden sich die Staaten in außenpolitischer Hinsicht rasch auf einem „Feld der Konkurrenz“², das erst durch den Westfälischen Frieden in die Ordnung eines spannungsvollen Gleichgewichts zwischen den europäischen Kräften gebracht worden sei. Foucault untersucht die Konzeption des dynamischen Gleichgewichts ausschließlich in Hinblick auf die Außenpolitik und behauptet die Koinzidenz mit dem Leibniz’schen Kraftbegriff.³ Politische und physikalische Dynamik seien zeitgenössische Phänomene. Damit setzt Foucault ‚Statiker‘ und ‚Dynamiker‘ der Staatsräson in ein Verhältnis der Diachronie. Zu den späteren ‚Praktikern‘ der Staatsräson zählt Foucault Politiker wie Sully und Richelieu.⁴ Unberücksichtigt bleiben alle Theoretiker und ‚Praktiker‘ der Staatsräson, die vor dem Jahr 1648 die Frage des Gleichgewichts und dynamischer Prozesse in der Innenpolitik erörtert hatten. Sowohl der Erhalt des Staates, wie er von den ‚Statikern‘ angestrebt wurde, als auch die Expansion, die von den ‚Dynamikern‘ verfolgt wurde, schlossen
1 Geburts- und Todesjahr des Autors sind gleichermaßen unbekannt. 2 Foucault, Gouvernementalität I, S. 420. 3 Ebd., S. 429. 4 Ebd., S. 429.
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Physiologie der natürlichen und politischen Körper
an Giovanni Boteros bekannte Definition der Staatsräson an, die besagte: „Der Staat ist eine stabile Herrschaft über Völker, und Staatsräson ist die Kenntnis der geeigneten Mittel, eine solche Herrschaft zu begründen, zu erhalten und zu erweitern.“⁵ Die Theoretiker der Staatsräson hatten die Wahl, entweder den Aspekt des Erhalts oder den der Ausdehnung zu betonen.⁶ Antonio Palazzo legte mit dem seinem Arbeitgeber, Fabrizio di Sangro, Herzog von Vietro, gewidmeten Discorso del governo e della ragion vera di stato (1604)⁷ ein Traktat vor, in dem er die Staatsräson als Instrument zum Erwerb und Erhalt des Staates definierte, als „die Wissenschaft und die (Handwerks-)Kunst, welche das Wissen und die Ausübung der Mittel lehrt, mit welchen man das Wohl des Staats erwirbt und bewahrt.“⁸ Der Erhalt des Staates oder des status, den er buchstäblich als Substanz beschrieb, interessierte ihn besonders: „Status ist eine Identität, ein irdischer Frieden der Dinge, das heißt, das sich immer Gleichbleiben in der Substanz und die Beständigkeit der Dinge in der Aktion.“⁹ Veränderung und Bewegung waren daher das Letzte, das Palazzo anstrebte. Gleichwohl war ihr Auftreten unvermeidlich. Es handelte sich um natürliche Prozesse, die ob ihrer Unvermeidlichkeit nicht noch angestrebt werden mussten: Die Bewegung ist den natürlichen Dingen so sehr zu eigen, dass sie deshalb beweglich und sterblich genannt und für sehr unvollkommen gehalten werden, da sich in ihnen keine wirkliche Beständigkeit finden lässt, ebensowenig wie eine konstante Identität mit sich selbst.¹⁰
Damit beschrieb Palazzo den Staat unter Rekurs auf Aristoteles als natürlichen Gegenstand, der wie alle natürlichen Dinge ‚Bewegungen‘ oder Veränderungsprozessen ausgesetzt war. Dabei ging er vom aristotelischen Bewegungsbegriff aus, der nicht nur Ortsbewegungen (mutationes loci), sondern auch verschiedene qualitative Veränderungen umfasste, wie Entstehen (generatio) und Verge-
5 „Stato è un dominio fermo sopra popoli; e Ragione di Stato è notizia di mezi atti a fondare, conservare, e ampliare un Dominio così fatto.“ Botero, Della ragion di stato, S. 9. 6 Zur italienischen Debatte um die Staatsräson vgl. hier Kap. 4.1. 7 Antonio Palazzo: Discorso del governo e della ragion vera di stato. Diviso in quattro parti. Venedig 1606. 8 „la scienza, e l’arte, che insegna questa notitia, et esercitio di mezi, con i quali si acquista, e si conserva il bene della Republica.“ Ebd., S. 17 f. 9 „Stato è una identità, e pace temporale delle cose; cioè un’esser sempre la stessa essenza, et una costanza delle cose nell’operare.“ Ebd., S. 12 f. 10 „Il moto è tanto proprio delle cose naturali, che perciò da quello sono dette mobili, e mortali, e giudicate molto imperfette, non ritrovandosi vera constanza in quelle, et un’esser sempre istesse.“ Ebd., S. 9.
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hen (corruptio), Zunahme (augmentatio), Abnahme (deminutio) und Wandlung (alteratio)¹¹ und seit der Scholastik auch die Transsubstantiation.¹² Palazzo nahm an, dass der Staat ein materielles, natürliches Gebilde war, das wie alle anderen dem Prozess des Verfalls und des Vergehens ausgesetzt war. Als Kompositum war es aus verschiedenartigen Elementen zusammensetzt: und jene [natürlichen Dinge], die sich aus unterschiedlichen Teilen zusammensetzen, sind ein Haufen, eine Versammlung von verschiedenen und gegensätzlichen Qualitäten und eine Mischung von Elementen, die nicht in Frieden miteinander leben können, sondern sich gegenseitig bekämpfen und überwältigen und so die Sterblichkeit verursachen.¹³
Er schloss an Aristoteles an, der die Dekomposition der natürlichen, irdischen Dinge ebenfalls aus ihrer Zusammensetzung aus vier Elementen abgeleitet hatte, die untereinander nicht nur harmonische, sondern auch konfliktuelle Beziehungen unterhielten: Daher kann ein Ding das keinen Gegensatz hat, nicht vergehen [...]. Denn wovon sollte es zerstört werden, wenn die Zerstörung eines Dings ausschließlich von dessen Gegensatz bewirkt wird [...]? [...] alles, was Materie an sich hat, muß in gewisser Weise einen Gegensatz haben. [...] jede Veränderung geht von einem Gegensatz aus [...]. Daher ist alles immer in Veränderung begriffen und wird oder vergeht.¹⁴
Daher waren bei Aristoteles alle irdischen und natürlichen Dinge dem zyklischen Prozess des Werdens und Vergehens ausgesetzt, im Gegensatz zu den himmlischen, die nicht aus mehreren Elementen zusammengesetzt waren, sondern aus einem reinen Stoff bestanden, dem Äther. Da die himmlischen Dinge wie Planeten und Sterne einfache Körper waren, besaßen sie keine konträren Elemente, die ihren Verfall bewirken konnten. Daher waren sie ewig. Palazzo griff das Argument auf und postulierte: und die Ursache der Perfektion dieser natürlichen Dinge ist, dass sie keine natürlichen Teile in sich enthalten und einander widerstreitende gegenteilige Qualitäten haben, weil
11 Vgl. Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Frankfurt/M. 1983, S. 128. 12 Die Transsubstantiation war in der Frühen Neuzeit für die Alchemie relevant. Vgl. Gerhard Arend: Die Mechanik des Niccolò Tartaglia im Kontext der zeitgenössischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. München 1998, S. 14. 13 „quelle [cose naturali] che hanno parti, sono una massa di diversi, una ragunanza di qualità contrarie, et una mistura de gli elementi, che non potendo stare in una continua pace, pugnando, e superando, l’un l’altro cagionano la mortalità.“ Palazzo, Discorso del governo, S. 29. 14 Aristoteles: Über die Länge und Kürze des Lebens. In ders.: Kleine naturwissenschaftliche Schriften (Parva naturalia). Stuttgart 1997, S. 136–145 (465b), S. 141 f.
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sie einfach [semplici] sind, und aus diesem Grund sind sie unauflöslich und unvergänglich und sehr vollkommen.¹⁵
Palazzo plädierte in politischer Hinsicht für die einfachen und reinen Staatsformen wie die Monarchie, Aristokratie oder Republik. Zugleich riet er aus physikalischen Gründen von den zusammengesetzten Staatsformen wie dem status mixtus, der gemischten Verfassung, ab, die von der republikanischen Tradition favorisiert wurden. Darüber hinaus entwarf Palazzo die Staatsräson als einfache Substanz, als ein Simplicium, das der vergänglichen Materie des Staates beinahe Unsterblichkeit verlieh: auf dieselbe Weise ist die Staatsräson unteilbar, da es nur einen Willen des Fürsten und der Minister gibt, und nur eine Form und eine Gerechtigkeit, die die menschlichen Angelegenheiten stabilisiert; und nur eine Materie, und das ist die kranke Republik, die nur ein Ziel hat, und das ist die Gesundheit eben dieser Republik.¹⁶
Palazzo brachte die Staatsräson förmlich in Übereinstimmung mit Bodins Begriff der Souveränität. Bodin hatte die Souveränität als „die dem Staat eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt“ definiert und ihre Unteilbarkeit kategorisch behauptet.¹⁷ Daher kam er zu dem Schluss, dass es die gemischte Verfassung, den status mixtus, gar nicht geben konnte.¹⁸ Palazzo leitete die These der Unteilbarkeit der Staatsräson aus seinen Überlegungen zur Substanz im Anschluss an die aristotelische Naturphilosophie ab.¹⁹ Er entwarf die Regierung als eine Art Bollwerk gegen den Strom der Vergänglichkeit, dem die materiellen Körper unterworfen waren.
15 „e la ragione di tal perfettione nelle cose naturali, è, perche essendo quelle semplici, e non tenendo in se parti naturali, non tengono anco annodate qualità contrarie, perloche essendo indissolubili, sono anco immortali, e molto perfette.“ Palazzo, Discorso del governo, S. 28 f. 16 „così la ragion di stato, è indivisibile, per esser una la volontà de i Prencipi, e de i ministri, e una la forma, e la giustitia, che stabilisce le cose humane; et una è la materia, cioè la Republica inferma, e finalmente è uno il suo fine, ch’è la salute dell’istessa Republica.“ Ebd., S. 29. 17 Bodin, Staat I, S. 205. 18 Ebd., S. 321. 19 Möglicherweise spielten bei Bodin naturphilosophische Überlegungen ebenfalls eine Rolle. Wo die Souveränität nicht juristisch als Ansammlung von Regalien, sondern als einheitliche materielle Substanz entworfen wird, erscheint ihre Teilbarkeit naturphilosophisch widersinnig; Simplicia sind nicht teilbar, sonst wären sie Komposita. Zu Bodins Souveränitätstheorie vgl. R.W.K. Hinton: Bodin and the Retreat into Legalism. In: Horst Denzer (Hg.): Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung in München. München 1973, S. 301–322, S. 309.
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Die Regierung verhielt sich gemäß Palazzo zu dieser wie die unsterbliche Seele zum vergänglichen Körper.²⁰ Die Seele war aufgrund ihrer Unteilbarkeit unsterblich und daher das gottähnlichste Element in den natürlichen Körpern, ebenso wie es der gemäß der Staatsräson herrschende Fürst in dem politischen war: denn die Idee, nach der die Fürsten die Menschen regieren, muss ein Abbild der göttlichen Herrschaft sein, in derselben Weise wie die helle Sonne die Strahlen ihres Willens und der göttlichen Gerechtigkeit in den Verstand der Menschen einschreibt, vor allem in jenen der Fürsten und Minister.²¹
Aus emanationstheoretischen Gründen erreichten die göttlichen Strahlen zuerst jene, die sich an der Spitze der sozialen und politischen Hierarchie befanden, nämlich Fürsten und Politiker, die dafür zu sorgen hatten, dass die weltliche Herrschaft der göttlichen glich.²² Doch die Staatsräson reichte im politischen Körper nicht aus, ihm Unsterblichkeit zu verleihen, ebenso wenig wie es die Seele dem Körper gegenüber vermochte. Die Differenz zwischen irdischen, bewegten und himmlischen, unbewegten Dingen war kategorischer Natur: „denn das, was irdisch ist, ist nicht ewig: und daher ist im Gegenzug alles, das ewig ist, nicht irdisch.“²³ So machte die Staatsräson den Staat nicht unvergänglich, aber doch „mehr oder minder dauerhaft²⁴ , indem sie für Ruhe und Bewegungslosigkeit sorgte, denn „die menschlichen Angelegenheiten verlangen nach Ruhe.“²⁵ Alle Bewegung war ein Streben nach dem Zustand der Ruhe: „Bewegung ist eine Handlung der Dinge, die nach dem Erwerb einer Sache streben, und nach einer Vollkommenheit, die sie in sich nicht besitzen.“²⁶ Das legte nahe, dass ein Mehr an Bewegung die Dinge schneller ans Ziel, also zur Ruhe brachte. Das war jedoch nicht Palazzos Intention, der ein weiteres Postulat der aristotelischen Dynamik politisch fruchtbar machte. Es besagte,
20 Palazzo, Discorso del governo, S. 11. 21 „perche quella idea, che tengono i Prencipi di governare l’humana conditione, dev’esser un simulacro, et una imagine di quello d’Iddio, à guisa d’un chiarissimo Sole imprimendo i raggi della sua volontà, e della sua Divina Giustitia, nell’intelletto de gli huomini, e principalmente de i Prencipi, e de i ministri.“ Ebd., S. 26 f. Hier klingen neuplatonische Konzeptionen an. 22 „e però qualsivoglia governo essendo uno esempio; et un ritratto di quello di Dio, à Dio necessariamente conformar si deve.“ Palazzo, Discorso del governo, S. 26. 23 „perche quel ch’è temporale non è sempre: e così per lo contrario quel ch’è sempre, non è temporale.“ Ebd., S. 15. 24 „più, ò meno durabile.“ Ebd., S. 16. 25 „Le cose humane appetiscono la quiete.“ Ebd., S. 9. 26 „Moto è un’attione delle cose, che s’indirizzano all’acquisto di qualch’essere, e perfettione, che in se non hanno.“ Ebd., S. 11.
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dass natürliche Bewegungen – im Gegensatz zu gewaltsamen – von selbst zur Ruhe kamen, sobald der bewegte Körper an seinem natürlichen Ort anlangte.²⁷ Natürliche Bewegung war die Seinsweise einfacher Körper – im Gegensatz zu den zusammengesetzten –, die danach strebten, die in ihnen angelegte Form zu aktualisieren, wobei diese Form „das Sein am natürlichen Ort“ darstellte, „und das Mittel zur Verwirklichung dieser Form [...] eben die natürliche Bewegung“ war.²⁸ Dies galt in der aristotelischen Physik aber nur für die einfachen Körper der supralunaren Sphäre, deren Gesetzmäßigkeiten sich von jenen der irdischen unterschieden. Palazzo übertrug diese These auf den Staat, einem irdischen und zusammengesetzten Gebilde, dem das Erreichen der vollständigen Ruhe nicht möglich war, sondern nur annäherungsweise. Politische Dynamik erschien Palazzo als eine Art Krankheit, die dringend therapiebedürftig war. Es war nötig, „dass die Fürsten und die Minister ausgebildete Ärzte imitieren.“²⁹ Der Zustand vollständiger Gesundheit erschien Palazzo allerdings unerreichbar. Daher befand er: „In diesem Leben erreicht man niemals eine derartige Vollkommenheit oder so viel Gesundheit, als dass kein Platz für die Heilkunst bliebe, um unsere Leiden zu behandeln.³⁰ Die politische Krankheit der Unruhe besaß den Status einer unheilbaren Krankheit, die nur abgemildert, nicht aber völlig beseitigt werden konnte: Es ist daher also die Wahrheit, dass die Regierung ein permanenter Zustand ist, und sie ist immer notwendig, da das Übel und die natürliche Unvollkommenheit ihr eigenes Maß ist, so dass die Staatsräson so lange andauern muss wie die menschliche Krankheit. Und da diese ewig andauert, ist auch die Regierung in aller Zukunft notwendig.³¹
Der wesentliche Grund für diesen medizinisch-politischen Pessimismus bestand in Palazzos Deutung der moralischen und menschlichen Übel, die sich in der politischen Sphäre äußerten, und zwar als Resultat des Sündenfalls. Palazzo verortete den Zustand der universalen und beinahe ewigen Ruhe chronologisch vor dem Sündenfall:
27 Arend, Mechanik, S. 13. 28 Palazzo, Discorso del governo, S. 15. 29 „che i Prencipi, et i Magistati imitano gli esperti Medici.“ Ebd., S. 235. 30 „in questa vita non si giunge mai à tal perfettione, et à tanta salute, che non vi resti luogo all’arte di medicare i nostri mali.“ Ebd., S. 32. 31 „Egli è dunque la verità, che il governo è stato, e sarà sempre necessario, essendo il male, e la naturale imperfettione sua propria misura, in modo che tanto dee durare la ragion di stato, quanto dura l’infermità dell’huomo; e perche questa durerà sempre, quindi è anco il governo [...] sarà perpetuamente necessario.“ Ebd., S. 34.
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Zuerst war die Ordnung der Dinge in diesen [natürlichen Dingen] nichts anderes als ein stabiler Zustand und eine Beständigkeit, was sich ganz klar anhand der Erfahrung und des Beispiels der Natur zeigt, in welcher die Elemente von Gott geschieden und getrennt wurden, wobei jedem von ihnen ein eigener Ort zugewiesen wurde, damit sie solchermaßen vereinzelt und getrennt und vom Himmel umgeben eine Welt bilden würden, die für sehr lange Zeit in Frieden und in Ruhe, ohne Alterung und ohne Vergänglichkeit lebte.³²
Die Möglichkeit zur Rückkehr in diesen friedlichen Zustand vor dem Sündenfall sah Palazzo nicht gegeben. Daher war die vollkommene Ruhe und Bewegungslosigkeit im Staat ebenso unmöglich wie die vollständige Gesundheit selbst bei bester medizinischer Betreuung: und so wie die Kranken zum Arzt gehen, der sie heilt, ohne den Körper davor bewahren zu können, wiederholte und zahlreiche Rückfälle zu erleiden, so wird die Staatsräson einige pesterzeugende Stoffe des Übels ausrotten, aber sie kann die Menschen nicht so vollständig von allen schlechten Gewohnheiten befreien, dass sie nicht zu ihrem üblen Handeln zurückkehren könnten, so dass die Regierung den Menschen zwar bremst und mäßigt, ihn aber nicht vollständig heilen kann von der Verletzung, die er sich durch den ersten Fall zugezogen hat und die ihn so sehr zum Bösen neigen lässt.³³
Aus der prinzipiellen Unheilbarkeit der politischen Krankheit schloss Palazzo nicht, dass man auf die Regierung ganz verzichten konnte, sondern bezeichnete die permanente politisch-medizinische Betreuung als einziges Mittel, um einen rasanten Krankheitsverlauf zu verhindern. So sei die Staatsräson ein Heilmittel und eine Arznei, um die menschliche Krankheit und Unvollkommenheit zu kurieren, solchermaßen, dass sich diese Leiden bei der von Tag zu Tag fortschreitenden Verschlechterung nicht derart entzünden und vermehren, dass sie zu einem sofortigen und plötzlichen Tod führen, und dass sie nicht in ein ewiges Verderben münden.³⁴
32 „Primieramente l’ordine delle cose non è altro in quelle, che uno stato, e fermezza, il che si prova chiaramente con la esperienza, et esempio della natura, nella quale furono da Dio distinti, e separati gli elementi, assignando à ciascheduno il proprio luogo, acciò, che così distinti, e separati circondandogli co’l Cielo, facessero un mondo, che per lunghissimo tempo fusse in pace, et in quiete, senza alteratione di vecchiezza, o di moto di corruttione.“ Ebd., S. 13. 33 „e si come l’infermità si vanno dal medico guarendo senza privare il corpo di far continue, e frequenti ricadenze, così la ragion di stato và estinguendo alcune pestilentie de i misfatti, ma non può levare gli habiti cattivi de gli huomini in modo, che non possano più ritornare nel male oprare, sì che il governo frena, e modera l’huomo, man non lo guarisce in tutto dalla lesione conseguita per la prima cascata, per la quale sarà talmente inchinato al male.“ Ebd., S. 35. 34 „ma fù quello un rimedio, et una medicina ritrovata per guarire l’infermità, et l’humane imperfettione in modo, che di giorno in giorno impeggiorando, non si andassero infistolendo, et moltiplicando in maniera, che la riducessero in una subitanea, et improvisa morte, e non andas-
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Keinesfalls genügte bei Palazzo eine gelegentliche ärztliche Visite, um den politischen Körper vor Krankheiten zu bewahren, es war vielmehr notwendig und zur Verhinderung des Schlimmsten unabdingbar, ihm Tag und Nacht therapeutisch beizustehen. Auf sich selbst gestellt war der politische Körper unfähig, sich bei Gesundheit zu erhalten. Dem Fürsten kam die Aufgabe zu, seine mühsam erworbene Gesundheit durch große Wachsamkeit zu erhalten; anderenfalls wäre die Konfusion unter den Menschen derart, dass die Republik nicht imstande wäre, sich auch nur eine Stunde lang im Zustand des Friedens zu erhalten.³⁵
Palazzo sprach natürlichen und politischen Körpern jede Fähigkeit zur Selbstregulierung ab, sowohl im Gesundheits- als auch im Krankheitsfall. Stets war ein Mediziner, bzw. ein Regent nötig, wobei die Erfolgsaussichten seiner Interventionen wegen des unheilbaren Charakters der politischen Krankheit mäßig waren. Es ist Foucault zuzustimmen, dass die Verhinderung politischer Dynamik ein wesentliches Desiderat Palazzos war. Dieser war allerdings nur ein Autor aus einem größeren Spektrum italienischer Theoretiker der Staatsräson, das er nicht repräsentierte. Die Insistenz auf Ruhe und Frieden war ein besonderer Zug von Palazzos Lehre der Staatsräson, ebenso wie ihre Affinität zur Souveränitätstheorie. Unzutreffend ist hingegen Foucaults Behauptung, dass Palazzos Definition der Staatsräson „keinerlei Bezugnahme auf eine natürliche Ordnung, auf eine Weltordnung, auf grundlegende Naturgesetze oder gar auf eine göttliche Ordnung,“³⁶ erkennen ließe. Das betrifft, wie zu zeigen sein wird, nicht nur Palazzo, sondern die Mehrheit der hier behandelten politischen Theoretiker.³⁷
se [...] in perpetuo precipitio.“ Palazzo, S. 35. Hier klingt fast wörtlich eine Passage des letzten Kapitels von Machiavellis Principe an, in dem der Autor angesichts des desolaten politischen Zustand Italiens nach einem politischen Mediziner rief: „In modo che, rimasa sanza vita, espetta qual possa esser quello che sani le sua ferite, e ponga fine a’sacchi di Lombardia, alle taglie del Reame e di Toscana, e la guarisca di quelle sue piaghe già per lungo tempo infistolite.“ Niccolò Machiavelli: Il Principe. In ders.: Opere. Hg. von Rinaldo Rinaldi. 2 Bde. Turin 2006, S. 103–409, XXVI, S. 389 f. 35 „Anzi sarebbe questo poco, se la salute acquistata non gli fusse necessario con molta vigilanza conservare; altramente sarebbono tanti i disordini de gli huomini, che da se la Republica non sarebbe atta à conservarsi per un hora nella pace.“ Palazzo, Discorso del governo, S. 36. 36 Foucault, Gouvernementalität I, S. 372. 37 Vgl. hier Kap. 4.1.
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2.1.2 Campanellas Fiebertheorie Ein größerer Freund der politischen Dynamik war der italienische Philosoph Tommaso Campanella, dessen Argumente vor allem physiologischer Natur waren. Die Frühe Neuzeit verstand unter Physiologie im Großen und Ganzen dasselbe wie die antike Medizin. Sie war eines der fünf Teilgebiete der Medizin, die seit dem Hellenismus in Physiologie, Pathologie oder Ätiologie, Semiotik, Diätetik und Therapie unterschieden wurden.³⁸ Die Physiologie war das umfangreichste und spekulativste der medizinischen Fächer, da ihre Gegenstände nicht nur die Vorgänge innerhalb der Lebewesen waren, sondern die des gesamten Kosmos. Die Physiologie erforschte Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten, die allen natürlichen Prozessen zugrunde lagen.³⁹ Die Untersuchung der physis oder der Natur der Dinge war für die Medizin relevant, um überhaupt entscheiden zu können, ob ein körperlicher Vorgang natürlich oder pathologisch zu nennen war.⁴⁰ Die Physiologie war in der Frühen Neuzeit ein theoretischer und fundamentaler Teilbereich der Medizin, der sich im Gegensatz zur modernen Physiologie nicht nur mit der Funktion der Organe befasste, sondern auch mit anatomischen und physiologischen Aspekten.⁴¹ Die frühneuzeitliche Überschneidung von Anatomie und Physiologie machte sich auch dahingehend bemerkbar, dass Titel von medizinischen Traktaten einfach ausgetauscht wurden. Nachdem Jean Fernel einen Teil seiner einflussreichen Medicina (1554) Physiologia getauft hatte, kam es zu einem physiologischen Boom, der sich auch auf politische Theoretiker wie Tommaso Campanella und Francis Bacon erstreckte, die ihrerseits dazu ansetzten, politische Prozesse mit physiologischen Methoden zu analysieren.⁴²
38 “physiology, pathology, semiology, hygiene and therapy”. Maclean, Logic, Signs and Nature, S. 69. Vivian Nutton referiert die Einteilung leicht abweichend: “the physiological, the aetiological or pathological, the hygienic, the semiotic and the therapeutic”. Vgl. Nutton, Physiologia, S. 30. 39 Ebd., S. 30 f. 40 Ebd., S. 30. 41 Jerome J. Bylebyl: Disputation and Description in the Renaissance Pulse Controversy. In: Andrew Wear, Roger K. French, Iain M. Lonie (Hg.): The Medical Renaissance of the Sixteenth Century. Cambridge u. a. 1985, S. 223–245, S. 224. 42 Sabine Kalff: The Body is a Battlefield. Conflict and Control in Seventeenth-Century Physiology and Political Thought. In: Manfred Horstmanshoff, Helen King, Claus Zittel (Hg.): Blood, Sweat and Tears. The Changing Concepts of Physiology from Antiquity into Early Modern Europe. Leiden u. a. 2012, S. 171–194. (Intersections. Interdisciplinary Studies in Early Modern Culture 25). Zu Bacon vgl. hier Kap. 2.2.
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So legte Campanella neben seiner bekannten utopischen Schrift La Città del Sole (1623)⁴³ nicht nur Traktate über die politische Theorie, Naturphilosophie und Astrologie vor, sondern auch zwei umfangreiche medizinische Schriften, deren eine den Titel Epilogo magno oder Fisiologia italiana (1623) trug. Die Entstehungsgeschichte der Fisilogia italiana ist wie die der meisten Schriften Campanellas kompliziert. Sie trug jedoch bereits seit der ersten Fassung von 1592 den Titel Physiologia.⁴⁴ Darin diskutierte Campanella Kosmologie, Meteorologie, Botanik, Zoologie und Fortpflanzung.⁴⁵ Damit wurde er dem universalen frühneuzeitlichen Anspruch der Physiologie als allgemeiner Naturphilosophie gerecht. Sein zweites medizinisches Traktat, die Medicinalium iuxta propria principia libri septem (1635), beschäftigte sich mit medizinischen Themen im engeren Sinn, wobei anatomische und physiologische Aspekte hauptsächlich im ersten Buch zur Sprache kamen, das
43 Das Manuskript entstand bereits um 1602. Luigi Firpo: Introduzione. In: Tommaso Campanella: La Città del Sole. Hg. von Luigi Firpo; neu hg. von Germana Ernst, Laura Salvetti Firpo. Rom, Bari 1997, S. IX––XLVII, S. XXXI. 44 Es existieren mehrere Versionen in unterschiedlicher Länge und Sprache, was teilweise aus der Notwendigkeit resultierte, gestohlene Manuskripte durch die erneute Niederschrift wiederherzustellen. Die letzte lateinische Version des Traktats wurde zwischen 1604 und 1609 verfasst. Zur Entstehungsgeschichte des Epilogo magno vgl. Mönnich, Campanella, S. 34–38. Das italienische Manuskript wurde erstmals 1939 gedruckt. Vgl. Carmelio Ottaviano: Prefazione. In: Tommaso Campanella: Epilogo magno (Fisiologia italiana). Hg. von Carmelio Ottaviano. Rom 1939, S. 5–177, S. 19. Die umfassendste Untersuchung zur Medizin und Naturphilosophie Campanellas ist die von Mönnich. Vgl. auch L.J. Rather, J.B. Frerichs: On the Use of Military Metaphor in Western Medical Literature: The bellum contra morbum of Thomas Campanella (1568–1639). In: Clio Medica 7 (1972), S. 201–208. Zu den philosophischen Implikationen von Campanellas medizinischen Konzeptionen vgl. Marie-Dominique Couzinet: Notes sur les Medicinalia de Tommaso Campanella. In: Nuncius XIII (1998), S. 39–67; Guido Giglioni: La Medicina di Tommaso Campanella tra metafisica e cultura popolare. In: Germana Ernst, Caterina Fiorani (Hg.): Laboratorio Campanella. Biografia – Contesti – Iniziative in Corso. Atti del Convegno della Fondazione Camillo Caetani. Roma, 19–20 ottobre 2006. Rom 2007, S. 177–195; ders.: Healing and Belief in Tommaso Campanella’s Philosophy. In: Intellectual History Review 17 (2007), S. 225–238. Zur Medizin in der Città del Sole vgl. Ercole Vittorio Ferrari: Il medico nella Città del Sole. In: Annali di Medicina Navale 68, 6 (1963), S. 973–980. Zu Campanellas Zeugungslehre vgl. Guido Giglioni: Immaginazione, spiriti e generazione. La teoria del concepimento nella Philosophia sensibus demonstrata di Campanella. In: Bruniana e Campanelliana 4 (1998), S. 37–57. 45 Buch I handelt von der Kosmologie und Astronomie, Buch II von Meteorologie und Geophysik, Buch III von der Mineralogie, Buch IV von der Botanik, Buch V von Tieren und Menschen. Hier werden auch Fortpflanzung, Embryonalentwicklung, Anatomie und Physiologie behandelt. Der Abschnitt über die Physiologie diskutiert sowohl den Aufbau des menschlichen Körpers (humores, partes solidae, Knochen) als auch physiologische Prozesse im modernen Sinn wie Verdauung, Blutbewegung, Herz- und Lungenbewegung. Buch VI behandelt psychologische, moralische und pathologische Fragen. Vgl. Campanella, Epilogo magno, S. 573–577.
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mit 34 Seiten nur einen kleinen Teil des Traktats ausmachte. Allerdings wurden anatomische und physiologische Fragen auch an anderer Stelle aufgegriffen, beispielsweise bei der Pathologie, die den Gegenstand des sechsten Buches bildete.⁴⁶ Während das sechste Buch der Medicinalia Krankheiten auf der Grundlage einer topologischen Klassifikation, einer pathologia secundum partes corporis humani, abhandelte, erörterte das siebte Buch ausschließlich Fiebererkrankungen, die im Gegensatz zu Krankheiten, die sich an bestimmten Stellen des Körpers manifestierten, atopischer Natur waren und den Körper als Ganzes befielen.⁴⁷ Campanella verkündete: „Jedes Fieber manifestiert sich überall im Körper.“⁴⁸ Fieber stellte nach Campanellas Ansicht keine gesundheitliche Bedrohung oder Krankheit dar, sondern eine körpereigene Verteidigungsmaßnahme: “fever is not a disease, but a war against disease, undertaken by means of a powerful force possessed by spirit.”⁴⁹ Die Konzeption eines Kampfes zwischen Krankheit und Gesundheit war kein Novum, sondern trat im Kontext der Krise als über Leben und Tod entscheidende Phase im Krankheitsverlauf regelmäßig auf. Die Fieberlehre ging davon aus, dass Krisen bei allen akuten Arten des Fiebers auftraten. Dabei wurde die Entscheidung über das Schicksal des Patienten entweder juristisch als Gerichtsverfahren oder militärisch als körperinterne Schlacht zwischen Gesundheit und Krankheit imaginiert. Die Konzeption der Krise als militärische Entscheidung wurde von Avicenna vertreten und war fest in der Pathologie verankert.⁵⁰ Campanella jedoch gebrauchte den militärischen Topos in anderer und ungewöhnlicher Weise. Der Kampf setzte die Existenz zweier kriegsführender Parteien voraus, wobei das Fieber bei Campanella die Fronten gewechselt hatte und nun Ausdruck einer sehr positiven körperinternen Kraft war, der Heilkraft der Natur (vis naturae medicatrix). Fieber war ein Teil der Natur, “desiring to do battle and to produce a crisis, so that fever is obviously no evil, but a remedy against evil, to be applied when and where there is need.”⁵¹ Bei Campanella geriet der fiebernde Körper zu einem Schlachtfeld, auf dem das Fieber als Instrument der vis naturae medicatrix und die Krankheit als feindseliger Aggressor die Klingen kreuzten.
46 Tommaso Campanella: Medicinalium iuxta propria principia libri septem. Lyon 1635. 47 Vgl. Giuseppe Dell’Anna: Dies critici: La teoria della ciclicità delle patologie nel XIV secolo. 2 Bde. Bd. 1. Lecce 1999, S. 174. 48 „Ogni febbre si fa in tutto il corpo.“ Campanella, Epilogo magno, S. 540. 49 Vgl. Campanella, Medicinalia, zitiert nach Rather, Frerichs, Military Metaphor, S. 202. Der Aufsatz enthält eine englische Übersetzung von Buch VII, Kap. 2, 1 von Campanellas Medicinalia. Nach dieser wird hier zitiert als Campanella, Medicinalia, übers. Rather, Frerichs. 50 Max Neuburger: Die Lehre von der Heilkraft der Natur im Wandel der Zeiten. Stuttgart 1926, S. 22. 51 Campanella, Medicinalia, übers. Rather, Frerichs, S. 203.
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Diese Auffassung war im Kontext der orthodoxen Fiebertheorie des frühen siebzehnten Jahrhunderts aus mehreren Gründen unkonventionell.⁵² So vertrat Campanella, dass Fieber keine unnatürliche Form der Körperwärme darstellte: “Nor is it praeternatural to have a fever.”⁵³ Damit wendete er sich gegen das seit der Antike verbreitete Verständnis von Fieber als einer äußeren und unnatürlichen Hitze, die sich qualitativ von der natürlichen Körperwärme, dem calor innatus unterschied, der in den Lebewesen als Motor und Instrument der Körperfunktionen fungierte.⁵⁴ In diesem Sinne hatte Avicenna das Fieber definiert: Fever is extraneous heat, kindled in the heart, from which it is diffused to the whole body through the arteries and veins, by means of the spirit and the blood, reaching a heat in the body itself which is sufficient to injure the natural functions.⁵⁵
Fieberlehren hatten eine große Bedeutung für die Pathologie der Frühen Neuzeit,⁵⁶ die seit dem späten sechzehnten Jahrhundert eine zentrale Stellung im medizinischen Fächerkanon einnahm.⁵⁷ Allerdings bewegte sich die Mehrzahl der gelehrten Mediziner theoretisch in engen Bahnen, die von den Positionen Aristoteles’, Galens, Avicennas und Averroes’ abgesteckt waren. Alle Ansätze rangen mit der Schwierigkeit, calor innatus und Fieber miteinander ins Verhältnis zu setzen, da fiebrige und natürliche Wärme zwar zwei verschiedene Dinge sein mochten, im Körper aber nur eine Wärme existierte.⁵⁸ Campanella präsentierte eine radikale Lösung, indem er die qualitative Differenz zwischen calor innatus und Fieber aufhob, beide Formen der Körperwärme miteinander identifizierte und zu dem Schluss kam, “that fever was natural heat
52 Zu unkonventionellen Fiebertheorien Walter Pagel: New Light on William Harvey. Basel 1976, S. 71–73; Iain M. Lonie: Fever Pathology in the Sixteenth Century: Tradition and Innovation. In: W.F. Bynum, Vivian Nutton (Hg.): Theories of Fever From Antiquity to the Enlightenment. Medical History, Supplement 1 (1981), S. 19–44. 53 Campanella, Medicinalia, übers. Rather, Frerichs, S. 204. 54 Lonie, Fever Pathology, S. 21. 55 Avicenna, Kanon IV, I, i, 1. Zitiert nach Lonie, Fever Pathology, S. 21. 56 Don G. Bates: Thomas Willis and the Fevers Literature of the Seventeenth Century. In: W.F. Bynum, V. Nutton (Hg.): Theories of Fever From Antiquity to the Enlightenment. Medical History, Supplement 1 (1981), S. 45–70, S. 46. Die frühneuzeitliche Fieberlehre ist wie das Fieber allgemein nicht gut erforscht; die von Bynum und Nutton herausgegebene Aufsatzsammlung ist die umfassendste Publikation zum Thema. Hess’ Monographie über die Temperaturmessung hat ihren Schwerpunkt nach dem siebzehnten Jahrhundert. Volker Hess: Der wohltemperierte Mensch. Wissenschaft und Alltag des Fiebermessens (1850–1900). Frankfurt/M. u. a. 2000. 57 Maclean, Logic, Signs and Nature, S. 269 f. 58 Lonie, Fever Pathology, S. 22.
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converted to fiery heat.”⁵⁹ Während die medizinische Tradition davon ausging, dass nur bestimmte Arten und ein bestimmtes Maß von Wärme dem Körper zur Gesundheit gereichten, begrüßte Campanella Körperwärme in jeder Form und Intensität, gemäß dem Prinzip‚ ‚je mehr, desto besser‘: just in this way is the issue decided between nature and disease, when the disease had arrived at its greatest development – especially when one most forceful febrile paroxysm comes on the heels of others.⁶⁰
Je höher die Temperatur, umso heftiger die Kampfhandlungen. Diese waren in Hinblick auf den Heilungsprozess gutzuheißen. Das machte vor dem Hintergrund der galenischen Krankheitslehre Sinn, die die Relevanz der kritischen Ausscheidungen von Krankheitsstoffen, der materia peccans, während des Heilungsprozesses betonte.⁶¹ Da die schädlichen Stoffe durch einen Koch- bzw. Reifungsvorgang in den ausscheidungsfähigen Zustand versetzt wurden, schloss Campanella, dass die fieberbedingt erhöhte Körpertemperatur diesen Transformationsprozess beschleunigte.⁶² War viel materia peccans vorhanden, konnten hohe Temperaturen sinnvoll sein, ebenso wie beim Kochen: “just as a skilled cook applies heat according to the amount of the foods being cooked and the time.”⁶³ Das Prinzip ‚je mehr, desto besser‘ galt nicht nur für die Körperwärme, sondern auch für jene Stoffe, die diese hervorbrachten, nämlich die medizinischen spiritus. Die frühneuzeitliche Spirituslehre hatte unter den gelehrten Medizinern so namhafte Anhänger wie Jean Fernel. Ihr Ursprung lag in der antiken stoischen Pneumalehre.⁶⁴ Campanella verstand unter pneuma oder spiritus ein Lebensprinzip feinstofflicher Natur, das sich aus einer Mischung der Elemente
59 Campanella, Medicinalia, übers. Rather, Frerichs, S. 204. Das war ein fast wörtlicher Rekurs auf Galen. Diesem ging es darum, warum Greise selten von hohem Fieber heimgesucht wurden: Da ihr calor innatus gering war, konnte nur wenig Ausgangsmaterie in Fieber umgewandelt werden. Diese Passage inspirierte verschiedentlich zu Verallgemeinerungen. Vgl. Galen: In Aphorismos Hippocratis Commentarii [...]. In ders.: Opera Omnia. Hg. von Carl Gottlob Kühn. Bd. 17, 2. Hildesheim 1965, 1, 14, S. 414, 426. 60 Campanella, Medicinalia, übers. Rather, Frerichs, S. 202. 61 Neuburger, Heilkraft der Natur, S. 19. 62 Diesen Gedanken hatte bereits der gelehrte Mediziner Gomez Pereira geäußert, der zusammen mit Campanella und Johann Baptist van Helmont in das Spektrum der wenigen Theoretiker gehört, die bereits vor Harvey und unabhängig von diesem unkonventionelle Fieberlehren vertraten. Die Rezeptionswege zwischen diesen sind weitgehend unbekannt. 63 Campanella, Medicinalia, übers. Rather, Frerichs, S. 203. 64 Gerhard Klier: Die drei Geister des Menschen: die sogenannte Spirituslehre in der Physiologie der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2002, S. 27.
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Feuer und Luft zusammensetzte. Die spiritus waren im Körper für eine Vielzahl von Funktionen zuständig, insbesondere für die Sinneswahrnehmung (cognitio sensibilium), die Körperbewegung (motio corporis) und die Wärmeerzeugung (calefactio).⁶⁵ Campanella konzentrierte sich auf zwei Funktionen der spiritus, auf ihre Wahrnehmungsfähigkeit, die aus der Begabung der Materie mit dem telesianischen sensus resultierte⁶⁶ sowie ihre Fähigkeit, durch Bewegung Wärme zu erzeugen. Die Aspekte standen in engem Zusammenhang. Der spiritus war für Campanella eine warme, feine und helle Substanz, die empfindsam und beweglich war. Da Campanella die unablässige zyklische Bewegung für das Kennzeichen alles Lebendigen hielt, war die Existenz von spiritus zwingend für die Bewegung und Lebendigkeit von Individuen: Daher bewegen sich das Herz, das Gehirn, die Arterien und die Lunge nicht, sondern sie werden von einer anderen Ursache bewegt, deren Charakter die unablässige Bewegung ist. Diese Ursache ist der spiritus, der von einer feurigen und luftartigen Natur ist, und dem die fortwährende Bewegung zueigen ist.⁶⁷
Die Bewegung der Organe resultierte aus der Bewegung des spiritus, dem gegenüber sie sich reaktiv verhielten. Der spiritus bewegte sich in Campanellas Augen ebenso unablässig „wie sich die Sonne bewegt.“⁶⁸ Aus der unablässigen Bewegung der spiritus resultierte auch ihr allmähliches Schwinden aufgrund eines Phänomens, das die neuplatonische Lehre perspiratio insensibilis nannte. Gemäß dieser war die Seele eine von unreiner Materie umschlossene Gefangene, die ihr Domizil nur zu gerne verlassen wollte. So strömten auch die seelenähnlichen, feinstofflichen spiritus durch ihre unablässige Bewegung und ihr Unterworfensein unter eine vom Himmel ausgehende Attraktion⁶⁹ beständig aus dem Körper der Lebewesen aus und flohen himmelwärts. Der spiritus war nicht nur flüchtig,⁷⁰ sondern verbrauchte sich auch bei der Wahrnehmung der vielfältigen physiologischen Funktionen. Wie das Blut
65 „Functiones spiritus sunt cognitio sensibilium, et motio corporis, et calefactio.“ Campanella, Medicinalia, S. 8. 66 Tommaso Campanella: Del senso delle cose e della magia. Hg. von Germana Ernst. Rom, Bari 2007, S. 13. 67 „Cor ergo et cerebrum et arteriae et pulmo patiuntur, non agunt, ab aliqua causa, cuius vita est perennius motus. Ista causa est spiritus, natura caelestis igneusque, cuius est semper moveri.“ Campanella, Medicinalia, S. 142. 68 Ebd., S. 142. 69 Stofflich Gleiches wurde von Gleichem angezogen. Aufgrund ihres feurigen und luftigen Charakters strebten die spiritus zum Himmel, der ebenfalls feuriger und luftiger Natur war. 70 Campanella, Medicinalia, S. 8.
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bedurfte er der konstanten Reproduktion. Die allmähliche ‚Entgeisterung‘ der Lebewesen war wegen der Relevanz der spiritus für alle Körpervorgänge so gravierend, dass Campanella die Reproduktion der spiritus zum Ziel sämtlicher Körperfunktionen erklärte.⁷¹ Gemäß der galenischen Lehre erfolgte sie wie die Reproduktion des Blutes über die Nahrungsaufnahme und Verstoffwechslung der Nahrung, die durch einen mehrstufigen Kochprozess in den drei Zentralorganen in Blut umgewandelt und ‚verfeinert‘ wurde. Die Wärme fungierte als Katalysator der Transformation.⁷² Nach der Umwandlung von fester Nahrung in Blut in der Leber vollzog sich eine zweite Kochung im Herzen, wo das Blut durch die Luftzufuhr über die Lungen verdünnt und spiritualisiert wurde. Über die Arterien gelangte die Flüssigkeit, die Campanella sangue spiritale nannte, zum Gehirn, genauer zum rete mirabile, wo sie in einer dritten Kochung durch den spiritus verfeinert wurde. Campanella lokalisierte an diesem Ort keine Kochung, sondern vielmehr eine Zerteilung, die eine quantitative Vermehrung der spiritus bewirkte: „Das rete mirabile ist dazu da, das Blut in viele Teile zu spalten und sofort viele spiritus herzustellen.“⁷³ Campanella vertrat also keine Revitalisierung der spiritus durch eine abschließende Kochung,⁷⁴ sondern die Vermehrung und Erneuerung durch Teilung: „nachdem sich diese [die spiritus] vermehrt haben, bewegen sie sich durch die Nerven, Venen, Arterien und Fasern und beleben so den Körper, ihr Werkzeug zum Leben.“⁷⁵ Die Vermehrung durch Teilung war in Campanellas Augen auch die Ursache der Fortpflanzung, die allzu harten, teilungsunfähigen Substanzen wie Mineralien verwehrt war.⁷⁶ Die spiritus hatten aufgrund ihrer feinstofflichen, weichen Beschaffenheit keine Schwierigkeit damit. Da für Campanella die Bewegung der spiritus die Ursache sämtlicher Körperbewegungen, inklusive der Herz- und Arterienbewegung, darstellte, betrachtete er den fieberbedingt erhöhten Puls als Indiz einer lebhaften Spiritusproduktion im rete mirabile, während ein langsamer Puls, wie er typisch für Gehirnerkrankungen wie Schlaganfall oder Epilepsie sei, die schleppende Hervorbringung
71 Mönnich, Campanella, S. 125. 72 Thomas Fuchs: Die Mechanisierung des Herzens. Harvey und Descartes – Der vitale und der mechanische Aspekt des Kreislaufs. Frankfurt/M. 1992, S. 37. 73 „Il plesso retiforme è fatto per battere in molto parti il sangue e far subito molti spiriti.“ Campanella, Epilogo magno, S. 362. 74 So Mönnich, Campanella, S. 125. 75 „I quali [spiriti], augumentati, caminando per li nervi vene arterie et fibre, avvivano tutto il corpo loro instrumento di vita.“ Campanella, Epilogo magno, S. 347. 76 „la pietra e’l metallo [...] [non] hanno modo di generar un altro simile in cui vivano, non potendo dividere alcun seme dalla loro durezza.“ Ebd., S. 311 f.
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von spiritus anzeigte. Campanella beschrieb den Pulsschlag der Fieberkranken als schnell und rhythmisch und deutete ihn als akustisches oder militärmusikalisches Signal, das die spiritus zu den Waffen rief: “Therefore this sort of an increase of pulsations indicates that need has decided that many spirits are recruited to come into the place, in the war.”⁷⁷ Generell unterschied Campanella im Anschluss an Galen zwischen den traditionellen drei Arten von spiritus – spiritus naturalis, spiritus vitalis und spiritus animalis –, in Hinblick auf die Fiebertheorie tat er es aber nicht. Hier genügte es ihm, wenn nur möglichst viele spiritus für die Schlacht gegen die Krankheit mobilisiert werden konnten. So machte sich bei Campanellas Fiebertheorie auf der Ebene der medizinischen spiritus gegenüber traditionellen Fieberlehren eine Tendenz zur Vereinheitlichung bemerkbar. Ungefähr zeitgleich mit William Harveys Konzeption des geschlossenen Blutkreislaufs ging Campanella ebenfalls von der materiellen Einheit der vitalen Substanz aus, die er aber nicht mit dem Blut, sondern dem spiritus identifizierte. Da ein hohes Maß an Bewegung und Wärme für Campanella von großem militärischem Engagement im Kampf gegen die Krankheit zeugte, erschien ihm die erhöhte physiologische Aktivität des Fiebers geradezu als Ausdruck von gesteigerter Gesundheit. Das schuldete sich auch seiner Identifikation des Fiebers mit der Heilkraft der Natur, der vis naturae medicatrix. Bereits der gelehrte Mediziner François Valleriola hatte den calor innatus, die natürliche innere Wärme, mit der Naturheilkraft identifiziert.⁷⁸ Da Campanella Fieber und calor innatus ohnehin für ein und dasselbe hielt, war es naheliegend, ihnen auch dieselbe Funktion innerhalb des Heilungsprozesses zuzuschreiben. Im sechsten Buch der hippokratischen Epidemien wurde die Natur als Heilerin oder Ärztin der Krankheiten bezeichnet.⁷⁹ Diese These war höchstwahrscheinlich von der Beobachtung angeregt, dass sich Genesungsprozesse auch ohne ärztliche Intervention als Spontanheilung vollziehen konnten. Die Therapie war nicht zwingend notwendig – zunächst heilte die Natur, dann erst kam der Arzt. Die vis naturae medicatrix stellte quasi einen inneren Arzt dar. Als solcher wurde sie auch von Paracelsus apostrophiert:
77 Campanella, Medicinalia, übers. Rather, Frerichs, S. 203. Zum Zusammenhang von Puls und Musik vgl. Werner Friedrich Kümmel: Musik und Medizin: ihre Wechselbeziehungen in Theorie und Praxis von 800 bis 1800. Freiburg u. a. 1977, S. 73–77, 90. 78 Neuburger, Heilkraft der Natur, S. 31 f. 79 Ebd., S. 6.
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und also hat die Natur iren aignen arzet in irem aygnen gelyde, der das haylet, das inn yhr verwundet wirt. Also solle ein jeglicher wundarzet wissen, das er nit der ist der da heylet, sonnder der Balsam im leib ist, der da hailet.⁸⁰
Bei den paracelsischen Autoren gab es zwei körperinterne Kräfte, die sich gegenseitig bedingten und regulierten: „Von Natur hat er [der Mensch] auch wider eine jegliche Krankheit Arznei; und wie er hat den Destructorem Sanitatis von Natur, also hat er auch Conservatorem Sanitatis von Natur.“⁸¹ Daher war eine äußere Regulierung der Gesundheit grundsätzlich verzichtbar, denn die eigentliche Ursache des Heilungsprozesses, die vis naturae medicatrix, war eine körperinterne Kraft. Das Fieber ist daher eine spontane und außergewöhnliche Bewegung und Erhitzung des spiritus, um gegen die Irritation und Krankheitsursache zu kämpfen, damit diese gekocht, bewegt, verdaut und abgelagert und so zur Ausscheidung gebracht wird, oder aber zu ihrer Vernichtung oder Verbesserung, wie es klar aus dem Gesagten hervorgeht.⁸²
Bei Campanella nahmen sowohl die Heilkraft der Natur als auch das Fieber martialische Formen an. Die Natur veranlasste die Krankheit ausgesprochen gewalttätig zum Auszug aus dem Körper, “desiring to do battle and to produce a crisis, so that fever is obviously no evil, but a remedy against evil, to be applied when and where there is need.”⁸³ Da sich Fieber nur manifestierte, ,wann und wo es nötig war‘, bedurfte es keiner Regulierung. Das war eine ungewöhnliche Einsicht, die von der heutigen Physiologie geteilt wird. Während Hypothermie einen irregulären Temperaturanstieg darstellt, gilt Fieber als regulärer Temperaturanstieg, der sich tatsächlich selbst reguliert.⁸⁴ Campanella vertraute auf den selbstregulierenden Charakter des Fiebers. Er räumte ein, dass es zuweilen so aussah, als störte Fieber die normalen Körperfunktionen erheblich oder setzte sie außer Gefecht. Doch es handelte sich nur um ein vorübergehendes Aussetzen der normalen Körperprozesse, vergleichbar mit dem politischen Ausnahmezustand während des Kriegs:
80 Paracelsus: Große Wundartzney. Bd. 1. Augsburg 1536, f. 2r. 81 Paracelsus: Labyrinthus Medicorum Errantium. In ders.: Drey Bücher. Köln 1546, S. 57–135, S. 100. 82 „Febris ergo sit spontanea extraordinaria spiritus agitatio inflammatioque ad pugnam contra irritantem morbificam causam: quam sic [sic!] calefacit, agitat, digeritque, redditque expulsioni aptam, vel extinctioni, vel meliorationi, ut ex dictis palam est.“ Campanella, Medicinalia, S. 601. 83 Ebd., S. 203. 84 L.R. Leon: Cytokine Regulation of Fever: Studies Using Gene Knockout Mice. In: Journal of Applied Physiology 92, 6 (2002), S. 2648–2655, S. 2648.
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Thus when a state is fighting against an enemy public works, agriculture, schools and festivals are held up; but fever does not occur in order that matters be impeded, but to the end that an enemy may be removed and thus the spirit, now safe, may peaceably return to its functions.⁸⁵
Während des Fiebers kam es also wie im Krieg zu einer vorübergehenden Konzentration aller Kräfte auf einen gemeinsamen Feind, so dass das zivile Leben, bzw. die normalen physiologischen Vorgänge, temporär zum Erliegen kamen. Campanellas Fiebertheorie las sich nicht eben pazifistisch, zumal er Wut und Aggression für die beste Voraussetzung für einen erfolgreichen Krieg hielt: “I believe that all fever is state of wrath, I mean an arousal of spirit for defense, that is, for the slaughter and extrusion of an inimical cause.”⁸⁶ Aus dieser Perspektive war die Abwesenheit von Wut und Fieber im Krankheitsverlauf bedenklicher, da sie die widerstandslose Ergebung des Körpers in die Krankheit anzeigte. Campanellas Fieberlehre inspirierte den flämischen Arzt und Chemiker Johann Baptist van Helmont, der das Fieber paracelsisch als „Kampfmittel des gleichsam erzürnten Archeus“⁸⁷ bezeichnete und es ebenfalls als Selbstverteidigungsmaßnahme des Körpers verstand. Darüber hinaus fand Campanellas martialische Fieberlehre viel später, in der Bakteriologie des späten neunzehnten Jahrhunderts, medizinische Anerkennung.⁸⁸ Campanella hielt den fieberbedingten physiologischen Ausnahmezustand nicht nur für notwendig, sondern befürwortete die gewaltsame Dynamik entschieden: “Nor is it praeternatural to have a fever, unless it is preternatural to wage war when necessary, to attack an injurious enemy, to repel force by force.”⁸⁹ Damit vertrat er, dass es sich bei den fieberbedingten Kampfhandlungen um legitime Gewalt im Rahmen eines gerechten Krieges handelte. Die Frage, ob der Kampf zwischen Natur und Krankheit ein gerechter Krieg sei, war ein Novum auf dem Gebiet der Pathologie. Ihre Einführung in die Fiebertheorie verdankte sich zwei Faktoren, den politischen Vorstellungen Campanellas sowie den allgemeinen physiologischen und kosmologischen Konzeptionen, auf denen seine Fieberlehre beruhte.
85 Campanella, Medicinalia, übers. Rather, Frerichs, S. 205. 86 Ebd., S. 203. 87 Neuburger, Heilkraft der Natur, S. 36. Vgl. auch Walter Pagel: Johann Baptist van Helmont: Einführung in die philosophische Medizin des Barock. Berlin 1930, S. 20–23. 88 Rather, Frerichs, Military Metaphor, S. 204. 89 Campanella, Medicinalia, übers. Rather, Frerichs, S. 204.
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2.1.3 Kosmologische und politische Dynamik Bevor Campanella seinen sozialen und politischen Visionen in der Città del Sole literarische Gestalt verlieh, hatte er zunächst versucht, diese mit der kalabresischen Verschwörung gegen die spanische Herrschaft über das Königreich von Neapel und Sizilien im Jahr 1599 real herbeizuführen.⁹⁰ Campanella trat im Alter von 13 Jahren in den Dominikanerorden ein, möglicherweise weniger aufgrund einer genuin religiösen Berufung als mit der Absicht, seiner illiteraten kalabresischen Schusterfamilie zu entkommen und sich Zugang zu Wissenschaft und Bildung zu verschaffen.⁹¹ Im Orden erwies er sich wegen seines Interesses an beinahe allen aus theologischer Perspektive heiklen Wissensgebieten wie der Astronomie Galileis⁹² und der Astrologie als unbequemes Mitglied. Seine unorthodoxen Ansichten stützte Campanella zunächst auf die Philosophie seines Landsmanns Bernardino Telesio, der unter Rekurs auf Lukrez eine nicht-aristotelische Naturphilosophie formuliert hatte. Er publizierte bald selbst naturphilosophische Schriften, die von der telesianischen Philosophie beeinflusst waren, wie seine erste Veröffentlichung Philosophia sensibus dimonstrata (1591)⁹³ und Del senso delle cose e della magia (1620).⁹⁴ Seine politischen Ansichten waren nicht wesentlich konsensfähiger. Seit 1517 stand das Königreich Neapel und Sizilien unter spanischer Herrschaft und wurde von einem spanischen Vizekönig regiert. Die enge Kooperation zwischen der spanischen Administration und der lokalen Aristokratie verursachte schwere Konflikte mit den Kommunen und dem Klerus über die Zuständigkeit für die Jurisdiktion. Dazu kamen massive Probleme bei der Rechtsdurchsetzung in Kalabrien, die im letzten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts in einer allgemeinen
90 Zum Ablauf der Verschwörung und ihrer Folgen vgl. hier Kap. 3.1. 91 Luigi Firpo: Tommaso Campanella. In ders.: Il supplizio di Tommaso Campanella. Narrazioni – Documenti – Verbali delle torture. Rom 1985, S. 7–48, S. 8. 92 Das, was die Frühe Neuzeit als politische Klugheit bezeichnete, lag Campanella fern. So verteidigte er in der Apologia pro Galileo (1622) Galileis heliozentrische astronomische Lehre, obwohl er sie nicht einmal teilte. Vgl. Tommaso Campanella: Apologia di Galileo. Hg. von Luigi Firpo. Turin 1969. 93 1589 verfasst, vgl. Mönnich, Campanella, S. 43. 94 Um 1590 verfasst, das erste Manuskript wurde ihm 1592 von Beauftragten der Inquisition gestohlen. Eine zweite Fassung von 1604 übergab Campanella seinem Freund Kaspar Schopp, der keinen deutschen Verleger für das italienische Manuskript fand. Die um 1608 entstandene lateinische Übersetzung händigte Campanella 1613 Tobias Adam aus, dem es erst 1620 gelang, das Werk in den Druck zu geben. Vgl. Mönnich, Campanella, S. 45.
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Gesetzlosigkeit mündete.⁹⁵ In diesem politischen Klima bildete sich im Sommer 1599 um Campanella ein Netz von Verschwörern mit der Absicht, die spanische Herrschaft über Kalabrien mit Hilfe der militärischen Unterstützung der mächtigen einheimischen Banditen und der türkischen Flotte zu stürzen. Obwohl die Verschwörer verraten wurden, bevor ein konkreter Umsturzplan existierte, war deutlich, dass Campanella gewillt war, einen ‚gerechten Krieg‘ gegen die spanische Fremdherrschaft zu beginnen und ‚Gewalt mit Gewalt‘ zu bekämpfen. So ließ sich auch seine Befürwortung der Aggression als legitime Maßnahme der Selbstverteidigung (“an arousal of spirit for defence, that is, for slaughter and extrusion of an inimical cause”) politisch als eine Rechtfertigung des Widerstands gegen eine als Unrecht empfundene Herrschaft verstehen. In Campanellas politischen Traktaten fanden sich keine eindeutigen Äußerungen zum politischen Widerstand. Derlei Aussagen wären während seiner 27-jährigen Haftstrafe auch sehr unklug gewesen.⁹⁶ An manchen Stellen deutete Campanella jedoch an, dass politische Veränderungen – auch die gezielt herbeigeführten – keinen Verstoß gegen die göttliche Ordnung darstellten. So konstatierte er: „Gott konnte die Welt verändern“,⁹⁷ und legte nahe, dass die Menschen dem göttlichen Beispiel folgen konnten und sollten. An anderer Stelle bemerkte Campanella: „die Völker [...] denken immer, dass sie gegen Gott kämpfen, wenn sie gegen den Fürsten kämpfen.“⁹⁸ Gott konnte am bewaffneten Kampf der Untertanen gegen die Herrschaft durchaus Gefallen haben. In diesem Kontext ist auch Campanellas Fieberlehre zu sehen – als medizinisch-naturphilosophische Alternative zu den zeitgenössischen juridisch-politischen Begründungen des Widerstandsrechts und des Tyrannenmords.⁹⁹ Campanellas Wertschätzung des bewaffneten Konflikts besaß auch in seinen telesianischen naturphilosophischen und kosmologischen Konzeptionen Rück-
95 John M. Headley: Tommaso Campanella and the Transformation of the World. Princeton, NJ 1997, S. 32. 96 Offene Stellungnahmen in Druckform waren in Italien zensurbedingt unmöglich. Vgl. hier Kap. 3.4. 97 „io disse ut supra, che Dio poteva mutar il mondo.“ Tommaso Campanella: Dichiarazione di Castelvetere. In: Luigi Firpo: Il supplizio di Tommaso Campanella. Narrazioni – Documenti – Verbali delle torture. Rom 1985, S. 51–66, S. 62. 98 „li popoli [...] pensano sempre pugnar contra Dio, pugnando contra il principe.“ Tommaso Campanella: Antiveneti. Hg. von Luigi Firpo. Turin 1968, S. 100–102. 99 Zum Widerstandsrecht vgl. etwa J.H.M. Salmon: Catholic Resistance Theory, Ultramontanism, and the Royalist Response, 1580–1620. In: J.H. Burns (Hg.): The Cambridge History of Political Thought 1450–1700. Cambridge u. a. 1991, S. 219–253 und Robert M. Kingdon: Calvinism and Resistance Theory, 1550–1580. In: J.H. Burns (Hg.): The Cambridge History of Political Thought 1450–1700. Cambridge u. a. 1991, S. 193–218.
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halt. Telesio hatte mit dem prinzipiellen Wärme-Kälte-Dualismus ein Konfliktmodell zum Ausgangspunkt seiner Naturphilosophie gemacht. Campanella folgte ihm und erklärte den grundsätzlichen Antagonismus zwischen den beiden widerstreitenden Prinzipien der Wärme und der Kälte zur Ursache aller Naturerscheinungen. Alle Dinge waren aus körperlicher, passiver Materie und aus den unkörperlichen, aktiven Prinzipien der Wärme und Kälte zusammengesetzt. Sie waren in Hinblick auf Materie und Prinzipien Komposita, jedoch nicht harmonisch gefügt, sondern spannungsgeladen. Als causae agentes waren die beiden aktiven Prinzipien zwar unkörperlicher Natur, doch sie bedurften der Materie, um zu existieren. Während sich das Prinzip der Wärme materiell in Form von Helligkeit, Bewegung, aktiver Ausdehnung und Verdünnung (tenuitas) äußerte, nahm das Prinzip der Kälte die Gestalt von Dunkelheit, Trägheit, aktiver Verdichtung und Zusammenziehung (crassitas) an. Kosmisch wurde das Wärmeprinzip durch die Sonne und die Gestirne, das Kälteprinzip durch die Erde verkörpert.¹⁰⁰ Der Kontrahent des aktiven Prinzips der Wärme war das gleichfalls aktive Prinzip der Kälte, was in einer universalen Zweireiche- oder Zweikörpertheorie mündete, in deren einem Teil die Sonne regierte als Herrscher, Fürst und Vater (dux, rex, et pater),¹⁰¹ in deren anderem der Fürst der Kälte und der Finsternis: Daher wohnt auf der von der Kälte beherrschten Erde die Kälte als Fürst, der die Dichte zum Thron hat, die Unbeweglichkeit als Aktionsmodus und die Schwärze zum Antlitz.¹⁰²
Angelehnt an die Terminologie der politischen Theorie postulierte Campanella die Existenz zweier Herrscher, die aufgrund ihrer gegensätzlichen Natur in einer Beziehung der immerwährenden Feindschaft zueinander standen. Campanella betrachtete diesen konstitutiven Antagonismus im Anschluss an Telesio nicht als destruktiv oder problematisch, sondern als Motor für die Ausdifferenzierung des Kosmos: Gott befahl, dass aus dieser Masse körperlicher Materie von solcher Größe zwei unkörperliche Schöpfer hervorgehen sollten, die aber nicht ohne Körper existieren konnten. Und so kamen die Wärme und die Kälte in die Welt, als aktive Prinzipien, jedoch mit einer Tendenz zur Ausdehnung. Sofort wurden sie zu Feinden, da jedes von ihnen den ganzen materiellen
100 Mönnich, Campanella, S. 92. 101 „Sol est tanquam Dux et Rex et Pater.“ Das waren klassische Herrschertitel der politischen Theorie. Tommaso Campanella: Astrologicorum libri VII. Frankfurt/M. 1630, S. 14. 102 „Dunque nella terra dal freddo conditionata habita il freddo come Prencipe, e vi è la densità come suo seggio, et l’immobilità come operatione, et la negrezza come faccia.“ Campanella, Epilogo magno, S. 196.
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Raum besetzen wollte: Daher begannen sie, gegeneinander zu kämpfen, da Gott bestimmt hatte, dass aus dieser Zwietracht sehr viel Gutes hervorgehen würde.¹⁰³
Damit macht er das Prinzip der Feindschaft – discordia – als dynamisches und generatives Prinzip, das der göttlichen Ordnung nicht widersprach, sondern das gottgewollt erschien („havendo ordinato Dio“), zu einem konstitutiven und konstruktiven Element des Kosmos. Telesio hatte den immerwährenden Kampf der beiden Prinzipien allerdings an die Ränder des Universums verbannt, wie Francis Bacon ausführte. Nur dort fand bei ihm der Konflikt zwischen den beiden expansiven Prinzipien statt: after he [Telesio] has sufficiently fortified the innermost parts of both kingdoms, he sets a military campaign in motion, for all tumult, conflict and infernal disorder can be found in those spaces between the outmost parts of the heaven and the innermost parts of earth.¹⁰⁴
Campanellas politisches Handeln lässt nicht vermuten, dass er diese Einschränkung geteilt hätte, es sei denn, er wähnte sich in seiner süditalienischen Heimat bereits am Rand des Universums. Vor dem Hintergrund seiner Naturphilosophie konnten Konflikte unmöglich widernatürlichen Charakters sein, da sie nicht nur Teil der Natur waren, sondern sogar als Motor des Erhalts, der Expansion und der Ausdifferenzierung des Kosmos fungierten.
2.1.4 Das Prinzip des konstruktiven Antagonismus Mit dem Prinzip der konstruktiven Feindschaft formulierte Campanella erstaunlicherweise in naturphilosophischem Zusammenhang etwas sehr Ähnliches wie der von ihm keineswegs geschätzte Niccolò Machiavelli.¹⁰⁵ Dieser hatte in den
103 „In questa mole corporea materiale di tanta statua disse Dio che nascessero due fabri incorporei, ma non potenti senza corpo stare; e però son nati il calore e’l freddo, principij attivi, et però di potenza diffusivi. Subito nemici furo, volendo ciascuno occupar tutta la stanza materiale: onde a combattere cominciaron, havendo ordinato Dio che di tal discordia gran bene riuscisse.“ Ebd., S. 194 f. 104 Francis Bacon: On Principles and Origins According to the Fables of Cupid and Coelum, OFB VI, S. 195–267, S. 231. 105 Offiziell vertrat Campanella dezidiert antimachiavellistische Positionen, was ihn nicht daran hinderte, sich diverse Thesen Machiavellis inhaltlich zu eigen zu machen, ohne den Urheber zu nennen. Diese Technik der demonstrativen Ablehnung gegenüber politischen Ideen, zu denen man sich lieber nicht bekannte bei gleichzeitiger inhaltlicher Übereinstimmung, findet sich in verschiedenen italienischen Staatsräsontraktaten. Wahrscheinlich war die Zensurpraxis
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Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (1531) in Hinblick auf die jeweilige politische Zielsetzung zwischen zwei Arten von Staaten unterschieden, den auf Erhalt ausgerichteten Republiken wie Sparta und Venedig und expansionistischen Republiken wie dem römischen Reich. So konstatierte Machiavelli kurzerhand: „entweder spricht man von einer Republik, die zu einem großen Reich werden will oder von einer, der es genügt, sich zu erhalten.“¹⁰⁶ Für Machiavelli existierten synchron zwei Arten von Staaten, die sich in ihren Zielen – Wachstum oder Selbsterhalt – unterschieden. Diese Dichotomie war die Grundlage der eingangs zitierten Definition der Staatsräson Boteros und wohl auch die nicht explizit genannte Grundlage von Foucaults Unterscheidung zwischen ‚Statikern‘ und ‚Dynamikern‘ der Staatsräson. Allerdings gab es einen wesentlichen Unterschied: Machiavelli sah die beiden Arten von Staaten und die in ihnen verwendeten politischen Mittel nicht in einem Verhältnis der Diachronie, sondern der Synchronie. Machiavelli betonte an dieser Stelle vor allem innenpolitische Merkmale der beiden Spezies von Staaten und kam zu dem Schluss, dass ein Staat, der sich wie das antike Rom dem Prinzip des Wachstums verschrieben hatte, innenpolitisch zwangsläufig von stärkeren Unruhen erschüttert würde als statische Republiken wie Sparta. So konnten beispielsweise reiche Bürger, „da sie viel besitzen, mit größerer Macht und stärkerer Bewegung [moto] Veränderungen herbeiführen.“¹⁰⁷ Während ein Staat wie Sparta nichts weiter zu tun hatte, als die einmal durch den legendären Lykurg erlassene ideale Verfassung zu bewahren und alle politische ‚Bewegung‘ und Aufruhr zu vermeiden, musste sich das von starken innenpolitischen Interessengegensätzen geprägte Rom selbst darum bemühen, eine solche ideale Verfassung hervorzubringen. An dieser Stelle formulierte Machiavelli seine ebenso bekannte wie originelle These, dass die heftigen Konflikte keineswegs ein Hindernis auf dem Weg zu einer guten Einrichtung des Staates gewesen seien, sondern vielmehr ihr Motor und ihre Ursache. Trotz des Mangels an einem herausragenden Gesetzgeber wie dem spartanischen Lykurg
der Grund. De Mattei weist nach, dass Campanellas Invektive im Ateismo trionfato gegen die italienischen Machiavellisten, französischen Politiques und deutschen Häretikern wörtlich aus dem Staatsräsontraktat Canonieros abgeschrieben ist. De Mattei, Premachiavellismo, S. 248. 106 „o tu ragioni d’una republica che voglia fare uno imperio come Roma, o d’una che le basti mantenersi“. Niccolò Machiavelli: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio. In ders.: Opere. Hg. von Rinaldo Rinaldi. 2 Bde. Bd. 2. Turin 2006, S. 411–1214, I, 5, S. 454. Diese Differenzierung war bereits in Polybios’ Historien VI, 50 angelegt. 107 „che possedendo molto, possono con maggiore potenza e maggiore moto fare alterazione.“ Ebd., S. 456.
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waren die durch die Uneinigkeit zwischen Plebejern und Senat entstanden Umstände in ihr [der römischen Republik] doch so günstig, dass das, was der Gesetzgeber unterlassen hatte, vom Zufall vollbracht wurde.¹⁰⁸
Damit erklärte Machiavelli den inneren Konflikt und Interessengegensatz zum Motor der historischen Entwicklung Roms, der auf diese Weise nicht nur zur notwendigen Bedingung für die Größe des römischen Reichs geriet, sondern sämtlicher expansiver Staaten. So gab er zu bedenken, dass in jeder Republik zwei unterschiedliche Interessen [umori] existieren, die des Volkes und die der Großen, und dass alle Gesetze, die zugunsten der Freiheit gemacht werden, aus der Uneinigkeit [disunione] zwischen diesen beiden entstehen.¹⁰⁹
Die historische Größe der römischen Republik wurde damit als Resultat des konstruktiven Zusammenstoßes zweier antagonistischer Bedürfnisse [appetiti]¹¹⁰ verstanden. Dabei war die Materie des Staates bei Machiavelli offenkundig ebenso mit eigenen Interessen und appetiti ausgestattet wie die Materie der Natur bei Campanella.¹¹¹ Machiavellis Lob des Dissenses erhielt keine allgemeine Zustimmung. Francesco Guicciardini wendete ein: „Es war nicht der Konflikt zwischen Volk und Senat, der die römische Republik frei und mächtig gemacht hat, denn es wäre besser gewesen, wenn es die Ursachen der Uneinigkeit gar nicht gegeben hätte.“¹¹² Vielmehr erschien ihm diese Idee ausgesprochen zynisch, denn „die Uneinigkeit zu loben, ist wie einen Kranken für seine Krankheit zu loben, wegen der Vortrefflichkeit des ihm gegen sie verabreichten Medikaments.“¹¹³ Der von
108 „nondimeno furo tanti gli accidenti che in quella nacquero, per la disunione che era intra la Plebe e il Senato, che quello che non aveva fatto uno ordinatore lo fece il caso.“ Ebd., S. 438. 109 „come sono in ogni republica due umori diversi, quello del popolo e quello de’grandi; e come tutte le leggi che si fanno in favore della libertà, nascano dalla disunione loro.“ Ebd., S. 447. 110 „questi dua appetiti.“ Machiavelli, Principe IX, S. 208. 111 Durch einen Rezeptionszusammenhang zwischen Machiavelli, Telesio und Campanella ist diese Übereinstimmung nicht zu erklären, zumal Machiavelli chronologisch vor Telesio zu verorten ist. Möglicherweise war die Lukrez-Rezeption der gemeinsame Nenner. Zur Naturphilosophie Machiavellis gibt es leider kaum Forschung. 112 „Non fu adunque la disunione tra la plebe e il senato che facessi Roma libera e potente, perchè meglio sarebbe stato se non vi fussino state le cagioni della disunione.“ Francesco Guicciardini: Considerazioni intorno ai discorsi del Machiavelli sopra la prima deca di Tito Livio. In ders.: Opere inedite. Bd. 1. Hg. von Piero und Luigi Guicciardini. Florenz 1857, S. 13. 113 „laudare le disunioni è come laudare in un infermo la infermità, per la bontà del remedio che gli è stato applicato.“ Ebd., S. 13.
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Machiavelli hochgelobte innere Konflikt der römischen Republik wurde von Guicciardini schlicht unter die politischen Krankheiten rubriziert.¹¹⁴ Machiavelli und Campanella teilten hingegen den Gedanken, dass eine qualitativ ‚schlechte‘ Ursache nicht notwendigerweise eine qualitativ ‚schlechte‘ Wirkung hervorbringen musste. So postulierte Campanella sehr politisch in Hinblick auf das Fieber: „Somit irren sich jene, die das Fieber für schlecht halten, wenn auch seine Ursache schlecht ist, so wie jene Häretiker, die es für illegitim und verwerflich halten, gegen Christen Krieg zu führen, und die Stoiker, die jede Art der Wut verurteilen.“¹¹⁵ Darüber hinaus stimmten Machiavelli und Campanella darin überein, dass sie konfliktuelle Konstellationen weder in politischen noch in natürlichen Körpern für problematisch hielten. Vielmehr erschien die Existenz zweier antagonistischer Prinzipien Bedingung für die Entstehung von Bewegung. Das antagonistische Prinzip erwies sich als konstruktiv, da den natürlichen und den politischen Gebilden die Fähigkeit zur Selbstregulierung ohne die Intervention Dritter zugesprochen wurde. Während Palazzo die politischen Gebilde zwangsläufig einem Degenerationsprozess ausgesetzt sah, der nur durch eine konstante ärztliche Überwachung zu bremsen war, was einen permanenten Regierungs- und Regulierungsbedarf mit der Zielsetzung der Ruhigstellung schuf, erklärte Campanella den Konflikt zur Ursache von physiologischer Dynamik und hieß diese gut. Die These der aus einem antagonistischen Verhältnis resultierenden Bewegung, die sich selbst zu regulieren vermochte, manifestierte sich dabei sowohl in physiologischem – medizinischem und naturphilosophischem – als auch in politischem Zusammenhang. Obwohl Machiavelli und Campanella das Prinzip des dynamischen Gleichgewichts erörterten, tat sich hier kein erkennbarer Zusammenhang zu irgendeiner explizit physikalischen Bewegungslehre auf, von jener Leibniz’ ganz zu schweigen. Stattdessen fand Campanella in Telesio einen „Theoretiker der Kraft“, dessen Spekulationen nicht physikalisch, sondern physiologisch waren. Für Campanella stellte die frühneuzeitliche Physiologie, verstanden als Lehre der allgemeinen Prinzipien, die den natürlichen Prozessen und Phänomen zugrunde lagen, einen wichtigen und vergessenen Ansatzpunkt für die Analyse politischer Dynamik dar.
114 Foucault hat Guicciardini unter die ‚Praktiker‘ der Staatsräson gerechnet, die sich zugleich durch eine dynamische Konzeption auszeichneten. Das ist in Hinblick auf die Innenpolitik ein Irrtum. 115 „Igitur errant putantes febrem esse malam, licet eius causa sit mala, sicuti et illi haeretici, qui bellare Christianis illicitum et culpabile esse putant, et stoici omnem iram damnant.“ Campanella, Medicinalia, S. 599.
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2.2 Pathophysiologie des politischen Aufstands – physiologische und politische Dynamik bei Francis Bacon 2.2.1 Bacons Naturphilosophie Auch für Francis Bacon stellte die Physiologie ein wichtiges heuristisches Modell für die politische Analyse dar. Insbesondere in seinem Essay Of Seditions and Troubles (1625)¹¹⁶ diskutierte Bacon politische Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund physiologischer Dynamik, wie er sie ausführlich in seinem Traktat über die Physiologie des Alterns, History of Life and Death (Historia vitae et mortis, 1623),¹¹⁷ behandelt hatte. History of Life and Death untersuchte die medizinischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung.¹¹⁸ Im Folgenden soll der Zusammenhang zwischen den von Bacon in Of Seditions and Troubles postulierten Gesetzmäßigkeiten des politischen Lebens und den physiologischen oder natürlichen Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien untersucht werden. Das heißt auch, Bacon von einer ungewohnten Seite zu zeigen. Sein Ruhm gründete zweifellos auf seinem programmatischen Entwurf zur Konstitution neuer Wissenschaften, wie er ihn in seinen bekannten Schriften The Advancement of Learning (1605)¹¹⁹ und Novum organum (1620) formuliert hatte. Programm und Methode dieser ‚neuen Wissenschaften‘ bestand nicht zuletzt in der Forderung nach einem induktivem Vorgehen, das aus experimentell gewonnenem und erfahrungsbasiertem Datenmaterial schlussfolgern sollte. Bacons naturphilosophische Schriften der Instauratio magna sind weniger bekannt. Ihr Anliegen war ein zweifaches – zum einen die Schaffung eines neuen Wissenskorpus zum Zweck der Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen,¹²⁰ zum anderen die Darstellung des eigenen Wissens über die
116 Beim Zitieren Bacons wird der von Graham Rees herausgegebenen und kommentierten, aber bislang unvollständigen Werkausgabe The Oxford Francis Bacon. Hg. von G. Rees. 15 Bde. Oxford u. a. 1996– [im Folgenden OFB] der Vorzug gegeben, sofern der Text in ihr vorhanden ist. Alle anderen Texte Bacons werden zitiert nach The Works of Francis Bacon. Hg. von J. Spedding, R.L. Ellis, D.D. Heath. 14 Bde. London 1857–74 [im Folgenden SEH]. 117 Francis Bacon: The History of Life and Death. OFB XII, S. 141–377. [Im Folgenden HVM]. 118 Ein ähnliches Thema behandelte das frühere Traktat De vijs mortis (1611). Das Manuskript wurde erst im 20. Jahrhundert entdeckt und 1984 erstmals gedruckt. Vgl. Graham Rees: Introduction. The Texts: Chronology and the Instauratio magna. OFB VI, S. XVII–CXVI, S. XXXI; Graham Rees: Francis Bacon’s Natural Philosophy: A New Source. Chalfont St. Giles, Bucks 1984. 119 Wie viele Schriften Bacons existiert der Text in mehreren Fassungen. Die lateinische Version De dignitate et augmentis scientiarum (1623) ist deutlich länger als die frühe englische Fassung. 120 Rees, Introduction, OFB VI, S. XXXVI.
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Natur. Bacons Naturphilosophie ist jedoch nicht so modern, wie man von dem enthusiastischen Verfechter der ‚neuen Wissenschaften‘ erwarten könnte. Bacon nahm etwa die astronomischen oder physikalischen Theorien Galileo Galileis nicht zur Kenntnis, und, was noch bemerkenswerter war, von der Theorie des doppelten Blutkreislaufs keine Notiz, obwohl sie in seinem unmittelbaren Umfeld entstand, da William Harvey seit 1618 als Leibarzt für Bacon tätig war. Zur Anatomie hat Bacon nichts geschrieben, wahrscheinlich, weil ihm ebenso wie Campanella die experimentelle Erfahrung fehlte.¹²¹ Zur Physiologie äußerte er sich umso intensiver, da das allgemeine Studium der Natur seinen Interessen und Kenntnissen entgegenkam. Man kann das ‚Physiologisieren‘ als regelrechtes Programm von Bacons großem, unvollendet gebliebenen Projekt der Instauratio magna verstehen, innerhalb dessen sämtliche naturphilosophische Schriften Bacons zu verorten sind. Neben den beiden erwähnten Untersuchungen zur menschlichen Physiologie, in denen die Elemente, Temperamente, Spiritus und Fakultäten erörtert wurden, zählen dazu Schriften zur allgemeinen Physiologie der Natur wie die History of Winds (Historia ventorum, 1622)¹²² und On the Ebb and Flow of the Sea (De fluxu et refluxu maris, 1611).¹²³ Den naturphilosophischen Schriften Bacons wurde erst seit etwa 1990 größeres Interesse entgegen gebracht, wenn man von Graham Rees absieht, der schon in den 1970er Jahren zahlreiche Aufsätze über die Naturphilosophie Bacons vorgelegt hat.¹²⁴ Rees’ Initiative ist auch die Neuedition Bacons in einer kommentier-
121 Bacon war der Kultur des Selbstexperiments gegenüber allerdings sehr aufgeschlossen, wie aus seinem Bericht hervorgeht: “A certain gentleman who, in playful mood and out of curiosity, wanting to know what people suffered when they were hanged, hanged himself.” Der Gentleman entrann dem experimentellen Tod nur knapp durch die Anwesenheit eines Freundes, der ihm auf den Stuhl zurückhalf, von dem er heruntergesprungen war. Bacon, HVM, OFB XII, S. 341. 122 Francis Bacon: History of the Winds, OFB XII, S. 18–131. 123 Francis Bacon: On the Ebb and Flow of the Sea. OFB VI, S. 64–93. 124 Graham Rees: Matter Theory: A Unifying Factor in Bacon’s Natural Philosophy? In: Ambix 24 (1977), S. 110–125, S. 121; ders: Francis Bacon’s Biological Ideas: A New Manuscript Source. In: Brian Vickers (Hg.): Occult and Scientific Mentalities in the Renaissance. Cambridge u. a. 1984, S. 297–314; ders.: Bacon’s Philosophy: Some New Sources With Special Reference to the Abecedarium Novum Naturae. In: Marta Fattori (Hg.): Francis Bacon. Terminologia e fortuna nel XVII secolo. Rom 1985, S. 223–244; Guido Giglioni: The Hidden Life of Matter: Techniques for Prolonging Life in the Writings of Francis Bacon. In: Julie Robin Solomon, Catherine Gimelli Martin (Hg.): Francis Bacon and the Refiguring of Early Modern Thought. Essays to Commemorate The Advancement of Learning (1605–2005). London 2005, S. 129–144; ders.: Mastering the Appetites of Matter. Francis Bacon’s Sylva Sylvarum. In: C.T. Wolfe, O. Gal (Hg.): The Body as Object and Instrument of Knowledge: Embodied Empiricism in Early Modern Science. Dordrecht u. a. 2010, S. 149–167; Guido Giglioni: Francis Bacon. In: Peter Anstey (Hg.): Oxford Handbook of the History of British Philosophy in the Seventeenth Century. Oxford u. a. 2013, S. 41–73, S. 41.
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ten Werkausgabe zu verdanken, die für die Rezeption seiner Naturphilosophie ein wichtiges Hilfsmittel ist. Trotz seiner vielfältigen praktischen Erfahrungen mit der Politik hat Bacon sich theoretisch kaum über sie geäußert. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten unter der Regierung Elisabeths I. gelang dem studierten Juristen unter Jakob I. der Aufstieg zum Generalstaatsanwalt (1607), Generalfiskal (1613) bis hin zum Lordsiegelbewahrer im Jahr 1617 und Lordkanzler und Baron von Verulam (1618). 1621, im Jahr seiner Ernennung zum Viscount of St. Albans, nahm seine Karriere durch die Anklage wegen Bestechlichkeit ein unrühmliches Ende. Bacon sah sich hauptsächlich als Berater von Herrschern und anderen mächtigen Politikern, ein Anspruch, den er auch nach dem Ende seiner politischen Tätigkeit nicht aufgab.¹²⁵ Diese Position prägte auch seine politischen Schriften, die oft als Gutachten oder Counsels zu bestimmten politischen Themen in Erscheinung traten und zumindest theoretisch beanspruchten, die Basis für weitreichende politische Entscheidungen zu bilden.¹²⁶ Auch der Titel seiner berühmten Essays verwies auf das Beratungsthema – nicht zufällig hießen sie The Essayes or Counsels, Civill and Morall (1625). Was die gleichzeitige Betätigung Bacons in der Naturphilosophie und der praktischen Politik anbetraf, so hatte sie System: Seit Beginn seiner Karriere versuchte er sich auf beiden Gebieten gleichermaßen zu profilieren.¹²⁷ Umso erstaunlicher, dass Untersuchungen über die Interferenzen zwischen Bacons Naturphilosophie und politischer Theorie bislang nicht existieren. Für das Thema dieser Arbeit ist besonders interessant, dass sich der gelehrte Jurist Bacon nicht durch die Abfassung juristischer, sondern naturphilosophischer Schriften einen Namen machen wollte. Das spricht für das Renommee, das die Naturphilosophie in seinen Augen hatte.
2.2.2 Pathophysiologie des politischen Aufstands Bacons Essay Of Seditions and Troubles (1625)¹²⁸ befasst sich ausschließlich mit der Problematik politischer Aufstände. Es handelt sich um ein gängiges Thema
125 Markku Peltonen: Bacon’s Political Philosophy. In ders. (Hg.): The Cambridge Companion to Bacon. Cambridge u. a. 1996, S. 283–310, S. 283. 126 Vgl. etwa die Schriften zur Einbürgerung der Schotten oder zur Kolonialisierung Irlands: A Brief Discourse touching the Happy Union of the Kingdoms of England and Scotland (1603) oder Certain Considerations Touching the Plantation in Ireland Presented to His Majesty (1608). 127 Giglioni, Francis Bacon, S. 1. 128 Der Essay fand sich in einer kurzen Fassung erstmals im Manuskript MS Harleian 5106 der British Library, das ungefähr zwischen 1610 und 1612 entstand. Vgl. Michael Kiernan: Textual
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politischer Erörterungen,¹²⁹ das Bacon ausgesprochen medizinisch anging, indem er ausdrücklich die Untersuchung von Vorzeichen, Ursachen, Symptomen und Heilmitteln gegen das aus seiner Perspektive unwillkommene Übel des politischen Lebens ankündigte: “And let us speake first of the Materials of Sedition; then of the Motives of them; And thirdly of the Remedies.”¹³⁰ Dabei orientierten sich die Kategorien “materials” und “motives” an den ersten beiden der in Aristoteles’ Physik formulierten vier Arten von Ursachen, der Materialursache (causa materialis), Wirkursache (causa efficientis), Formursache (causa formalis) und der Zweckursache (causa finalis). Heilmittel spielten in der aristotelischen Physik jedoch keine Rolle, was zeigt, dass sich Bacon nicht in aristotelischer Klassifikation übte, sondern eine quasimedizinische Untersuchung der politischen Krankheit des Aufstands vorlegte. Auf Bacons medizinisch-naturphilosophische Inspiration verwies auch seine Forderung, die Vorzeichen der politischen Aufstände ebenso aufmerksam zu beobachten wie jene, die den Naturereignissen vorauszugehen pflegten: Shepheards of People, had need know the Kalenders of Tempests in State; which are commonly greatest, when Things grow to Equality; As Naturall Tempests are greatest about the Aequinoctia. And as there are certaine hollow Blasts of Winde, and secret Swellings of Seas, before a Tempest, so are there in States.¹³¹
Foucault vermutete, dass Bacon Aufstände als eine Möglichkeit betrachtete, die virtuell in jedem Staat angelegt war.¹³² Das traf allerdings nicht nur auf Bacon, sondern auf alle Autoren, die dem Thema des politischen Aufstands eigene Kapitel widmeten, zu. Foucault postulierte weiterhin, dass jenes Herrschaftswissen in Gegensatz zur Sphäre der Natur und ihren Gesetzmäßigkeiten stünde und eine eigene spezifische Sphäre bildete. Die Dinge, die ein Souverän kennen musste, seien das, „was man damals Statistik nennt.“¹³³
Introduction. OFB XV, S. LIII–CXV, S. LXXIV. Die Kurzfassung wurde erstmals in italienischer Übersetzung in den Saggi morali del Signore Francesco Bacono (1618) gedruckt. Die Basis der hier verwendeten langen Fassung ist die gedruckte Ausgabe der Essays von 1625. Vgl. Kiernan, Textual Introduction, OFB XV, S. LXXXV–LXXXIX. 129 Es findet sich auch in einem von Bacon weit entfernten Genre der politischen Literatur, den mit dem Prozedere der Papstwahl befassten Konklaveschriften. Vgl. etwa „Se per quietar le rebellioni siano megliori i remedij dolci, ò violenti“. In Biblioteca Corsini [BCORS], Cod. 443, f. 318–324. Zu den Konklaveschriften vgl. hier Kap. 3.3. 130 Bacon, Of Seditions and Troubles, OFB XV. S. 43–50, S. 45. 131 Bacon, Seditions, OFB XV, S. 43. 132 Foucault, Gouvernementalität I, S. 392. 133 Ebd., S. 396.
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Bei Bacons Entwurf des Regierungshandelns kann jedoch nicht die Rede davon sein, dass keine Bezugnahme auf die natürliche Ordnung und ihre Gesetzmäßigkeiten¹³⁴ stattfände. Vielmehr basierte Bacons Forderung nach einer Früherkennung von Vorzeichen politischer Veränderungen und ihrer korrekten Deutung auf einem semiotischen Verfahren, einer Kunst des Zeichendeutens, die in der Medizin zur Diagnose und Prognose eingesetzt wurde.¹³⁵ Die medizinische Semiotik war Teil einer allgemeinen Zeichenlehre, die in einer Vielzahl sogenannter artes coniecturales praktiziert wurde. Zu ihnen zählten die Astrologie, Physiognomie, Stirn- und Handlesekunst sowie die Wettervorhersage.¹³⁶ Genau dieses Verfahren wendete Bacon bei seiner Suche nach Vorzeichen an, welche die nachfolgenden Ereignisse, namentlich Aufstände, anzukündigen pflegten, ebenso wie Stürmen verborgene, fast unmerkliche Zeichen vorausgingen: “As there are certaine hollow Blasts of Winde, and secret Swellings of Seas, before a Tempest, so are there in States.”¹³⁷ Darüber hinaus folgte Bacons Unterscheidung zwischen Vorzeichen, Symptomen, Ursachen und Heilmitteln dem Aufbau von gelehrten und populären pathologischen Schriften, die ebenfalls zwischen Ursache und Zeichen, bzw. Symptom und Heilmittel unterschieden.¹³⁸ Damit verortete Bacon Aufstände terminologisch und strukturell im Bereich der politischen Pathologie. Bacon erwies sich den politischen Krankheiten gegenüber aufgeschlossener als den normalen Krankheiten, die er in History of Life and Death, wo er sich nur mit dem Problem des natürlichen Todes befassen wollte, ausdrücklich an die gelehrten Mediziner delegierte.¹³⁹ Ihm ging es naturphilosophisch allein um die Physiologie, von deren Fortschritt er auch jenen der Medizin abhängig machte: Meanwhile let no one hope for great progress in the sciences (especially the operative department) unless natural philosophy be extended to the particular sciences, and these in their turn reduced to natural philosophy.¹⁴⁰
134 Ebd., S. 372. 135 Zur frühneuzeitlichen medizinischen Zeichenlehre vgl. Maclean, Logic, Signs and Nature, S. 276–332. 136 Ebd., S. 280 f. Vgl. auch hier Kap. 3.1.2. 137 Bacon, Seditions, OFB XV, S. 43. 138 “Its generic layout (cause – sign or symptom; or cause – sign or symptom – remedy) is ubiquitous, and is even found in Renaissance popular or layman’s handbooks of therapy.” Maclean, Logic, Signs and Nature, S. 277. 139 Bacon, HVM, OFB XII, S. 145. Das Verständnis des natürlichen Todes als nicht krankheitsbedingt stammte von Aristoteles und war in der aristotelisch-galenischen Tradition verbreitet. Vgl. Schäfer, Alter und Krankheit, S. 43. 140 Bacon: Novum organum, OFB XI. S. 51–447, S. 127.
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Von der pathophysiologischen Inspiration Bacons zeugt auch, dass er in Of Seditions and Troubles ausschließlich jene Mittel und Techniken besprach, die dem Erhalt von Staaten dienten. Er differenzierte zwischen Mitteln zum Erhalt und zur Expansion des Staates: Letztere bildeten den Gegenstand eines eigenen Essays, Of the True Greatness of Kingdoms and Estates (1625).¹⁴¹ Während sich Bacons Überlegungen zum Erhalt des Staats auf die Innenpolitik konzentrierten und vor dem Hintergrund des Modells der Pathologie diskutiert wurden, waren jene zur Expansion stark außenpolitisch ausgerichtet und wurden im Kontext der Lebensverlängerung erörtert.¹⁴² Bereits die von Bacon ins Feld geführten Materialursachen politischer Aufstände waren physiologischer Natur, verstanden als jene Prozesse, die sich innerhalb von Lebewesen vollzogen. So benannte er zwei wesentliche Materialursachen, “Much Poverty, and much Discontentment”.¹⁴³ Im Fall von großer Armut war die Gefahr besonders dann virulent, wenn sowohl Volk als auch die oberen Gesellschaftsschichten ökonomische Schwierigkeiten hatten. And if this Poverty, and Broken Estate, in the better Sort, be joined with a want and Necessity, in the meaner People, the danger is imminent, and great. For the Rebellions of the Belly are the worst.¹⁴⁴
Die „Rebellion des Magens“ verwies zunächst auf die Fabel des Menenius Agrippa, die von zahlreichen römischen Historikern wie Livius, Dio Cocceianus und Dionysios von Halikarnassos überliefert wurde und deren Wurzeln bis zu Aesop zurückreichten.¹⁴⁵ Mit diesem Gleichnis soll der römische Senator Menenius Agrippa 494 vor Christus die nach der Vertreibung der Tarquinier mit der Herrschaft des Senats unzufriedenen Plebejer nach ihrer secessio in montem sacrum zur Rückkehr nach Rom bewogen haben. Bei Livius stellte der Senator den rebellischen Plebejern vor Augen, dass der Aufstand der Glieder gegen den scheinbar untätigen Magen, den Senat, dem ganzen Körper schade. Schließlich verdanke man dem Magen allein die Versorgung aller Körperteile mit Nahrung. So gereiche sein Aushungern nicht nur ihm, sondern dem ganzen Körper zum Schaden. Diese Fabel ist unzählige Male als master narrative des politischen
141 Eine frühere Version von Of the True Greatness of Kingdoms and Estates [Im Folgenden TGKE] erschien in der Ausgabe der Essays von 1612 unter dem Titel Of the True Greatness of the Kingdom of Britain. 142 Zum zweiten Aspekt vgl. hier Kapitel 4.3. 143 Bacon, Seditions, OFB XV, S. 45. 144 Ebd., S. 45 f. 145 Aesop, Fabeln 206 und 286. Vgl. Le Goff, Head or Heart, S. 13.
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Körpers ins Feld geführt worden,¹⁴⁶ jedoch bevorzugt in Hinblick auf anatomische Überlegungen, was insofern verwundert, als der Magen anatomisch nicht halb so interessant ist wie physiologisch. Bei Galen zählte der Magen nicht zur klassischen Trias von Leber, Herz und Gehirn. Gleichwohl war er physiologisch wichtig, da sich in ihm die erste Stufe der Transformation von Nahrung in Blut vollzog. So bestand bei Bacon die Pointe der „Rebellion des Magens“ gerade in der Identifikation des Magens mit der verarmten Bevölkerung, womit er eine neue Beziehung zwischen dem armutsbedingt leeren und daher rebellierenden Magen schuf. Der „rebellierende Magen“ geriet hier zur Chiffre für eine konkrete politische Gefahr, die Subsistenzkrise. Bacon unternahm keine Zuordnung von gesellschaftlichen Ständen zu Organen und Körperteilen, wie es etwa in Richard Lovelaces A Mock Song (um 1659) mit Bezug auf den Englischen Bürgerkrieg der Fall war: Now the Sun is unarm’d And the Moon by us charm’d All the Stars dissolv’d to a Jelly; Now the Thighs of the Crown, And the Arms are lopp’d down, And the Body is all but a Belly.¹⁴⁷
Bei Bacon war die Gefahr des rebellierenden Magens dann am größten, wenn es durch die gemeinsame Betroffenheit von Armut zur Vereinigung der Interessen mehrerer Bevölkerungsschichten, dem Volk und den höheren Ständen, kam. Bacon stellte die Bedeutung des Magens in Hinblick auf seine Funktionalität auch in History of Life and Death heraus, wo er ihn zum Hausvater des Körpers, zum pater familias, ernannte, von dessen physiologischer Haushaltsführung der gesamte Organismus abhing: “the stomach (which is (as they say) the paterfamilias whose strength is the foundation of all the other concoctions).”¹⁴⁸ Aufgrund seiner zentralen Bedeutung für den Verdauungsprozess erhob Bacon den Magen neben der kanonischen Trias von Leber, Herz und Gehirn sogar in den Rang eines vierten Zentralorgans. Die originelle Postulierung einer Quaternität von Zentral-
146 Vgl. Hale, Body Politic, S. 27 f.; Dohrn-van Rossum, Politischer Körper, Organismus, Organisation, S. 59–63; ders.: Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 4. Stuttgart 1993, S. 519–560, S. 526; Dietmar Peil: Der Streit der Glieder mit dem Magen: Studien zur Überlieferungs- und Deutungsgeschichte der Fabel des Menenius Agrippa von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. u. a. 1985. 147 Richard Lovelace: The Poems. Hg. von C.H. Wilkinson. Oxford 1925, S. 155. 148 Bacon, HVM, OFB XII, S. 295.
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organen – “the four principal members”¹⁴⁹ – anstelle der üblichen Trias war ein systematischer Rückschluss von dem Transformationsprozess der Nahrung in spiritus in vier Kochungen (concoctiones) auf eine entsprechende Vierzahl beteiligter Organe: And the four digestions (in the stomach; in the liver; in the arteries and nerves, and in the several parts of the body) are likewise called concoctions; and they are all made to be the works of heat.¹⁵⁰
Zudem konvergierte eine Quaternität von Organen besser als eine Trias mit der von Bacon vertretenen Vierzahl chemischer Substanzen, die den Kosmos durchwalteten.¹⁵¹ Bacons Hinweis auf die Gefahr, die von der Vereinigung mehrerer Stände ausging, zeigt, dass er den politischen Konflikt weniger fürchtete als die Einigkeit. Nicht der Interessengegensatz, sondern die Vereinigung von antagonistischen politischen Kräften bildete eine Gefahr für den Herrscher: When one of these is Discontent, the danger is not great, For Common People, are of slow Motion, if they be not excited, by the Greater Sort; And the Greater Sort are of small strength [...]. Then is the danger, when the Greater Sort doe but wait for the Troubling of the Water, amongst the Meaner, that then they may declare themselves.¹⁵²
Das wies Bacon als Anhänger Machiavellis aus und dessen Konzeption eines spannungsvollen Gleichgewichts, der auf einem Antagonismus der politischen Kräfte beruhte. Doch Bacon wollte nicht nur auf den vieldiskutierten Gemeinplatz der Literatur der Staatsräson hinaus, der Politikern empfahl, zur Sicherung der Herrschaft Konflikte unter den Untertanen zu schüren, sondern er begründete seine Befürwortung des politischen Antagonismus naturphilosophisch. Denn eine antagonistische Struktur durchwaltete nach Ansicht Bacons, der ebenso von Telesio inspiriert war wie Campanella, das gesamte Reich der Natur.¹⁵³ Da die
149 Ebd., S. 295. 150 Bacon, Sylva Sylvarum. SEH II, S. 339–680, S. 613. 151 Die Annahme von vier Zentralorganen könnte von Ficino inspiriert sein, der sich in De vita mit großer Selbstverständlichkeit über vier Hauptorgane ausließ, allerdings ohne diese Idee zu systematisieren. Ficino, Three Books on Life III, S. 247. Zu Bacons Ficino-Rezeption vgl. hier Kap. 4.3. 152 Bacon, Seditions, OFB XV, S. 48. 153 Möglicherweise kannte Bacon Telesio nur vermittelt durch Campanella. Giglioni nennt den Einfluss Telesios auf Bacon wohlbekannt, doch die drei Aufsätze, die er als Beleg anführt, sind nicht ergiebig. Vgl. Giglioni, Mastering the Appetites, S. 160; Valeria Giachetti Assenza: Bernardino Telesio: il migliore dei moderni. I riferimenti a Telesio negli scritti di Francesco Bacone. In:
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Politik ein Teil von Bacons materiellem Universum war, in der auch Materialursachen am Werk waren, war es nicht verwunderlich, dass in beiden Sphären das gleiche antagonistische Prinzip wirkte. Aus diesen naturphilosophischen Überlegungen resultierte die Annahme, dass Bewegung sowohl in der Politik als auch in der Natur den natürlichen Zustand darstellte. Das ließ Ruhe und Bewegungslosigkeit verdächtig erscheinen, sie waren notwendigerweise trügerisch. So beendete Bacon im Novum organum seine Klassifikation von 19 einfachen Bewegungsarten der Materie¹⁵⁴ mit einer Diskussion über das Zusammenwirken dieser einfachen Kräfte. Der Ruhezustand mehrerer materieller Körper erschien als das Ergebnis eines Ausgleichs zwischen zwei entgegengesetzten Kräften: For in bodies here with us there is no true rest in wholes or parts save in outward appearance. Now this apparent rest is caused either by Equilibrium, or by absolute Ascendency of motions – by the former, as in scales which stay level if the weights are the same.¹⁵⁵
Der Kräfteausgleich indizierte weder in der Natur noch im Staat einen Zustand der Ruhe, sondern der maximalen Spannung. Es handelte sich um einen scheinbaren und daher gefährlichen Stillstand, der jenem glich, der zwischen zwei Ringern herrschte: Yet we must [...] note how far the yielding motions struggle on. For if someone is pinned to the ground in a wrestling bout, and bound hand and foot, or held down otherwise, and yet with all his stength still struggles to get up, his resistence is no less because it gets him nowhere.¹⁵⁶
So verwies Bacon auf die besondere Gefahr politischer Turbulenzen durch einen Ausgleich:
Rivista di Storia della Filosofia 35 (1980), S. 41–78; Enrico de Mas: Bernardino Telesio e la falsità di Aristotele. Il giudizio di Bacone e di Tobia Adami. In: Atti del Convegno Internazionale di Studi su Bernardino Telesio. Cosenza 1990, S. 167–179; Jean-Claude Margolin: Bacon, lecteur critique d’Aristote e de Telesio. In: Atti del Convegno Internazionale di Studi su Bernardino Telesio. Cosenza 1990, S. 135–166. 154 Vgl. Bacon: Novum organum, OFB XI, S. 384–417. Wir würden diese Bewegungen als physikalische Kräfte bezeichnen. Wie Aristoteles verstand Bacon Bewegung nicht nur als Ortsbewegung, sondern fasste zahlreiche Prozesse darunter, die mit qualitativen Veränderungen der Materie einhergingen. 155 Ebd., S. 417. 156 Ebd., S. 417.
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Shepherds of People, had need know the Kalendars of Tempests in State; which are commonly greatest, when Things grow to Equality; As Naturall Tempests are greatest about the Aequinoctia.¹⁵⁷
Mit den Äquinoktialstürmen rekurrierte Bacon auf ein Phänomen, oder vielmehr ein hartnäckiges Gerücht, das unter Seeleuten verbreitet war. In der Karibik und bei den Westindischen Inseln waren Hurricans zum Zeitpunkt des Herbstäquinoktiums tatsächlich häufig. Es handelte sich aber um ein genuin tropisches Phänomen, das in gemäßigten Breitengraden nicht anzutreffen war, auch wenn seine Existenz bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein behauptet wurde.¹⁵⁸ Bacon verortete Äquinoktialstürme zunächst geographisch korrekt in Mittelamerika und bemerkte: “in Peru at the equinox, winds are frequent because of the great variability of the heat between day and night.”¹⁵⁹ Die Rückführung der Stürme auf den starken Temperaturunterschied zwischen Tag und Nacht zeigt, dass in Bacons Augen zwei Prinzipien zusammenstießen, jene der Wärme und der Kälte, die von Tag und Nacht verkörpert wurden, wie es Campanella unter Rekurs auf Telesio formuliert hatte: Thus these natures [hot and cold] and their concretions have the appetite and faculty of constantly generating, multiplying and spreading themselves in all directions, of occupying the whole mass of matter, of mutually attacking and invading one other, of dislodging and ejecting one another from their proper seats and establishing themselves in them.¹⁶⁰
Die Tag- und Nachtgleichen erschienen vor dem Hintergrund des telesianischen Wärme-Kälte-Dualismus als Inbegriff des Moments der maximalen Spannung zwischen den beiden Kräften der Wärme und der Kälte.
2.2.3 Bacons Fiebertheorie Bacon vertrat wie Campanella die Meinung, dass Bewegung und Wärme sowohl in der Natur als auch in der Politik den Normalzustand darstellten. Doch im Gegensatz zu Campanella bestand er darauf, dass beides nur in moderatem Maß gutzuheißen war. Politische Aufstände setzte er dem physiologischen Zustand des Fiebers gleich, den er weder für das Individuum noch für den Staat befürwor-
157 Bacon, Seditions, OFB XV, S. 43. 158 Vgl. H.H.K.: The Equinoctial Storm. In: Monthly Weather Review 29, 11 (1901), S. 508 f. S. 508. 159 Bacon, History of the Winds, OFB XII, S. 73. 160 Bacon, On Principles and Origins, OFB VI, S. 231 f.
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tete: “As for Discontentments, they are in the Politique Body, like to Humours in the Naturall, which are apt to gather a preternaturall Heat, and to Enflame.”¹⁶¹ Die These des Fiebers als “preternatural heat” war derjenigen Campanellas diametral entgegengesetzt, was sich auch dadurch äußerte, dass Bacon das Fieber ausdrücklich als Krankheit bezeichnete.¹⁶² Die Differenzierung zwischen einer natürlichen inneren Wärme, dem calor innatus, und einer unnatürlichen, äußerlich verursachten fiebrigen Hitze stammte von Aristoteles.¹⁶³ Von ihm übernahmen Galen und Avicenna die Dichotomie zwischen dem natürlichen calor innatus und dem pathologischen Zustand des Fiebers,¹⁶⁴ der einem stark lodernden Feuer glich.¹⁶⁵ Bacon übertrug diese Unterscheidung auf den politischen Sachverhalt des Aufstands und kam zum Schluss, dass die Entfernung des Brennmaterials, als das er Armut und Unzufriedenheit identifizierte, der beste Schutz vor politischer Überhitzung sei: “For if there be the Fuell prepared, it is hard to tell, whence the Spark shall come, that shall set it on Fire.”¹⁶⁶ Bacon unterschied politisch nicht nur präzise zwischen natürlichen und unnatürlichen, bzw. pathologischen Formen der Körperwärme, sondern benannte auch verschiedene Ursachen für die körperliche Erhitzung. Gesund waren jene Arten von erhöhter Körpertemperatur, die aus körperlicher Ertüchtigung resultierten: No Body can be healthfull without Exercise, neither Naturall Body, nor Politique: And certainly, to a Kingdome or Estate, a Just and Honourable Warre, is the true Exercise. A Civill Warre, indeed, is like the Heat of a Feaver; But a Forraine Warre, is like the Heat of Exercise, and serveth to keepe the Body in Health: For in a Slothful Peace, both Courages will effeminate, and Manners Corrupt.¹⁶⁷
Die pathologische Fieberhitze von Aufständen bezog er streng auf die Innenpolitik, während er außenpolitische Konflikte als gesundheitsförderliche Exerzitien darstellte. Bacons politische Fiebertheorie legitimierte auch seine imperialen Interessen. In innenpolitischer Hinsicht plädierte er hingegen für die Regulierung der Körpertemperatur. So musste die Flamme des calor innatus konstant auf mittlerer Hitze gehalten werden, um einer pathologisch überhöhten Temperatur
161 Bacon, Seditions, OFB XV, S. 46. 162 Bacon sprach von “fevers, and various illnesses”. Bacon, HVM, OFB XII, S. 249. 163 Peter H. Niebyl: Old Age, Fever, and the Lamp Metaphor. In: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences XXVI, 4 (1971), S. 351–368, S. 355. 164 Vgl. ebd., S. 355, 359. 165 Ebd., S. 354. 166 Bacon, Seditions, OFB XV, S. 45. 167 Bacon, TGKE, OFB XV, S. 89–99, S. 97.
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vorzubeugen. Die Kontrolle über die Körpertemperatur war physiologisch nur möglich, indem man die Ursache des Erwärmungsprozesses kontrollierte, die spiritus: If the spirit endures an insult from another heat far stronger than its own it is dissipated and destroyed. [...] We see this in burning fevers where the heat of putrefied humours surpasses the native heat to the point of extinguishing or dissipating it.¹⁶⁸
Die pathologische Hitze des Fiebers war das Ergebnis eines unnatürlichen Aufsiedens der spiritus, das aus ihrer ungezügelten hitzebedingten Vermehrung resultierte: Now for a brief inquiry concerning the abundance of the spirits, that they may not surge or boil up but rather be scanty and stay within limits (seeing that a small Flame is not as predacious as a large one).¹⁶⁹
Wie Campanella diskutierte auch Bacon die Fieberlehre auf der Grundlage einer medizinischen Spiritustheorie. Obwohl beide an der frühneuzeitlichen Tradition pneumatischer Theorien partizipierten, unterschied sich Bacons Spiritustheorie stark von anderen Spirituslehren.¹⁷⁰ Abweichend von den üblichen drei Arten von Spiritus, spiritus naturalis, spiritus vitalis und spiritus animalis, benannte Bacon nur zwei Arten von spiritus, die im Körper des Menschen und anderer Lebewesen mehr oder minder friedlich koexistierten: “In all living things there are two kinds of spirits: non-living ones of the kind found in inanimate substances, and the superadded vital spirits.”¹⁷¹ Bei den zwei Arten von spiritus handelte es sich um den unbelebten spiritus (spiritus mortualis), der alle Dinge des Kosmos durchwaltete, und den belebten spiritus (spiritus vitalis), welcher nur in Lebewesen zu finden war. Die unterschiedliche Konzentration des spiritus vitalis war für den
168 Bacon, HVM, OFB XII, S. 333. 169 Ebd., S. 261. 170 Eine eingehende Untersuchung des Verhältnisses von Bacons Spiritustheorie zu andern frühneuzeitlichen Spirituslehren existiert nicht. Weder Rees noch Klier äußern sich explizit dazu. Vgl. Rees, Introduction, OFB VI, S. XX; ders.: Francis Bacon and Spiritus Vitalis. In: Marta Fattori; Massimo L. Bianchi (Hg.): Spiritus. IV. Colloquio Internazionale. Roma, 7–9 gennaio 1983. Rom 1984, S. 265–281; Daniel Pickering Walker: Francis Bacon and Spiritus. In: Allan G. Debus: Science, Medicine and Society in the Renaissance: Essays to Honor Walter Pagel. 2 Bde. Bd. 2. London 1972, S. 121–130; Marta Fattori: Spiritus dans L’Historia Vitae et Mortis de Francis Bacon. In: Marta Fattori, Massimo L. Bianchi (Hg.): Spiritus. IV. Colloquio Internazionale. Roma, 7–9 gennaio 1983. Rom 1984, S. 283–300; Klier, Spirituslehre. 171 Bacon, HVM, OFB XII, S. 351.
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Grad der Komplexität eines Lebewesens verantwortlich. Während er in Pflanzen netzwerkartig über das ganze Lebewesen verteilt war, verfügten Tiere und Menschen über eine zentrale Steuerungsinstanz im Gehirn.¹⁷² So erklärte Bacon das Weiterflattern geköpfter Hühner mit der Annahme, dass die spiritus vitalis aufgrund der Kleinheit ihres Gehirns stärker über den Gesamtorganismus verteilt seien, was zu der lebhaften Bewegung desselben auch nach der Enthauptung führe.¹⁷³ Bei Menschen und höheren Organismen residierten sie hauptsächlich im Gehirn. Die lokale Bündelung des spiritus geriet Bacon zum Indikator für die zunehmende Komplexität eines Organismus, wobei für ihn der Mensch am oberen Ende der Komplexitätshierarchie rangierte.¹⁷⁴ Die allgegenwärtigen spiritus mortualis bewirkten zahlreiche materielle Transformationen im gesamten Kosmos, nicht zuletzt den materiellen Verfall,¹⁷⁵ und sie waren für meteorologische, mechanische und hydrodynamische Phänomene verantwortlich. Der ausschließlich in Lebewesen beheimatete spiritus vitalis erfüllte zwei zentrale Funktionen: Als eine Art kinetische Substanz verlieh er dem Körper die Fähigkeit zur Bewegung, und da er nach dem Vorbild von Telesios sensus mit Wahrnehmungsfähigkeit (perceptio) ausgestattet war, erfüllte er auch eine koordinative Funktion, die die verschiedenen Bewegungen und die Interaktion der Körperteile steuerte. Trotz ihrer verschiedenen Funktionen glichen sich die beiden Arten von spiritus in ihrer materiellen Beschaffenheit. Sowohl der spiritus mortualis als auch der spiritus vitalis waren Feuer-Luft-Verbindungen – “a mysterious union of the airy and the flamy nature.”¹⁷⁶ Sie waren zwar beide aus Feuer und Luft zusammengesetzt, doch zu unterschiedlichen Anteilen. So dominierte Luft den spiritus mortualis, Feuer den spiritus vitalis: “Indeed, spirit gets its easy and delicate impressions and receptions from the air, and from flame its noble and powerful motions, and capacity for action.”¹⁷⁷ Der feurige Anteil des spiritus vitalis war für die Bewegung verantwortlich.¹⁷⁸ Das Feuer habe man sich aber als eine sehr sanfte Flamme vorzustellen, nicht als prasselndes Kaminfeuer. Daher fungierte
172 Rees, Introduction, OFB VI, S. LVII. 173 Bacon, HVM, OFB XII, S. 339. 174 So konstatierte er in The Advancement of Learning: “But thus much is evidently true, that of all substances which nature hath produced, men’s body is the most extremely compounded.” Bacon, The Advancement of Learning. OFB IV, S. 1–204, S. 96. 175 “the spirit is the source of all dissolution and consumption.” Bacon, HVM, OFB XII, S. 159. 176 Ebd., S. 353. 177 Ebd., S. 377. 178 Ebd., S. 353.
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der spiritus vitalis als Initiator von Bewegungen, der einen unsichtbaren Anstoß gab und eine Art Dominoeffekt von Bewegungen auslöste: Yet not one of these actions would ever be sparked off but for the vigour and presence of the vital spirit, as well as its heat – just as one peace of iron would not attract another unless it had been stimulated by a loadstone, nor an egg ever become fertile if the female substance had not been actuated by the virility of the male.¹⁷⁹
Die spiritus vitalis gaben den Anstoß für alle dynamischen Prozesse innerhalb des Körpers: “The spirits are the craftsmen and workers who do everything that happens in the body.”¹⁸⁰ Sie sollten jedoch nicht wie besessen arbeiten, sondern am besten in einem gleichmäßigen Rhythmus: “steady, not twitchy or uneven in their motion.”¹⁸¹ Da Bacon Bewegung und Wärme als voneinander abhängig betrachtete, war die allzu schnelle Bewegung der spiritus auch deshalb schädlich, weil sie die Körpertemperatur erhöhte, was wiederum die Aktivität der spiritus potenzierte und diese in raubtierartige Bestien verwandelte: “For these give the spirits heat which is not workmanlike but rapacious.”¹⁸² Fieber erschien daher als eine Form der erhöhten Temperatur, die eine schädliche Wirkung auf die physiologischen Prozesse ausübte.
2.2.4 Die hierarchische Ordnung der politischen Dynamik Der spiritus vitalis trat als erster Beweger, als primum mobile¹⁸³ innerhalb der Lebewesen in Erscheinung. Sein initialer Impuls setzte sich von Glied zu Glied fort: “The nature of the spirits is as it were the chief cog which keeps all the other cogs in the human body turning.”¹⁸⁴ Das war eine ganz uncartesianische Maschinenmetapher.¹⁸⁵ Darüber hinaus schrieb Bacon dem Herrscher in der politischen Sphäre dieselbe Rolle zu, die in seinen Augen dem spiritus vitalis im Körper der
179 Ebd., S. 353. 180 Ebd., S. 245. 181 Ebd., S. 247. 182 Ebd., S. 259. 183 Genau genommen war der spiritus der ‚erste Bewegte‘ in der materiellen Welt, denn der Bewegungsanstoß ging von einem unbewegten ersten Beweger aus. 184 Bacon, HVM, OFB XII, S. 365. 185 Dies zu Sawdays Annahme, dass Maschinenmetaphern zwangsläufig cartesianisch sein müssten. Vgl. Sawday, Body Emblazoned, S. 22.
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Lebewesen zukam. Denn auch hier sollte der stärkste Bewegungsimpuls von dem Herrscher ausgehen, der als primum mobile agierte: For the Motions of the greatest persons, in a Government, ought to be, as the Motions of the Planets, under Primum Mobile; (according to the old Opinion:) which is, That Every of them, is carried swiftly, by the Highest Motion, and softly in their owne Motion.¹⁸⁶
Bacon begründete die These der hierarchischen Staffelung von Bewegungen auf dem politischen Parkett mit der astronomischen Theorie des Alpetragius, einem arabischen Aristoteliker des zwölften Jahrhunderts. Seine Bemühung, die ptolemäische Himmelsgeometrie mit der aristotelischen Physik in Einklang zu bringen, führte ihn zur These eines initialen Bewegungsanstoßes durch ein primum mobile in der obersten und gottnächsten Sphäre, der sich von Planetensphäre zu Planetensphäre sukzessiv abschwächte. Dementsprechend nahm er an, dass die Position eines Planeten in der Vertikalen und seine jeweilige Bewegungsgeschwindigkeit in einem proportionalen Verhältnis standen. Je niedriger der Planet und seine Sphäre, desto langsamer seine Umlaufgeschwindigkeit.¹⁸⁷ Die scheinbare tägliche Bewegung des Fixsternhimmels von Ost nach West, die sich aus der Erdrotation ergab, erschien Alpetragius als schnellste Himmelsbewegung. Das führte zur These einer einheitlichen Bewegung des Sternenhimmels westwärts. Aus dieser Perspektive schien es, als ob sich die äußeren Planeten mit dem längsten Bahnumlauf wie Saturn mit 29,5 Jahren und Jupiter mit 12 Jahren¹⁸⁸ am schnellsten bewegten, da sie ebenso schnell ‚liefen‘ wie der Fixsternhimmel, wohingegen der Mond mit seinem kurzen Bahnzyklus der Bewegung des Fixsternhimmels hinterherhechelte. Alpetragius’ Astronomie stand in Gegensatz zur ptolemäischen, die von einer Bewegung der Wandelsterne ostwärts ausging.¹⁸⁹ Zu Lebzeiten Bacons war die Theorie auch aufgrund der allgemeinen Anerkennung der Erdrotation, die schon von antiken Astronomen wie Herakleides und Aristarch von Samos behauptet worden war, obsolet.¹⁹⁰ Nach einer kurzen Wiederbelebung im sechzehnten Jahr-
186 Bacon, Seditions, OFB XV, 44 f. 187 Rees, Introduction, OFB VI, S. XL. 188 Die Dauer der Planetenumläufe war bereits seit der Antike relativ genau bekannt. Vgl. August Strobel: Weltenjahr, große Konjunktion und Messiasstern. Ein themageschichtlicher Überblick. In: Wolfgang Haase (Hg.): Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II. 20. 2. Berlin, New York 1987, S. 988–1187, S. 1009. 189 Vgl. John North: Cosmos. An Illustrated History of Astronomy and Cosmology. Chicago, London 2008, S. 41–43. 190 Ebd., S. 84.
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hundert durch Giovanni Battista Amico und Girolamo Fracastoro¹⁹¹ war Bacon im siebzehnten Jahrhundert buchstäblich ihr letzter verbliebener Anhänger. Trotz seiner Forderung nach ‚neuen Wissenschaften‘ stützte er sich nicht auf die kopernikanische Astronomie, sondern auf die obskure Lehre des Alpetragius. Dessen Theorie einer allgemeinen Himmelsbewegung westwärts korrespondierte besser mit seiner eigenen These einer universalen Bewegung nach Westen, die Meeresbewegung, Luftströme und die Erdkruste betraf.¹⁹² Dass Bacon die Lehre als “according to the old Opinion” referierte, bedeutete also nicht, dass er ihr nicht anhing. Er vertrat sie in mehreren kosmologischen Schriften der Instauratio Magna wie Thema coeli (1612) und Descriptio globi intellectualis (1612).¹⁹³ Bacons Übertragung der sich sukzessiv von Sphäre zu Sphäre abschwächenden Bewegung auf die Politik bezeugt zugleich die Eingemeindung des Staates in das Reich der Natur. Zeigten Politiker einen stärkeren Bewegungsdrang als es ihrer ‚Sphäre‘ zukam, war dies ein Zeichen imminenter politischer Gefahr: “And therefore, when great Ones, in their owne particular Motion, move violently, [...] it is a Signe, the Orbs are out of Frame.”¹⁹⁴ Auch Bacon vertrat kein Ideal des politischen Stillstands, sondern favorisierte eine Dynamik, allerdings eine solche, die dem Platz in der kosmischen, bzw. politischen Hierarchie angemessen war. Bacon betrachtete die politische Landschaft aus der Vogelperspektive. Das war das Resultat seiner eigenen herrschaftsaffinen Position, die ihn auch selbst mit “seditions and troubles” in Berührung gebracht hatte. Zu Beginn seiner politischen Laufbahn wurde er 1601 selbst in einen Aufstand verwickelt, bei dem sein Mentor, der Earl of Essex Robert Devereux, des Hochverrats angeklagt und hingerichtet wurde. Bacon versuchte, sich von seinem früheren Förderer zu distanzieren und verfasste neben seiner Tätigkeit als Rechtsberater der Königin im Prozess gegen den Herzog zwei apologetische Schriften, A Declaration of the Practises and Treasons Attempted and Committed by Robert, late Earl of Essex and his Complices (1601) und Sir Francis Bacon His Apology, in Certain Imputations Concerning the Late Earl of Essex (1604).¹⁹⁵ Darin wehrte er sich gegen den Vorwurf der Illoyalität gegenüber seinem Mentor und deutete seinen Opportunismus in Königstreue um.
191 Vgl. Giovanni Battista Amicos De motibus corporum coelestium (1536) und Girolamo Fracastoros Homocentrica (1538). 192 Diese natürliche Bewegungsrichtung zeigte sich jedoch nur dann in ihrer Reinform, wenn sie von keinem Faktor gestört wurde. Bacon, On the Ebb and Flow of the Sea. OFB VI, S. 447. 193 Zur Datierung der Schriften vgl. Rees, Introduction, OFB VI, S. XXXV. 194 Bacon, Seditions, OFB XV, S. 44 f. 195 Beide Texte waren als Briefe an zwei adlige Parteigänger des Herzogs von Essex formuliert, mit der Intention, dass diese sie in Umlauf brachten.
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Bacons Verortung des primum mobile in der höchsten politischen Sphäre korrespondierte mit seinen physiologischen Überlegungen, in denen die spiritus eine wichtige Rolle spielten. Die spiritus stießen überall in der Natur dynamische Prozesse an, ebenso wie Herrscher in der politischen Sphäre.
2.2.5 Koordination und Regulierung von Bewegung Der spiritus vitalis war wie der Herrscher die erste und zentrale, aber nicht die einzige Quelle von Bewegung. Die Dynamik des Herrschers wurde, wie der kosmologische Vergleich zeigt, von der schwächeren Bewegung anderer Politiker begleitet. Diese ‚lokale‘ Bewegung war politisch unbedenklich, solange sie ein gewisses Maß nicht überstieg. Auf der Ebene der körperinternen Prozesse ging Bacon von einer Vielzahl gleichzeitiger Bewegungen aus. Jeder Körper war “endowed with many motions, some ruling, other submitting, others again lying hidden unless excited.”¹⁹⁶ Dabei stützte sich Bacon auf die Konzeption der lokalen Bewegung, die sowohl für die Physik als auch die Physiologie relevant war. Bacon schilderte die Eigenbewegung der Organe als Trepidation, bei der es sich um eine der 19 einfachen Bewegungsarten der Materie handelte, die er im Novum organum auflistete. Er illustrierte sie mit der Herz- und Arterienbewegung, wobei er das Beben des Herzens als Ausdruck des Unwohlseins dieses Organs deutete, das sich weder am rechten Ort wusste noch am falschen: Now this motion is a kind of life imprisonment, i.e. where bodies not altogether well situated in terms of their nature and yet not absolutely uncomfortable, are all acquiver and fretful, neither content with their lot nor daring to change it. We find such motion in the heart and pulses of animals; and it is an inescapable fact that it exists in all bodies whose lot is to waver between states of convenience and inconvenience.¹⁹⁷
Daraus resultierte Unruhe und Rastlosigkeit, die sich im Herzschlag und Puls manifestierte. Das Verhältnis der zentralen Bewegung des spiritus vitalis zur lokalen Bewegung der restlichen Glieder war für Bacon ein eminent politisches. Er verglich es mit der Beziehung zwischen öffentlichen und privaten Interessen, bei der die öffentlichen Angelegenheiten die Oberhand behalten sollten: “appe-
196 Bacon, Thema Coeli (Theory of the Heaven), OFB VI, S. 171–193, S. 189. 197 Bacon, Novum organum, OFB XI, S. 411 f.
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tites which act for private interest seldom prevail over more public ones, except where small quantities are involved; which is not the case, alas, in civil affairs.”¹⁹⁸ Wünschenswert war die friedliche Koexistenz von zentraler und lokaler Bewegung, bei der sich der spiritus vitalis freundlich bei den Organen meldete: “Natural actions belong to the particular parts, but the vital spirit whets and stimulates them.”¹⁹⁹ Sobald die verschiedenen Bewegungsarten innerhalb des Körpers in Konflikt gerieten, bedurfte es einer zentralen Kraft, die diese regulierte und allzu kraftvolle lokale Bewegungen abzubremsen vermochte – “damping down their liveliness and their extravagant motions.”²⁰⁰ Damit kam eine zweite wichtige Funktion des Herrschers ins Spiel, nämlich die der Regulierung und Kontrolle dynamischer politischer Prozesse. Bacon riet Herrschern davon ab, in politischen Konflikten Partei zu ergreifen: Also, as Macciavel noteth well; when Princes, that ought to be Common parents, make themselves as a Party, and leane to a side, it is as a Boat that is overthrown, by uneven weight, on the one Side.²⁰¹
Mit der regulierenden Funktion des Herrschers führt Bacon gegenüber Machiavelli und Campanella eine dritte Instanz in das Szenario des politischen Konflikts ein. Damit schrieb er dem Herrscher in politischer Hinsicht jene Steuerungsfunktion zu, die der zweiten wichtigen Aufgabe des spiritus vitalis in physiologischem Zusammenhang entsprach. Dieser war ebenfalls für die Koordination verschiedener Bewegungen zuständig, deren Regulierung ihm aufgrund seiner Wahrnehmungsfähigkeit (perceptio) gegeben war. Das ermöglichte es dem spiritus vitalis, eine Steuerungsfunktion gegenüber zahlreichen dynamischen Prozessen des Körpers wie Verdauung, Temperatur und Assimilation wahrzunehmen.²⁰² Das hieß zugleich, dass grundlegende Prozesse des Körpers nicht autonom waren, sondern der ständigen Steuerung durch die spiritus bedurften. Diese fungierten als zentrale Instanz des Körpers, die sich der anderen Körperteile als Instrumente bediente: “For the structure of the parts is the instrument of the spirit, just as the spirit is the instrument of the rational soul which is incorporeal and divine.”²⁰³
198 Ebd., S. 417. Die rechtliche Differenz von privat und öffentlich wurde von Medizinern häufiger auf die Herz-und Blutbewegung angewendet, so auch von Harvey. Vgl. hier Kap. 2.3.6. 199 Bacon, HVM, OFB XII, S. 353. 200 Ebd., S. 259. 201 Bacon, Seditions, OFB XV, S. 48. 202 Rees, Introduction, OFB VI, S. LVIII. 203 Bacon, HVM, OFB XII, S. 377.
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Bacon nannte die Steuerungs- und Regulierungstätigkeit des spiritus vitalis explizit politisch. Denn die koordinative Funktion des spiritus vitalis erschien in Bacons Liste der 19 einfachen Bewegungsarten der Materie unter dem Titel “Royal or Political Motion”. Er definierte sie als eine universale Bewegung, by which the parts governing or maintaining an ascendancy in any body curb, tame, suppress, and order the other parts, and compel them to unite, separate, stand still, move, and assemble, not according to their own desires but to the well-being of the governing part, and that the ruling part exercises a kind of Government or Political Power over the subject parts.²⁰⁴
Diese Regierungstätigkeit glich zum einen stark der Staatsräson und war ein Handeln zugunsten des Herrschers. Zum anderen war sie eine besondere Fähigkeit, die in der Natur nur selten vorkam, da nur die feinstofflichsten Substanzen, insbesondere die spiritus vitalis, über sie verfügten.²⁰⁵ Indem er dem spiritus vitalis Regierungsfunktionen zuschrieb, identifizierte Bacon seine Aktivitäten im natürlichen Körper mit den Regierungspraktiken eines Herrschers in der politischen Sphäre. So lässt sich den politischen Funktionen, die der spiritus vitalis im Körper der Lebewesen erfüllt, entnehmen, dass Bacon Herrschaftspraktiken wie Steuerung, Koordination und Unterdrückung Untergebener in Hinblick auf innenpolitische Konflikte schätzte. Das Regierungshandeln korrespondierte also sowohl in Hinblick auf die koordinativ-sensorische Funktion als auch auf die kinetische mit den Tätigkeiten des spiritus vitalis. Der Herrscher erfüllte politisch dieselbe Doppelfunktion als Initiator und Koordinator von Bewegung wie der spiritus vitalis auf physiologischer Ebene. Damit avancierte die Physiologie, verstanden als das Studium der den natürlichen Prozessen zugrundeliegenden Prinzipien, zu einem wichtigen Instrument der Analyse des Regierungshandelns. Bacon untersuchte politische Dynamik und Kräfteverhältnisse ebensowenig wie Campanella anhand physikalischer Bewegungslehren, wie es nach Foucault zu erwarten wäre. Stattdessen rekurrierte er auf physiologische Bewegungen, die in vielen natürlichen Vorgängen stattfanden, nicht nur innerhalb von Lebewesen. Bacons präzise Differenzierung zwischen natürlichen und pathologischen Formen der Körpertemperatur zeigt, dass er keinen alltäglichen Fieberbegriff verwendete, sondern medizinisch wohlinformiert war. Die medizinischen und naturphilosophischen Kenntnisse waren bei einem Juristen nicht selbstverständlich. Physiologisch-naturphilosophische und medizinische Konzeptionen leiste-
204 Bacon, Novum organum, OFB XI, S. 409. 205 Ebd., S. 409.
Die harmonische Modulation der Dynamik von Herz und Blut bei William Harvey
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ten in Bacons Augen offensichtlich einen wichtigen Beitrag zur Analyse politischer Aufstände und allgemein zur Formierung neuer politischer Themenfelder wie den Erhalt des Staates, die sich aus der Lehre der Staatsräson ergaben.
2.3 Die harmonische Modulation der Dynamik von Herz und Blut bei William Harvey Besser erforscht als die physiologischen Konzeptionen Campanellas und Bacons ist William Harveys Theorie des doppelten Blutkreislaufs, wie sie maßgeblich in Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus (1628)²⁰⁶ formuliert wurde. Harvey steht noch immer im Ruf, eine bedeutende Schwellengestalt der modernen Wissenschaft zu sein, was manche Medizingeschichte zu fortschrittsgeschichtlichen Lobeshymnen inspiriert.²⁰⁷ So gilt Harvey zumeist als Begründer der modernen Physiologie, der diese als experimentelle Wissenschaft betrieben habe und mittels Augenschein und Quantifizierung zu seiner berühmten Konzeption des geschlossenen, doppelten Blutkreislaufs gelangt sei. Zumeist wird ihm zugeschrieben, mit der Lehre des doppelten Blutkreislaufs ein ‚modernes‘ mechanistisches Modell der Physiologie etabliert zu haben. Die von Walter Pagel ausgehenden Studien haben aufgezeigt, dass Harvey einen ebenso aristotelischen wie vitalistischen Ansatz verfolgte, während die mechanistische Variante der Lehre auf die cartesianische Rezeption Harveys zurückgeht.²⁰⁸ Dass Harveys Lehre des doppelten Blutkreislaufs so häufig im Kontext politischer Theorien, insbesondere in Studien zum politischen Körper, berücksichtigt wurde, liegt daran, dass mit Thomas Hobbes und James Harrington zwei bedeutende politische Philosophen von Harveys Theorie so beeindruckt waren, dass sie sie in ihre politische Philosophie integrierten, allerdings mit unterschiedlicher Zielsetzung. Während Harringtons The Commonwealth of Oceana (1656) vitalistische Argumente Harveys benutzte, um die Vorzüglichkeit der gemischten Verfassung zu beweisen, stützte sich Hobbes’ Leviathan (1651) auf die mechanistische
206 William Harvey: On the Motion of the Heart and Blood in Animals. Übers. von Robert Willis. In ders: The Works. New York u. a. 1965. 207 Das gilt auch für neuere Darstellungen wie Emerson Thomas Mcmullen: Preface – William Harvey’s Life and Times. In ders.: William Harvey’s De motu cordis. A New Translation and Latin Edition. Übers. von E.T. Mcmullen. Bethesda 2005, S. XI–XIV, S. XI. 208 Walter Pagel: William Harvey’s Biological Ideas, Basel, New York 1967; ders.: New Light on William Harvey. Basel 1976.
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cartesianische Variante, um den absoluten monarchischen Staat zu loben.²⁰⁹ Insbesondere Hobbes’ Übernahme der cartesianischen Interpretation von Harveys Lehre des doppelten Blutkreislaufs erwies sich in Hinblick auf die Untersuchungen zum politischen Körper als wirkmächtig. Die isolierte Betrachtung von Harveys physiologischer Konzeption und die damit verbundene medizinhistorische Dekontextualisierung führten jedoch zu erheblichen Fehleinschätzungen auf politischem wie medizinischem Gebiet.²¹⁰ Zumeist wird der Unterschied zwischen Harveys und Descartes’ Theorie des doppelten Blutkreislaufs, also die Differenz zwischen aristotelisch-vitalistischem und mechanistischem Ansatz unterschlagen. Harveys Physiologie ist keine neue und mechanische Konzeption.²¹¹ Im Folgenden steht die Untersuchung von Harveys aristotelischer und vitalistischer Lehre des doppelten Blutkreislaufs als gegenüber dem mechanistischen Paradigma Descartes’ eigenständige Konzeption im Zentrum, wobei neben den medizinhistorischen Untersuchungen Pagels auch diejenigen Walter von Brunns²¹² und Thomas Fuchs’²¹³ herangezogen werden. Auf dieser medizinhistorischen Grundlage wird der Zusammenhang zu den politischen Konzeptionen Harveys, zu denen er sich kaum explizit geäußert hat, neu entfaltet.
209 So etwa I. Bernard Cohen: Harrington and Harvey: A Theory of the state based on the New Physiology. In: Journal of the History of Ideas 55, 2 (1994), S. 187–210. W. Craig Diamond hat Einflüsse van Helmonts auf Harrington untersucht. Vgl. W. Craig Diamond: Natural Philosophy in Harrington’s Political Thought. In: Journal of the History of Philosophy 16 (1978), S. 387–398. Es wäre zu prüfen, ob Hobbes wirklich die mechanistische Variante des doppelten Blutkreislaufs vertritt. 210 Beispielsweise hält Desmedt die Idee der Kreisbewegung und die unablässige Bewegung für ein Spezifikum von Harvey, obwohl sie in der Philosophie der Renaissance weit verbreitet ist. Daher weist er in ökonomischem Zusammenhang eher allgemeine physiologische Vorstellungen nach als speziell jene Harveys. Vgl. Ludovic Desmedt: Money in the ‘Body Politick’: The Analysis of Trade and Circulation in the Writings of Seventeenth-Century Political Arithmeticians. In: History of Political Economy 37, 1 (2005), S. 79–101, S. 87. Der Einfluss Harveys auf die Wirtschaftstheorie, etwa bei William Petty und John Graunt, wurde verschiedentlich zum Gegenstand von Untersuchungen, z. B. bei Andrea Finckelstein: Harmony and the Balance. An Intellectual History of Seventeenth-Century English Economic Thought. Ann Arbor, MI 2000. 211 So rubriziert Sawday Harvey und Descartes unter die Vertreter mechanistischer Körpermodelle. Vgl. Sawday, The Body Emblazoned, S. 22 f. und Lorenz, Leibhaftige Vergangenheit, S. 111. 212 Walter von Brunn: Kreislauffunktion in William Harveys Schriften. Berlin, Heidelberg 1967. 213 Fuchs, Mechanisierung des Herzens.
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2.3.1 Galenische Physiologie Harveys Lehre der Herz- und Blutbewegung unterschied sich von den Konzeptionen der galenischen Tradition, wie sie nochmals wirkmächtig von Jean Fernel zusammengefasst wurde. Fernels Medicina (1554) wird ebenfalls häufig als Gründungsmanifest der modernen Physiologie betrachtet,²¹⁴ auch wenn es sich inhaltlich eher um eine „Summe des Galenismus“ handelt.²¹⁵ Bei Harvey war eine deutlichere Abwendung von der galenischen Konzeption zu beobachten als bei Fernel. Allerdings war Harvey nicht der erste frühneuzeitliche Mediziner, der sich unter aristotelischem Einfluss von Galen abwandte.²¹⁶ Seit Aristoteles galt die Fähigkeit zur Selbstbewegung als Merkmal alles Lebendigen. Dazu bedurfte es einer inneren Energiequelle, welche die Bewegung verursachte. Diese wurde von Heraklit, Empedokles und Aristoteles mit der inneren Wärme, dem calor innatus, identifiziert. Bei dieser thermodynamischen Konzeption wurde die Spontanbeweglichkeit der Lebewesen als Resultat der Umwandlung von Wärme in Energie verstanden, die ihrerseits zu Bewegung führte.²¹⁷ Sowohl Empedokles als auch Aristoteles identifizierten das Herz als den Ursprung und Generator der inneren Wärme in Analogie zur Sonne im Kosmos. Gemäß Aristoteles residierte im Herzen kein wirkliches Feuer, denn Feuer tendierte zum Maßlosen, was in der Physiologie nicht zu beobachten war.²¹⁸ Daher modellierte er den im Herzen stattfindenden physiologischen Vorgang nach dem Vorbild der unter Erhitzung überschäumenden Milch.²¹⁹ Es handelte sich weniger um ein prasselndes Kaminfeuer denn um einen moderaten Kochvorgang, bei dem Aristoteles aus dem durch die Herzwärme anschwellenden Blut auch das pneuma, bzw. den spiritus durch einen Verdampfungsprozess hervorgehen sah. Die Herzbewegung erschien in aristotelischer Perspektive als Folge des Kochvorgangs und des Aufschäumens des Blutes in den Ventrikeln.²²⁰ Die Konzeption der Herzfunktion Galens, des griechischen Leibarztes Marc Aurels, orientierte sich so sehr am Paradigma der Atmung, dass er die Frage der
214 Vgl. etwa Chauncey D. Leake: Some Founders of Physiology. Washington, DC 1956, S. 89. 215 Fuchs, Mechanisierung des Herzens, S. 31 f. 216 Bylebyl, Disputation, S. 223. 217 Brunn, Kreislauffunktion, S. 11. 218 Aristoteles: De anima (Von der Seele). Übers. von Willy Theiler. In ders.: Werke in deutscher Übersetzung. Hg. von Hellmut Flashar. Bd. 13. Berlin 1986 (416a), S. 31. 219 Fuchs, Mechanisierung des Herzens, S. 34. 220 Bylebyl, Disputation, S. 227. Das ist die Grundlage der ‘ebullition theory’ der Herzbewegung, im Gegensatz zur Impulstheorie (“impulsation theory”) des hellenistischen Arztes Erasistratos. Vgl. ebd., S. 243.
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Herztätigkeit in De usu partium unter dem Gesichtspunkt der Atmung abhandelte. Er verglich das Herz, das als eigentliches Atmungsorgan erschien, mit einem Blasebalg, der in der Phase der Ausdehnung (Diastole) aktiv das Gemisch von Blut und Luft einsaugte und es in der Kontraktion (Systole) ebenso aktiv wieder ausstieß. Das Blut diente zugleich als Brennstoff für das gemäß Galen in der linken Herzkammer residierende Feuer, dem er einen steten Bedarf an Nachschub unterstellte, sowohl zur Befeuerung als auch zur Belüftung. Er sprach der Pulmonalvene, die für den Abtransport von Ruß und Schadstoffen verantwortlich war, die Funktion eines Abzugsschachtes zu.²²¹ Ebenso verstand er die pulsierende Bewegung der Arterien als Atmungsbewegung und die Blutbewegung als Atmungsvorgang, bei der das Blut von den Arterien angesaugt wurde. Daher maß er Blut, Atemluft und Herzfeuer gleichermaßen einen konstitutiven Beitrag zur konstanten Reproduktion jener Stoffe zu, die für Wärme und Bewegung verantwortlich waren, dem spiritus und calor innatus.²²² Die feinstofflichen spiritus fungierten als Medien der Ausbreitung von Bewegung und Wärme innerhalb des Körpers und besaßen in materieller Hinsicht eine Zwischenstellung zwischen grober Materie und immateriellem Prinzip. Auch funktional vermittelten sie zwischen der Seele als Finalursache der Körperprozesse und ihren materiellen Ursachen, die zunehmend selbst als verstofflicht und materialisiert konzipiert wurden. Spätestens infolge von Fernels Maxime „wieviele Leistungen, soviele Vermögen“²²³ kam es zu einer explosionsartigen Vermehrung körperinterner Vermögen (facultates), da von der Verschiedenheit der Wirkungen auf unterschiedliche Ursachen geschlossen wurde. So traten zahlreiche subfacultates und organspezifische Kräfte in Erscheinung, wie die das Herz bewegende vis motrix oder die arterielle vis pulsifica. Für die Therapie von Krankheiten bedeutete das, einem wahren Heer von Fakultäten gegenüber zu stehen, weshalb die Spirituslehre auf therapeutischem Gebiet nie sehr bedeutend wurde.²²⁴ Möglicherweise hatte die frühneuzeitliche Vorliebe für Allheilmittel wie den Theriak, der sich aus sehr vielen Ingredienzien zusammensetzte, mit der Menge von facultates und vires zu tun, die man zu erreichen suchte.²²⁵ Durch ihren feinstofflichen Charakter waren die spiritus zwar materiell, aber in vieler Weise auf grobstofflichere Körpersubstanzen angewiesen. So dienten
221 Fuchs, Mechanisierung des Herzens, S. 37. 222 Zur Wärme als Substanz vgl. Lonie, Fever Pathology, S. 21. 223 Fuchs, Mechanisierung des Herzens, S. 32. 224 Fernels zahlreiche subfacultates wurden von manchen zeitgenössischen Gelehrten wie Jacopo Zabarella und Michel Servet ganz abgelehnt. Vgl. Klier, Spirituslehre, S. 54. 225 Zur Herstellung des Theriaks und zu seiner therapeutischen Verwendung vgl. hier Kap. 5.4.2.
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Flüssigkeiten wie das Blut dem spiritus als Transportmittel, weshalb Blut und spiritus denselben Prozessen der graduellen Verfeinerung und des Verbrauchs unterworfen waren. Während das Blut die Organe und Körperteile ‚nährte‘, versorgten die spiritus dieselben mit Bewegung. Bei Galen gab es drei Arten von spiritus. In der Leber, dem Sitz der anima naturalis, kam es durch einen ersten Kochungsprozess zu einer Umwandlung des Nahrungsbreis in venöses Blut und zur Entstehung von spiritus naturales. Diese gelangten gemeinsam mit dem Blut zum Herzen und Sitz des zweiten Seelenvermögens, der anima vitalis, der eine belebende Funktion attribuiert wurde. Das Herz fungierte als Zentrum des Arteriensystems, in dem durch einen zweiten Kochungsprozess arterielles Blut und durch das Zusammentreffen mit der Atemluft spiritus vitalis entstand, der über das arterielle System Wärme und Bewegung im Körper verbreitete. Von dort aus gelangten arterielles Blut und spiritus vitalis zum Gehirn, dem Sitz der anima rationalis und Zentrum des Nervensystems. Dort erfuhren die spiritus in einem dritten Kochungs- und Umwandlungsprozess eine Verfeinerung zu spiritus animales, die durch die Nerven wie durch Röhren zu den Sinnesorganen und Muskeln gelangten.²²⁶ Die drei Arten von spiritus standen in einem hierarchischen Verhältnis, das mit der räumlichen Hierarchie der Organe korrespondierte.
2.3.2 Zyklische Dynamik und das Problem des Erhalts der Bewegung Die fehlende Einheit des galenischen Systems führte bei der Erklärung der Herzund Blutbewegung zu verschiedenen Schwierigkeiten, die sich vor allem aus der Dezentralität der Organe und Körperteile und ihrer Multikausalität, bzw. -funktionalität ergab. So behandelte die galenische Tradition venöses und arterielles Blut als zwei getrennte Systeme, die nicht interagierten. Beide Blutsysteme verfügten über eine zentrifugale Strömungsrichtung, wobei das Blut an der Körperperipherie einfach versickerte. Bei Galen erfolgte die Blutbewegung relativ langsam, er verglich sie mit der Bewässerung eines Terrassengartens.²²⁷ Hinzu kam das Problem, dass das Blut aufgrund seines Versickerns ständig neu gebildet werden musste, was, wie Harvey feststellte, unmöglich war. Man konnte nicht so viel essen, wie nötig war, um den drohenden Blutverlust durch das Versickern an der Körperperipherie auszugleichen. Das ergab sich aus Harveys Spekulation über den täglichen Blutauswurf des Herzens. Er schätzte, dass der Blutdurch-
226 Fuchs, Mechanisierung des Herzens, S. 36. 227 Ebd., S. 38.
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fluss bereits nach einer halben Stunde die Gesamtblutmenge eines Lebewesens beträchtlich überstieg: Multiplying the number of drachms propelled by the number of pulses, we shall have either one thousand half ounces, or one thousand times three drachms, or a like proportional quantity of blood, according to the amount which we assume as propelled with each stroke of the heart, sent from this organ into the artery – a larger quantity in every case than is contained in the whole body!²²⁸
Diese Schätzung war ein wichtiges Argument für den venösen Rückfluss des Blutes zum Herzen und somit für seine zirkuläre Bewegung. Die Schätzung der Menge des Blutauswurfs war aber nicht das einzige Argument und spielte für die Hypothese des doppelten Blutkreislaufs keine zentrale Rolle.²²⁹ Zudem handelte es sich um eine Schätzung – davon zeugt Harveys vage Angabe der Blutauswurfmenge in einer halben Stunde. Die Schätzung war zudem falsch, sie betrug nur 1/36 der tatsächlichen Menge.²³⁰ Diese grobe Schätzung wird immer wieder als Beweis für Harveys quantifizierende Methode sowie als ausschlaggebendes Argument zugunsten der Kreislaufbewegung des Blutes betrachtet,²³¹ obwohl Harvey nicht imstande war, eine Messung der Blutmenge durchzuführen.²³² Sofern man nicht Verfahren der Schätzung als quantitative Methode betrachten möchte,²³³
228 Harvey, Motion of the Heart and Blood, IX, S. 49. 229 Weitere Faktoren waren Harveys Kenntnis der Debatte um die Herz- und Pulsbewegung, die er in De motu cordis förmlich verbarg (Bylebyl, Disputation, S. 243), Fabricius’ Entdeckung der Venenklappen, die nur eine Bewegungsrichtung des Blutes zuließen (Gweneth Whitteridge: William Harvey and the Circulation of the Blood. London, New York 1971, S. 114) sowie seine langjährige tierexperimentelle Erfahrung in Form von Vivisektionen (Fuchs, Mechanisierung des Herzens, S. 55). 230 Frederick G. Kilgour: William Harvey. In: Scientific American 186 (1952), S. 58–62, S. 61. William Harvey’s use of the quantitative method. In: Yale Journal of Biological Medicine 26 (1954), S. 410–21. 231 Kilgour, Quantitative Method, S. 410–21. Noch Cohen gibt die kontrovers diskutierte These Kilgours unkritisch wieder. Cohen, Harrington and Harvey, S. 189. 232 “He did not know and could not measure the total blood content of the human body.” Whitteridge, William Harvey and the Circulation of the Blood, S. 130. 233 Auch die politische Arithmetik, die Vorläuferin der modernen Statistik, begann mit Schätzungen und nicht mit Zählungen. Quantitative Erhebungen im modernen Sinne des Wortes waren im frühen siebzehnten Jahrhundert administrativ undurchführbar. Der Unterschied zwischen Schätzung und Messung wird jedoch auch hinsichtlich der politischen Arithmetik regelmäßig vernachlässigt. Desmedt spricht bezüglich William Petty von “evaluating the territory and the population” und von “quantitative estimate,” was den Unterschied auch nicht klarer macht. Vgl. Desmedt, Money in the ‘Body Politick’, S. 84. Da Schätzungen der politischen Arithmetiker
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muss die These zurückgenommen werden, dass Harveys Konzeption der Blutzirkulation auf einer Quantifizierung im modernen Sinn beruhe. Mochte Harvey auch die Blutmenge des Menschen unbekannt sein, die des Schafes war es nicht: In the same way, in the sheep or dog, say but a singe scruple of blood passes with each stroke of the heart, in one half-hour we should have one thousand scruples, or about three pounds and a half, of blood injected into the aorta; but the body of neither animal contains above four pounds of blood, a fact which I have myself ascertained in the case of the sheep.²³⁴
Ohne die Annahme der Blutzirkulation gelangte man durch die Kalkulation der Menge des Blutauswurfs pro Herzschlag zur Hypothese astronomischer Blutmengen im Körper von Lebewesen – eine These, die sich leicht durch Wiegen widerlegen ließ. Schätzung und Messung der Gesamtblutmenge führten zu demselben Ergebnis: Der Unterschied zwischen der Summe des Blutauswurfs des Herzens pro Herzschlag und der Gesamtblutmenge eines Lebewesens war durch die Umwandlung von Nahrungsbrei in Blut nicht zu erklären. Daraus schloss Harvey, dass der Ursprung des Blutes das Blut selbst war, das sich im Kreis bewegte: But, supposing even the smallest quantity of blood to be passed through the heart and the lungs with each pulsation, a vastly greater amount would still be thrown into the arteries and whole body than could by any possiblity be supplied by the food consumed. It could be furnished in no other way than by making a circuit and returning.²³⁵
Der kontinuierlichen Kreisbewegung wurde eine regenerative Funktion für das Blut zugeschrieben.²³⁶ Die Idee von Erhalt und Erneuerung durch eine Kreisbewegung war aristotelischer Provenienz. Bei Aristoteles war sie aber auf den Bereich der Himmelsmechanik beschränkt. Da Aristoteles von einer grundsätzlichen Differenz zwischen der vergänglichen sublunaren und der ewigen supralunaren Sphäre ausging, waren ewige Kreisbewegungen, die einfache Körper an ihrem natürlichen Ort vollführten, den Himmelskörpern vorbehalten.²³⁷ Doch auf der Basis der Analogie von mikrokosmischen und makrokosmischen Phänomenen – ein platonischer Gedanke – wurden die spezifisch supralunaren Bewegungsfor-
die Grundlage von Steuererhebungen und militärischer Rekrutierung bildeten, erscheinen diese gegenüber den eigentlichen Messverfahren als ernstzunehmendes, eigenständiges Verfahren. 234 Harvey, On the Motion of the Heart and Blood, IX, S. 49. 235 Ebd. IX, S. 50. 236 Pagel, Biological Ideas, S. 25. 237 Arend, Mechanik, S. 14 f.
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men von verschiedenen neoplatonischen Theoretikern auf die sublunare Sphäre übertragen. Das galt insbesondere für Giordano Bruno, den ersten bedeutenden Vertreter der These, dass das Blut eine Kreisbewegung vollführte. Der neoplatonisch und hermetisch inspirierte Philosoph²³⁸ kam nicht durch medizinische Erfahrung, sondern durch die Aufnahme der renaissanten Kreissymbolik zur Hypothese der Kreislaufbewegung des Blutes. So erklärte er den Kreis aus mystisch-geometrischen Erwägungen zum ersten Prinzip und Ursprung aller anderen geometrischen Figuren. Der Kreis war zugleich Teil und Ganzes, Anfang und Ende, Kreismittelpunkt – Zentrum – und Umfang, in ihm waren alle Gegensätze aufgehoben.²³⁹ Die spezifischen Merkmale von Brunos Kreislaufkonzeption waren die Zentralität des Herzens, die Kontinuität der Blutzirkulation, die ebenso konstante wie schnelle Fließgeschwindigkeit und der Rückfluss des Blutes ins Zentrum mit regenerierender Funktion. Im Kreis bewegte sich das Blut in erster Linie deshalb, weil es sich gemäß der modifizierten aristotelischen Dynamik um eine Bewegung am natürlichen Ort handelte, die von der Seele und ihrem Vehikel, dem spiritus, zum Zweck des Erhalts der Vitalität vollführt würde.²⁴⁰ Dieselbe Konzeption von Erhalt und der Erneuerung durch kontinuierliche Bewegung und die zyklische Rückkehr zu ihrem Ursprung manifestierte sich auch auf politischem Gebiet, etwa bei Machiavelli, der in den Discorsi den Staaten die zyklische Rückkehr zu ihren verfassungsmäßigen Ursprüngen empfahl. Er schrieb ihr einen revitalisierenden Effekt zu: „Die Methode, sie [die Republiken] zu erneuern, besteht wie gesagt darin, sie zu ihren Ursprüngen zurückzuführen.“²⁴¹ Wenn die zyklische Rückkehr zu den Ursprüngen unterblieb, verkürzte sich die Lebensdauer der Staaten: „Und es ist sonnenklar, dass diese Körper, wenn sie sich nicht erneuern, nicht lange leben.“²⁴² Die Möglichkeit der Revitalisierung durch die Rückkehr ad fontes war ein fester Bestandteil renaissanter Zyklustheorien. Die Erneuerung fand durch Bewegung statt. Machiavellis Deutung politischer Veränderungen als physikalische Bewegung erklärt sich durch den weiten aristotelischen Bewegungsbegriffs, der neben Ortsveränderungen materielle
238 Frances A. Yates: Giordano Bruno and the Hermetic Tradition. London u. a. 1964. 239 Pagel, Biological Ideas, S. 107. 240 „ad vitae consistentiam et conservationem, quae est per motum – virtute enim animae et spiritus nativi res in suo loco circulariter moventur.“ Giordano Bruno: De magia. In ders.: Opere latine conscripta. Hg. von F. Tocco, H. Vitelli. Bd. 3. Florenz 1891, S. 425. 241 „Il modo del rinnovargli è, come è detto, ridurgli verso i principii loro.“ Machiavelli, Discorsi III, 1, S. 946. 242 „Et è cosa più chiara che la luce che, non si rinnovando, questi corpi non durano.“ Ebd. III, 1, S. 946.
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Transformationen aller Art umfasste. Renaissante Zyklustheorien gingen davon aus, dass jegliche Bewegung nachließ, sofern sie nicht erneuert wurde. Das baute auf der zwischen dem ausgehenden Mittelalter und siebzehnten Jahrhundert florierenden Impetustheorie auf,²⁴³ die annahm, dass die Bewegungsursache eines Objekts, das einer gewaltsamen Bewegung unterzogen wurde, ein ‚Impetus‘, eine unkörperliche Bewegungsursache war, die vom körperlichen Beweger auf den bewegten Körper übertragen wurde.²⁴⁴ Das Standardszenario der Impetustheorie war zunächst der Wurf, später das Abfeuern eines Schusses.²⁴⁵ Mit zunehmender Entfernung von seinem Ausgangspunkt schwächte sich der initiale Impuls ab. Das sorgte dafür, dass geworfene und katapultierte Gegenstände auf dem Boden landeten. Im Bereich der Medizin firmierte diese Bewegungsart unter dem Namen der virtus impressa.²⁴⁶ Vor dem Hintergrund der renaissanten Zyklustheorie stellte sich für Machiavelli in dynamischer Hinsicht nicht das Problem eines Zuviel an Bewegung, sondern vielmehr das eines Zuwenig. Zyklische Konzeptionen führten in der politischen Theorie also nicht, wie Foucault vermutete, zu einer Verhinderung von Dynamik und zum Ideal der Bewegungslosigkeit.²⁴⁷ Für Impetustheoretiker bestand das Problem gerade im Nachlassen der Bewegung. Zyklisch argumentierende Theoretiker waren nicht unbedingt ‚Statiker‘, sondern häufig impetustheoretische ‚Dynamiker‘ der Staatsräson.
2.3.3 Harveys Herz- und Blutdynamik Der Frage, warum das Blut überhaupt floss, und zwar schnell, kontinuierlich und konstant, ging Harvey materiell konkreter nach als Bruno und Machiavelli. Harveys Schrift De motu cordis et sanguinis präsentierte eine komplexe Theorie des Blutkreislaufs, die sich, wie der Titel besagte, in zwei Themenkreise auffächerte, der Herzbewegung und der Hämodynamik. Ein wichtiges Element war die Konzentration auf den Aspekt der Bewegung. Harvey fasste das Herz als Zentrum und Ursprung der Blutbewegung auf und erklärte es zum ersten Beweger, zum
243 Wolff plädiert für den Ursprung in der Spätantike. Vgl. Michael Wolff: Geschichte der Impetustheorie. Untersuchungen zum Ursprung der klassischen Mechanik. Frankfurt/M. 1978, S. 27. 244 Ebd., S. 17. 245 Peter Damerow u. a.: Exploring the Limits of Preclassic Mechanics. A Study of Conceptual Development in Early Modern Science: Free Fall and Compounded Motion in the Work of Descartes, Galileo, and Beeckman. New York 2004, S. 22. 246 Fuchs, Mechanisierung des Herzens, S. 59. 247 Vgl. hier Kap. 2.1.1.
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“prime mover”²⁴⁸ des Lebewesens. Doch erblickte er die Ursache der Bewegung nicht in psychomateriellen Substanzen wie den spiritus oder der Wärme wie Aristoteles, sondern machte umgekehrt die vom Herz ausgehende aktive Bewegung für die Entstehung, den Erhalt und die Verteilung von Wärme und der spiritus verantwortlich: “It is its [the blood’s] movement that guarantees its regeneration, its re-charging with heat and spirit – for this is the purpose of its return to the heart.”²⁴⁹ Die Idee der dynamischen Vitalisierung veranlasste Harvey, die Ursache von Bewegung in der Bewegung selbst zu suchen. Dadurch stellte sich für ihn die Frage nach dem Antriebsorgan, das er wie Bruno mit dem Herz identifizierte. In Übereinstimmung mit den renaissanten Zyklustheorien ging Harvey von einer Bewegungstendenz des Blutes zum Zentrum aus, die zugleich eine Rückkehr zum Ursprung und Zentrum darstellte.²⁵⁰ Das Blut stellte bei Harvey eine „eigenwillige Masse“²⁵¹ dar, deren Eigenwille in ihrem appetitus zur zentripetalen Bewegung bestand. Während der Rückfluss zum Herz eine ‚natürliche‘ Bewegung war, handelte es sich beim Blutausstoß, der Bewegung, mit der das Blut in die Arterien gepresst und in die Körperperipherie verteilt wurde, um eine gewaltsame Bewegung. Denn wenn sich das Blut natürlich in Richtung Zentrum bewegte, warum sollte es dieses wieder verlassen? Gemäß Harvey bedurfte es zur Überwindung der natürlichen Bewegungstendenz einer gewaltsamen Aktion. Diese vollzog sich durch einen Schlag oder Impetus und wurde von Harvey mit dem Abfeuern eines Schusses verglichen.²⁵² Der Herzschlag prägte dem Blut gewaltsam einen Bewegungsimpuls auf, der sich schlagartig über das Arteriensystem ausbreitete und daher allerorts simultan spürbar wurde. Im Verlauf der Bewegung verlor er sich. Andernfalls käme das Blut nicht zum Herz zurück. Der vom Herz ausgehende Impetus verlieh dem Blut eine zentrifugale Bewegungsrichtung, die dessen zentripetale Bewegungstendenz überwand. Harvey schrieb dem Blut zugleich das Bedürfnis zu, hin- und hergestoßen zu werden. Das Herz diente dazu, dieses Bedürfnis zu befriedigen.²⁵³ Harvey betrachtete die Blutbewegung als Finalursache, wobei er die Herzfunktion der Blutfunktion unterordnete.
248 Harvey, On the Motion of the Heart and Blood, Letter to the King and Dedication, S. 4. 249 Pagel, Biological Ideas, S. 57. 250 Harvey, Motion of the Heart and Blood, IV, S. 29. 251 Fuchs, Mechanisierung des Herzens, S. 59. 252 Harvey, Motion of the Heart and Blood, V, S. 31 und XII, S. 60. 253 “And in what way does it [the blood] [...] show a tendency to motion, and to be impelled hither and thither, the end for which the heart appears to be made?” Ebd., XVI, S. 74.
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Das Herz fungierte als Motor dieser den ganzen Körper betreffenden Blutbewegung, wobei die Art des Antriebs in Hinblick auf die arterielle Seite des Kreislaufs als mechanisch verstanden werden kann.²⁵⁴ Allerdings handelte es sich um eine impetustheoretische Dynamik, wie die Implikation der nachlassenden Bewegung an der Körperperipherie belegt.²⁵⁵ Zudem bezeugt Harveys Vergleich des Herzimpulses mit dem Abfeuern eines Gewehrschusses sein Interesse an der physikalischen Dynamik, die seit der Einführung der Feuerwaffen in ballistischen Traktaten wie Niccolò Tartaglias Nova Scientia (1537) impetustheoretisch erörtert wurde.²⁵⁶ Weiterhin erklärte Harvey den Herzschlag als Resultat der Kontraktion des Herzens, die es spürbar an den Brustkorb stoßen ließ: “These things, therefore, happen together or at the same instant: the tension of the heart, the pulse of its apex, which is felt externally by its striking against the chest.”²⁵⁷ Dabei deutete Harvey die Kontraktion (Systole) als die aktive Bewegung des Herzens, und nicht die Ausdehnung (Diastole), wie es in der galenischen Tradition üblich war. Das konnte man taktil erspüren: The heart being grasped in the hand, is felt to become harder during its action. Now this hardness proceeds from tension, precisely as when the forearm is grasped, its tendons are perceived to become tense and resilient when the fingers are moved.²⁵⁸
Dasselbe galt für die Arterien – diese dehnten sich nicht in der Diastole aus und saugten das Blut aktiv an. Vielmehr wurden “the arteries [...] filled and distended by the blood forced into them by the contraction of the ventricles.”²⁵⁹ Anstatt der Dilatation erschien bei Harvey die Kontraktion als das aktive Moment der Herzund Blutbewegung. Die Idee der aktiven Dilatation verdankte sich dem Atmungsparadigma aus der galenischen Tradition, bzw. der aristotelischen These einer hitzebedingten
254 So Fuchs, Mechanisierung des Herzens, S. 58. 255 Fuchs wundert sich über die Abwesenheit des Trägheitsgesetzes und das vormoderne physikalische Verständnis Harveys. Vgl. ebd., S. 59. Die Unkenntnis des Inertialprinzips ist wenig überraschend, da es 1628 noch gar nicht formuliert war. Wolff und Damerow u. a. schreiben es den Rezipienten von Galilei und Descartes zu, insbesondere Torricelli und Cavalieri. Wolff verweist auf Newton. Vgl. Wolff, Impetustheorie, S. 25, 295, Damerow u. a., Preclassic Mechanics, S. 5 f. 256 Arend, Mechanik, S. 208–13. 257 Harvey, Motion of the Heart and Blood, II, S. 22. 258 Ebd., II, S. 21. 259 Ebd., III, S. 24 f.
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Ausdehnung.²⁶⁰ Harvey hingegen stützte sich auf das Paradigma der Muskelbewegung. Er beschrieb das Herz als Muskel,²⁶¹ eine Auffassung, die an das aristotelische Verständnis des Herzens als eigenes Lebewesen anknüpfte. Er machte jedoch nicht Wärmeprozesse für die Bewegung verantwortlich, sondern hielt vielmehr Wärme für ein Resultat von Bewegung. Seine Auffassung des Herzens als Muskel wich von traditionellen Konzeptionen ab, indem sie die Herzbewegung nicht als natürliche Bewegung, sondern als gewaltsame fasste. Die galenische Tradition unterschied zwischen zwei Arten von Bewegungen, dem motus naturalis, der eine unwillkürliche Bewegungsart der Organe darstellte, und dem motus animalis, der mittels der Nerven willkürliche Muskelbewegungen initiierte.²⁶² Die Herztätigkeit wurde traditionell als motus naturalis aufgefasst, da der Herzschlag ebenso wenig wie die Atmung auf freiem Entschluss beruhte. Die Herzbewegung war natürlich, weil sie nicht durch einen motus violentus von außen verursacht war.²⁶³ Beim motus violentus hingegen empfingen Muskeln die Kommandos von den Nerven. So gerieten sie zu bloßen Befehlsempfängern. Das hieß, die willkürliche Muskelbewegung allgemein dem nervlichen Oberkommando zu unterstellen. Harvey hingegen führte die willkürliche Muskelbewegung nicht auf nervliche Aktivität, sondern auf die Kontraktilität und Eigenaktivität der Muskeln zurück. Die Kontraktilität der Muskeln beruhte auf ihrer Wahrnehmungsfähigkeit, ihrer Begabung mit sensus. Ihre Sensibilität ermöglichte es ihnen, Bewegungen wahrzunehmen und darauf mit Bewegung zu reagieren. Das Konzept der in allen Körperteilen und Organen vorhandenen Sensibilität war eindeutig verwandt mit der telesianischen Sensustheorie.²⁶⁴ Die Begründung der Kontraktilität der Muskeln mit ihrer Begabung mit sensus war ausschlaggebend dafür, dass auch unwillkürliche Bewegungen der Organe wie die des Herzens als Muskelbewegungen ver-
260 Fuchs, Mechanisierung des Herzens, S. 80. 261 “it is not without good grounds that Hippocrates in his book, ‘De Corde’, entitles it a muscle; its action is the same; so it is its function, viz., to contract and move something else – in this case the charge of the blood.” Harvey, Motion of the Heart and Blood, XVII, S. 82. 262 Fuchs, Mechanisierung des Herzens, S. 81. 263 Pagel, Biological Ideas, S. 91. 264 Auf welchem Weg diese Konzeption zu Harvey gelangte, ist unklar. Fuchs weist auf den Zusammenhang der Harvey’schen Sensustheorie mit dem Konzept der Irritabilität hin, wie es im achtzehnten Jahrhundert von Albrecht von Haller formuliert wurde, weiß aber nichts von Telesio und dessen Rezeption. Laut Pagel könnte die Konzeption durch Robert Fludd zu Harvey gelangt sein. Vgl. Pagel, Biological Ideas, S. 116. Auch hier stellt sich die Frage nach der Telesio-Rezeption, die in der Medizingeschichte selten untersucht wird. Eine Ausnahme ist Martin Mulsow: Frühneuzeitliche Selbsterhaltung. Telesio und die Naturphilosophie der Renaissance. Tübingen 1998.
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standen wurden, wodurch die Organe von Befehlsempfängern des Gehirns zu selbsttätig handelnden Agenten wurden. Harveys Hypothese der Kreislaufbewegung des Blutes klingt einfach und einleuchtend, so dass man die zahlreichen Momente der Vereinheitlichung leicht übersieht. Sie betrafen vor allem drei Aspekte: die Einheitlichkeit des Blutes im ganzen Körper, die der Blutgefäße sowie die funktionale und formale Geschlossenheit der Zirkularität von Herz- und Blutdynamik. Die Vereinheitlichungstendenz resultierte nicht zuletzt aus Harveys Hypothese, dass jedem Körperelement und Phänomen sinnvollerweise nur eine einzige Funktion zugesprochen werden konnte, und nicht mehrere völlig verschiedene. So nannte Harvey die Annahme absurd, dass in einem einzigen Blutgefäß wie der Pulmonalvene mehrere Substanzen in unterschiedlichen Richtungen flottierten: If they will have it that fumes and air-fumes flowing from, air proceeding towards the heart – are transmitted by the same conduit, I reply, that nature is not wont to construct but one vessel, to contrive but one way for such contrary motions and purposes, nor is anything of the kind seen elsewhere.²⁶⁵
Die These der identischen Funktion von Venen und Arterien für das Blut begründete Harvey mit ihrer analogen Beschaffenheit: Wenn ihre Struktur ähnlich war, warum sollte ihre Funktion verschieden sein? So wunderte sich Harvey: “But I should like to be informed why, if the pulmonary vein were destined for the conveyance of air, it has the structure of a blood-vessel here.”²⁶⁶ Der Analogieschluss von der formalen Struktur der Gefäße auf ihre Funktion spielte eine produktive Rolle für die Zusammenfassung von Arterien- und Venensystem zu einer funktionalen Einheit.²⁶⁷ Die Idee des Blutrückflusses setzte voraus, dass das Blut in allen Körperteilen und Extremitäten materiell gleich beschaffen war und eine substanzielle Einheit bildete. Das war in der galenischen Tradition aufgrund der Annahme verschiedener Sublimierungsgrade von Blut und spiritus nicht der Fall. Harvey hingegen konstatierte:
265 Harvey, Motion of the Heart and Blood, Prefatory Remarks, S. 16. 266 Ebd., Prefatory Remarks, S. 17. 267 So lautete auch die Begründung der analogen Funktion von linkem und rechtem Herzventrikel: “Why, I ask, when we see that the structure of both ventricles is almost identical [...], why, I say, should their uses be imagined to be different, when the action, motion, and pulse of both are the same.” Ebd., Prefatory Remarks, S. 14.
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it is still to be believed that these spirits are inseparable from the blood, like those in the veins; that the blood and spirits constitute one body [...]. This body is nothing else than the blood.²⁶⁸
Dieses floss sowohl in den Arterien als auch in den Venen.²⁶⁹ Während das Blut durch den Herzimpuls über die Arterien an die Körperperipherie getrieben wurde, floss es über das venöse System zum Herz zurück. Zur Visualisierung dieser zwei Bewegungsrichtungen schlug Harvey zwei Arten von Gefäßligaturen vor: zum einen den kompletten Gefäßverschluss, wie er bei Amputationen verwendet wurde, zum anderen eine leichte Gefäßligatur wie sie beim Aderlass üblich war. Während die vollständige Gefäßligatur zu einer Unterbrechung des Blutflusses in Arterien und Venen führte und zu einem Blutstau oberhalb der Ligatur, unterband eine leichte Ligatur nur den mit geringerem Druck verbundenen venösen Rückfluss und führte daher zu einer Blutansammlung unterhalb der Ligatur.²⁷⁰ Wichtig für die These der Einheitlichkeit der Blut- und Herzbewegung war auch die Annahme, dass der Pulsschlag, also die Arterienbewegung, nichts mit der Atmung zu tun hatte, wie es die galenische Tradition vermutete, sondern mit der Herzfunktion:²⁷¹ Almost all anatomists, physicians, and philosophers up to the present time have supposed, with Galen, that the object of the pulse was the same as that of respiration. [...] But as the structure and movements of the heart differ from those of the lungs, and the motions of the arteries from those of the chest, so it seems likely that other ends and offices will thence arise.²⁷²
So gelangte Harvey zu einer systematischen Unterstellung verschiedener Organe, Gefäße und Phänomene unter eine einzige Funktion, nämlich der Herz- und Blutdynamik, was die Annahme eines geschlossenen zirkulären Systems begünstigte.
268 Ebd., Prefatory Remarks, S. 12. Hier zeigt sich, wie Harvey gerade durch sein Desinteresse an philosophischer Konsistenz zu wichtigen Schlüssen gelangt. Einem Philosophen dürften sich angesichts eines einfachen Körpers (“one body”), der sich aus mehreren Substanzen (Blut und spiritus) zusammensetzte, die Haare gesträubt haben. 269 Ebd., Prefatory Remarks, S. 4. 270 Ebd., XI, S. 54–60. 271 Diese Argumentation konnte sich auf mehrere wichtige Untersuchungen wie etwa Andreas Vesalius’ Demonstration der Undurchdringlichkeit des Herzseptums im Jahr 1543 stützen – jenem Ort, an welchem theoretisch die Transmission des Bluts durch unsichtbare Poren in das Herz stattfinden sollte. Harvey kommentierte diese Idee selbstbewusst: “But by Hercules! no such pores can be demonstrated, nor in fact do any such exist.” Ebd., Prefatory Remarks, S. 17. 272 Ebd., Prefatory Remarks, S. 9.
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2.3.4 Die harmonische Modulation der Herz- und Blutbewegung Während das Herz dem Blut durch Kontraktion einen zusätzlichen mechanischen Bewegungsimpuls verlieh, verfügte das Blut auch über die eigene Bewegungsform des Pulsierens, das Harvey auf das Prinzip der Polarität zurückführte. Damit übertrug er die bereits von Thomas von Aquin als Kreisbewegung gedeutete Herztätigkeit auf die Bewegung des Blutes. Thomas’ Konzeption der zirkulären Bewegung meinte jedoch keinen Kreislauf, sondern nur die rhythmische Bewegung zwischen zwei Polen. Zirkularität meinte hier die Zusammensetzung der Bewegung aus zwei Phasen, bestehend aus “movement and rest”,²⁷³ wobei die eine Seite ruhte, während die andere agierte. Aus dem polaren Verhältnis resultierte eine alternierende Rhythmik. Zur Blutbewegung äußerte sich Harvey erneut in seinem Spätwerk De generatione (1651).²⁷⁴ Aber auch in De motu cordis war von einer pulsierenden Bewegung des Blutes die Rede: “Nay, has not the blood itself or spirit an obscure palpitation inherent in it, which it has even appeared to me to retain after death?”²⁷⁵ Er legte das Prinzip der Polarität nicht nur der rhythmischen Bewegung des Blutes zugrunde, sondern auch der zyklischen, die durch das Zusammenspiel zwischen Herz- und Blutbewegung entstand. Das geschah analog zur Muskelbewegung. Die Kontraktion des Herzens fiel als aktives Moment der Herzaktion mit der Passivität des Blutes zusammen, während im Moment der Aktivität des Blutes – seiner Ansammlung im Herzen, die zu dessen Ausdehnung führte – das Herz passiv und relaxiert war.²⁷⁶ Die Kreislaufbewegung des Blutes gründete also auf dem Ineinandergreifen und der wechselseitigen Überwindung zweier Bewegungstendenzen. Auch die Muskelbewegung, die den Gegenstand von De motu locali animalium (1959)²⁷⁷ bildete, deutete Harvey als Resultat einer fundamentalen Polarität, die im Unterschied zu Campanella nicht konfliktuell war, sondern ein rhythmisches Alternieren bewirkte: „Das harmonische Ineinandergreifen der Muskelaktionen, die Ausgewogenheit im Wechsel von Ruhe und Bewegung bieten ein ‚wunder-
273 Pagel, Biological Ideas, S. 92. 274 William Harvey: Exercitationes de Generatione Animalium. Quibus accedunt quædam De Partu: de Membranis ac humoribus Uteri et de Conceptione. Amsterdam 1651. 275 Harvey, Motion of the Heart and Blood, IV, S. 29. 276 Fuchs, Mechanisierung des Herzens, S. 87. 277 William Harvey: De motu locali animalium. Local Movement of Animals. Hg. u. übers. von Gweneth Whitteridge. Cambridge 1959. Das Werk entstand 1627 fast gleichzeitig mit De motu cordis. Harvey brachte es nicht in publikationsreife Verfassung. Es wurde 1959 erstmals gedruckt.
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bares Schauspiel‘, eine ‚schweigende Musik‘.“²⁷⁸ Während Muskeln bei der von Galen bis zu Thomas reichenden Lehre der Muskelbewegung keine eigene Bewegungsfähigkeit zugesprochen wurde, schrieb Harvey den Muskeln sensus zu. Das ermöglichte ihre Bewegungsfähigkeit ohne nervliche Beteiligung. Aus der aristotelischen These der Autonomie des Herzens, die auf seiner Bewegungsfähigkeit beruhte, wurde bei Harvey eine allgemeine Autonomie der Muskeln: „Muskeln sind gleichsam eigene Lebewesen.“²⁷⁹ Daher bedurfte es in Hinblick auf die Herzund Blutbewegung sowie allgemein auf die Muskelbewegung keiner permanenten Eingriffe oder Regulierung durch eine zentrale Instanz. Harvey konstatierte unter Rekurs auf Aristoteles: as in a commonwealth; when order is once established in it there is no more need of a separate monarch to preside over each several task. [The individuals each play their assigned part as it is ordered,] and one thing follows another in its accustomed order.²⁸⁰
Das zeugte von einigem Vertrauen in die muskuläre Selbstregulierung, die darauf beruhte, dass nicht alle Muskeln über Nerven verfügten, und die Muskelbewegung nicht bei allen Organen (z. B. beim Herz) nervlich induziert war.²⁸¹ Wenn Harvey das Herz dem Herrscher gleichsetzte, betrachtete er diesen weniger als Initiator der politischen Dynamik denn als regulativen Teil einer Bewegung. Neben der nervenunabhängigen Muskelbewegung gab es die willkürliche Muskelbewegung. In diesem Fall modulierten die Nerven die muskuläre Wechselbeziehung, was Harvey mit einer richterlichen Intervention verglich: “is nerve like the intervention of a judge? Are its works performed through rhythm and harmony?”²⁸² Wo die nervliche Beteiligung fehlte, wie bei einem geköpften Huhn, das weiterflatterte, mangelte es nicht an Bewegung, aber an der Koordination derselben. Gemäß Harvey führte die „Durchtrennung des Nerven [...] zu kraftvollen, aber ungeeigneten Muskelbewegungen.“²⁸³ Die Bewegung beruhte allein auf dem Prinzip der Polarität, dem Alternieren von Bewegung und Ruhe, das hier allerdings jede Regelmäßigkeit vermissen ließ. Dem Nerv oblag es, die Bewe-
278 Harvey, De motu locali, S. 146, übers. Fuchs, S. 84 [sofern es eine deutsche Übersetzung von Fuchs gibt, wird im Folgenden nach dieser zitiert als Harvey, De motu locali, übers. Fuchs]. 279 Ebd., S. 83. 280 Harvey, De motu locali, S. 147. Harvey rekurrierte auf Aristoteles’ De motu animalium (703a32). 281 Fuchs, Mechanisierung des Herzens, S. 82. 282 Harvey, De motu locali, S. 111. 283 Harvey, De motu locali, übers. Fuchs, S. 83.
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gungen zu einer ‚Musik‘ der Muskeln transformieren und den Bewegungsablauf geschmeidig zu gestalten. Daher fungierte das Gehirn als Endpunkt der Nerven nicht als diktatorischer Befehlsgeber, sondern als mester del coro, als Chorleiter, der dem Muskelorchester Einsätze gab.²⁸⁴ Auch die Herrschaft des Gehirns und der Nerven über die Muskelbewegung war eine wechselseitige Beziehung, die nur bei guter Kommunikation zu einem harmonischen und nicht zu einem konvulsiven Miteinander führte. Hieraus ergibt sich die politisch interessante Frage, wer in dem dynamischen Körpermodell Harveys der Herrscher war. Die naheliegendste Antwort war das Herz, zumal Harveys Widmung von De motu cordis an seinen langjährigen Arbeitgeber, König Karl I. von England, mit der Apotheose der Herrschaft des Herzens einleitete: The heart of animals is the foundation of their life, the sovereign of everything within them, the sun of their microcosm, that upon which all growth depends, from which all power proceeds. The King, in like manner, is the foundation of his kingdom, the sun of the world around him, the heart of the republic, the fountain whence all power, all grace doth flow. [...] almost all things human are done after human examples, and many things in a King are after the pattern of the heart. The knowledge of his heart, therefore, will not be useless to a Prince, as embracing a kind of Divine example of his functions, – and it has still been usual with men to compare small things with great. Here, at all events, best of Princes, placed as you are on the pinnacle of human affairs, you may at once contemplate the prime mover in the body of man, and the emblem of your own sovereign power.²⁸⁵
Dass dies kein nichtssagendes Herrscherlob war, geht daraus hervor, dass der Vergleich der Vorherrschaft des Herzens zur kosmischen Herrschaft der Sonne und jener des Fürsten im Traktat wieder aufgegriffen wurde: The heart, consequently, is the beginning of life; the sun of the microcosm, [...] it is the houshold divinity which, discharging its function, nourishes, cherishes, quickens the whole body, and is indeed the foundation of life, the source of all action.²⁸⁶
An anderer Stelle, z. B. in De motu locali formulierte Harvey jedoch unter dem Titel „Similitudo Analogica“ eine Vielzahl von Vergleichen, welche nicht unisono für die Vorherrschaft des Herzens sprachen. Dafür sprach die Überlegung:
284 Harvey verwendet den italienischen Begriff. Vgl. Harvey, De motu locali, S. 113. 285 Harvey, Motion of the Heart and Blood, Letter to the King and Dedication, S. 3 f. 286 Ebd., VIII, S. 47 und XVII, S. 83.
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Is the heart the general or ruler? The brain, the judge, sergeant major, marching overseer. The nerves the leaders, the magistrates. The branches of the nerves, the company commanders, constables, corporals. The muscles soldiers.²⁸⁷
Das Herz war dem Gehirn übergeordnet – oder war es umgekehrt? “Or is the brain the prime mover [primus motor]? The nerves, the intelligences. The muscles, the spheres.”²⁸⁸ Damit behauptete Harvey die Vorherrschaft des Gehirns über das Herz. In der letzten Analogie brachte er die beiden organischen Potentaten in ein Verhältnis, das der Vorherrschaft des Herzens den Vorzug gab: Or is the heart the captain, maker, owner, prime mover [primus motor]? The brain, the master of the ship, the primum mobile, the sun. The nerves, master’s mates, boys, officers, the intelligences. The muscles, the sailors, the spheres.²⁸⁹
Eine klare Position war das nicht. Es ist jedoch interessant, dass Harvey in einer Schrift über die Muskelbewegung auf mehr als einer Seite nach passenden Vergleichen für die Herrschaftsverhältnisse zwischen den Organen suchte.²⁹⁰ Diese stützten sich auf die Beispiele für die corpora composita (Schiff) und corpora ex distantibus (Heer und Chor) aus der stoischen Tradition.²⁹¹ Die bewegungsgenerierende Polarität der Dynamik war auch die Ursache für Harveys Ambivalenz, ob im Körper das Blut oder das Herz als Herrscher anzusehen war. In synchroner Perspektive war die Antwort eindeutig: Aufgrund seines gewaltsamen Impulses, die es dem Blut verlieh, erschien das Herz als erster Beweger und als Materialursache der Bewegung. Zugleich spekulierte Harvey, dass das Herz nur dem Interesse des Blutes diente, hin- und hergeworfen zu werden: And so also of the blood, wherefore does it precede all the rest? And in what way does it possess the vital and animal principle, and show a tendency to motion, and to be impelled hither and thither, the end for which the heart appears to be made?²⁹²
287 Harvey, De motu locali, S. 150 f. 288 Ebd., S. 151 f. 289 Ebd., S. 150 f. 290 Die Rubrik „Similitudo Analogica“ erinnert an frühneuzeitliche zoologische Werke wie Ulisse Aldrovandis Ornithologiae (1599–1603). Auch dort wurden symbolische und emblematische Funktionen von Tieren als Teil ihrer Eigenschaften behandelt. 291 Vgl. hier Kap. 4.1.1. 292 Harvey, Motion of the Heart and Blood, XVI, S. 74.
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Der Wunsch des Blutes nach Bewegung war die Finalursache der Herzbewegung. In diachroner Perspektive ging Harvey jedoch vom Primat des Blutes aus, wie aus seinem Spätwerk De generatione animalium (1651) hervorgeht. Darin befasste sich Harvey mit dem ganzen Lebenszyklus, bestehend aus Zeugung, Embryonalentwicklung und Tod. Daher stand die Frage nach dem Ursprung und dem Ende im Vordergrund. Gemäß der aristotelischen Maxime „primum vivens ultimum moriens“²⁹³ fiel die erste Lebensregung mit der letzten zusammen: nature in death [...] reverts to where she had set out, and returns at the end of her course to the goal whence she had started. As animal generation proceeds from that which is not animal, entity from non-entity, whence that in animals, which was last created, fails first and that which was first, fails last.²⁹⁴
Im Gegensatz zu Aristoteles ortete Harvey die embryogenetisch erste Bewegung nicht im Herzen, sondern im Blut. Mittels einer Lupe kam Harvey angesichts der Entwicklung im befruchteten Hühnerei – seit der Antike das klassische Objekt embryologischer Untersuchungen – zum Ergebnis, dass sich in diesem am vierten Tag der Blutpunkt (punctum saliens) bildete, der anschließend zu pulsieren beginne.²⁹⁵ Die rhythmische, pulsierende Bewegung des Blutes, nicht die des Herzens, markierte bei Harvey den Beginn des Lebens. Blut erschien aufgrund seiner Fähigkeit zur Selbstbewegung als vitales Prinzip schlechthin: „Das Leben besteht daher im Blut (wie wir es auch in unserer Heiligen Schrift lesen), weil in ihm Leben und Seele zuerst erscheinen und zuletzt vergehen.“²⁹⁶ Harveys Verweis auf die Bibel bezog sich auf die Vorschriften zur Schächtung von Tieren im Buch Levitikus.²⁹⁷ Mit der alttestamentlichen Referenz überspielte Harvey die fehlende theologische Orthodoxie der These: Wo das Blut mit der vitalen Substanz gleichgesetzt wurde, war auch die Seele sterblich. Dass diese These des Mortalismus nicht orthodox war, hatte ein Jahrhundert zuvor schon der Arzt Michel Servet erfahren müssen, da er ihretwegen hingerichtet wurde.²⁹⁸
293 Die Referenzstelle ist Aristoteles, De generatione animalium II, 5 (741b). 294 Harvey, Motion of the Heart and Blood, IV, S. 29. 295 Fuchs, Mechanisierung des Herzens, S. 95. 296 Harvey, De generatione animalium, S. 195, übers. Fuchs, S. 101. 297 Dort heißt es: „Die Lebenskraft des Fleisches sitzt nämlich im Blut“ und: „Denn das Leben aller Wesen aus Fleisch ist das Blut, das darin ist.“ Levitkus 17, 11 und 14. 298 Der Häresievorwurf gegen Servet bezog sich auch auf seine rigide Ablehnung der Trinititätslehre. Die Frage, ob Harveys These des Blutes als Quelle der Vitalität häretisch war, ist umstritten. Zur Klärung des Verhältnisses Harveys zum Mortalismus bedürfte es einer gründlicheren
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Auch während der Embryogenese wirkte das Blut als vitales Prinzip und bewirkte kraft seiner pulsierenden Bewegung die Ausformung des Fötus. Da das Blut embyrogenetisch zuerst über die Fähigkeit zur Selbstbewegung verfügte, nannte Harvey das Blut den Herrscher im natürlichen Körper – den „Teil, so sage ich, in dem sich Bewegung zum einen zuerst manifestiert und zum anderen zuletzt auftritt, gleichfalls der Vater und König.“²⁹⁹ So schrieb Harvey in De generatione dem Blut förmlich dieselbe Rolle zu, die er in De motu cordis an das Herz vergeben hatte.³⁰⁰
2.3.5 Hierarchie und Kooperation der Organe in Bewegung Auf die Problematik, dass Harvey mehrere Herrscher im Körper ausmachte, hat Christopher Hill bereits vor längerem hingewiesen. Hill erklärte die Tatsache, dass sowohl das Herz als auch das Blut in den Genuss kamen, zum Herrscher und zur Sonne des Mikrokosmos ernannt zu werden, als Ergebnis einer gedanklichen Entwicklung auf medizinischem wie auf politischem Gebiet: So habe Harvey seine Ansicht über die Vorherrschaft des Herzens, verkörpert durch Karl I. von England, unter dem Eindruck der politischen Ereignisse des Bürgerkriegs, die in der Hinrichtung des Stuart-Königs im Jahr 1649 mündeten, zugunsten des Primat des Blutes aufgegeben.³⁰¹ Daher seien Harveys Ausführungen zur Herz- und Blutdynamik in De motu cordis (1628) und De generatione animalium (1651) als Ausdruck einer politischen ‚Konversion‘ vom Absolutismus zur Volkssouveränität zu lesen und als ‚Demokratisierung‘ des natürlichen und politischen Körpers. Das verstand Hill als Analogie zur Enthierarchisierung des Kosmos durch die kopernikanische Astronomie:
Rekonstruktion der theologischen Debatte. Vgl. Whitteridge, A Royalist, S. 108; Hill, No Parliamentarian, No Heretic, S. 101. 299 „Pars, inquam, in qua tum principium unde motus, tum finis sit; idem, Pater, et Rex.“ Harvey, De generatione animalium, S. 230. 300 „Sangue nempe extra venas absolute et per se consideratus, quatenus est elementaris, atque ex diversis partibus [...] compositur, cruor dicitur, paucasque admodum et obscuras virtutes possidet. In venis autem existens, quatenus est pars corporis, eademque animata et genitalis, atque immediatum animae instrumentum, sedesque ejus primaria; quatenus etiam corpus aliud divinus participare videtur, et calore animali divino perfunditur; eximias sane vires obstinet, estque analogus elemento stellarum. Quatenus spiritus, est focus, Vesta, lar familiaris, calidum innatum, Sol microcosmi [...] non aliter certe, quam superiora astra (Sol praesertim et Luna) servatis perpetuo circuitibus, inferiora ista vivificant.“ Ebd., S. 322. 301 Hill, Idea of Monarchy, S. 56.
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The discoveries of both Copernicus and Harvey can be seen as ideological counterparts to the denial of the hierarchical principle; in this sense Copernicus ‘democratized the universe’ and ‘dethroned the earth’.³⁰²
Diese These kehrte frühere Deutungen von Harveys Analogie als Plädoyer für den Absolutismus um.³⁰³ Hills These der ‚demokratischen‘ Parallelentwicklung von Medizin und Kosmologie ist jedoch problematisch. In der Eingangssequenz von De motu cordis wird das Herz als souveräner Herrscher im Körper der Lebewesen apostrophiert und als „Sonne des Mikrokosmos“. In der gleichen Weise wie das Herz sei auch der König “the foundation of his kingdom, the sun of the world around him, the heart of the republic, the fountain whence all power, all grace doth flow”.³⁰⁴ Aus dieser Passage geht jedoch nicht hervor, ob es um eine geozentrische oder heliozentrische Astronomie handelte. Denn der Vergleich zwischen Sonne und Herz war nicht so originell wie Hill vermutete und auch nicht auf die kopernikanische Astronomie beschränkt.³⁰⁵ Es handelte sich vielmehr um einen Gemeinplatz der astrologischen Literatur des Mittelalters.³⁰⁶ So hieß es in Pietro d’Abanos Lucidator (1310): Nach allgemeiner Ansicht ist die Sonne für den Himmel, was das Herz für ein Lebewesen ist. Denn nach Platon ist der Himmel wie ein großes Lebewesen und sein Herz befindet sich im Zentrum der Elemente wie ein Herrscher, der nach allen Richtungen [...] sein Reich überblicken kann.³⁰⁷
Ähnlich äußerte sich Pietro Pomponazzi in seinem Kommentar zur aristotelischen Meteorologie,³⁰⁸ ein Jahrhundert später bezeichnete der pisanische Medizinprofessor Rodrigo de Castro in De meteoris microcosmi (1621), einer Schrift über atmosphärische Phänomene, das Herz als die Sonne des Körpers und die Sonne als Herz des Kosmos.³⁰⁹ Auch Galilei verwendete die Analogie:
302 Ebd., S. 67. 303 Ebd., S. 54. Auch Roy Porter betrachtet den Primat des Herzens bei Thomas Vicary, Robert Burton und William Harvey als Indikator für eine absolutistische Position. Vgl. Porter, Bodies Politic, S. 230 304 Harvey, Motion of the Heart and Blood, Letter to the King and Dedication, S. 3. 305 Hill, Idea of Monarchy, S. 55. 306 Eugenio Garin: Astrologie in der Renaissance. Frankfurt/M. 1997, S. 30. 307 Pietro d’Abano: Lucidator (1310), zitiert nach Garin, Astrologie, S. 30. 308 Ebd., S. 31. 309 Pagel, Biological Ideas, S. 95.
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Mit der Sonne verhält es sich also gleichsam wie mit dem Herz eines Lebewesens, das durch ständige Regeneration der Lebensgeister alle Glieder erhält und belebt [...]: was sie nährt, kommt zwar von außen, doch konserviert sich dieses als gleichsam innere Quelle und kann daher unablässig dieses Licht und die fruchtbare Wärme verströmen, die allen Körpern, die um sie kreisen, Leben gibt.³¹⁰
Harveys Analogie von Herrscher, Herz und Sonne war in all ihren Bestandteilen unoriginell. Wie die Beispiele zeigen, wurde sie von Vertretern des Geozentrismus wie des Heliozentrismus gleichermaßen bedient. Die zentrale Stellung der Sonne, die Hill als Hinweis auf den Heliozentrismus missversteht, wurde bereits im Spätmittelalter von Pietro d’Abano behauptet, der durchaus kein Kopernikaner war. Die mittelalterlichen Autoren meinten mit der zentralen Position der Sonne nur, dass sie sich in der Mitte der sieben Himmelskörper befand, die in geozentrischer Perspektive ‚über‘ der Erde in einer Vertikale standen. Drei Gestirne befanden sich unter ihr – Mond, Merkur und Venus – und drei über ihr, nämlich Mars, Jupiter und Saturn. Daher schlossen sich die zentrale Position der Sonne und ein hierarchisch strukturierter Kosmos überhaupt nicht aus. Die Behauptung der zentralen Stellung und Herrschaft der Sonne war noch bei Galilei und Harvey eine Reminiszenz an den hermetischen Sonnenkult.³¹¹ Harveys Verortung der Sonne im Zentrum des Kosmos sagte also nichts darüber aus, ob er einer geozentrischen oder heliozentrischen Astronomie anhing. Es kann als gesichert gelten, dass Harvey kein sonderliches Interesse an der heliozentrischen Astronomie hatte. Obwohl er sich zeitgleich mit Galilei an der Universität Padua aufhielt, nahm er keine Notiz von ihm. Mehrere Indizien sprechen dafür, dass Harvey einer geozentrischen Konzeption anhing. So verglich er die Zirkulation des Blutes mit den kosmischen Bewegungen und konstatierte: This motion we may be allowed to call circular, in the same way as Aristotle says that the air and the rain emulate the circular motion of the superior bodies; for the moist earth, warmed by the sun, evaporates; the vapours drawn upwards are condensed, and descending in the form of rain, moisten the earth again. By this arrangement are generations of living things produced; and in like manner are tempests and meteors engendered by the circular motion, and by the approach and recession of the sun.³¹²
310 Brief Galileo Galileis an Kardinal Piero Dini vom 23. März 1615. Zitiert nach Garin, Astrologie, S. 29 f. 311 Garin, Astrologie, S. 28 f. 312 Harvey, Motion of the Heart and Blood, VIII, S. 46.
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Die zyklische Annäherung der Sonne an die Erde und anschließende Entfernung setzte eine Bewegung der Sonne voraus, die den heliozentrischen Annahmen zuwiderliefen.
2.3.6 Politische Physiologie Auch die Annahme, dass Harvey unter dem Eindruck der Hinrichtung Karls I. von England seine politische Haltung grundlegend geändert habe,³¹³ hat wenig Rückhalt in Harveys Biographie. Eine Anteilnahme am Republikanismus ist bei einem Leibarzt zweier Herrscher, Jakob I. und Karl I., der mit letzterem London 1642 verließ, unwahrscheinlich. Harvey war politisch desinteressiert und nahm den englischen Bürgerkrieg hauptsächlich als Störung seines Alltags wahr. Wie lässt sich dann aber Harveys Ambivalenz zwischen der Vorherrschaft des Herzens und des Blutes politisch lesen? Medizinisch gesehen schlossen sich Primat des Blutes und jener des Herzens nicht aus, sondern betrafen zwei verschiedene Aspekte.³¹⁴ So gebührte dem Herzen in synchroner Perspektive im voll entwickelten Organismus der Vorrang, dem Blut hingegen in diachroner bei der Entstehung des Lebewesens. Die Unterscheidung zwischen einem generativen und bewegungserhaltenden Moment der Herz- und Blutdynamik lässt sich auch für eine politische Lesart von Harveys Kreislaufmodell reklamieren. Denn im Grunde geht die Frage nach dem Primat eines Organs an Harvey Ansatz vorbei. Dieser konzentrierte sich auf die Dynamik. Harveys Entwurf der Interaktion zwischen Herz und Blut glich den von Machiavelli, Telesio, Campanella und Bacon vertretenen Konzeptionen von Bewegung, die aus einem antagonistischen Verhältnis zweier Agenten resultiert. Denn auch Harvey führte die Bewegung auf zwei Agenten, Herz und Blut, zurück, zwei Körperteile, die wie bei Machiavelli über zwei verschiedene Interessen („dua appetiti“)³¹⁵ verfügten. Während das Herz nach einer zentrifugalen Bewegung strebte, besaß das Blut einen zentripetalen appetitus. Trotz der entgegengesetzten Interessenlage kam es bei Harvey nicht zu Kampfhandlungen, weil die beiden Agenten nicht gleichzeitig aktiv wurden – während der eine aktiv war, ruhte der andere. Daher führte der Antagonismus der Muskeln nicht zum Kampf, sondern zum Alternieren: Während sich der eine Muskel streckte, dehnte sich sein Antagonist, und es dehnten sich nicht beide Agenten gleichzeitig im Wunsch
313 Hill, Idea of Monarchy, S. 66. 314 Whitteridge, A Royalist, S. 106. 315 Machiavelli, Principe IX, S. 208.
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nach größtmöglicher Ausdehnung aus, wie es bei Telesio und seinen Anhängern der Fall war. Das rhythmische Alternieren bewirkte, dass sich die konträren Tendenzen zu einer sinnvollen Bewegungseinheit fügten. In synchroner Perspektive war das Herz als Impulsgeber der Blutbewegung die zentrale Kraft. Es war allerdings auf die Kooperation des Blutes angewiesen. Harvey deutete sowohl die Herz- als auch die Blutbewegung politisch, indem er sie er mit dem öffentlichen Sektor im Körper identifizierte: Now this place is the heart, for it is the only organ in the body which contains blood for the general use; all the others receive it merely for their peculiar or private advantage, just as the heart also has a supply for its own especial behoof in its coronary veins and arteries.³¹⁶
Der Entwurf des Herzens als öffentliches Organ stützte sich auf die aristotelische Konzeption der lokalen Bewegung, des motus localis. Diesen führte Harvey in Hinblick auf die Muskelbewegung auf das Prinzip der Kontraktion zurück: “But in animals all local motion proceeds from, and has its origin in, the contraction of some parts.”³¹⁷ Die Herzdynamik betrachtete er als universale Bewegung. Das Herz, das als Organ zusätzlich über einen spezifischen motus localis verfügte, vollführte daher nicht nur eine, sondern zwei Bewegungen, eine lokale und eine universale. Vor diesem dynamischen Hintergrund entwarf Harvey das Herz als öffentliche und zugleich private Person. Ganz ähnlich schilderten die zeitgenössischen Juristen auch das eigentümliche Doppelwesen des Herrschers.³¹⁸ Die Unterscheidung zwischen einer öffentlichen und privaten Tätigkeit des Herzens war ein verbreiteter medizinischer Topos.³¹⁹ Die Annahme eines geschlossenen Blutkreislaufs gab dem Herz allerdings eine viel bedeutendere Stellung. Das Herz fungierte zusammen mit den Lungen als zentrale Werkstatt zur Verfeinerung des Blutes: “the heart and lungs constitute the store-house, source and treasure of the blood and the workshop of its perfection.”³²⁰ Daher fiel dem Herz bei Harvey auch die Aufgabe der gerechten Verteilung des Blutes auf die einzelnen Körperteile zu, proportional zu ihrer jeweiligen ‚Würde‘: Then the heart is the only organ which is so situated and constituted that it can distribute the blood in due proportion to the several parts of the body, the quantity sent to each being
316 Harvey, Motion of the Heart and Blood, XV, S. 70. 317 Ebd., XVI, S. 74. Die Idee fand sich auch bei anderen zeitgenössischen Medizinern wie De Castro. Vgl. Pagel, Biological Ideas, S. 95. 318 Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 184 f. 319 Zu Daniel Sennert vgl. Guido Giglioni: The Genesis of Francis Glisson’s Philosophy of Life. Diss. Baltimore 2002, S. 63. 320 Pagel, Biological Ideas, S. 58.
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according to the dimensions of the artery which supplies it, the heart serving as a magazine or fountain ready to meet its demands.³²¹
Sicher wäre eine quantitativ gleiche Versorgung aller Körperteile unabhängig von ihrem Bedarf wenig sinnvoll. Der Ausdruck “in due proportion” rief jedoch eine politische Vorstellung auf; die der distributiven Verteilungsgerechtigkeit.³²² Bei dieser erhielt jeder, was ihm aufgrund seines Ranges und seiner Qualität zustand. Auch bei Harvey war das Herz als öffentliche Zentrale nicht egalitär gesinnt, sondern es verteilte das Blut an die hierarchisch geordneten Organe: The first to be formed, nature willed that it should afterwards fashion, nourish, preserve, complete the entire animal, as its work and dwelling-place: and as the prince in a kingdom, in whose hands lie the chief and highest authority, rules over all, the heart is the source and foundation from which all power is derived, on which all power depends in the animal body.³²³
Hier klangen souveränitätstheoretische Thesen an wie die Ableitung der höchsten Gewalt aus einer ersten, zentralen Quelle, die mit dem Herz und Fürsten identifiziert wurde. Während der Herrschaft eines Fürsten war alle Macht derivativ und stammte aus dieser ersten zentralen Quelle. Wie verhielt sich aber die absolute Herrschaft des Herzens gegenüber der des Blutes? Diesem gebührte in genetischer und finaler Hinsicht der Vorrang: „Daraus geht klar hervor, dass das Blut ein generatives Körperteil ist, die Quelle des Lebens, das Element, in dem zuerst das Leben beginnt und zuletzt aufhört, wo die Seele zuerst hervortritt.“³²⁴ Der genetische Vorrang des Blutes und die Übertragung seiner ersten Bewegung auf das Herz brachte dessen absolute Herrschaft erst hervor. Diese endete zum Zeitpunkt des Todes und fiel wieder an das mit spiritus begabte Blut zurück. Dieser Gedanke korrespondierte mit zeitgenössischen Souveränitätslehren, die von der initialen Übertragung der Herrschaftsgewalt durch Gott und das Volk auf den Herrscher ausgingen.³²⁵ Politisch gesehen handelte es sich um einen einmaligen, unwiderruflichen und bedingungslosen Transfer der Macht vom Volk zum Herrscher.³²⁶ Zum Ende der Herrschaft fiel die Macht wieder ans Volk
321 Harvey, Motion of the Heart and Blood, XV, S. 70. 322 Michel Villey: La Justice harmonique selon Bodin. In: Horst Denzer (Hg.): Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung in München. München 1973, S. 69–86, S. 69–78. 323 Harvey, Motion of the Heart and Blood, XVII, S. 83. 324 „Quibus clare constat, sanguinem esse partem genitalem, fontem vitae, primum vivens et ultimo moriens, [...] unde anima primario emicat.“ Harvey, De generatione animalium, S. 250. 325 Tierney, Conciliar Theory, S. 147. 326 Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 165.
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zurück. Das war jedoch nicht zum Ende jeder Regentschaft der Fall, sondern nur, wenn durch außergewöhnliche Umstände kein Kronprätendent mehr vorhanden oder der Herrschaftsanspruch umstritten war.³²⁷ In politischer Hinsicht war ein solcher Rückfall der Herrschaft an das Volk ausgesprochen unwahrscheinlich. Im Körper war der Rückfall der Herrschaft des Herzens an das Blut jedoch der Normalfall. Mit dem Ende des Herzschlags kehrte die Bewegung gemäß dem Grundsatz primum vivens ultimum moriens zu ihrem Ausgangspunkt, zum Pulsieren des Blutes, zurück. Unter der Herrschaft des Herzens als Fürst des Körpers kam es bei Harvey zu einer komplexen Interaktion zwischen den beiden Agenten Herz und Blut, denen gleichermaßen eine Fähigkeit zur aktiven Bewegung zugeschrieben wurde, wobei sie in dynamischer Hinsicht aufeinander angewiesen waren – ohne zentripetalen appetitus des Blutes nutzte auch die Kontraktion des Herzens nichts. Das Blut war eine eigenwillige Masse – nur auf diese Weise war das regelmäßige Alternieren zwischen Zuständen der Ruhe und der Bewegung möglich, das sowohl die Herzals auch die Blutbewegung und ihre Interaktion kennzeichnete. Insofern kann davon ausgehen, dass Harvey auch politische Prozesse als dynamische Vorgänge ansah, bei denen vollkommener Stillstand nicht wünschenswert erschien. Das Ziel war wie bei Campanella und Bacon nicht der Stillstand, sondern vielmehr die rhythmische und harmonische Bewegung. Damit waren jedoch keine „kraftvollen, aber ungeeigneten Muskelbewegungen“³²⁸ gemeint, die Harvey Volk und Adel während des englischen Bürgerkriegs auf dem politischen Parkett vollführen sah und die er ablehnte.
327 Otto von Gierke: Das deutsche Genossenschaftsrecht. Band IV. Die Staats- und Korporationslehre der Neuzeit. Graz 1954, S. 292. 328 Harvey, De motu locali, übers. Fuchs, S. 83.
Teil II
3 Politische und medizinische Krisenanalyse 3.1 Tommaso Campanella und die Krise des Jahres 1600 Der Philosoph und Dominikanermönch Tommaso Campanella hegte große Erwartungen an das Jahr 1600, von dem er annahm, dass es gewaltige politische und religiöse Umwälzungen zeitigte. Daher beteiligte er sich 1599 höchstpersönlich an der kalabresischen Verschwörung gegen die spanische Herrschaft über Süditalien. Während sein politisches Engagement, das in einer 27-jährigen Inhaftierung mündete, relativ bekannt ist, sind es seine theoretischen Reflexionen auf die politische Situation in seiner süditalienischen Heimat weniger. Campanella deutete das Jahr 1600 sowohl prospektiv als auch retrospektiv als Krise, wobei sich seine Krisenprognose als ausgesprochen handlungsorientiert erwies, indem sie den Eingriff des Mönchs in das politische Geschehen erst veranlasste und anschließend rechtfertigte. Campanella untersuchte mit astronomisch-astrologischen, medizinischnaturphilosophischen und theologisch-chronologischen Krisenzeichen eine Fülle von Faktoren, die für die Imminenz einer universalen Krise sprachen. Im Folgenden werden vor allem die medizinischen und naturphilosophischen Argumente in den Blick genommen, um den Beitrag des medizinischen Krisendiskurses zur Entwicklung eines politischen Krisenbegriffs zu untersuchen.
3.1.1 Die Krise des Jahres 1600 Mit dem, was man mit Campanella die ‚Krise des Jahres 1600‘ nennen kann, rückt ein Krisenszenario an den Rändern Europas in den Blick, dessen berühmtester Verfechter in Wort und Tat Campanella selbst war. Campanella galt der spanischen Justiz während des anschließenden Prozesses wegen Hochverrats und Häresie in Neapel als Anführer der Revolte. Seine Krisendeutung war mit konkreten politischen Interessen verbunden, was nicht heißt, dass es historisch gesehen überhaupt keine Krise gegeben hätte. Campanella stieß in seiner Heimat auf eine Situation, die ins Spektrum der Aufstände und politischen Unruhen seit der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts gehörte, die den Niedergang der spanischen Monarchie begleiteten.¹
1 Villari, Revolt of Naples, S. 34.
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Dass sich Campanella 1599 überhaupt im kalabresischen Stilo aufhielt, hing mit seinen naturphilosophischen Interessen und seiner Neigung zu den theologisch problematischen Gebieten wie der Astrologie, Magie und Prophetie zusammen.² Nach der Verurteilung durch das römische Inquisitionsgericht im Jahr 1598 wurde Campanella in seine entlegene Heimat zurückverbannt, wo er jedoch nicht wie erhofft in Isolation geriet. Vielmehr erschloss er sich unter seinen Glaubensbrüdern und der lokalen Schicht von Gebildeten, darunter Ärzte und Adlige, ein neues Publikum für seine unorthodoxen philosophischen Lehren. Zudem traf er in Stilo auf eine politisch und ökonomisch desolate Situation. Unter der spanischen Herrschaft über Süditalien kam es seit der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts zu massiven Konflikten über die juristische Zuständigkeit sowohl zwischen kommunalen und feudalen Institutionen als auch zwischen der klerikalen italienischen und säkularen spanischen Administration. So reklamierte etwa der süditalienische Klerus unter Berufung auf die Lehnsabhängigkeit von Rom die Unterstellung unter die päpstliche Jurisdiktion, um der Unterstellung unter die spanische Inquisition zu entgehen.³ Die Auseinandersetzungen im Zuge der Refeudalisierung betrafen nicht nur die Gerichtsbarkeit, sondern zunehmend auch die Rechtsdurchsetzung. Diese mündeten im letzten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts in einen Zustand allgemeiner Gesetzlosigkeit, in der es keine politische Autorität gab, die die Einhaltung des Rechts erzwingen konnte. So waren Überfälle durch Banditen, die sich zahlreich in die Berge zurückgezogen hatten, an der Tagesordnung.⁴ Das Banditentum war sogar für süditalienische Adlige eine Option. Das führte zu einem kulturellen und politischen Niedergang, der das politische Leben in Süditalien auf das Banditentum, das kulturelle auf die religiösen Orden begrenzte.⁵ Auch der Überfall durch die türkische Flotte am Kap von Stilo am 18. September 1598 unmittelbar nach Campanellas Ankunft schockierte die Einwohner, zumal keine politische Autorität den Plünderungen und Verschleppungen entgegentrat.⁶ In diesem politischen Klima, in dem es an Zeichen des Niedergangs nicht fehlte, begann Campanella im Frühjahr 1599 öffentlich den unmittelbar bevorste-
2 Firpo, Campanella, S. 8. 3 Bock, Campanella, S. 146. 4 Headley, Tommaso Campanella, S. 44. 5 So Ferrario, Il medico nella Città del Sole, S. 974. 6 Luigi Amabile: Fra Tommaso Campanella. La sua congiura, i suoi processi e la sua pazzia. 3 Bde. Bd. 1. Neapel 1882, S. 134.
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henden kosmischen und politischen Wandel zu predigen.⁷ Gleichzeitig bemühte er sich in Einzelgesprächen, Personen davon zu überzeugen, dass die glückliche Endzeit eines irdischen Universalreichs, die dem Weltende vorausgehe, unmittelbar bevorstünde, beziehungsweise dass man ihren Beginn herbeiführen müsse, notfalls mit Waffengewalt: „[...] man mußte das von den Propheten, den Philosophen und Weisen aller Art angekündigte heilige Reich genießen, aber es war trotzdem nötig, es entschlossen zu erobern und zu verteidigen.“⁸ Im Sommer 1599 umfasste das Netz von Verschwörern eine Vielzahl von Personen aus nahezu allen Gesellschaftsschichten, einschließlich des Klerus. Weiterhin existierten Kontakte zu den örtlichen Banditen und der türkischen Flotte, auf deren militärische Kompetenz man angesichts der zu erwartenden spanischen Intervention baute. Noch bevor ein konkreter Plan zur Durchführung des Umsturzes entwickelt war, wurde die Verschwörung verraten und ein Großteil der Beteiligten verhaftet, darunter auch Campanella. Die Verschwörer, unter ihnen Dutzende von Klerikern und Hunderte von Laien, wurden per Schiff nach Neapel verfrachtet, wo bereits beim Einlaufen in den Hafen zur Abschreckung des Volkes mehrere Hinrichtungen vollzogen wurden.⁹ Die zivilrechtlichen Verfahren gegen die restlichen Verschwörer führten zu zahlreichen weiteren Hinrichtungen. Dass Campanella als anerkanntes Oberhaupt der Verschwörung nicht sogleich hingerichtet wurde, verdankte sich zum einen dem Konflikt zwischen klerikaler römischer und ziviler spanischer Justiz,¹⁰ zum anderen der Hoffnung der Ankläger, ihm Informationen über die Verschwörung und die Namen weiterer Mitverschwörer zu entlocken.¹¹ Die drohende Hinrichtung war der Anlass für die Abfassung zweier Verteidigungsschriften im Frühjahr 1600, der Prima delineatio defensionum¹² und Secunda delineatio defensionum,¹³ in denen Campanella seine These einer uni-
7 Firpo, Campanella, S. 51 f. 8 So gab ein Verhörprotokoll des neapolitanischen Prozesses Campanellas Ansicht wieder. Amabile, Congiura, S. 150. 9 Firpo, Campanella, S. 12. 10 Ernst, Tommaso Campanella, S. 64. 11 Firpo, Campanella, S. 13. 12 Tommaso Campanella: Prima delineatio defensionum/Primo schema delle difese. In: Luigi Firpo: Il supplizio di Tommaso Campanella. Narrazioni – Documenti – Verbali delle torture. Rom 1985, S. 73–127. [Im Folgenden PDD]. 13 Tommaso Campanella: Secunda delineatio defensionum/Secondo schema delle difese. In: Luigi Firpo: Il supplizio di Tommaso Campanella. Narrazioni – Documenti – Verbali delle torture. Rom 1985, S. 129–175. [Im Folgenden SDD]. Beide Schriften werden nach der italienischen Übersetzung von Firpo zitiert und nur ausnahmsweise nach dem lateinischen Text.
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versalen Krise im Jahr 1600 ausführlich begründete. Das macht die beiden apologetischen Schriften zu einer wichtigen Quelle für Campanellas Krisenkonzeption. Zur Entlastung von dem Vorwurf der Häresie und des Hochverrats waren sie allerdings weniger geeignet. Daher verlegte sich Campanella zur Abwendung der Hinrichtung ab April 1600 auf die Simulation des Wahnsinns.¹⁴ Wahnsinn war ein wichtiger rechtlicher Grund, die Todesstrafe nicht zu vollziehen, da Wahnsinnige ihre Taten weder einsehen noch bereuen konnten. Daher fiel die Schuld auf die Richter, die sie zum Tod verurteilten.¹⁵ Nachdem Campanella mehrfach der Folter standhielt, war die Gefahr der Hinrichtung im Sommer 1600 gebannt. Neben seinen beiden apologetischen Verteidigungsschriften, die schon aufgrund ihres Entstehungszusammenhangs nicht das volle Spektum von Argumenten boten, äußerte sich Campanella zum Thema der Krise in drei späteren Schriften, den auf der Secunda delineatio defensionum aufbauenden Articuli prophetales (1609),¹⁶ seinem naturphilosophischen Hauptwerk Del senso delle cose e della magia (1620)¹⁷ und den Medicinalia.
3.1.2 Zukunftswissenschaft und Prognostik In der ausführlicheren der beiden Verteidigungsschriften, der Secunda delineatio defensionum, rechtfertigte Campanella seine prognostischen Unternehmungen bezüglich des Jahres 1600 mit der politischen Notwendigkeit von Zukunftswissen: „Kein Imperium oder Reich konnte sich jemals durch die Staatskunst [prudenza politica] allein erhalten.“¹⁸ Prognostik erschien als notwendige Hilfswissenschaft der Politik und der Regierungstechnik, die Campanella als praktische
14 Es ist strittig, ob der Wahnsinn simuliert oder echt war. Für den Wahnsinn argumentiert Mönnich, für die Simulation Firpo, Ernst und Ferrario. 15 Firpo, Campanella, S. 14. 16 Die Datierung betrifft die Entstehung. Zur ersten Druckfassung vgl. Tommaso Campanella: Articuli prophetales. Hg. von Germana Ernst. Florenz 1977. 17 1620 wurde die lateinische Fassung unter dem Titel De sensu rerum et magia libri quatuor in Frankfurt gedruckt. Die erste italienische Fassung entstand um 1604, es folgten mehrere Überarbeitungen. Auf Italienisch wurde der Text erstmals im zwanzigsten Jahrhundert veröffentlicht. Antonio Bruers Ausgabe legt mehrere italienische und lateinische Manuskripte zugrunde. Tommaso Campanella: Del senso delle cose e della magia. Testo inedito italiano con le varianti dei codici e delle due edizioni latine. Hg. von Antonio Bruers. Bari 1925. 18 „Nessun impero né regno si è potuto reggere con la sola prudenza politica.“ Campanella, SDD, S. 131. Prudenza politica war ein Alternativbegriff für Staatsräson, der nicht nur von Lipsius, sondern auch von italienischen Theoretikern der Staatsräson wie Frachetta, Bonaventura, Zuccolo und Settala verwendet wurde.
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Wissenschaft oder Handwerk verstand. Damit gehörte die politische Prognostik in das Spektrum der sogenannten artes coniecturales, der mutmaßenden Künste oder Wissenschaften. Zu diesen zählten neben der Politik all jene Gebiete, die sich durch großangelegte Unternehmungen auszeichneten, deren Ausgang selbst bei der gewissenhaftesten Befolgung der Regeln nicht völlig gewiss war. Das betraf vor allem die Medizin, die Wettervorhersage, die Landwirtschaft und Seefahrt, aber auch die Astrologie und die Theologie.¹⁹ Letztere bezeichnete Campanella aufgrund ihrer Bemühung um die Zukunft geradewegs als konjekturale Wissenschaft von Gott, als „scienza di Dio“.²⁰ Was die artes conjecturales einte, war ihre Methode, denn sie alle beruhten auf einem allgemeinen semiotischen Verfahren, auf einer Kunst der Zeichendeutung, die sowohl in der Medizin als auch in den anderen Wissensgebieten zu prognostischen und diagnostischen Zwecken eingesetzt wurde.²¹ Zukünftige politische Krisen ließen sich deshalb in der Gegenwart vorhersehen, weil sie sich wie alle bemerkenswerten Ereignisse durch Zeichen anzukündigen pflegten. Mit der Annahme einer potentiell vollständig entschlüsselbaren Verweisstruktur von Vorzeichen, Zeichen und Ereignis stand Campanella nicht allein. Bereits Machiavelli hatte ein Kapitel der Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio exakt so betitelt: „Bevor wichtige Ereignisse in einer Stadt oder einem Land stattfinden, treten Zeichen auf, die diese ankündigen oder Menschen, die diese vorhersagen.“²² Darin benannte er ein weites Spektrum möglicher prognostischer Techniken und Zeichen, die von der Prophetie über Wunder bis zur Sterndeutung reichten: Woher es kommt, weiß ich nicht, aber man kann anhand antiker und moderner Beispiele feststellen, dass niemals ein wichtiges Ereignis in einer Stadt oder Region stattgefunden hat, das nicht durch Vorhersage, Offenbarung, Wunder oder andere himmlischen Zeichen angekündigt worden wäre.²³
19 Maclean, Logic, Signs and Nature, S. 281. 20 Campanella, SDD, S. 135. 21 Zur Semiotik vgl. Maclean, Logic, Signs and Nature, S. 276–332. 22 „Innanzi che seguino i grandi accidenti in una città o in una provincia, vengono segni che gli pronosticono o uomini che gli predicano.“ Machiavelli, Discorsi I, 56, S. 698. 23 „Donde ei si nasca io non so, ma ei si vede per gli antichi e per gli moderni exempli che mai non venne alcuno grave accidente in una città o in una provincia, che non sia stato o da indovini o da rivelazioni o da prodigi o da altri segni celesti predetto.“ Ebd. I, 56, S. 698.
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Abb. 1: Orazio Morandis Horoskop für Campanella
Relevante Zeichen manifestierten sich gemäß Campanella vor allem in zwei Sphären, „in natura et Politica“²⁴ . Trotz dieser Verweisstruktur war nicht sonnenklar, welches Zeichen was indizierte. Eine eindeutige Zuordnung zwischen Zeichen und ihrer Bedeutung gab es nicht. Das machte eine ausgefeilte Deutungskunst von Krisenzeichen notwendig, wobei Campanella eine ganze Fülle von semiotischen Praktiken zur Erschließung der Zukunft zum Einsatz brachte, die von den prophetischen Praktiken der jüdisch-christlichen Tradition über die medizinische Prognostik bis hin zu astronomisch-astrologischen Prognosetechniken reichten. Unterstrichen wurde Campanellas Interesse an der Zukunftsdeutung durch die Annahme einer eigenen prophetischen Begabung, die in seiner Familie grassierte. So hatte er eine 12-jährige medial begabte Cousine, deren Visionen des Jenseits und der zukünftigen Ereignisse die lokalen Geistlichen verblüfften.²⁵ Auch astrologische Indizien sprachen in Campanellas Augen für seine
24 Campanella, Del senso, S. 315. 25 Ebd., S. 202 f.
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prophetische Begabung, wie etwa der Umstand, dass sich in seinem Horoskop mehr Himmelskörper – nämlich sechs – in der Nähe des Aszendenten befanden als in demjenigen Christi, bei dem es nur fünf waren.²⁶
3.1.3 Die eschatologische Krise So schien Campanella die Gegenwart mehr als jeder andere Zeitpunkt für gewaltige Umwälzungen geeignet, da man sich an einem kritischen Punkt befände: „Es ist sicher, dass eine solche [die Zeitenwende] viel eher in unserer Zeit stattfinden wird als in einer anderen, da wir uns an einem kritischen Zeitpunkt befinden.“²⁷ Sein erstes Argument für die Deutung der Gegenwart als Krisenzeit war eschatologischer Natur, nämlich die Imminenz des Weltendes: „Das Ende der Welt ist nahe, da alle Philosophen versichern, dass die Welt nun schon sehr alt ist, mit Ausnahme von Lukrez, der heute aber auch dieser Meinung sein würde.“²⁸ Die Welt befand sich nach Campanellas Auffassung schon in fortgeschrittenem oder vielmehr im Greisenalter, wobei naturphilosophische Überlegungen mit einspielten, wie der Verweis auf Lukrez bezeugt. Vor allem stützte sich Campanella an dieser Stelle auf Modelle der christlichen Geschichtsperiodisierung, namentlich die verschiedenen Varianten der biblizistischen Ära, die die Geschichte der Menschheit seit der Schöpfung, ab orbe condita, nach dem Modell der sieben Lebensalter des Menschen strukturierte. Dieses Gliederungsprinzip wurde erstmals in Augustinus’ Civitas Dei verwendet und teilt die biblische Geschichte des alten und neuen Testaments in sechs diesseitige Zeitalter ein.²⁹ Diese im siebten Jahrhundert von Isidor von Sevillas Etymologiae in die Universalgeschichte eingeführte Unterteilung bestimmte die Dauer der einzelnen Zeitalter wahlweise auf der Grundlage der Zahlenangaben der Septuaginta oder der Vulgata und zählte bis weit in die Frühe Neuzeit hinein zu den
26 Ernst, Religione, ragione e natura, S. 27. 27 „Si prova che ciò debba accadere di preferenza nel tempo nostro anziché in un altro, poiché siamo in un momento cruciale dei tempi, quando appunto avvengano i mutamenti.“ Campanella, PDD, S. 87. 28 „il mondo è ormai vecchio, poiché tutti i filosofi affermano che il mondo è ormai vecchio, eccettuato Lucrezio, il quale oggi sarebbe anch’egli di tale opinione.“ Campanella, SDD, S. 157. 29 Anna-Dorothee von den Brincken: Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising. Düsseldorf 1957, S. 92.
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wichtigsten Modellen der Geschichtsperiodisierung.³⁰ Gemäß dieser Konzeption befand man sich im Jahr 1600 am Ende des sechsten Zeitalters: Tatsächlich befinden wir uns dem Apostel [Paulus] zufolge im sechsten Zeitalter, ‚in dem das Ende aller Zeiten anbrechen wird‘, und im siebten treten wir ein in das Stadium der ‚Ruhe‘, wie er den Hebräern schreibt.³¹
Zum selben Ergebnis gelangte Campanella auch aufgrund der alternativen Periodisierung nach dem vierten Buch Esra, einer apokryphen jüdischen Apokalypse aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. Darin wurde die Geschichte auf der Grundlage des zwölfstündigen Lichttages (dies naturalis)³² periodisiert. Folglich lokalisierte Campanella die Gegenwart am Ende der elften Stunde: „Zudem, gemäß Esra (IV. Buch) gliedert sich die Gesamtzeit in zwölf Abschnitte, von denen elf bereits vergangen sind.“³³ Weiterhin bemühte Campanella Geschichtsperiodisierungen aus der joachitischen Tradition, um die These der imminenten Zeitenwende zu erhärten. So evozierte er Gliederungen nach diversen Heptaden, den Siebenzahlen der Johannes-Apokalypse, wie etwa den sieben Posaunen, sieben Schalen, sieben Siegel, sieben Gestirnen und sieben Gaben des Heiligen Geistes. Die Angaben, wann diese Zäsuren zu erwarten waren, stammten jedoch aus der joachitischen Tradition. Der kalabresische Zisterzienserabt Joachim von Fiore hatte die apokalyptischen Heptaden im zwölften Jahrhundert nur zur Untergliederung seiner drei diesseitigen Zeitalter verwendet. Die drei Zeitalter waren jeweils einer der drei trinitarischen Personen, Vater, Sohn und Heiligem Geist, zugeordnet und
30 Anna-Dorothee von den Brincken: Historische Chronologie des Abendlandes. Kalenderreformen und Jahrtausendrechnungen. Eine Einführung. Stuttgart u. a. 2000, S. 91. 31 „Siamo infatti, secondo l’Apostolo, nella sesta età, ‚cui doveva toccare la fine dei secoli‘, e nella settima entreremo ‚nel riposo‘, come dice agli Ebrei.“ Campanella, SDD, S. 159. Campanella meinte den Paulusbrief an die Hebräer (Hebräer 4, 1–13 und 10, 32–39). 32 Im Gegensatz zum Sonnentag oder bürgerlichen Tag (dies civilis), der Tag und Nacht und somit 24 Stunden umfasst. Brincken, Historische Chronologie, S. 14. 33 „Ancora, secondo Esdra (libro IV), il tempo tutto si divide in dodici parti, delle quali undici sono già trascorse.“ Campanella, SDD, S. 159. In PDD war das Weltende noch nicht ganz so imminent, hier waren erst zehn Zeitalter vergangen: „siamo nella [...] decima parte dell’èra divisa in dodici da Esdra.“ Campanella, PDD, S. 85. Falls es sich bei den 12 Stunden des ‚Weltentags‘ nicht um gleich lange Äquinoktialstunden handelte, sondern um ungleich lange Temporalstunden, war die Geschichtsperiodisierung nach Esra zur Fristrechnung relativ uninteressant, denn wie sollte man die Länge der einzelnen Stunden bestimmen? Vgl. Arno Borst: Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas. Berlin 1990, S. 36; Gerhard Dohrn-van Rossum: Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen. München 1992, S. 151 f.
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erstreckten sich über je 1260 Jahre.³⁴ Erst seit dem dreizehnten Jahrhundert kam es etwa bei Nicolaus von Lyra zu Periodisierungen nach Siegeln, Posaunenstößen und anderen Heptaden. Im Rahmen dieser Chronologie sah Campanella die Endzeit mit dem sechsten Posaunenstoß eingeleitet: „Und gemäß der Apokalypse werden die letzten Zeichen des Gerichts am Himmel erscheinen, wenn die Posaune des sechsten Engels erschallen wird.“³⁵ Campanella wähnte sich um 1600 „am Ende des fünften [Posaunenstoßes], der 1518 erschollen ist, zur Zeit der Predigten Luthers“.³⁶ Als Quelle benannte Campanella neben Joachim³⁷ Serafino da Fermos Breve dichiarazione sopra l’Apocalisse (1538).³⁸ Dieser hatte zwar Luther als Vorläufer des Antichrist bezeichnet und sein Erscheinen mit dem fünften der Siegel, Schalen und Posaunenstöße assoziiert, aber keine Jahreszahl genannt.³⁹ Die joachitische Periodisierung nach apokalyptischen Heptaden wirkte auch auf die protestantische Geschichtsschreibung. Andreas Osiander setzte in seiner Sacrorum Bibliorum Pars III (1580) mit dem Jahr 1517 fast dieselbe Zäsur wie Campanella.⁴⁰ Diese markierte bei ihm allerdings das Ende der päpstlichen Herrschaft, ein Ereignis, das für den Protestanten eine andere Bedeutung hatte als für den Katholiken Campanella. Koselleck differenziert in dem Essay Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von Krise zwischen drei verschiedenen Krisenkonzeptionen, der medizinischen, die die kritische Phase einer Krankheit bezeichnete, in der sich die Entscheidung zwischen Leben und Tod vollzog, der theologischen Krise in Form des Jüngsten
34 Die Dauer der drei Zeitalter wird nicht explizit genannt. Sie lässt sich aber aus den Berechnungen zum ersten Zeitalter ableiten. Vorläufer einer solchen Periodisierung waren Rupert von Deutz und Anselm von Havelberg. Vgl. Herbert Grundmann: Studien über Joachim von Floris. Berlin, Leipzig 1927, S. 91–95 (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 32). 35 „si paleseranno in cielo i segnali ultimi del Giudizio quando squillerà la tromba del sesto angelo.“ Campanella, SDD, S. 167. 36 „oggi siamo alla fine della quinta, che risuonò nel 1518, al tempo della predicazione di Lutero.“ Ebd., S. 167. 37 Campanella, Articuli prophetales, S. 36. Vgl. Ernst, Religione, ragione e natura, S. 242. 38 Campanella, Articuli prophetales, S. 74. 39 Serafino da Fermo: Breve dichiarazione sopra l’Apocalisse, dove si prova esser venuto il precursor d’Antichristo. Et avicinarsi la percossa da lui predetta nel sesto sigillo. In ders.: Opera. Venedig 1569, S. 329r f., S. 333v. Die volkssprachlichen Werke Serafino da Fermos standen seit 1583 auf dem Index der römischen Inquisition. Vgl. Adolfo de Castro: The Spanish Protestants and Their Persecution by Philip II: A Historical Work. London 1851, S. 385. 40 Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. Göttingen 1986, S. 85.
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Gerichts am Ende der Zeiten und der juristischen Krise.⁴¹ Den astronomischastrologischen Krisenbegriff berücksichtigt er nicht. Im Rahmen dieses Modells ist Campanellas Argumentation im Zusammenhang des theologischen Krisenmodells zu verorten, wobei Campanella der Sache eine ungewöhnliche Wendung gab, da er nicht das Jüngste Gericht, sondern den Übergang zu einem neuen und irdischen Zeitalter erwartete. Als Gewährsleute für den diesseitigen Charakter des Endreichs benannte er eine ganze Reihe von Autoritäten, von Tertullian über Laktanz bis zu Dante und Petrarca. Zudem kündigten gemäß Campanella sämtliche prophetische Texte des Alten Testaments keine jenseitigen Ereignisse an, sondern solche, „die auf Erden und durch Gott realisiert werden können, um die Wünsche der Frommen zu erfüllen.“⁴² Auch den apokalyptischen Büchern der Bibel unterstellte Campanella, vertreten zu haben, dass der „glückliche universale Staat“⁴³ ein irdischer war, in dem alle politische und religiöse Zersplitterung endgültig aufgehoben sein würde: „Es wird nur eine einzige Schafherde geben und einen einzigen Hirten. Alle werden von demselben Hirten auf die Weide geführt.“⁴⁴ Die Annahme eines glücklichen Endreichs, in dem die spirituelle und säkulare Macht wieder in einer Hand vereint war, nämlich in der sakralen,⁴⁵ und das in vieler Hinsicht die Restitution des ursprünglichen goldenen Zeitalters schien, zeigt, dass die finale Krise bei Campanella kein schreckliches Ereignis war – sie stellte nur den Übergang zu einem glücklicheren irdischen Zeitalter dar. Dabei erwies sich die joachitische Tradition als wirkmächtig für die italienische Kultur des politischen Aufstands – wie vor ihm Cola di Rienzo leitete Campanella aus ihr konkreten politischen Handlungsbedarf ab.⁴⁶
41 Koselleck, Krise, S. 204 f. 42 „poiché essi annunciano apertamente cose che solo in terra si possono avverare e che Iddio realizzerà, appagando i desideri dei buoni.“ Campanella, SDD, S. 143. 43 „avrà luogo sulla terra questo felice Stato ecumenico“. Ebd., S. 141. Das Buch Daniel wird hingegen nicht erwähnt. 44 „Ci sarà un unico ovile e un solo pastore [...] Tutte saran condotte al pascolo da un unico pastore.“ Ebd., S. 139. 45 „il sommo sacerdote e papa sarà sovrano di tutta la terra.“ Ebd., S. 141. 46 Ferrario spricht von einer süditalienischen Kultur der Rebellion. Vgl. Ferrario, Il medico nella Città del Sole, S. 973. Die regionale Eingrenzung ist fragwürdig, denn Cola di Rienzo, der sich 1347 aktiv um die Herbeiführung des Zeitalters des Heiligen Geistes bemühte, war Römer. Vgl. Ronald G. Musto: Cola di Rienzo and the Politics of the New Age. Berkeley u. a. 2003, S. 27.
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3.1.4 Die medizinische Krise Campanellas Operationen mit verschiedenen christlichen Modellen der Geschichtsperiodisierung dienten vor allem zur Begründung der These, dass die Zeitenwende imminent war. Zur exakten Datierung derselben stützte sich Campanella jedoch auf andere Argumente. Aus gutem Grund, denn die millenaristische Fristrechnung, wie sie im Neuen Testament ausdrücklich untersagt wurde, war in einer Verteidigungsschrift gegen die Anklage auf Häresie fehl am Platz.⁴⁷ Gleichwohl insistierte Campanella genau auf diesem Punkt – die Krise kam nicht irgendwann, sondern im Jahr 1600: Und ich habe auf vernünftige Weise vorhergesehen, dass der Beginn dieser Umwälzungen im Jahr 1600 stattfinden würde, da es sich dabei um einen kritischen Zeitpunkt handelt.⁴⁸
Die Verortung der Krise im Jahr 1600 bedurfte daher einer anderen Begründung. Campanella stützte sich auf medizinische Krisenkonzeptionen. Die hippokratische und galenische Lehre von den kritischen Tagen, den dies critici, stellte das zentrale Instrument der Krankheitsprognostik dar, die noch bis weit in die Frühe Neuzeit häufig als wichtigste medizinische Praxis galt.⁴⁹ Aufgrund der starken prognostischen Komponente der Medizin war diese nicht nur in den Augen Campanellas eng mit der Prophetie verwandt, sondern besaß in dem griechischen Gott Apollon einen gemeinsamen Vater.⁵⁰ Auch der Mailänder Arzt und Astrologe Girolamo Cardano betonte die Gemeinsamkeit und apostrophierte Ärzte geradewegs als Propheten.⁵¹
47 Campanella holte das in den Articuli prophetales nach, kombiniert mit astronomischen Argumenten: „Ego autem puto post 1600 hos triginta annos numerandos esse, ut post centenarium Lutheri ponantur, qui fuit in prima parte sextidecimi centenarii, hoc est in 1518, ut sit Antichristus in tricesimo anno decimi septimi centenarii; et hoc inferius notabimus, quando absis Saturni intrabit in Capricornum.“ Campanella, Articuli prophetales, S. 203 f. 48 „Che poi io abbia ragionevolmente previsto che l’inizio di tali mutazioni si sarebbe verificato l’anno 1600, risulta dal fatto che si tratta di un momento cruciale dei tempi.“ Campanella, SDD, S. 167. 49 Trotz der frühneuzeitlichen Debatte um die Lehre von den kritischen Tagen ist die medizinische Prognostik im Mittelalter besser untersucht. Vgl. Giuseppe dell’Anna: Dies critici: La teoria della ciclicità delle patologie nel XIV secolo. Bd. 1 (Dies et crises). Lecce 1999; Luke Demaître: The Art and Science of Prognostication in Early University Medicine. Bulletin of the History of Medicine 77, 4 (2003), S. 765–788. 50 Maclean, Logic, Signs and Nature, S. 301. 51 Anthony Grafton, Nancy Siraisi: Between the Election and My Hopes: Girolamo Cardano and Medical Astrology. In: William R. Newman, Anthony Grafton (Hg.): Secrets of Nature: Astrology and Alchemy in Early Modern Europe. Cambridge, MA, London 2001, S. 69–131, S. 101.
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Gemäß der Lehre von den kritischen Tagen, die maßgeblich anhand des Modells von Fiebererkrankungen entwickelt wurde,⁵² war ein entscheidender Wandel des Krankheitsverlaufs an den sogenannten kritischen Tagen zu erwarten. Dieser konnte in einer deutlichen Verschlechterung oder Verbesserung der Gesundheit eines Patienten bestehen. Die medizinische Krise konnte entweder als iudicium, als finales Gerichtsurteil, oder als Kampf zwischen Krankheit und Gesundheit verstanden werden.⁵³ Spätestens seit dem Hochmittelalter wurde die Lehre von den kritischen Tagen nicht ausschließlich zu prognostischen Zwecken, sondern auch verstärkt zur Diagnostik und Therapie eingesetzt.⁵⁴ Campanella erschien das Jahr 1600 vor allem deshalb so prekär, da es sich aus zwei fatalen Zahlen, nämlich der Sieben und der Neun zusammensetzte. So erklärt er, dass sich die Umwälzung sehr wahrscheinlich zu unserer Zeit vollziehen wird, da Umwälzungen stets zu den kritischen Zeitpunkten stattfinden, das heißt, zu den Neunhundertern und Siebenhundertern, sowie zu deren Kombinationen.⁵⁵
Campanellas Deutung der Siebener und Neuner, der Hebdomaden und Enneaden, als Krisenindikatoren rekurrierte auf die hippokratische Version der Lehre von den kritischen Tagen, die sich auf die Relevanz der pythagoreischen Zahlen stützte. So hieß es in Hippokrates’ Aphorismen: Der vierte Tag zeigt den siebten Tag an, der achte ist der Beginn der zweiten Woche, und da der elfte Tag der vierte der zweiten Woche ist, ist er ebenfalls ein anzeigender Tag, und auch der siebzehnte Tag ist ein anzeigender Tag, da er der vierte vom vierzehnten aus ist, und der siebte vom elften aus gesehen.⁵⁶
Im Prognostikon wurden die unterschiedlichen Längen von Krankheitszyklen erörtert:⁵⁷
52 Dell’Anna, Dies critici, S. 155. 53 Ebd. S. 230. 54 Zur Diagnose und Therapie nach Maßgabe der kritischen Tage vgl. insbesondere Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Astrologisch-magische Theorie und Praxis in der Heilkunde der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 1985, S. 135–175. 55 „dobbiamo credere che la mutazione si verifichi probabilmente ai nostri giorni, poiché sempre sogliono avvenire nei momenti cruciali, cioè nel novenario e nel settenario, nonché nei composti.“ Campanella, SDD, S. 167. 56 Hippocrates: Aphorisms. In ders.: Hippocrates. Bd. 3. Hg. u. übers. von E.T. Withington. Cambridge 1968, II, 24, S. 329. 57 Dell’Anna, Dies critici, S. 46.
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Denn die mildesten Formen des Fiebers und jene, die mit den günstigsten Symptomen beginnen, enden am vierten Tag oder früher; die schlimmsten und jene, die mit den gefährlichsten Symptomen beginnen, entscheiden sich am vierten Tag oder früher. Die erste Art von ihnen endet an diesem Punkt, die zweite erstreckt sich bis zum siebten Tag, die dritte zum elften, die vierte zum vierzehnten, die fünfte zum siebzehnten und die sechste zum zwanzigsten Tag.⁵⁸
Campanella rekurrierte nicht nur auf die hippokratische Variante der medizinischen Krisenlehre, die die fatale Wirkung der kritischen Tage aus den pythagoreischen Zahlen ableitete, sondern auch auf Galen, der die hippokratischen Siebentagesfristen im neunten Kapitel des dritten Buchs in De diebus decretoriis systematisch auf den Mondlauf bezog. Dieses Kapitel stellte für die kommenden Jahrhunderte das zentrale Einfallstor der Astrologie in die Medizin dar.⁵⁹ Ausgangspunkt für die Berechnung der kritischen Tage war bei Galen der Mondstand zum Zeitpunkt des Krankheitsbeginns. Der siebte und kritische Tag fiel mit der ersten Quadratur des Mondes zusammen, das heißt, er bildete ein Quadrat, einen als ungünstig geltenden Winkel von 90° zu seiner Ausgangsposition zum Krankheitsausbruch. Am 14., dem zweiten kritischen Tag, bildete er eine Opposition zur Ausgangsstellung zu Krankheitsbeginn, also einen astrologisch gesehen besonders ungünstigen Winkel von 180°. Für den 21. Tag galt Ähnliches wie für den siebten. Campanella erwähnte diese Theorie in seinen beiden Verteidigungsschriften nicht, möglicherweise, weil er sie zu diesem Zeitpunkt nicht kannte. In Del senso delle cose griff er sie jedoch in dem Kapitel mit instruktivem Titel „Warum die Astrologie für den guten Magier und seine Kräfte notwendig ist“⁶⁰ auf und konstatierte: Die Medizin bemüht sich [...], die kritischen Tage zu beachten, und diese hängen vom Mondlauf ab; deshalb ist der vierte Tag kritisch, weil der Mond in dem Zeichen ankommt, das jenem entgegengesetzt ist, in welchem die Krankheit ausgebrochen ist, und er hat eine der Krankheit entgegengesetzte Wirkung, entweder heilt er oder er verschlimmert die Krankheit.⁶¹
58 Hippokrates: Das Buch der Prognosen (Prognostikon). In ders.: Ausgewählte Schriften. Hg. u. übers. von Hans Diller. Stuttgart 1994, I, 20, S. 77–103, S. 96. 59 Karl Sudhoff: Iatromathematiker vornehmlich im 15. und 16. Jahrhundert. Breslau 1902, S. 16. 60 „Esser necessaria l’Astrologia al mago buono e la sua forza.“ Vgl. Campanella, Del senso, S. 315. 61 „La medicina si sforza [...] d’osservare li giorni critici, e questi pendono dalla luna; però il quarto è critico chè arriva al segno contrario di quello dove il morbo cominciò, e fa effetto contrario, o sana o ammala.“ Ebd., S. 324.
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Campanella ging noch weiter und brachte sämtliche hippokratischen Krisentage mit den Aspekten des Mondes in Konvergenz:⁶² und der vierte Tag zeigt den siebten an, denn dann kommt er [der Mond] im anderen entgegengesetzten Zeichen an, ähnlich dem ersten und in seinem perfekten Quadrat [...], in dem eine Umwälzung stattfinden muss.⁶³
Dabei begründete er nicht nur die kritischen, sondern auch die anzeigenden Tage (dies decretoriis) des hippokratischen Modells wie den vierten astrologisch, indem er die negative Wirkung von Halbquadraten, also Winkelbeziehungen von 45° Grad betonte, von denen nichts Besseres als von den Quadraten zu erwarten war. Die anzeigenden Tage waren nicht nur aus numerischen, sondern auch aus astrologischen Gründen krisenhaft. Die These der systematischen Konkordanz zwischen Winkelsummen und anzeigenden und kritischen Tagen⁶⁴ stammte aus dem einflussreichen arabischen Kommentar des Haly Abenragel aus dem elften Jahrhundert zu dem pseudo-ptolemäischen Centiloquium, der sowohl im Mittelalter als auch in der Frühen Neuzeit regelmäßig zusammen mit diesem zirkulierte.⁶⁵ Halys sogenannte Figur des Sechzehnecks, die Figura Ptolemaei Sexdecagona, durchzog die medizinischen Publikationen zur Lehre von den kritischen Tagen, die Campanella gekannt haben dürfte. Davon zeugen seine detaillierten Ausführungen zum Thema „De crisibus“ mit all ihren medizinischen und astrologischen Implikationen in den Medicinalia.⁶⁶ Campanellas Insistieren auf dem kritischen Charakter des Jahres 1600 bedeutete nicht, dass er mit dem Eintritt der Krisenindikatoren die Endzeit zwangsläufig eingeläutet sah. Vielmehr stellte die Zusammensetzung des Jahres 1600 aus zwei fatalen Zahlen im Sinne der medizinischen Semiotik selbst ein prognostisch, bzw. diagnostisch relevantes Zeichen dar, das Krisen anzeigte, sie aber nicht verursachte. In den Augen Campanellas handelte es sich bei den kritischen und fatalen Zahlen um signa, nicht um causae der irdischen Ereignisse. In Hin-
62 „Idem observabis in sequenti hebdomade, in die 18 et 21, semperque incipias numerum sequentis in numero postremo praecedentis, in medio septenariorum, non autem in fine: ut congruat numeratio critica, aspectibus lunaribus in coelo.“ Aus einer lateinischen Fassung, mit der Bruers den italienischen Text abgeglichen hat. Ebd., S. 325. 63 „e il quarto è indicativo del settimo, perchè allora arriva all’altro contrario consimile a quello e al perfetto quadrato [...], ond’è bisogno che sia la mutazione.“ Ebd., S. 324. 64 Dell’Anna, Dies critici, S. 86. 65 Ebd., S. 83. 66 Campanella, Medicinalia, S. 115–140.
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blick auf astrale Zeichen bemerkte Campanella, dass die Sterne ihn selbst unter Folter nicht vermocht hatten, zu einem Geständnis zu zwingen: Daher also wirken die natürlichen Dinge und die Sterne ohne Beeinträchtigung des freien Willens, da man einen Menschen findet, der eher 40 Stunden Folter ertragen hat als dem Richter das zu sagen, was er wissen wollte. Wenn nicht einmal solche Gewalt den Willen überwinden kann, umso weniger können es die Sterne.⁶⁷
Astrale Konstellationen waren ebenso wenig wie andere Zeichen kausal für irdische Ereignisse verantwortlich, sondern besaßen lediglich eine anzeigende Funktion. Die von Campanella prognostizierte Krise vollzog sich nicht unabhängig vom irdischen Zutun. Das semiotische medizinische Verfahren diente vielmehr dazu, den richtigen Zeitpunkt für die therapeutische Intervention ins Geschehen zu bestimmen.
3.1.5 Krankheitszeichen Zur Krankheitsprognostik und -diagnostik gehörten auch Krankheitszeichen. An diesen fehlte es nach der Einschätzung Campanellas um 1600 in Süditalien nicht. So stellte er eine stattliche Liste bedenklicher Krisensymptome zusammen, die sich jüngst in der Sphäre der Natur und der Politik manifestiert hatten. Dazu zählten die Sonnen- und Mondfinsternisse, die Überschwemmungen, die Sexualkrankheiten, die Entdeckung Amerikas, die Kalenderreform unter Gregor XIII., die Hungersnöte, die Seuchen, die Häresien der Vergangenheit, die erstaunlichen Planetenbewegungen, die Volkszählung im Königreich Neapel, die bevorstehende Teilung des Osmanischen Reichs, der Mangel an Glauben, die entsetzliche Heuschreckeninvasion in Italien [...].⁶⁸
Wenige Seiten zuvor benannte er weitere Symptome, nämlich
67 „Dunque, le cose naturali ciò fanno e le stelle, senza pregiudizio del libero arbitrio, poichè trovi un uomo sostenere quarant’ore di tormenti, più tosto di dire al Giudice quel che cerca. Se questa violenza non può vincere la volontà, manco ponno le stelle.“ Campanella, Del senso, S. 316. 68 „le eclissi, le inondazioni, le malattie veneree, la scoperta dell’America, la riforma del calendario al tempo di Gregorio XIII., le carestie, le pestilenze, le passate eresie, gl’inauditi moti stellari, il censimento nel Regno di Napoli, l’imminente divisione dell’impero turco, la scarsità di fede, la mostruosa invasione delle cavallette in Italia [...].“ Campanella, SDD, S. 169.
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die Epidemien, [...] die Kriege, die Häresien, den Abfall vom Glauben, die erstarrte Barmherzigkeit, die Erdbeben in den beiden Sizilien, die Tiber- und die Poüberschwemmungen, [...] die häufigen Sonnen- und Mondfinsternisse, die gerade stattgefunden haben oder unmittelbar bevorstehen, vor allem in den Jahren 1601, 1605 und 1607.⁶⁹
Angesichts dieser erdrückenden Menge von Zeichen und Symptomen stellte Campanella die ungünstige Diagnose: „Es handelt sich tatsächlich um eine tödliche Krankheit der Welt.“⁷⁰ Dass die Welt überhaupt erkranken und eine medizinische Krise erleiden konnte, resultierte daraus, dass Campanella sie als Lebewesen konzipierte. In dem Sonett Del mondo e sue parti (Von der Welt und ihren Teilen) beschrieb er sie als allumfassendes Lebewesen, in dessen Bauch die Menschen lebten wie die von Campanella vermuteten Würmer im menschlichen Magen: Die Welt ist ein großes Lebewesen, vollkommen; Ein Bildnis Gottes, das Gott preist und ihm ähnelt: unvollkommene Würmer sind wir, ein übles Geschlecht, die wir in ihrem Bauch leben und Zuflucht haben.⁷¹
Als Lebewesen konnte die Welt auch von Krankheiten heimgesucht werden, ebenso wie von Krisen. So konstatierte Campanella: „es ist natürlich, dass die Welt an Krankheiten zugrunde geht, da Gott ihr doch eine solche Natur verliehen hat.“⁷² Nachdem er eine Fülle von Krankheitszeichen ausgemacht hatte, ging er als kompetenter Mediziner im nächsten Schritt zur Lokalisierung der Krankheit über. Die Symptome ballten sich in Kalabrien, namentlich in Stilo, wo Campanella sie selbst gesehen hatte. Dort ereignete sich in der Karwoche des Jahres 1599 in Folge starker Regenfälle eine nie dagewesene Überschwemmung, im Juni des gleichen Jahrs erschien ein Komet über Stilo, im benachbarten Crotone fand eine Monstergeburt statt und Campanellas visionsbegabte Cousine Emilia war drei Tage lang scheintot.⁷³
69 „[...] le pestilenze, [...] e le guerre, e le eresie, e la scarsezza di fede, e la carità raggelata, e i terremoti delle due Sicilie, le inondazioni del Tevere e del Po, [...] e le frequenti eclissi di sole e di luna verificatesi da poco o imminenti, specie negli anni 1601, 1605 e 1607.“ Ebd., S. 163. 70 „Si tratta in verità di malattie mortali del mondo.“ Ebd., S. 163. 71 „Il mondo è un animal grande e perfetto,/ statua di Dio, che Dio lauda e simiglia:/ noi siamo vermi imperfetti e vil famiglia,/ ch’intra il suo ventre abbiam vita e ricetto.“ Tommaso Campanella: Tutte le opere. Bd. 1. Scritti letterari. Hg. von Luigi Firpo. Mailand 1954, S. 16. 72 „è naturale che il mondo perisca per malattie, avendogli Iddio conferito tale natura.“ Campanella, SDD, S. 165. 73 Ebd., S. 173.
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Angesichts der signifikanten Häufung von Symptomen in seiner kalabresischen Heimat kam Campanella zu dem Schluss: „Wo Schweiß ist, da ist auch eine Krankheit.“⁷⁴ Das war ein fast wörtlicher Rekurs auf den hippokratischen Aphorismus, der die Feststellung des ‚Sitzes‘ einer Krankheit anhand der Manifestation von Symptomen thematisierte: „Und an welchem Körperteil auch immer Schweiß austritt, so zeigt er an, dass die Krankheit dort sitzt.“⁷⁵ Darüber hinaus war Schweiß das klassische Symptom für den Eintritt der Krise im Krankheitsverlauf, sofern er an einem kritischen Tag auftrat.⁷⁶ Das war Campanella bewusst, denn in den Medicinalia handelte er den Schweiß als Krisenindikator in einem eigenen Kapitel ab („De crisi per sudorem“).⁷⁷
3.1.6 Die kritischen Jahre Die pythagoreischen Zahlen, insbesondere die Sieben,⁷⁸ gliederten bei Hippokrates eine ganze Reihe von Intervallen wie den Pulsschlag, die Embryonalentwicklung, die Lebensalter und kosmische Prozesse.⁷⁹ Auch bei Campanella erstreckte sich die Wirkmacht der pythagoreischen Zahlen nicht nur auf den Krankheitsverlauf, sondern auf zahlreiche weitere Lebensprozesse: „Darüber hinaus findet der Wandel der Fieber, der Lebensalter und der physiologischen Konstitutionen zu den Siebenern und Neunern statt.“⁸⁰ Insbesondere rekurrierte er auf das Modell der Lebensalter, dem sogenannten Klimakterium. Die von Campanella evozierte Variante gliederte sich in sieben Altersstufen, deren Beginn jeweils durch ein Produkt der Sieben angezeigt
74 „Dov’è sudore, ivi è malattia, dice Ippocrate.“ Ebd., S. 173. 75 Hippokrates, Aphorismen, IV 38, S. 355. 76 Charles Lichtenthaeler: Neuer Kommentar zu den ersten zwölf Krankengeschichten im III. Epidemienbuch des Hippokrates. Stuttgart 1994, S. 23. 77 Campanella, Medicinalia, S. 124–126. 78 Zu den Heptaden vgl. Hippokrates: Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl in ihrer vierfachen Überlieferung. Hg. u. komm. von Wilhelm H. Roscher. Paderborn 1913; ders.: Die hippokratische Schrift von der Siebenzahl und ihr Verhältnis zum Altpythagoreismus. Ein Beitrag zur Geschichte der ältesten Philosophie und Geographie. Leipzig 1919. 79 Zur Periodisierung nach pythagoreischen Zahlen vgl. Censorinus: Betrachtungen zum Tag der Geburt. De die natali. Hg. u. übers. von Klaus Sallmann. Leipzig 1988, (10. 6–15, 6.), S. 41–59. 80 „Inoltre nei settenari e nei novenari si trasmutano le febbri, le età di vita, le complessioni corporali [...]“. Campanella, SDD, S. 167.
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wurde.⁸¹ In jeder Altersstufe änderte sich auch das Verhältnis der Körpersäfte nach Maßgabe der pythagoreischen Zahlen. So konstatierte Campanella: Der Einfluss der Sieben und der Neun und ihrer Komposita wurde von Pythagoras aufgezeigt, wie die periodischen Rhythmen der Krankheiten und die Abfolge der Altersstufen beweisen, in denen sich die Konstitution verändert.⁸²
Kritisch, bzw. ‚klimakterisch‘ war innerhalb der heptadischen Konzeption der Lebensalter stets das siebte Jahr. Das hatte Censorinus bereits in der Spätantike in De die natali festgestellt: „Entsprechend ist auch im Ablauf des gesamten Lebens jeweils das siebte Jahr gefährlich und sozusagen ‚kritisch‘ und wird daher ‚klimakterisches‘ genannt.“⁸³ Noch kritischer als die Endpunkte der Hebdomaden waren allerdings die Quadratzahlen, insbesondere das Quadrat der Sieben. Neben dem sehr kritischen 49. Jahr stand auch das 63. Jahr im Ruf, besonders kritisch zu sein, da es das Produkt der Sieben und der Neun war.⁸⁴ Die Konzeption des kritischen Jahres als Kompositum der Sieben und der Neun war eine zentrale Referenz für Campanellas These des kritischen Charakters des Jahres 1600. So wurde er nicht müde zu behaupten: „Denn da das Jahr 1600 aus 700 und 900 zusammengesetzt ist, ist es offensichtlich, dass es kritisch ist und entscheidend für die großen Umwälzungen der irdischen Dinge.“⁸⁵ Was Campanella allerdings von Censorinus und von Ptolemäus unterschied, der in der Tetrabiblos (um 200 nach Christus) eine astrologische Variante des Klimakteriums präsentierte, die jedem Lebensalter einen Planeten zuordnete,⁸⁶ war zweierlei: Zum einen übertrug Campanella das Modell der kritischen Jahre von Lebewesen auf den ‚Lebenszyklus‘ von Staatsgebilden, zum anderen operierte er mit einer Jahrhundertrechnung, die nicht antik, sondern modern war. Campanella war nicht der einzige frühneuzeitliche politische Philosoph, der die Lehre von den kritischen Jahren für die Reflexion über die Lebensphasen staatlicher Gebilde fruchtbar machte und annahm, dass nicht nur das Buch der
81 Es gab auch Unterteilungen in zwei oder drei Lebensabschnitte (Aristoteles, Galen, arabische Medizin), in vier Stufen nach dem Modell der Jahreszeiten, die mit der Anzahl der Körpersäfte konvergierten, eine Fünfteilung (Varro) und eine Zehnteilung (Solon). Vgl. Schäfer, Alter und Krankheit, S. 34 f., 67. 82 Campanella, PDD, S. 87. 83 Censorinus, De die natali, S. 53. 84 Ebd., S. 53. 85 „Essendo dunque l’anno 1600 composto dal settimo e dal nono centenario, è palese ch’esso è critico e decisivo per le grandi mutazioni delle cose terrene.“ Campanella, SDD, S. 169. 86 Vgl. Ptolemäus, Tetrabiblos IV. Campanella übernahm diese Konzeption später in seiner naturphilosophischen Schrift Del senso delle cose. Campanella, Del senso, S. 326.
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Natur, sondern auch jenes der Geschichte in der Sprache der Mathematik verfasst war. So schrieb der Theoretiker der Staatsräson Bonaventura über das Achtmonatskind, De octimestri partu (1596),⁸⁷ ein Werk, das ausführlich zur Lehre von den kritischen Tagen Stellung nahm. Ebenso legte der Souveränitätstheoretiker Claude Saumaise, vor allem durch seine politische Kontroverse mit John Milton bekannt, mitten im Englischen Bürgerkrieg ein Werk über die kritischen Jahre vor, De annis climactericis et antiqua astrologia diatribae (1648).⁸⁸ In seinen beiden Verteidigungsschriften stützte sich Campanella für die These, dass sich nicht nur der Lebenszyklus von Lebewesen, sondern auch jener der Staaten nach Maßgabe der kritischen Jahre gliederte, auch auf Bodin. Der französische Souveränitätstheoretiker, den Campanella nur vorsichtig als „Autor der Methodus historiarum“⁸⁹ apostrophierte – nicht ohne Grund, denn die Methodus ad facilem historiarum cognitionem (1566) war wie die meisten Werke Bodins indiziert – habe den Lebenszyklus von Staaten ebenfalls von den Siebenern und Neunern abhängig gemacht und vertreten, „dass die Reiche zur Siebenzahl und Neunzahl untergehen, wie es bei den Assyrern, Persern, Medern und Griechen, etc. der Fall war.“⁹⁰ Ganz so einfach hatte es sich Bodin zwar nicht gemacht, doch tatsächlich scheute er sowohl in der Methodus⁹¹ als auch in den Six livres de la république keine Mühen, den Verlauf der Geschichte mit mathematischen Verhältnissen und fatalen Zahlen in Übereinstimmung zu bringen.⁹² Im Vergleich zu Bodin stützte sich Campanella auf eher unorthodoxe fatale Zahlen, die nur scheinbar aus der Lehre von den kritischen Jahren abgeleitet waren. Während Bodin konstatierte, dass „die Zahlen Sieben und Neun die Geburt des Menschen und wie die aus der Multiplikation der beiden entstehende Zahl zumeist das Lebensende des Menschen bestimmen“⁹³ , hielt Campanella nicht das Produkt der beiden fatalen Zahlen, der Sieben und der Neun, für kri-
87 Federico Bonaventura: De partus octomestri natura, adversus vulgatam opinionem libri 10 (1601). 88 Den Anlass von Saumaises gelehrten Ausführungen, die auch in Hinblick auf die Zeitrechnung sehr interessant waren, bildete der Tod Friedrich Heinrichs von Oranien im Alter von 63 Jahren. 89 „l’autore del Metodo storico“, Campanella, PDD, S. 87, SDD, S. 167. 90 „che i regni e gli imperi perirono nel settenario e nel novenario, come risulta negli Assiri, Persiani, Medi, Greci ecc.“ Campanella, SDD, S. 167. 91 Jean Bodin: Méthode pour faciliter la connaissance de l’histoire. In ders.: Œvres philosophiques. Übers. von Pierre Mesnard. Paris 1951, S. 271–479. Das einschlägige Kapitel ist das sechste, S. 387–395. 92 Vgl. hier Kap. 3.2. 93 Jean Bodin: Sechs Bücher über den Staat. Hg. von P.C. Mayer-Tasch. 2 Bde. Bd. 2. München 1986 [im Folgenden Staat II], S. 75.
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tisch, sondern ihre Summe. Während Bodin das 63. ganz konventionell als das kritischste Lebenjahr bezeichnete,⁹⁴ schuf Campanella durch Addition eine neue kritische Zahl, die 16, die vor ihm noch niemand für kritisch befunden hatte. Zudem hielt Campanella auch nicht das Jahr 16, sondern das Jahr 1600 für kritisch. Die zusätzlichen Nullen begründete er lapidar mit dem Verweis auf Psalm 90, 4, in dem es hieß: „Denn tausend Jahre sind vor Dir wie der Tag, der gestern vergangen ist und wie eine Nachtwache.“⁹⁵ Dieser Passus war einer der argumentativen Grundpfeiler der millenaristischen Spekulation. Allerdings legitimierte er die Multiplikation mit 1.000, nicht mit 100, schon allein aus dem Grund, da sich die Relevanz der 100 erst aus dem Dezimalsystem ergab, das der Antike unbekannt war. Campanellas Zahlenspekulationen mit Hundertern hatten mit der millenaristischen Tradition nichts zu tun, sondern waren origineller als sie erschienen. Um 1600 war die Operation mit Jahrhunderten als Zeiteinheit noch ungewöhnlich. Campanella zählte zu ihren frühesten Verwendern.⁹⁶ In den Articuli prophetalis sprach er mehrfach mit großer Selbstverständlichkeit vom sechzehnten Jahrhundert.⁹⁷ Dass die Jahrhundertrechnung um 1600 unüblich war, lässt sich auch daran ersehen, dass das für uns naheliegendste Argument für die Krisenhaftigkeit des Jahres 1600, der Beginn eines neuen Jahrhunderts, bei Campanella trotz seiner Vertrautheit mit der Hundert als Zeiteinheit völlig fehlt. Campanella stützte sich bei seiner Argumentation zugunsten der Krise des Jahres 1600 auf die traditionelle medizinische Lehre von den kritischen Jahren. Durch die Hinzunahme von neuen Elementen der Zeitrechnung generierte er jedoch ganz unkonventionelle fatale Zahlen.
3.1.7 Nach der Krise Die Krise des Jahres 1600 war eine Fehldiagnose. Ein bedeutender politischer Umsturz fand nicht statt, vielmehr konnte sich Campanella glücklich schätzen, noch am Leben zu sein. Trotzdem gab er den Gedanken einer imminenten Krise
94 Bodin, Méthode, S. 389. 95 Campanella fasste den Psalm sinngemäß zusammen, „per Dio mille anni non siano che un giorno.“ Campanella, SDD, S. 167. 96 In seiner Studie über die Jahrhundertrechnung hat Brendecke Campanella als einen der frühesten Verwender des Begriffs centenarius für einen Zeitraum von 100 Jahren erwiesen. Vgl. Arndt Brendecke: Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung. Frankfurt, New York 1999, S. 90, 119. 97 Vgl. Campanella, Articuli prophetales, S. 203 f., 255.
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nicht auf, sondern tat das, was die millenaristische Tradition schon immer getan hatte – er verschob den Termin in die Zukunft. Die neuen kritischen Zeitpunkte begründete Campanella zunehmend astrologisch und astronomisch, möglicherweise auch, weil er erst später, um 1610 im Zuge der Niederschrift der Articuli prophetales mit diesen Wissensgebieten in Berührung kam.⁹⁸ Manche astrologischastronomische Spekulation kannte Campanella jedoch schon zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung. So hielt er mehrere Sonnen- und Mondfinsternisse um 1600 für wichtige Krisenindikatoren: und außerdem verweisen die Ephemeriden von Cyprian von Leowitz aufgrund der großen Eklipsen, die in zwei Jahren einsetzen [d.i. 1601] und bis 1605 anhalten werden, auf große Erneuerungen, da die Veränderungen der kosmischen Dinge diejenigen in der Sphäre der Menschen anzeigen.⁹⁹
Damit rekurrierte er auf den böhmischen Mathematiker und Astronomen Cyprian von Leowitz, der vor allem für seine Lehre von den großen Konjunktionen, wie er sie in De coniunctionibus magnis superiorum planetarum (1564) vertrat, bekannt war.¹⁰⁰ Campanella kannte dieses Werk offenbar nicht, sondern bezog sich auf seine Ephemeriden Ephemeridum novum opus ab anno 1556 ad 1606 (1557).¹⁰¹ Cyprian von Leowitz war einer der wenigen protestantischen Autoren, die den Geschichtsverlauf auf der Grundlage von astronomischen Phänomenen wie den Konjunktionen periodisierten.¹⁰² Campanella hatte selbst in seinen Verteidigungsschriften keine Scheu, sich positiv auf protestantische Autoren zu beziehen. Das wurde besonders an der Stelle deutlich, an der er die genannten Eklipsen für relativ unwichtig erklärte:
98 Germana Ernst: Nota introduttiva. In: Tommaso Campanella: Articuli prophetales. Hg. von Germana Ernst. Florenz 1977, S. XII–XLVI, S. XXVI. 99 „E di più, l’efemeridi di Cipriano Leovizio per li gran eclissi, che cominciaro da due anni in qua e ch’hanno d’essere sin alli 1605, mostrano gan novità, sendo che le mutazioni nelle cose magne significano quelle che seranno fra gli uomini.“ Campanella, Dichiarazione di Castelvetere, S. 54 f. 100 Cyprian von Leowitz: De coniunctionibus magnis superiorum planetarum, solis defectionibus et cometis in quarta monarchia, cum eorumdem effectuum in historica expositione (1564). 101 Campanella könnte auch seine Schrift über die bevorstehenden Sonnen- und Mondfinsternisse meinen, die Eclipses luminarium supputatae (1554). 102 Deshalb wird er im Zusammenhang der protestantischen Historiographie nur selten erwähnt. Vgl. Claudia Brosseder: The Writing in the Wittenberg Sky: Astrology in Sixteenth-Century Germany. In: Journal of the History of Ideas 66, 4 (2005), S. 557–576, S. 569. Die zweite wichtige Ausnahme ist Johannes Kepler.
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die häufigen Sonnen- und Mondfinsternisse, die sich gerade erst oder in unmittelbarer Zukunft ereignen werden, vor allem in den Jahren 1601, 1605 und 1607. Und trotzdem, all diese außergewöhnlichen Ereignisse sind noch gar nichts im Vergleich zu den Exorbitanzen der Sonne und der Fixsterne.¹⁰³
Denn die Exorbitanzen der Sonne, eine astronomische Anomalie, die eine unregelmäßige Bahnbewegung der Sonne voraussetzte, entstammten der Sonnentheorie von Philipp Melanchthon, wie er sie in Initia doctrinae phsicae (1549) formuliert hatte: This eccentricity is now less than it was at the time of Hipparchus and Ptolemy. For now it corresponds to 36 semidiameters of the earth, and 48 minutes. Therefore the sun has lost around a quarter of its altitude within the thickness of the eccentric sphere (1/4 of its eccentricity), a matter clearly worthy of astonishment. For one can wonder whether the sun has become weak and is sinking because the world has grown old and the universe is gradually collapsing, or whether the earth has become weak in its old age and needs the sun, which nurtures it, to be closer. For at present the sun is closer to the earth than in Ptolemy’s time, at both the summer and the winter solstice, by 9,976 German miles. That is to say that the sun is around six times closer to the earth than the earth itself is deep.¹⁰⁴
Im Anschluss an Melanchthon verstand Campanella diese Anomalie nicht als zyklischen Prozess, sondern als eine lineare Entwicklung, die über kurz oder lang in einer Kollision mit der Sonne münden musste.¹⁰⁵ Während sich Eklipsen zeitlich ziemlich genau vorhersagen ließen, war der Zeitpunkt des Zusammenstoßes zwischen Sonne und Erde nur schwer bestimmbar. Die meisten Argumente für eine astronomisch-astrologische Krise finden sich neben den Articuli prophetales in La Città del Sole und Del senso delle cose. Dass Campanella die Hoffnung auf eine fundamentale Umwälzung nicht aufgegeben hatte, sondern diese inzwischen nur anders begründete, wird in der Città del Sole besonders deutlich: Aber wenn der Apex von Saturn den Steinbock betritt und der des Merkur den Schützen, und derjenige des Mars die Jungfrau erreicht, und wenn nach der Erscheinung des neuen Sterns in der Kassiopeia die großen Konjunktionen in die erste Triplizität zurückkehren,
103 „e le frequenti eclissi di sole e di luna verificatesi da poco o imminenti, specie negli anni 1601, 1605 e 1607, ebbene, tutti questi eventi tanto straordinari sarebbero un nulla di fronte alle esorbitanze del sole e delle stelle fisse.“ Campanella, SDD, S. 163. 104 Philipp Melanchthon: Initia doctrinae physicae (1549). Zitiert nach Grafton, Scaliger, S. 353. 105 Auch Bock und Ernst referieren diese Überlegungen Campanellas, benennen aber nicht Melanchthon als Quelle. Bock, Campanella, S. 257–264; Ernst, Religione, ragione e natura, S. 242.
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wird eine große neue Monarchie entstehen und eine Gesetzesreform, und die Erneuerung der Künste und Propheten wird stattfinden.¹⁰⁶
Hier waren zahlreiche astronomische und astrologische Krisenkonzeptionen benannt, die von der Exzentrizität der Planetenbahnen über die Lehre von den großen Konjunktionen bis zu dem Erscheinen der neuen Sterne reichte, den beiden Supernovae, die von Tycho Brahe und Johannes Kepler beobachtet worden waren. Die Rede von den Planetenapsiden, die durch verschiedene Tierkreiszeichen wanderten, bezog sich auf einen Befund von Nikolaus Kopernikus. Die These, dass solche astronomischen Phänomene eine Wirkung auf den Geschichtsverlauf hatten, stammte jedoch von Kopernikus’ Schüler Georg Joachim Rheticus, der sie zusammen mit den Konzeptionen seines Lehrers in der Narratio prima (1540) veröffentlichte.¹⁰⁷ Er ergänzte die kopernikanische Lehre um die Theorie, dass der Aufstieg und Niedergang der Monarchien und Religionen vom zyklischen Verlauf der Exzentrizität der Erdbahn abhing. Kopernikus hatte eine variable Geschwindigkeit der Exzentrizität der Erde, ihrer größtmöglichen Annäherung und Entfernung von der Sonne, angenommen, die sich alle 1717 Jahre änderte. Rheticus kombinierte diesen Befund mit der astrologischen These, dass die Wirkung eines Planeten in seinem Apogäum erhöht, in seinem Perigäum erniedrigt sei. So nahm er an, dass sich die römische Republik zum Zeitpunkt der maximalen Exzentrizität in eine Monarchie verwandelte und die Abnahme der Exzentrizität mit dem Niedergang des römischen Reichs einherging. Auch für das siebzehnte Jahrhundert gab es eine Prognose, nämlich den Niedergang des Islam.¹⁰⁸ Campanella griff diese These nicht auf, sondern schmückte wie Rheticus andere kopernikanische Befunde astrologisch aus. So schrieb er der Bewegung der Planetenapsiden durch die Ekliptik eine Auswirkung auf den Geschichtsverlauf zu. Neben dieser wirkten sich gemäß Campanella vor allem die großen Konjunktionen auf den Geschichtsverlauf aus: wie die Apsis des Merkur [im Skorpion] jetzt, wo wir uns in der vierten Triplizität befinden, zur Zeit, als die großen Konjunktionen im Krebs stattfanden, zusammen mit dem Mond,
106 „Ma entrando l’asside di Saturno in Capricorno, e di Mercurio in Sagittario, e di Marte in Vergine, e le congiunzioni magne tornando alla triplicità prima dopo l’apparizion della stella nova in Cassiopea, sarà grande monarchia nova, e di leggi riforma e di arti, e profeti, e rinovazione.“ Campanella, Città del Sole, S. 55. 107 De revolutionibus orbium coelestium erschien erst 1543. 108 John North: Viewegs Geschichte der Astronomie und Kosmologie. Braunschweig, Wiesbaden 1997, S. 194. Außer North hat sich kaum jemand mit dieser eigenwilligen Geschichtsperiodisierung beschäftigt.
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Jupiter und Mars diese Erfindungen [des Magneten, der Druckpresse und der Hakenbüchse] bewirkte, die in diesem Zeichen die neue Navigationskunst, neue Reiche und neue Waffen fördern.¹⁰⁹
Die Lehre von den großen Konjunktionen gründete auf dem astronomischen Umstand, dass sich die beiden Planeten mit dem längsten Umlaufzyklus, Jupiter und Saturn, relativ selten, alle 20 Jahre, in Form einer Konjunktion in nächster Nähe am Himmel ‚begegnen‘.¹¹⁰ Das lange Intervall der Konjunktionen von Saturn und Jupiter machte diese besonders interessant für die Geschichtsperiodisierung. Es gab drei Arten von großen Konjunktionen. Unter Zugrundelegung der mittleren Bewegung trafen die beiden Planeten ungefähr alle 20 Jahre zusammen, wobei sich der Konjunktionspunkt rückläufig um 243° verschob und einen Trigonaspekt, einen Winkel von 120°, zum vorherigen Konjunktionspunkt bildete. Wenn eine erste Konjunktion von Jupiter und Saturn in 1° Widder stattfand, so erfolgte die nächste 20 Jahre später in 1° Schütze, die dritte in 1°–2° Löwe.¹¹¹ Die Konjunktion wechselte bei ihrer Wanderung rückwärts durch den Zodiak stets das Tierkreiszeichen. Dabei verblieb sie jedoch sehr lange in derselben Triplizität, jener Dreiergruppe von Sternzeichen, die jeweils einem Element zugeordnet waren, hier dem Feuer. Die Triplizität, in der die Konjunktion stattfand, änderte sich erst nach 200 (mittlere Planetenbewegung), bzw. nach 240 Jahren (tatsächliche Planetenbewegung). Das war die mittlere große Konjunktion. Die größte Konjunktion fand statt, wenn das Zusammentreffen von Jupiter und Saturn am Beginn des Tierkreises im Widder, dem „Haupt des Tierkreises“,¹¹² erfolgte. Die coniunctio maxima fand nur alle 800 (mittlere Bewegung), bzw. 960 Jahre (tatsächliche Bewegung) statt. Durch die Vermittlung arabischer Astronomen wie Al-Kindi und Albumasar gelangte die Lehre der großen Konjunktionen ins lateinische Mittelalter.¹¹³ Insbesondere Albumasar postulierte eine kausale Verbindung zwischen großen Konjunktionen und markanten politischen und religiösen Ereignissen. So begründete er den Wechsel der Vorherrschaft von Völkern, Reichen und Religionen konjunk-
109 „e come, stando nella triplicità quarta l’asside di Mercurio a tempo che le congiunzioni magne si faceano in Cancro, fece queste cose [delle calamita e stampe e archibugi] inventare per la Luna, Giove e Marte, che in quel segno valeno a navigar novo, novi regni e nove armi.“ Campanella, Città del Sole, S. 54 f. 110 Die Längen des Jupiterzyklus von 12 (11,86) Jahren und die des Saturnzyklus von 30 (29,46) Jahren waren seit dem zweiten Jahrhundert vor Christus bekannt. Strobel, Weltenjahr, S. 993. 111 Ebd., S. 1170. 112 Ebd., S. 1170. 113 Ebd., S. 997.
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tionistisch. Eine der frühesten Rezeptionen der arabischen Konjunktionenlehre findet sich in Roger Bacons Opus maius (1266). Von dort aus fand sie Eingang in die abendländische Historiographie und manifestierte sich etwa bei Pietro d’Abano, Nikolaus Cusanus, Pierre d’Ailly und Johannes Trithemius.¹¹⁴ Eine frühe, einflußreiche Geschichtsperiodisierung nach Maßgabe der großen Konjunktionen legte Giovanni Villani mit seiner florentinischen Chronik um 1300 vor. Für die große Konjunktion zwischen Saturn, Jupiter und Mars im Jahr 1345 prognostizierte er einen gewaltigen Umbruch.¹¹⁵ Dieser kam auch, in Form der ersten großen mittelalterlichen Pestepidemie des Jahres 1348, der Villani selbst zum Opfer fiel.¹¹⁶ Im späten sechzehnten Jahrhundert war die Lehre von den großen Konjunktionen populär, da mit der Konjunktion von 1583 die letzte im Zeichen der Fische und somit in der ‚wässrigen‘ Triplizität erwartet wurde, die Wiederholung jener Konstellation, die der Geburt Christi vorausgegangen war. Cyprian von Leowitz hatte sie für den Mai 1583 vorausberechnet und von dieser letzten Konjunktion in der wässrigen Triplizität nicht weniger erwartet als die Wiederkehr der Sintflut, des Messias und das Ende der vierten Monarchie: Da diese vierte Monarchie jedoch am Ende der wässrigen Triplizität begann, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie auch am Ende derselben Triplizität endet, da der Sohn Gottes selbst, unser Herr Jesus Christus, ganz am Ende des wässrigen Trigons menschliche Gestalt angenommen hat. Denn sechs Jahre vor seiner glorreichen Geburt fand eben dieselbe große Konjunktion ganz am Ende der Fische und am Anfang des Widders statt.¹¹⁷
Da Leowitz den Wechsel der großen Konjunktionen von der wässrigen in die feurige Triplizität mit dem Ende der vier Universalmonarchien zusammenfallen ließ, besaß seine Theorie eminent politischen Charakter.¹¹⁸ Sehr wahrscheinlich, weil der Termin bereits verstrichen war, schenkte Campanella dieser Konjunktion nur wenig Aufmerksamkeit.¹¹⁹ Stattdessen konzentrierten sich seine Erwartun-
114 Friedrich von Bezold: Astrologische Geschichtskonstruktion im Mittelalter. In ders.: Aus Mittelalter und Renaissance. Kulturgeschichtliche Studien. München, Berlin 1918, S. 165–195. 115 Martin Häusler: Das Ende der Geschichte in der mittelalterlichen Weltchronistik. Köln, Wien 1980, S. 143. 116 Ebd. S. 143 f. 117 Cyprian von Leowitz: Prognosticon ab anno Domini 1564 in 20 sequentes annos. Marburg 1618, S. 76. Zitiert nach der Übersetzung von Michael Weichenhan: Ergo perit coelum: die Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie. Stuttgart 2004, S. 120. 118 Zur Geschichtsperiodisierung nach dem Modell der vier Universalmonarchien vgl. Kap. 3.2. 119 „At quoniam nunc temporis omnes trigoni complentur in anno 1583, et reversio fit ad primum.“ Campanella, Articuli prophetales, S. 274 f.
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gen auf die kommende große Konjunktion des Jahres 1603. Für den 24. Dezember 1603 erwartete er die Wiederkehr jener astralen Konstellation, die zum Zeitpunkt der Geburt Christi stattgefunden hatte. So konstatierte er: „Denn genau zu dieser Zeit kehrten alle Ursachen, Gründe, Zeichen und Indikatoren wieder, die zur Zeit von Jesus Christus erschienen waren.“¹²⁰ Auch in einem Sonett äußerte sich Campanella „Über die große Konjunktion, die im Jahr 1603 am 24. Dezember stattfinden wird.“ Er nahm an, dass dieses Datum eine Revolution des Geburtshoroskops Christi darstellte, die mit einem aufwendigen astrologischen Verfahren errechnet wurde.¹²¹ Eigenartigerweise maß auch Campanellas Zeitgenosse Kepler diesem Datum eine große Bedeutung zu, wenngleich aus anderen Gründen. Die große Konjunktion von 1603 war die erste, die dieser selbst beobachtete. Zudem sah auch Kepler sie in astronomisch-astrologischem Zusammenhang mit jener, die der Geburt Christi vorausgegangen war und diese angezeigt habe. Die Idee, dass die gut dokumentierte große Konjunktion des Jahres 7/6 vor Christus die Geburt Christi angezeigt habe, florierte bereits seit dem Hochmittelalter und fand sich etwa bei Roger Bacon und Giovanni Pico della Mirandola.¹²² Kepler deutete diese Konjunktion als Vorboten des Sterns von Betlehem, den er als einen ‚neuen Stern‘, als Supernova, verstand. Eine solche Supernova hatte Kepler in Form des ‚neuen Sterns‘ im Fuß des Schlangenträgers im Jahr 1604 entdeckt und sah sie in einem Verweiszusammenhang zur großen Konjunktion des Vorjahres.¹²³ Die große Konjunktion kündigte das Erscheinen des ‚neuen Sterns‘ an. Da Kepler den Stern von Betlehem als ebensolchen ‚neuen Stern‘ betrachtete wie jenen des Jahres 1604, rückten auch bei ihm die Konjunktionen des Jahres 7/6 vor Christus und 1603 in engen Zusammenhang. Kepler fand allerdings, dass die Konjunktion der Geburt Christi und dem Stern von Betlehem allzu weit vor-
120 „Cum igitur hoc tempore revertuntur omnes causae, concausae, signa et indicationes, quae fuere nascente Iesu Christu.“ Campanella, Articuli prophetales, S. 284. 121 „Sopra la congiunzion magna, che sarà l’anno 1603 a’24 di dicembre. [...] Vedi il pronostico di questo, che fu la revoluzion della natività del Messia.“ Campanella, Tutte le opere, Sonett Nr. 56, S. 125. Dabei wurde die Geburtskonstellation auf einen späteren Zeitpunkt ‚dirigiert‘, um zu erfahren, was in dieser Zeit von den Sternen zu erwarten war. Dieses Rechenverfahren hatte wenig mit den Positionen der Planeten zu tun. Daher entzieht sich der Überprüfung, ob die angegebenen Planetenstände wirklich eine ‚Revolution‘ des Geburtshoroskops Christi sein können. Zum Verfahren der Revolution vgl. Joseph Drecker: Zeitmessung und Sterndeutung in geschichtlicher Darstellung. Berlin 1925, S. 172–174. 122 Strobel, Weltenjahr, S. 1145. 123 Johannes Kepler: Über den neuen Stern im Fuß des Schlangenträgers. Hg. von Eberhard Knobloch, Otto Schönberger, Eva Schönberger. Würzburg 2006, S. 49.
Tommaso Campanella und die Krise des Jahres 1600
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ausging. Er schuf größere zeitliche Nähe, indem er die große Konjunktion auf das Jahr 5 vor Christus vor- und die Geburt Christi um vier Jahre zurückdatierte.¹²⁴ Auch Kepler konstatierte also auf der Basis einer Konjunktionenlehre für die Zeit um 1600 einen wichtigen historischen Einschnitt. Zudem entwarf er ein ganzes Schema des Geschichtsverlaufs auf Grundlage der großen Konjunktionen, in dem das Jahr 1600 den Beginn einer neuen Periode markierte.¹²⁵ Trotz dieser Übereinstimmungen ist nicht zu vermuten, dass hier eine direkte Rezeption vorlag. Wahrscheinlicher ist, dass Campanella und Kepler an einer größeren Debatte teilhatten, die sich mit der Konjunktion des Jahres 1603 beschäftigte. Da diese jedoch einen Neuanfang markierte und freier von eschatologischen Erwartungen war als die vorausgegangene von 1583, ist über sie nicht viel bekannt.¹²⁶ Sowohl Campanella als auch Kepler stützten ihre Hoffnung auf umfassende politische und religiöse Erneuerung auf die astronomische und astrologische Bedeutung dieses Datums. Campanella operierte mit einer Vielzahl von Argumenten aus verschiedenen Wissensgebieten zugunsten der imminenten Krise. Neben eschatologischen und chronologischen Spekulationen stützte er sich auf Prophetien und auf astronomische und medizinische Zyklen. Die prognostischen Verfahren, die Campanella virtuos instrumentierte, standen für ihn jedoch in engem Zusammenhang, da die Politik als konjekturale Kunst oder Wissenschaft auf diese ebenso angewiesen war wie die Medizin, die Landwirtschaft oder die Seefahrt. Campanella verwob die medizinische Krisenkonzeption, die er in Form der Lehre von den kritischen Tagen und Jahren heranzog, mit anderen prognostischen Techniken. Das machte sich auch semantisch bemerkbar. So bezeichnete er die fundamentalen Veränderungen um 1600 wahlweise als kritisch („criticum“),¹²⁷ wie er sie auch mit dem Begriff der Zeitenwende („articulus temporis“),¹²⁸ dem der Umwälzung („mutatio“, „saeculorum mutatio“, „magna mutatio“)¹²⁹ oder mit mehreren zugleich belegte.¹³⁰
124 Er stützte sich auf Laurentius Suslyga, der 1605 behauptet hatte, dass der Beginn der nachchristlichen Ära vier Jahre zu spät angesetzt sei. Auch Michael Mästlin, Keplers Lehrer, vertrat diese These. Vgl. Max Caspar: Johannes Kepler. Stuttgart 1995, S. 178. 125 Vgl. Kepler, Über den neuen Stern, S. 49 f. 126 Caspar erwähnt zwar eine „Menge von Druckschriften über diesen Gegenstand“, nennt aber keine. Caspar, Kepler, S. 176. 127 Campanella, SDD, S. 168. 128 Campanella, PDD, S. 86; Articuli prophetales, S. 252, 257. 129 Campanella, Articuli prophetales, S. 256 f. 130 Campanella, SDD, S. 166.
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Dennoch kam dem medizinischen Krisenbegriff eine zentrale Bedeutung zu. Zunächst war es eindeutig die medizinische Semantik, die Campanella in den historisch-politischen Kontext überführte. Denn die Bezeichnung des Jahres 1600 als „criticum et iudicatorium“¹³¹ rekurrierte auf die termini technici der medizinischen Literatur über die kritischen Tage – der „dies iudicativus“ war ein Alternativbegriff für den „dies decretorius“, den anzeigenden Tag, der den darauffolgenden kritischen Tag ankündigte.¹³² Zum anderen orientierte sich Campanellas Untersuchung von natürlichen und politischen Krisenzeichen und Krankheitssymptomen an dem medizinischen Verfahren der Prognose und Diagnose. Mit dem Resultat, dass Campanella nach einer eingehenden Betrachtung von Zeichen und Symptomen zur Diagnose der Krankheit gelangte und ihren Verlauf prognostizierte. Insofern fungierte die medizinische Krisenkonzeption als Grundlage für einen gezielten Eingriff in den historischen Verlauf, der als Krankheitsprozess verstanden wurde. Dabei entwarf Campanella die Krise zugleich als Handlungskategorie. Das ergab sich aus der medizinischen Krisenkonzeption, die zur praktischen Medizin, nicht zur theoretischen, gehörte. Darüber hinaus war die Beobachtung des Eintritts der Krise und ihrer Vorzeichen kein rein kontemplativer Akt, sondern diente dazu, den richtigen Moment für therapeutische Eingriffe zu bestimmen. So verwiesen auch die von Campanella evozierten politischen und natürlichen Krisenzeichen und -symptome auf eine besonders günstige Gelegenheit zum quasi-therapeutischen Handeln im Jahr 1600, auf eine occasione, wie es die italienischen Theoretiker der Staatsräson nannten, gegen die Campanella polemisierte, obwohl er mit ihnen viele politische Konzeptionen teilte.¹³³ Hinter seiner komplexen Argumentation zugunsten des kritischen Charakters des Jahres 1600 lag noch eine andere, reale günstige politische Gelegenheit, die unerwähnt blieb. Diese bestand darin, dass 1598 in Spanien ein Herrscherwechsel stattgefunden hatte, durch den Philipp III. auf den Thron gelangt war, ein Umstand, der nicht nur bei Campanella die Hoffnung weckte, dass sich die spanische Monarchie kurz darauf mit einem Aufstand konfrontiert als schwach und handlungsunfähig erweisen könnte.
131 „Cum ergo annus 1600 sit compositus ex nono et septimo centenario, manifestum est esse criticum et iudicatorium magnarum mutationum rerum nostrorum.“ Ebd., S. 168. 132 So sprach der Mediziner Bodier nicht von anzeigenden (dies decretoriis) und kritischen (dies criticis) Tagen, sondern apostrophierte den anzeigenden Tag als „[dies] quartus iudicativus“, „dies septem iudicativus“, etc. Vgl. Thomas Bodier: De ratione et usu dierum criticorum. Paris 1555, f. 13v., 14r. Weitere Beispiele bei Dell’Anna, Dies critici, S. 86. 133 Zu Campanellas Rezeption der Staatsräson vgl. De Mattei, Premachiavellismo, S. 248.
Keine Krise: Jean Bodin und das Jahr 1583
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3.2 Keine Krise: Jean Bodin und das Jahr 1583 Die Geschichtskonstruktionen in den beiden Hauptwerken Bodins, die Methodus ad facilem historiarum cognitionem¹³⁴ und die Six livres de la république¹³⁵, haben bereits einige wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten.¹³⁶ In der älteren Forschung wurde Bodin gerne als Initiator einer neuen, modernen und säkularen Geschichtsschreibung gegenüber mittelalterlichen heilsgeschichtlichen Geschichtskonstruktionen in Stellung gebracht.¹³⁷ Diese Dichotomie lässt die vielen zyklischen Geschichtsperiodisierungen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts allerdings ebenso außer Acht wie Bodins Periodisierung nach pythagoreischen Zahlen und Kubikwurzeln, deren Modernität zumindest fraglich ist. Jüngere Untersuchungen über Bodins naturphilosophische Werke¹³⁸ über die Magie und Dämonologie¹³⁹ regen dazu an, die angebliche Rationalität seines Geschichtsverständnisses in Frage zu stellen.¹⁴⁰ Im zweiten Kapitel des vierten Buches der Six livres de la république klagte Jean Bodin, dass sich der Zeitpunkt großer politischer Umbrüche bislang nicht verlässlich vorhersagen ließe: „Es ist aber noch keine Methode erfunden oder bekannt, mit deren Hilfe sich bestimmen ließe, wann solche Veränderungen oder das Ende [von Herrschaften] eintreten werde.“¹⁴¹ An der generellen Möglichkeit, die Zukunft vorherzusehen, hatte Bodin ebenso wenig Zweifel wie Machiavelli. Da die Entwick-
134 Die in der Methodus geäußerten Konzeptionen stimmen weitgehend überein mit jenen des Kap. IV, 2 der Six livres de la république. Bodins Ausführungen in der Methodus werden im Folgenden unter Verwendung der modernen französischen Übersetzung ergänzend herangezogen. 135 Bodin, Staat I und II. Dieser vollständigen Übersetzung ins Deutsche liegen mehrere Ausgaben zugrunde, darunter die Pariser Ausgabe von 1583 und Bodins Übersetzung des Textes ins Lateinische von 1586, die viele Ergänzungen und Abweichungen enthält. Vgl. P.C. Mayer-Tasch: Vorbemerkung des Übersetzers. In: Bodin, Staat I, S. 52–71, S. 56. 136 Um nur eine Auswahl zu nennen: Julian H. Franklin: John Bodin and the Sixteenth-Century Revolution in the Methodology of Law and History. New York, London 1963; Peter Burke: The Renaissance Sense of the Past. London 1969. 137 Ein wichtiger Vertreter der Säkularisierungsthese ist Karl Löwith. Vgl. ders.: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart 1953. Zu zyklischer und linearer Zeit vgl. Günther Dux: Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit. Frankfurt/M. 1992. 138 Vgl. insbesondere Ann Blair: The Theater of Nature. Jean Bodin and Renaissance Science. Princeton 1997. 139 Jean Bodin: De la Démonomanie des Sorciers (1580). 140 Nicholas Campion: Astrological Historiography in the Renaissance: The Work of Jean Bodin and Louis Le Roy. In: Annabella Kitson (Hg.): History and Astrology: Clio and Urania Confer. London 1989, S. 89–136. 141 Bodin, Staat II, S. 509.
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lung der Staaten natürlichen Gesetzmäßigkeiten, darunter auch astronomischen, folgte, genügte es, die Ursachen zu kennen, um die Zukunft zu erschließen. Trotz des Optimismus gegenüber dem Zukunftswissen polemisierte Bodin heftig gegen zwei zeitgenössische Vorhersagen, die sich um das Jahr 1583 rankten, die bereits angesprochene Konjunktionenlehre von Cyprian von Leowitz und Cardanos Überlegungen zur Wiederholung der Vertikalstellung eines Sterns des Großen Bären. Während Campanella die Krise herbeiredete, die er wünschte, verfuhr Bodin umgekehrt: Obwohl die Zeichen überdeutlich waren, weigerte er sich, eine Krise zu diagnostizieren. So formulierte er seine antikritischen Thesen während der französischen Religionskriege, in deren Verlauf zwischen 1562 bis 1598 sieben verschiedene Herrscher und mehrere Kronprätendenten ums Leben kamen, nicht wenige gewaltsam. In dieser Zeit stand der gelehrte Jurist Bodin als politischer Berater in den Diensten des Herzogs von Alençon-Anjou, dem einzig verbliebenen Sohn und Thronfolger Heinrichs III. Im Gefolge des Herzogs reiste Bodin an den englischen Hof, um dort eine Ehe mit Elisabeth I. zu arrangieren. Nach dem Scheitern des Eheprojekts versuchte der Herzog 1583 mit dem Einmarsch in den Niederlanden und der Belagerung von Antwerpen erneut vergeblich sein Glück. Zum Zeitpunkt der Niederschrift der Six livres de la république um 1583/4 flammten die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Ligisten und Hugenotten erneut auf. Auch Bodin war in ihrem Verlauf der politischen Verfolgung ausgesetzt.¹⁴² Erst mit der Durchsetzung der Thronansprüche Heinrichs von Navarra, seiner Konversion zum Katholizismus und Krönung im Jahr 1594, konsolidierte sich die politische Lage in Frankreich und auch diejenige Bodins, der dem neuen König ab 1587 als Berater diente. Bodin hätte mindestens ebenso viele Gründe wie Campanella gehabt, die Gegenwart krisenhaft zu nennen. Doch da er an der Konsolidierung der politischen Lage interessiert war, nicht an Umwälzungen, führte er in Hinblick auf das Jahr 1583 einen Anti-Krisendiskurs, bei dem er zahlreiche Argumente zugunsten einer kosmischen und politischen Krise angriff. Sowohl Leowitz’ als auch Cardanos Krisendiagnose waren mit der Lehre von den vier Monarchien verbunden, in der das Habsburgerreich als Erbin des römischen Reichs erschien. Beide Astrologen waren sehr renommiert im späten sechzehnten Jahrhundert. Cardano wurde auch von den protestantischen Gelehrten in Wittenberg für den größten zeitgenössischen Astrologen gehalten.¹⁴³
142 P.C. Mayer-Tasch: Einführung in Jean Bodins Leben und Werk. In: Bodin, Staat I, S. 11–51, S. 21. 143 Brosseder, Wittenberg Sky, S. 569. Zur Astrologie im protestantischen Wittenberg vgl. dies., Sterne.
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Bodins Diskussion von Leowitz’ konjunktionistisch begründeter Krisenprognose für das Jahr 1583, die er beharrlich auf das Jahr 1584 bezog,¹⁴⁴ berührte viele Probleme, die sich bei einer Geschichtsperiodisierung auf der Grundlage astronomischer Ereignisse stellten. Zunächst bemängelte Bodin Leowitz’ Datierung der großen Konjunktion, die aus der Zugrundelegung ungenauer astronomischer Daten resultierte, „weil es unter den Verfassern der Ephemeriden so viele Irrtümer und Widersprüche gibt.“¹⁴⁵ So sei die große Konjunktion ein bis zwei Monate nach dem errechneten Zeitpunkt eingetreten, da sich Leowitz in seinen Berechnungen auf die alfonsinischen Tafeln gestützt habe, obwohl bereits Kopernikus auf die Fehlerhaftigkeit dieser astronomischen Daten hingewiesen habe.¹⁴⁶ Die alfonsinischen Tafeln stammten aus dem dreizehnten Jahrhundert und dienten zur Berechnung von Ephemeriden, Jahrbüchern, welche die täglichen Gestirnstände für einen bestimmten Ort angaben. Bodin forderte von dem zeitgenössischen Astrologen, er möge aktuellere astronomische Daten benutzen wie jene der prutenischen Tafeln (1551) des Erasmus Reinhold, den ersten Planetentafeln auf der Grundlage der kopernikanischen Astronomie. Diese waren allerdings nicht wirklich genauer als die alfonsinischen, wie bereits Brahe bemerkte.¹⁴⁷ Die ungenaue Vorhersage der großen Konjunktion von 1583 durch Leowitz war eher das Resultat von allgemein unzuverlässigen astronomischen Daten.¹⁴⁸ Da Leowitz behauptet hatte, dass die große Konjunktion des Jahres 1583 mit ihrem Übergang von der wässrigen zur feurigen Triplizität die astronomische Konstellation zum Zeitpunkt der Schöpfung, der Sintflut, der Geburt Christi und der Karlskrönung wiederhole, war der terminliche Irrtum allerdings unange-
144 „das Ende der Welt werde im Jahre 1584 eintreten.“ Bodin, Staat II, S. 67. Leowitz datierte die große Konjunktion am Ende des Sternzeichens der Fische auf den Mai 1583 und prognostizierte die große Umwälzung für das Jahr 1588. 1584 spielte keine große Rolle. Vgl. Aston, Fiery Trigon Conjunction, S. 165. Es handelt sich wohl um eine der zahlreichen Ungenauigkeiten Bodins im Umgang mit Zahlen. Vgl. Noel Malcolm: Jean Bodin and the Colloquium Heptaplomeres. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 69 (2006), S. 95–150, S. 131. 145 Bodin, Staat II, S. 58. 146 Ebd., S. 58. Diese Passage muss aus einer nach 1583 entstandenen Ausgabe stammen, sonst wüsste Bodin nicht von der zeitlichen Diskrepanz. 147 Vgl. North, Astronomie, S. 199. 148 Noch mehr als ein Jahrhundert später fand die große Konjunktion vom 16.10.1663 sechs Tage vor dem Termin der Ephemeriden Argolis, fünf vor denjenigen Eichstädts, drei vor denjenigen Keplers und Ricciolis statt. Vgl. Lynn Thorndike: A History of Magic and Experimental Science. 8 Bde. Bd. 8. New York 1958, S. 325.
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nehm.¹⁴⁹ Gegen die These einer zweiten Sintflut¹⁵⁰ verwahrte sich Bodin aus verschiedenen Gründen. Zunächst verwies er auf die Sintflutprognosen für das Jahr 1524, denen ebenfalls keine Sintflut gefolgt war. Die maßgeblich durch Johannes Stöfflers Ephemeriden verbreitete Sintflutprognose¹⁵¹ führte gemäß Bodin zu einem unerwarteten Archen-Bauboom: „viele Ungläubige, in Toulouse sogar der Präsident Auriol, bauten sich Archen, um sich zu retten.“¹⁵² Weiterhin verwies Bodin darauf, dass Gott selbst versichert habe, es bei einer Sintflut zu belassen.¹⁵³ Offensichtlich verließ er sich nicht auf die Einzigartigkeit des Ereignisses, sondern setzte hinzu, „daß der Weltuntergang abwechselnd von Wasser und Feuer bewirkt werde.“¹⁵⁴ Gemäß der stoischen Lehre endeten die kosmischen Zyklen entweder mit einem Kataklysma oder einer Ekpyrosis. Da die Sintflut schon stattgefunden hatte, stand gemäß Bodin der Weltenbrand bevor. Damit rückte er das Weltende in größere zeitliche Distanz, denn die wasserbetonte Konjunktion im Zeichen der Fische konnte schwerlich einen Weltenbrand indizieren. Sein Argument, dass die große Konjunktion in den Fischen unbedenklich sei, weil kein Planet sein eigenes Haus zu zerstören pflegte, zielte in dieselbe Richtung. Die Fische waren eines der beiden Häuser, die dem Jupiter zugeordnet waren, der hier sein ‚Domizil‘ besaß. Krisenhafte Ereignisse waren vielmehr dann zu erwarten, wenn die große Konjunktion in einem Zeichen der Herrschaft oder des Krieges, also des Löwen oder Skorpions stattfand: Die Konjunktion der oberen Planeten zeitigt aber im Zeichen des Skorpions, einem Zeichen des Krieges, stärkere Wirkungen als in anderen Sternbildern.¹⁵⁵
149 Aston, Fiery Trigon Conjunction, S. 166. 150 Wonach „die Religion Jesu Christi und die Welt deshalb unter der wäßrigen Triplizität ihr Ende fänden, weil Jesus Christus unter der wässrigen Triplizität geboren sei, womit Leovicius eine zweite Sintflut konstruieren wollte.“ Bodin, Staat II, S. 71. 151 Johann Stöffler: Almanach nova plurimus annis venturis inservientia (1499), diverse Nachdrucke. Vgl. Ottavia Niccoli: Profeti e popolo nell’Italia del Rinascimento. Bari, Rom 1987, S. 185. Niccoli hegt die interessante Vermutung, dass die Sintflutfurcht in Italien mit der Zunahme von Hochwasser und Überschwemmungen zu tun hatte, die aus den Abholzungen des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts resultierten. Vgl. ebd., S. 188. 152 Bodin, Staat II, S. 63. Für England sind ebenfalls Maßnahmen zur Sintflutprävention um 1524 überliefert. Vgl. Georges Minois: Geschichte der Zukunft. Prophezeiungen, Utopien, Prognosen. Düsseldorf, Zürich 1998, S. 412. 153 Bodin, Staat II, S. 71. 154 Ebd., S. 71. 155 Ebd., S. 65.
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Diese Konstellationen hatte auch den Vorteil, in großer zeitlicher Distanz zu liegen – die nächste große Konjunktion im Skorpion war frühestens in 800 Jahren zu erwarten. Mochten große Konjunktionen zwar generell politische Krisen anzeigen, jene von 1583 tat es in Bodins Augen nicht. Stattdessen bot er alternative astrologische Krisenindikatoren wie große Konjunktionen im Zeichen des Löwen oder des Skorpions an.
3.2.1 Die Datierung der Schöpfung Leowitz hatte argumentiert, dass sich die Schöpfung der Welt im Übergang von der wässrigen Triplizität zur feurigen vollzogen habe. Daher sei es nur natürlich, dass sich das kommende Weltende unter denselben astralen Bedingungen vollzöge.¹⁵⁶ Um festzustellen, ob die Konjunktion von 1583 die astronomische Konstellation zum Zeitpunkt der Schöpfung wiederholte, musste man allerdings den Schöpfungstermin kennen. Bodin hielt diesen für sehr wissenswert und spekulierte: „vielleicht hätte dann das Alter der Erde genauer bestimmt werden können und man würde über verläßlichere Kenntnisse von Wandel und Untergang der Staaten als Folge des Laufes der Gestirne verfügen.“¹⁵⁷ Seine Ansicht, wann die Schöpfung stattgefunden habe, unterschied sich jedoch von Leowitz, dem er vorwarf, die Schöpfung auf das Frühjahr datiert zu haben: Überdies erliegt Leovicius jenem weitverbreiteten Irrtum, der seit jeher unter den Astrologen bei der Voraussage über das Jahr [der Erschaffung der Welt] Verwirrung gestiftet hat und darin besteht, daß sie vermuten, die Schöpfung sei im Zeichen des Widders geschehen.¹⁵⁸
Mit dieser Ansicht stand Leowitz nicht allein. Vielmehr stützte er sich auf Pierre d’Ailly, dessen Position zum Schöpfungstermin Bodin folgendermaßen referierte: Das hieße, die Konjunktion auf 1200 Jahre vor Erschaffung der Welt anzusetzen und im Horoskop der Erschaffung davon auszugehen, daß der Krebs im Aufgang, die Sonne mit 19° zum Widder, der Mond mit 8° zum Stier, Saturn mit 21° zum Wassermann, Jupiter mit 28° zu den Fischen, Mars mit 28° zum Skorpion, Venus mit 27° zum Stier und Merkur mit 15° zu den Zwillingen gestanden habe.¹⁵⁹
156 Cyprian von Leowitz: De coniunctionibus (1564), übers. Aston, Fiery Trigon Conjunction, S. 165. 157 Bodin, Staat II, S. 64. 158 Ebd., S. 68. 159 Ebd., S. 63.
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D’Ailly stützte sich auf zwei verschiedene Schöpfungshoroskope. Während er beinahe sämtliche Gradzahlen vom babylonischen thema mundi übernahm, orientierte er sich bezüglich der Tierkreiszeichen an dem ägyptischen des Firmicus Maternus, bei dem die Planeten allesamt in ihren Domizilen standen. Die Planeten hatten jeweils zwei Domizile, ein Tag- und ein Nachthaus.¹⁶⁰ Während Firmicus Maternus nur die Sternzeichen der unteren Hemisphäre berücksichtigt hatte, entschied sich d’Ailly mehrheitlich für die oberen. Babylonisches thema mundi
Pierre d’Ailly161
Ägypt. thema mundi (Firmicus Maternus)
Aszendent Mond Sonne Merkur Venus Mars Jupiter Saturn
Krebs 3° Stier 19° Widder 17° Zwilling 27° Stier 27° Skorpion 28° Fische 21° Wassermann
14° Krebs 15° Krebs 15° Löwe 15° Jungfrau 15° Waage 15° Skorpion 15° Schütze 15° Steinbock
– 3° Stier 19° Widder 15° Jungfrau 27° Fische 28° Steinbock 15° Krebs 21° Waage
Firmicus Maternus’ thema mundi repräsentierte eine ideale kosmische Konstellation, keine reale. Das babylonische Schöpfungshoroskop legte die Orte der Erhöhung oder Exaltationen (exaltationes oder hypsomata) der Planeten zugrunde. Es war ebenso unmöglich, dass die Gestirne zum Zeitpunkt der Schöpfung allesamt am Ort ihrer Erhöhung wie dass sie alle in ihrem Domizil standen. Das lag an der Maximalentfernung zwischen Sonne und Merkur von 22°¹⁶² und jener zwischen Sonne und Venus von 46°.¹⁶³ Bodin warf d’Aillys Verortung des Merkur in den Zwillingen vor, dass der Planet dort 56° von der Sonne entfernt stand und somit für Bodin um 20° jenseits des Möglichen. Diese Probleme betrafen aber alle Schöpfungshoroskope ganz unabhängig vom Schöpfungstermin, der beim babylonischen im Frühjahr, beim ägyptischen im Sommer lag. Bodin verwahrte sich besonders gegen den Schöpfungstermin im Frühjahr und gegen all jene, „die schreiben, die Sonne habe im Zeichen des Widders gestanden.“¹⁶⁴ Die große Konjunktion des Frühjahrs 1583 wiederholte seiner Ansicht nach schon deshalb nicht
160 Franz Boll, Carl Bezold, Wilhelm Gundel: Sternglaube und Sterndeutung. Die Geschichte und das Wesen der Astrologie. Darmstadt 19665, S. 59. 161 Bodin hat nicht alle Angaben d’Aillys korrekt übernommen. Hier werden diejenigen d’Aillys angegeben. Vgl. Smoller, History, Prophecy and the Stars, S. 67. 162 Bodin nahm 36° an. 163 Bodin nannte 48° als Maximum. Vgl. Bodin, Staat II, S. 60. 164 Ebd., S. 58.
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die Konstellation zum Zeitpunkt der Schöpfung, weil diese im Herbst stattgefunden habe. Dafür sprachen viele herausragende Ereignisse, die sich in jener Jahreszeit zugetragen hätten: Zieht man dagegen die großen, denkwürdigen Veränderungen der Herrschaften und Staaten in Betracht, so wird man feststellen, daß sie sich größtenteils etwa im Monat September ereignen, in dem das Gesetz Gottes die Welt beginnen läßt. Dieser Monat ist durch das Sternzeichen der Waage gekennzeichnet.¹⁶⁵
Das belegte Bodin mit einer Aufzählung von nicht weniger als 16 Todestagen von Herrschern und 47 historischen Ereignissen, unter denen sich relevantere wie der Geburtstag des Augustus und weniger relevante wie ein Blitzeinschlag im Rathaus von Magdeburg befanden.¹⁶⁶ Bodins Identifikation des Septembers mit dem Sternzeichen der Waage überrascht. Mochte Bodin auch die gregorianische Kalenderreform nicht berücksichtigen,¹⁶⁷ nach der die Sonne um den 23. September in das Zeichen der Waage tritt, nach dem julianischen Kalender trat die Sonne ebenfalls erst um den 12. September in die Waage und nicht früher. Bei seiner Datierung des Jahresbeginns im September berief sich Bodin auf den jüdischen Kalender: Denn in Gottes Gesetz ist ausführlich geregelt, daß man das Laubhüttenfest am Ende des Jahres, [d. h.] am 15. Tag des siebten Monats, der vor Zeiten der erste Monat gewesen war, begehen solle. [...] Wenn es aber nun so ist, daß das Jahr dort auch beginnt, wo es endet und wenn dies am 14. Tag des siebten Monats der Fall ist, muß man daraus wohl den Schluß ziehen, daß die Sonne im Zeichen der Waage gestanden hatte. [...] Tischri sollte der siebente Monat sein, der dem September entspricht.¹⁶⁸
Die jüdische Chronologie ließ das Jahr im Herbst beginnen, weil, wie Bodin sagte, „nur da die Fülle der Früchte, wie sie in der Schöpfungsgeschichte geschildert ist, gegeben war.“¹⁶⁹ Das machte die Schöpfung zu diesem Termin wahrscheinlich: „Es war denn auch praktisch, daß Gott, da er den Menschen und alle Tiere im Erwachsenenalter erschaffen hatte, ihnen auch alle Früchte schon reif
165 Ebd., S. 68. 166 Ebd., S. 70. 167 Diese wurde in Frankreich vom 9. auf den 20. Dezember 1582 vollzogen. Theoretisch hätte Bodin sie bei seinen späteren Bearbeitungen des Textes berücksichtigen können. Brincken, Historische Chronologie, S. 33. 168 Bodin, Staat II, S. 58 f. 169 Brincken, Historische Chronologie, S. 36.
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bescherte.“¹⁷⁰ Gemäß dem jüdischen Kalender lag der Jahresbeginn in dem dreißigtägigen Monat Tischri, der tatsächlich mit dem Sternbild der Waage zusammenfiel, da er um den 19. September begann.¹⁷¹ Daher datierte die jüdische Chronologie die Schöpfung auf den 7. Oktober 3761 vor Christus um 23 Uhr, 11 Minuten und 20 Sekunden.¹⁷² Bodin übernahm die jüdische Ära nicht, und auch seine Datierung der Schöpfung auf den Herbst orientierte sich nur vage an den Vorgaben des jüdischen Kalenders, der nicht den September, sondern das Sternzeichen der Waage privilegierte. Vielleicht rekurrierte Bodin tatsächlich auf die byzantinische Ära, die den Jahresbeginn auf den 1. September datierte.¹⁷³ Bodin kannte diese Ära, die sich an der römischen Finanz- und Steuerpraxis orientierte.¹⁷⁴ Zum Zeitpunkt nach der Ernte ließ sich nämlich die Steuer besser eintreiben als im Frühjahr. Aus diesem Grund war der Jahresanfang im September während der Herrschaft der Anjou über Sizilien noch bis zum Jahr 1700 in Gebrauch.¹⁷⁵ Möglicherweise nobilitierte Bodin den fiskalpraktischen Jahresanfang im Herbst religiös und kosmologisch, zumal er auch der Autor eines finanzpolitischen Traktats war, Les Paradoxes de Monsieur de Malestroit (1568).¹⁷⁶ Zusätzlich hatte die Verlegung des Schöpfungstermins in den Herbst den Vorteil, dass die große Konjunktion des Frühjahrs 1583 nicht als seine Wiederholung aufgefasst werden konnte.
3.2.2 Die ‚Geburt‘ Roms Bodins Einwände gegen Cardano waren anderer Art. Cardano argumentierte insbesondere im zweiten Buch seines Kommentars zu Ptolemäus’ Tetrabiblos¹⁷⁷ konjunktionistisch und nahm an, dass zwischen 1583 und 1782 eine neue, allum-
170 Bodin, Staat II, S. 58. 171 Bei lunisolaren Kalendern ist der Neujahrstermin abhängig von dem Wiedererscheinen des Mondes nach Neumond und daher variabel. Brincken, Historische Chronologie, S. 38. 172 Ebd., S. 38. 173 Ebd., S. 67. 174 „Er [Konstantin] ordnete an, daß man fortan die Zeitrechnung mit dem September des Jahres 333 beginne.“ Bodin, Staat II, S. 69. 175 Brincken, Historische Chronologie, S. 67. 176 Jean Bodin: Les Paradoxes de Monsieur de Malestroit, conseiller du Roy et maistre ordinaire de ses comptes, sur le faict des monnoyes, presentez à s Majesté, au moi de mars 1566, avec la response de M. Jean Bodin ausdicts Paradoxes (1568). 177 Girolamo Cardano: In Cl[audii] Ptolemaei Pelusiensis IV de astrorum iudiciis [...] libros commentaria. In ders.: Opera omnia. Bd. 5. Lyon 1663, S. 93–368.
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fassende Universalmonarchie entstehen würde.¹⁷⁸ Cardano kombinierte die Konjunktionslehre wie Leowitz im Anschluss an d’Ailly mit dem Geschichtsmodell der vier Monarchien, das sich auf das Buch Daniel stützte.¹⁷⁹ Bodin kritisierte Cardano vor allem deshalb harsch, weil er für die translatio imperii, also für die Übertragung der Universalherrschaft im Rahmen des Modells der vier Monarchien auch astrologische Ursachen verantwortlich machte. Die vier Reiche werden erstmals im Buch Daniel (Daniel 2 und 7) aus der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts erwähnt. Während das Buch Daniel von der Abfolge immer schwächerer Reiche ausging, kehrte die christliche Historiographie das altorientalische Dekadenzmodell um. So nannte Orosius, ein Schüler des Augustinus, in seinen einflussreichen Historiarum adversum paganos libri VII das römische Reich das schönste und größte Reich, auch wenn es sich im fünften Jahrhundert gerade in Auflösung befand.¹⁸⁰ Die Idee, dass die vierte und letzte Monarchie nach dem Untergang des römischen Reichs durch eine translatio imperii auf ein anderes Reich übergegangen sein konnte, entstand erst im elften Jahrhundert, wobei die Karlskrönung des Jahres 800 nachträglich als Translationsakt gedeutet wurde. Das machte das Sacrum Imperium Romanorum zum Nachfolgereich des römischen und privilegierte zunächst die Monarchie der Staufer, später jene der Habsburger unter den europäischen Monarchien. Das löste bei Bodin nationalistische Aversionen aus. So monierte er, dass Cardano „damit nichts weniger behauptete, als dass das Imperium nur einem einzigen Ort zugeschrieben werden könne.¹⁸¹ Bodin trat nur scheinbar für Pluralität ein. Vielmehr bemühte er sich, auch Frankreich in dieses Geschichtsmodell einzuschreiben und behauptete eine 500-jährige Herrschaft der Franzosen über Ostrom, bzw. Byzanz: Nach erneuter Belagerung und Eroberung durch Kaiser Galienus und Ermordung aller Einwohner blieb sie [Konstaninopel] schließlich Sitz der Ostkaiser, bis sich die Franzosen und Flamen unter Führung des Grafen Balduin von Flandern ihrer bemächtigten und dort 500 Jahre lang das Kaisertum innehatten.¹⁸²
178 “Ideò post annum millesimum, quingentesimum, octuagesimum tertium usque ad annum millesimum, septingentesimum, octuagesimum secundum ante medium incipiet Monarchia, et omnia regentur nutu unius.” Cardano, Commentaria, S. 173 f. 179 Daniel 2, 44. 180 Hans-Werner Goetz: Die Geschichtstheologie des Orosius. Darmstadt 1980, S. 52. 181 „n’en prétend pas moins que l’empire ne pouvait être attribué qu’à un seul lieu.“ Bodin, Méthode, S. 393. 182 Bodin, Staat II, S. 61.
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Balduin von Flandern gelangte zwar im Verlauf des vierten Kreuzzugs wirklich nach Konstantinopel, doch sein 1204 gegründetes Lateinisches Kaiserreich ging schon im darauffolgenden Jahr unter. Leowitz und auch Kepler nobilitierten mit der Karlskrönung das Kernstück der Translationsidee zusätzlich astrologisch, indem sie sie mit einer großen Konjunktion zusammenfallen ließen.¹⁸³ Cardano hingegen sah die große Konjunktion von 1583 in Zusammenhang mit der Himmelskonstellation zum Zeitpunkt der Gründung Roms. Damit behauptete er die Kontinuität zwischen der Gründung Roms und der Gegenwart auf der Grundlage der Lehre von den vier Monarchien. Dabei nahm er an, wie Bodin referierte,¹⁸⁴ der letzte Stern des großen Bären habe alle großen Reiche entstehen lassen, sei in der Geburtsstunde Roms in der Vertikalen gestanden und habe dann das Kaisertum nach Konstantinopel, von dort nach Frankreich und schließlich nach Deutschland getragen.¹⁸⁵
Bodin wendete ein, dass dieser Stern nicht nur einmal in der Vertikalen gestanden haben könne: „Dessen ungeachtet muß Cardano zugeben, daß dieser Stern im Verlauf von 5.500 Jahren für viele Völker in der Vertikalen gestanden hat.“¹⁸⁶ Wahrscheinlich hatte er Recht, nachweisen konnte er es nicht. Da es zu dieser Zeit kaum systematische Himmelsbeobachtungen zumal der weniger auffälligen Objekte gab, hätte auch kein Astronom diesen Nachweis führen können.¹⁸⁷ Bodin beklagte sich, dass Cardano ausgerechnet diesen Stern herausgepickt hatte: Warum spricht er dem Regulus oder dem Herzen des Löwen, dem größten Stern, den es gibt, warum spricht er dem großen Hund der Medusa, der Ähre im Sternbild der Jungfrau, dem Geier [sic! Adler] und unzähligen anderen Sternen jede Kraft ab?¹⁸⁸
183 Kepler, Über den neuen Stern, S. 49 f. 184 Diese formulierte Cardano in De supplemento Almanach. Vgl. Girolamo Cardano: Libelli quinque [...]. Nürnberg 1547. 185 Bodin, Staat II, S. 60. Mit dem Stand in der Vertikalen meinte Bodin, dass der Stern sich in Konjunktion mit der Sonne im Meridian befand: „il est impossible qu’elle [l’étoile] entre [...] en conjonction avec le soleil sur le méridien.“ Bodin, Méthode, S. 393. 186 Bodin, Staat II, S. 61. 187 Brahe gilt als der erste Astronom, der regelmäßige Beobachtungen und Messungen durchführte und nicht nur zu markanten Zeitpunkten Daten erhob. Vgl. J.L.E. Dreyer, Tycho Brahe: A Picture of Scientific Life and Work in the Sixteenth Century. New York 1963, S. 152. 188 Bodin, Staat II, S. 62. Der Geier scheint ein Übersetzungsfehler zu sein, vermutlich war der Adler gemeint.
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Diese Sterne hatten seit der Antike eine Herrschaftskonnotation, die dem letzten Stern des großen Bären bislang fehlte. Schließlich zog Bodin in Zweifel, dass dieser Stern des großen Bären bei der Gründung Roms auf römischem Breitengrad überhaupt in der Vertikalen gestanden habe. Damit stellte sich die Frage nach dem Gründungsdatum Roms. Bodin befand, es sei „einhellige Meinung, daß die Gründung Roms am 21. Tage des Monats April erfolgte“,¹⁸⁹ im Jahr 753 vor Christus. Dieser Termin, den auch Censorinus angab, fiel mit den Parilia, einem Hirtenfest zu Ehren der Göttin Pales, zusammen und wurde durch Varro und Plutarchs Romulus-Biographie tradiert.¹⁹⁰ Bodin gab auch sämtliche Planetenstände für diesen Zeitpunkt an, die er dem Horoskop der Stadt Rom von Tarutius Firmanus entnahm, einem Astrologen des ersten vorchristlichen Jahrhunderts. Dieser habe die Sonne in den Stier, Saturn, Mars, Venus und Merkur in den Skorpion gestellt. Bodin kritisierte erneut, dass es sich um ideale Gestirnstände handelte.¹⁹¹ Das war zwar ein berechtigter Einwand, er traf jedoch auf Tarutius’ Gründungshoroskop Roms nicht zu. Tatsächlich hatte Tarutius zunächst das Horoskop für die Empfängnis des Romulus kalkuliert, die er auf eine totale Sonnenfinsternis am 24. Juni 772 vor Christus datierte.¹⁹² Nach einer Schwangerschaft von 273 Tagen war Romulus am 24. März 771 vor Christus zur Welt gekommen.¹⁹³ Die Gründung der Stadt Rom datierte er auf den 4. Oktober 754 vor Christus Auf dieses Datum bezog sich auch sein Gründungshoroskop. Aufgrund des bekannteren Gründungsdatums Roms am 21. April 753 vor Christus kam es zur Verwirrung, so dass mehrere spätantike Autoren wie Gaius Iulius Solinus und Johannes Lydos die Sonne in den Stier versetzten, die übrigen Daten von Tarutius jedoch beibehielten.¹⁹⁴ Das Problem der unmöglichen Stellung der Sonne in einer Entfernung von fast 180° von Merkur und Venus entstand erst durch die nachträgliche ‚Korrektur‘ von Tarutius’ Gründungshoroskops.
189 Bodin, Staat II, S. 69 f. 190 Varros Argumentation ist verloren und nur durch Censorinus überliefert. 191 Bodin, Staat II, S. 60. 192 Die Sonnenfinsternis war das Ergebnis der Suche nach einer Konjunktion von Sonne und Mond ungefähr 18 Jahre vor dem traditionellen Gründungsdatum Roms. Dazu hatte Tarutius Listen mit Konjunktionen und Oppositionen von Sonne und Mond benutzt und spekuliert, dass die ausgewählte Konjunktion von Sonne und Mond auch zu einer Sonnenfinsternis führte. Das war nicht so. Es gab bessere technische Möglichkeiten zur Kalkulation von Sonnenfinsternissen. Vgl. Grafton, Swerdlow, Technical Chronology, S. 457. 193 Vgl. ebd., S. 458. Diese Zahl auch bei Censorinus, De die natali, S. 41–43. 194 Grafton, Swerdlow, Technical Chronology, S. 459.
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Weiterhin zweifelte Bodin an, dass Cardanos letzter Stern des großen Bären am 21. April 753 vor Christus überhaupt in der Vertikalen gestanden hatte: Nun aber steht fest, daß, nachdem dieser Stern derzeit in einem Winkel von 21° zur Jungfrau steht, er damals im Winkel von 19° zum Löwen stand, wenn man das Verhältnis der Bewegung der Fixsterne berücksichtigt und es ist einhellige Meinung, daß die Gründung Roms am 21. Tage des Monats April erfolgte, an welchem Tag der Winkel 9° zum Stier beträgt, während er damals 19° zum Widder betrug. Es ist also unmöglich, daß dieser Stern senkrecht stand, weil die Sonne im Meridian von Rom stand und also 4 ganze Häuser und noch 20° fehlen würden, was einen ganz beträchtlichen Fehler ausmacht.¹⁹⁵
Dabei berief sich Bodin auf das Phänomen der Präzession der Äquinoktien, die zwischen 753 vor Christus bis zur Gegenwart zu einer Verschiebung von rund 30° geführt habe.¹⁹⁶ Das Argument war allerdings schwach, denn die Kalkulation der Position eines Sterns vor mehr als 2.000 Jahren für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort abzüglich der Präzessionsrate konnte nicht anders als ungenau ausfallen.
3.2.3 Sterben nach Zahlen Bodins Ablehnung diverser Krisenkonzeptionen bezog sich nur auf die aktuelle Prognose für das Jahr 1583, nicht auf den gesamten Geschichtsverlauf. Dieser wurde, ebenso wie die politischen Gebilde, gemäß Bodin nicht vom Zufall regiert, sondern durch natürliche Gesetzmäßigkeiten, die sich in Zahlen, Proportionen und Harmonien ausdrückten. Zahlen waren außerordentlich wichtig. Ohne sie irrte der Historiker wie Theseus durch das Labyrinth des Minotaurus, nur ohne Ariadnefaden: Jene, die glauben, die Geschichte ohne Wissen um die Jahreszahlen verstehen zu können, begehen denselben Fehler wie jene, die sich vormachen, dass sie sich in einem Labyrinth ohne Führer zurechtfänden. [...] Doch die Chronologie wird die Richtschnur der Geschichte sein und indem sie uns wie ein Ariadnefaden zu den verstecktesten Winkeln geleitet, bewahrt sie uns nicht nur vor allen Fehlern [...].¹⁹⁷
195 Bodin, Staat II, S. 69 f. 196 Angesichts von Ptolemäus’ Präzessionsrate von 1° in 72 Jahren war das kein abwegiger Wert. 197 „Ceux qui croient pouvoir entendre l’histoire sans la connaissance des dates commettent la même erreur que s’ils prétendaient se reconnaître sans guide dans un labyrinthe. [...] Mais la chronologie sera le guide de l’histoire, et comme un fil d’Ariane nous conduisant aux retraites les plus cachées, non seulement elle nous garderat de toute erreur.“ Bodin, Méthode, S. 431.
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So nahm er an, dass die Geschichte nach Maßgabe der pythagoreischen Zahlen geordnet war. Nach seiner Auffassung handelte es sich um eine unfehlbare prognostische Methode, bei der es ihn erstaunte, dass sie noch niemand vor ihm entdeckt hatte: Es ist erstaunlich, dass bis zum heutigen Zeitpunkt keiner all jener Platoniker, weder der griechischen noch der römischen, am Beispiel eines Staats die Macht und den Einfluss der Zahlen auf die Entstehung der Reiche demonstriert hat, und ich würde sogar so weit gehen zu sagen, nicht nur auf die Gründung, sondern auch auf das Wachstum, die Umwandlung und den Untergang der Staaten.¹⁹⁸
Platon hatte im Staat konstatiert, dass alle Staaten sterblich waren, da es im Verlauf der Zeit zwangsläufig zu einer Zerstörung der zahlenmäßigen Harmonie kam, auf deren Basis sie errichtet waren.¹⁹⁹ Bodin zog daraus den Umkehrschluss, dass die Aufrechterhaltung der zahlenmäßigen Harmonie den Staaten sogar das ewige Leben verschaffen konnte: „wenn ein Staat gut eingerichtet und ständig im Zustand einer sanften Harmonie gehalten wird, die weder Missklänge noch Dissonanzen enthält, [...] kann ich, so sage ich, nicht erkennen, wie ein Staat vergehen sollte.“²⁰⁰ Bodin führte den Harmoniegedanken musikalisch aus und vertrat, dass musikalische Intervalle maßgeblich zur Aufrechterhaltung des Staates beitrugen: „So wird also ein wohlbestellter Staat solange Bestand haben, als die Akkorde der Einheit recht zusammenklingen.“²⁰¹ Die harmonischen Akkorde waren gemäß Bodin die Oktav (1:2), Quart (3:4), Quinte (2:3) und das Fünfzehntel (1:3).²⁰² Disharmonie entstand, sobald man versuchte, die Vier mit der Neun zu kombinieren: „Geht man aber über die Vier hinaus zur Neun über, so folgt aus der Tatsache, daß diese beiden Zahlen kein harmonisches Verhältnis bilden, ein abstoßender Mißklang, der die Harmonie eines Staates verdirbt.“²⁰³ Hier fehlte das vermittelnde
198 „Mais il est bien étonnant que parmi tant de Platoniciens, aussi bien Grecs que Latins, aucun n’ait jusqu’ici montré par l’exemple de quelque cité la force et l’influence des nombres sur la constitution des empires: et j’irai jusqu’à dire non seulement la constitution, mais tout aussi bien la croissance, les transformations et la fin des républiques.“ Ebd., S. 389. 199 Bodin schrieb diese Ansicht zu Unrecht den Schülern Platons zu und nicht Platon selbst. 200 „lorsque la République est bien réglée et toujours entretenue dans une suave harmonie qui ne comporte ni désaccords ni dissonances, [...] je ne vois pas, dis-je, comment un tel État pourrait périr.“ Bodin, Méthode, S. 388. 201 Bodin, Staat II, S. 73. 202 Ebd., S. 73. Der Passus über die musikalischen Harmonien fehlt in der Methodus. 203 Ebd., S. 73.
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Glied, nämlich die Sechs.²⁰⁴ Was aber hieß das für den Staat? Welche Kakophonien hatte Bodin im Sinn? Zunächst verwiesen seine Ausführungen über die musikalische Harmonie auf die arithmetische und distributive Verteilungsgerechtigkeit und damit auf Prinzipien der Gerechtigkeit, die der modernen Idee von Gleichheit zuwiderlaufen, da sie sich proportional zur Stellung in der sozialen und politischen Hierarchie bemaß.²⁰⁵ Weiterhin schrieb er musikalischen Harmonien einen staatstragenden Einfluss zu. So zitierte er das Zeugnis des Polybios, der von dem Zwang zum Musizieren für alle unter 30-jährigen im arkadischen Staat berichtet hatte. Die Musik sei das „Mittel, das die ersten Gesetzgeber jenes Volkes entdeckt hatten, um es in seinem für alle Bergbewohner typischen barbarischen Wesen zu zähmen und zu zügeln.“²⁰⁶ Die Musik geriet hier zum zivilisatorischen Instrument, das prophylaktisch gegenüber Aufständen wirkte. Damit rekurrierte Bodin einerseits auf zeitgenössische Praktiken der Musiktherapie, andererseits wohl auch auf die militärische Funktion von Musik, die half, ängstliche und unwillige Individuen in eine martialische Gemeinschaft zu verwandeln.²⁰⁷ Bodins These, dass musikalische Harmonien auch die Entwicklung von Staaten bestimmten, baute auf der Überlegung auf, die auch von Censorinus geäußert wurde, dass pythagoreische Zahlen nicht nur musikalischen Harmonien zugrunde lagen, sondern auch der Entwicklung der Individuen. So sah Censorinus bereits die Embryonalentwicklung von musikalischen Harmonien gesteuert und bemerkte: „Es ist übrigens keineswegs unglaubhaft, daß die Musik etwas mit dem Termin unserer Geburt zu tun hat.“²⁰⁸ Bodin bestand auf der besonderen Relevanz der Sieben und der Neun für Beginn und Ende des Lebens und schrieb, dass „die Zahlen Sieben und Neun die Geburt des Menschen und wie die aus der Multiplikation der beiden entstehende Zahl zumeist das Lebensende des Men-
204 „Tandis que neuf et quatre sont tout à fait discordants et impossibles à unir sens intermédiaire: ce sera le rôle du nombre six que de constituer leur moyenne proportionelle et de s’accorder harmonieusement avec eux.“ Bodin, Méthode, S. 388. 205 Zur Herstellung der politischen Einheit durch Zahlen vgl. W.H. Greenleaf: Bodin and the Idea of Order. In: Horst Denzer (Hg.): Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung in München. München 1973, S. 23–38. Zur geometrischen und arithmetischen Gerechtigkeit vgl. Villey, Justice harmonique, S. 69–86. 206 Bodin, Staat II, S. 74. 207 Kümmel, Musik und Medizin, S. 210–409. 208 Censorinus, der den Einfluss der pythagoreischen Zahlen auf die musikalischen Harmonien untersuchte, bevor er ihre Wirkung auf die Lebensprozesse wie Embryonalentwicklung, Entwicklungsphysiologie und Krankheitsverläufe thematisierte, war eine wichtige Quelle für Bodin. Vgl. Censorinus, De die natali, S. 43.
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schen bestimmen.“²⁰⁹ So erschien ihm im Rahmen des Modells der Lebensalter, des Klimakteriums, das Alter von 63 als besonders kritisch, zumal es zahlreiche bedeutende Gestalten der Weltgeschichte hinweggerafft habe: Schließlich ist eine ganze Anzahl bedeutender Männer im Alter von 63 Jahren gestorben: Aristoteles, Chrysippos, Boccaccio, St. Bernhard, Erasmus, Luther, Melanchthon, Sylvius, Aléandre, Jacques Storm, Nikolaus Cusanus, Thomas Linacre.²¹⁰
Die kritischen Zahlen, insbesondere die Sieben, bestimmte gemäß Bodin neben der Embryonalentwicklung zahlreiche natürliche Prozesse wie den Lebenszyklus des Mannes, wohingegen sich jener der Frau auf der Basis der vollkommenen Zahl Sechs vollzog.²¹¹ Die Sieben verlieh den siebten Söhnen die Fähigkeit zur Wunderheilung der Skrofeln, die sonst vor allem dem französischen König vorbehalten war,²¹² und sie bestimmte sogar das Trillern der Nachtigall.²¹³ Das Wirken der kritischen Zahlen ließ sich nicht nur im Reich der Natur beobachten, sondern auch im Lebenszyklus der Staaten: Auch übertrage ich auf die Staaten, dass jeweils die Siebener und Neuner sowie ihre Quadrate und Kubikzahlen entscheidend sind und in den Staaten häufig Untergang und Tod bewirken.²¹⁴
Das Sterben nach Zahlen konnte entweder in Form eines natürlichen oder gewaltsamen, also krankheitsbedingten Todes eintreten.²¹⁵ Das galt auch für Staaten:
209 Bodin, Staat II, S. 75. 210 „Enfin un nombre d’hommes considérables meurent à 63 ans: Aristote, Chrysippe, Boccace, saint Bernard, Érasme, Luther, Melanchton, Sylvius, Aléandre, Jacques Storm, Nicolas de Cuse, Thomas Linacre.“ Bodin, Méthode, S. 389. Bodin nannte viele Zeitgenossen. 211 Trotz ihrer unterschiedlichen Zyklik waren für beide Geschlechter dieselben Lebensalter kritisch; eigentlich unlogisch. Vgl. ebd., S. 398. 212 Ebd., S. 394. Vgl. Marc Bloch: Die wundertätigen Könige. München 1998, S. 317–334. 213 Für das sonderbare Treiben der Nachtigall, die ihre Triller im Verlauf von sieben Tagen und Nächten verdoppelte, berief sich Bodin auf die Autorität Jacques Boyers, den Präsidenten des Parlaments der Bretagne. Bodin, Méthode, S. 394. 214 „Idem ego ad Respublicas trasferro, ut numeri septenarij ac novenarij quique ex eorum quadratis et cubicis existunt, Respublicis saepius occasum et interitum afferant.“ Bodin, Staat II, S. 519. 215 „Et je comparerai ce cas à celui des fiévreux à qui nous avons coutume de prédire en partant des jours critiques la guérison ou le paroxysme.“ Bodin, Méthode, S. 394.
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Sogar die Reiche, schreibt Polybios, leiden an ihren eigentümlichen Krankheiten und erleiden mitunter einen gewaltsamen Tod, obwohl sie häufiger den natürlichen Tod sterben, der durch gewisse fatale Zahlen vorherbestimmt ist.²¹⁶
Wie Campanella sah auch Bodin den Geschichtsverlauf von den fatalen Zahlen der Sieben und der Neun bestimmt. Da man mit so kleinen Zahlen nicht die Weltgeschichte strukturieren konnte, behalf er sich mit der Multiplikation, allerdings nicht mit Hundert oder Tausend, sondern mit sich selbst. Bodin schrieb den Produkten der Zahlen, ihren Quadraten und Kubikzahlen eine besondere Relevanz zu. So ließ er von der Eroberung des langobardischen Reichs durch Karl den Großen, die er auf das Jahr 769 datierte, bis zur Eroberung Mailands 1499 durch den französischen König Ludwig XII. 93 oder 729 Jahre vergehen. Das traf ungefähr zu. Ebenfalls 729 Jahre veranschlagte er für den Zeitraum von der Gründung Roms bis zur Schlacht von Actium. Von 753 vor Christus bis 31 nach Christus waren es allerdings nur 722 Jahre. Trotz seines Bekenntnisses zur Zahl nahm es Bodin mit Zahlen nicht sehr genau. Auch bei der Datierung der Geburt Christi entschied er sich für eine Ära seit der Schöpfung (ab orbe condita), die den Schöpfungstermin auf das Jahr 3999 [sic?] vor Christus legte, offenbar aufgrund der numerischen Schönheit, die in der Zusammensetzung aus Siebenern und Neunern bestand.²¹⁷ Neben Quadrat- und Kubikzahlen sprach Bodin auch den vollkommenen Zahlen eine bedeutende Funktion im historischen Verlauf zu. Vollkommene Zahlen waren natürliche Zahlen, die genauso groß waren wie die Summe aller ihrer positiven echten Teiler außer sich selbst, aber einschließlich der 1, wie z. B. 28 = 1 + 2 + 4 + 7 + 14²¹⁸
Im Zahlenraum zwischen 1 und 10.000 gab es derer nur vier, 6, 28, 496 und 8.128.²¹⁹ Da die 6 und 28 zu klein waren, die 8.128 zu groß, um den Geschichtsverlauf periodisieren, entschied sich Bodin für die 496.²²⁰
216 „Ainsi les empires, écrit Polybe, souffrent de leurs maladies propres et ils ont parfois une mort violente, tandis qu’ils connaissent le plus souvent une fin naturelle fixée par certains nombres fatals.“ Ebd., S. 394. 217 Ebd., S. 390. Wahrscheinlich ein Druckfehler, es war wohl das Jahr 3969 gemeint, das Quadrat der 63. 218 Grafton argumentiert, dass die 496 aus (7x70)+6 zusammengesetzt sei. Doch diese Erklärung versagt bei den anderen vollkommen Zahlen. Vgl. Grafton, Scaliger II, S. 83. 219 Bodin, Staat II, S. 77. 220 Den pragmatischen Hintergrund benannte Bodin selbst in der Methodus. Vor allem die vollkommenen Zahlen jenseits der 108.000 erschienen ihm zu groß. Vgl. Bodin, Méthode, S. 389.
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Die Periode von 496 Jahren gliederte in seinen Augen vorzüglich die französische Geschichte, insbesondere im Übergang vom römischen zum fränkischen Reich. Damit behauptete Bodin zugleich ein Verhältnis der Sukzession zwischen Rom und französischer Monarchie: Eben diese vollkommene Zahl kennzeichnet nicht nur den Zeitraum von Augustus bis Augustulus, sondern auch den von Augustulus bis zu Karl dem Großen, als dieser in der Stadt Rom den Titel Kaiser des Abendlandes erhielt.²²¹
Die Konvergenz der historischen Ereignisse mit der vollkommenen Zahl 496 ließ jedoch zu wünschen übrig. Der spätrömische Kaiser Augustulus wurde 476 nach Christus abgesetzt, was ein wichtiges politisches Ereignis im Jahr 20 vor Christus erforderte. Dieses fiel unter die Herrschaft des Augustus, ohne jedoch Beginn, Ende noch ein sonstiges herausragendes Ereignis zu markieren. Noch weniger lagen 496 Jahre zwischen dem Ende des römischen Reichs im Jahr 476 und der Karlskrönung des Jahres 800. Bodin verwies an dieser Stelle auf die leidige Ungenauigkeit bei der Überlieferung historischer Daten, die dafür verantwortlich sei, dass die der Geschichte zugrundeliegende numerische Struktur nicht noch deutlicher zum Ausdruck kam: Würde man für jeden einzelnen Staat eine sorgfältige und umfassende Jahreszählung anstellen, dann fände man ebenso leicht eine Anzahl von Beispielen, wie man sie auf einen Blick dem Kalender der Römer entnehmen kann.²²²
Allerdings ließ sich eine Differenz von fast 200 Jahren nicht ernsthaft durch Datierungsprobleme erklären. Bodins Periodisierung nach pythagoreischen und vollkommenen Zahlen, nach Quadrat- und Kubikzahlen diente weniger dazu, Ereignisse historisch verlässlich zu datieren, als vielmehr die historische Datierung von Ereignissen zu unterminieren. Dabei spielte der Wunsch nach der Herstellung eines numerischen Zusammenhangs zwischen römischem Reich und französischer Monarchie eine wichtige Rolle. Bodins zahlenbasierte Geschichtsperiodisierung fungierte als Alternativmodell zu der Lehre von den vier Universalreichen mit Translationsidee. Es handelte sich um eine translatio imperii auf numerischer Basis. Diese war mindestens ebenso spekulativ wie ihr Konkurrenzmodell. Die Relevanz der pythagoreischen Zahlen war nicht aus den historischen Daten abgeleitet, vielmehr passte Bodin die historischen Daten an sein numeri-
221 Bodin, Staat II, S. 79. 222 Ebd., S. 80.
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sches Geschichtsmodell an. Zugleich traten bei Bodin astrologische Erklärungsmodelle in den Hintergrund. Die astrologischen Spekulationen führten jedoch in der Frühen Neuzeit zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit für astronomische Daten und erwiesen sich schließlich als wichtiges Mittel zur absoluten Datierung historischer Ereignisse, die nach unterschiedlichen Chronologien überliefert waren.²²³ Auf der Basis der datierbaren astronomischen Ereignisse konstruierte Joseph Justus Scaliger im späten sechzehnten Jahrhundert eine Art chronologischen Superzyklus, der die verschiedenen historischen Chronologien miteinander in Konvergenz brachte. Bodin trug mit seiner erfahrungswidrigen mathematisch-pythagoreischen Geschichtsperiodisierung wenig dazu bei. Gleichwohl inspirierte er mit Kepler einen wichtigen Vertreter der astrologisch-astronomischen Fraktion. Dieser war begeistert von Bodins numerischer Harmonie der Staaten und diskutierte sie in seinem Lieblingswerk, den Harmonices mundi (1618) in kosmologischem Zusammenhang.²²⁴ Kepler untersuchte mehrere rätselhafte Harmonien und Konvergenzverhältnisse in der Natur. So stellte Kepler etwa fest, dass die Ineinanderschachtelung fünf geometrischer Figuren – eines Würfels, Tetraeders, Dodekaeders, Ikosaeders und Oktaeders – die Entfernung der fünf Planeten zueinander exakt wiedergab. Dieser Befund stimmt aus heutiger Perspektive bis auf ein Zwanzigstel genau. Die Basis von Keplers denkwürdigen Harmonien waren jedoch keine Zahlenspekulationen, sondern präzise astronomische Messungen.²²⁵ Entweder gab Kepler Bodins historisch-numerischen Harmonien zu viel Kredit, oder er fasste Bodin ob seiner schönen Harmonien als Bruder im Geiste auf, der er methodisch gar nicht war.
3.3 Die Krise des Individuums – Politische Prognostik am römischen Hof um 1630 Orazio Morandi, Abt der römischen Kirche Santa Prassede, war nicht nur ein hochgebildeter Mann, der über eine stadtbekannte Bibliothek verfügte, sondern
223 So formulierte Heinrich Bünting, ein Zeitgenosse Scaligers, die Regel, dass im Zweifelsfall der Datierung jenes Historikers zu folgen sei, der am besten mit den astronomischen Daten übereinstimmte: “for [...] solar eclipses and other celestial phenomena ‘precisely establish chronological intervals [...]. And if authors disagree, one must see which of them agrees better with the chronological interval revealed by eclipses.’”Zitiert nach Grafton, Scaliger II, S. 138. 224 Auf diese Rezeption Bodins durch Kepler hat Campion aufmerksam gemacht. Vgl. Nicholas Campion: History of Western Astrology. 2 Bde. Bd. 2. London, New York 2009, S. 142. 225 Vgl. North, Astronomie, S. 211–213.
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auch über ein lebhaftes astrologisches Interesse. Dieses wurde ihm 1630 zum Verhängnis, als er das Horoskop des amtierenden Papstes Urban VIII. mit der Prognose seines Todes im gleichen Jahr erstellte. Die Zirkulation dieser Prognose in Morandis weitverzweigtem Netz von Freundschaften, zu dem Politiker und Wissenschaftler wie Galileo Galilei zählten, hatte weitreichende Folgen: Als die spanischen Kardinäle, gefolgt von der französischen Diplomatie in Erwartung des nächsten Konklaves nach Rom strömten, sah sich Urban VIII. gezwungen, den internationalen Vorverhandlungen über seinen Amtsnachfolger ein Ende zu machen. So ließ er Morandi inhaftieren und unterzog ihn einem Prozess. Konkret wurde Morandi vorgeworfen, „divinatorische Astrologie auszuüben, politische und verleumderische Schriften zu verfassen und verbotene Bücher zu besitzen.“²²⁶ Die Durchsuchung des Klosters förderte in der Tat eine bemerkenswerte Anzahl handschriftlicher Geburtshoroskope – sogenannte Nativitäten oder Genituren – von Päpsten, Kardinälen und Wissenschaftlern zutage. Trotz des offiziellen Verbots war der Besitz von Geburtshoroskopen keine Seltenheit im hohen römischen Klerus, so dass ein Zeuge im Verlauf des Prozesses lakonisch zu Protokoll gab: „Es gibt keinen Kardinal, keinen Prälaten und keinen Fürsten, der nicht seine Nativität mit Zukunftsprognosen besäße.“²²⁷ Zumeist war diese Zukunftsforschung allerdings auf die eigene Person und die nächsten Angehörigen begrenzt. Morandi hingegen besaß eine stattliche Anzahl, was davon zeugt, dass seine private Bibliothek in den 1620er Jahren geradezu als Archiv und Forschungszentrum fungierte, in dem umfangreiche astropolitische Berechnungen unternommen wurden. Dank des vor dem Tribunale criminale del governatore geführten Zivilprozesses hat sich Morandis astrologisches Datenmaterial in Form einer circa 1.350 Blätter starken Prozessakte fast vollständig erhalten.²²⁸
226 „Essendoci stato referto che [...] Morandi [...] esserciti l’arti dell’astrologia giuditiaria, componga scritture Politiche, e malediche, e ritenghi libri prohibiti.“ Bertolotti, Giornalisti, S. 478. Bei Bertolotti finden sich auszugsweise Transkriptionen von Dokumenten aus der Prozessakte. 227 „Non vi è cardinale nè Prelato, nè Principe che non abbia i suoi discorsi sopra la nascita con prognostichi di buone fortune.“ Ebd., S. 497. 228 Rom, Archivio di Stato. Tribunale criminale del Governatore, processi 1630, Nr. 251 [im Folgenden ASR]. Die Prozessakte enthält Verhörprotokolle, zwei Inventare des Bibliotheksbestands, das Traktätchen Astrologicus seu naturalis discursus in Manuskriptform, ein Heft mit 13 Nativitäten von Päpsten und Kardinälen, eine Horoskopsammlung mit 85 Nativitäten von Päpsten, Kardinälen, Wissenschaftlern (z. B. Galilei, ASR f. 1219) und Literaten, eine Horoskopsammlung mit 90 weniger prominenten Zeitgenossen, darunter Kinder und Opfer von gewaltsamen Toden und astronomische Hilfsmittel wie Berechnungen und Zahlentabellen.
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Morandis aufsehenerregendes Horoskop für Urban VIII. mit der Todesprognose für den Sommer 1630 stand im Zusammenhang eines größeren prognostischen Projekts, das sich vor allem mit der Frage befasste, wer der nächste Pontifex sein würde. So scheint sich der Abt als Veranstalter eines Astrologen-Kongresses hervorgetan zu haben, auf dem 1629 in Rom die Frage des geeignetsten Kandidaten für das nächste Pontifikat diskutiert wurde.²²⁹ Darüber hinaus warf ihm Urban VIII. in seiner Anklageschrift vor, „Schriften über die Eigenschaften der zum Papst wählbaren Kardinäle zu verfassen, um abzuschätzen und zu erforschen, wer der nächste Papst, unser Nachfolger, werden soll oder kann.“²³⁰ In der Tat fanden sich in Morandis Unterlagen viele handschriftliche Nativitäten für zeitgenössische Kardinäle und somit von Kandidaten für das Pontifikat. Während diese astrologischen Analysen der Generierung von Zukunftswissen dienten, bezeugt eine Gruppe von Genituren historischer Päpste und von Opfern eines gewaltsamen Todes Morandis Interesse an der Erforschung der Vergangenheit. Die private und unpublizierte Horoskopsammlung Morandis erfüllte verschiedene Funktionen bei der Konstitution von historisch-politischem Wissen. Dabei gerät ein Archiv in den Blick, das aus der Perspektive der frühneuzeitlichen Astrologie einen geradezu unerschöpflichen Wissensspeicher darstellte: das Universalarchiv des Sternenhimmels. Es soll im Folgenden untersucht werden, welche Arten von Informationen Morandi der Schrift der Sterne auf dem göttlichen Display des Sternenhimmels entnehmen konnte und welcher konkreter astrologischen Verfahren er sich bei seiner Datenerhebung bediente.
3.3.1 Die Zukunft des Papstes Die Nativität Maffeo Barberinis, seit dem Konklave von 1623 besser bekannt als Urban VIII., nimmt eine prominente Rolle in Morandis Horoskopsammlung ein. Sie bildete nicht nur zusammen mit der an sie geknüpften Todesprognose für Urban VIII. den wesentlichen Anlass des Prozesses gegen Morandi, sondern ihr singulärer Status lässt sich auch anhand ihrer Existenz in fünf Varianten innerhalb des Konvoluts ablesen. Eine Nativität stellt eine Art astrologischer Momentaufnahme dar, welche die zum Zeitpunkt der Geburt herrschende Planetenkonstellation notiert und zugleich ihre Wirkung über diesen Moment hinaus auf das
229 Daran erinnerte Tommaso Campanella Urban VIII. in einem Brief vom 3.4.1635. Vgl. Tommaso Campanella: Lettere. Hg. von Vincenzo Spampanato. Bari 1927, S. 287 f. 230 „di far discorsi circa le qualità de’cardinali Papabili per congietturare et insinuare chi deva o possi essere il futuro Pontefice, nostro successore.“ Bertolotti, Giornalisti, S. 480.
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Abb. 2: Die frühneuzeitliche Darstellung der astrologischen Häuser
ganze Leben der betroffenen Person postuliert. Daraus resultiert der Anspruch, aus ihr allgemeine psychische und physische Merkmale eines Personen ‚abzulesen‘. Für die Erstellung eines Geburtshoroskops bedarf es weniger, jedoch präziser biographischer Angaben, nämlich der minutengenauen Geburtszeit sowie des Geburtsorts. Die genaue Geburtszeit dient der Bestimmung des Aszendenten, jenem Grad der Ekliptik, der in dem Moment der Geburt am östlichen Horizont aufgeht. Von dem Aszendenten hängen wiederum die drei weiteren Kardinalpunkte ab: die Himmelsmitte (medium caelum), der dem Aszendenten gegenüber liegende Punkt (occasus) sowie der tiefste Punkt der Hemisphäre (imum caelum). Diese vier Punkte sind für jede Art von astrologischer Deutung zentral.²³¹ Da der Aszendent im zweistündigen Rhythmus wechselt, ändert bereits eine geringe Variation der Geburtszeit mehrere wichtige Faktoren eines Geburtshoroskops.
231 Boll, Bezold, Gundel, Sternglaube und Sterndeutung, S. 62.
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Abb. 3: Morandis Horoskop für Urban VIII. mit Löwe-Aszendent
So führte auch in Morandis Horoskopen für Urban VIII. die Variation der Geburtszeit um drei Stunden zu einem Wechsel des Aszendenten – so erhielt der Papst statt eines Löwe-²³² einen Jungfrau-Aszendenten.²³³ Durch diese Verschiebung würde aber Morandis astrologische Begründung für Maffeo Barberinis Wahl zum Papst durch ein Jupiterquadrat zum Aszendenten hinfällig.²³⁴ Denn der Aspekt eines Quadrats – also die Winkelbeziehung von 90° zwischen Planet und Aszendent – büßte bei einer Verschiebung des Aszendenten um mehrere Grade einfach seine Existenz ein. Dadurch wurde auch Morandis Deutung die astrologische Grundlage entzogen.
232 ASR, f. 1024v. 233 Ebd., f. 1025. 234 „dum ascendens erat in quadrato Iovis, medium caelum in sextilo Mercurij, Luna in coniunctione Veneris et Sol in quadrato Veneris.“ Ebd., f. 1025.
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Abb. 4: Morandis Horoskop für Urban VIII. mit Jungfrau-Aszendent
Mittels des Geburtsortes, bzw. dessen geographischen Breitengrades lassen sich die Planetenstände feststellen, wobei sich ihre Variationen im Horoskop Urbans VIII. aus dem Gebrauch verschiedener astronomischer Tafeln ergeben. Das Inventar der Bibliothek zeigt, dass Morandi alle gängigen und aktuellen Planetentafeln und Ephemeriden besaß, die dort von keinem Geringeren als Raffaele Visconti, dem Zensor der Werke Galileis, konsultiert wurden.²³⁵ Unter ihnen fanden sich jene des Regiomontanus, die auf der kopernikanischen Astronomie basierenden prutenischen Tafeln sowie die Ephemeriden Giovanni Stadios, Tycho Brahes, Giovanni Antonio Maginis und Andrea Argolis.²³⁶ Die verwendeten astronomischen und biographischen Daten waren entscheidend für die Erstellung einer Nativität. Aus einer Nativität erschließt sich jedoch nicht ohne Weiteres der Zeitpunkt, zu dem ein bestimmtes Ereignis stattfinden wird. Um den astralen Zeichen am Sternenhimmel Zeitangaben zu entnehmen, bedurfte es besonderer Dechiffrierungskünste. Zur Erstellung einer Todesprognose bediente man sich astrologischer Verfahren, mittels derer das Ausgangshoroskop dynamisiert wurde. Die
235 Bertolotti, Giornalisti, S. 495. 236 ASR, f. 556–562v.
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wichtigste von Morandi verwendete Technik in der Diskussion um die Lebensdauer Urbans VIII. war jene der Direktionen, auch Theorie der aphetischen Punkte genannt. Die Grundkonzeption war einfach – durch die Bestimmung eines Ausgangspunktes, dem Aphetus oder ‚Lebensspender‘ und eines Endpunktes, dem Anareta oder ‚zerstörerischen‘ Gestirn, erhielt man ein Intervall in Form von Gradzahlen auf dem Bogen der Ekliptik, das sich durch die Gleichsetzung von einem Grad mit einem Lebensjahr in ein Zeitintervall umrechnen ließ.²³⁷ Kannte man die beiden Eckdaten, ergab sich automatisch auch die Länge des Intervalls dazwischen. Die Bestimmung des Ausgangspunktes, des Aphetus, war allerdings kompliziert und erschwert die Ortung dieses neuralgischen Punktes erheblich.²³⁸ So war es nicht verwunderlich, dass sich die Diskussion um die Lebensdauer Urbans VIII. genau auf die Frage konzentrierte, welches Gestirn als Aphetus fungierte. Visconti bezweifelte in einem Brief an Morandi, dass die Sonne im Horoskop des Papstes als Aphetus angesehen werden könne, da sie bereits in seiner Kindheit von so ungünstigen Direktionen aspektiert wurde, dass kaum erklärlich war, wie der Papst das Erwachsenenalter habe erreichen können: Schauen Sie mal, warum ist er wohl während der Direktion des rechten Quadrats zur Sonne nicht gestorben? Der Mond, der die Kindheit regiert (die Zeit, zu der sich dieser Einfluss manifestierte) ist extrem verletzt und die Sonne wegen des Marsaspekts feindselig. Ich sehe nicht, wie er das ohne die Künste des Apollo [d.i. die Medizin] hätte überleben können.²³⁹
Selbst wenn man die Sonne als Aphetus ansah, wirkten doch nicht alle ungünstigen Direktionen unbedingt tödlich: „der Aphetus tötet nicht immer, wenn irgendein schlimmer Planet [d.i. Mars oder Saturn] ihn in einer Direktion aspektiert [...].“²⁴⁰
237 John North: Chaucer’s Universe. Oxford 1988, S. 217. 238 Bei einer Taggeburt war die Sonne, bei einer Nachtgeburt der Mond zu betrachten und zu entscheiden, ob sich das Gestirn an einem aphetischen Ort befand. Die Meinungen darüber, was ein aphetischer Ort war, divergierten und waren auch davon abhängig, welches Gestirn betrachtet wurde. Befanden sich Sonne oder Mond nicht an einem aphetischen Ort, eruierte man, ob sich der am besten situierte Planet im Horoskop des letzten Neumondes vor der Geburt – im Fall einer Taggeburt –, bzw. des letzten Vollmondes – bei einer Nachtgeburt – an einem aphetischen Ort befand. War das nicht der Fall, ging man zuletzt zum Aszendenten über. Ebd., S. 215, 223. 239 „osservi un poco perche non morì quando il quadrato destro di marte fu diretta al sole? Io non trovo cosa che lo potesse salvare. La luna che governa l’infantia (tempo nel quale occorse questo raggio) si trova estremamente offesa, et il sole nimico per aspetto di marte. Non so come potevano mai salvarlo senza l’arti d’Apollo.“ ASR, f. 484v. 240 „l’afeta non sempre amazza quando qualche malefica va ad esso per direzzione.“ Ebd., f. 484v.
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Darüber hinaus postulierte Visconti, „dass eine Revolution die Wirkung einer Direktion beschleunigen oder verzögern kann.“²⁴¹ Mit der Revolution ist ein weiteres Verfahren der Dynamisierung angesprochen, bei dem die Planetentransite eines Jahres zu der Konstellation bei der Geburt in Beziehung gesetzt werden. Als ein besonders kritischer Transit für den Papst wurde eine Sonnenfinsternis im Juni 1630 angesehen. Wie aus Viscontis Widerspruch gegen die negative Deutung hervorgeht, muss sich auch Morandis Todesprognose für Urban VIII. wesentlich auf dieses Himmelsereignis gestützt haben.²⁴² Visconti machte dabei seine eigene Erfahrung geltend – so hätten im Jahr 1624 gleich zwei Sonnenfinsternisse seinen eigenen Aszendenten aspektiert, ihm aber sei es nie besser gegangen als in eben diesem Jahr.²⁴³ Zudem befand Visconti, dass die Jahresrevolution für das kritische 63. Lebensjahr für den Papst außerordentlich günstig war: es ist sicher, dass die Revolution in diesem 62. [Lebens-] Jahr miserabel ist, aber die Direktion ist noch nicht ausgereift, und sie wird auch im Juni nicht zum Höhepunkt kommen, sondern vielmehr im Herbst, wenn das 63. Jahr begonnen hat und am 14. April wird eine in meinen Augen sehr gute Revolution beginnen.²⁴⁴
Der Papst teilte den Optimismus Viscontis nicht und vollführte nach der Verhaftung Morandis zusammen mit dem Philosophen Tommaso Campanella magische
241 „la revoluzione possa stimolar o ritardar gli effetti di una direzzione.“ Bertolotti, Giornalisti, S. 509. 242 Es wird einhellig vertreten, dass der Sonnenfinsternis im Juni 1630 eine Schlüsselfunktion bei Morandis Prognose zukam. Vgl. Daniel Pickering Walker: Spiritual and Demonic Magic from Ficino to Campanella. London 1958, S. 206; H. Darrel Rutkin: Various Uses of Horoscopes. Astrological Practices in Early Modern Europe. In: Günter Oestmann, H. Darrel Rutkin, Kocku von Stuckrad (Hg.): Horoscopes and Public Spheres. Essays on the History of Astrology. Berlin, New York 2005, S. 167–182, S. 177 und Dooley, Last Prophecy, S. 2. Sie kann bei Morandi jedoch nicht der einzige Indikator gewesen sein. Ein Zeuge bemerkt, Morandi habe den Tod des Papstes für den August prognostiziert. Visconti berichtet, er habe mit Morandi eine Direktion des Saturns zur Sonne diskutiert. Dooley behauptet, die Todesprognose habe sich auf die Sonne als Aphetus im neunten Haus und Saturn als anaretischem Punkt im achten Haus gestützt. Einen Nachweis für diese Annahme bleibt er jedoch schuldig. Vgl. Dooley, Last Prophecy, S. 9. 243 Bertolotti, Giornalisti, S. 510. 244 „certo è che in quest’anno 62 la revoluzione è pessima; ma la direzzione non è maturata, nè è per arrivar al centro sino dopo giugno, anzi verso l’autunno che gli sarà entrato l’anno 63 a di 14 aprile quando enterà una revoluzione a mio parere molto buona.“ ASR, f. 484v. Der Papst war zwar am 5. April geboren, doch Visconti verlegte seinen Geburtstag wohl deshalb auf den 14. April, weil zwischen 1568 und 1630 die Gregorianische Kalenderreform stattgefunden hatte. Eigentlich müsste die Differenz 11 Tage betragen.
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Räucherungen im Vatikan, um die Luft von der schädlichen astralen Strahlung zu reinigen.²⁴⁵ Mit der 1631 erlassenen Bulle Inscrutabilis reagierte der Papst erneut auf die blühende politische Prognostik und inkriminierte jede Art von Zukunftsforschung, die sich auf die Oberhäupter weltlicher und ekklesiastischer Institutionen bezog. Wie der Morandi-Prozess verdeutlicht, besaß das astrologisch generierte Zukunftswissen, sei es in Form von „Vorhersagen von zukünftigem Kriegsglück, staatlichen Umwälzungen oder dem Tod von Fürsten“²⁴⁶, in der Tat eine beachtliche politische Sprengkraft, der zugetraut wurde, „die staatliche Ordnung zu erschüttern und Herrscher zu gefährden.“²⁴⁷ Sein Aktivismus gegen die Prognostik hinderte den Papst allerdings nicht daran, selbst die Geburtshoroskope seiner Kardinäle zu studieren und mit astrologischer Hilfe zu ergründen, wann der altersschwache Herzog von Urbino sterben würde, um endlich dessen Herzogtum an sich zu nehmen.²⁴⁸
3.3.2 Das Projekt der Kardinäle Morandis Projekt zur Konstitution von Zukunftswissen beschränkte sich nicht auf die Person des Papstes, sondern erstreckte sich auf das gesamte Sacrum collegium. So besaß Morandi neben der Nativität Urbans VIII. auch die seiner zahlreichen Angehörigen, die von ihm in den Kardinalsstand versetzt worden waren.²⁴⁹ Die Nativitäten der Barberini-Kardinäle bildeten den Nukleus einer größeren Sammlung von Kardinalshoroskopen, welche als Grundlage von Morandis Discorso sui cardinali papabili fungiert haben dürfte. Obgleich dieses Traktat im Verlauf des Prozesses nicht ans Licht gekommen ist, sprechen mehrere Faktoren für seine Existenz.
245 Walker, Magic, S. 207–210. 246 „la predittione di futuri successi di guerre, revolutioni di Stati di Prencipi, e di morte di quelli...“ Bertolotti, Giornalisti, S. 479. 247 „perturbazione dello stato e pericolo di principi.“ Urban VIII.: Inscrutabilis. In: Tommaso Campanella: Opuscoli astrologici. Hg. u. übers. von Germana Ernst. Mailand 2003, S. 265–267, S. 265. 248 „in privato si vantava di conoscere i temi di nascita di tutti i cardinali e [...] consultava l’oroscopo del vecchio duca d’Urbino per individuare quando sarebbe sparito di scena per prendere finalmente possesso del suo stato.“ Ernst, Tommaso Campanella, S. 214. 249 Darunter Antonio Barberini senior und junior, Francesco Barberini und Lorenzo Magalotti.
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So bezeugte der Anwalt des Klosters, Teodoro Ameyden, dass Morandi bereits zu Weihnachten 1629 an einem solchen Traktat gesessen habe.²⁵⁰ Auch Francesco Ripa, Generalbevollmächtigter von Santa Prassede, sah Morandi „an einigen Schriften mit Bildern von Kardinälen“ arbeiten, wobei er ihn über seine Tätigkeit folgendermaßen informiert habe: „Ich muss ein Traktat über die Eigenheiten des Hofes oder der Personen, die derzeit Kardinäle sind, in Ordnung bringen.“²⁵¹ Der nächtlichen Verbrennungsaktion, mit der die Mönche des Klosters ihren Abt zu schützen versuchten, fiel eine große Menge verdächtiger Papiere zum Opfer, darunter nach Aussage eines Mönches „viele Nativitäten, unzählige Briefe [und] ein Traktat über den römischen Hof,“²⁵² bei dem es sich höchstwahrscheinlich um die inkriminierte Schrift handelte. Gemäß den Zeugenaussagen wurde das Traktat im Auftrag des venezianischen Botschafters Angelo Contarino verfasst und analysierte die Faktionen innerhalb des Kardinalskollegiums sowie die Eigenschaften der Kardinäle. Darüber hinaus sei es mit deren Konterfeis ausgestattet gewesen.²⁵³ Auch in anderen Konklaveschriften gab es Porträts.²⁵⁴ Diese dienten wohl ebenfalls der Charakteranalyse, denn Morandi interessierte sich auch für die prognostische Praxis der Stirnlesekunst, der Metoposkopie. Er besaß das Traktat La metoposcopia overo commensuratione delle linee della fronte (1627) des Astronomen und Mathematikers Giovanni Antonio Magini.²⁵⁵ Maginis Stirnlesekunst war eine Kombination von Physiognomie und Astrologie. Die Stirn wurde in verschiedene Partien eingeteilt, die Planeten zugeordnet wurden, was in einer komplizierten Planetenmelothesie mündete. In Kombination mit den
250 „Vergangene Weihnachten hat mir der genannte Abt einen Bericht [...] über den römischen Hof gezeigt und mir erzählt, dass er ihn im Auftrag des venezianischen Botschafters zu dessen Abreise [aus Rom] angefertigt habe.“ („Di Natale passato mi monstrò detto Padre abbate una relatione overo raguaglio della corte di Roma e disse haverla fatta ad instantia del signor ambasciatore veneto allora di partenza.“). Bertolotti, Giornalisti, S. 489. 251 „Devo accomodare una scrittura sopra la qualità della corte ò dei soggetti che sono cardinali al presente.“ Ebd., S. 495. 252 „molte geniture, e una infinità di lettere, un discorso sulla corte romana etc. etc.“ Ebd., S. 493. 253 So Ernst, Roma barocca, S. 230. Dafür spricht die Aussage eines Mönchs von Santa Prassede, dass bei der Vernichtung verdächtiger Objekte auch Druckplatten für Holz- und Kupferstiche verbrannt wurden. Vgl. Bertolotti, Giornalisti, S. 494. 254 So verweist Seidler auf eine Konklaveschrift des Jahres 1629, von der nur die Konterfeis einiger Kardinäle erhalten blieben, die nach ihrer Einschätzung Teil einer umfassenderen Schrift waren. Vgl. Sabrina M. Seidler: Il teatro del mondo. Diplomatische und journalistische Relationen vom römischen Hof aus dem 17. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1996, S. 32. 255 Das Traktat ist unter dem Pseudonym Ciro Spontoni gedruckt. Morandi besaß noch weitere physiognomische Schriften. Germana Ernst, Roma barocca, S. 242.
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astrologischen Erwägungen galt es, die Art der Stirnfalten, ihre Tiefe, ihre Länge und ihren Verlauf zu untersuchen.²⁵⁶ Morandis verlorene Schrift ist inhaltlich und formal dem Genre der Konklaveschriften zuzurechnen, welches sich in drei Formen untergliedern lässt, nämlich in von Teilnehmern verfasste Konklaveberichte, prognostische Schriften zur Evaluation von Kandidaten für das Pontifikat sowie in Verhaltenslehren für die Kardinäle während eines Konklaves – gewissermaßen das ekklesiastische Äquivalent der politischen Ratgeberliteratur.²⁵⁷ Morandis Traktat gehörte zu den Prognostika, die für das Pontifikat Urbans VIII. zahlreich bezeugt sind. Um 1630 zirkulierten viele anonyme handschriftliche Prognostika, deren Autoren sich Gedanken machten „über das zukünftige Konklave, für den Fall, dass Urban VIII. stürbe“.²⁵⁸ In diesen wurden, wie es von Morandis Traktat behauptet wurde, die Eigenschaften der Kardinäle diskutiert, ihre Faktionen und persönlichen Allianzen. Bis zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts wurden diese Traktate fast ausnahmslos anonym und in Manuskriptform verbreitet, was sie vor der Zensur schützte. Aus diesem Grunde sind sowohl die Autoren als auch die Adressaten der Schriften bis heute unbekannt.²⁵⁹ Wurde die Autorschaft geklärt, brachte das den Verfasser in größte Gefahr – diese Erfahrung machte der Theoretiker der Staatsräson Frachetta, dessen Traktat über das Kardinalskollegium 1603 gegen seinen Willen in den Druck gegeben wurde. Er konnte sich dem Prozess zwar erfolgreich durch Flucht entziehen, durfte jedoch Rom nicht wieder betreten.²⁶⁰ Nur in einem Fall ist die Autorschaft eines solchen Traktats geklärt, ohne dass dem Autor der Prozess gemacht wurde, nämlich bei Giulio Cesare Braccinis Discorso intorno allo stato presente del Collegio Apostolico (1635). Allerdings beschränkte sich seine
256 Angus G. Clarke: Metoposcopy. An Art to Find the Mind’s Construction in the Forehead. In: Patrick Curry (Hg.): Astrology, Science and Society. Historical Essays. Woodbridge, Wolfeboro 1987, S. 171–196, S. 181. 257 Claudio Costantini: Fazione Urbana: Sbandimento e ricomparizione di una grande clientela a metà Seicento. http://www.quaderni.net/WebFazione/d1.htm. Letzte Aktualisierung: September 2008 (14. April 2014). 258 Discorso sul futuro Conclave in caso che venisse a morte Urbano VIII (1629). Vgl. Costantini, http://www.quaderni.net/WebFazione/d5.htm. Costantini nennt allein 14 solcher Schriften für diesen Zeitraum, zusätzlich zu den bereits von Baldini, Seidler und Visceglia und Signorotto verzeichneten Manuskripten in römischen Archiven. Vgl. Gianvittorio Signorotto, Maria Antonietta Visceglia (Hg.): Court and Politics in Papal Rome, 1492–1700. Cambridge u. a. 2004. 259 Vgl. Costantini, http://www.quaderni.net/WebFazione/d6.htm. 260 Vgl. Costantini, http://www.quaderni.net/WebFazione/d1.htm.
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Verbreitung wohl tatsächlich auf den engsten Umkreis seines Adressaten, des Kardinals von Lyon.²⁶¹ Den Grundstein für die Prognosen über das Sacrum collegium bildete Morandis Sammlung von 55 Kardinalsnativitäten.²⁶² Darunter befanden sich allerdings auch Horoskope von Kardinälen, die 1630 schwerlich zur Papstwahl in Frage kamen, da sie bereits tot waren. Da diese jedoch mehrheitlich zwischen 1626 und 1630 verstorben sind, ist anzunehmen, dass Morandi ihr Horoskop noch zu ihren Lebzeiten angefertigt hat. Morandi besaß also nicht die Nativitäten aller lebender Kardinäle, sondern von etwa der Hälfte von ihnen.²⁶³ Doch auch ein anderes zeitgenössisches Prognostikon berücksichtigte nur 36 Kardinäle.²⁶⁴ Stark kommentiert waren neben den Nativitäten der Barberini-Kardinäle die Genituren des 1623 verstorbenen Gregors XV., Alessandro Ludovisi, sowie jene von dessen Nepoten Ludovico Ludovisi.²⁶⁵ So schloss Morandi aus der Berechnung von Direktionen, dass Ludovico Ludovisi infolge eines Quadrats von Mars zu seinem Aszendenten erkrankt, aufgrund eines Venussextils jedoch wieder genesen war. Seine Ernennung zum Kardinal verdanke er wiederum einem Trigon des Glücksrads²⁶⁶ zur Venus, unterstützt vom Aszendenten im Herz des Löwen.²⁶⁷ Insbesondere die Berechnung von Direktionen zeigt an, dass das Erkenntnisinteresse Morandis auf die Gewinnung von Zukunftswissen ausgerichtet war. In der Tat war Ludovico Ludovisi als Kardinalsnepote Gregors XV. ein wichtiger Faktor für eine zukünftige Papstwahl, da er der Anführer der größten Faktion, der des verstorbenen
261 Giulio Cesare Braccini: Discorso intorno allo stato presente del Collegio Apostolico nel quale si dà notitia delle qualità, aderenze e interessi di tutti i cardinali che vivono in maggio del 1635 e di altre cose in ordine alle pretensioni di ciascheduno. Es ist nur ein einziges Exemplar nachgewiesen. Ebd. 262 Abzüglich der Doubletten und derjenigen der Päpste Alessandro Ludovisi (Gregor XV.) und Maffeo Barberini (Urban VIII.). 263 Da 1630 kein Konklave stattgefunden hat, sind die personellen Wechsel zwischen den Konklaven von 1623 und 1644 schwer nachzuvollziehen. Um alle Kardinäle zu berücksichtigen, müssten ca. 60 Nativitäten von 1630 noch lebenden Kardinälen vorhanden sein, es sind aber nur ca. 30. 264 Vgl. La statera de’porporati ove si pesa il merito di trentasei cardinali papabili. Vgl. Costantini, http://www.quaderni.net/WebFazione/d1.htm. 265 Morandis Kardinalsnativitäten sind unterschiedlich stark ausgearbeitet, manche enthalten nur ein Minimum an astrologischen Daten (Aszendent, Planetenstände, Glücksrad), andere auch Direktionen und Angaben darüber, welcher Direktion die Kardinäle jeweils ihre Erhebung in den Kardinalsstand zu verdanken hatten. 266 Das Glücksrad, oder locus fortuna ist “a point on the ecliptic with longitude equal to that of the ascendent increased by the amount that the Moon’s longitude exceeds the Sun’s.” North, Horoscopes and History, S. 1. 267 Vgl. ASR, f. 1049.
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Papstes, war, auch wenn er nicht selbst als Kandidat in Frage kam.²⁶⁸ Ausführlich äußerte sich Morandi auch zu dem Horoskop Marcello Lantis von der Faktion Borghese. Morandi erörterte die astrologischen Ursachen seiner zahlreichen Karriereschritte, was bezeugt, dass er ihn für einen aussichtsreichen Kandidaten hielt.²⁶⁹ In der zeitgenössischen anonymen Relatione sopra i Cardinali Papabili venendo il Caso di sede vacante (1630)²⁷⁰ wurde Lanti, der Onkel des Fürsten Borghese, ebenfalls als aussichtsreicher Kandidat gehandelt, der allerdings von Ludovisi abgelehnt wurde. Die Faktion Borgheses war jedoch ohne diejenige Ludovisis machtlos.²⁷¹ Ludovisi war auch deshalb ein wichtiger Mann im Kardinalskollegium, weil keine Partei ohne die Unterstützung seiner Faktion mehrheitsfähig war. Auch für andere konklavistische Literatur ist der Einsatz von astrologischen Verfahren wie Direktionen und Revolutionen zur Prognose des nächsten Pontifex bezeugt, so etwa in dem Traktat Braccinis.²⁷² Das Horoskop Urbans VIII. fand sich in verschiedenen Varianten an mehreren Stellen innerhalb der Horoskopsammlung Morandis und zugleich an der Schnittstelle von mehreren Gruppen von Nativitäten. So gehörte es zu den Nativitäten der nächsten Angehörigen Urbans VIII., die sich nicht nur auf die BarberiniKardinäle, sondern die ganze Familie Barberini bezogen.²⁷³ Das war angesichts
268 Seidler, Teatro del mondo, S. 105 f. 269 Vgl. ASR, f. 1028. 270 Relatione sopra i Cardinali Papabili venendo il Caso di sede vacante. Archivio Segreto Vaticano [ASV], Fondo Pio 1, f. 141–160. 271 „Lanti wird für einen freundlichen, nicht allzu gebildeten Mann gehalten, aber mit guten Manieren und einer aufrechten Gesinnung. Er ist liberal, doch alle Parteien, die sehr von dieser Wahl profitieren würden, haben das Problem, das alle Vorzüge aufwiegt, dass er nämlich der Onkel des Fürsten Borghese ist, weshalb Ludovisio nicht zustimmen wird, und es ist sonnenklar, dass er, auch wenn ihn die Spanier nominieren, sich nicht durchsetzen kann, solange Ludovisio nicht mit Borghese kooperiert, wegen der zahlenmäßig starken Faktion Urbans.“ („Lanti è tenuto huomo soave non di gran lettere, ma di dolci costumi di buona conscienza, e liberale, tutte parti, che possono molto giovare l’elettione, hanno però un ostacolo che contrapesa tutti l’esser cioè zio del Prinicipe Borghese, perilche Ludovisio non vi concorrà ma e chiara cosa e benche sia nominato da Spagna non può sovare se con Borghese non concorre Ludovisio per questa numerosa fattione d’Urbano.“) ASV, Fondo Pio 1, f. 147v–148. Auch Costantini verzeichnet eine Konklaveschrift des Pontifikats Urbans VIII., die Lanti gleich im ersten Satz nennt: „Marcello Lanti Card[ina]le di molta bontà [...]“. Costantini, http://www.quaderni.net/WebFazione/d5.htm. 272 Ebd. 273 Die Barberini-Nativitäten finden sich an zwei Stellen in dem Konvolut, ASR, f. 13–15 und ASR, f. 1050–1055. Dort kamen noch die Nativitäten der beiden Söhne Carlo Barberinis, Antonio Barberini junior und Francesco Barberini, hinzu. Dass es sich um eine doppelte Ausführung handelt, wird daran deutlich, dass sich beide Male in unmittelbarer Nähe das Horoskop des Schrift-
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des ausgeprägten Nepotismus, den Maffeo Barberini gerade zu Beginn seiner Amtszeit pflegte, ein wichtiger Punkt. Morandi berücksichtigte auch das Horoskop seines Bruders Carlo Barberini, der im Februar 1630 verstarb und dem man nachsagte, er habe quasi als astrologischer Blitzableiter das ungünstige Sternenschicksal seines Bruders auf sich gezogen.²⁷⁴ Zugleich bildete die Nativität Urbans VIII. den Endpunkt der Reihe von 20 Nativitäten historischer Päpste, die unter dem Titel Geniturae XX. summorum Pontificu Difunctionum cum Annotatione et dierum Creationis, vel Coronationis, et obitus eorundem summorum Pontificum versammelt waren.²⁷⁵ Obwohl die Nativität Urbans VIII. als 21. Horoskop nicht Teil der Sammlung gewesen sein kann, markierte sie doch die Grenze zwischen den Päpsten der Vergangenheit und dem zukünftigen Pontifex, den Morandi mittels der Analyse der Nativitäten der Kardinäle vorhersehen wollte. Die Reihe der Päpste reichte von Paul II. bis zu Gregor XV., Maffeo Barberinis unmittelbarem Amtsvorgänger. Die über die Nativität hinausgehenden Angaben waren spärlich, doch enthielten sie die vollständigen Lebensdaten der Päpste. Mitunter machte Morandi Angaben zur Todesursache – so starb etwa Paul II. am 28.7.1471 an Apoplexie,²⁷⁶ während er den Tod des berühmt-berüchtigten BorgiaPapstes Alexander VI. in Übereinstimmung mit dem bekannten Gerücht auf die versehentliche Einnahme von Gift zurückführte.²⁷⁷ Doch die Nativitäten der historischen Päpste befriedigten nicht nur ein analytisches Interesse, sondern auch ein prognostisches. Morandis kleine Kompilation von 20 Nativitäten historischer Päpste hatte kein Vorbild im Genre der Horoskopsammlungen, zumindest nicht in den gedruckten.²⁷⁸ Dafür orientierte sie sich an einem anderen prognostischen Genre,
stellers Lorenzo Machiavellis befindet, der mit der Familie Barberini nichts zu tun hatte. Vgl. ASR, f. 3. unnummeriertes Blatt hinter f. 16 und f. 1057. 274 Germana Ernst: Astrology in Counter-Reformation Rome. In: Stephen Pumfrey, Paolo L. Rossi, Maurice Slawinski: Science, Culture and Popular Belief in Renaissance Europe. Manchester, New York 1991, S. 249–273, S. 266. 275 Das Titelblatt in schöner Handschrift (höchstwahrscheinlich durch einen Schreiber angefertigt, nicht von Morandi) befindet sich auf f. 11, die Nativitäten auf ff. 1088–1207. (Die Blattzählung springt irrtümlich von 1099 zu 1200, die Blätter 1100–1199 existieren nicht.) 276 ASR, f. 1088. 277 Ebd., f. 1089. 278 Während die gedruckten Horoskopsammlungen schlecht erforscht sind, sind die ungedruckten zumeist gar nicht erschlossen. So erschien selbst die berühmte Horoskopsammlung Keplers 2009 erstmals im Druck. Vgl. Johannes Kepler: Manuscripta astrologica. In ders.: Gesammelte Werke. Bd. XXI, 2. 2. Bearb. von Friederike Boockmann, Daniel A. di Liscia u. a. München 2009, S. 5–507. Zum Forschungsstand vgl. auch Sabine Kalff: „Von der Freude, Knochen zu
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jenem der Papstprophetien.²⁷⁹ Dabei handelte es sich um ein handschriftlich oder gedruckt zirkulierendes Genre, das Text und Bild streng kodifiziert kombinierte. Eine fixe Bildreihe mit fixen, ominösen Bildunterschriften wurde den historischen Päpsten zugeordnet, wobei es darauf ankam, welches Bild mit welchem Papst kombiniert wurde. Manche der schön kolorierten Bilder hatten astrologische Konnotationen – so hieß es etwa über Clemens VIII.: „Die Sterne werden sich nach vielen Turbulenzen an einen sublimen Ort erheben und die Gepeinigten entschädigen.“²⁸⁰ Die Bildreihen endeten stets mit dem aktuellen Papst und überließen es dem Betrachter, sich anhand der verbleibenden Bilder die kommenden Pontifikate vorzustellen. Wie Morandis Schrift trafen auch die Papstprophetien nur eine kleine Auswahl von Päpsten, zwischen 20 und 26.²⁸¹ Morandi übernahm die Idee der Text-Bild-Zusammenstellung der Papstprophetien, wobei er die kolorierten Zeichnungen mit prophetischen Sprüchen gegen astrologische Porträts und die Bildunterschrift gegen biographische Daten austauschte. Papstprophetien florierten vor allem im Umfeld von Papstwahlen und zielten auf die Beeinflussung ihres Ausgangs.²⁸² Die zahlreich überlieferten, die sich auf die Jahre 1630 und 1932 bezogen, zielten eher auf die Verunsicherung des Papstes. In Mailand waren zeitgleich mit Morandis Spekulationen Prophetien im Umlauf, die angesichts einer Kometenerscheinung im Jahr 1630 verkündeten: „[Gott] bereitet tödliche Epidemien, man sieht wundersame Dinge.“²⁸³ Was man in Rom und Mailand im Jahr 1630 gleichermaßen fürchtete, war der Ausbruch einer Pestepidemie. Die Furcht war nicht unberechtigt, denn seit 1629 wütete in Nord- und Mittelitalien die verheerendste Epidemie des Jahrhun-
nagen“ – Astrobiographische Narrative bei Johannes Kepler und John Aubrey. In: Karl Enenkel, Claus Zittel (Hg.): Die Vita als Vermittlerin von Wissenschaft und Werk. Form- und funktionsanalytische Untersuchungen zu frühneuzeitlichen Biographien von Gelehrten, Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern. Münster u. a. 2013, S. 157–184. 279 Herbert Grundmann: Die Papstprophetien des Mittelalters. In ders.: Ausgewählte Schriften. Bd. 2. Stuttgart 1977, S. 1–57, S. 55 f. und Marjorie Reeves: The Prophetic Sense of History in Medieval and Renaissance Europe. Aldershot u. a. 1999. 280 „Stelle post multas tribulationes se in sublimi loco elevabunt, et afflicto remunerationem dabunt.“ Prophetia Beati Gierventij Abbatis Incipiunt a Paulo Tertio. Biblioteca Corsini [BCORS], Cod. 1057, S. 90–99, S. 94. 281 Vgl. BCORS, Cod. 1057. 282 Grundmann, Papstprophetien, S. 55 f. 283 „Mortales parat morbos miranda videntur.“ Alessandro Tadino: Raguaglio dell’origine et giornali successi della gran peste contagiosa, venefica, et malefica seguita nella Città di Milano, et suo Ducato dall’Anno 1629 fino all’Anno 1632. Mailand 1648, S. 15. Vgl. hier Kap. 5.2.4.
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derts.²⁸⁴ Dass sie Rom verschonen würde, konnten weder Morandi noch der Papst ahnen. Die Pestepidemie verlieh Morandis Todesprognose für den Papst zusätzlich Autorität, sogar in den Augen des Papstes selbst. Tatsächlich befürchtete die Stadt den Ausbruch der Epidemie mehr als ein Jahr lang, was sich daran ablesen lässt, dass bereits im November 1629 Pestmaßnahmen getroffen wurden.²⁸⁵ Da Pestmaßnahmen wie Handels- und Einreisebeschränkungen nur ungern angeordnet wurden, und nicht selten erst nach Ausbruch der Epidemie, bezeugt ihre frühe Anordnung in Rom die gefühlte Imminenz der Gefahr. Der Papst war über diese Maßnahmen zweifellos im Bilde, zumal sich sein Leibarzt Giulio Mancini als Mitglied der römischen Gesundheitskongregation in seinem Auftrag mit der Durchführung der Pestmaßnahmen befasste.²⁸⁶ Auch Nicholas Poussins berühmtes Pestgemälde Die Pest von Asdod (1630/31) bezog sich auf die Pestgefahr und wendete sich an denselben Mancini als potentiellen Käufer.²⁸⁷ Morandis Todesprognose für den Papst stand also in Zusammenhang mit der drohenden Epidemie des Jahres 1630 und besaß damit einen realen Hintergrund.²⁸⁸
3.3.3 Retrospektive Ursachenforschung und vergleichende Krisenanalyse Nicht wenige der von Morandi untersuchten Nativitäten bezogen sich auf verstorbene Personen. Sie wurden als ‚abgeschlossene‘ Fälle zum Vergleich für einen aktuellen Fall herangezogen, etwa um zu untersuchen, wie sich eine bestimmte Planetenkonstellation oder eine Direktion auf ein Leben oder eine politische Karriere auswirkte. So gab Morandi am 13.07.1630 zu Protokoll, dass er anhand der vielen bei ihm gefundenen Nativitäten mit dem Astrologen Gherardo Gherardi die Nativität Urbans VIII. habe diskutieren wollen: „wir wollten unsere Deutung
284 Zur mailändischen Epidemie vgl. hier Kap. 5.1.–5.7. und Sheila Barker: Poussin, Plague, and Early Modern Medicine. In: The Art Bulletin 86, 4 (2004), S. 659–689, S. 659. 285 Franco Mormando: Pestilence, Apostasy, and Heresy in Seventeenth-Century Rome. In: Franco Mormando, Thomas Worcester (Hg.): Piety and Plague from Byzantinum to the Baroque. Kirksville, MO 2007, S. 237–304, S. 241. 286 Elisabeth Hipp: Nicholas Poussin. Die Pest von Asdod. Hildesheim 2005, S. 302–309. 287 Barker, Poussin, S. 659. 288 Dooley erwähnt zwar Morandis astrologische Prognose, bzw. Begründung des Ausbreitungswegs der Pest seit Ende 1629 auf der Grundlage der astrologischen Geographie, setzt sie jedoch nicht in Zusammenhang mit der akuten Pestgefahr in Rom zum selben Zeitpunkt. Auch die spätere römische Epidemie von 1656 erwähnt er nicht. Dooley, Last Prophecy, S. 143.
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anhand einiger Beispiele von anderen Päpsten überprüfen.“²⁸⁹ Auch Campanella hatte seine Übung in der Deutung von Horoskopen ausschließlich durch den Vergleich von Nativitäten gewonnen und betrachtete die Geburtshoroskopie als ein kollektives Unternehmen, das dank der Sammlung von Beobachtungsdaten Fortschritte machte.²⁹⁰ Dahinter stand die Konzeption der Astrologie als empirische Wissenschaft, die aus einer Datenmenge statistische Häufungen und Regelmäßigkeiten abzuleiten hoffte. Man konnte auch die einschlägigen Sammlungen von Nativitäten konsultieren, wie sie mit Girolamo Cardanos Libelli duo (1543) und Luca Gauricos Tractatus Astrologicus (1552) vorlagen.²⁹¹ Diese Horoskopsammlungen eigneten sich bestens zur Fundierung astrologischer Prognosen qua Vergleich zu anderem ‚empirischen‘ Material. Der Abgleich von Daten animierte offenbar dazu, sich Klarheit über die Bedeutung der astralen Signale zu verschaffen, indem man sein Datenmaterial erweiterte. So empfahl Caspar Peucer, der Schwiegersohn Melanchthons, „das eifrige Sammeln von Erfahrungsdaten“.²⁹² Und Johannes Garcaeus, der Autor einer mehr als 400 Nativitäten umfassenden Horoskopsammlung mit dem Titel Astrologiae methodus (1576), bat seine Leser, ihm noch mehr Nativitäten zu übersenden: Ich bitte darum, wenn Sie Nativitätsexempel sammeln von den höchsten Prinzen und Heroen oder einzelnen Fällen in Deutschland oder benachbarten Herrschaften, mir ihre Nativitäten oder wenigstens die rechten Geburtszeiten zu übermitteln, damit das Werk der Exempel, das überall in hohem Ansehen steht, vervollständigt und verschönert werden kann.²⁹³
Morandi begnügte sich nicht mit der Konsultation von Standardwerken, sondern erhob die astrologischen Daten gleich selbst, womit er sein eigenes Vergleichsmaterial schuf. Gerade in der Erstellung einer eigenen Datensammlung mit ekklesiastischem Schwerpunkt lag die Besonderheit von Morandis Unternehmung, die maßgeschneidert für sein prognostisches Interesse war. Morandis häufige Angaben von Direktionen, die er für die Ernennung einer Person zum Papst oder Kardinal verantwortlich machte, verwiesen auf das Potential der astrologischen Verfahren zur retrospektiven Ursachenforschung. Die
289 „Volevamo coroborare la nostra opinione con qualche esempio nelle geneture di altri pontefici.“ Bertolotti, Giornalisti, S. 481. 290 Ernst, Religione, ragione e natura, S. 23. 291 Zu den frühneuzeitlichen Horoskopsammlungen vgl. Kalff, Kepler und Aubrey, S. 157–184. 292 Brosseder, Sterne, S. 158. 293 Johannes Garcaeus: Astrologiae methodus (1576). Zitiert nach Brosseder, Sterne, S. 158.
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astrologische Narrativierung von biographischen Daten machte sich besonders bei den Horoskopen der zeitgenössischen, aber bereits verstorbenen Kardinäle bemerkbar. So informierte Morandi ausführlich über die astrologischen Ursachen des 1627 erfolgten Todes Giovanni Battista Lenis. Er sei aufgrund einer Direktion zum Aszendenten innerhalb von 14 Tagen hinweggerafft worden. Morandi datierte auch den Ausbruch der tödlichen Krankheit präzise auf den 22. Oktober, wohingegen der Exitus am 5. November erfolgt war.²⁹⁴ Damit rekurrierte Morandi auf die Lehre von den kritischen Tagen, gemäß der der Mond am 14. Tag nach Krankheitsausbruch die Oppositionsstellung zu seiner Ausgangsposition erreichte und somit den kritischen Zeitpunkt. Mit der retrospektiven Analyse der astrologischen Ursachen von Krankheitsverlauf und Tod betrat Morandi medizinisches Terrain. Auch in der zeitgenössischen Medizin war die Erstellung von Nativitäten und Krankheitshoroskopen zu diagnostischen und prognostischen Zwecken üblich.²⁹⁵ Die Praxis führte zur Publikation astromedizinischer Horoskopsammlungen wie Bodiers De ratione et usu dierum criticorum (1555), Maginis De astrologica Ratione, ac usu dierum criticorum, seu decretiorum (1607),²⁹⁶ Argolis De diebus criticis et de aegrorum decubitu libri duo (1639/1652)²⁹⁷ und Titis De diebus decretoriis et aegrorum decubitu (1660/1665).²⁹⁸ Diese Werke bildeten ein eigenes kleines Genre, in dem für jede Person anhand von meist mehreren Horoskopen wie einem Geburts- und einem Krankheitshoroskop ein biographisch-medizinisches Narrativ entwickelt wurde.²⁹⁹ Krankheitshoroskope wurden wie Geburtshoroskope erstellt, bezogen sich aber auf den Moment des Krankheitsausbruchs.
294 ASR, f. 1030. 295 So stellte der Mediziner Johannes Virdung von Haßfurt dar, wie man den Krankheitsverlauf anhand eines Krankheitshoroskopes erkennen konnte. Georg Tannstetter erläuterte in seinem Artificium de applicatione Astrologiae ad Medicinam (1531) gar, wie der Arzt ein Astrolabium handhaben musste, um die Planetenstände zu ermitteln. Vgl. Müller-Jahncke, Astrologisch-magische Theorie und Praxis, S. 153–175. 296 Vgl. die hier benutzte Ausgabe Giovanni Antonio Magini: De astrologica ratione, ac usu dierum criticorum, seu decretorium. Frankfurt/M. 1608. 297 Andrea Argoli: De diebus criticis et de aegrorum decubitu libri duo. Padua 1639. Die zweite, um zahlreiche Horoskope erweiterte Edition von 1652 vgl. ders.: De diebus criticis et de aegrorum decubitu libri duo. Padua 1652. 298 Placido Titi: De diebus decretoriis et aegrorum decubitu. Cum LX Exemplis apud gravissimos Authores inventis. 2 Bde. Bd. 1. Pavia 1660. 299 Zu den astromedizinischen Horoskopsammlungen vgl. Sabine Kalff: Eine zu elitäre Wissenschaft – Astrologische Verfahren als Ausweis medizinischer Gelehrsamkeit von Thomas Bodier bis Giovanni Antonio Magini. In: Martin Mulsow, Felix Rexroth, Katharina Ulrike Mersch (Hg.):
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Obwohl diese astromedizinischen Fallgeschichten in den Zusammenhang der medizinischen Krankheitsnarrative und der biographischen Narrative gehören, sind sie nahezu unerforscht.³⁰⁰ Die vier medizinischen Horoskopsammlungen bestanden aus einem theoretischen und praktischen Teil. Im theoretischen Teil wurde der gelehrte Leser – der ungelehrte kam ohne Lateinkenntnisse nicht weit – über die wesentlichen astromedizinischen Grundsätze und ihren Nutzen für die Medizin aufgeklärt. Die theoretischen Ausführungen, die bei Argoli Buchlänge hatten, gründeten auch auf dem Konzept der medicina expectans. Bei dieser fungierte der Arzt als teilnehmender Beobachter und Zeichenleser am Krankenbett, wie es der Mediziner Giorgio Baglivi im späten siebzehnten Jahrhundert formulierte: „Auf keinem anderen Gebiet als der Medizin ist es derart notwendig, viel zu wissen und wenig zu handeln.“³⁰¹ Der Arzt beschränkte sich auf die Lektüre und Deutung der somatischen und astralen Zeichen und vertraute auf die vis medicatrix naturae, die Heilkraft der Natur. Bei der astrologischen Medizin bot sich dieses Konzept an, zumal die Planeten außerhalb der Reichweite der Ärzte lagen. Gestützt auf die These eines Zusammenhangs zwischen den Bewegungen der Himmelskörper und den somatischen Erscheinungen eines Patienten betätigte sich der Astromediziner wie ein Meteorologe, der von den himmlischen Zeichen und Vorgängen auf die greifbaren irdischen Konsequenzen schloss. Das war nur möglich bei einem soliden astronomischen und astrologischen Wissen, dessen Unverzichtbarkeit von allen Autoren behauptet wurde. So verglich Bodier, ein Mediziner aus Rouen, den astrologisch unbedarften Arzt wahlweise mit einem Blinden³⁰² und einem Scharfrichter, der seine Patienten leichtfertig ins Grab beförderte.³⁰³ In seinen relativ kurzen theoretischen Ausführungen betonte Bodier die Notwendigkeit, den Zeitpunkt der Erkrankung so
Was als wissenschaftlich gelten darf. Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne. Frankfurt/M., New York 2014, S. 135–156. 300 Eine Monographie gibt es nur über Magini. Angus G. Clarke: Giovanni Antonio Magini (1555–1617) and Late Renaissance Astrology. London 1985. Darüber hinaus zu Magini Clarke, Metoposkopy; zu Bodier, Magini und Argoli vgl. Vanden Broecke, Horoscope Collections, S. 207–223. Zu Titi vgl. hier Kap. 3.4. Eine kurze Einführung in die Traktate findet sich bei Thorndike, History of Magic, Bd. 5–8. 301 Giorgio Baglivi: De Praxi Medica (1696) Zitiert nach Federico di Trocchio: La Terapeutica di Baglivi. In: Medicina nei secoli. Arte e scienza. 12, 1 (2000), S. 159–170, S. 159. 302 „Cuiusmodi medicus est qui astronomiam ignorat? Nemo manibus illius se committere debet, quia non est medicus perfectus: est enim tanquam caecus viam baculo examina[n]s.“ Bodier, De ratione et usu dierum criticorum, f. 5r. 303 „medici astronomiam ignorantes spiculatoribus, et homicidis peiores sunt.“ Ebd., f. 5v.
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genau wie möglich zu kennen: „Es heißt, wenn man die Stunde der Erkrankung kennt, so kann man auch die Krankheit beurteilen.“³⁰⁴ Das war für die Erstellung eines aufwendigen Krankheitshoroskops samt Aszendenten notwendig. Als praktizierender Arzt hatte er eine gute Chance, dieses sensible Datum in Erfahrung zu bringen. Der praktische Teil umfasste bei Bodier eine Horoskopsammlung, die nicht aus Geburts-, sondern aus 55 Krankheitshoroskopen bestand, die er für eine Reihe seiner eigenen Patienten für den Zeitraum von 1549 bis 1554 angefertigt hatte. Unter diesen befanden sich Adlige und Kleriker, Schäfer, Kaufleute, Hebammen, Hausmädchen, Fischer und Schmiede. Obwohl Bodier minutiöse Zeitangaben machte, waren diese nur scheinbar präzise. So erkrankte ein Bauer am 27. Februar 1550 „in der zweiten Stunde nach Mittag, ungefähr in der neunten Minute“³⁰⁵ mit schweren Herzbeschwerden, denen er am folgenden Tag erlag. Die Angabe „ungefähr in der neunten Minute“ war allerdings hochgradig fiktiv in einer Zeit, in der Uhren noch gar nicht zur Messung von Minuten in der Lage waren.³⁰⁶ Auch der Mathematiker und Astronom Magini, der in Bologna Mathematik lehrte und mit Kepler, Brahe und weiteren bedeutenden Wissenschaftlern in Kontakt stand,³⁰⁷ hatte ein ausgeprägtes Interesse an exakten Daten.³⁰⁸ Seine Sammlung in De astrologica ratione, ac usu dierum criticorum, seu decretiorum (1607) enthielt 35 Horoskopzeichnungen. Darunter waren 29 Krankheitshoroskope, von denen 15 von Bodier und mehrere weitere von Cardano und dem päpstlichen Leibarzt Girolamo Rossi stammten.³⁰⁹ Magini übernahm die Horoskope seiner Kollegen jedoch nicht unkritisch, sondern berechnete sie häufig neu. Die von ihm selbst erstellten Horoskope galten vor allem norditalienischen Adligen, Klerikern und Ärzten, ebenso wie seiner Frau, Tochter und sich selbst. Zu den Krankheitshoroskopen kamen fünf Geburtshoroskope, die von Magini selbst stammten. Durch die zusätzliche Verwendung von Geburtshoroskopen gab es für einige Personen sowohl ein Krankheits- als auch ein Geburtshoroskop.
304 „ut dictam accubitus horam [...] habeat, ut decubitum iudicare valeat.“ Ebd., f. 6r. 305 „Quidam arator cardiaca passione infectus decubuit, hora 2. post meridie[m] minuto 9. vel circiter, 27. die februarij.“ Ebd., f. 30r. 306 Dohrn-van Rossum, Geschichte der Stunde, S. 365. 307 Vgl. Antonio Favaro: Carteggio inedito di Ticone Brahe, Giovanni Keplero e di altri celebri astronomi e matematici dei secoli XVI e XVII con Giovanni Antonio Magini. Bologna 1886. 308 Zu Magini vgl. auch hier Kap. 3.4. 309 Vanden Broecke äußert sich oberflächlich zu den Horoskopsammlungen und unterscheidet nicht zwischen Geburts- und Krankheitshoroskopen. Auch seine Zahlenangaben zu Maginis Horoskopen stimmen nicht. Vgl. Vanden Broecke, Horoscope Collections, S. 217 f.
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Mitunter war keine Nativität abgedruckt, jedoch implizit in der Fallbeschreibung präsent, so etwa bei der Untersuchung von Maginis eigener Erkrankung an einem Quartanfieber im Oktober 1590.³¹⁰ Die nicht ausdrücklich formulierte Technik Maginis bestand darin, den Krankheitsverlauf und dessen Ursachen durch einen Abgleich von Geburts- und Krankheitshoroskop zu analysieren und solchermaßen eine astrologische Autopsie vorzunehmen. Das Verfahren, Geburts- und Krankheitshoroskop zu erstellen und anschließend miteinander zu vergleichen, war für die medizinische Praxis wohl schon aufgrund des Rechenaufwandes uninteressant. Es fand jedoch Anklang bei den Mathematikern und Astronomen Argoli und Titi. Beide übernahmen Maginis Konzept, Geburts- und Krankheitshoroskop hintereinander zu präsentieren und systematisierten es. Argoli, der an der römischen Universität La Sapienza Mathematik lehrte, veröffentlichte 1639 das Traktat De diebus criticis et de Aegrorum decubitu libri duo. Das zweite Buch bestand ausschließlich aus Fallbeispielen. Für 74 überwiegend zeitgenössische Personen gab es jeweils zwei Horoskope, eine Nativität und ein Krankheitshoroskop, verbunden mit einer ausführlichen astrologischen Analyse des Krankheitsverlaufs sowie astrologischen Erklärungen markanter Stationen im Lebenslauf. Argoli kehrte gegenüber Magini die Reihenfolge der Horoskope um. Während Magini erst das Krankheitshoroskop, dann das Geburtshoroskop präsentierte, brachte Argoli die beiden Horoskope in eine chronologische Reihenfolge. Die 74 horoskopierten Personen entstammen etwa zur Hälfte der geistlichen und weltlichen Sphäre. Unter den 35 Vertretern der säkularen Welt befanden sich mehrere Fürsten wie die französischen Könige Heinrich II., III. und IV. und der schwedische König Gustav Adolph,³¹¹ aber auch weniger illustre Zeitgenossen. Bei den Päpsten und Kardinälen ergaben sich erstaunliche Übereinstimmungen mit den Horoskopen Morandis. Alle vier Papsthoroskope³¹² wiesen exakt die gleichen Geburtsdaten auf wie bei Morandi, von den 25 Kardinälen stimmen 16 überein.³¹³ Die zweite Ausgabe von De diebus criticis et de Aegrorum decubitu libri duo aus dem Jahr 1652 brachte 113 Fallanalysen, die jeweils durch eine Nativität und ein Krankheitshoroskop illustriert wurden. In manchen Fällen tauschte Argoli
310 Magini, De astrologica ratione, S. 142. 311 Argoli, De diebus criticis 1639, S. 31, 33, 35, 39. 312 Ebd., S. 23, 25, 27, 29. 313 Nicht immer stimmen die Daten genau überein, was aber zumeist nur aus der Datierungsweise resultiert. In einem Fall ist die Differenz gravierend, zwar bei Deti, dessen Geburtstag Morandi mit 19.01.1581 angibt, Argoli mit 16.2.1580. Ebd., S. 69 und ASR, f. 1039. Für ein Horoskop gab Argoli selbst Magini als Quelle an.
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das Krankheitshoroskop gegen eine Jahresrevolution aus.³¹⁴ Die Mehrheit der neu hinzugekommenen Fallstudien betraf die ekklesiastische Sphäre. Von den 24 neuen Kardinalsnativitäten konvergierten nur fünf mit jenen bei Morandi, diese allerdings in erstaunlichem Maß. In allen Fällen stimmen die Geburtsdaten überein, und zwei Kardinalshoroskope befanden sich exakt in derselben Reihenfolge wie bei Morandi.³¹⁵ Auch erhöhte Argoli die Zahl der Papstnativitäten von vier auf sieben. Diese stimmten alle mit jenen bei Morandi überein, auch bezüglich der verwendeten biographischen Daten.³¹⁶ Es springt zudem ins Auge, dass das heikle Horoskop Urbans VIII. in der ersten Auflage von 1639 – zu Lebzeiten des Papstes – fehlt, in der zweiten Auflage von 1652 – nach dem Tod des Papstes 1644 – jedoch vorhanden ist.³¹⁷ Argolis Nativität für Urban VIII. stimmt mit zwei Versionen des päpstlichen Horoskops aus Morandis Feder beinahe minutengenau überein.³¹⁸ Auch machte Argoli die identischen astrologischen Gründe für die päpstlichen Karriereschritte geltend wie Morandi.³¹⁹ Diese Übereinstimmungen können kein Zufall sein, zumal Morandi mit Argoli gut befreundet war. Gerade hinsichtlich des Horoskops für Urban VIII. ist es unmöglich, dass Argoli von dem aufsehenerregenden Prozess gegen seinen Freund aufgrund dieser Nativität keine Notiz genommen hat. Seine Beziehung zu Morandi war immerhin so eng, dass er eine von dem Abt angefertigte tabula sexagenaria, eine Tafel zur astronomischen Berechnung, in seinen Ephemeriden unter seinem Namen veröffentlichen durfte.³²⁰ Offenbar veröffentlichte Argoli mehr unter seinem Namen als seinen Freunden lieb war – so beklagt sich der Mathematiker und Astronom Ilario Altobelli in einem Brief an Morandi,
314 Vor allem gegen Ende des Traktats häufen sich die Revolutionen. Argoli, De diebus criticis 1652, S. 365, 367, 369, 371. 315 Vgl. die Kardinäle Luca Antonio Virile und Desiderio Scaglia. Morandi, ASR, f. 1061, 1062; Argoli, De diebus criticis 1652, S. 324, 326. 316 Neu hinzu kamen Gregor XIII (S. 146), Urban VII. (S. 150) und Urban VIII. (S. 156). 317 Ebd., S. 156. 318 Argoli datierte die Geburt auf den 5. April 1568, 1h33m post meridiem, Morandi auf f. 1266 auf 1h37m, auf f. 1267 auf 1h39m post meridiem. Die Unterschiede bei der Berechnung der Häuserspitzen und der Planetenstände liegen allesamt im Winkelminutenbereich. 319 So führte Argoli dessen Wahl zum Papst auf eine Direktion des medium coelum (MC) im Sextil zu Merkur zurück sowie auf ein Venustrigon zum MC. „Mortuo Gregorio XV. eligitur in Pontificem vocatum Urbanum VIII. anno 1624 [sic!] die 6. Augusti ex directione Medij Caeli ad Sextiles Mercurij, et prope Trinum Veneris dominae Medij Caeli.“ Argoli, De diebus criticis 1652, S. 156. Morandi benannte dieselbe Direktion des MC im Sextil zu Merkur, an anderer Stelle die des MC im Trigon zu Venus: „dum Asc[endens] erat in quadrato Jovis. M[edium] c[aelum] in sextili mercurij. ASR, f. 1025. 320 Bertolotti, Giornalisti, S. 495.
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dass seine astronomischen Tafeln von Argoli ohne Erlaubnis in dessen Ephemeriden veröffentlicht worden seien, was Altobellis Arbeit zunichte gemacht habe.³²¹ Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Argoli Morandis astrologische Vorarbeiten für seine eigene Sammlung von Nativitäten und Krankheitshoroskopen von 1639 verwendet hat. Dabei kam es zu einer Umnutzung des astrologischen Datenmaterials – die zunächst zu Prognosezwecken erhobenen Daten fanden nun Verwendung für die retrospektive Analyse der Todesursache. Dieselbe Tendenz war bereits bei Morandi zu beobachten, sofern er auf den Kardinalsnativitäten die astrologischen Gründe für den Tod vermerkte. Hier wurden die astronomischen Daten nicht zur Gewinnung von Zukunftswissen eingesetzt, sondern zur medizinischen Erforschung der Vergangenheit. Die Geburtshoroskopie fungierte gewissermaßen als angenehme Alternative zur Praxis der Autopsie. Für Argoli schlossen sich medizinische und astrologische Analysen nicht aus. Er bezog Obduktionsergebnisse in seine astromedizinischen Untersuchungen ein. Seiner Einschätzung nach erlag der Kardinal Orazio Giustiniani seiner Harnerkrankung, die ihm Probleme beim Urinieren bereitete. Dafür machte Argoli nicht zuletzt eine Direktion des Aszendenten zu Mars verantwortlich.³²² Girolamo Simoncelli hingegen schlug eine martialische Direktion auf die Nieren. Der Harnverhalt beförderte ihn schließlich ins Grab.³²³ Pietro Aldobrandino, der Kardinalsnepot Klemens’ VIII., starb an Asthma und einer Direktion des Aszendenten im Quadrat zum Mond.³²⁴ Aus eigener Anschauung konnte Argoli kaum von den Harn- und Atemproblemen der Kardinäle wissen, zumal Giustiniani 1649 in Rom starb, während Argoli seit 1632 in Padua lebte. Offenbar hatte er neben den Sternen noch weitere Informationsquellen, die ihm auch das Obduktionsergebnis Ippolito Aldobrandinis zutrugen: Nachdem man den Leichnam geöffnet hatte, wurde entdeckt, dass der Magen bis zum Hals vollständig mit Phlegma angefüllt war. Daher konnte er, sobald die natürlichen Teile sich entspannten und schwer wurden, die Exkremente nicht zurückhalten.³²⁵
321 Ebd., S. 505. 322 „Moritur ex difficultate urinae 1649. 25. Iulij ex proportionata directione Ascendentis ad Imperantia Martis.“ Argoli, De diebus criticis 1652, S. 304. 323 „directione [...] natura Martis; qui effectus renales decernebat, cum obierit ex retentione urinae.“ Ebd., S. 318. 324 „Anno 1621, 21. Februarij dies claudit ex directione Ascendentis ad quadratum Lunae.“ Ebd., S. 184. 325 „Exenterato cadavere stomacus repertus est usque ad gulam farè phegmate oppletus; cum prius, partibus naturalibus relaxatis, et potentijs, nec excrementa retineret.“ Ebd., S. 193. Wie üblich die Obduktion von Kardinälen im siebzehnten Jahrhundert war, ist schwer einzuschätzen.
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Argoli setzte die astrologische Analyse hauptsächlich zur medizinischen Erforschung der Todesursache ein, wobei er sich offensichtlich auf weitere medizinische Informationen wie die Todesstunde und das exakte Todesdatum stützen konnte.
3.3.4 Das Universalarchiv der Sterne Angenehm gestaltete sich die astrologische Analyse der Todesursache vor allem dadurch, dass die Präsenz eines Leichnams nicht erforderlich war. Dies wird vor allem anhand einer Gruppe von Nativitäten deutlich, die Morandi für Opfer eines gewaltsamen Todes erstellte. Dazu gehört etwa das Horoskop für einen „Alessandro, Bruder der Schwägerin von Giovanni,“ der in der Nähe von Santa Prassede ermordet wurde³²⁶ oder für einen unglücklich durch einen Freund zu Tode gekommenen Jungen.³²⁷ In diesen Fällen erfüllte die Geburtshoroskopie eine der modernen Gerichtsmedizin vergleichbare Aufgabe – die Feststellung der Todesursache sowie die Rekonstruktion eines Tathergangs, für den es offensichtlich keine Zeugen gab. Sie nahm damit eine Funktion wahr, die im siebzehnten Jahrhundert von keinem anderen wissenschaftlichen Verfahren übernommen werden konnte. Die Erstellung einer Nativität in kriminologisch-forensischer Absicht war der Autopsie auch insofern überlegen, als dass sie die Todesursache von Personen unabhängig von einer materiell vorhandenen Leiche über die Grenzen von Zeit und Raum hinweg ergründen konnte. Der bestirnte Himmel diente als Universalarchiv, das von allen Orten aus, zu jeder Zeit und von jedermann konsultiert werden konnte – zumindest, sofern man über entsprechende Hilfsmittel wie astronomische Tafeln und astrologisches Wissen verfügte. So konnten sowohl vergangene Ereignisse im Leben längst verstorbener Päpste und Kardinäle, oder eines Christus und Nero ebenso analysiert werden wie politische Entscheidungen in der nahen Zukunft, beispielsweise eine Papstwahl. Man versprach sich von der Konsultation des Universalarchivs der Sterne nichts Geringeres als die vollständige Erschließung von Vergangenheit und Zukunft. Um diesen imaginären universellen Wissensspeicher zum Sprechen zu bringen, kam man an dem durchaus
Bei Päpsten war sie bereits im sechzehnten Jahrhundert verbreitet. Detaillierte Informationen über den päpstlichen Gesundheitszustand waren auch den journalistischen avvisi zu entnehmen. Vgl. Palmer, Papal Court, S. 61. Zur Obduktion der Päpste ebd., S. 67. 326 „Alessandro fratello della cognata di Giovanni“. ASR, f. 1304. 327 Ebd., f. 1316.
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materiellen Sternenhimmel nicht vorbei, zu dessen Erforschung es zahlreicher und präziser Instrumente und Verfahren bedurfte. So resultierte die frühneuzeitliche Astrologie im Nebeneffekt in einer Schärfung ihres Instrumentariums, was wiederum reale archivarische Konsequenzen nach sich zog. Der Bedarf an präzisen biographischen Daten wie Geburts- und Todesdaten inspirierte Morandi zu systematischen Erwägungen, die er in einem Brief an einen unbekannten Adressaten formuliert hat, als Antwort auf die bizarre Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen der Geburtsstunde und einem gewaltsamen, beziehungsweise unnatürlichen Tod geben könne.³²⁸ Falls der Fragesteller auf die Enthüllung eines spektakulären Zusammenhangs zwischen einer bestimmten astralen Konstellation und dem Eintreten des gewaltsamen Todes hoffte, wurde er gewiss enttäuscht. Denn Morandis Antwort beschränkte sich auf Ratschläge, wie man überhaupt präzise biographische Eckdaten erhalten könne. Da er die Selbstauskunft bezüglich des Geburtsjahres für fehlbar hielt, empfahl Morandi die Konsultation des Taufregisters, „das sich zwar manchmal beim Notieren des Geburtstages irrt, aber nicht in Bezug auf das Jahr.“³²⁹ Bezüglich der Todesstunde empfahl sich wiederum der Blick ins Sterberegister: „In allen Städten gibt es Sterberegister, und es gibt eigens Orte, an welchen diese aufbewahrt werden.“³³⁰ Morandis Antwort war moderner als es auf den ersten Blick scheint. Während die astromedizinischen Traktate des ausgehenden sechzehnten Jahrhunderts im Fall der unbekannten Geburtsstunde einhellig eine Technik namens annimodar empfahlen,³³¹ die nichts anderes als eine ebenso systematische wie willkürliche Festlegung der Uhrzeit war, verwies Morandi mit der Konsultation von Tauf- und Sterberegistern auf eine relativ neue Verwaltungspraxis, die erst 1567 im Zuge der Synode von Konstanz in den katholischen Gebieten allgemein verpflichtend wurde. Darüber hinaus lässt sich seine Empfehlung nicht nur als Anleitung zum Erhalt von biographischen Informationen lesen, sondern geradezu als Skizze zur Erhebung statistischer oder demographischer Daten. Mag der Zweck von Morandis astrologischen Untersuchungen auch recht esoterisch gewesen sein und darin bestanden haben, dem imaginierten universellen Wissensspeicher des Sternenhimmels brisante Informationen über Vergangen-
328 Ebd., f. 943. 329 „quale se bene falla qualche volta nel notare il giorno delle Nascite, non falla però in quanto all’Anno“. Ebd., f. 943. 330 „Per tutte le città si tengono li Registri delle persone morte, e ci sono luoghi particolari a ciò destinati“. Ebd., f. 944. 331 Zum elaborierten Regelwerk des annimodar vgl. North, Horoscopes and History, S. 50.
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heit, Gegenwart und Zukunft abzuringen, so inspirierte er den Abt gleichwohl zur höchst realen Anhäufung astronomischer Tafeln, astrologischer Literatur und eigens erstellter Nativitäten, die für Morandi vor allem als Hilfsmittel für die astrologische Praxis fungierten. Aus heutiger Perspektive leistet die überlieferte Ausstattung der Bibliothek freilich etwas ganz anderes – sie fungiert als Archiv des astronomisch-astrologischen Wissens des frühen siebzehnten Jahrhunderts und des Einsatzes astrologischer Praktiken und Verfahren zur Konstitution von Wissen über die Vergangenheit und die Zukunft. Nebenbei leistet sie noch etwas anderes – nämlich die Überlieferung der präzisesten biographischen Daten für den hohen Klerus dieser Epoche.
3.4 Die Krise von Individuum und Kollektiv: Placido Titis astromedizinische Analyse der neapolitanischen Revolte von 1647–1648 Während sich Campanellas Krisenprognose für das Jahr 1600 anhand von eschatologischen, medizinischen und astrologischen Konzepten mit einer kollektiven Krise auseinandersetzte, unternahm Bodin eine retrospektive Krisenanalyse auf der Grundlage pythagoreischer Zahlen und musikalischer Harmonien. Beide praktizierten eine kollektive Krisenanalyse. Morandi untersuchte ebenso wie die Autoren der astromedizinischen Horoskopsammlungen Bodier, Magini und Argoli die kritischen Phasen im Lebenszyklus von Individuen mit astromedizinischen Mitteln. Mochten auch manche dieser Individuen wie etwa Urban VIII. als Oberhaupt der katholischen Kirche quasi pars pro toto ein ganzes Kollektiv repräsentieren, handelte es sich technisch doch um eine individuelle Krisenanalyse. Die beiden Formen der Krisenanalyse, die kollektive und die individuelle, führten eine friedliche Koexistenz. Nur manchmal kam es zu interessanten Fragen, wie etwa zu jener, warum eine bestimmte astrale Konstellation etwa nur bei Aristoteles Genialität hervorgebracht hatte, und nicht bei allen zeitgleich geborenen Ochsen. Warum sollten astrale Verhältnisse nur auf einzelne Personen wirken – so die Annahme der individuumsbezogenen Astrologie – und nicht auf ganze Landstriche, wie es bei der kollektiven Horoskopie der Fall war, die Prognosen für Länder, Städte und Epidemien unternahm? Wie wirkten individuelle und kollektive Faktoren zusammen? Campanella formulierte die Devise ‚kollektive Wirkung vor individueller‘: Die universellen Konstellationen siegen über die individuellen, und diejenige, die die ganze Gemeinschaft betreffen, über die des Einzelnen; daher stirbt auch der zusammen mit den
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anderen an der Pest, im Krieg und auf dem Meer, der [dessen Horoskop] wenig Todesindikatoren aufweist.³³²
Die Analyse der kollektiven Ereignisse ging daher jener der individuellen voran: „Und die pestbringende und kriegserzeugende Konstellation hat Vorrang vor jener der Nativität, sowie die Konstellation des Reichs vor jener des Herrschers.“³³³ Nicht viele Astrologen haben jedoch eine derart kombinierte Analyse kollektiver und individueller Krisenfaktoren unternommen. Ein Beispiel hierfür ist die astromedizinische Krisenanalyse des neapolitanischen Aufstands von 1647–1648, der sogenannten Revolte des Masaniello, aus der Feder des Olivetanermönchs und Mathematikers Placido Titi. Titi entstammte einer adeligen Familie aus Perugia. Er lehrte Mathematik und Physik an der Universität Padua und von 1657 bis 1668 an der Universität Pavia. Dieser Lehrstuhl firmierte seit Mitte des sechzehnten Jahrhunderts als Lehrstuhl für Mathematik, war jedoch häufig mit prominenten Astromedizinern wie etwa Cardano besetzt.³³⁴ Ob Titi ein direkter Schüler Maginis war, ist ungewiss. Verschiedentlich wird kolportiert, Titi sei der persönliche astrologische Ratgeber des Erzherzogs Leopold Wilhelm von Österreich (1614–1662) gewesen. Das wichtigste Argument dafür ist Titis Widmung seiner astronomischen Tafeln Tabulae primi mobilis (1657)³³⁵ an den jüngsten Bruder des Kaisers Ferdinand II.³³⁶ Wahrscheinlich beschrieb diese jedoch treffender seine Ambition als ein wirkliches Arbeitsverhältnis. Titi hatte die Analyse der neapolitanischen Revolte von 1647–1648 „Indicativi, et Critici Dies in commoto tumultu Neapolitane Plebis Anni 1647“³³⁷ so gut in seinem astromedizinischen Traktat De diebus decretoriis et aegrorum decubitu (1660/1665) verborgen, dass sie bis heute noch gar nicht in diesem Zusammen-
332 „l’universali constellazioni vincono le particolari, e quelle delle communità quelle dell’uomo; onde muore per peste, per guerra e in mare con gli altri chi ha poca significazione di morte.“ Campanella, Del senso, S. 327. 333 „Et pestilentiae constitutio, et bellica vincit eam, quae est in nativitate: et constitutio Regni constitutionem Regis.“ Campanella, Medicinalia, S. 116. 334 Vgl. Grendler, University of the Italian Renaissance, S. 425. 335 Placido Titi: Tabulae primi mobilis. Padua 1657. 336 Es wird behauptet, dass Leopold Wilhelm zu diesem Zeitpunkt Statthalter in Mailand war, während Titi an der Universität Pavia bei Mailand Mathematik lehrte. Doch das trifft gar nicht zu. Zur Statthalter-These vgl. Wilhelm Knappich: Geschichte der Astrologie. Frankfurt/M. 1967 und ders.: Placido de Titi’s Leben und Lehre. In: Zenit 7–11 (1935). Zitiert nach der digitalen Fassung: http://www.astrotexte.ch/sources/knappich_placidus.html#k1 (10. April 2014). Zum Gerücht, Titi sei der Astrologe Leopold Wilhelms von Habsburg gewesen, vgl. Campion, Western Astrology II, S. 166. 337 Titi, De diebus decretoriis I, S. 250–259.
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hang rezipiert wurde.³³⁸ Sie ist umso interessanter, als ihre Einschätzung der neapolitanischen Revolte wenn nicht gar positiv, so doch neutral ausfiel. Das macht sie zu einer wichtigen Ausnahme, da in Italien zensurbedingt so gut wie keine positiven Stellungnahmen zu der Revolte, ebenso wie zum gleichzeitigen englischen Bürgerkrieg, in den Druck gingen.³³⁹ Ähnlich unrezipiert wie Titis Analyse der neapolitanischen Revolte ist seine auf mehrere Werke verteilte Horoskopsammlung. Mit dieser wollte er anhand von Fallbeispielen den Nachweis bringen, dass die astrologischen Einflüsse natürlich, evident und messbar waren, wie er in seinem Hauptwerk Physiomathematica sive coelestis philosophia naturalibus huiusque desideratis ostensa principiis (1650)³⁴⁰ behauptet hatte.³⁴¹ Das Traktat De diebus decretoriis, dessen erster Band 60 Horoskope umfasste, gefolgt von 40 Horoskopen im zweiten, erschien wie Titis astronomische Tafeln, die Tabulae primi mobilis (1657), die weitere 30 Geburtshoroskope enthielten, mit der ausdrücklichen Zustimmung des Ordensgenerals.³⁴² Das bewahrte die Werke jedoch nicht davor, bald darauf indiziert zu werden. Titis De diebus decretoriis war ein spätes Beispiel für das kleine Genre astromedizinischer Horoskopsammlungen, wie es von Bodier, Magini und Argoli gepflegt wurde.³⁴³ Die Horoskopsammlungen standen untereinander in engem Zusammenhang – Magini übernahm zahlreiche Horoskope von Bodier, Argoli von Magini und Titi übernahm sie von allen anderen.³⁴⁴ Von Morandis 85 Nativitäten für den hohen römischen Klerus hatte eine beträchtliche Zahl Eingang in die Sammlung seines Freundes Argoli gefunden, darunter das fatale Horoskop für Urban VIII. Titi übernahm von Argoli viele Horoskopen: Von den 30 Nativitäten der Tabulae stammten 24 von Argoli. Sieben von ihnen stimmten mit jenen Morandis überein, so dass sich eine direkte Linie der Weitergabe von Morandi über Argoli bis Titi erstreckt.
338 Es gibt, soweit ich sehe, keinen wissenschaftlichen Text, der Titis astromedizinische Analyse der Revolte des Masaniello behandelt. 339 Positive Stellungnahmen gab es in größerer Anzahl, zur Umgehung der Zensur jedoch fast ausschließlich in Manuskriptform. Vgl. Villari, Revolt of Naples, S. 178. 340 Knappich geht davon aus, dass es sich um dieselbe Schrift handelte, die 1650 unter dem Titel Quaestionum physiomathematicarum libri tres erschien, 1675 als Physiomathematica. Vgl. Knappich, Placido de Titi, http://www.astrotexte.ch/sources/knappich_placidus.html#k1. Thorndike beschreibt sie als zwei verschiedene Werke, die beide erstmals 1650 erschienen und 1675 unter dem Titel Physiomathematica zusammengefasst wurden. Vgl. Thorndike, Magic VIII, S. 302 f. 341 Vgl. Curry, Prophecy and Power, S. 83. 342 Titi, De diebus decretoriis I, Titelblatt, o.S. 343 Zu den Horoskopsammlungen Bodiers, Maginis und Argolis vgl. Kap. 3.3. 344 Übernahme bedeutete nicht, dass die Horoskope in allen Details identisch waren. Oft wurden sie neu berechnet. Mit dem Gebrauch unterschiedlicher astronomischer Tafeln und Häusersysteme variierten auch die Ergebnisse.
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3.4.1 Die neapolitanische Revolte von 1647–1648 Titi konstatierte: „Die Natur pflegt durch Zeichen jene Ereignisse anzukündigen, die gerade in ihrer Entstehung begriffen sind“.³⁴⁵ Mit Zeichen meinte er astronomische Ereignisse, von denen er annahm, dass sie die verborgenen Ursachen der irdischen Ereignisse anzeigten. Deshalb erklärte Titi das Wissen um die astralen Vorgänge zum Herrschaftswissen. Es sei „von nicht geringem öffentlichem Nutzen für Fürsten und Regenten, da sie präzise vorhersehen können, was die Sterne ermöglichen.“³⁴⁶ Die natürlichen Vorzeichen und Ursachen der politischen Ereignisse, ihre astralen signa oder causae, ließen sich unschwer am himmlischen Schriftzug der Sterne ablesen. Dies setzte zweierlei voraus – ein umfassendes astronomisches Wissen und eine profunde Kenntnis der astrologischen Semiotik, die zur Lektüre der Sternenbotschaften befähigte. Daran fehlte es Titi nicht. Seine Untersuchung des Verlaufs der sogenannten Revolte des Masaniello anhand der astronomischen Ereignisse war sehr originell. Es handelte es sich um eine äußerst komplexe und technisch anspruchsvolle astrologische Analyse eines politischen Ereignisses, die das gesamte Repertoire astrologischer Techniken virtuos instrumentierte und weiterentwickelte. Die Rede von der sogenannten Revolte des Masaniello verweist auf ein grundsätzliches Problem bei der Einschätzung der historischen Dimension des neapolitanischen Aufstands von 1647–1648. Die Deutung als lokale Revolte stützt sich hauptsächlich auf die populäre Gestalt des amalfitanischen Fischers Tommaso d’Aniello oder Masaniello, der während der ersten zehn Tage des Aufstands der charismatische Anführer der Volkserhebung und Oberbefehlshaber über ihre Streitkräfte war. Die Konzentration auf die Anfangsphase, die bereits nach zehn Tagen drastisch mit Masaniellos Ermordung endete, führt häufig zu einer Reduktion des Aufstands auf ein isoliertes städtisches Phänomen, in dessen Zentrum der Mythos des folkloristischen Volkshelden Masaniello steht. Doch die Revolte endete nicht nach zehn Tagen und wies zu diesem Zeitpunkt auch keine Auflösungserscheinungen auf.³⁴⁷ Vielmehr setzte sie sich, gestützt auf einen breiten Konsens zwischen den Vertretern verschiedener Stände und eine solide militärische Organisation, noch beinahe ein Jahr lang fort.³⁴⁸ Am 17. Oktober 1647
345 „Exordiar autrem ab omine, ad praeclarae huius artis, non hominis laudem, et ut discamus à natura ut plurimum praemitti signa suorum eliciendorum effectuum.“ Titi, De diebus decretoriis I, S. 250. 346 „...Principibus, et Rebusp[ublicis] ad commune bonum non modicum proderit, si prudenter siderum conspirationes praevideantur...“ Ebd., S. 250. 347 Das Gegenteil behauptet Burke, Virgin of the Carmine, S. 18. 348 Villari, Masaniello, S. 118 und Burke, Masaniello: A Response, S. 197–199.
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riefen die Aufständischen mit dem Manifesto del Fedelissimo Popolo di Napoli die Republik aus. Dies war eine Reaktion auf die Anforderung spanischer Truppen durch den Vizekönig. Nach mehrmonatiger Belagerung durch die spanische Flotte endete das kurze Leben der neapolitanischen Republik im April 1648 mit dem Einzug des neuen spanischen Vizekönigs Don Juan d’Austria. Den eigentlichen Anlass der neapolitanischen Revolte von 1647–1648 bildete eine schwere Finanzkrise, in der sich das von einem spanischen Vizekönig regierte Königreich Neapel um 1645 befand, und die sich nicht zuletzt den zahlreichen militärischen Unternehmungen der spanischen Monarchie schuldete. Die militärisch bedingte Finanznot führte einerseits zu einem regelrechten Ausverkauf des Vizekönigreichs an den einheimischen Adel,³⁴⁹ andererseits zu einem exponentiellen Anstieg der Abgaben seit den 1630er Jahren.³⁵⁰ Die unablässige Einführung neuer Steuern und außerordentlicher Abgaben mündete am 7. Juli 1647 unter dem Eindruck der ähnlich motivierten Aufstände in Palermo vom 20. Mai 1647 schließlich in der neapolitanischen Volkserhebung. Die stärksten Argumente gegen eine folkloristische Interpretation hat Villari vorgelegt, der den Aufstand im Kontext der seit 1500 währenden politischen Konflikte in Neapel und Süditalien zwischen italienischer Bevölkerung und spanischer Herrschaft verortete, die in gravierenden administrativen, juristischen und finanziellen Schwierigkeiten resultierten. Als Höhepunkt der politischen und ökonomischen Entwicklung in Süditalien war die Revolte zugleich eng mit den Machtverschiebungen im gesamteuropäischen Raum im Zuge des Niedergangs der spanischen Monarchie verbunden. Damit gehört die neapolitanische Revolte in das Spektrum der zeitgenössischen Erhebungen gegen die spanische Herrschaft, wie sie mit besonders großem Erfolg in den Niederlanden stattfanden, aber auch in Katalonien und Palermo. Villari deutete sie als späte Episode eines langanhaltenden europäischen Bauernkrieges.³⁵¹ Damit gerät die neapolitanische Revolte von einem Phänomen an der Peripherie zu einem Teil des in ganz Europa spürbaren Prozesses des Niedergangs der spanischen Monarchie, zu dem auch die von Campanella initiierte kalabresische Verschwörung gehörte.³⁵² Ein wichtiger Indikator für die Tragweite der Revolte ist ihre europaweite Rezeption
349 J.H. Elliott: Revolts in the Spanish Monarchy. In: Robert Forster, Jack P. Greene (Hg.): Preconditions of Revolution in Early Modern Europe. Baltimore 1970, S. 109–130, S. 124 f. 350 “from 1636, Spain’s demand for aid in money, soldiers and arms grew uncontrollably.” Villari, Revolt of Naples, S. 75. 351 Ebd., S. 152. 352 Vgl. hier Kap. 3.1.
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in Gemälden, Nachrichten, Tagebüchern und diplomatischen Berichten,³⁵³ wobei sie häufig als Schwesterphänomen des gleichzeitigen englischen Bürgerkriegs verstanden wurde.
3.4.2 Die Vorzeichen der Krise Tits astromedizinische Analyse der Revolte konzentrierte sich nicht auf die ersten zehn Tage des Aufstands, sondern führte astronomische Ursachen und Vorzeichen ins Feld, die dem eigentlichen Ereignis chronologisch weit vorangingen. So hielt Titi mehrere Sonnen- und Mondfinsternisse zwischen 1645 und 1647 für entscheidend: 1. 2. 3. 4.
10.02.1645 21.08.1645 30.01.1646 20.01.1647
partielle Mondfinsternis partielle Sonnenfinsternis totale Mondfinsternis partielle Mondfinsternis
23° Löwe 28° Löwe 12° Löwe 1° Löwe
Das wichtigste dieser Himmelsereignisse war für Titi die totale Mondfinsternis des Jahres 1646, die er als richtungsweisend für die politischen Ereignisse des Jahres 1647 betrachtete: Unter den oben genannten Eklipsen war jene, die sich am 30. Januar 1646 noctis sequentis ereignete, die bedenklichste und einflussreichste, deren Wirkungen sich bis in die ersten Monate des Jahres 1647 erstreckte.³⁵⁴
Die Entscheidung für die besondere Relevanz dieser Mondfinsternis fiel schon deshalb leicht, da sie unter den genannten die einzige totale Finsternis war, denn partielle Mondfinsternisse waren keineswegs außergewöhnlich. Auffallend war, dass sie allesamt im Zeichen des Löwen stattfanden. Dieses herrschte nach Auf-
353 „Ai posteriori ha lasciato [...] insieme a qualche rilevante testimonianza artistica, come i bellissimi quadri di Micco Spadaro, una immensa quantità di cronache, di diari, di relazioni diplomatiche. Non c’è archivio o biblioteca di una certa importanza in Italia o nei grandi centri d’Europa dove non si trovi qualcuno di questi documenti.“ Rosario Villari: Ribelli e riformatori dal XVI al XVIII secolo. Rom 1979, S. 85. 354 „Caeterum inter omnes supra relatas Eclipses plenior, et robustissima omnium apparvit, quae nocte diei 30. Ianuar[ij] 1646. cuius effectus, quoniam occidentis regionem lustraverat, ad priores sequentis Anni 1647. menses differebantur.“ Titi, De diebus decretoriis I, S. 252. Die Zeitangabe noctis sequentis bedeutet, dass nach dem Sonnenuntergang, der ortsabhängig war, gerechnet wurde.
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fassung Titis, der sich auf die ptolemäischen Thesen zur astrologischen Geographie stützte, über Italien.³⁵⁵ Deshalb zeigte der astronomische Ort, an dem sich die Eklipsen ereigneten, auch das irdische Gebiet an, in dem der Eintritt gravierender politischer Ereignisse zu erwarten war: Zudem, da in diesen Jahren sehr zahlreiche Finsternisse der Himmelskörper im Zeichen des Löwen zu sehen waren, das über Italien herrscht, handelt es sich um Vorzeichen eines schweren Schadens in einigen Gebieten Italiens.³⁵⁶
Zu diesen schweren Schäden rechnete Titi die Poüberschwemmungen seit 1645, Missernten, Dürren und Hungersnöte, die zu „Kriegen in der Lombardei und sogar Revolten und außergewöhnlichen Tumulten in Palermo und Neapel“³⁵⁷ geführt hätten. Doch waren Titi die genannten Sonnen- und Mondfinsternisse in astronomischer Perspektive wohl nicht exzeptionell genug. Daher machte er für die herausragende Bedeutung der totalen Mondfinsternis des Januars 1646 zusätzlich geltend, dass diese von einem sehr speziellen Himmelsphänomen begleitet war, nämlich einem Paraselenium oder Nebenmond: gegen die dritte Stunde noctis sequentis am 29. Januar, [jener Nacht] die der folgenden Mondfinsternis voranging, beobachtete ein Gelehrter der Astronomie, der sich in Imola befand, um den Vollmond herum einen Lichtkreis mit einem Durchmesser von ungefähr 40 Grad.³⁵⁸
Dabei handelte es sich um eine Haloerscheinung, ein optisches Phänomen, das sich in der Atmosphäre zeigte, wenn Eiskristalle in der Luft den Mond reflektierten und so ein ‚zweiter‘ Mond in Erscheinung trat. Diese Haloerscheinung war nur bei Vollmond möglich. Dass Eiskristalle in der Luft, zumal in Italien, nicht ganzjährig üblich waren, setzte ihrer Häufigkeit weitere Grenzen. Die Ausnah-
355 Titi führte als Autorität für diese Zuordnung das einschlägige Kapitel zur astrologischen Geographie in Ptolemäus’ Tetrabiblos II, 3 ins Feld. 356 „Caeterum cum hisce Annis plures Luminarium in signo Leonis, quod Italiae praeest, Eclipses appareant, ominari aliquibus Italiae Provincijs ingens malum.“ Titi, De diebus decretoriis I, S. 251. 357 „Et sanè quidem pluviae continentes, et copiosissimae, quae ceciderunt sequenti Autumno, et Hyeme notae sunt, ut Padus iuxta Cremonam exundarit; sterilitas terrae, et caritas passim, tum bella in Insubria subsequuta sunt: tandem Panhormi, et Neapolis tumultus, et commotiones formidabiles.“ Ebd., S. 251. 358 „Astronomicarum rerum Professor apud Foru[m] Cornelij Anno 1646. et die 29. Ianuar[ij] hora ferè 3. noctis seq[uentis]; quae immediatè praecedebat futuram lunarem Eclipsim, vidit circa Lunam luminibus plenam circulum fulgentem diametro gr[aduum] 40. ferè.“ Ebd., S. 251.
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meerscheinung des Paraseleniums sollte also die herausragende Bedeutung der von Titi ins Feld geführten Sonnen- und Mondfinsternisse zwischen 1645 und 1648 beglaubigen, wobei offen blieb, was ein bei Bologna beobachteter Nebenmond mit den politischen Ereignissen in Neapel zu tun haben mochte. Die astralen Konstellationen wirkten nicht nur in besonderem Maße auf bestimmte irdische Regionen ein, sondern interagierten nach Auffassung Titis auch mit jenen astrologischen Faktoren, die in den Geburtshoroskopen von Herrschern angezeigt waren: Das feindliche und zwiespältige Verhältnis zwischen den oberen Planeten [Jupiter und Saturn] verursacht tatsächlich Kriege und Unruhen, während die günstige Beziehung zwischen ihnen für Frieden und eine ruhige Zeit sorgt, vor allem, wenn die Nativitäten der Fürsten damit übereinstimmen.³⁵⁹
Dabei machte Titi ungewöhnliche astrologische Faktoren geltend und verwendete die von Johannes Kepler im Mysterium cosmographicum (1596) eingeführten neuen astrologischen Aspekte wie etwa den Quicunx mit Selbstverständlichkeit.³⁶⁰ So begründete er den Ausbruch der neapolitanischen Revolte just am 7. Juli 1647 genau mit einem solchen neuen, ungünstigen Aspekt: Als dann wirklich Saturn und Jupiter auf derselben Deklinationsparallele erschienen und sich am 7. Juli in einem Quicunx befanden, brach die Revolte des neapolitanischen Volkes 17 Stunden und 30 Minuten nach Sonnenuntergang aus.³⁶¹
Die Benutzung von Keplers neuen Aspekten brachte auch die Verwendung des äquatorialen Koordinatensystems zur Ortsbestimmung der Planeten mit sich. Dieses gab nicht Breite und Länge eines Himmelskörpers in Gradzahlen an, wie es bei dem ekliptischen Koordinatensystem der Fall war. Eine typische Information wäre etwa ‚Saturn in 15° Waage‘. Das äquatoriale Koordinatensystem machte
359 „Et enim hostiles vel ancipites familiaritates superiorum bella, et turbulentias commovent; benignae verò pacem, et tranquillitatem, maximè si Principum natalitiae constitutiones assentiantur.“ Ebd., S. 252. 360 Vgl. North, Horoscopes and History, S. 181. Kepler vermehrte die Aspekte in Hinblick auf ihre Kompatibilität mit den musikalischen Harmonien, was in drei neuen Winkelbeziehungen resultierte. So wartete er zusätzlich zu den seit der Antike verbürgten Aspekten von Konjunktion, Trigon, Sextil, Quadrat und Opposition mit einem Quintil oder Quicunx, einem Sequisquadrat sowie einem Biquintil auf. 361 „Ubi igitur Saturnus, et Iuppiter sub eodem Declinationis Parallelo positi sunt, et in radio quintili die 7. Iulij, erupit Neapolitanae Plebis commotio ad horam 17. min[utum]. 30. ferè ab occasu Solis, sub hac videlicet Siderum constitutione.“ Titi, De diebus decretoriis I, S. 252 f.
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hingegen Angaben über die Rektaszension (ascensione retta) und Deklination (declinazione) der Himmelskörper.³⁶² Das Koordinatensystem regte Titi auch zu neuen Interpretationen der traditionellen astrologischen Aspekte an. So bezog sich der Aspekt des Quicunx, den Titi für den Ausbruch der Revolte am 7. Juli 1647 verantwortlich machte, gar nicht wie bei Kepler auf die Ekliptikgrade, sondern auf die Deklinationsparallelen. Dabei stützte er sich auf die Deklinationswerte von Saturn und Jupiter, also dem senkrechten Winkelabstand der Planeten vom Himmelsäquator, der mit den Breitengraden der Erde korrespondierte.³⁶³ Die Deklinationsparallelen markierten in Titis Augen ‚Punkte gleicher Kraft‘ im Zodiak. Diese Überlegungen waren ebenso originell wie Titis System der sogenannten Sekundärdirektionen.³⁶⁴
3.4.3 Der Verlauf der Revolte Titi machte für den akuten Ausbruch der Revolte am 7. Juli 1647 nicht nur vorgängige Eklipsen und die Konstellation zwischen Saturn und Jupiter verantwortlich, sondern 14 weitere astrologische Faktoren, die er dem eigens erstellten ‚Geburtshoroskop‘ der Revolte entnahm.³⁶⁵ So betonte er, dass die Stellung sämtlicher Planeten über dem Horizont die Manifestation konzertierter politischer Aktivitäten anzeigte: Alle Planeten über dem Horizont drängen zum offenen und ungezügelten Auftreten verborgener, okkulter und lautloser Tendenzen, und zwar mit Einmütigkeit.³⁶⁶
Diesen Sachverhalt illustrierte Titi mit einem Ereignishoroskop, erstellt für den Zeitpunkt des Beginns der Revolte, den er auf den 7. Juli 1647, 17.30 Uhr ab occasu [nach Sonnenuntergang], circa 12.55 Uhr des Folgetags datierte.³⁶⁷
362 Zu den verschiedenen Koordinatensystemen vgl. Drecker, Zeitmessung und Sterndeutung, S. 13–16. 363 Erich Wiesel: Das astrologische Häuser-Problem. Eine kritische Betrachtung über 14 Häuserberechnungen. München-Planegg 1930, S. 17. 364 Vgl. Knappich, Placidus de Titi, http://www.astrotexte.ch/sources/knappich_placidus. html#k1. 365 Titi, De diebus decretoriis I, S. 253. 366 „Omnes Planetae supra terram, quaecunque tecta, et occulta, vel silentia ad publicam libertatem cum unanimi consensu vocare.“ Ebd., S. 254. 367 Dabei legte er allerdings die Planetenstände des 7. Juli zugrunde. Vgl. Bezza, Rivolta, http:// www.cieloeterra.it/testi.masaniello/masaniello.html.
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Abb. 5: Titis Horoskop für den Ausbruch der neapolitanischen Revolte
In der Tat kam es am 7. Juli auf der Piazza del Mercato, wo sich nicht nur der Obstmarkt befand, sondern auch die Steuerbehörde, zu massiven Protestkundgebungen gegen etwas, das sehr viel mit beiden Institutionen zu tun hatte, nämlich die Besteuerung der Früchte. Nicht ohne Witz war Titis Deutung eines Quadrats zwischen Mars und Saturn, das seiner Ansicht nach den Tod von Steuereintreibern anzeigte: „Saturn, der im Quadrat zu Mars und im achten Haus steht, [...] ist lebensbedrohlich für Steuereintreiber.“³⁶⁸ Während der ersten zehn Tage der Revolte wurden annähernd 60 Paläste von maßgeblich am spanischen Steuersystem Beteiligten geplündert. Diese Plünderung wurde allerdings nicht nur astral begünstigt, sondern auch durch die Existenz einer Liste der Paläste.³⁶⁹ Günstiger fiel Titis retrospektive Prognose für den spanischen Vizekönig aus, der davon profitierte, dass die Sonne im Horoskop der Revolte ausschließlich positiv aspektiert war: „Die Sonne [...], frei von schlechten Planeteneinflüssen, erhält
368 „Saturnum sub [quadrato] [Martis] in 8. Domo, qui trino radio intuetur Partem Fortunae cuius etiam signo imperat, neces vectigalibus minari.“ Titi, De diebus decretoriis I, S. 254. 369 Burke verweist auf eine “‘hit list’ of some sixty palaces on which attacks were planned.” Burke, Virgin of the Carmine, S. 14.
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die Verfügungsgewalt des Fürsten.“³⁷⁰ Titi ordnete die Planeteneinflüsse jedoch nicht bestimmten Bevölkerungsgruppen und Akteuren zu, sondern behandelte die Himmelskörper als polyseme Zeichen. So bezog er den Sonnenstand nicht nur auf den Herrscher, sondern deutete ihn auch in Hinblick auf den Verlauf der Revolte: Die Sonne in einem beweglichen Zeichen, der Mond mit zunehmendem Licht in einem gemeinen gemeinsam mit Mars verweisen auf ein Ereignis, das sehr gewalttätig vonstatten geht, mit Feuersbrünsten und Ermordungen, mit einem äußerst akuten Verlauf, wie es bei Krankheiten der Fall ist; und schließlich, wie ich sagte, da die oberen Planeten untereinander in feindseliger Beziehung standen, drohten die Ereignisse, von einem akuten Verlauf zu einem chronischen überzugehen.³⁷¹
Da Titis Analyse bereits zum Zeitpunkt des letzten Neumonds vor dem Aufstand einsetzte, schloss er von der Zunahme des Mondes auf diejenige der Menschenmenge, die sich an der Revolte beteiligte: „Der Mond, dessen Licht zunimmt, vergrößert die Menschenmasse, wie es übrigens auch bei Krankheiten der Fall ist.“³⁷² Da die Revolte trotz abnehmenden Mondes nicht endete, machte Titi den Einfluss der erdfernsten Planeten Saturn und Jupiter verantwortlich für die Veränderung des Charakters der politischen Krankheit: doch später, aufgrund der Beziehungen unter den oberen Planeten, wurde [der Aufstand] chronisch und veränderte seine Form [speciem mutaverit], indem er von dem Volk auf den Adel überging, so wie es oft bei Krankheiten der Fall ist, dass sie von der Galle auf die inneren Organe übergreifen, die nobler und fester sind, so dass sie von einem akuten zum chronischen Verlauf übergehen.³⁷³
Mit der These zweier Phasen der Revolte, der zehntätigen initialen Phase und dem nachfolgenden Verlauf bis zum April 1648, gab Titi politisch zu verstehen, dass
370 „Solem temporis lumen à maleficis solutum conservare ius Optimi Principis.“ Titi, De diebus decretoriis I, S. 254. 371 „Tandem Solem in signo mobili, Lunam in communi cum [Marte] lumine crescentem demonstrare accidens vehementissimi motus cum incendijs, et nece, ideòq[ue]; peracutum, ut contingit in morbis: quoniam verò sicut dixi superiores inter se hostiliter communicabant, accidens ex peracuto in chronicum conversurum minabantur.“ Ebd., S. 255. 372 „Lunam in augmento lucis augere multitudinem, ut solet in morbis.“ Ebd., S. 254. 373 „Notandum item Populi tumultum crevisse iuxta Lunae augmentum, scilicet usq[ue]; ad Plenilunium: mox ferè dissipatus est; quamuis postea ob superiorum familiaritates chronicus evaserit, atq[ue]; speciem mutaverit, et à Plebe ad Nobilitatem transierit; ut saepè morbos contingit à bile ad nobiliores corporibus solidas, et internas partes migrare, ideoq[ue] ex acutis chronicos fieri.“ Ebd., S. 258.
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er die Revolte nicht mit der Anfangsphase, die von der charismatischen Gestalt Masaniellos geprägt war, identifizierte, sondern die anschließende Phase, die von einer breiten Bevölkerungsschicht aus verschiedenen Ständen inklusive des Adels getragen war, politisch sehr ernst nahm. Die Differenzierung zwischen der ‚akuten‘ und einer ‚chronischen‘ Phase der Revolte zeugte zugleich davon, dass Titi das Horoskop für den Ausbruch der Revolte wie ein Krankheitshoroskop behandelte, das Aussagen über den Verlauf ermöglichte. Nicht zufällig befand sich seine astropolitische Krisenanalyse in einem Traktat über die Lehre von den kritischen Tagen, dem Kernstück der medizinischen Prognostik und Diagnostik. Titi stützte sich zunächst auf die hippokratische Unterscheidung zwischen anzeigenden (dies decretoriis) und kritischen Tagen (dies criticis), die in einem Verweisverhältnis standen.³⁷⁴ Weiterhin legte er Haly Abenragels Figura Sexdecagona zugrunde, die eine systematische Konkordanz von Winkelsummen und kritischen Tagen annahm. Dabei bildete der Mond auch an dem anzeigenden vierten und elften Tag jeweils ein Halbquadrat (45°) zu seinem Ausgangspunkt, dessen Wirkung als ähnlich ungünstig galt wie die eines Quadrats. Titi untersuchte insbesondere die zehntägige initiale Phase der Revolte bis zur Ermordung Masaniellos nach Maßgabe des astromedizinischen Krisenmodells. Er zeigte sich mit Halys Variante der Lehre von den kritischen Tagen gut vertraut: Was den Eintritt der Krise angeht, kann man beobachten, dass am 10. Juli, dem vierten Tag nach Beginn des Aufstands, als der Mond ungefähr 45° [im Verhältnis zu seinem Ausgangspunkt] zurückgelegt hatte, man zu Übereinkünften gelangte und die Steuern abgeschafft wurden.³⁷⁵
Historisch gesehen bezog sich Titi an dieser Stelle auf Unterhandlungen zwischen den Rebellen und der spanischen Monarchie. Masaniello verhandelte bereits seit dem 9. Juli als Vertreter der Rebellen mit dem Kardinal Ascanio Filomarino, dem Unterhändler des spanischen Vizekönigs, über die Abschaffung der Besteuerung von Obst und Brot.³⁷⁶ Die Unterhandlungen waren jedoch nur mäßig erfolgreich. Zwar kam man bereits am 10. Juli zu einem Kompromiss zwischen Vizekönig und Rebellen, doch nicht mehr dazu, diesen publik zu machen, da noch am gleichen Tag ein Mordanschlag auf Masaniello verübt wurde, der scheiterte und in einem
374 Vgl. Dell’Anna, Dies critici I, S. 46. 375 „Caeterum quoad Crises observandum est, quod in 4. die ab initio tumultus quae fuit 10. Iulij, ubi Luna lustraverat gradus 45. ferè, firmatae sunt conventiones, et vectigalia antiquata.“ Titi, De diebus decretoriis I, S. 255. 376 De Simone u. a., Masaniello nella drammaturgia, S. 90.
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militärischen Zusammenstoß mündete. Bei diesem wurde mit Giuseppe Carafa, Herzog von Maddaloni, einer der Auftraggeber des Komplotts ermordet. Aufgrund der sich überschlagenden politischen Ereignisse blieben die ausgehandelten Übereinkünfte zwischen Rebellen und Herrschenden zunächst unbekannt und entfalteten daher auch keine Wirkung. Da der vierte Tag gemäß Hippokrates den siebten und kritischen Tag anzeigte,³⁷⁷ verwies er in Titis Perspektive sowohl auf die Ereignisse des siebten als auch des 14. kritischen Tags im Verlauf der Revolte: Schließlich war der vierte Tag der Tag, der die Krise anzeigte, die am siebten Tag eintreten musste, bzw. am 14. Juli, als der Mond 90° weitergerückt war, also jener Tag, an dem Masanello spontan verlangte, die Befehlsgewalt niederlegen zu dürfen und den Verstand verlor.³⁷⁸
Masaniello hatte an diesem Tag zwar die Befehlsgewalt niedergelegt, sich jedoch entgegen der Vereinbarungen rasch wieder anders besonnen. Daher bewirkte sein Verhalten keine Wendung der Ereignisse und konnte kaum als Krisenindikator angesehen werden. Ebenso wie der Versuch der Ermordung Masaniellos am 10. Juli, also am vierten, anzeigenden Tag, erfolglos verlief, zeitigte auch der freiwillige Rückzug Masaniellos als Kommandeur des Aufstands am 14. Juli, dem ersten kritischen Tag, keine entscheidende Wendung im Verlauf der Revolte. Unglücklicherweise konvergierten die zentralen Ereignisse der Revolte zahlentechnisch nicht mit den traditionell anzeigenden und kritischen Tagen. Daher erklärte Titi den vierten, anzeigenden Tag kurzerhand für unvollständig krisenhaft aufgrund eines Mangels an Krisensymptomen: Und weil die Zeichen des vierten anzeigenden Tages unvollkommen waren, fand auch die Krise des siebten Tages unvollkommen statt, da auch die früheren Zustände erhalten blieben.³⁷⁹
So resultierte der unvollkommen krisenhafte vierte Tag in einer unvollkommenen Krise am siebten Tag. Dabei übertrug Titi das komplexe Verweissystem der astromedizinischen Krisenlehre auf die politische Analyse, was allerdings nicht erklärte, warum die Krise, anzeigt durch die Ermordung Masaniellos am 16. Juli,
377 Hippokrates, Aphorismen II, 24, S. 329. Vgl. hier Kap 3.1. 378 „...haec autem dies 4. fuit indicativa Crisis, quae futura erat in 7. nimirum die 14. Iulij ubi Luna absolverat gr[adum] 90 in qua Massanellus lubens postulat, abdicari ab imperio, mente capitur à populi aliqua parte relinquintur...“ Titi, De diebus decretoriis I, S. 255. 379 „...cumq[ue] signa praedictae quartae indicativae diei apparverint imperfecta, Crisis quoq[ue] in die 7. imperfecta apparvit, etenim adhuc perseverabant res ut prius.“ Ebd., S. 255.
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auf den zehnten Tag nach Krankheitsbeginn und damit auf einen nicht kritischen Tag fiel. Titi behalf sich, indem er von der Analyse des vierten einfach zum fünften Tag überging, den er zum anzeigenden Tag bezüglich des zehnten kritischen Tags erklärte. Am fünften Tag der Revolte, dem 11. Juli 1647, waren die Übereinkünfte zwischen Herrscher und Rebellen erneuert und publik gemacht worden, was zu einer vorübergehenden Besänftigung der Aufständischen führte.³⁸⁰ Mit der unorthodoxen Postulierung eines fünften anzeigenden und zehnten kritischen Tages gelang es Titi schließlich, die historischen Ereignisse, insbesondere die Ermordung Masaniellos, mit der Lehre von den kritischen Tagen und den Mondaspekten in Einklang zu bringen: An diesem Tag [dem 11. Juli] hatte der Mond sein Sextil erreicht und zeigte den zehnten Tag an, den 16. Juli, an welchem der Mond das Trigon zu seinem Ausgangspunkt zu Beginn der Revolte erreichte und an dem Massanello am Morgen ermordet wurde, als die Sonne die Stellung des Mars in mundo einnahm und der Mond zu ihr in Opposition stand.³⁸¹
Das Verhältnis zwischen anzeigendem fünftem und kritischem zehnten Tag war zwar grundsätzlich plausibel – es handelte sich um eine Übertragung der Logik des Verhältnisses von viertem zu siebtem Tag –, aber nirgends verbürgt. Sehr wahrscheinlich resultierte die unorthodoxe Erklärung des fünften und zehnten Tages zu Krisentagen aus der Vertrautheit des Mathematikers und Astronomen mit dem Dezimalsystem.
3.4.4 Die Krise des Masaniello Anhand des Geburts- oder Krankheitshoroskops der neapolitanischen Revolte analysierte Titi die astralen Konstellationen, die auf den Verlauf des Aufstands wirkten. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er der Person Masaniello, dessen Geschick im Verlauf der Revolte er anhand von dessen Geburtshoroskop untersuchte. Dabei erklärte Titi die astralen Konstellationen der Nativität Masaniellos zur speziellen Ursache der politischen Ereignisse:
380 Ebd., S. 255. 381 „...fuit ergo indicativa diei 10. quae 16. Iulij ubi Luna pervenit ad suum [trinum] ab initio tumultus, in qua interfectus est Massanellus manè dum Sol locum [Martis] in mundo teneret, Luna verò propriam ibi oppositionem.“ Ebd., S. 255.
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Abb. 6: Titis Geburtshoroskop für Masaniello
Hier endet unsere Erörterung der allgemeinen Ursachen. Gehen wir nun zu den speziellen über. In diesem Zusammenhang erscheint uns das Geburtshoroskop Masanellos.³⁸²
Titi datierte Masaniellos Geburt auf den 19. Juni 1620 um 5.29 Uhr post meridiem.³⁸³ Obwohl Masaniellos Nativität nicht ohne auffällige Züge war, zog Titi aus ihr wenig Schlüsse, sondern wandte sich gleich der Suche nach den astralen Ursachen seines plötzlichen Todes zu.³⁸⁴ Titi ging von dem bekannten Todesdatum am 16. Juli 1647 um 7.29 Uhr post meridiem aus. Titi sah die Sonne als Aphetus an („Quoad vitam Sol fuit moderator“³⁸⁵) und dirigierte sie sowohl vorwärts („recta“) als auch rückwärts („conversa“). Anschließend berechnete er die Sekundärdirektionen.
382 „Quoad universales causas hactenus dicta sint: ad peculiares accedamus. Haec fertur esse genesis Massanelli.“ Ebd., S. 256. 383 Ebd., S. 256. 384 Diese untersuchte er mittels komplizierter astrologischer Verfahren wie der Berechnung von Primär- und Sekundärdirektionen. 385 Ebd., S. 256.
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Wie viele Zeitgenossen hielt Titi auch Masaniellos charismatische Wirkung für erklärungsbedürftig. Vor dieser zog sogar der Unterhändler des spanischen Vizekönigs, Kardinal Filomarino, seinen Hut: Dieser Masaniello hat innerhalb dieser wenigen Tage eine solche Autorität, Macht, Respekt und Gehorsam erhalten, dass er die ganze Stadt vor seinen Befehlen erzittern ließ, die von seinen Gefolgsleuten mit größter Zuverlässigkeit und Strenge ausgeführt wurden [...]. Kurz gesagt, er ist der König in dieser Stadt geworden, und zwar der ruhmvollste und siegreichste, den die Welt gesehen hat [...] Wer ihn nicht gesehen hat, kann sich keine Vorstellung davon machen, und wer ihn erlebt hat, kann ihn anderen nicht treffend beschreiben.³⁸⁶
Ähnlich wunderte sich Alessandro Giraffi, der 1647 einen der ersten Berichte über die neapolitanische Revolte in den Druck gab, warum ausgerechnet ein Fischer so stark an die Massen appellierte, obwohl in dieser großen Menge von Abertausenden von Leuten so viele Doktoren, Händler, Rechtsanwälte, Angestellte, Notare, Ärzte, Soldaten und ehrbare Handwerker waren, und unzählige andere Menschen mit Talent, Würde und Erfahrung, die ihm alle an Rang überlegen waren.³⁸⁷
Giraffi gab nicht nur seiner Verwunderung Ausdruck, dass die charismatische Wirkung auf Massen eine Gabe war, die sich um soziale und politische Hierarchien nicht scherte, sondern bezeugte, dass die Aufständischen nicht ausschließlich aus dem einfachen Volk stammten, wie es die folkloristische Deutung des Geschehens will. In einer streng hierarchisch organisierten Gesellschaft stellte die Astrologie eine ausgesprochen egalitäre Praxis dar, die wenig Schwierigkeiten hatte, eine plausible Antwort auf die Frage zu finden, warum gerade ein einfacher Fischer zur Integrationsfigur der Revolte wurde. Titi fand mühelos astrale Gründe für Masaniellos Charisma und seinen kometenhaften Aufstieg zum Anführer der Revolte. Eine wesentliche Ursache erblickte
386 „Questo Masaniello è pervenuto a segno tale di autorità, di commando, di rispetto, e di ubbidienza, in questi pochi giorni, che ha fatto tremare tutta la città con li suoi ordini, li quali sono stati eseguiti da’suoi seguaci con ogni puntualità e rigore [...] in somma era divenuto un re in questa città, e il più glorioso e trionfante che abbia avuto il mondo. Chi non l’ha veduto, non può figurarselo nell’idea, e chi l’ha veduto, non può essere sufficiente a rappresentarlo perfettamente ad altri.“ Ascanio Filomarino an Innozenz X., 12.07.1647. Ascanio Filomarino: Lettere al pontefice Innocenzio X sulla sommossa di Masaniello. Florenz 1843, S. 14. 387 „non ostante ch’in tanta gran moltitudine di migliaia, e migliaia di persone vi fossero tanti Dottori, Mercanti, Notari scrivani, Mastridatti, Procuratori, Medici, Soldati, Artigiani honorati, et altr’huomini infiniti d’ingegno, di valore, et esperienza, e tutti à lui di conditione superiore.“ Alessandro Giraffi: Le rivolutioni di Napoli. Neapel 1647, S. 50.
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er in der Übereinstimmung des individuellen Horoskops mit den kollektiv wirkenden Gestirnpositionen: Man kann darüber hinaus die Übereinstimmung der Nativität Massanellos mit den allgemeinen Ursachen beobachten, durch die er von einer niederen Herkunft bis zur Herrschaft gelangte.³⁸⁸
Dabei konzentrierte sich Titi auf die Sonnen- und Mondfinsternisse, die der Revolte vorausgegangen waren. Er stellte fest, dass die Venus in Masaniellos Nativität im Löwen und damit genau an jenem Ort stand, an dem alle vier Finsternisse stattgefunden hatten. Zudem habe Jupiter während der Eklipsen vom 21.08.1645 und am 30.01.1646 in 29°, bzw. 27° Grad der Zwillinge gestanden, genau an jenem Ort, an welchem sich die Sonne in Masaniellos Nativität befand – nämlich in 28,32° Zwillinge.³⁸⁹ Diese Wechselbeziehung zwischen kollektiven und individuellen astralen Faktoren nannte Titi Tausch [permutatio] und hielt sie verantwortlich dafür, dass „der universelle Einfluss auf die einzelnen dafür empfänglichen Individuen übergeht.“³⁹⁰ Diese Art der Konvergenz von Planetenständen in der Nativität Masaniellos mit jenen zu astral auffälligen Zeitpunkten vor der Revolte hielt Titi für absolut zentral für die wirkmächtige Verschmelzung kollektiver und individueller Kräfte und postulierte: Es werden in der Tat jene von schlimmen Ereignissen überrascht, bei denen es eine Austauschbeziehung zwischen den unheilvollen Planeten und Sonne und Mond gibt, und ebenso sind jene erfreut vom Glück, bei welchen es eine Austauschbeziehung zwischen Sonne und Mond und den glücksbringenden Planeten gibt.³⁹¹
Titi behauptete lapidar, dass diese Idee der permutatio von Ptolemäus stammte und eine wichtige Rolle in der astromedizinischen Krankheitsprognostik spielte.³⁹² Das stimmte jedoch nicht. Er spielte die Originalität seiner Ausführungen bewusst herunter.
388 „Notand[um] item quoad assensum natalis Massanelli cum causis universalibus, unde ad Plebis imperium fuerit accitus.“ Titi, De diebus decretoriis I, S. 258. 389 Ebd., S. 258. 390 „ quod universalis influxus descendat ad singularia passibilia.“ Ebd., S. 259. 391 „Corripiuntur enim à malis, in quibus fit permutatio maleficorum cum luminaribus: gaudent vero bonis in quibus commutatio beneficorum cum ijsdem.“ Ebd., S. 259. 392 „id quod etiam contingit in aegrotantibus à Novilunijs, et Plenilunijs, ut iam ratione dictum atq[ue].“ Ebd., S. 259.
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Bei Masaniello fand Titi unschwer eine Vielzahl dieser wirkmächtigen permutationes. So erfreute sich bei ihm Sonne, Venus, Jupiter und der Mond eines solch vortrefflichen Einflusses. So beschloss Titi seine komplexe Krisenanalyse mit den anerkennenden Worten: „Und ich habe einen anderen Mann mit einer ebensolchen permutatio gesehen, der in einer anderen Revolte Fürst genannt wurde.“³⁹³ Die geheimnisvolle Äußerung zeugte nicht nur von Titis Wohlwollen gegenüber der neapolitanischen Revolte von 1647–1648, sondern verwies zugleich auf einen anderen Rebellen, nämlich auf Oliver Cromwell. Dieser hatte gleichzeitig mit Masaniello eine erfolgreichere Revolte in Form des englischen Bürgerkriegs angeführt und, wie Titi korrekt erläuterte, den Herrschertitel angenommen. Tatsächlich wurden Masaniello und Cromwell von ihren Zeitgenossen häufig assoziiert, und die mit ihnen verbundenen Aufstände als verwandte politische Phänomene wahrgenommen. Davon zeugt nicht nur das große zeitgenössische englische Interesse an der neapolitanischen Revolte, sondern auch die Prägung mehrerer Medaillen um 1658, die auf der einen Seite das Konterfei Masaniellos, auf der anderen dasjenige Cromwells zeigten.³⁹⁴ Wer Titis Traktat aufmerksam las, fand Cromwell wenige Seiten später sogar namentlich erwähnt, allerdings an einem Ort, an dem man schwerlich suchen würde – mitten in der Analyse des Geburtshoroskops des Königs Karl Gustav von Schweden.³⁹⁵ Titi brachte also die beiden politischen Rebellen ebenso gezielt wie im Verborgenen in Zusammenhang. Ein medizinisches Traktat war ein ungewöhnlicher Ort für die astrologische Analyse eines politischen Ereignisses. Aber auch formale Gründe erschwerten ihre Ortung. Im Anschluss an 29 theoretische Kapitel fanden sich 60 Krankheitshoroskope,³⁹⁶ dann brach die Zählung ab und es folgten ohne Nummerierung zwei andersartige Untersuchungen – die Analyse der neapolitanischen Revolte und diejenige der Nativität Karl Gustavs von Schweden.³⁹⁷ Mitverantwortlich für dieses Versteckspiel war sehr wahrscheinlich die in Italien ausgeprägte Zensurpraxis, die nicht nur zustimmende Äußerungen zu den Revolten im eigenen Land verhinderte, sondern auch zu ausländischen Aufständen wie jenen in England und in den Niederlanden.³⁹⁸ Das Verbot von Titis Werken richtete sich
393 „Alium vidi virum cum simili ferè permutatione, qui in alio tumulto in Principem nuncupari videbatur.“ Ebd., S. 259. 394 Vgl. zu den verschiedenen Medaillen Villari, Masaniello, S. 125 f. Mitunter diente der Vergleich, anders als bei Titi, zur Herstellung des Kontrastes zwischen den beiden historischen Gestalten. 395 Titi, De diebus decretoriis I, S. 259. 396 Nur in einem Fall fügte Titi ein Geburtshoroskop mit ein. Ebd., S. 234. 397 „Natalis Caroli Gustavi Svevia Regis“. Ebd., S. 259–263. 398 Villari, Revolt of Naples, S. 178.
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jedoch wahrscheinlich weniger gegen seine Untersuchung der astralen Ursachen der neapolitanischen Revolte als vielmehr gegen Titis analytische Verfahren im Allgemeinen, die ungewöhnlich komplex waren.
3.4.5 Die Revolte als chronische Krankheit Titis Krisenanalyse der neapolitanischen Revolte von 1647–1648 endete chronologisch nicht mit dem Tod Masaniellos, sondern schilderte diesen als Ende der akuten Krankheitsphase, die in einen chronischen Verlauf überging. Bei der ‚akuten‘ Phase des Aufstands betrachtete Titi hauptsächlich den Einfluss des Mondes, der auch für die astromedizinische Krisenlehre zentral war, weil der Mond das einzige Gestirn war, dessen Zykluslänge geeignet war, um kurze Krankheitsverläufe zu strukturieren. So konstatierte Titi: „man kann beobachten, dass die Volkserhebung während der zunehmenden Phase des Mondes wuchs, oder vielmehr bis zum Vollmond und anschließend schrumpfte.“³⁹⁹ Titi setzte die Eskalations- und Deeskalationsphase des Aufstands in eine kausale Beziehung zu den Mondphasen. Da die Revolte trotz abnehmenden Mondes nicht endete, machte Titi die ungünstige Konstellation zwischen den oberen Planeten Jupiter und Saturn dafür verantwortlich, dass der akute Verlauf der politischen Krankheit in einen chronischen überging. Damit gab Titi in politischer Hinsicht zu verstehen, dass er die Revolte nicht mit dem Schicksal Masaniellos identifizierte und dass die Rebellen nicht nur aus dem einfachen Volk kamen, sondern aus verschiedenen Ständen – sogar aus dem Adel. Tatsächlich handelte es sich aus der Perspektive der heutigen historischen Forschung nicht um eine spontane Erhebung einfacher Menschen, sondern um einen militärisch organisierten Aufstand, dessen wichtigste Akteure weder einfach noch ungebildet waren.⁴⁰⁰ So galt Giulio Genoino, der in den Quellen einhellig als sehr gebildeter Mann beschrieben wurde, als treibende politische Kraft des Aufstands.⁴⁰¹ Möglicherweise wurde der Mythos von der Volkstümlichkeit der Revolte von der raschen Distanzierung der gehobenen Schichten nach ihrem Scheitern befördert.
399 „Notandum item Populi tumultum crevisse iuxta Lunae augmentum, scilicet usq[ue] ad Plenilunium: mox ferè dissipatus est.“ Titi, De diebus decretoriis I, S. 258. 400 Neben Genoino waren Francesco Antonio Arpaia, sieben Staatssekretäre und zehn Justizmagistrate tätig. Der wichtigste Sekretär war der Arzt Marco Vitale. Vgl. Villari, Masaniello, S. 120. 401 Ebd., S. 120.
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3.4.6 Die Rezeption der Revolte und der Krisenanalyse Titis Titis Betonung des Fortdauerns der Revolte unter Beteiligung zahlreicher Gesellschaftsschichten war im Kontext der Rezeption der neapolitanischen Revolte nicht selbstverständlich. Die politischen Ereignisse wurden in einer Vielzahl zeitgenössischer Dokumente kolportiert. Während die diplomatischen Berichte wie die Briefe Filomarinos den Zeitraum der gesamten Revolte abdeckten,⁴⁰² beschränkten sich literarische Darstellungen häufiger auf ihre Anfangsphase. Das galt insbesondere für Alessandro Giraffis einflussreiche Schrift Le rivolutioni di Napoli (1647).⁴⁰³ Der zunächst in Venedig und Neapel gedruckten ersten Auflage folgten im nächsten Jahr mehrere Ausgaben aus Padua, Ferrara, Gaeta und Genf. Bereits 1648 erschien eine deutsche Übersetzung im Druck,⁴⁰⁴ deutlich vor der englischen des Jahres 1650.⁴⁰⁵ In England erschien 1649 anonym das Drama The Rebellion of Naples or the Tragedy of Massenello commonly so called.⁴⁰⁶ Dieses fokussierte die Ereignisse um die Person des Masaniello und war ein reines Lesedrama, da die englischen Bühnen zu diesem Zeitpunkt geschlossen waren.⁴⁰⁷ Darüber hinaus gab es zahlreiche bildliche Darstellungen der neapolitanischen Revolte wie diejenigen Domenico Gargiulos. Während die Uccisione di don Giuseppe Carafa (1647) die Enthauptung des Herzogs von Maddaloni zeigte, präsentierte die Rivolta di Masaniello das Ensemble der Piazza del Mercato samt dem kopfüber baumelnden Herzog von Carafa inmitten einer großen Menschenmenge, darunter im
402 Auch der Bericht des florentinischen Diplomaten Vincenzio de’Medicis an den Großherzog von Toskana endete im Oktober 1647. Vgl. Documenti che riguardano in ispecie la storia economica e finanziera del Regno. In: Archivio storico italiano IX (1846), S. 346–353. 403 Vgl. Silvana d’Alessio: Masaniello’s Revolt: A ‘Remedy’ for the English Political Body. In: Restoration and the 18th-Century Theatre Research 17, 1–2 (2002), S. 10–19, S. 10. 404 Kurtze warhaffte Beschreibung/ Deß gefährlichen/ weitaußsehenden und annoch währenden Auffstands/ So sich das verwichene 1647. Jahr in dem Monat Julio/ in der weitberühmbten Königl. Statt Neapoli angesponnen: darein Nicht allein die Ursachen Anfang und Progress desselbigen, sondern auch was von Tag zu Tag darbey vorgeloffen/ auff das fleissigste beschrieben wird. Auß dem Italianischen in das Hoch-Teutsche versetzt. Erster Theil. Ohne Ort 1648. Eine weitere Ausgabe dieser Übersetzung erschien im Jahr 1652. 405 Villari hält diese für die erste Übersetzung und begründet damit seine Fokussierung der Rezeption der Revolte in England. Vgl. Villari, Masaniello, S. 125. 406 Anonymus: The Rebellion of Naples or the Tragedy of Massenello commonly so called: but rightly Tomaso Aniello di Malfa Generall of the Neapolitans written by a Gentleman who was an eye-witness where this was really acted upon the Bloudy stage, the Streets of Naples. Anno Domini 1647 (1649). 407 Zu weiteren Beispielen der englischen Rezeption vgl. D’Alessio, Masaniello’s Revolt.
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Vordergrund Masaniello zu Pferde. Dieses Bild war ein frühes, herausragendes Beispiel für das relativ neue Genre der Historiengemälde, das in diesem Fall Zeitgeschichte festhielt.⁴⁰⁸ Während Gargiulos Darstellungen relativ nüchtern und historisch genau waren, präsentierten Michelangelo Cerquozzi und Viviano Codazzi die Revolte auf La rivolta di Masaniello als burleske Marktszene, wodurch die politische Dimension des Geschehens heruntergespielt wurde. Es sind nur wenige dezidiert positive Stellungnahmen aus Italien zu der neapolitanischen Revolte bekannt.⁴⁰⁹ Die bedeutendste prorevolutionäre Darstellung war die Partenope liberata (1647)⁴¹⁰ des adligen Mediziners und Pharmazeutikers Giuseppe Donzelli. Sie wurde wahrscheinlich in öffentlichem Auftrag noch während der Revolte verfasst und reichte chronologisch bis zur Ankunft des Herzogs von Guise am 15. November 1647. Das Traktat und seine ungedruckte Fortsetzung wurden im Zuge der Restauration der spanischen Herrschaft rasch unterdrückt und vernichtet.⁴¹¹ Donzelli trat ansonsten nicht durch literarische, sondern durch medizinische und pharmakologische Veröffentlichungen in Erscheinung. Auch diese waren Verkaufserfolge.⁴¹² Der angesehene Mediziner stützte seinen Bericht auf Tagebuchaufzeichnungen, die er im Verlauf der Revolte angefertigt hatte.⁴¹³ Der Bericht schilderte die historischen Ursachen und Auslöser der Revolte, die politischen Motive und verband medizinisches und politisches Narrativ.
408 Vgl. Christopher R. Marshall: ‚Causa di Stavaganze‘: Order and Anarchy in Domenico Gargiulo’s Revolt of Masaniello. In: Art Bulletin LXXX, 3 (1998), S. 478–497, S. 478. 409 Vier kurze anonyme Traktate wurden im zwanzigsten Jahrhundert gedruckt. Der Discorso fatto al popolo napoletano per eccitarlo alla libertà in Michelangelo Schipa: ‚Un grido di libertà nel Seicento‘. Neapel 1912. Drei weitere republikanische Schriften, Per la libertà del Regno di Napoli, Manifesto del Regno che palesa le sue giuste ragioni und Istruttione per formare la nuova Repubblica sind abgedruckt bei Rosario Villari (Hg.): Scrittori politici dell’età barocca. Botero, Ammirato, Settala, Boccalini, Tassoni, Zuccolo, Micanzio, Genoino, Spinola, Sammarco, Malvezzi, Accetto, Contarini et altri autori anonimi. Rom 1998, S. 983–1007. 410 Giuseppe Donzelli: Partenope liberata overo racconto dell’heroica risolutione fatta dal popolo di Napoli per sottrarsi con tutto il regno dall’insopportabile giogo degli Spagnoli (1647). Pietro Messina: Giuseppe Donzelli. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Bd. 41. Rom 1992, S. 231–235, S. 233. 411 Vgl. Daniel Chauncey Knowlton: An Unpublished Manuscript on the Rising of 1647–1648 in Naples. In: The American Historical Review 8, 2 (1903), S. 290–293. 412 Vgl. Sabine Kalff: Pflanzenorchester – Naturphilosophische und pharmazeutische Theatra im 17. Jahrhundert. In: Nikola Roßbach, Constanze Baum (Hg.): Theatralität von Wissen in der Frühen Neuzeit. Wolfenbüttel 2013, http://diglib.hab.de/ebooks/ed000156/id/ebooks_ ed000156_article06/start.htm (10. April 2014). 413 Vgl. Messina, Donzelli, S. 233.
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Angelo della Porta, der Autor einer weiteren prorevolutionären Schrift, dem Giornale istorico di quanto più memorabile è accaduto nelle rivoluzioni di Napoli, war ebenfalls Arzt. Sein Bericht blieb ungedruckt, zirkulierte jedoch in Manuskriptform.⁴¹⁴ Placido Titis astromedizinische Analyse der neapolitanischen Revolte ist also eine wichtige und vergessene Quelle unter den positiven Stellungnahmen.
3.4.7 Elitäre astrologische Praktiken und die Geschichtsschreibung Nicht nur aufgrund ihrer politischen Ausrichtung war Titis Krisenanalyse eine Besonderheit. Ebenso beachtlich war Titis Versuch, die Komplexität des historischen Geschehens durch eine mindestens ebenso komplexe Verschachtelung von astrologischen Analysen einzelner Aspekte der Revolte und ihrer Akteure einzuholen. Titis astromedizinische Analyse der neapolitanischen Revolte stellte die bislang vorgestellten semiotischen Verfahren in den Schatten. Er untersuchte den Einfluss der der Revolte chronologisch vorgängigen und auf diese vorausweisenden Sonnen- und Mondfinsternisse auf den historischen Verlauf der Revolte sowie auf die Planetenstände im Geburtshoroskop Masaniellos. Auch Masaniellos Nativität analysierte er nicht nur, sondern dynamisierte sie mittels der Betrachtungen von Primär- und Sekundärdirektionen. Hinzu kam das für den Zeitpunkt des Ausbruchs der Revolte erstellte Horoskop, das Titi wie ein Krankheitshoroskop zur Analyse ihres Verlaufs benutzte. Mittels des Abgleichs der Sonnen- und Mondfinsternisse vor der Revolte, dem (Krankheits-)Horoskop des Aufstands und der Nativität Masaniellos schuf Titi eine Fülle astronomischer Momentaufnahmen, die er wie Folien arrangierte. Dadurch zeigte er neuartige und komplexe Beziehungen zwischen Individual- und Kollektivhoroskopen auf. Dieses komplexe Verfahren gehörte in den Kontext der elitären und sehr gelehrten astrologischen Unternehmungen des späten siebzehnten Jahrhunderts, die nur noch wenige Nachahmer fanden, nicht zuletzt, weil sie zu viel astronomisches und mathematisches Wissen voraussetzten.⁴¹⁵
414 Vgl. Burke, Virgin of the Carmine, S. 5. Die Tatsache, dass der Text den Weg bis ins Archiv nach Paris fand, zeugt von seiner Zirkulation in Manuskriptform. Etwas verwunderlich, dass Marshall die Haltung des Malers Gargiulos mit jener Angelo della Portas identifiziert, obwohl dieser für die Rebellen Partei ergriff, Gargiulo jedoch gemäß Marshall nicht. Vgl. Marshall, Order and Anarchy, S. 489. 415 Kalff, Elitäre Wissenschaft, S. 156 f.
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Mochte auch Titis subtile astromedizinische Analyse in Vergessenheit geraten, so nicht sein Interesse, historische Ereignisse mit astrologischen Mitteln zu untersuchen. Gerade die englischen Astrologen schätzten Titi, was nicht zuletzt mit dem von ihm praktizierten Häusersystem zu tun hatte. Titi galt ihnen als Wiederentdecker der “true and natural Astrology”⁴¹⁶, da sich sein Häusersystem an natürlichen und physikalischen Faktoren orientiere. Genaugenommen stammte das Verfahren zur Berechnung der Häusergrenzen gar nicht von Titi, sondern von seinem Lehrer Magini. Titi hielt die beiden populären Häusersysteme von Regiomontanus und Giovanni Campano da Novara für willkürlich und versprach anstelle der üblichen geometrischen Einteilung des Tierkreises in 12 Segmente eine Häuseraufteilung, die der natürlichen Ordnung des Himmels entsprach.⁴¹⁷ Im Anschluss an Giovanni Pico della Mirandola kritisierte er, dass die üblichen Häusersysteme den geometrischen Punkten eine astrologische Wirksamkeit zuschrieben, wobei die geometrischen Punkte erst durch die Berechnung der Häusergrenzen selbst entstanden. Titi stellte hingegen ein Häusersystem in Aussicht, das mit einer physikalischen Größe, nämlich dem Licht, konvergierte.⁴¹⁸ Er konstatierte: „Das Licht allein ist das Mittel, die causa instrumentalis, durch welches die Sterne die irdische Materie, sowohl die einfachen, wie auch die gemischten Körper beeinflussen.“⁴¹⁹ Die traditionell berechneten Orte der Ekliplik waren für Titi vor allem deshalb uninteressant, da sie nicht leuchteten und daher keinen Einfluss ausüben konnten. Titi verstand seine eigenen Häusergrenzen als völlig real, da sie den Einfluss der Sterne gemäß ihrer Bewegung im Tageslauf um die vier Angelpunkte proportional aufteilten: „hier gehen die Sterne auf, kulminieren und gehen unter und daher sind auch die weiteren Teilungen [der vier Segmente in 12 Häuser] reale und succesive Wirkungen der Sternbewegungen.“⁴²⁰ Die vier Kardinalpunkte, auf denen die Berechnung des Häusersystems fußte, bildeten die Bewegung der Himmelskörper im Tagesverlauf ab oder projizierten sie vielmehr auf eine zweidimensionale Fläche. Durch die scheinbare Bewegung des Himmelsgewölbes von Ost nach West wurde jedes Gestirn wie etwa die Sonne zunächst am Osthorizont (AC)
416 Curry, Prophecy and Power, S. 83. 417 Ebd., S. 83. 418 „Lux et influentia simul sunt.“ Titi, Physiomathematica, S. 69 zitiert nach Knappich, Placido de Titi, http://www.astrotexte.ch/sources/knappich_placidus.html#k1. Knappich bietet eine zitatreiche Zusammenfassung der wesentlichen Thesen dieses Werks, das nicht konsultiert werden konnte. 419 „der motus localis, die notwendige Ursache oder besser Bedingung für die Bildung von Phasen und Stationen des Lichts.“ Titi, Physiomathematica, S. 80, ebd. 420 Titi, Physiomathematica, S. 70, ebd.
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sichtbar, wanderte dann bis zum Meridian und ‚kulminierte‘ im Zenit. Am MC erreichte die Sonne ihren oberen Kulminationspunkt, wohingegen sie nach ihrem Untergang am DC um Mitternacht ihren tiefsten Stand am IC erreichte. Titi legte im Anschluss an Magini keine räumliche Größe zugrunde, sondern eine zeitliche und untergliederte nach Temporalstunden. Er teilte die halben Tag- und Nachtbogen, da die Gestirne auf diesen parallel zum Äquator verlaufenden Bögen aufund untergingen und durch ihren scheinbaren täglichen Lauf ihre spezifische Wirkung ausübten. Das nannte Titi eine proportionale Teilung des Tierkreises. Es handelte sich um eine Unterteilung nach Maßgabe der Stundenkreise, bei der die Häuserspitzen von den Schnittpunkten der Ekliptik mit dem Horizont, dem Meridianbogen und den ungleichen ortsabhängigen Temporalstundenkreisen markiert wurden.⁴²¹ Diese Orientierung an den ‚natürlichen‘ Bewegungen war offenbar vom Gebrauch eines Messinstruments, dem Astrolabium inspiriert, das zur Ermittlung der Sternenstände sowie der Zeitbestimmung diente. Während Regiomontanus’ Positionskreise in das Astrolabium eingeritzt werden mussten, waren die ungleichen Temporalstundenlinien darauf schon eingezeichnet. Für jemanden, der mit einem Astrolabium umgehen konnte, war dieses System ausgesprochen intuitiv. Rein rechnerisch war es weniger simpel. So entwickelte der mathematisch überaus fähige Magini geraume Zeit vor der eigentlichen mathematischen Entwicklung der Logarithmen logarithmenartige Berechnungsweisen der Häuser auf der Grundlage der ungleichen Temporalstundenkreise.⁴²² Sowohl Maginis als auch Titis Verfahren gehörte in die Vorgeschichte der Logarithmen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich bei Titi mitten in einer astrologischen Deutung der Vita des Arztes Bartolomeo Massari warme Empfehlungen des logarithmischen Kalkulus befinden.⁴²³ Maginis und Titis Versuch, die Astrologie an die natürlichen astronomischen Vorgänge rückzubinden und sie als eine Naturwissenschaft zu erweisen, brachte paradoxerweise eine starke Mathematisierung der Astrologie mit sich. So bereinigten Magini und Titi die Berechnung der Häuser zwar um geometrische Operationen, führten stattdessen aber ein algebraisches Verfahren ein, das nicht weniger komplex war. Trotzdem sicherte Titis Versprechen der Orientierung seines Häusersystems an der natürlichen Ordnung das dauerhafte Interesse englischer Astrologen wie
421 North nennt dieses System “hour lines (fixed boundaries) method.” North, Horoscopes and History, S. 46. 422 Magini erstellte auch mathematische Tafeln, die im Zusammenhang der Entwicklung der Logarithmen stehen, die Tabula tetragonica (1592). Ebd., S. 26 f. 423 Titi, Tabulae, S. 132.
Placido Titi: Die Krise von Individuum und Kollektiv
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John Partridge (1644–1715) und John Whalley (1653–1724).⁴²⁴ Diese machten es weithin bekannt, so dass die ‚Häuser nach Placidus‘ bis heute weit verbreitet sind. Auch führte das Interesse an Titis Häusersystem zu einer langanhaltenden Rezeption Titis im englischen Sprachraum. Seine Physiomathematica ist das einzige der frühneuzeitlichen astromedizinischen Traktate, das zusammen mit der 30 Nativitäten umfassenden Horoskopsammlung in eine moderne Sprache übersetzt wurde. Sie wurde 1789 unter dem Titel Astronomy and Elementary Philosophy in London gedruckt.⁴²⁵ Der Übersetzer des Trakats, Manoah Sibly (1757– 1840), teilte mit seinem Bruder Ebenezer Sibly (1751–1799) das esoterische Interesse, das sich auch auf die astrologische Medizin und Prognostik erstreckte.⁴²⁶ Es war kein Zufall, dass Sibly im Jahr 1789 ein Werk übersetzte, das die Methoden der astropolitischen Krisenprognostik erläuterte, wenngleich Titis Analyse der neapolitanischen Revolte von 1647–1648 nicht enthalten war. Stattdessen fand sich in der Übersetzung eine ausführliche Deutung der Nativität von Masaniellos Zeitgenossen Oliver Cromwell aus der Feder John Partridges.⁴²⁷ Die Nativität Cromwells findet sich ohne Namensnennung, aber mit Konterfei am Ende der 30 Nativitäten Titis ohne Angabe des Urhebers.⁴²⁸ Partridge stellte sich einer ähnlichen Aufgabe wie Titi, der retrospektiven Analyse revolutionärer Vorgänge mittels der astrologischen Dechiffrierungskunst. Obwohl die Brüder Sibly Titis Krisenanalyse der neapolitanischen Revolte gar nicht zu kennen schienen, verstanden sie Titis Intention und ihren Zusammenhang zu Partridges politischer Prognostik sehr wohl. Die Ergänzung des Traktats um die Horoskope und Prognosen zur Lebenserwartung von MarieAntoinette und Louis XVI. zeigt, dass die Brüder Sibly das Projekt der politischen Prognostik der frühneuzeitlichen Autoren als aktuell genug empfanden, um es nach mehr als 100 Jahren fortzuschreiben.
424 Curry, Prophecy and Power, S. 79–83. 425 Placido Titi: Astronomy and Elementary Philosophy. London 1789. 426 Allen G. Debus: Scientific Truth and Occult Tradition: The Medical World of Ebenezer Sibly (1751–1799). In: Medical History 26 (1982), S. 259–278, S. 259. 427 Supplement to Placidus de Titus; containing the Nativity of That Wonderful Phaenomenon, Oliver Cromwell. Calculated methodically, according to the Placidian Canons, by the Ingenious Mr. John Partridge (1790). 428 Titi, Astronomy and Elementary Philosophy, zweite unpaginierte Seite nach S. 187.
Teil III
4 Die Staatsräson und die Alterung und Verjüngung des Staates 4.1 Die Figur des Arztes und der Diskurs der Staatsräson 4.1.1 Die Lehre der Staatsräson und der politische Diskurs der Frühen Neuzeit Foucault konstatierte eine Dichotomie zwischen traditioneller juridischer Souveränitätstheorie und dem Diskurs der Staatsräson. Er verstand die Staatsräson als zentrales Element der modernen pragmatischen Regierungskunst, das einen neuen Typus von Rationalität repräsentiere, der sich an keinem Modell der Machtausübung wie dem göttlichen oder natürlichen Gesetz orientiere, sondern ausschließlich an politischen Notwendigkeiten.¹ Den Ursprung dieser neuen Regierungskunst ortete Foucault im Pastorat, einer Herrschaftsform altorientalischen Ursprungs, bei der es sich nicht um eine Herrschaft über ein Territorium, sondern über einen mobilen Verband von Lebewesen handelte.² Dieser personenzentrierten Machttechnik stellte Foucault die der Souveränität gegenüber, welche er als eine territoriale Herrschaft auffasste.³ Die Konzeption der souveränen Herrschaft definiert das Ziel des Staates, das öffentliche Wohl rein juristisch, als „Gehorsam gegenüber dem Gesetz [...] des Souveräns.“⁴ Im Gegensatz dazu zeichnete sich die pastorale Herrschaft durch die selbstlose Sorge des Hirten für seine Herde aus.⁵ Während die Souveränität nur an einem abstrakten Gemeinwohl interessiert sei, das durch die Einhaltung der Gesetze verfolgt würde, hieße Regieren, „jedes Ding zu seinem angemessenen Ziel zu führen.“⁶ Die sorgende Tätigkeit des pastoralen Herrschers richtete sich gemäß Foucault sowohl auf die Individuen als auch auf das Schafkollektiv.⁷ Dieser Typus der pastoralen Macht sei gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts von der religiösen Sphäre in die politische übergegangen, wobei es zu einer Verbindung der gegensätzlichen Machttechniken gekommen sei – der auf das
1 Foucault, Omnes et singulatim, S. 188. 2 Es ergibt sich das Problem, dass die politische Hirtenmetaphorik der griechischen Antike nicht fremd und insbesondere in Platons Staatsmann präsent war. Ebd., S. 173. 3 Foucault, Gouvernementalität I, S. 145. 4 Ebd., S. 149. 5 Ebd., S. 191. 6 Ebd., S. 149. 7 Ebd., S. 191.
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Kollektiv ausgerichteten, souveränen und gesetzesorientierten Macht und der individualisierenden, sorgenden und gesetzesfernen Macht des Pastorats.⁸ Problematisch an dieser Periodisierung ist, dass die beiden angeblich rivalisierenden Betrachtungsweisen des Kollektivs entweder als eine Einheit oder als eine Akkumulation von Individuen bereits im mittelalterlichen Korporationsrecht anzutreffen ist. Dieses war nicht nur für die rechtliche Organisation der Institution der Kirche relevant, sondern auch für säkulare Rechtstheorien.⁹ Die zwei Modi oder Seinsweisen der Glieder eines Kollektivs (universitas) – als Einheit (omnes ut universi) oder als Ansammlung von Individuen (omnes ut singuli) – wurden schon dem Glossatoren Azo im dreizehnten Jahrhundert beschrieben. Zahlreiche frühneuzeitliche Theoretiker der Volkssouveränität wie Johannes Althusius benutzten sie zur Definition von Herrschaftsverhältnissen.¹⁰ Die Elemente der pastoralen Machttechnik gingen offensichtlich schon viel früher in die politische Theorie und Praxis ein und standen nicht in Gegensatz zum Recht. In Hinblick auf die Lehre der Staatsräson differenzierte Foucault zwischen Machiavelli und den Theoretikern der Staatsräson, die er in der Strömung des Antimachiavellismus verortete. Daher trat Machiavelli bei ihm erstaunlicherweise als Vertreter der traditionellen territorialen Herrschaftskonzeption in Erscheinung: Bei Machiavelli ist das Verhältnis des Fürsten zu seinem Fürstentum durch Singularität, Äußerlichkeit und Transzendenz bestimmt. Es gibt keine grundlegende, wesentliche, natürliche und rechtliche Zugehörigkeit des Fürsten zu seinem Fürstentum.¹¹
Foucault suggeriert, dass dies bei dem entgegengesetzten Machttypus, dem Pastorat, anders sei. Aber auch der Hirte ist kein Teil seiner Herde in der Weise, wie es etwa ein Leithammel wäre, sondern trat seiner Herde von außen gegenüber. Als Teil der Herde konnte der Hirte nur unter Zugrundelegung eines extensiven Einheitsbegriffs verstanden werden. Die aus der stoischen Tradition stammende Diskussion des Verhältnisses von Teil zu Ganzem führte zu einer Differenzierung von Zusammenschlüssen nach unterschiedlichen Graden von Nähe und Verbun-
8 Foucault, Omnes ut singulatim, S. 167. 9 Otto von Gierke: Die Staats- und Korporationslehre des Alterthums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland. In ders.: Das deutsche Genossenschaftsrecht. Band 3. Graz 1954, S. 391. 10 Brian Tierney: Religion, Law, and the Growth of Constitutional Thought 1150–1650. Cambridge u. a. 1982, S. 74. 11 Foucault, Gouvernementalität I, S. 139.
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denheit der Glieder.¹² Typische Beispiele für corpora continua, die sich durch die maximale Nähe der Teile auszeichneten, waren Lebewesen, zu denen auch der menschliche Körper zählte. Titel wie Aristoteles’ De partibus animalium¹³ über die Anatomie und Physiologie der Tiere bezeugen, dass die Beschäftigung mit den Gliedern von Lebewesen und ihrem Verhältnis zum Gesamtkörper im Wesentlichen eine naturphilosophische war. Zu den corpora composita zählten Verbände wie das Schiff und das Haus. Die losesten Zusammenschlüsse waren in Senecas Terminologie corpora ex distantibus. Zu ihnen zählten neben der Herde auch Heer, Chor, Versammlung, ecclesia, societas, bei Seneca auch populus und senatus.¹⁴ Diese korporativen Figuren erlangten in der Folge eine große Bedeutung für die Beschreibung von zusammengesetzten Personeneinheiten mit wechselnden Gliedern, für die Macht- und Rechtsverhältnisse zwischen den verschiedenen Gliedern der ekklesiastischen und säkularen Institutionen, aber auch für die naturphilosophische Beschreibung der Organisation von Lebewesen.¹⁵ Die Figur der Herde war also schon seit der Antike ebenso rechtlich konnotiert wie die anderen genannten Figuren.¹⁶ Im römischen Recht konstituierte die Herde einen Rechtsgegenstand, wobei der Hirte oder Besitzer in ein eigentumsrechtliches Verhältnis zu ihr trat.¹⁷ Es war also kein Spezifikum der Souveränitätstheorie, das Verhältnis des Herrschers zu seinem Territorium samt Einwohnern eigentumsrechtlich zu bestimmen. Foucaults These eines prinzipiellen Gegensatzes zwischen dem Zusammenschluss der Herde und den restlichen corpora ex distantibus in der griechischen Antike funktioniert also bereits für die römische Antike nicht. Das geringere Interesse der griechischen Philosophen an der Hirtenmetapher und die Präferenz der Vergleiche zur Seefahrt hatte seinen Hintergrund sehr wahrscheinlich in der realen Relevanz der Seefahrt und der vergleichsweise geringen Bedeutung
12 Dohrn-van Rossum, Politischer Körper, Organismus, Organisation, S. 51–55. 13 Aristoteles: Über die Teile der Lebewesen. Übers. u. erl. von Wolfgang Kullmann. In ders.: Werke in deutscher Übersetzung. Zoologische Schriften. Bd. 17, 1. Berlin 2007. 14 Dohrn-van Rossum, Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper, S. 525. 15 Z.B. bei William Harvey, vgl. hier Kap. 2.3.4. 16 Foucault behauptet das Gegenteil: „Die Griechen sagten auch, dass die Gottheit die Gemeinde rettete; und sie verglichen den guten Führer immer mit einem Steuermann, der sein Schiff von den Riffen fern hält. Die Art und Weise, wie der Hirte seine Herde rettete, ist jedoch ganz anders.“ Focault, Omnes ut singulatim, S. 169. 17 Wojciech Dajczak: Erwägungen des Pomponius zur Natur des corpus im dreißigsten Buch des Kommentars ad Sabinum (D.41.3.30pr.). Inspirationsquelle für die historisch-vergleichende Diskussion über den Eigentumsgegenstand. In: Revue Internationale des droits de l’Antiquité 52 (2005), S. 117–130, S. 121 f.
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der Viehwirtschaft auf griechischem Boden. Auch für die altorientalischen Herrscher dürfte die bevorzugte Form der Subsistenz eine wichtige Inspiration für die Bedeutung der Hirtenmetapher gewesen sein. Denn sie betätigten sich höchstpersönlich als Viehzüchter und betrieben Weidewirtschaft.¹⁸ Die Relevanz des Pastorats seit der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts dürfte sich ebenfalls der wirtschaftlichen Entwicklung verdanken, vor allem dem Aufschwung der Viehund Weidewirtschaft.¹⁹ Foucault brachte pastorale und souveräne Macht in scharfen Kontrast. So bezeichnete er den oft beschriebenen Austausch von Attributen und Ritualen wie etwa dem der Salbung zwischen säkularer und sakraler Ordnung im Mittelalter als bloßes Ornament. Trotz aller wechselseitiger Inspiration sei der König König geblieben und der Pastor Pastor.²⁰ Der Vorwurf traf allerdings auch Foucaults eigene Hirtenrhetorik, durch die der Herrscher ebenfalls nicht zu einem wirklichen Hirten wurde, der die Paarung der Individuen organisierte, Junge aufzog und Kranke verarztete. Foucault fasste die Lehre der Staatsräson als Fortsetzung des pastoralen Ansatzes auf, der einen eigenen Typus politischer Rationalität ausgebildet habe. Er stützte seinen Begriff der Rationalität auf Antonio Palazzos Definition der ragione di stato. Palazzo beschrieb sie einerseits als Substanz, andererseits als Regel oder Richtschnur des politischen Handelns und schrieb ihr die Funktion zu, den Staat und die Macht des Fürsten zu erhalten.²¹ Auf dieser Grundlage betrachtete Foucault die Staatsräson als eine neue Art des politischen Kalküls und identifizierte die mit ihr verbundenen Herrschergeheimnisse, die arcani imperii, mit der Statistik.²² Der Schluss von Palazzos Definition auf die Entstehung einer neuen Art des politischen Kalküls in Form der politischen Statistik ist allerdings gewagt, zumal die politische Arithmetik um 1600 noch kaum existierte und praktisch wenig relevant war.²³
18 Oded Borowski: Sheep. In: Navid Noel Freedman (Hg.): Eerdmans Dictionary of the Bible. Grand Rapids u. a. 2000, S. 1203–1204, S. 1203. 19 Vgl. Saverio Russo, Biagio Salvemini: Ragion pastorale, ragion di Stato. Spazi dell’allevamento e spazi dei poteri nell’Italia di età moderna. Rom 2007. Der Titel ist allerdings irreführend, denn die Monographie behandelt nur die Geschichte der Tierzucht in Italien im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, aber nicht die Staatsräson. 20 Foucault, Gouvernementalität I, S. 227 f. 21 Zu Palazzo vgl. hier Kap. 2.1.1. 22 Foucault, Gouvernementalität I, S. 396. 23 Es existierten Ansätze, wie in Kap. 3.3 ausgeführt wurde. Was die praktische Relevanz angeht, so gab es noch im achtzehnten Jahrhundert erhebliche Probleme, statistische Daten überhaupt zu erheben. Vgl. etwa Lars Behrisch: Vermessen, Zählen, Berechnen des Raums
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Diese neue Form des politischen Kalküls orientierte sich gemäß Foucault weder an der Ordnung der Gesetze noch an einer anderen Form der Ordnung. Daher brach die Staatsräson in seinen Augen mit der christlichen und rechtlichen Tradition, einschließlich der des Naturrechts und des göttlichen Rechts.²⁴ Foucaults These, dass sich die Regierung auf der Basis der Staatsräson an keinem Modell orientierte, war weniger aus Quellenmaterial gewonnen denn aus der Annahme eines Umbruchs vom renaissanten Epistem der Ähnlichkeit zu jenem der Repräsentation des sogenannten ‚klassischen Zeitalters‘ abgeleitet.²⁵ Die Gültigkeit der These des Umbruchs ist für die Naturphilosophie und Medizin des frühen siebzehnten Jahrhunderts verschiedentlich bezweifelt worden.²⁶ In der politischen Theorie sieht es ähnlich aus. Wie zu zeigen sein wird, sind die italienischen Staatsräsontraktate voller Vergleiche zur Naturphilosophie und zu den ärztlichen Praktiken. Die Nähe zur Naturphilosophie und Medizin scheint geradezu das Spezifikum dieser um 1600 entstandenen Traktate.
4.1.2 Die italienische Literatur der Staatsräson Die stattliche Anzahl von italienischen Publikationen zur Staatsräson²⁷ bezeugt die große Popularität des Themas, die sich nicht auf gelehrte Kreise beschränkte. So spottete Traiano Boccalini, dass sich inzwischen „sogar Händler und Gepäckträger auf keine andere Wissenschaft so gut verstehen wie auf die Staatsräson.“²⁸ Auch der Neapolitaner Giulio Cesare Capaccio konstatierte eine verbreitete Beschäftigung mit der Staatsräson in allen gesellschaftlichen Schichten: Ehrlich gesagt, diese Staatsräson [...] ist ständig in aller Munde, in der Küche wird über sie nachgedacht, im Bordell darüber gestritten, die Adligen zelebrieren sie, die Patrizier blasen
im 18. Jahrhundert. In ders. (Hg.): Vermessen, Zählen, Berechnen: die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert. Frankfurt/M. 2006, S. 7–26; ders.: „Politische Zahlen.“ Statistik und die Rationalisierung der Herrschaft im späten Ancien Régime. In: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 551–577. 24 Foucault, Omnes ut singulatim, S. 186. 25 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/M. 1974, S. 83. 26 Ian Maclean: Foucault’s Renaissance Episteme Reassessed: an Aristotelian Counterblast. In: Journal of the History of Ideas 59 (1998), S. 149–166. 27 Vgl. die Übersicht der Publikationen in Kap. 1.1.2, hier S. 7–10. 28 „Tacito, prima [sic!] autor solo stimato degno de’prìncipi, ora così pubblicamente va per le mani d’ognuno, che, fino i bottegai e i facchini non d’altra scienza mostrandosi più intendenti della ragion di Stato.“ Boccalini, Ragguagli del Parnaso I, 86, S. 404 f.
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sich damit auf und es erklären sogar die Astrologen, dass sich die Sphären aufgrund der Staatsräson bewegten.²⁹
Gemäß Zuccolo machte die Faszination auch vor Handwerkern und Barbieren nicht Halt: Und daher kommt es, dass nicht nur die Berater an den Höfen und die Akademiker an den Universitäten, sondern sogar die Barbiere und andere einfache Handwerker in den Werkstätten und anderen Orten, an denen sie sich treffen, darüber diskutieren und während sie die Frage der Staatsräson debattieren, bilden sie sich ein, dass sie wüssten, was aufgrund von Staatsräson unternommen würde und was nicht.³⁰
Es handelte sich also um ein äußerst beliebtes politisches Schlagwort, das weit über die akademische Welt hinaus bekannt war.³¹ Für seine Verbreitung sorgte auch eine unerwartete Partei, nämlich die Jesuiten mit ihren politischen Predigten.³² Jesuiten und Prediger anderer Orden leisteten im Zuge ihrer Bildungsbestrebungen einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Vermittlung von Machttechniken, sondern auch der politischen Strategien, die sich zum Widerstand gegen diese eigneten.³³ Die Unschärfe des Begriffs der Staatsräson führte dazu, dass buchstäblich alles unter dem Gesichtspunkt der Staatsräson betrachtet werden konnte. So konstatierte Zuccolo: „Jedenfalls hat meines Wissens nach bis jetzt keiner der Gelehrtesten und Belesensten zu erklären gewusst, was die Staatsräson nun wirklich sei, und in was sie bestünde.“³⁴ 1621 waren freilich zahlreiche Defini-
29 „A dirne il vero, questa ragion di stato, o da me non è intesa, dagli altri non ben capita, o per sé stessa è mala, o ’l mondo l’ha ritrovata per far perdere il cervello, perché impastata con tutti gli affari humani e con tutte occorrenze, o sian frivole o gravi; utili o dannose; da senno et di passatempo, non sa partirsi dalle bocche degli homini, et in cocina se ne ragiona, in bordello ha il suo grido; nobili l’han per cerimonia, plebei si ci fan grandi; et insino gli astrologi dicono che per ragion di stato si movono i cieli.“ Giulio Cesare Capaccio: Il Forastiero. Neapel 1634, S. 374. 30 „E quindi nasce, che non pure i Consiglieri nelle Corti, e i Dottori nelle scole; ma i Barbieri etiando, e gli altri più vili artefici nelle boteghe, e nei ritrovi loro discorrono, e questionando della Ragione di Stato, et si danno à credere di conoscere, quali cose si facciano per Ragione di Stato, et quali nò.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 54 f. 31 Villari, Revolt of Naples, S. 176. 32 “[...] religious preaching contributed to a growth of popular political education, often with results that were different from the ones intended.” Ebd., S. 176. 33 Ebd., S. 176. Das Problem der schwer kalkulierbaren Wirkung politischer Predigten sprach auch Settala an, der alle Formen solcher Predigten verbieten wollte, da sie stets für Aufruhr sorgten, ganz gleich, was ihr Thema war. Settala, Ragion di stato, S. 138. 34 „Tuttavia niuno fin’hora anco degli huomini più saggi, e più letterati hà saputo à giudicio mio ben dichiarare, che chosa sia Ragione di Stato, et in che consista.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 55.
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tionen der Staatsräson im Umlauf, so dass es sich auch um eine Werbung für Zuccolos eigene Definition handelte. Die Debatte über die Staatsräson wird im Folgenden vornehmlich anhand der Theorie Zuccolos diskutiert, die eine der originellsten Stellungnahmen zum Thema darstellte, die bereits in der Frühen Neuzeit gewürdigt wurde.³⁵ Ludovico Zuccolo war der Sohn eines Adligen aus Faenza, der während einer fünfjährigen Galeerenstrafe infolge eines Häresieprozesses ums Leben kam.³⁶ Zuccolo studierte in Bologna Philosophie, möglicherweise auch Naturphilosophie. Später lehrte er dort und an der Universität Padua.³⁷ Er stand als Sekretär im Dienst mehrerer hoher Kleriker wie Innocenzo Massimi, Nuntius in Spanien, und dem Kardinalslegaten Bernadino Spada. Am bekanntesten ist seine Tätigkeit am Hof von Francesco Maria II., Herzog von Urbino.³⁸ Neben dem Staatsräsontraktat verfasste Zuccolo weitere politische Schriften, darunter drei utopische.³⁹ Darüber hinaus äußerte er sich zur Poetologie der italienischen Dichtung und verfasste selbst Gedichte.⁴⁰ Über seine politische Tätigkeit am Hof war Zuccolo nicht sehr glücklich, sondern konstatierte: „Nachdem ich das Studium abgeschlossen hatte, begab ich mich in die Sklaverei.“⁴¹ Zuccolo verfügte über naturphilosophische und medizinische Kenntnisse, wenngleich unklar ist, wie er sie erworben hat. Der Portugiese João Monteiro beschuldigte Zuccolo vor der römischen Inquisition, die Unsterblichkeit der Seele zu leugnen und sich dabei auf Epikur, Galen und den zeitgenössischen Gelehrten Paolo Sarpi zu stützen.⁴² Monteiro warf ihm allerdings auch vor, im Anschluss an Machiavelli den instrumentellen Charakter der Religion für die Politik behauptet zu haben
35 Zuccolo ist die wichtigste Referenz für Settala, dessen Traktat in Kap. 5.7. behandelt wird. In Frankreich bezogen sich Gabriel Naudés Bibliographia Politica (1633), in Deutschland Hermann Conrings Civilis prudentia liber unus (1662) anerkennend auf ihn. Pissavino, Le ragioni della Repubblica, S. 41. Vgl. auch Viroli, From Politics to Reason of State, S. 4, 275. 36 Pissavino, Lodovico Zuccolo, S. 27. 37 Ebd., S. 32. 38 Ebd., S. 11, 22. 39 La città felice, La repubblica d’Evandria und L’aromatario, ovvero della republica d’Utopia. Der letztgenannte Text enthielt einen Angriff auf Thomas Morus. Zuccolo wurde gezwungen, den heilig und selig gesprochenen Morus nicht namentlich zu erwähnen. Luigi Firpo: Lodovico Zuccolo politico e utopista. In: Convegno di studi in onore di Ludovico Zuccolo nel quarto centenario della nascita. Faenza, 15.–16. März 1969. Faenza 1969, S. 75–92, S. 84. 40 Giulio Bertoni: Componimenti poetici inediti. In: Convegno di studi in onore di Ludovico Zuccolo nel quarto centenario della nascita. Faenza, 15.–16. März 1969. Faenza 1969, S. 93–105, S. 95. 41 „Mi posi, compito lo studio, alla servitú.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 290. 42 Pissavino, Lodovico Zuccolo, S. 27.
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und zu lehren, dass die Religion ein Vorwand der Herrscher sei, um das Volk am Zügel zu halten.⁴³ So ist unklar, ob es naturphilosophischer Atomismus, allgemeines Freidenkertum oder die positive Haltung zur Staatsräson war, die zur Anklage führte. Das Thema der Staatsräson war schon wegen der Machiavelli-Rezeption brisant. Es war darüber hinaus nicht nur zensur-, sondern auch revoltenaffin. Die italienischen Staatsräsontraktate divergierten bezüglich der in ihnen vorgetragenen politischen Konzeptionen erheblich. Diese Ambivalenz fand sich bereits bei Machiavelli, der in den Discorsi republikanische Thesen vorgetragen hatte, im Principe hingegen autokratische. Die italienische Staatsräsonliteratur führte das bei Machiavelli angelegte Spektrum von Konzeptionen fort. Während Palazzo und Cavriana mit der zeitgenössischen Souveränitätstheorie vertraut waren und dem autokratisch-royalistischen Spektrum zuzurechnen sind, vertraten Zuccolo und Settala republikanische Theorien. Boccalinis Ragguagli di Parnaso fanden großen Anklang bei den Rosenkreuzern, die einen Teil des Textes in ihr erstes Manifest, die sogenannte Fama Fraternitatis (1614), aufnahmen.⁴⁴ Die Geheimbündler waren sehr geneigt, die gewünschte universale Reform mittels einer Revolte herbeizuführen, wovon ihr Engagement im Böhmischen Aufstand von 1618 und dem anschließenden Winterkönigtum Friedrichs V. von der Pfalz zeugt.⁴⁵ Ähnlich wie bei Campanella trat hier die Lehre der Staatsräson kombiniert mit politischen und religiösen Bestrebungen nach einer Universalreform auf. Die Annahme, dass die Lehre der Staatsräson ein absolutes Novum in der Frühen Neuzeit dargestellt habe, impliziert einen radikalen Umbruch im politischen Denken, den Foucault mit dem Wechsel von der ptolemäischen zur heliozentrischen Kosmologie verglich.⁴⁶ Ob die Lehre der Staatsräson neu war, ist jedoch fraglich. Als neu wahrgenommen wurde sie zunächst nicht. In den zahlreichen Tacitus-Kommentaren⁴⁷ wurde angenommen, dass die Staatsräson dem
43 Carlo Ginzburg: Una testimonianza inedita su Ludovico Zuccolo, in: Rivista storica italiana LXXIX (1967), S. 1122–1128, S. 1126 f. 44 Die Übersetzung von Ragguagli di Parnaso I, 77 („Generale Riforma dell’Universo da i sette savi della Grecia e da altri letterati, pubblicata di ordine di Apollo“) war die erste Übertragung des Textes ins Deutsche. 45 Yates, Giordano Bruno, S. 85. 46 Foucault, Gouvernementalität I, S. 348. 47 Burke zählt mehr als 100 Traktate zwischen 1580 und 1700. Burke, Tacitism, S. 485. Zur politischen Tacitus-Rezeption Kenneth C. Schellhase: Tacitus in Renaissance Political Thought. Chicago, London 1976. Allerdings werden wichtige Autoren wie Filippo Cavriana nicht erwähnt.
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römischen Historiker Cornelius Tacitus und anderen antiken Philosophen vielleicht nicht dem Namen, aber der Sache nach bekannt gewesen sei.⁴⁸ So galt vor allem der in den ersten sechs Büchern von Tacitus’ Annalen (Annalium ab excessu divi Augusti libri) ausgesprochen ambivalent geschilderte römische Kaiser Tiberius den Theoretikern der Staatsräson als Meister der Staatsräson.⁴⁹ Diese Meisterschaft wurde auf Tiberius’ Fähigkeit zur Verstellung (dissimulatio) und Täuschung (simulatio) zurückgeführt. Die Diskussion der Autoren der Staatsräson über simulatio und dissimulatio stützte sich auf Aussagen römischer Historiker wie Tacitus und Velleius Paterculus, die diese Fähigkeiten als vorzügliche Herrschertugenden schilderten.⁵⁰ Die Theoretiker der Staatsräson hielten simulatio und dissimulatio ebenfalls für wichtige Regierungsqualitäten.⁵¹ Auch der Begriff der arcana imperii, der Herrschaftsgeheimnisse, stammte nicht aus der Frühen Neuzeit, sondern von Tacitus, der ihn im Zusammenhang der augusteischen und tiberischen Herrschaft verwendete.⁵² Tacitus war nicht der einzige antike Gelehrte, auf den sich die Theoretiker der Staatsräson beriefen – neben Thukydides war es auch Aristoteles’ Politik, deren Bücher Vier bis Sechs die Maßnahmen zum Machterhalt vor allem von Tyrannen schilderten, wie Zuccolo bemerkte: Aber wer aufmerksam das fünfte Buch der Politik des Aristoteles liest, insbesondere das elfte Kapitel, und fleißig die Handlungen Philipps von Mazedonien und Alexander dem Großen, von Augustus und Tiberius und hundert anderen dieser Art [d.i. Tyrannen] studiert, wo man so lebendig jene Staatsräson dargestellt findet, von denen wir heute so raffinierte Meister in Italien und Spanien haben, wird feststellen, dass der Zweifel [an der Existenz der Staatsräson in früheren Epochen] kindisch ist.⁵³
48 „Manche bezweifeln, dass die antiken Philosophen die Staatsräson kannten, wobei das Problem vor allem daher kommt, dass der Begriff der Staatsräson neu ist.“ („Dubitano alcuni, se gli antichi conoscessero la Ragion di Stato: e nasce la difficoltà principalmente dall’esser nuovo il nome di Ragion di Stato.“) Zuccolo, Considerationi politiche, S. 66. 49 Da Zuccolo Tiberius als Tyrannen betrachtete, hielt er das für einen fatalen Irrtum. Er betrachtete auch Augustus, den Begründer des römischen Prinzipats, als Tyrannen, was zeigt, wie wenig er von der Monarchie hielt. Ebd., S. 66. 50 Vgl. etwa Zwi Yavetz: Tiberius. Der traurige Kaiser. München 1999, S. 178. 51 Rosario Villari: Elogio della dissimulatione. La lotta politica nel Seicento. Rom, Bari 2003, S. 17–29. 52 Cornelius Tacitus, Annalen I, 6 [über die arcana domus]; II, 36; II, 59 [Herrschaft Roms über Ägypten]. 53 „Ma chi legge attentamente il quinto della Politica di Aristotele, et prinicipalmente l’undecimo capo, et chi diligentemente esamina le attioni di Filippo Macedone, e di Alessandro il figlio, e di Ottavio, e di Tiberio, e di cento altri sì fatti, dove si vede al vivo espressa quella Ragione di Stato, della quale habbiamo hoggidì sì fini Maestri in Italia, et in Hispania, sì accorgerà,
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Auch der Begriff der ratio status hatte seine Vorläufer im weltlichen und kanonischen Recht des Mittelalters, wo vielfach von der ratio publicae utilitatis, ratio necessitatis, ratio status, ratio regis und ratio Ecclesiae die Rede war.⁵⁴ Das erwähnte allerdings keiner der Theoretiker der Staatsräson, entweder, weil ihnen diese Tradition unbekannt war (keiner von ihnen war Jurist) oder weil sie sich bewusst von ihr abgrenzen wollten.
4.1.3 Das Wesen der Staatsräson Die erste und bekannteste Definition der Staatsräson stammte von Giovanni Botero, der den Staat als „eine feste Herrschaft über die Völker“ beschrieb, und die Staatsräson als „die Kenntnis der Mittel, um eine solche Herrschaft zu gründen, zu erhalten oder zu vergrößern.“⁵⁵ Während Botero den Erhalt des Staates als das wichtigste Ziel bezeichnete, gefolgt von der Expansion und der Gründung, verschärfte Zuccolo die These, indem er dem Erhalt, der conservatione, absolute Priorität einräumte und die Expansion für inkompatibel mit der Staatsräson erklärte.“⁵⁶ Settala, der Zuccolos Gedankengang fortsetzte, gab folgende Begründung: Das Wachstum des Staates scheint sich nicht allzu gut mit der Staatsräson zu vertragen, denn da diese primär auf den Erhalt der Form der Herrschaft abzielt, kann man nicht gut davon sprechen, dass die Form wachse.⁵⁷
Unter Form des Staates verstand Zuccolo den Verfassungstyp: „Der Begriff Verfassung [constitutione] und Form des Staates sind für mich eigentlich gleich-
che’l dubbio è da fanciulli.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 66. Das fünfte Buch der Politik war auch die Inspiration für die umstrittensten Kapitel von Machivellis Principe, was allseits bekannt war. 54 Post, Studies in Medieval Legal Thought, S. 253–269, Tierney, Conciliar Theory, S. 46 und Viroli, From Politics to Reason of State, S. 272. 55 „Stato è un dominio fermo sopra popoli; e Ragione di Stato è notizia di mezi atti a fondare, conservare, e ampliare un Dominio così fatto.“ Botero, Ragion di stato, S. 9. 56 „L’accrescimento poi del dominio non pare, che troppo bene si accommodi con la Ragione di Stato.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 61. 57 „L’accrescimento poi del dominio non pare che troppo bene si accomodi con la ragion di stato: perché essendo questa principalmente indrizzata alla conservazione della forma del dominio, non si potrá se non impropriamente dire accrescer la forma.“ Settala, Ragion di stato, S. 67 f.
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bedeutend.“⁵⁸ Er deutete die Form als eine Art Spezies, die nicht gut anwachsen konnte, ohne zu einer anderen Spezies zu mutieren, was wiederum den Erhalt gefährdete. Daher subsumierte Zuccolo die Maßnahmen zur Expansion unter jene der Gründung von Staatsgebilden.⁵⁹ Aus der Definition der Staatsräson als Mittel zum Erhalt des Staates ergaben sich für die politischen Theoretiker zwei Fragen. Erstens, wie verhielt sich die Staatsräson zur Moral und zur Rechtsordnung? Zweitens, um wessen Erhalt ging es? Den des Herrschers oder den des Staates? Es galt, die Staatsräson vor dem Vorwurf zu retten, dass sie jede ruchlose politische Handlung, die zur Sicherung von tyrannischer Herrschaft diente, miteinschloss. Girolamo Frachetta bezeichnete die Staatsräson als eine „klare Regel, mittels derer sich alle Dinge regieren lassen, je nachdem, was der Nutzen desjenigen verlangt, zu dem sie gehören.“⁶⁰ Analog dazu sei die Staatsräson des Krieges (ragion di guerra) eine „klare Regel, die militärischen Angelegenheiten gut zu regieren.“⁶¹ Wie sich diese klaren Regeln zur rechtlichen und moralischen Ordnung verhielten, blieb allerdings vage. Palazzo unterschied zwischen einer ‚wahren‘ und einer ‚falschen‘ Staatsräson: ‚Wahr‘ war die Staatsräson, wenn sie dem Wohl von Fürst und Volk gleichermaßen diente und den Staat ebenso wie die Macht des Fürsten stabilisierte.⁶² Dabei identifizierte Palazzo die Staatsräson mit der Regierung (governo) und Regierungskunst (arte di governo).⁶³ Nun dienten neben der Staatsräson auch andere politische Institutionen wie die Gesetzgebung fraglos demselben Zweck.⁶⁴ Daher setzte Palazzo die Argumentation souveränitätstheoretisch fort: Auch wenn Fürsten nicht an das geltende Recht gebunden seien, könnten sie dieses nicht willkürlich überschreiten und nach Gutdünken abändern.⁶⁵ Damit
58 „il nome di costitutione, et di forma della Republica à me significano quasi il medesimo.“ Ebd., S. 63. 59 Ebd., S. 61. 60 „una dritta regola, con la quale si governano tutte le cose, secondo che richiede l’utile di colui, a cui appartengono.“ Settala, Ragion di stato, S. 55. Wörtlich bei Frachetta, Seminario de’governi di Stato, S. 87. 61 „Ragione di guerra significa una diritta regola di ben governare le faccende militari.“ Frachetta, L’idea del libro de’governi di Stato, S. 37 f. 62 „Questa ragion di stato, et arte eccellentissima di governare, che stabilisce tutta la Republica, e la potestà dei Prinicipi.“ Palazzo, Discorso del governo, S. 19. 63 „governo, e ragion di stato, et arte di governare, non differiscono eccetto in nome.“ Ebd., S. 20. 64 „Appresso poi gli huomini, secondo l’intentione di questi primi maestri hanno constituite regole, e leggi per stabilire, e governare le sole humane.“ Ebd., S. 20. 65 Er wandte sich dabei gegen jene, die annahmen, dass die Fürsten die Gesetze überschreiten und korrigieren könnten. Ebd., S. 23.
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optierte Palazzo für die These Bodins, dass der Fürst zwar legibus solutus, also von den irdischen Gesetzen losgelöst war, nicht aber von den göttlichen. Wenn er Gesetze änderte oder ‚korrigierte‘, sollte dies nicht „gegen den Geist und Willen Gottes“⁶⁶ geschehen. Das heißt, die wahre Staatsräson (la ragion vera di stato) musste mit der göttlichen Vernunft konform gehen und die irdischen Gesetze konform mit den göttlichen. Palazzo identifizierte die wahre Staatsräson mit der Staatsklugheit (prudentia politica) und erklärte die Staatsräson für zuständig, die Staatsklugheit in die Tat umzusetzen. So integrierte Palazzo die Staatsräson in die Sphäre der regulären Politik und Legalität. Bei Scipione Ammirato wurde das Spezifische der Staatsräson deutlicher. Dafür geriet sie in Gegensatz zur Gesetzesordnung. Ammirato hielt es für unsinnig, eine politische Handlung, die sich auf rechtliche Prinzipien zurückführen ließ, als Handeln gemäß der Staatsräson zu bezeichnen: Es ist nicht sinnvoll, davon zu sprechen, dass ein Fürst etwas aufgrund der Staatsräson getan hat, wenn man nachweisen kann, dass er es aufgrund von zivilrechtlichen Bestimmungen getan hat. Und weil jemand, der behauptet, dass er etwas aufgrund des Kriegsrechts besitzt, nicht zugleich vertreten kann, dass er es durch Kauf, durch Schenkung, durch Erbfolge oder aufgrund anderer zivilrechtlicher Regelungen besäße, so spricht man auch davon, dass eine Sache aufgrund von Staatsräson getan wurde, und ihr kann keine weitere der genannten Ursachen zugeschrieben werden.⁶⁷
Damit trennte Ammirato die Staatsräson radikal vom Zivilrecht, um sie anschließend zu den verschiedenen Formen des Rechts ins Verhältnis zu setzen. Ammirato unterschied zwischen Naturrecht, bürgerlichem Recht, Kriegsrecht und Völkerrecht.⁶⁸ Er setzte die rechtlichen Sphären in ein hierarchisches Verhältnis zueinander und warf die Frage auf, ob dieses der Hierarchie zwischen den verschiedenen Seelenanteilen der Lebewesen entsprach, „ob es zwischen ihnen eine hierarchische Ordnung gibt, so wie man vom Bewusstsein der vegetativen Seele
66 „contro la mente, e volontà di Dio.“ Ebd., S. 24. 67 „E non convien dire che un Principe faccia cosa alcuna per ragione di stato, se può mostrare che ciò faccia per ragione d’ordinaria giustizia. Imperoche si come colui dimostra possedere una cosa per ragion di guerra, che non può mostrare di possederla per compera, o per dote, o per successione, o per altra ragione civile; cosi allora si dice una cosa per ragion di stato essere stata fatta, che altra ragione delle già dette non se ne può assegnare.“ Ammirato, Discorsi sopra Cornelio Tacito, S. 194. 68 „E perche appresso i Latini, et appresso i Toscani habbiam ragion di natura, ragion civile, ragion di guerra, e ragion delle genti.“ Ebd., S. 191.
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zur sensitiven schreitet, und von der sensitiven zur vernünftigen.“⁶⁹ Ähnlich wie Palazzo kombinierte Ammirato juristische und naturphilosophische Argumente in der politischen Theorie. Ammirato ging, der stoischen Konzeption folgend, von einem naturrechtlichen Zustand der Freiheit aus, in dem alle Menschen frei und gleich waren: „Und es gibt keinen Zweifel, dass wir alle aus einer einzigen Fleischmasse geschaffen wurden, und dass es keinen qualitativen Unterschied oder naturrechtlichen Adel unter den Sterblichen gibt, weshalb wir alle frei geboren sind.“⁷⁰ Doch mit der Vergesellschaftung trat das Zivilrecht in Kraft, das die naturrechtlichen Bestimmungen einschränkte. Durch die Vergesellschaftung entstanden auch unterschiedliche soziale und politische Einheiten. Das führte zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Um diese zu regulieren, bedurfte es kriegsrechtlicher Bestimmungen, die wiederum das Zivilrecht einschränkten. Schließlich erfuhren die kriegsrechtlichen Bestimmungen eine Einschränkung durch das ius gentium, das Völkerrecht, das Ammirato mit dem Beispiel der Immunität von Botschaftern und Unterhändlern für Friedensverhandlungen illustrierte.⁷¹ Aus der historischen Abfolge der Entstehung folgerte Ammirato eine Hierarchie der Rechtsbereiche, in der das übergeordnete Recht die untergeordneten Bestimmungen im Konfliktfall aufhob. Insofern war der Vergleich zu den drei Seelenarten stimmig, denn auch diese koexistierten normalerweise. Nur im Konfliktfall übernahm die höhere Seelenart das Kommando. Auch die Staatsräson verhielt sich zu den anderen Rechtsbereichen einschränkend. Ammirato verglich sie mit einem Privileg, das die geltenden Gesetze nicht aufhob, sondern nur einen bestimmten Sachverhalt von einer rechtlichen Bestimmung ausnahm.⁷² Während Privilegien Ausnahmen und Überschreitungen von Gesetzen zugunsten von Individuen waren, verstieß die Staatsräson zugunsten eines höheren Gutes, dem Gemeinwohl, gegen die Rechtsordnung:
69 „se in esse è alcun ordine di maggioranza, come dalla cognizion dell’anima vegetativa alla sensitiva, e dalla sensitiva alla regionevole si trapassa.“ Ebd., S. 191. 70 „E non è alcun dubbio essendo tutti noi d’una massa di carne creati, niuna differenza di gradi, o di nobiltà per legge di natura essersi tra mortali, e per questo tutti nascer liberi.“ Ebd., S. 191 f. 71 Ebd., S. 192 f. 72 Ammirato sprach in dem Zusammenhang von derogare, also von aufheben oder ausnehmen, z. B. derogiere das bürgerliche Recht das Naturrecht: „la legge civile alla naturale derogando“. Ebd., S. 192.
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sie ist die Überschreitung des geltenden Rechts zugunsten einer höheren und universaleren Vernunft – so wie das Privileg das Zivilrecht zugunsten eines Einzelnen korrigiert, so tut es diese [die Staatsräson] zugunsten Vieler.⁷³
Das Gemeinwohl konnte gemäß Ammirato auch mit dem individuellen Wohl des Fürsten zusammenfallen: Daher können wir auch sagen, dass die Staatsräson ein Privileg des Fürsten ist, was bedeutet, dass er die normale Rechtsordnung derogieren kann, um seine eigene Person gegen Angreifer zu verteidigen, obwohl wir gesagt haben, dass die Staatsräson, die auf das Allgemeine ausgerichtet ist, dem Privileg, das die spezielle Person betrifft, entgegengesetzt ist, denn insofern in diesem Fall die Person des Fürsten nicht mehr als Privatperson betrachtet wird, sondern als öffentliche Person, ist folglich auch hier das Allgemeine betroffen.⁷⁴
Die Repräsentationsidee stammte aus der Souveränitätstheorie, was erneut zeigt, dass sich Staatsräson und Souveränitätslehre auch bei Ammirato nicht ausschlossen. Anders als Palazzo unterstellte Ammirato den Herrscher nicht explizit dem göttlichen Recht, weshalb vermutet wurde, dass er der Willkürherrschaft das Wort redete. Mit seiner Deutung der Staatsräson als Privileg rekurrierte Ammirato auf eine wenig moderne rechtliche Errungenschaft – es war ein altmodisches juristisches Instrument, das er mit der modernen Konzeption der Staatsräson verband. Faktisch existierten herrschaftliche Privilegien bis um 1800 fort. Bekannte Beispiele waren das herrschaftliche Begnadigungsrecht oder das sogenannte Veto-Recht des französischen Königs. Bei diesen weitreichenden Privilegien handelte es sich dennoch um klar beschränkte Befugnisse. So bezog sich das Begnadigungsrecht nur auf die Jurisdiktion, das Veto-Recht auf die Legislation. Ammirato entwarf die Staatsräson aber als eine Art Super-Privileg, das sich auf alle Bereiche der Politik beziehen konnte. Ein weiteres Problem bei Ammiratos Eingemeindung der ragione di stato unter die anderen Rechte (ragion di natura, ragion civile, ragion di guerra, ragion delle genti) bestand darin, dass diese alle
73 „ella è contravenzione di ragion ordinaria per rispetto di maggiore e più universal ragione: e siccome il privilegio corregge la legge ordinaria in beneficio di alcuno, cosí questa in beneficio di molti.“ Zitiert nach Settala, der Ammirato zusammenfasst. Settala, Ragion di stato, S. 57. 74 „Perche possiamo per un’altro modo dire, ragion di stato esser un privilegio, del Principe, cioè che possa derogare alla ragione commune per rispetto della difesa della persona sua contra gli offenditori di lei, non ostante essersi detto, che al privilegio, che riguarda la persona particolare, si oppone la ragione di stato, perche riguarda l’universale; imperoche in questo caso considerandosi la persona del Principe non più come persona particolare, ma come persona publica, si viene per conseguenza a riguardar l’universale.“ Ammirato, Discorsi sopra Cornelio Tacito, S. 201.
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einen klar definierten Rechts- und Geltungsbereich besaßen, was die Staatsräson nicht hatte. So bemängelte schon Settala den nur rhetorisch vermittelten Zusammenhang: Aber diejenigen, die in verschiedener Weise die Bezeichnung ‚Räson‘ für die vier erwähnten Arten und die Staats-Räson gebrauchen, machen sich nicht klar, dass diese das bezeichnen, was auf Latein ius oder Gesetz heißt, doch daran halten sie sich nicht, umso mehr, als sie die Staatsräson nicht an Gesetze binden, und die genannten Rechte haben auch ein begrenztes und fest umrissenes Gebiet, und das hat die Staatsräson nicht.⁷⁵
Ammiratos Ausführungen verbargen nur schlecht, dass er mit Staatsräson ungesetzliches und willkürliches Regierungshandeln meinte.⁷⁶ Zuccolo definierte die Staatsräson nicht über ihr Verhältnis zum Recht, da die Staatsräson die öffentliche Sphäre des Staates betraf, während das Zivilrecht privatrechtlich sei: „Die Gesetze verfolgen prinzipiell das Wohl der Privatleute, die Staatsräson dasjenige dessen, der herrscht.“⁷⁷ Stattdessen bemaß er die Staatsräson als politisches Mittel anhand der Qualität ihres Ziels. So definierte Zuccolo das politische Handeln gemäß der Staatsräson als „Handeln, das mit der Essenz oder Form des Staates konform geht, deren Erhalt oder Begründung sich der Mensch zum Ziel gesetzt hat.“⁷⁸ Zuccolo identifizierte die Form des Staates mit seiner Konstitution (costitutione) oder Verfassung. Er stützte sich auf die aristotelische Unterscheidung zwischen drei guten und drei schlechten Verfassungstypen.⁷⁹ Als ‚gut‘ galten die Monarchie, Aristokratie und die Politie oder die gemischte Verfassung, der status mixtus, der sich bei Aristoteles aus Monarchie und Aristokratie zusammensetzte, bei Machiavelli aus allen drei ‚guten‘ Staatsformen; als ‚schlecht‘ die Tyrannis, Oligarchie und die Demokratie.⁸⁰
75 „Ma non si accorgono costoro in diverso modo pigliarsi il nome di Ragione nelle quattro specie annoverata, de quello della Ragion di stato: perche in quelli significa quello, che da’Latini si chiama Jus, ò Legge, ma in questo à ciò non si stringe, tanto più presso coloro, che la ragion di stato non legano à Legge; le quali ragioni ancora hanno materia limitata e determinata, cosa che non si trova nella ragion di stato.“ Settala, Ragion di stato 1752, S. 26. 76 So verstand ihn etwa Zuccolo. Zuccolo, Considerationi politiche, S. 56. 77 „le leggi risguardano principalmente al bene de’privati, e la Ragione di Stato più à quello di chi regge.“ Ebd., S. 55 f. 78 „Onde l’operare per Ragione di Stato non verrà altro à dire, che uno operare conforme alla esenza, ò forma di quello Stato, che l’huomo si hà proposto di conservare, ò di costituire.“ Ebd., S. 56. 79 Aristoteles: Politik. Schriften zur Staatstheorie. Übers. und hg. von Franz F. Schwarz. Stuttgart 1989, IV, 6–8 (1278b1–1280a1), S. 166–171. 80 Machivelli, Discorsi I, 2, S. 430.
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Gemäß Zuccolo war es die Aufgabe der Staatsräson, „die Mittel zu kennen und praktisch anzuwenden, die dazu geeignet sind, eine bestimmte Verfassung eines Staates einzurichten oder zu erhalten, ganz egal, um welche es sich handelt.“⁸¹ Die Staatsräson wurde als Kenntnis der Mittel zum Erreichen eines bestimmten Zwecks, der Einführung oder des Erhalts einer Verfassung, definiert. Zeitigte eine Handlung andere Ergebnisse als beabsichtigt, war das vergleichbar mit einer missglückten Handwerksarbeit: Aber das ist eine Unfähigkeit, die Mittel dem Zweck anzupassen, und das heißt, die Grenzen des Metiers zu verlassen, wie es bei jenem der Fall wäre, der nicht weiß, wie man Schuhe so herstellt, dass sie auf den Fuß passen.⁸²
Politik bestand für Zuccolo nicht nur in dem theoretischen Wissen um die Mittel, sondern auch in der handwerklichen Fähigkeit, diese ins Werk zu setzen. Damit definierte er die Staatsräson als eine theoretische und praktische Kunst. In seiner Definition war die Staatsräson zunächst nur ein neutrales Mittel zum Erreichen eines bestimmten Zwecks. Erst im zweiten Schritt stellte sich die Frage nach der Qualität der Staatsräson. Die Qualität des politischen Mittels ergab sich aus der Qualität des Zwecks: „Denn die Methoden und Mittel, die ihrer Natur nach auf das Gute ausgerichtet sind, müssen zwangsläufig gut sein.“⁸³ Diente das politische Handeln gemäß der Staatsräson dazu, den Fortbestand einer Tyrannis zu sichern, war sie eine ‚schlechte‘ Staatsräson, und ‚gut‘, wenn sie dem Erhalt einer Monarchie diente: „Daher gilt, wenn die Staatsform gut ist, ist die Staatsräson rechtens, die auf sie abzielt, und wenn die Staatsform schlecht ist, muss auch die Staatsräson unrecht genannt werden, die auf diese gerichtet ist.⁸⁴ Die Bewertung der Mittel relativ zu ihrem Zweck konnte entweder bedeuten, dass die Mittel neutral waren, und die gleiche Handlung, begangen zu unterschiedlichen Zwecken, anders zu bewerten waren, oder, dass die Mittel verschieden waren. Zuccolo wählte die erste Lösung. Unter den Mitteln zum Erhalt
81 „ne avviene, che la Ragione di Stato tutta si rivolga intorno al conoscere que’mezi, et a valersene, i quali siano opportuni per ordinare, ò per conservare qualsivoglia costitutione di Republica, qualunque ella si sia.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 57. 82 „Ma questo è un non sapere accordar i mezi col fine, e in conseguenza uno uscir fuore de’limiti dell’arte: come farebbe colui, il quale, ò non sapesse tagliar le scarpe, che si addattassero al piede.“ Ebd., S. 58. 83 „Perche i modi e i mezi, i quali di loro natura sono rivolti al bene, di necessità sono buoni.“ Ebd., S. 64. 84 „Però, se buona sarà la forma della Republica, giusta sarà la Ragione di Stato, che la risguarda: e se la forma della Republica sarà mala, ingiusta doverà dirsi la Ragione di Stato ch’à quella è indirizzata.“ Ebd., S. 57 f.
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der guten wie der schlechten Staatsformen gab es auch einige Allheilmittel. Zur Frage, wessen Erhalt durch die Staatsräson gesichert werden sollte – die des Staates oder die des Herrschers –, konstatierte Zuccolo: „Es scheint, dass die Politik hauptsächlich das öffentliche Wohl verfolgte, und die Staatsräson mehr dasjenige der Herrscher.“⁸⁵ Damit stellte er Politik und Staatsräson in ein hierarchisches Verhältnis, das er aus einer Zweckhierarchie ableitete. So schrieb Zuccolo der Staatsräson dieselbe Funktion zu, wie sie dem Gesundheitsregime, dem regimen sanitatis, in medizinischer Hinsicht zukam: Mit einer ‚guten‘ Verfassung begründete sie die Gesundheit des Staates und sorgte für deren Erhalt: So wie der Arzt die Gesundheit in den Körper einführt, und nach ihrer Einführung bewahrt, so kann auch der, der aufgrund von Staatsräson handelt, eine neue Verfassungsform in den Staat einführen oder die vorhandene bewahren.⁸⁶
Dabei brachte Zuccolo den medizinischen und politischen Begriff der Verfassung in Konvergenz.
4.1.4 Die Figur des Arztes im Diskurs der Staatsräson Die Figur des Arztes betrat nicht erst in der Frühen Neuzeit die Bühne der politischen Theorie, sondern hatte ihre Wurzeln in der politischen Philosophie der griechischen Antike, wo sie prominent von Platon und Aristoteles beschworen wurde.⁸⁷ In der Frühen Neuzeit trat die Figur des Arztes jedoch besonders häufig und in spezifischer Weise im politischen Diskurs in Erscheinung, besonders in Hinblick darauf, wie sich der Staat erhalten ließ und wie seinen Fortbestand bedrohende Umständen vorgebeugt werden konnte. Im Gegensatz zur mittelalterlichen Korporation, die aus juristischen Erwägungen nie starb (universitas non moritur),⁸⁸ verfügten die frühneuzeitlichen Staaten in den Augen der politischen Theoretiker nicht mehr über das ewige Leben. Angesichts der vielen poli-
85 „La Politica pare, che miri principalmente al bene publico, e la Ragione di Stato più al bene di coloro, che sono capi della Republica.“ Ebd., S. 55. 86 „Come il Medico introduce nel corpo la sanità, et introdotta la conserva: così chi opera per Ragione di Stato, può nella Republica nuova forma introdurre, ò conservar l’introdotta.“ Ebd., S. 61. 87 Beispiele aus allen Jahrhunderten bei Dietmar Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. München 1983, S. 413–480. 88 Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 306–316.
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tischen Veränderungsprozesse wie dem Niedergang der Spanischen Monarchie und den Unabhängigkeitsbestrebungen in den Niederlanden, Portugal und Süditalien und großen politischen Konflikten mit internationalen Verstrickungen wie den französischen Religionskriegen, dem Dreißigjährigen Krieg und seinem italienischen Nebenschauplatz, dem Mantuanischen Erbfolgekrieg, war es nicht verwunderlich, dass Staaten zunehmend als fragile Gebilde wahrgenommen wurden. Daher galt es, Sorge dafür zu tragen, dass sich ihr ohnehin begrenztes Leben nicht unnötig verkürzte oder durch gravierende gesundheitliche Probleme jäh beendet wurde. So ist es nicht verwunderlich, dass sich die Staatsräsontraktate alle mit der Frage auseinandersetzten, welche Staatsform die langlebigste sei. Sie erörterten Maßnahmen zum Erhalt der ‚Gesundheit‘ der Staaten und zu ihrer Lebensverlängerung. Das taten sie häufig unter Rekurs auf die Medizin. Das hatte verschiedene Ursachen.⁸⁹ In den italienischen Territorien, wo sich die Medizin schon im dreizehnten Jahrhundert als Universitätsfach etablierte,⁹⁰ waren gelehrte Mediziner seit der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts keine Mangelware. Sie waren sogar so zahlreich, dass ihr massenhaftes Auftreten in Staatsräsontraktaten problematisiert wurde. So erwog Frachetta, ob das gehäufte Auftreten von Ärzten in Städten ebenso wie jenes von Juristen und Gesetzen als Indikator für ein schlechtes politisches Regime zu werten sei. Er verstand nicht nur die Vermehrung von Gesetzen und Juristen als Resultat einer hohen Kriminalitätsrate, sondern auch das gehäufte Auftreten von Ärzten als Folge der ungesunden und verweichlichten Lebensweise der städtischen Bevölkerung.⁹¹ Die Maxime ‚wo viele Ärzte, da auch viele Krankheiten‘, verwies also auch auf die zeitgenössische ärztliche Beschäftigungsproblematik, die zu einem Profilierungsdruck führte. Seit dem ausgehenden sechzehnten Jahrhundert mussten sich gelehrte Mediziner etwas einfallen lassen, um mögliche Arbeitgeber zu akquirieren. Zahlreiche Mediziner waren in Positionen tätig, die eine große Nähe zur Politik mit sich brachten, sei es als protomedici, denen die Kontrolle des Gesundheitswesens und die Lizensierung des nicht-akademischen medizinischen Personals oblag, sei es als Mitglieder der Pestbehörden oder als Hofmediziner. Die Tätigkeiten als Leibarzt an den Höfen oder als Hofastronom oder -astrologe, die häufig zugleich von gelehrten Medizinern bekleidet wurden,
89 Vgl. Kap. 1.1.3, hier S. 10–12. 90 Grendler, The University of the Italian Renaissance, S. 45. 91 Frachetta, Seminario de’governi di Stato, S. 284 f., 344. Vgl. auch das Kapitel „Medici mal segno in una Città ve ne sien molti“ bei Ammirato, Discorsi sopra Cornelio Tacito, S. 135 ff.
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waren besonders lukrativ.⁹² Die politikaffine Position der Leibärzte brachte nicht immer einen Einfluss auf die Gesundheit der Patienten mit sich, die bekannt dafür waren, den ärztlichen Anweisungen erst dann zu folgen, wenn ihnen auf dem Sterbebett die Kraft zum Widerstand fehlte. So diskutierte Papst Pius IV. im sechzehnten Jahrhundert gerne medizinische Probleme mit seinen zahlreichen Leibärzten, da er selbst ein wenig Medizin studiert hatte.⁹³ Wahrscheinlich war es neben ihrer medizinischen Kompetenz auch die Gelehrsamkeit, die Mediziner zu anregenden Gesprächspartnern für ihre Patrone machte.⁹⁴ Die politischen Einflussmöglichkeiten der Hofmediziner schwankte von Territorium zu Territorium.⁹⁵ Im Rom des sechzehnten Jahrhunderts hatten die Leibärzte einen direkten Einfluss auf die lokale Universität, weil ihr der Papst vorstand.⁹⁶ In Heidelberg gestalteten Leibärzte das medizinische Curriculum der Universität mit.⁹⁷ Einer der einflussreichsten Posten war der des protomedico, einer spanischen Institution, die im Zuge der spanischen Herrschaft auch in einigen italienischen Territorien eingeführt wurde, so etwa in Urbino, Sizilien und Mailand, wo mit Ludovico Settala ein Autor eines Staatsräsontraktats als protomedico und politischer Mediziner im Staatsdienst tätig war.⁹⁸ Als oberstem Gesundheitsbeamten oblag dem protomedico die Aufsicht und Kontrolle des gesamten Gesundheitswesens.
92 Bauer, Hofastrologen, S. 93. 93 Palmer, Papal Court, S. 63. Die Päpste des sechzehnten Jahrhunderts hielten sich oft vier bis sechs Leibärzte zugleich. Das belebte gewiss die medizinische Diskussion. 94 Nutton, Introduction, S. 2. 95 Zu den Hofärzten vgl. Silvia de Renzi: Medical Expertise, Bodies, and the Law in Early Modern Courts. In: Isis 98, 2 (2007), S. 315–322; dies.: Medical Competence, Anatomy and the Polity in Seventeenth-Century Rome. In: Renaissance Studies 21, 4 (2007), S. 551–566; Sandra Cavallo: Métiers apparentés: barbiers-chirurgiens et artisans du corps à Turin (XVIIe–XVIIIe siècle). In: Historie Urbaine 15 (2006), S. 27–48; Gianna Pomata: Malpighi and the Holy Body: Medical Experts and Miraculous Evidence in Seventeenth-Century Italy. In: Renaissance Studies 21, 4 (2007), S. 568–586 und Nancy Siraisi: History, Medicine, and the Traditions of Renaissance Learning. Ann Arbor, MI 2007. 96 Palmer, Papal Court, S. 56. 97 Nutton, Introduction, S. 6. 98 Vgl. Kap. 5.2. Zu den italienischen protomedici David Gentilcore: ‘All that pertains to medicine’: Protomedici and Protomedicati in Early Modern Italy. In: Medical History 38 (1994), S 121–142; ders.: Il Regio Protomedicato nella Napoli Spagnola. In: Dynamis. Acta Hispanica ad medicinae scientiarumque historiam illustrandam 16 (1996), S. 219–236; ders.: Malattia e guarigione. Ciarlatani, guaritori e seri professionisti: la storia della medicina come non l’avete mai letta. Nardò 2008.
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Eine dritte wichtige Form der Betätigung von Ärzten im Staatsdienst war die Einrichtung der Stadtärzte.⁹⁹ Diese Institution hatte bereits antike Wurzeln, verbreitete sich aber erst im Gefolge der großen europäischen Seuchenzüge seit 1347, die ihrerseits einen wichtigen Anlass zur politischen Regulierung des Gesundheitswesens bildeten. Damit ist ein weiterer Katalysator für die Intensivierung der institutionellen Beziehungen zwischen Politikern und Medizinern angesprochen, die frühneuzeitliche Pestpolitik. Diese führte auf diskursiver Ebene zu einem Austausch der beteiligten ‚Register‘ der Politik, Medizin und Religion.¹⁰⁰ So wurde der Prävention in medizinischer und in politischer Hinsicht eine große Bedeutung beigemessen, was sich auch daran ablesen lässt, dass sowohl Botero, Palazzo, Zuccolo als auch Settala den Erhalt des Staates, die conservatione, zum Ziel des politischen Handelns gemäß der Staatsräson erklärten. Zum Erhalt der ‚Gesundheit‘ des Staates bedurfte es in den Augen der Theoretiker der Staatsräson eines kompetenten ‚politischen Mediziners‘. So konstatierte Cavriana, der Leibarzt Caterina de’Medicis am französischen Hof, in seiner Widmung an den toskanischen Großherzog Fernandino de’Medici: „Das Abhandeln von Dingen, die den Staat betreffen, kommt zunächst den Fürsten zu, und nach diesen nur jenen, die sich um das Volk kümmern [che de i popoli hanno cura].“¹⁰¹ Der Terminus cura (Heilung, Therapie) knüpfte bereits den Zusammenhang zur Medizin. Darüber hinaus benannte Cavriana in seiner Vorrede Hippokrates als maßgebliche Autorität für seine politischen Reflexionen: weil ich die Aussagen zu den politischen Angelegenheiten durch das Zeugnis des Hippokrates bewiesen habe, dessen ich mir bei jeder Gelegenheit, bei der es möglich war, beholfen habe [...]. Er [ein möglicher Kritiker] wird mir vielleicht nicht glauben, dass die lobenswerten Handlungen der Menschen jenen der Natur gleichen, die kein Autor mit dem Licht seines Geistes lebhafter und tiefer durchdrungen hat als er [d.i. Hippokrates].¹⁰²
99 Zur Geschichte der Institution der Stadtärzte Andrew W. Russell (Hg.): The Town and State Physician in Europe from the Middle Ages to the Enlightenment. Wolfenbüttel 1981. 100 Jones, Plague and Its Metaphors, S. 112. 101 „Il trattare delle cose di stato conviene primieramente a i Prencipi, è doppo loro a quelli solamente, che de i popoli hanno cura.“ Cavriana, Discorsi sopra i primi cinque libri di Cornelio Tacito, S. 2v. 102 „perche habbia provato le propositioni di materia di stato col testimonio d’Hippocrate, di cui mi sono in ogni occasione dove ho potuto aiutato [...] Darà segno di non credere, che le attioni vertuose degl’huomini siano a quelle della natura simiglianti, nelle quali non v’è Scrittore alcuno, che v’habbia col lume del suo ingegno più vivamente, e più al profondo penetrato di lui.“ Ebd., o. S.
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Cavrianas Forderung nach einer systematischen Orientierung der Politik an der Natur, insbesondere an der Medizin ging einher mit jener nach einer Professionalisierung der Politik in Analogie zum Arztberuf. Ähnlich forderte Zuccolo: „Jener Hirte, der nicht die Herden bei guter Gesundheit erhalten kann, der nicht ihre Bedürfnisse kennt und ihre Krankheiten, kann nicht gut regieren.“¹⁰³ Für die Politik waren wie für die Medizin Fachkenntnisse nötig: „Derjenige, der nichts über das rechte Verhältnis der Körperflüssigkeiten [humores] weiß sowie über das Wesen der Krankheitssymptome, kann die Körper nicht medizinisch behandeln.“¹⁰⁴ Zum Regierungshandeln bedurfte es also eines kompetenten Wissens über den Staat, seine politischen Gegebenheiten und seine Bevölkerung.¹⁰⁵ Die Forderung nach Professionalisierung der Politik spiegelte die zeitgleichen Abgrenzungsbestrebungen der gelehrten Mediziner von ihrer nicht gelehrten Konkurrenz in Form von Hebammen, Priestern und Wunderheilern. So setzten Cavriana und Zuccolo die Politik in Zusammenhang zur Ordnung der Natur und zum medizinischen Wissen, wobei Zuccolo die Figuren von Arzt und Hirte in Konvergenz brachte.¹⁰⁶
4.1.5 Arcana imperii und arcana naturae Der frühneuzeitliche Begriff der politischen arcana hatte auch Wurzeln in den mittelalterlichen “mysteries of the state”.¹⁰⁷ Vor allem aber rekurrierte er auf die antiken arcana, die Tacitus erwähnte. Tacitus dachte bei den arcana imperii an ein ganz konkretes Arcanum, und zwar das Herrschaftsgeheimnis des Augustus, das darin bestand, die reiche Provinz Ägypten unter seiner persönlichen Regie-
103 „Non può bene governare, ne mantener sane le greggi quel pastore, il quale non sà i bisogni loro, e non conosce le infirmità.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 220. 104 „Non saprà medicare i corpi, che non s’intende della proportione degli humori, et delle qualità de’mali.“ Ebd., S. 220. 105 Das Thema des Kapitels lautet: „Dass der Fürst ein vollständiges Wissen über seine Untertanen haben sollte“ („Che il Prencipe doverebbe havere intiera conscenza de’suoi sudditi“). Ebd., S. 220–222. 106 Foucault räumt zwar einen möglichen Zusammenhang zwischen den beiden Figuren Hirte und Arzt ein, doch dürfte sich dieser gemäß seiner Periodisierung nicht mehr in einem Traktat von 1621 manifestieren, und schon gar nicht in einem zur Staatsräson. Foucault, Gouvernementalität I, S. 255. 107 Ernst H. Kantorowicz: Mysteries of State. An Absolutist Concept and its Late Medieval Origins. In: The Harvard Theological Review 48, 1 (1955), S. 65–91, S. 65 f. Siehe auch Peter S. Donaldson: Machiavelli and Mystery of State. Cambridge 1992.
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rungsgewalt zu halten.¹⁰⁸ Die Provinz Africa war für das römische Reich vor allem als Getreidelieferant wichtig, worauf die Bezeichnung Ägyptens als ‚Kornkammer Roms‘ verwies. Tiberius führte die augusteische Politik der Lebensmittelversorgung fort, wobei er sich als fähiger Administrator der römischen Provinzen erwies.¹⁰⁹ Das frühneuzeitliche Lob des Tiberius bezog sich allerdings selten auf dessen administratives Talent, obwohl auch in der Frühen Neuzeit die Verwaltung außerordentlich wichtig wurde. Eine Ausnahme war Ammirato, der konstatierte, dass die Regierungskunst im Wissen und der politischen Anwendung von Staatsgeheimnissen, von arcana imperii, bestand: Daher wurde dies von Tacitus beiläufig arcanum imperii genannt, oder Herrschaftsgeheimnis, das heißt, gewisse tiefe, persönliche und geheime Gesetze oder Privilegien, die zur Bewahrung der Sicherheit dieses Reichs oder dieser Herrschaft geschaffen wurden.¹¹⁰
Anschließend ging er direkt zum Problem der Hungersnot und der Lebensmittelversorgung über. Dadurch stellte er den Zusammenhang zur Begriffsverwendung bei Tacitus implizit her.¹¹¹ Mehr als Tiberius’ Verwaltungskünste schätzten die Autoren der Staatsräson zumeist die geheimnisvolle Ambivalenz des Kaisers. Bei Tacitus erschien er wahlweise als Meister der Staatsräson oder skrupelloser Tyrann. Der schwer durchschaubare, zauderhafte und perfide gegen seine Feinde vorgehende Tiberius verkörperte gewissermaßen selbst ein politisches Arcanum, das es zu entschlüsseln galt. Durch Simulation und Dissimulation entstand ein neues Geheimnis, nämlich ein psychologisches. Diesem hoffte man in der Frühen Neuzeit durch die Entschlüsselung der körperlichen Anzeichen auf die Spur zu kommen. Das lässt sich an der Fülle von Publikationen zur Physiognomie ablesen. Diese dienten der Dechiffrierung von politischen und höfischen Verstellungskünsten. So versprach das Titelblatt von Giovanni Battista della Portas Physiognomia (1593) die Ergründung sämtlicher charakterlicher Geheimnisse.¹¹² Der Mediziner Marin
108 Tacitus, Annalen II, 59. Yavetz, Tiberius, S. 48. 109 Ebd., S. 156. 110 „Onde fù poi questa per avventura da Tacito chiamata arcano d’Imperio, o arcano di Signoria, cioè certe profonde, et intime, e segrete leggi o privilegi fatti a contemplazione della sicurezza di quell’Imperio over Signoria.“ Ammirato, Discorsi sopra Cornelio Tacito, S. 201. 111 XII, 3. „Von der Hungersnot und ihren Gegenmitteln“ („Della carestia, e de’rimedi di essa“). Ebd., S. 206–215. 112 „De humana physiognomia libri VI in quibus docetur quom[odo] animi propentes naturalibus remediis compesci possint.“ Giovanni Battista della Porta: Physiognomia. Neapel 1602, Titelblatt.
Die Figur des Arztes und der Diskurs der Staatsräson
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Cureau de la Chambre interessierte sich in seinem Traktat L’Art de connoistre les hommes (1659) besonders für das Aufspüren vorgetäuschter Gefühle.¹¹³ Hier ging es darum, aus den körperlichen Zeichen nicht nur die Charaktereigenschaften, sondern auch Gefühle und Motive herauszulesen, was bezogen auf Herrscher als eine politische Semiotik verstanden werden kann. Auch die Theoretiker der Staatsräson interessierten sich für diese Semiotik, so etwa Scipione Chiaramonti, der sich in seinem der „semeiotica morale“ gewidmeten Traktat De coniectandis cuiusque moribus et latitantibus animi affectibus (1625) darüber Gedanken machte.¹¹⁴ Dieses physiognomische Traktat enthielt eine Widmung von Ludovico Zuccolo, was zeigt, dass auch Zuccolo physiognomischen Unternehmen nicht abgeneigt war. Sehr spezielle Körperzeichen, nämlich Muttermale, untersuchte Settala in seiner physiognomischen Schrift De naevis (1618).¹¹⁵ Zuccolo identifizierte die Staatsräson mit den arcana imperii, indem er die Staatsräson als das moderne Pendant der antiken Herrschergeheimnisse bezeichnete: „daher umschreiben wir dieses mit den zwei Worten Ragione di stato, so wie jene [antike Autoren] dasselbe mit anderen Worten benannten, die aber dasselbe meinten, wofür sie die Begriffe vis dominationis oder arcana imperii benutzten.“¹¹⁶ Neben den taciteischen arcana imperii hatten die Theoretiker der Staatsräson nicht zuletzt die arcana naturae, die Geheimnisse der Natur, im Sinn. Tatsächlich gab es mehrere Parallelen zwischen der Staatsräson und der natürlichen Magie, der magia naturalis, für die sich verschiedene politische Theoretiker lebhaft interessierten. So glich die magia naturalis der Staatsräson darin, dass die Frage, was sie eigentlich bewirkte, hinter jener zurücktrat, ob ihre Praxis legitim war. In politischer Hinsicht unterschied Justus Lipsius bei der Legitimität der politischen Klugheit, der prudentia, einem Alternativbegriff zur Staatsräson, zwischen drei Größenordnungen von Staatsräson, nämlich klein, mittel und groß. Nur die erste erschien ihm moralisch akzeptabel.¹¹⁷ Analog wurden die magischen Praktiken gemäß der Legitimität ihres Zwecks und ihrer Mittel unterschieden. Es gab drei Arten von magia naturalis: Die ‚weiße
113 Marin Cureau de la Chambre: L’Art de connoistre les hommes. Paris 1663, S. 325 f. Das Traktat existiert in zahlreichen Ausgaben und volkssprachlichen Übersetzungen. 114 Thorndike, Magic VIII, S. 450. Auch Morandi besaß dieses Traktat. Ernst, Roma barocca, S. 242. 115 Die Datierung der Schrift ist unklar; sie könnte auch von 1626 oder 1628 stammen. Thorndike, Magic VIII, S. 465. 116 „e però la circonscriviamo con questi due termini, Ragione di Stato, come la circonscrissero eglino con altri, che pur denotavano il medesimo, valendosi quando delle voci vis dominationis, ò arcana Imperii.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 66. 117 Burke, Tacitism, S. 485.
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Magie‘, funktionierte natürlich und sympathetisch und benötigte keine Agenten oder Vermittler.¹¹⁸ Hierzu zählten die meisten medizinischen Praktiken, insbesondere die auf sympathetischen Beziehungen zwischen Medikament und erkranktem Körperteil beruhenden Maßnahmen der medikamentösen Therapie. Zur zweiten Art der Magie zählte die astronomisch-astrologische, die eine Zwischenstellung zwischen natürlicher und zeremonieller Praxis einnahm, da ihre Adressaten lebende Agenten waren.¹¹⁹ Diese Form der Magie wurde insbesondere in Ficinos De vita coelitus comparanda¹²⁰ propagiert. Auch Campanellas De siderali fato vitando gehört in diese Tradition.¹²¹ Während hier über das Medium der Luft mit den als belebt gedachten Wandelsternen kommuniziert wurde, setzte die dritte ‚schwarze‘ Form der Magie die Beteiligung von Dämonen voraus. Diese mussten nicht unbedingt teuflischer Natur sein, doch die Anrufung anderer Mächte schürte den Verdacht der Vielgötterei. Typisch für diese Form der Magie waren die in Agrippa von Nettesheims De occulta philosophia (1533) referierten Praktiken.¹²² Die Debatte um die Staatsräson hatte mit jener der Magie gemeinsam, dass die Effizienz der strittigen Praktiken erstaunlich selten thematisiert wurde. Die Debatte über die Magie war nicht nur ähnlich strukturiert wie jene über Staatsräson, sondern wurde auch partiell von denselben Autoren geführt. So schrieb und übersetzte Jacques Gohory (Leo Suavius), Mitglied des Pariser Parlaments und Diplomat, mehrere Traktate über die magia naturalis und übersetzte Machiavellis Principe und Discorsi ins Französische.¹²³ Das waren allesamt heikle Themen, denn die beiden Werke Machiavellis waren seit 1559 indiziert. Bodin, einer der ersten der frühneuzeitlichen Autoren, der den Begriff der arcana imperii in seiner Methodus verwendete, hielt die magia naturalis ebenfalls für ein so bedeutendes Thema, dass er ihm mit De la démonomanie des sorciers (1580) gleich ein eigenes Traktat widmete.
118 Carol V. Kaske, John R. Clarke: Introduction. In: Marsilio Ficino: Three Books on Life. Übers. von dens. Binghampton, NY 1989, S. 3–90, S. 48. 119 Ebd., S. 48. 120 Ficinos De vita libri tres bestehen aus drei Schriften: De vita sana (De cura valetudinis eorum qui incumbunt studium litterarum), De vita longa und De vita coelitus comparanda. Hier ist vor allem das dritte Buch wichtig. 121 Daniel Pickering Walker: Spiritual and Demonic Magic From Ficino to Campanella. London 1958. 122 Bereits um 1509 oder 1510 verfasst. 123 Beide Übersetzungen Machiavellis aus dem Jahr 1571. Walker, Spiritual and Demonic Magic, S. 97.
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Neben Bodin interessierte sich mit Thomas Hobbes ein weiterer angeblicher Begründer der modernen politischen Theorie immerhin so sehr für Magie, dass er sie in seinem Hauptwerk, dem Leviathan (1651), in mehreren Kapiteln abhandelte. Der Dämonologie widmete er sich auf 20 Seiten¹²⁴ und äußerte sich darüber hinaus über Prophetie¹²⁵ und Wunder.¹²⁶ Zwar tat er dies eher ablehnend, doch hielt er sie in politischem Zusammenhang immerhin für erwähnenswert.¹²⁷ Campanella gehörte ebenfalls in dieses Spektrum von politischen Theoretikern mit starkem Interesse an der Naturphilosophie und ihrer umstrittenen Grenzbereiche. Der Mediziner Canoniero verfasste mit De curiosa doctrina auch ein Traktat, das mit der magia naturalis in Zusammenhang stand.¹²⁸ Viele Theoretiker der Staatsräson vermuteten zudem einen speziellen Zusammenhang zwischen den politischen arcana und den okkulten Qualitäten oder Wirkungsprinzipien von Medikamenten, insbesondere der Gifte. Ficino konzipierte eine Lehre von der Wirksamkeit der Gifte auf der Basis ihrer okkulten Eigenschaften. Er postulierte, dass die den schädlichen Planeten Mars und Saturn zugeordneten Mineralien, Pflanzen und Düfte medizinisch nützlich sein können, wenn die physische Konstitution nicht vor den starken Medikamenten kapituliere.¹²⁹ Ähnlich verhielt es sich mit dem giftigen Nieswurz oder der Christrose, die positiv wirken konnten, sofern sie einen nicht umbrachten: if anyone uses hellebore according to medical rules and is strong enough to tolerate it, then, by the resulting purgation and by its occult property, he changes somehow the quality of his spirit, the nature of his body, and in part also the motions of his mind; and he is, as it were, rejuvenated so that he seems to be well-nigh reborn.¹³⁰
124 “Of demonology and other relics of the religion of the Gentiles.” Thomas Hobbes: Leviathan, or the Matter, Form, and Power of a Commonwealth ecclesiatical and civil. In ders.: The English Works of Thomas Hobbes. Bd. III. Hg. von William Molesworth. London 1839, IV, 45. 125 “Of the word of God, and of Prophets.” Ebd. III, 36. 126 “Of miracles and their use.” Ebd., III, 37. 127 Auch bei Hobbes böte sich eine Zusammenschau von Politik und Naturphilosophie an, zumal er sich in De corpore ausführlich zur Naturphilosophie geäußert hat. 128 Pietro Andrea Canoniero: De curiosa doctrina libri quinque. Florenz 1607. Das Traktat verhandelte eigenartige Themen wie die Frage, ob die Schöpfung zum Zeitpunkt des Neumondes oder des Vollmondes erfolgte („Utrum lunè creata sit in novilunio an in plenilunio.“ III, 25, S. 220), Dämonen („De oraculis Daemonum.“ III, 12), Hermaphroditen („De germafroditis.“ V, 4) und Geschlechtsumwandlung („De mutatione sexus.“ V, 5). 129 Ficino, Three Books on Life, S. 295. 130 Ebd., S. 349 f.
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Die unterschiedliche Wirkung von ein und demselben Präparat erklärte Ficino mit dem Verhältnis zwischen Konstitution und Therapeutikum, wobei okkulte Eigenschaften dafür sorgten, dass ein Medikament so disparate Wirkungen entfalten konnten. Ähnlich ambivalent beschrieben auch die Autoren der Staatsräson die Wirkung der Staatsräson. So rechtfertigte Ammirato seine Beschäftigung mit der potentiell ‚giftigen‘ Staatsräson unter Verweis auf die Praxis der Medikamentenherstellung, bei der die Verarbeitung von Giften zu therapeutischen Zwecken gestattet war: es ist legitim für den Autor [...], [aus Tacitus] die guten Schlussfolgerungen herauszuziehen und aus ihnen exzellente Lehrsätze zu bilden. Es darf mir nicht verboten werden, was jede Ratsversammlung den Medikamentenherstellern gestattet, nämlich dass sie aus Vipern und Skorpionen und nicht nur aus giftigen Tieren, sondern auch aus Pflanzen Säfte und Medikamente extrahieren dürfen, die heilsam sind.¹³¹
Wie Gift konnte sich auch die Lektüre von Staatsräsontraktaten und des Tacitus auswirken. So erklärte Cavriana: „so kann man feststellen, dass die Schriften des Tacitus auf die gut vorbereiteten Geister heilsam wirken, auf die schlecht verfassten wie Gift.“¹³² Die Tacitus-Lektüre entfaltete in seinen Augen eine Wirkung, die dem eines starken, gifthaltigen Pharmakons gleichkam. Anhand der Diskussion um die therapeutische Wirkung von Giften wird deutlich, dass sich die Beschreibung des politischen Handelns als medizinisches nicht nur an dem Modell der Prävention, sondern auch an dem der Therapie orientierte. In den folgenden Kapiteln wird der Zusammenhang zwischen der Fokussierung des Erhalts von politischen Körpern im Diskurs der Staatsräson und der frühneuzeitlichen medizinischen Debatte über die Lebensverlängerung und Verjüngungskuren genauer zu untersuchen sein.
131 „esser lecito all’autore [...] di cavarne le sue conclusioni buone, e di formarne le sue propositioni ottime; quando pur questo fosse, non dee eßer a me ne negato di far quello, che in ogni civil ragunanza a componitori di medicamenti è conceduto: cioè, che come ad essi da vipere, e da scorpioni, e non solo da animali, ma da piante velenose è permesso cavar unguenti, e medicine utile all’infirmità.“ Ammirato, Discorsi sopra Cornelio Tacito, o.S. 132 „cosi di Tacito li scritti, si vede che sono à gl’animi ben disposti cibo, et à mal disposti veleno.“ Cavriana, Discorsi sopra i primi cinque libri di Cornelio Tacito, S. 7.
Machiavelli und Zuccolo: Alterung und Mortalität der Staatskörper
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4.2 Alterung und Mortalität der Staatskörper: Verjüngungskuren für den Staat bei Niccolò Machiavelli und Ludovico Zuccolo Seit dem ausgehenden Mittelalter florierte das Genre von Schriften zur Lebensverlängerung. Die Ausdehnung der Lebensspanne auf medizinischem Weg war plötzlich zu einem allgemeinen Desiderat geworden.¹³³ In das Spektrum der Schriften über die Lebensverlängerung gehörten Marsilio Ficinos De vita longa (1489), das sich um die Lebensverlängerung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe bemühte, nämlich der Intellektuellen, das paracelsische Liber de longa vita (1526) und der diätetische Bestseller Luigi Cornaros, die Discorsi della vita sobria (1558). Die Kompetenz von Cornaros Ratschlägen wurde durch das stolze Alter des Venezianers beglaubigt, der 1566 angeblich im Alter von 98 Jahren verschied.¹³⁴ Auch theoretisch anspruchsvolle Schriften wie Francis Bacons Historia vitae et mortis (1623) und Johan Baptist van Helmonts Ortus medicinae (1648) gehörten zu dem Genre. Die Frage der Lebensverlängerung trat nicht erst im Diskurs der Frühen Neuzeit auf, sondern bereits im ausgehenden Mittelalter. Roger Bacon formulierte im dreizehnten Jahrhundert die These, dass die Lebensdauer der Menschen problemlos auf 200 Jahre erweiterbar sei und bejahte die Möglichkeit, Alterungsprozesse durch Verjüngungskuren umzukehren, rückhaltlos.¹³⁵ Auch das sogenannte Lebenselixier, das aus der arabischen Medizin stammte, beflügelte die Phantasie der Naturphilosophen. So empfahl der Alchemist John Dastin im dreizehnten Jahrhundert das Elixier oder den Stein der Weisen dem Papst Johannes XXII. wärmstens: This is the secret of secrets [...] concerning the most noble matter [the philosopher’s stone] which, according to the tradition of all philosophers, transforms any metallic body into very pure gold and silver, which conserves (bodies in their) essence, fortifies (them) in (their) virtue, which makes an old man young and drives out all sickness of the body.¹³⁶
133 Sigerist, Quest For Long Life, S. 39. 134 Verschiedene Altersangaben existieren, doch Einigkeit besteht, dass Cornaro ein hohes Alter erreichte. 135 Roger Bacon äußerte sich in mehreren Schriften zur Lebensverlängerung, darunter Opus majus, De retardatione accidentium senectutis, et de prolongatione vitae humanae, Epistola de secretis operibus naturae et de nullitate magiae. Vgl. Gruman, Prolongation of Life, S. 62. De retardatione wurde inzwischen von Agostino Paravicini Bagliani als nicht authentische Schrift erwiesen, vgl. Steven J. Williams: Roger Bacon and His Edition of the Pseudo-Aristotelian Secretum secretorum. In: Speculum 69, 1 (1994), S. 57–73, S. 69. 136 John Dastin: Letter to Pope John XXII. Übers. von C. H. Josten. In: Ambix 4 (1949), S. 34–51, S. 43 f.
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Die Staatsräson und die Alterung und Verjüngung des Staates
Das als „Geheimnis der Geheimnisse“ bezeichnete Lebenselixier spielte auf den Titel eines arabischen politischen Traktats an, das Secretum Secretorum, das von Roger Bacon um 1280 ins Lateinische übersetzt wurde.¹³⁷ Es handelte sich um eines der wichtigsten Traktate vor Machiavelli und steht im Zusammenhang der Fürstenspiegelliteratur. In Bacons Fassung bestand es aus vier Teilen, wovon sich zwei gar nicht mit politischen Fragen auseinandersetzten. So thematisierte der zweite Teil die Medizin inklusive aller mit ihr verbundenen astrologischen Fragen, der vierte fokussierte naturphilosophische, geheimwissenschaftliche und physiognomische Themen.¹³⁸ Bacon ergänzte das Werk um eine Einleitung, die sich mit der Astrologie und der Lehre von den großen Konjunktionen befasste. In allen Fassungen handelte das Secretum secretorum inhaltlich ziemlich genau das gleiche thematische Spektrum wie die politischen Autoren um 1600 ab.¹³⁹ So umfasste das pseudoaristotelische Secretum Secretorum eine Tugendlehre, eine politische Verhaltenslehre,¹⁴⁰ Ausführungen zur Organisation des Staates und zur Kriegsführung (einschließlich der Onomantik, der Kunst, wie man aus den Zahlen der Namen zweier Feldherren den Ausgang einer Schlacht errechnete).¹⁴¹ Der medizinische Teil bot Ausführungen zum Gesundheitsregime, zu Klima und Jahreszeiten, Körperteilen und zur Krankheitsdiagnostik und Therapie. Hinzu kam eine Abhandlung über den Aderlass und die astrologische Medizin. Die Astrologie wurde nicht nur im medizinischen, sondern auch im politischen Teil zusätzlich in einem eigenen Kapitel abgehandelt. Der umfangreiche Teil zur Physiognomie folgte oft auf den medizinischen Teil angehängt, zirkulierte aufgrund seiner Beliebtheit aber auch als selbstständiger Text. Das Secretum Secretorum lieferte offenkundig ein Modell für den thematischen Zusammenschluss von Medizin und Politik und alle anderen artes coniecturales, die auf der Lektüre von Zeichen beruhten. Da seine Rezeption in der Medizingeschichte und politischen Ideengeschichte völlig isoliert voneinander verlaufen ist, wird sein jeweiliger inhaltlicher Überschuss selten thematisiert.
137 Das arabische Werk stammte bereits aus dem zehnten Jahrhundert und fand seit dem dreizehnten Jahrhundert weite Verbreitung. Es wurde in zahlreiche europäische Volkssprachen übersetzt. Vgl. Regula Forster: Das Geheimnis der Geheimnisse. Die arabischen und deutschen Fassungen des pseudo-aristotelischen Sirr al-asrār / Secretum secretorum. Wiesbaden 2006, S. 1. Zu Roger Bacons Edition des Secretum Secretorum vgl. Michael E. Goodich: From Birth to Old Age. The Human Life Cycle in Medieval Thought, 1250–1350. Lanham u. a. 1989, S. 35–37. 138 Williams, Roger Bacon, S. 63. 139 Zu den verschiedenen Fassungen vgl. Forster, Geheimnis, S. 5. 140 Ebd., S. 56–67. 141 Ebd., S. 68–81.
Machiavelli und Zuccolo: Alterung und Mortalität der Staatskörper
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Während das Werk in medizinischer Hinsicht als herausragende Zusammenfassung der mittelalterlichen Heilkunde gilt,¹⁴² wird er in politologischer Hinsicht als beispielhafter Fürstenspiegel behandelt. Die Einschätzung als Enzyklopädie ist fragwürdig.¹⁴³ Schließlich umfasste das Secretum Secretorum nicht alle Wissensgebiete. Beispielsweise erfuhr der Leser nichts über Theologie, Jurisprudenz, Grammatik und Logik. Es deckte nur die herrschaftsrelevanten Wissensgebiete ab, die allesamt zu den artes coniecturales zählen, weil die Anwendung ihrer Gesetzmäßigkeiten nicht zwangsläufig zu den angestrebten Resultaten führte. Diesen Zusammenhang beschrieb Cavriana um 1600 sehr prägnant: Denn die Wissenschaft oder wahre Kunst der Politik ist konjektural, und ihr Ziel liegt nicht in der menschlichen Macht, auf die gleiche Weise, wie die Rhetorik und die Medizin, die aus demselben Grund von dem Philosophen [Aristoteles] Fähigkeit oder Können genannt wurden, weil der Redner nicht immer überzeugen kann, ebenso wenig wie der Mediziner immer heilen.¹⁴⁴
Das Secretum Secretorum vereinte systematisch all jene Themen, die von den frühneuzeitlichen politischen Theoretikern oftmals nicht in einem, sondern in mehreren Schriften abgehandelt wurden. So schrieben die italienischen Autoren der Staatsräson nicht nur über Politik, sondern auch über Medizin (Canoniero, Settala, Bonaventura), Kriegskunst (Machiavelli und Frachetta), Physiognomie (Chiaramonti und Settala), natürliche Magie (Bodin und Canoniero), Astrologie (Campanella) und über die kritischen Tage und Jahre (Bonaventura).¹⁴⁵ Vor dem Hintergrund des im Secretum Secretorum vollzogenen Zusammenschlusses von Medizin und Politik und weiterer artes coniecturales war es nicht verwunderlich, dass das Problem der Lebensverlängerung in der Frühen Neuzeit auch in Bezug auf den kollektiven Körper in politischen Traktaten diskutiert wurde.
142 Rudolf Schmitz: Geschichte der Pharmazie. Bd. 1. Von den Anfängen bis zum Ausgang des Mittelalters. Eschborn 1998, S. 363. 143 Vgl. Forster, Geheimnis, S. 108. 144 „Che la scienza o vero arte politica è congietturale, e d’essa il fine non è riposto nell’huomo, ma fuor d’esso, nella istessa guisa, che sono la Rettorica, e la Medicina le quali per questo istesso effetto son chiamate dal Filosofo, cioè facultà, o potestà, perche l’oratore non può sempre persuadere, ne meno il Medico sempre guarire.“ Cavriana, Discorsi sopra i primi cinque libri di Cornelio Tacito, S. 99. 145 Zu den arcana imperii als Naturgeheimnisse vgl. hier Kap. 4.1.5.
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Die Staatsräson und die Alterung und Verjüngung des Staates
4.2.1 Die hippokratisch-galenische Theorie des Alterns Was war das Altern? Die Meinungen darüber gingen bereits in der Antike auseinander. Aristoteles fasste die Alterung als natürlichen Prozess auf, wodurch sie sich prinzipiell von Krankheiten unterschied. Dennoch brachte er beide Phänomene in direkten Zusammenhang, indem er postulierte, die Krankheit sei eine Art erworbenes Alter, das Alter hingegen eine ‚natürliche‘ Krankheit. Dadurch unterschied es sich bei ihm von Krankheiten, die generell nicht-natürlich waren.¹⁴⁶ In der römischen Medizin wurde Alter tendenziell doch als Krankheit verstanden. Auch wenn Galen das Alter nicht direkt mit einer Krankheit identifizierte,¹⁴⁷ unterschied sich die Ursache des Alterns bei ihm nicht prinzipiell von derjenigen der Krankheiten, was die Identifikation begünstigte. Galen erblickte die Ursache des Alterns in einem Ungleichgewicht der Körpersäfte, den humores. Da Galen diesen Sachverhalt auch für die Ursache von Krankheiten hielt, kam es spätestens in Hinblick auf die therapeutischen Maßnahmen gegen Alter und Krankheit zu Konvergenzen. Anders als bei Krankheiten konnte das altersbedingte Ungleichgewicht der Körpersäfte nicht vollständig beseitigt werden, sondern nur gemildert. Den vier Körperflüssigkeiten oder humores, Blut (sanguinisch), gelbe Galle (cholerisch), schwarze Galle (melancholisch) und Phlegma oder Schleim (phlegmatisch) wurden jeweils verschiedene Qualitäten zugeordnet, die auch die verschiedenen Lebensalter und Jahreszeiten charakterisierten: sanguinisch cholerisch melancholisch phlegmatisch
Frühling Sommer Herbst Winter
Kindheit Jugend reifes Alter Greisenalter
Blut gelbe Galle schwarze Galle Phlegma
warm-feucht warm-trocken kalt-trocken* kalt-feucht*
Die Humoralpathologie der hippokratisch-galenischen Tradition favorisierte das ausgewogene Mischverhältnis der vier Körpersäfte. Mitunter wurde die Dominanz des sanguinischen Elements bevorzugt.¹⁴⁹
146 Vgl. Schäfer, Alter und Krankheit, S. 41. Die Quelle ist Aristoteles, De generatione animalium V 4 (784b33–34). 147 Wie Aristoteles argumentierte auch Galen, dass die Alterung nicht gegen die Natur (contra naturam) sei, Krankheiten hingegen schon. Vgl. Gruman, Prolongation of Life, S. 17. 148 * Diese Zuordnung stammt aus der hippokratischen Tradition. Bei Aristoteles war das reife Alter kalt-feucht, das hohe Alter kalt-trocken. Darin folgen ihm Galen und Avicenna. Ebd., S. 16. 149 Kaske, Clarke, Introduction, S. 31.
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Für Ficino bestand die ideale Konstitution aus je zwei Teilen schwarzer und gelber Galle und acht Teilen Blut.¹⁵⁰ Nicht zuletzt aus persönlichen astrologischen Gründen – sein Aszendent war der von Saturn beherrschte Wassermann, dem die schwarze Galle zugeordnet war – bemühte sich Ficino um die Rehabilitierung der schwarzen Galle und der mit ihr verbunden Melancholie.¹⁵¹ An das Lob der Melancholie schlossen Ficinos Gesundheitstipps für jene Zielgruppe an, in der Melancholiker besonders häufig vorkamen, die der Gelehrten. Das Mischverhältnis zwischen den Körpersäften, das die Konstitution ausmachte, war nicht stabil von der Geburt bis zum Tod. Es veränderte sich vielmehr im Verlauf des Lebenszyklus und wurde auch von klimatischen Umständen wie den Jahreszeiten beeinflusst. Darüber hinaus war die Konstitution etwas höchst Individuelles, ein Umstand, dem therapeutisch Rechnung getragen werden musste.¹⁵² Es galt jedoch bei allen Konstitutionen, das gegebene Mischverhältnis so gut wie möglich zu erhalten. Eine ausgewogene individuelle Konstitution beförderte nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Langlebigkeit, wie Cornaro in De vita sobria postulierte: Und es erscheint mir ein wichtiger Punkt, dass wenn sich die Welt durch Ordnung aufrecht erhält und wenn unser Leben am Ende nichts anderes ist als Harmonie und Ordnung der vier Elemente. dass unser Leben durch Ordnung erhalten und bewahrt werden kann, und dass es andererseits durch Krankheit oder Tod zerstört werden kann, da sie das Gegenteil bewirken. Ordnung erleichtert das Erlernen der Wissenschaften, Ordnung macht Armeen siegreich, und durch Ordnung werden Städte, Familien und Staaten aufrechterhalten.¹⁵³
Der Alterungsprozess erschien als Resultat der Lebensweise, des individuellen Gesundheitsregimes. Daher konnte der Verlust des Gleichgewichts zwischen den humores auf diätetischem Wege wiederhergestellt werden. Cornaro betrachtete die Diätetik zudem nicht nur als Anti-Aging-Programm für Individuen, sondern
150 Ebd.,S. 31. 151 Von der traditionell geringen Wertschätzung der Melancholiker zeugt Settalas Rat an Herrscher, sie aus ihrem Umfeld zu verbannen: „Non si fidi de’melancolici, e troppo pensierosi.“ Settala, Ragion di stato, S. 70. 152 Maclean, Logic, Signs and Nature, S. 241. 153 „E parmi una gran ragione, che se il mondo si conserva con ordine, e la vita nostra non è altro, quanto al capo, che armonia e ordine di quattro elementi, con l’ordine medesimo debba conservarsi e mantenersi questa nostra vita, e pel contrario, guastarsi per malattia o per morte corrompersi, operando in contrario. L’ordine insegna le discipline più facilmente, l’ordine rende l’esercito vittorioso, e finalmente l’ordine mantiene le città, le famiglie e I regni stessi.“ Luigi Cornaro: Discorsi intorno alla vita sobria. Edizione ricca di aggiunte. Bologna 1830, S. 25.
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als eines, das auch zur Aufrechterhaltung der familiären, städtischen und staatlichen Ordnung taugte. Staaten waren in den Augen vieler politischer Theoretiker wie Lebewesen organischen Veränderungsprozessen wie Alterung, Degeneration und Tod unterworfen. Mochten die frühneuzeitlichen Staatskörper im Gegensatz zur mittelalterlichen Korporation als sterblich gelten, so konnte man doch mit medizinischen Maßnahmen ebenso für ihren Erhalt sorgen wie für den der menschlichen Körper.
4.2.2 Die Lebensdauer der Staaten In der Frühen Neuzeit florierten nicht nur Publikationen zur Lebensverlängerung der Individuen, auch in den politischen Traktaten wurde regelmäßig die Frage der Lebensdauer von Staaten und den Mitteln zu ihrer Verlängerung erörtert. Machiavelli kam zu dem Schluss: „Es ist nur allzu wahr, dass alle Dinge auf dieser Welt ein begrenztes Leben haben.“¹⁵⁴ Zu den ‚Dingen‘ rechnete er auch die Staaten. Die Frage nach der Lebenserwartung der Staaten war bei Machiavelli Teil der umfassenderen Frage nach dem Alter der Welt. Die Welt erschien ihm ebenso sterblich wie die Staaten. Der aristotelischen These von der Ewigkeit der Welt hielt Machiavelli entgegen, dass die bekannten Zeugnisse für die menschliche Existenz allenfalls 5.000 Jahre zurückreichten. Dabei dachte er nur an Schriftzeugnisse und nahm an, dass der Mensch gleichzeitig mit der Welt zur Welt gekommen war. Er zog in Erwägung, dass frühere Schriftdokumente zerstört sein konnten. Eine solche Auslöschung des kulturellen Gedächtnisses konnte entweder durch Naturkatastrophen oder vom Menschen ausgelöste Katastrophen verursacht sein. Bei der Zerstörung kultureller Erinnerung durch Menschenhand dachte er an kriegsbedingte Sprach- oder Religionswechsel, wobei er annahm, dass die neue Sprache oder Religion die Erinnerung an die alte vernichtete. Machiavelli nahm im Verlauf von 5.000 bis 6.000 Jahren zwei bis drei derartige Ablösungsprozesse an: „Und da sich diese Religionen innerhalb von fünf- bis sechstausend Jahren zwei- bis dreimal ändern, geht das Gedächtnis an die Ereignisse vor dieser Zeit verloren.“¹⁵⁵ Hinter der These der Sukzession der Religionen stand erneut das bereits erwähnte Religionshoroskop arabischen Ursprungs, das
154 „Egli è cosa verissima come tutte le cose del mondo hanno il termine della vita loro.“ Machiavelli, Discorsi III, 1, S. 946. 155 „E perché queste sètte in cinque o in seimila anni variano due o tre volte, si perde la memoria delle cose fatte innanzi a quel tempo.“ Ebd., Discorsi II, 5, S. 770.
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die Entstehung neuer Religionen auf die großen Konjunktionen zurückführte.¹⁵⁶ Machiavelli machte keine konkreten Angaben über die Zykluslänge, die bei ihm zwischen 1.250 und 2.000 Jahren schwankte. Auch erwähnte er die großen Konjunktionen nicht explizit.¹⁵⁷ Allerdings nannte er unter den Naturkatastrophen, die das kulturelle Gedächtnis von Völkern auslöschen konnten, auch das traditionelle zyklische Weltende durch das Kataklysma in Form von sintflutartigen Regenfällen, Überschwemmungen und Hochwasser: Und das geschieht durch Pest oder durch Hungersnot oder durch eine Überschwemmung, und diese Ursache ist die wichtigste, sowohl weil sie die universalste ist als auch weil ihr nur die ungebildeten Bergbewohner entgehen, die, da sie keine Ahnung von der Geschichte haben, diese nicht an die Nachkommen weitergeben können.¹⁵⁸
Machiavelli rekurrierte auf das stoische Modell einer Zyklik der Weltalter, die bei ihm durch ein Kataklysma, bei den Stoikern bevorzugt mit dem Weltenbrand, einer Ekpyrosis, endeten. Wahrscheinlich gab Machiavellis persönliche Erfahrung mit den starken Arno-Überschwemmungen wie jener von 1478, die er auch in den Istorie Fiorentine thematisierte, den Ausschlag.¹⁵⁹ Die Hochwasserproblematik beschäftigte Machiavelli auch praktisch. Um 1504 arbeitete er mit Leonardo da Vinci an einem Projekt, den Arno in ein System von Kanälen umzuleiten, um einen florentinischen Binnenhafen zu schaffen. Das technisch und finanziell anspruchsvolle Projekt wurde jedoch nie realisiert. Nicht nur in Florenz, sondern in ganz Europa herrschte Furcht vor Überschwemmungen, die in einer Flut von Sintflutprognosen mündete. Ab dem Jahr 1500 schwappte eine Welle von Einblattdrucken und Almanachen über Europa,¹⁶⁰ die anlässlich der großen Konjunktionen des Jahres 1524 im Sternzeichen der
156 Vgl. hier Kap. 3.1.7. 157 Garin merkt an, dass die Lehre der großen Konjunktionen in diesem Kapitel eine Rolle spielt, begründet das aber nicht näher. Vgl. Eugenio Garin: Aspetti del pensiero di Machiavelli. In ders.: Dal Rinascimento all’Illuminismo. Pisa 1970, S. 43–79, S. 61. 158 „E questo viene o per peste o per fame, o per una inondazione d’acque, e la più importante è questa ultima: sì perché la è la più universale, sì perché quegli che si salvono sono uomini tutti montanari e rozzi, i quali non avendo notizia di alcuna antichità, non la possono lasciare a’posteri.“ Machiavelli, Discorsi II, 5, S. 771 f. 159 Niccolò Machiavelli: Istorie fiorentine (1532), 52, 2. 160 Den Auftakt der Sintflutprognostik für das Jahr 1524 bildete ein Almanach aus dem Jahr 1499, verfasst von Philipp Melanchthons Tübinger Lehrer, dem Astronomen Johannes Stöffler. Vgl. Müller-Jahncke, Astrologisch-magische Theorie und Praxis, S. 229. Vgl. auch Kap. 3.2., hier S. XXX.
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Fische das Weltende durch ein Kataklysma prophezeiten, nach dem Motto: „Der Fisch muss schwimmen“. Diese Spekulationen bildeten den Hintergrund von Machiavellis Überlegungen. Durch die Annahme von zyklischen Erneuerungen hielt Machiavelli ein Weltalter von mehr als den 5.000 biblisch verbürgten Jahren für möglich. Allerdings war er skeptisch, ob die Welt, wie Diodorus Siculus behauptet habe, wirklich vierzig- bis fünfzigtausend Jahre alt war. Das hatte der sizilianische Historiker allerdings nie vertreten, sondern nur einen Zeitraum von 10.000 bis 23.000 Jahren zwischen dem Erscheinen der ägyptischen Götter Isis und Osiris und Alexander dem Großen veranschlagt.¹⁶¹ Machiavelli bezog sich mit seinen rund 50.000 Jahren vermutlich auf eine astronomische Quelle, nämlich eine gewisse Art von Makrozyklen, die den alfonsinischen Tafeln zu entnehmen waren und der Berechnung der Präzession der Äquinoktien dienten. Diese nahmen einen vollständigen Zyklus der achten und neunten Sphäre von 7.000 Jahren an. Sieben dieser Zyklen ergaben 49.000 Jahre oder ein Großes Jahr.¹⁶² Dieser Zyklus war nicht nur Astronomen bekannt. Auch Campanella erwähnte ihn genau in demselben Zusammenhang, dem Alter der Welt.¹⁶³ Machiavelli brachte das Ende der einzelnen Zeitalter mit dem therapeutischen Vorgang der Reinigung oder Purgation in Verbindung. Das Kataklysma spülte neben der Erinnerung der Menschheit an frühere Zeitalter auch die Schadstoffe aus dem zusammengesetzten Körper, dem corpo misto der menschlichen Spezies, fort: denn so wie die Natur sich in den einfachen Körpern, wenn sich genügend überflüssige Stoffe angesammelt haben, von selbst bewegt und eine Reinigung [purgazione] herbeiführt, die dem Körper zur Gesundheit gereicht, so geschieht es auch in dem zusammengesetzten Körper [corpo misto] der menschlichen Gattung.¹⁶⁴
161 Machiavelli, Discorsi II, 5, S. 771. Vgl. Diodorus Siculus: The Library of History (bibliotéke historiké), I, 23. http://penelope.uchicago.edu/Thayer/E/Roman/Texts/Diodorus_Siculus/1A*. html (14. April 2014). 162 Vgl. Anthony Grafton: Cardanos Kosmos. Die Welten und Werke eines Renaissance-Astrologen. Berlin 1999, S. 80 und Derek John de Solla Price: The Equatorie of the Planets. Cambridge u. a. 1955, S. 104–107. 163 „Et hora mi han fatto ribelle et heretico, perché predicai li segni ‚in sole, luna et stellis‘, contra Aristotele che eterna il mondo, e contra Tolomeo, che lo pone di 36 mila anni, et Alfonso 49 mila, e Copernico 25816, et Albategnio 23910 in circa.“ Tommaso Campanella: Ateismo trionfato overo riconoscimento filosofico della religione universale contra l’antichristianesimo macchiavellesco. Hg. von Germana Ernst. Bd. 1. Pisa 2004, S. 11. 164 „perché la natura, come ne’corpi semplici quando e’vi è ragunato assai materia superflua muove per se medesima molte volte e fa una purgazione la quale è salute di quel corpo,
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Nicht nur die Menschheit stellte in Machiavellis Augen einen zusammengesetzten Körper dar. Auch die einzelnen Staaten bildeten gemäß Machiavelli ein corpo misto, wobei er bei den Republiken Wert darauf legte, dass sie sich aus den drei reinen und ‚guten‘ Staatsformen im richtigen Verhältnis zusammensetzten. Denn in Analogie zum Mischungsverhältnis der humoralen Konstitutionen garantierte nur die richtige Mixtur die größtmögliche Stabilität und somit ein langes Leben. Auch wenn Machiavelli nicht an die Unsterblichkeit der Staaten glaubte, wollte er sie doch durch die Wahl der rechten Verfassung so einrichten, dass sie möglichst langlebig waren. In den Discorsi favorisierte Machiavelli den status mixtus, eine aus Politie, Aristokratie und Monarchie zusammengesetzte Mischverfassung. Diese stellte in seinen Augen das wirksamste Bollwerk gegen die Anakyklosis, den Verfassungszyklus, dar, durch den die drei reinen Staatsformen zu ihrer jeweiligen Entartungsform degenerieren, die Monarchie zur Tyrannis, die Aristokratie zur Oligarchie und die Politie zur Ochlokratie, der Herrschaft des Pöbels.¹⁶⁵ So kam Machiavelli wie Guicciardini zu dem Schluss, dass der status mixtus nicht nur die ‚gesündeste‘, sondern auch die langlebigste Staatsform war: Daher behaupte ich, dass alle genannten Staatsformen schädlich [pestiferi] sind, und zwar wegen der Kurzlebigkeit der drei guten Staatsformen und wegen dem Üblen, das die drei schlechten mit sich bringen. Weil jene, die klug die Verfassung ordneten, diesen Defekt kannten, vermieden sie jede dieser Staatsformen aus diesem Grund und wählten eine, die an allen teilhatte und hielten sie für dauerhafter und stabiler, weil einer den anderen im Blick hat, wenn in ein und derselben Stadt ein Fürstentum, der Adel und die Demokratie existieren.¹⁶⁶
Die verschiedenen Staatsformen waren Teil eines universalen zyklischen Prozesses, der nicht nur die Menschheit, sondern den gesamten Kosmos umfasste. Daher besaßen sie auch ihren eigenen Lebenszyklus. Machiavelli diskutierte die
così interviene in questo corpo misto della umana generazione.“ Machiavelli, Discorsi II, 5, S. 772. 165 Machiavelli, Discorsi I, 2, S. 430. Die Konzeption der Anakyklosis stammte von Polybios. Polybios, Historien VI. Kondylis behauptet, Machiavelli habe im Gegensatz zu Polybios keine zyklischen Weltenden angenommen. Das ist falsch. Vgl. Panajotis Kondylis: Machiavelli. Berlin 2007, S. 34. 166 „Dico adunque che tutti i detti modi sono pestiferi, per la brevità della vita che è ne’tre buoni e per la malignità che è ne’tre rei. Talché avendo quelli che prudentemente ordinano leggi conosciuto questo difetto, fuggendo ciascuno di questi modi per se stesso, ne elessero uno che participasse di tutti, iudicandolo più fermo e più stabile, perché l’uno guarda l’altro, sendo in una medesima città il Principato, gli Ottimati e il governo Popolare.“ Machiavelli, Discorsi I, 2, S. 435 f.
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in den politischen Traktaten ubiquitäre Frage nach der besten Verfassung in Hinblick auf die höchste Lebenserwartung. Insofern war bereits die Wahl der richtigen, also langlebigen Verfassung eine Maßnahme zur Lebensverlängerung der Staaten. Die Wahl der besten Verfassung entschied aber nur über die maximale Lebensdauer des Staates, nicht über seine tatsächliche. Daher waren weitere Maßnahmen zur Lebensverlängerung erforderlich. Es galt, analog zu Cornaros diätetischen Empfehlungen, ein Gleichgewicht zwischen den Elementen der einzelnen Staatsformen herzustellen. Dabei stützte sich Machiavelli auf das humoralpathologische Argument, dass sich der natürliche Degenerationsprozess nur durch die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der Körpersäfte bremsen ließ: jene [Republiken] durchlaufen den ganzen Lebenszyklus, der ihnen vom Himmel vorbestimmt ist, die ihren Körper nicht in Unordnung bringen, sondern seine Ordnung bewahren und sie nicht verändern, oder wenn sie sie ändern, so, dass es ihm zur Gesundheit gereicht und nicht zum Schaden.¹⁶⁷
Die These einer vorgegebenen Lebenserwartung und die maximale Annäherung der tatsächlichen Lebensdauer an diesen Grenzwert durch die Einhaltung eines diätetischen Gesundheitsregimes war eine Reminiszenz an Avicenna, der vertreten hatte: “every person has his own term of life [...] the art of maintaining health consists in guiding the body to its natural span of life.”¹⁶⁸ Die höchste Lebensdauer eines Staates, die Machiavelli registrierte, betrug 800 Jahre und betraf das antike Sparta.¹⁶⁹ Plutarch hatte Sparta nur eine Lebensdauer von 500 Jahren zugeschrieben. Zu diesen zählte Machiavelli noch 300 Jahre bis zu dem Zeitpunkt, zu dem das politisch inzwischen irrelevante Sparta dem römischen Reich eingegliedert wurde, hinzu.¹⁷⁰ Die Ausdehnung des spartanischen Staats von 500 auf 800 Jahre bis zur Herrschaft des Augustus schuldete sich wahrscheinlich erneut der Lehre der großen Konjunktionen, nach der alle 800 Jahre die sogenannte größte Konjunktion zwischen Jupiter und Saturn stattfand, bei der nicht nur das Zeichen wechselte, in dem die Konjunktion stattfand,
167 „quelle che vanno tutto il corso che è loro ordinato dal cielo, generalmente, che non disordinano il corpo loro, ma tengonlo in modo ordinato o che non altera; o s’egli altera, è a salute e non a danno suo.“ Ebd., Discorsi III, 1, S. 946 f. 168 Avicenna: Canon of Medicine I. In: Oskar Cameron Gruner: A Treatise on the Canon of medicine of Avicenna; Incorporating a Translation of the First Book. London 1930, S. 361. 169 „E si vede che Sparta le osservò più che 800 anni sanza corromperle, o sanza alcuno tumulto pericoloso.“ Machiavelli, Discorsi I, 2, S. 428. 170 Ebd., S. 428. Vgl. auch Plutarch, Lykurg, 29.
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sondern auch die Triplizität.¹⁷¹ Genau das war ja bei der berühmten Konjunktion des Jahres 7/6 vor Christus der Fall, die sich während der Herrschaft des Augustus ereignete und somit zu dem Zeitpunkt, den Machiavelli für den Untergang Spartas angab. Nicht nur Machiavelli, auch sein Zeitgenosse Claude de Seyssel sah das Leben der Staaten einem natürlichen zyklischen Verlauf unterworfen, der sich allerdings durch ein vernünftiges diätetisches Regime bremsen ließ: denn es gibt nicht Ewiges unter dem Himmel, denn alles, was einen Anfang hat, muss zwangsläufig auch ein Ende haben, sogar jene mystischen Körper, die den materiellen menschlichen Körpern gleichen (insofern sie aus vier Elementen und verschiedenen Körpersäften geschaffen und zusammengesetzt sind). [...] Obwohl sich diese für einige Zeit aufrecht und am Leben erhalten können (solange die bezeichneten Körpersäfte sich in Harmonie befinden), ist es doch unmöglich, dass auf die lange Sicht nicht einer die anderen überwiegt.¹⁷²
De Seyssel kreuzte hier das mittelalterliche Korporationsrecht, auf das der Terminus corpus mysticum verwies, mit der aristotelischen Naturphilosophie.¹⁷³ Die Frage nach der besten und langlebigsten Verfassung ließ de Seyssel aus und begann seine Reflexion mit dem Zeitpunkt, zu dem die politischen humores bereits ‚versammelt‘ waren. Das mochte seinen Grund darin haben, dass der Autor selbst als Politiker und Diplomat für die französische Monarchie tätig war. De Seyssel hielt die französische Monarchie wohl deshalb für vorzüglich, weil sie ohnehin schon da war und er zudem von ihr profitierte.
171 Die Zahlen variieren, je nachdem, ob siderische oder synodische Perioden angegeben werden. Die kleinste große Konjunktion findet alle 20 Jahre statt, die mittlere alle 200 (siderisch), bzw. 240 (synodisch) Jahre, die größte alle 800, bzw. 960 Jahre. Die Angabe von 800 Jahren stammt aus den alfonsinischen Tafeln, 960 gibt der arabische Astronom Alkabicius an. Machiavellis Verwendung der Zahl aus den alfonsinischen Tafeln stützt die These, dass seine Angabe des Weltalters von circa 50.000 Jahren diesen astronomischen Ursprung hat. 172 „pour ce qu’il n’est aucune chose sous le ciel perpétuelle, ainsi tout ce qu’a commencement, faut qu’il prenne fin; et mesmes ces corps mystiques, qui sont à la semblance des corps matériels humains – lesquels (pour autant qu’ils sont créés et composés des quatre elements et humeurs contraires) [...] par aucun temps se puissent entretenir et conserver en vie (à savoir tant que lesdites humeurs s’accordent), toutefois est impossible qu’à la longue l’un ne surmonte les autres.“ Claude de Seyssel: La monarchie de France. Hg. von Jacques Poujol. Paris 1961, S. 108. 173 Vgl. auch Palazzos identisches Vorgehen bei der Eingemeindung der Staaten in das Reich der Natur auf der Grundlage der aristotelischen Naturphilosophie, Kap. 2.1. Die Quelle ist Aristoteles, De generatione et corruptione I, 3 (318 b33–319 a3); II, 4 (331 a7–332a3).
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4.2.3 Die Lebensdauer der Republik bei Zuccolo Im Unterschied zu de Seyssel hielt Zuccolo in seinen Considerationi Politiche, e Morali (1621) die venezianische Verfassung für vorzüglich,¹⁷⁴ da sie sich unter den Republiken durch ihre Langlebigkeit auszeichnete. Die venezianische Verfassung, aus heutiger Perspektive eine aristokratische, war in den Augen der Frühen Neuzeit das Ideal einer republikanischen Verfassung; ein Mythos, der noch bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts fortwirkte. Wie Machiavelli kam Zuccolo zu dem Schluss, dass das Moment des Verfalls allen irdischen Dingen, zu denen auch die politischen Gebilde zählten, eigen war: Es ist eine Tatsache, dass die menschlichen Angelegenheiten nicht ewig in ein und demselben Zustand verbleiben – wer will es bezweifeln –, denn wenn sie ewig wären, dann wären sie himmlisch und nicht menschlich.¹⁷⁵
Die strikte Unterscheidung zwischen unvergänglicher himmlischer und vergänglicher irdischer Sphäre stammte von Aristoteles, der vertreten hatte, dass alle irdischen Dinge Komposita waren, zusammengesetzt aus vier Elementen, die untereinander nicht nur harmonische, sondern auch konfliktuelle Beziehungen unterhielten.¹⁷⁶ Zyklische Prozesse waren daher unvermeidlich. Staaten lebten und starben, aber die Wahl der richtigen Konstitution konnte das Leben verlängern. Allerdings hielt Zuccolo den status mixtus, wie er ihn in der venezianischen Verfassung realisiert sah, gar nicht für die langlebigste Staatsform. Stattdessen erklärte er, es sei ein Erfahrungswert, dass die Formen der Einherrschaft, die Monarchie und Tyrannis, langlebiger waren.¹⁷⁷ So konstatierte Zuccolo, „dass kein Fürstentum je mehr als 490 Jahre mit derselben Verfassung bestanden hat.“¹⁷⁸ Dabei ging es ihm nicht um die Lebensdauer eines Staates, sondern die einer spezifischen Staatsform. Höchstwahrscheinlich orientierte auch Zuccolo sich an Plutarch, der die Dauer des spartanischen Staats mit 500 Jahren angegeben hatte. Die Präzisierung auf 490 Jahre erfolgte jedoch, wie Zuccolo selbst
174 Vgl. Zuccolo, Considerationi politiche, S. 18. 175 „Che poi le cose humane non durino sempre in uno essere, non è, chi ne dubiti, che quando fosser perpetue, sarian celesti, e non humane.“ Ebd., S. 179. 176 Vgl. die identischen Ausführungen bei Palazzo in Kap. 2.1, hier S. 31 f. 177 Als Beispiele nannte er das römische, das fränkische, schottische und chinesische Reich. Das waren eher ungewöhnliche Beispiele. Zuccolo, Considerationi politiche, S. 1. 178 „che niun Prencipato sia durato mai sotto la medesima costitione più di quattrocento novanta anni.“ Ebd., S. 1.
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anmerkte, aufgrund der Konzeption des Klimakteriums, dem Modell der Lebensalter. Nach diesem war das Alter von sieben mal sieben Jahren, also 49 Jahren kritisch. Durch die Multiplikation mit zehn gelangte Zuccolo zu der maximalen Lebensdauer eines Staates von 490 Jahren. Zuccolo versuchte nicht, die republikanische Verfassung als die altehrwürdigste und ursprünglichste zu erweisen. Bodin und andere Souveränitätstheoretiker hatten argumentiert, dass die besondere Langlebigkeit der Monarchie aus ihrer größtmöglichen Übereinstimmung mit der natürlichen Ordnung resultierte: alle Naturgesetze weisen uns den Weg zur Monarchie, ob wir nun diese kleine Welt [der Familie] betrachten, die nur einen Körper und für seine sämtlichen Glieder nur ein einziges Oberhaupt hat, von dem alles Wollen, Handeln und Empfinden ausgeht, ob wir diese große Welt betrachten, die nur einen allmächtigen Gott hat, oder ob wir unseren Blick zum Himmel richten und nur eine einzige Sonne erblicken und selbst bei den gesellig lebenden Tieren beobachten wir, daß sie mehrere Könige oder Herrscher zugleich [...] nicht ertragen können.¹⁷⁹
Zuccolo hielt Bodin, den er nicht nannte, entgegen, dass es einen kategorischen Unterschied zwischen der Herrschaft Gottes über die Welt und der eines Menschen über Menschen, also von zwei Vertretern derselben Spezies, gab: Diejenigen, die schließlich sagen, dass es nur einen Gott und nicht mehrere gäbe, die die Welt regieren, und nur ein Bienenkönig seinen Schwarm, scherzen entweder, oder aber sie verstehen nicht allzuviel von Logik, wenn sie den Unterschied zwischen einem Überlegenen, der von Natur aus Unterlegene regiert, und einem, der seinesgleichen regiert, nicht bemerken.¹⁸⁰
Daher empfahl er die Orientierung an anderen politischen Tieren, wie etwa den Kranichen: Und wenn wir uns schon ein Beispiel an den Tieren nehmen sollen, ist es angebrachter, die Regierung der Ameisen, der Kraniche oder der Störche zu imitieren, die, da sie von Natur aus gleich und gleichwertig sind, ebenfalls nicht in einer Monarchie leben.¹⁸¹
179 Bodin, Staat II, S. 420. 180 „Quelli, che dicon poi, che un solo Iddio, e non più governa il Mondo, et un solo Rè delle api il suo sciame, ò burlano, ò non s’intendono troppo bene di Logica, non conoscendo la differenza, la quale è tra il governare il maggiore di natura gli inferiori, od uno eguale i suoi pari.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 6. 181 „Però se habbiamo à pigliare esempio da gli animali, converrà più tosto imitare il governo delle formiche, ò delle grù, ò delle cicogne, le qual per essere di natura, et di valore eguali, vivono anche non à Monarchia.“ Ebd., S. 6. Vgl. Sabine Kalff: Are Cranes Republicans? A Short
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Zuccolo schwebte die Herrschaft eines primus inter pares nach dem Modell der venezianischen Verfassung vor. Die Herrschaft mehrerer empfahl sich bereits durch die Menge der politischen Aufgaben: „Und deshalb braucht auch ein Volk mehrere Regenten, um gut regiert zu werden, da ein Einzelner kaum ausreicht für eine so große Aufgabe.“¹⁸² Zuccolos Verweis auf die staatenbildenden Insekten wie Ameisen und Bienen stammte wie jener auf die Kraniche von Aristoteles. In der Historia animalium klassifizierte Aristoteles die Tiere nach ihrem Sozial- und Kommunikationsverhalten in Herdentiere und Einzelgänger.¹⁸³ Daraus leitete er ihre politischen Vorlieben ab: In Gemeinschaften leben diejenigen, die eine bestimmte Tätigkeit gemeinsam verrichten, was nicht alle Gemeinschaften tun. In Gemeinschaften leben der Mensch, die Biene, die Wespe, die Ameise und der Kranich. Von diesen leben die einen unter einem Anführer, die anderen sind anführerlos; so leben der Kranich und die Gattung der Bienen unter einem Anführer, Ameisen und unzählige andere aber sind anführerlos.¹⁸⁴
Aristoteles hielt sowohl Kraniche als auch Bienen¹⁸⁵ für monarchisch organisierte Tiere. Zuccolo hingegen deutete die Lebensweise der Kraniche entgegen der Tradition als demokratisch, wobei er sich weniger an ihrem symbolischen Wert als an ihrer tatsächlichen Verhaltensweise orientierte. So konstatierte er, sei es nicht der Fall, „dass ein Storch die anderen Störche regiert, oder dass ein Löwe die Herrschaft über die anderen Löwen hat, oder gar, dass ein Delphin den anderen Delphinen befiehlt.“¹⁸⁶ Der Löwe und auch der Delphin, der als ‚König der Meere‘ galt, waren Inbegriffe der monarchischen Tiere.
Chapter in Political Ornithology. In: Karl Enenkel, Paul J. Smith (Hg.): Zoology in Early Modern Culture. Intersections of Science, Theology, Philology, and Political and Religious Education. Leiden u. a. 2014, S. 433–455 (Intersections. Interdisciplinary Studies in Early Modern Culture 32). 182 „Et così anco un popolo per essere ben retto [...] richiede più governatori, per bastar malamente un solo à tanta impresa.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 8. 183 Aristoteles: Historia animalium. Buch I und II. Übers. u. komm. von Stephan Zierlein. In ders.: Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 16. Hg. von Christoph Rapp. Berlin 2013 (48fb33 ff.), S. 18. 184 Ebd. (488a8–13), S. 18. 185 Zur Biene als politischem Tier vgl. Eva Johach: Der Bienenstaat. Geschichte eines politischmoralischen Exempels. In: Anne von der Heiden, Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie. Zürich, Berlin 2007, S. 219–233 und Matthew Cobb: Jan Swammerdam on Social Insects: A View From the Seventeenth Century. In: Insectes sociaux 49 (2002), S. 92–97. 186 Però non fà, che una cicogna sola governi l’altre cicogne, ne un leone tenga l’imperio sopra gli altri leoni, ò pure un delfino à gli altri delfini commandi.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 7.
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Die Flugformation der Kraniche während des Vogelzugs mit ihrem Rotationsprinzip galt mehreren frühneuzeitlichen Autoren von Naturgeschichten, Emblem- und Symbolbüchern als Beispiel für exzellente Kommunikation und Arbeitsteilung. Eine wichtige Quelle für die demokratische Neigung der Kraniche war Ulisse Aldrovandis dreibändige Ornithologiae (1599–1603). Da Zuccolo in Bologna studiert hatte, wo der bekannte Naturphilosoph und Mediziner Aldrovandi lehrte, ist es durchaus denkbar, dass er ihm persönlich begegnet ist. In seinem 41-seitigen Eintrag zur Spezies der Kraniche lobte Aldrovandi ihre quasimilitärischen Tugenden sowie die Kooperation und Bereitschaft zur Ämterrotation. Daran schloss sich die Idee der egalitären Lebensweise der Kraniche an. Als Quelle führte Aldrovandi Cassiodors Variae an, eine Sammlung von Briefen und Edikten des Ostgotischen Reichs. Cassiodor konstatierte: Live then in justice and moderation. Follow the example of the cranes, who change the order of their flight, making foremost hindmost, and hindmost foremost, without difficulty, each willingly obeying its fellow – a commonwealth of birds.¹⁸⁷
In Kombination mit der militärischen Tüchtigkeit wiesen die Kraniche hier alle Tugenden des klassischen Republikanismus auf, von dem auch Zuccolo inspiriert war. Explizit von Demokratie sprach allerdings neben Aldrovandi¹⁸⁸ nur Pierio Valeriano, der 1556 mit der Hieroglyphica ein einflussreiches frühneuzeitliches Symbollexikon vorlegte, das in viele moderne Sprachen übersetzt wurde. Zunächst zitierte er die These, die sich in fast allen Schriften fand, dass Kraniche besonders gut den sozialen Frieden wahrten und begründete dies etymologisch, indem er den lateinischen Namen der Spezies, grus, auf das Verb congruere (übereinstimmen) zurückführte. Doch gemäß Valeriano stimmten sie nicht nur miteinander überein, sondern lebten demokratisch: Wegen der Versammlungen, die man sie abhalten sieht, behaupten manche, dass die Kraniche hieroglyphisch die Demokratie repräsentieren, [...] oder den Staat, der vom Volk regiert wird.¹⁸⁹
187 Cassiodor: The Letters of Cassiodor (Variae Epistolae) Being a Condensed Translation of the Variae Epistolae of Magnus Aurelius Cassiodorus Senator, übers. von T. Hodgkin. London 1886, IX, 2, S. 386. 188 „Ex eo in primis collegio, quod Grues celebrant inter se, nonnulli dicunt democratiam [...] hieroglyphicè significari.“ Ulisse Aldrovandi: Ornithologiae. 3 Bde., Bd. 3, Bologna 1603, S. 353. 189 „Quelques-uns tiennent que l’assemblee qu’on void tenir aux Grues represente hieroglyphiquement la Democratie, c’est à dire l’Estat populaire, ou gouverné par le peuple.“ Giovanni Pierio Valeriano: Les hiéroglyphes, übers. von J. de Montlyard. Lyon 1615, S. 219. Nicht in allen Ausgaben ist so ausdrücklich wie in der französischen Übersetzung von Demokratie die Rede.
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Neben Aldrovandi und Cassiodor war wohl auch Valerianos Hieroglyphica eine wichtige Quelle für Zuccolos These von der demokratischen Lebensweise der Kraniche. In Zuccolos Augen war die republikanische Herrschaft also äußerst naturgemäß – man musste sich nur an der richtigen Spezies orientieren. In Bodins Perspektive war die Monarchie nicht nur aus Gründen der Konvergenz mit der Ordnung der Natur am vorzüglichsten, sondern auch deshalb, weil sie die älteste und ursprünglichste Herrschaftsform war: Wir beobachten auch, daß von den ersten Anfängen an alle Völker der Erde, wenn sie ihrer natürlichen Eingebung folgten, sich nie eine andere Verfassung gegeben haben als die der Monarchie.¹⁹⁰
Der These der Monarchie als ursprünglichste Herrschaftsform setzte Zuccolo das Argument entgegen, dass sich die Dinge kurz nach ihrer Entstehung in einem primitiven Stadium befänden: Da die ersten Erfindungen der Menschen eher aus dem natürlichen Instinkt und einer grobschlächtigen Überlegung hervorgegangen sind als aus einer durch die Künste und Klugheit verfeinerten Urteilskraft, sind sie stets auch die einfachsten und primitivsten.¹⁹¹
Da eine hohe Entwicklungsstufe niemals am Anfang zu finden war, hielt Zuccolo auch die These für fragwürdig, dass die Monarchie aufgrund ihres frühen Ursprungs so vorzüglich war. Während einfache und primitive Formen am Anfang einer Entwicklung standen, entfalteten sich hochstehende und komplexe Formen erst im Lauf der Zeit.¹⁹² Das belegte Zuccolo mit kulturgeschichtlichen Errungenschaften wie der Entwicklung des Ackerbaus, der Obstkultur, der Bekleidung und der Sprache. So bezeichnete er das Italienische als „unsere Sprache, die fast noch ein kleines Mädchen ist.“¹⁹³ Auch in der Naturgeschichte fand er Beispiele dafür, dass qualitativ hochwertige Formen nicht am Anfang, sondern am Ende einer Entwicklung zu finden waren:
190 Bodin, Staat II, S. 420. 191 „Poiche le prime inventioni degli huomini, più tosto nate da istinto di Natura, e da discorso ancor rozzo, che da giudicio già raffinato nelle arti, et nella prudenza, sono sempre le più semplici, et le più vili.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 75. 192 Mit Entwicklung ist nicht gemeint, was seit Herder darunter verstanden wurde, ein irreversibler Prozess der Höherentwicklung, sondern eine zyklische Entwicklung, die alle natürlichen Abläufe kennzeichnete und aus vier Stadien bestand, initium, augmentum, status und declinatio. Vgl. Dell’Anna, Dies critici I, S. 156. 193 „la lingua nostra [...] quasi si mostra ancora fanciulla.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 63.
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Deshalb kann man auch bei den Pflanzen einen höheren Grad an Zusammensetzung und eine größere Vielzahl von Teilen als bei den Steinen beobachten, und bei den Tieren noch mehr als bei den Pflanzen, und beim Menschen noch mehr als bei den Tieren. Darum ist der Mensch sehr viel vollkommener als die Steine, die Pflanzen und als alle anderen Tiere.¹⁹⁴
Nicht nur in der Natur, sondern auch in der Politik zeichneten sich höhere Lebensformen durch einen höheren Grad an innerer Organisation aus: Aber weil die Republiken kurzlebiger sind als die Monarchien, darf man trotzdem nicht glauben, dass diese vollendeter seien, sondern man muss dies vielmehr dem Umstand zuschreiben, dass die einen zusammengesetzt [composte], die anderen einfach [semplici] sind.¹⁹⁵
So gesehen war es ein gutes Zeichen, dass sich die respublica mixta historisch erst nach der Monarchie manifestierte. Sie war dieser durch ihre komplexere innere Organisation überlegen. Die komplexere Struktur machte den status mixtus in Zuccolos Augen jedoch nicht langlebiger als die einfacheren Lebens- oder Verfassungsformen, sondern fragiler, weil er aus unterschiedlichen und konträren Elementen zusammengesetzt war. So habe die Republik eine kürzere Lebenserwartung als die Monarchie, da sich ihre Feinde eher in ihrem Inneren befänden. Monarchien würden eher von außen angegriffen. Republiken waren Komposita und setzten sich wie der menschliche Körper aus vier verschiedenen Körpersäften zusammen. Das führte nicht immer zur Harmonie: Hier verstehe ich unter inneren Feinden jene Gegensätze, die einen Teil der Konstitution des Kompositums bilden, und diese sind die Wärme, die Kälte, die Feuchtigkeit und die Trockenheit in den natürlichen Körpern; und unter den äußeren Feinden verstehe ich jene anderen Gegensätze, die von außen zu dessen Schaden auf das Kompositum einwirken.¹⁹⁶
Der Konflikt zwischen den disparaten Elementen war in Zuccolos Augen der Hauptgrund für die kürzere Lebensdauer der Republiken.
194 „Però maggior compositione, et più molteplicità di parti si veggono nelle piante, che nelle pietre; negli animali, che nelle piante; e nell’uomo, che negli altri animali: il quale è perciò assai più perfetto e di pietre, e di piante, et di tutti altri animali.“ Ebd., S. 2. 195 „Ma perche durino manco le Republiche, che le Monarchie, no si debbe tuttavia affermare ch’elle sieno più perfette: ma ciò debbesi più tosto attribuire all’essere queste composte, et quelle altre semplici.“ Ebd., S. 2. 196 „Quì per nemici interni intendo que’contrarii, i quali entrano nella costitutione del composto, quali sono il caldo, il freddo, l’umido, e il secco ne corpi prodotti dalla Natura; e per esterni denoto tutti gli altri contrarii, i quali di fuore via operano à detrimento del composto.“ Ebd., S. 2.
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Nur weil die Lebenserwartung der Monarchie generell höher war, erreichten doch nicht alle Monarchien ein hohes Lebensalter. Eine besonders gute individuelle Konstitution konnte einer Republik sogar ein längeres Leben verschaffen als einer Monarchie: so dürfen sich auch jene für mit einem überlegenen Temperament ausgestattet halten, die mit einer besonders guten Konstitution zur Welt kommen. Und daher kann auch eine Aristokratie oder ein Königreich, das besser eingerichtet ist als andere der gleichen Art mehrere Jahrhunderte länger leben.¹⁹⁷
Die individuelle Verfassung des Staates war in Analogie zur Konstitution des menschlichen Körpers ausschlaggebend für die Lebensdauer. Auf die innere Harmonie zwischen den Körpersäften konnte auch bei Staatskörpern mit diätetischen Maßnahmen eingewirkt werden. Am wenigsten hatte ein Staatsmediziner zu tun – Zuccolo sprach explizit von einem „medico Politico“¹⁹⁸ –, wenn die Einwohner eines Staates gesund waren und mittels diätetischer Maßnahmen dafür sorgten, dass sie es blieben: Wenn aufgrund der ausgewogenen Mischung der Luft oder wegen der ausgezeichneten Qualität der Speisen oder aufgrund eines anderen edlen Privilegs der Natur oder des Himmels alle Bürger einer Stadt gesund wären, gäbe es weder einen Bedarf an ärztlichen Rezepten noch an Ärzten.¹⁹⁹
Der wünschenswerteste politische Zustand war für Zuccolo derjenige, in dem Ärzte überflüssig waren. Mit dem Zustand der Gesundheit meinte er die Moral der Menschen, mit der Medizin Gesetze. Waren die Bürger rechtschaffen, gab es keinen Bedarf an einer gesetzlichen Ordnung. Da die Menschen in Zuccolos Augen moralisch nicht unfehlbar waren, konnte auf die medizinisch-politische Betreuung nicht komplett verzichtet werden: „Denn die Gesetze und die Richter wurden eingesetzt, um die Krankheiten der Seele zu heilen, wie die Ärzte und die Medikamente, um die widerstreitenden Körpersäfte wieder in Einklang zu bringen.“²⁰⁰ Die gesetzliche Ordnung erschien hier als politische Medizin. Zuccolo erwog auch
197 „si debbono anco riputare essere composti [...] con migliore temperamento […], chi nasce di miglior complessione. Così anco Aristocratia, ò Regno meglio istituiti degli altri della spetie loro doveranno vivere per più secoli.“ Ebd., S. 2 f. 198 Ebd., S. 17. 199 „Se per le temperie dell’aria, ò per l’eccellenza de’cibi, ò per altro nobile privilegio di Natur, ò del Cielo tutti gli huomini di una città fosser sani, non vi sarebbe di bisogno ne di ricette, ne di Medici.“ Ebd., S. 86. 200 „Perche le leggi, e i Giudici furono ordinati per curare l’infirmità dell’animo, come i Medici, e le medicine per ridurre à concordia i discordanti humori del corpo.“ Ebd., S. 86.
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den Fall, dass die Menschen moralisch völlig rechtschaffen waren. Dann waren Gesetze und Gerichte tatsächlich überflüssig: „Und deshalb endet dort, wo die Seelen gesund sind, der Bedarf an Richtern und an Gesetzen.“²⁰¹ Somit vertrat Zuccolo nicht nur eine gegenüber Palazzo völlig konträre Auffassung, sondern hielt die Abschaffung der Rechtsordnung unter bestimmten Bedingungen für denkbar und wünschenswert. Da es nicht der Normalfall war, dass Staaten die Harmonie ihrer Körpersäfte ganz ohne medizinische Betreuung bewahrten, erwog Zuccolo auch Maßnahmen zum Erhalt der Gesundheit und der Verjüngung von Staaten. In der Natur fand er jedoch keine Beispiele für Verjüngungsprozesse und verbannte sie ins Reich der Fabeln: Denn auch wenn es bei den natürlichen Dingen so sein mag, dass sie ohne Rückschritt von einem Stadium ins nächste übergehen und von einer Periode zur nächsten, so ist doch aus dem hohen Alter mit allen Künsten der Medea oder der Circe noch niemand ins Jugendalter zurückgekehrt.²⁰²
Da Verjüngungsprozesse in der Natur nicht vorkamen, ließen sie sich auch nicht medizinisch oder magisch initiieren. Dabei belächelte Zuccolo eine Idee, der auch kritische Geister wie Francis Bacon offen gegenüberstanden und die sie durch verschiedene medizinische Maßnahmen herbeizuführen hofften.²⁰³ Auch die beliebte zeitgenössische Praxis der Bäderkur stand im Zeichen der Verjüngung, war sie doch mit der Idee des Jungbrunnens verbunden, wie sie Lukas Cranach der Ältere auf seinem Gemälde Der Jungbrunnen (1546) gestaltet hatte.²⁰⁴ Obwohl Zuccolo die Verjüngung von Lebewesen ausschloss, hielt er sie in Hinblick auf Staaten für möglich: Trotzdem scheint es nicht, als ob diese Tatsache besonders stark auf die Konstitution der Republiken zuträfe, bei denen man [...] sehr wohl sieht, dass sie umgeformt werden können und zu ihren ersten Prinzipien zurückkehren können.²⁰⁵
201 „Però, dove gli animi sono sani, cessa il bisogno de’Giudici, et delle leggi.“ Ebd., S. 86. 202 „Perché, quantunque questo sia vero nelle cose naturali, le quali passano di stato in stato, e di età in età senza haver regresso; poiche dalla vecchiezza niuno ritornò mai alla gioventù con tutte l’arte di Medea, ò di Circe.“ Ebd., S. 10. 203 Vgl. hier Kap. 4.3. 204 Zum Jungbrunnen vgl. etwa Louis Masson: La fontaine de la jouvence. In: Aesculape 27 (1937), S. 244–251 und Aesculape 28 (1938), S. 16–23. 205 „Nondimeno non pare, che si verifichi troppo bene nella costitutione delle Republiche, le quali [...] si vede pure, che si possono riformare, e ritornare indietro a’loro principii.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 10.
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Die Staatsräson und die Alterung und Verjüngung des Staates
Offenbar waren Staaten in diesem Punkt anderen Gesetzmäßigkeiten als Lebewesen unterworfen. Zuccolos politische Medizin löste sich hier vorübergehend von den medizinischen Praktiken. Zuccolos Rückführung der Republiken auf ihre ‚ersten Prinzipien‘ rekurrierte auf Machiavellis Vorschlag zur Verlängerung staatlicher Lebenszyklen durch die Rückkehr ad fontes: Und da ich von den zusammengesetzten Körpern [corpi misti] spreche, wie den Republiken und den Religionsgemeinschaften, behaupte ich, dass jene Veränderungen ihnen zum Wohl gereichen, die sie zu ihren Ursprüngen zurückführen.²⁰⁶
Die Rückführung auf ihren Ursprung hielt den natürlichen Degenerationsprozess auf, den die Verfassungen durchliefen: „Und da im Verlauf der Zeit diese gute Qualität verfällt, wenn nichts unternommen wird [...], tötet sie zwangsläufig diesen Körper.“²⁰⁷ Daher war sie eine Form der Lebensverlängerung. Wie sich die kinetische Erneuerung konkret vollzog, ließ Machiavelli offen. Zuccolo ging mehr ins medizinische Detail und diskutierte den starken Verbrauch des humor vitalis, der eingepflanzten Feuchtigkeit, im Fall von politischen Aufständen: Das ist das hektische Fieber, das allmählich den humor vitalis der Republik aufbraucht und dessen Schädlichkeit sich nicht eher zeigt, bevor alle Heilmittel zu spät kommen.²⁰⁸
Zuccolo sah die Ursache politischer Aufstände in einer ausgeprägten sozialen und politischen Ungleichheit. Dabei problematisierte er den Verlust des humoralen Gleichgewichts, der medizinischen Ursache von Krankheit und Alter. Das ‚hektische Fieber‘ war ein Modell für einen unmerklichen Krankheitsbeginn, gefolgt von einem galoppierenden Verlauf. Auch hier rekurrierte Zuccolo fast wörtlich auf Machiavellis Principe, in dem es hieß: Und es geschieht, was die Ärzte vom hektischen Fieber sagen, dass es zu Beginn der Krankheit leicht zu heilen und schwer zu erkennen ist, aber im weiteren Verlauf, wenn es
206 „E perchè io parlo de’corpi misti, come sono le republiche e le sètte, dico che quelle alterazioni sono a salute che le riducano inverso i principii loro.“ Machiavelli, Discorsi III, 1, S. 947. Zu den impetustheoretischen Implikationen vgl. hier Kap. 2.3.2. 207 „E perché nel processo del tempo quella bontà si corrompe, se non interviene cosa [...], ammazza di necessità quel corpo.“ Machiavelli, Discorsi III, 1, S. 948. 208 „Questa è quella febre etica, la quale consumando à poco à poco l’humor vitale della Republica, non prima dà segno di malignità, ch’è già disperato il rimedio.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 13.
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zu Beginn nicht erkannt und behandelt wurde, leicht zu erkennen wird, und schwer zu heilen.²⁰⁹
Während Machiavelli das Problem der diagnostischen Früherkennung fokussierte, betonte Zuccolo, dass das hektische Fieber den humor vitalis und somit eine Vitalkraft der Republik aufzehrte, mit dem Resultat ihrer Lebensverkürzung. In der medizinischen Literatur wurde das hektische Fieber (hectica febris oder phthisis)²¹⁰ und die damit einhergehende Konsumption des humor vitalis tatsächlich im Zusammenhang des Alterns diskutiert. Bereits Galens Traktat Über den Marasmus fasste die Phänomene Altern, hektisches Fieber und Marasmus unter dem gemeinsamen Merkmal der Austrocknung zusammen.²¹¹ Auch Isaak Israeli, Haly Abbas, Avicenna und Roger Bacon erörterten Alterungsprozesse im Zusammenhang der Fieberpathologie. Alter und Fieber hatten den gesteigerten Verbrauch von humor vitalis gemeinsam. Bacon nahm an, dass sich die eingeborene Feuchtigkeit im Verlauf des Lebens sukzessive verbrauchte wie das Öl einer Lampe.²¹² Das hektische Fieber beschleunigte diesen Prozess zusätzlich. Zuccolos Überlegungen zur fieberbedingt verstärkten Konsumption des humor vitalis beruhten auf einer weiteren Theorie des Alterns, die auch von Galen ausging. Diese identifizierte die Ursache des Alterns nicht mit dem Verlust des Gleichgewichts der Körpersäfte, sondern mit der Verminderung der Vitalkräfte wie dem humor vitalis, calor innatus, spiritus vitalis und dem Blut. Dabei wurde eine endliche Menge der jeweiligen Vitalsubstanz angenommen. War diese aufgezehrt, starb man. Für Zuccolo spielte die Reduktion des humor vitalis eine zentrale Rolle, die eng mit jener des calor innatus verbunden war. Dieser Zusammenhang wurde bei Galen anschaulich mit einer Lampen-Metapher illustriert. Galen ging von einem stetigen Verbrauch des calor innatus, der eingepflanzten Wärme, aus, was zu einer hitzebedingten Auszehrung am Lebensende führte. Der sukzessive Verbrauch des humor vitalis bewirkte die charakteristische Austrocknung des hohen Alters. Nahm man hingegen die abnehmende innere Wärme in den Blick,
209 „Et interviene di questa come dicono e fisici dello etico che nel principio del suo male è facile a curare e difficile a conoscere, ma, nel progresso del tempo, non l’avendo in principio conosciuta nè medicata, diventa facile a conoscere e difficile a curare.“ Machiavelli, Principe III, S. 132. Das hektische Fieber wird auch erwähnt in Kap. XIII, S. 260. 210 Es wurde zwischen kontinuierlichen und intermittierenden Fiebern mit intervallartigem Verlauf unterschieden. Zu den kontinuierlichen Fiebern zählte das Eintagsfieber, hektische Fieber (wie die Tuberkulose) und Faulfieber (wie das pestilentialische Fieber). Lonie, Fever Pathology, S. 20. 211 Niebyl, Old Age, S. 357. 212 Ebd., S. 359.
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kam man zu dem Schluss, dass das Öl nicht mehr ordentlich brannte, was das zweite Merkmal des Alters hervorbrachte, seine Kälte. Hinsichtlich der medizinischen Gegenmaßnahmen stellte sich die Frage, ob der Alterungsprozess durch nachträgliche Zufuhr von humor vitalis oder calor innatus zu stoppen war. Galen und später Avicenna differenzierten jedoch zwischen innerer und äußerer Hitze und zwischen innerer und äußerer Feuchtigkeit und behaupteten einen qualitativen Unterschied zwischen der inneren endlichen und der äußeren unendlichen Wärme und Feuchtigkeit.²¹³ Aufgrund der minderwertigen Qualität der von außen zugeführten Feuchtigkeit und Wärme ließ sich der intrinsische humor vitalis durch die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme nicht nachträglich aufstocken. Vielmehr riskierte man dadurch gemäß Galen, die Lebensflamme mit einer großen Menge von minderwertigem Brennstoff zu ertränken. Auch Avicenna betonte, dass die Menge der inneren Feuchtigkeit quantitativ begrenzt war und ihr Verbrauch die Lebensdauer eines Menschen bestimmte. Aufgrund der qualitativen Differenz zwischen extrinsischer und intrinsischer Wärme verlängerten weder Fieberschübe noch ausgedehnte Sonnenbäder das Leben, sondern bewirkten nur einen erhöhten Verzehr des humor vitalis. Vor diesem theoretischen Hintergrund blieb therapeutisch nur die Möglichkeit, den Verbrauch des humor vitalis durch ein geeignetes Gesundheitsregime zu minimieren. Da Krankheiten zu einem erhöhten Verzehr der Vitalsubstanzen führten und auf diese Weise die Lebensdauer verkürzten, musste auch ihrer Entstehung vorgebeugt werden. Darauf zielte Zuccolos Warnung vor Aufständen als politischer Krankheit, die wie das hektische Fieber den humor vitalis des Staates verzehrte.
4.2.4 Das Lebenselixier Nicht alle Mediziner waren so pessimistisch wie Galen und Avicenna, was die nachträgliche Zufuhr an Vitalsubstanzen betraf. So kam Isaak Israeli zu dem Schluss, dass sich eine große Menge an Vitalsubstanz in eine lange Lebensdauer umrechnen ließ. Er identifizierte spiritus vitalis und calor innatus und postulierte, dass diese wie das Feuer vom Öl vom Blut genährt wurden. Vor diesem Hintergrund erschien nicht mehr die Verminderung des Verbrauchs, sondern die Erhöhung der Menge der Vitalsubstanz als Garant für ein langes Leben. Ähnlich behauptete Paracelsus mehrere Jahrhunderte später, dass eine große Menge von
213 Ebd., S. 359.
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humor vitalis zu einer großen Quantität von spiritus vitalis führte, ebenso wie eine große Menge Brennholz für ein großes Feuer sorgte.²¹⁴ Die Idee, das Leben durch die Erhöhung der Brennstoffmenge zu verlängern, funktionierte nur, wenn man die These des qualitativen Unterschieds zwischen innerer und äußerer Feuchtigkeit und Wärme zurücknahm. Bacon unterschied zwar zwischen innerer und äußerer Feuchtigkeit, nahm jedoch an, dass die von außen zugeführte Feuchtigkeit, ergänzt um Stoffe mit magischen und okkulten Eigenschaften wie Gold, Edelsteine und Elixiere qualitativ verbessert werden konnte.“²¹⁵ Die Konzeption des Lebenselixiers, einer geheimnisvollen Substanz, deren Herstellungsverfahren ebenso okkult war wie ihre Wirkungsweise, stammte aus der arabischen Alchemie. Das Lebenselixier als Pharmazeutikum zur Lebensverlängerung wurde von Jabir (721–815) und Rhazes (865–925) erörtert. Rhazes definierte das Elixier als ‚Medikament‘, das die Transmutation verschiedener Metalle in Gold bewirkte, wodurch diese von ihrer Unvollkommenheit ‚geheilt‘ wurden.²¹⁶ Die pharmazeutische Wirkung des Elixiers wurde von Jabir behauptet. Doch schrieb man dem Elixier nicht nur eine therapeutische, sondern aufgrund der Annahme, dass Gold als unvergängliches Metall seine ‚Unsterblichkeit‘ auf die organische Materie übertragen konnte, auch eine lebensverlängernde Wirkung zu. Es handelte sich um ein durch komplexe chemische Prozeduren hergestelltes Pharmakon, wie es die arabische Medizin liebte.²¹⁷ Das Elixier wurde durch die Isolation einzelner Substanzen, etwa im Destillationsverfahren gewonnen.²¹⁸ Auf diese Weise hoffte man, den spiritus vitalis aus Substanzen wie Mineralien zu gewinnen und anschließend durch Destillation zu konzentrieren.²¹⁹ Die Destillation beruhte als chemisches Verfahren auf dem Prinzip der Entmischung, indem es einen einzelnen Stoff aus einer Vielheit herausfilterte. Daher wurde das Elixier auch pharmazeutisch als Simplicium verstanden, als ein Medikament, dem nur ein einzelner Wirkstoff zugrunde lag. Als solches trat es etwa bei Boccalini in Erscheinung, der es darüber hinaus mit der aristotelischen Quintessenz identifizierte. In seinem postum
214 Ebd., S. 360. Campanella teilte diesen Optimismus. Ob er Kenntnis von der paracelsischen Medizin hatte, ist nicht untersucht. Die Parallelen könnten sich auch dem voneinander unabhängigen Rekurs auf volksmedizinische Konzeptionen schulden. 215 Ebd., S. 360. 216 Gruman, Prolongation of Life, S. 59 f. 217 Max Neuburger: Geschichte der Medizin. 2 Bde. Bd. 1. Stuttgart 1906, S. 198. 218 Das schon seit sehr langem bekannte Verfahren wurde von Rhazes weiterentwickelt, so dass es auf mehr Substanzen anwendbar war. 219 Gruman, Prolongation of Life, S. 61.
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erschienenen politischen Hauptwerk, dem Tacitus-Kommentar La bilancia politica (1669)²²⁰ bezeichnete Boccalini die Wachsamkeit des Herrschers als das fünfte Element, das eine entscheidende Bedeutung für den Erhalt des Staates hatte: Die Wachsamkeit ist daher in den Fürsten und in allen Politikern die Quintessenz und von essentieller Bedeutung. Wer gut aufpasst, schläft auch gut. Immer mit einem Auge zu wachen ist eine schreckliche Anstrengung, aber in Trägheit zu verfallen, ist eine lasterhafte Schande, denn ‚während Du schläfst, wache ich‘, sprach der Teufel zum heiligen Macarius.²²¹
Aristoteles, der zwischen himmlischer und terrestrischer Sphäre unterschied, identifizierte die Quintessenz mit dem Äther, also jenem Element, das nur in der unvergänglichen Sphäre des Himmels vorkam. Die Herrschertugend der Wachsamkeit war für Boccalini jenes Element, das den Staat durch seine eigene Unvergänglichkeit zu perpetuieren vermochte, ebenso wie der Äther die supralunare Sphäre unvergänglich machte. Die Identifikation der Wachsamkeit des Fürsten mit der Quintessenz war auch eine medizinische Variation auf den juristischen Topos des Fürsten als Herz und wachende Gerechtigkeit (vigilans iustitia), wie er im vierzehnten Jahrhundert etwa von dem berühmten Rechtsgelehrten Baldo degli Ubaldi beschworen wurde: „Der König ist das beseelte Gesetz, und [...] daher können die Untertanen sagen: Während ich schlafe, wacht mein Herz, das heißt, mein König.“²²² Boccalini erklärte neben der politischen Wachsamkeit auch die Staatsräson zur Quintessenz der Politik. Ein Teil der Ragguagli di Parnaso, den Boccalini nicht zur Veröffentlichung vorgesehen hatte, zirkulierte anonym unter dem Titel, „Die Quintessenz der Staatsräson“ (La quinta essenza della Ragion di stato,
220 Eine deutlich stärkere Rezeption erfolgte jedoch erst mit der Ausgabe von 1678. Vgl. Guido Baldassarri: Introduzione. In: Traiano Boccalini: Considerazioni sopra la Vita di Agricola. Hg. von Guido Baldassarri. Rom, Padua 2007, S. VII–XLV, S. X. 221 „La vigilanza dunque ne’Prencipi, ed in tutti gli huomini di grandi affari, è il quinto elemento d’essentiale importanza. Chi ben vegghia, ben dorme. Lo star sempre con l’occhio in sentinella, è fatica penosa, mà l’infraccidir nella ignavia, è vergogna viziosa; e mentre tu dormi, Io vegghio, disse il Diavolo à S. Maccario.“ Der genannte Heilige war ein ägyptischer Eremit des vierten Jahrhunderts, der wie Antonius in der Wüste vom Teufel versucht wurde. Traiano Boccalini: Bilancia politica. Parte prima, dove si tratta delle osservazioni politiche sopra i sei libri degli Annali di Cornelio Tacito. Castellana 1678, S. 80. 222 „Rex est lex animata: et [...] subditi possunt tunc dicere: Ego dormio et cor meum, id est, Rex meus, vigilat“ Zitiert nach Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, S. 147. Zur fürstlichen Schlaflosigkeit ebd., S. 158.
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tratta da’governi de’maggior prencipi del mondo).²²³ Auch Texte über die Staatsräson versprachen unter Rekurs auf die Quintessenz nicht nur, für den Erhalt des Staates zu sorgen, sondern sogar, ihm das ewige Leben zu verschaffen. Dabei geriet die Staatsräson selbst zu einem lebensverlängernden Mittel. Auch der Verjüngung von Staaten gegenüber war Zuccolo skeptisch. Zyklische Prozesse waren in Staaten nicht vollständig vermeidbar. Dagegen war kein Kraut gewachsen: Das Kraut des Glaukos ist nicht mehr zu finden, mit dem die kurzlebigen Dinge unsterblich gemacht werden können. Und ebensowenig verfügte die Politik jemals über das Quecksilber, um den Zustand der Republiken so gut zu befestigen, dass sie, nachdem sie einmal zur Größe gelangt sind, zu der sie von ihrer inneren Konstitution und plötzlich auftretenden Umständen emporgetragen wurden, nicht auch wieder ihrem Untergang zustrebten.²²⁴
Ovids bekannteste Überlieferung der Geschichte des Glaukos in den Metamorphosen schildert die Verwandlung des böothischen Fischers in einen Meergott, nachdem er Fische auf die Erde geworfen hatte, wo diese im Kontakt mit einem wundersamen Kraut ihr Leben wiedergewannen. Der Verzehr dieses Krauts verlieh Glaukos Unsterblichkeit.²²⁵ Glaukos wundersames Kraut war jedoch nach Einschätzung Zuccolos nicht mehr aufzutreiben. Doch an anderer Stelle schien Zuccolo die Suche nach einem Mittel, das Staaten auf medikamentösem Weg die Unsterblichkeit verlieh, für weniger aussichtslos zu halten: Wer die wahre Arznei fände, um den Körper der Stadt, anstatt ihn [nur] zu erhalten, [vollständig] von diesem schädlichen Körpersaft [questo maligno humore] zu purgieren, könnte die Aristokratien (sozusagen) unsterblich machen und auch die anderen Arten der Republiken länger am Leben erhalten, die normalerweise nicht so lange leben.²²⁶
Mit dem schädlichen Körpersaft, von dem es die Stadt zu befreien galt, meinte Zuccolo den allgemeinen Sittenverfall und gesetzeswidriges Verhalten. Mit der
223 Bettina Bosold-DasGupta, Alfred Noe: Einleitung. In: Traiano Boccalini: Relationen aus Parnasso. Übersetzungen von 1614, 1616, 1617 und 1644. Hg. von dens. Berlin 2009, S. 7–36, S. 15 f. 224 „Non si trova più l’herba di Glauco da far le cose caduche eterne. Ne la Politica hebbe mai mercurio da fissar sì bene lo Stato delle Republice, che giunte alla grandezza, alla quale l’interna costitution loro, e gli accidenti, che sopravengono, le possono far salire, non declinino all’occaso.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 179 f. 225 Vgl. Ovid, Metamorphosen 13, 898–968. 226 „Chi sapesse trovar la vera medicina da purgare il corpo della città da questo maligno humore, più tosto di preservarlo, potrebbe (per così dire) rendere immortale la vita delle Aristocratie, e conservare anco più à lungo le alte spetie di Republiche, che communemente non sogliono durare.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 17.
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Arznei hatte Zuccolo offensichtlich das Elixier im Blick. Die ominöse Arznei verlieh nicht nur Unsterblichkeit, sondern war auch ein inwendig anzuwendender heilkräftiger Trank: Es genügt nicht, den Körper äußerlich einzucremen oder einzureiben, wenn ein heftiges Fieber die innere Feuchtigkeit [humor vitale] inwendig verzehrt – es empfiehlt sich vielmehr, das innere Feuer durch heilsame Tränke zu kräftigen.²²⁷
Die Erwähnung des Fiebers, das den humor vitalis verzehrte, verwies erneut auf die lebensverlängernde Funktion des Elixiers. Trotz der anfänglichen Skepsis gegenüber staatlicher Verjüngung und Unsterblichkeit nahm Zuccolo die Existenz von medizinischen oder politischen Mitteln an, die dem Körper von außen neue Vitalkräfte zuführten oder die vorhandenen stärkten. So lobte er etwa die Gesetzgebung des römischen Kaisers Vespasian dafür, das Gemeinwohl legislativ befördert zu haben, indem er „dem Reich neues Blut in die Venen geleitet habe.“²²⁸ Wie Augustus aus dem Bürgerkrieg war Vespasian, der Begründer der flavischen Dynastie, siegreich aus den politischen Wirren des sogenannten Vierkaiserjahrs 69 nach Christus hervorgegangen.²²⁹ Zuccolo schilderte den auch nicht gut beleumdeten Kaiser Vespasian als vorbildlichen Gesetzgeber, obwohl er zuvor Augustus und Tiberius als Tyrannen dargestellt hatte. Tatsächlich glich Vespasians Politik der des Tiberius – neben einer mordreichen Personalpolitik machten sich beide Kaiser um die Konsolidierung des Staatshaushalts und der territorialen Grenzen verdient. Vespasian vermehrte die Zahl der Bürger, indem er einer Vielzahl von Bewohnern der römischen Provinzen wie Hispania das latinische Bürgerrecht (ius Latii) verlieh. Sehr wahrscheinlich meinte Zuccolo diese Gesetzgebung, die dem Imperium mit den neuen Bürgern „neues Blut“ zuführte. Damit sorgte sie für einen ganz realen Nachschub an Vitalsubstanzen. Zur Eroberungspolitik äußerte sich Zuccolo ambivalent. Einerseits lehnte er sie mit dem medizinischen Argument ab, dass sich der im Herzen des politischen Körpers residierende calor innatus durch die territoriale Ausdehnung abzukühlen drohte und warnte davor, Reiche „zur falschen Zeit zu vergrößern und die Wärme
227 „Non basta l’ungere, ò il fregar di fuore il corpo, quando febbre vorace consuma di dentro l’humor vitale: ma fà di mestiere lo smorzare il fuoco interno con buone potioni.“ Ebd., S. 142. 228 „giovava all’Imperio, che Vespasiano gli rimetesse il sangue nelle vene con le buone leggi.“ Ebd., S. 26. 229 Die flavische Dynastie, deren Beginn Tacitus miterlebt hatte – und zwar politisch an der Seite Vespasians – war Gegenstand der taciteischen Historien.
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des Herzens fortzuleiten an zu weit entfernte Glieder.“²³⁰ Andererseits konnten Eroberungen die Vitalität des Staates befördern. Ohne sie konnte „keine Stärke oder vitale Kraft weder in einer Republik noch in einer Monarchie“ entstehen.²³¹ Dieser Gedanke rekurrierte auf den in der republikanischen politischen Literatur beliebten Topos der Kriegsführung als Maßnahme gegen den sittlichen Zerfall einer Gesellschaft, der vom Frieden befördert wurde.²³² Der Krieg brachte zweifellos ein hohes Maß an körperlichen Ertüchtigungen mit sich. Diese stellten gemäß dem diätetischen Maßnahmenkatalog der sex res non naturales selbst ein diätetisches Mittel dar. Zu den sechs nicht-natürlichen Dingen zählten Licht und Luft, Speise und Trank, Arbeit und Ruhe des Körpers, Schlafen und Wachen, Leerung und Füllung des Körpers und die Bewegungen des Gemüts.²³³ Die Maßnahmen dieses bis ins neunzehnte Jahrhundert populären Programms versuchten, einen Ausgleich zwischen den Extremen herzustellen. In politischem Kontext genossen Ruhe und Kontemplation spätestens seit der Frühen Neuzeit einen schlechten Ruf, während Aktivität und körperliche Ertüchtigung zunehmend als staatstragend empfunden wurden. Das hing nicht zuletzt mit dem humanistischen Paradigmenwechsel von einer vita contemplativa zur vita activa zusammen. Machiavelli äußerte seine Abneigung gegenüber der vita contemplativa, die er von der christlichen Religion gelebt sah, deutlich: Unsere Religion hat die demütigen und kontemplativen Menschen mehr geehrt als die aktiven. [...] Und wenn unsere Religion von dir innere Stärke verlangt, meint sie damit eher, dass du fähig sein solltest zu leiden als dazu, energisch zu handeln. [...] Und obwohl es scheint, dass die Welt verweichlicht sei und der Himmel entwaffnet, resultiert dies zweifellos aus der Feigheit der Menschen, die unsere Religion mehr in Richtung der Untätigkeit ausgedeutet haben als in der der Tüchtigkeit.²³⁴
230 „fuor di tempo ad ampliarlo, distrahendo il calor del cuore à membra troppo lontane.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 27 f. 231 „[...] gli acquisti, olte la quale non arriva il vigore, ò la virtù vitale (per così dire) ne di Republicha, ne di Monarchia.“ Ebd., S. 183. 232 Die wichtigsten antiken Vertreter dieser Idee waren Sallust und Cicero. 233 Die sex res non naturales wurden erstmals in Galens ars medica genannt, erhielten ihren Namen aber erst von Haly Abbas, dessen viel rezipiertes ‚Königliches Buch‘ diese Bezeichnung im zehnten Jahrhundert bekannt machte. Kümmel, Musik und Medizin, S. 132 und Maclean, Logic, Signs and Nature, S. 252 f. 234 „La nostra religione ha glorificato più gli uomini umili e contemplativi che gli attivi. [...] E se la religione nostra richiede che tu abbi in te fortezza, vuole che tu sia atto a patire più che a fare una cosa forte. [...] E benché paia che si sia effeminato il mondo e disarmato il Cielo, nasce più
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Die Staatsräson und die Alterung und Verjüngung des Staates
Auch für Zuccolo waren Eroberungen ein negotium, ein Tätigsein, während ihm der Friede als ein otium, ein ausgedehnter Müßiggang, erschien. Das ging aus der Kapitelüberschrift „Dass die Fürsten weder Müßiggang noch Ruhe genießen können, wenn sie lobenswert regieren wollen“ hervor.²³⁵ Zuccolo sprach Eroberungen darüber hinaus die Funktion zu, neue Vitalkräfte von außen zuzuführen, bzw. die vorhandenen zu stärken. Das war genau jene Wirkung, die man dem Elixier zuschrieb, das traditionell mit dem Element des Goldes verbunden war. Möglicherweise hatte Zuccolo mit der Stärkung der vitalen Substanzen durch Expansion auch den Goldzufluss aus Süd- und Mittelamerika im Sinn, der seit der Entdeckung der beiden Amerikas zu einer merklichen Erhöhung der Goldmenge in Europa geführt hatte. Zu der zeitgenössischen Expansionspolitik der europäischen Staaten äußerte sich Zuccolo jedoch nicht explizit, vielleicht, weil die italienischen Territorien selbst nicht als Kolonialmächte in Erscheinung traten. Zuccolos medizinische Maßnahmen zur Lebensverlängerung richteten sich auf den Staat als Kompositum, das wie der Körper von Lebewesen aus vielen Teilen zusammengesetzt und komplex strukturiert war. Seine naturphilosophischen Vergleiche etwa zum Herdenverhalten betteten die traditionelle Analogie von Körper und Staat jedoch systematisch in einen politisch-medizinischen Kontext ein. Zugleich jedoch kam es zur Verselbständigung der politischen Sphäre gegenüber der natürlichen Ordnung. Das ergab sich nicht durch die Abwendung von der Welt der Analogien, sondern gerade aus Zuccolos intensivem Rekurs auf die Naturphilosophie. Die humoralpathologische Konzeption der Wiederherstellung des Gleichgewichts spielte keine große Rolle für Zuccolos Vorschläge zur Lebensverlängerung der Staaten. Er konzentrierte sich vielmehr auf den Erhalt und die Erneuerung der vitalen Stoffe, insbesondere des humor vitalis. Das lag offenbar im frühen siebzehnten Jahrhundert nicht nur medizinisch, sondern auch politisch im Trend, wie im Folgenden bei Francis Bacon zu zeigen sein wird.
sanza dubbio dalla viltà degli uomini, che hanno interpretato la nostra religione secondo l’ozio e non secondo la virtù.“ Machiavelli, Discorsi II, 2, S. 747. 235 „Che i Prencipi non possono godere ne otio, ne quiete, se vogliono governar con lode“. Zuccolo, Considerationi politiche, S. 204.
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4.3 Der Diskurs der Lebensverlängerung und Francis Bacons Historia vitae et mortis (1623) Francis Bacon gab zahlreiche politische und medizinische Instruktionen, wie sich der Alterungsprozess des Staates und seiner Bevölkerung verlangsamen oder gar umkehren ließ. Er widmete sich der Diätetik mit der Zielsetzung der Lebensverlängerung in De vijs mortis (1611) und in seinem umfangreichen Traktat History of Life and Death (Historia vitae et mortis, 1623). Zur politischen Theorie hat sich Bacon trotz seiner eigenen politischen Betätigung relativ wenig geäußert und dies vornehmlich in kürzeren Texten wie etwa verschiedenen seiner Essays. Vor allem in Of the True Greatness of the Kingdom of Britain,²³⁶ Of the True Greatness of Kingdoms and Estates²³⁷ und Of Plantations²³⁸ setzte sich Bacon mit den politischen Mitteln des Erhalts und der Expansion von Staaten auseinander.
4.3.1 Fluchtversuche des spiritus In der History of Life and Death trug Bacon optimistisch eine Vielzahl von Maßnahmen zur Lebensverlängerung vor. Bacon konzentrierte sich ausschließlich auf den natürlichen Tod und dessen Ursache, nämlich Alterungsprozesse. Damit schloss er krankheitsbedingte ebenso wie durch äußere Gewalt herbeigeführte Todesfälle aus seinen Überlegungen aus. Die Maßnahmen zur Abwendung dieser Todesarten delegierte er leicht geringschätzig an die Zunft der Mediziner.²³⁹ Mit Alterungsprozessen standen körperliche Phänomene im Zentrum der Aufmerksamkeit, die sich durch einen kontinuierlichen und vorhersehbaren Verlauf auszeichneten, nicht durch eine sprunghafte Entwicklung. Daher galten sie Bacon als potentiell reversibel: “Anything which can be repaired gradually, without destroying the original whole, is, like the vestal flame, potentially eternal.”²⁴⁰ Bacon differenzierte zwischen drei Arten von Maßnahmen zur
236 Entstanden zwischen 1603 und 1608. Der Text ist eine unvollendete Schrift mit politischen Empfehlungen für Jakob I. von England kurz nach dessen Thronbesteigung im Jahr 1603. Der Text erschien erstmals in der Ausgabe der Essays von 1612 im Druck. Bacon, Of the True Greatness of the Kingdom of Britain, SEH VII, S. 47–64. [Im Folgenden TGKB] 237 Der Text ist die zweite, deutlich längere Version von Of the True Greatness of the Kingdom of Britain [TGKE, OFB XV, S. 89–99.] Sie erschien erstmals in der Ausgabe der Essays von 1625. Vgl. Peltonen, Politics and Science, S. 283. 238 Verfasst zwischen 1619 und 1622. Bacon, Of Plantations, OFB XV, S. 106–108. 239 Bacon, HVM, OFB XII, S. 145. 240 Ebd., S. 145.
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Lebensverlängerung, jenen zum Erhalt, bzw. zur Minimierung des Verbrauchs von Vitalstoffen, Maßnahmen zur Reparatur der vorhandenen Substanzen sowie Maßnahmen zu deren Erneuerung.²⁴¹ Sehr anschaulich illustrierte Bacon diese drei Verfahren anhand des Beispiels der Zähne: The first is that one acquire new teeth, but that it seems to be extremely difficult and not to be effected without a thorough and powerful renewal of the body. The second is to make the gums so strong with suitable astringents that they can to some degree do the job of teeth, a proposal which does not seem implausible. The third is that food may be so prepared that it does not need chewing, and this can be done promptly and expeditiously.²⁴²
Erhalt, Reparatur und Erneuerung der Zähne waren in Hinblick auf die Lebensverlängerung eher zweitrangige Probleme. Der Gegenstand von Bacons Maßnahmen war vielmehr jene vitale Substanz, die er hauptsächlich für den Alterungsprozess von Lebewesen verantwortlich machte: die medizinischen spiritus. Damit fokussierte Bacon eine andere psychomaterielle Substanz als die meisten gelehrten Mediziner der aristotelisch-galenischen Tradition, die Alterungsprozesse als Resultat des allmählichen Verbrauchs der eingepflanzten Feuchtigkeit (humor vitalis) und der inneren Wärme (calor innatus), beschrieben.²⁴³ Nach Ansicht Bacons konnten nur Minderbemittelte glauben, dass deren allmählicher Verzehr für Alterung und Tod verantwortlich war: “The physicians, as if their brains were on holiday, refer to the dwindling of natural heat and radical moisture, things which have no practical use.”²⁴⁴ Bacons Maßnahmen zur Lebensverlängerung konzentrierten sich vor allem auf die medizinischen spiritus. Im Gegensatz zu der traditionellen Unterscheidung zwischen drei Arten von Spiritus, spiritus naturalis, spiritus vitalis und spiritus animalis, kannte Bacon nur zwei Arten, den spiritus vitalis und den spiritus mortualis. Während der belebte spiritus vitalis eine Art energetische Substanz war, die im Körper der Lebewesen Prozesse der Wahrnehmung, der Wärme und der Bewegung bewirkte, handelte es sich bei dem unbelebten spiritus mortualis um einen Stoff, der den ganzen materiellen Kosmos durchwaltete. Dort bewirkte er meteorologische, hydrodynamische und mechanische Transformationsprozesse, darunter auch den materiellen Verfall.²⁴⁵ Es handelte sich also um eine Art ‚Verfallssubstanz‘, die Alterungsprozesse in allen Arten von belebter und unbelebter
241 Ebd., S. 243. 242 Ebd., S. 315. 243 Vgl. Niebyl, Old Age, S. 357. 244 Bacon, HVM, OFB XII, S. 343. 245 “the spirit is the source of all dissolution and consumption.” Bacon, HVM, OFB XII, S. 159.
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Materie wie Mineralien, Luft und toten organischen Stoffen initiierte: “In every tangible substance there exists a spirit hidden and invested in the grosser body; and from this consumption and dissolution originate.”²⁴⁶ Den Verfall führte der kosmisch allgegenwärtige spiritus mortualis auf zweierlei Weise herbei. Während der belebte spiritus ein friedlicher Insasse des Körpers war, musste man sich den unbelebten als unglücklichen Gefangenen vorstellen, der unermüdlich gegen die Gefängnismauern anrannte, bis sie schließlich niederbrachen.²⁴⁷ Der Fluchtwille des luftartigen spiritus – eine Reminiszenz an die pneumatische Idee der perspiratio insensibilis²⁴⁸ – war in Hinblick auf das Altern unerfreulich, da das allmähliche Entweichen des spiritus zu einer Volumenvermindung führte. Das hatte den Effekt, “that the spirit given off dries bodies up, and spirit held back liquefies and softens them.”²⁴⁹ Die Aktion des spiritus war eine dreifache: The first action is the attenuation of moisture into spirit; the second is the exit or escape of the spirit; the third is the contraction of the grosser parts as soon as the spirit has gone out.²⁵⁰
Die Austrocknung des menschlichen Körpers vollzog sich nach Ansicht Bacons in derselben Weise “as happens in the kernel of nuts which when dried out do not fill the shell, in beams and wooden planks which fit snug at first but after desiccation split apart.”²⁵¹ Der Austrocknungsprozess wurde zudem durch die unablässige Assimilationstätigkeit des spiritus verstärkt, durch welche die Körperflüssigkeiten in spiritus verwandelt und zum Auszug aus dem Körper animiert wurden. Die quantitative Vermehrung des spiritus verstärkte wiederum den Assimilationsvorgang: “whatever it finds in the surrounding body that it can digest, work up, and convert into itself, it alters, tames, and multiplies itself on it, and generates new spirit.”²⁵² Der spiritus stiftete Unruhe, indem er andere Stoffe wie Flüssigkeiten zur Flucht animierte, bzw. sie durch Assimilation einfach ‚mitnahm‘. Im Novum organum zählte Bacon die Assimilation, “[the] motion of assimilation or selfmultiplication or even simple generation”²⁵³ , zu den 19 einfachen Bewegungsar-
246 Ebd., S. 347. 247 Rees, Introduction, OFB VI, S. LXII. 248 Bacon, HVM, OFB XII, S. 175. 249 Ebd., S. 273. 250 Ebd., S. 173. 251 Ebd., S. 175. 252 Ebd., S. 173. 253 Bacon, Novum organum, OFB XI, S. 401.
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ten oder Kräften,²⁵⁴ die er in allen natürlichen dynamischen Prozessen am Werk sah.²⁵⁵ Die Assimilation unterschied sich von den meisten anderen Bewegungen dadurch, dass sie nicht selbsterhaltend, sondern expansiv war: “In the other nine motions of which I have spoken bodies seem only to seek after the conservation of their nature, whereas in this tenth they seek to propagate it.”²⁵⁶ Den am Modell der Verdunstung inspirierten expansiven Assilimilationsvorgang sah Bacon überall im Gange, sowohl im menschlichen Körper als auch in anderen Sphären der Natur und des Kosmos sowie in der Politik. Im Körper der Lebewesen drohte der spiritus mortualis, der sowohl im Körper als auch in der ihn umgebenden Luft residierte, die Körperflüssigkeiten qua attractio aus dem Inneren zu locken und in Luft zu verwandeln: “And that is the first action [of the process of desiccation and consumption], namely that of the attenuation of moisture and its conversion into spirit.”²⁵⁷ Um diesen Prozess zu verhindern, empfahl Bacon kurzerhand den Luftabschluss durch die Verlagerung des Lebens in Höhlen: “Life in dens and caves where the air does not admit the Sun’s rays can contribute to long life.”²⁵⁸ Dieselbe Maßnahme zur Lebensverlängerung ließ Bacon von der utopischen Bevölkerung von New Atlantis praktizieren: We have large and deep caves of several depths; the deepest are sunk 600 fathoms; and some of them are digged and made under great hills and mountains [...]. For we find that the depth of a hill, and the depth of a cave from the flat, is the same thing; both remote alike from the sun and heaven’s beams, and from the open air. These caves we call the Lower Region. And we use them for all coagulations, indurations, refrigerations, and conservation of bodies. [...] We use them also sometimes (which may seem strange) for curing of some diseases, and for prolongation of life, in some hermits that choose to live there, well accommodated of all things necessary, and indeed live very long; by whom also we learn many things.²⁵⁹
254 “the main species of motions or active virtues”. Ebd., S. 385. 255 Ebd., S. 384–417. 256 Ebd., S. 403. 257 Bacon, HVM, OFB XII, S. 175. 258 Ebd., S. 273. 259 Bacon, New Atlantis, SEH III, S. 126–166, S. 156 f. Im Zuge des Kalten Krieges hat diese Idee unerwartet Auftrieb bekommen. Dr. Strangeloves Zukunftsvision in Stanley Kubricks Dr. Strangelove, or How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (1964), das Leben nach dem Atomschlag für zumindest 80 bis 100 Jahren in Höhlen oder Bergwerke zu verlagern, steht gewiss in Zusammenhang mit Bacons Empfehlung des Höhlenlebens. Vermittelt war die Idee sehr wahrscheinlich durch den Theoretiker des Atomkriegs Hermann Kahn, der sich in On Thermonuclear War (1960) für Bergwerke als Atomschutz stark machte.
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Die Maßnahme des Luftabschlusses, sonst selten in der medizinischen Literatur erwähnt, war aristotelischen Ursprungs.²⁶⁰ Ein vollständiger Luftabschluss empfahl sich gemäß Bacon allerdings auch nicht, da dieser zu einer pneumatischen Stockung, namentlich im Kopf, führen konnte: “The third disadvantage is that it can burden the head. For all external blocking drives back the vapours and sends them towards the head.”²⁶¹ Es empfahl sich also die maßvolle Durchlüftung, möglichst mit einer guten, kalten und gleichförmig wehenden Luft: “The equality of the air, and not just its goodness or purity, is a factor in longevity.”²⁶² Der Ratschlag war von den klimatischen Überlegungen in Hippokrates’ Über Lüfte, Gewässer und Örtlichkeiten²⁶³ inspiriert und mit einer Prise Patriotismus gewürzt, denn selbstverständlich fand sich die beste Luft auf Inseln wie England, Irland und den Orkney-Inseln.²⁶⁴ Die Insellage empfahl sich nicht nur aus diätetischen, sondern auch aus geopolitischen Gründen, wie sich in Bacons politischen Schriften zeigte. In The True Greatness of the Kingdom of Britain bezeichnete Bacon die richtige geographische Lage als notwendige Bedingung für wahre politische Größe: “First, That true greatness doth require a fit situation of the place or region.”²⁶⁵ Die Frage der idealen geographischen Lage war wie jene nach der besten Verfassung, auf die Bacon nicht einging,²⁶⁶ ein Standardtopos der politischen Literatur des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts.²⁶⁷ Für Bacon beruhte die geographische Vorzüglichkeit auf drei Faktoren: First, that it be of hard access. Secondly, that it be seated in no extreme angle, but commodiously in the midst of many regions. And thirdly, that it be maritime, or at the least upon great navigable rivers.²⁶⁸
260 Niebyl, Old Age, S. 364. 261 Bacon, HVM, OFB XII, S. 279. 262 Ebd., S. 223. 263 Die in der frühneuzeitlichen Medizin überaus populäre Schrift trägt auf Deutsch verschiedene Titel, z. B. Die Umwelt. Vgl. Hippokrates, Ausgewählte Schriften. Hg. u. übers. von Hans Diller. Stuttgart 1994, S. 123–160. 264 Bacon, HVM, OFB XII, S. 223. 265 Bacon, TGKB, SEH VII, S. 48. 266 Bacon vermied eindeutige Stellungnahmen zugunsten einer bestimmten Staatsform. Vgl. Peltonen, Bacon’s Political Philosophy, S. 284–290. 267 Er findet sich etwa im ersten Kapitel von Machiavellis Discorsi. Vgl. Machiavelli, Discorsi I, 1, S. 418–426. 268 Bacon, TGKB, SEH VII, S. 62.
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Natürlich erfüllten die Britischen Inseln und die Stadt London diese Bedingungen. Das Plädoyer für die geographische Isolation war ebenso mit der diätetischen Idee des Luftabschlusses zur Vermeidung unerwünschter Assimilationsprozesse verbunden wie Bacons Warnung vor der ‚Naturgewalt‘ politischer Rhetorik. Bacon konstatierte, For as the ancient politiques in popular estates were wont to compare the people to the sea and the orators to the winds, because as the sea would itself be calm and quiet if the winds did not move or trouble it, so the people would be peaceable and tractable if the seditions did not set them in working and agitation; so it may be fitly said, that the wind in the nature thereof would be temperate and stayed, if the affections, as winds, did not put it into tumult and perturbation.²⁶⁹
Bacons legitimierte seine Warnung vor hohem Wellengang im Gemüt der Bevölkerung, das durch aufrührerische politische Rhetorik aufgepeitscht war, auch naturphilosophisch, wie in Of Seditions and Troubles deutlich wird.²⁷⁰ Dort merkte Bacon an: “And as there are certaine hollow Blasts of Winde, and secret Swellings of Seas, before a Tempest, so are there in States.”²⁷¹ Den Zusammenhang zwischen der Wind- und Meeresbewegung hatte er bereits in seiner naturphilosophischen Diskussion des Assimilationsvorgangs erörtert. In History of the Winds führte Bacon aus, wie die Umwandlung von Wasser in Luft qua Assimilation zur Vermehrung und Verstärkung derselben führte: that air, newly made from water and attenuated and resolved vapours, and joined with the air already there, cannot be kept in the same bounds as before, but swelling and turning outwards, fills a larger volume.²⁷²
Das war aufgrund der substantiellen Ähnlichkeit zwischen luftigen und wässrigen Substanzen möglich: “as air multiplies itself and generates new air over water and watery bodies.”²⁷³ Die plötzliche Volumenvermehrung der Luft durch Assimilation von Wasser führte in meteorologischer Hinsicht zu “extraordinary winds and sudden blasts,”²⁷⁴ die nach Ansicht Bacons sowohl in der Sphäre der Natur als auch der Politik verheerende Wirkungen zeitigten. Bacon sah also in
269 Bacon, The Advancement of Learning, OFB IV, S. 103. 270 Bacon, Seditions, OFB XV, S. 48. 271 Ebd., S. 43. 272 Bacon, History of the Winds, OFB XII, S. 63. 273 Bacon, Novum organum, OFB XI, S. 401. 274 Bacon, History of the Winds, OFB XII, S. 67.
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Politik und Natur dieselben Kräfte am Werk und nahm an, dass in beiden Sphären gleiche Gesetzmäßigkeiten herrschten.
4.3.2 Mittel zur inneren Anwendung Die Flucht des spiritus mortualis ließ sich nicht nur durch äußere Maßnahmen wie den Luftabschluss aufhalten, sondern auch durch innere Anwendungen. Besonders geeignet erschien Bacon die Medikamentengruppe der ‘cordials’, der Cordialia oder herzstärkenden Mittel. Diese sollten die spiritus medikamentös beruhigen, verdichten und konzentrieren. Cordialia verursachten eine zentripetale Bewegung, welche die spiritus von der Körperperipherie zurück ins Zentrum scheuchte: “Whatever puts to flight from all sides concentrates a body on its centre, and so condenses.”²⁷⁵ Medikamentös in die Flucht geschlagen – also in die Bewusstlosigkeit oder eingeschränkte Aufnahmefähigkeit –, wurden die spiritus durch Opium und andere Narkotika: “Opium is far and away the most powerful and effective means of condensing the spirits by flight, and next to it opiates, and soporifics in general.”²⁷⁶ Bacon unterschied zwischen einfachen und zusammengesetzten Opiaten. Zu den einfachen zählte er Opium, Mohn, diverse Nachtschattengewächse, Schierling, Alraune und den Tabak.²⁷⁷ Bacon empfahl die dauerhafte Einnahme dieser Präparate, die üblicherweise als Therapeutika eingesetzt wurden, in präventiver Funktion, da er befand, was gegen Krankheiten half, konnte auch zur Prävention von Alterungsprozessen nicht schaden.²⁷⁸ Zur lebensverlängernden Wirkung von Pharmaka im Dauerkonsum, “remedies [...] carried over into diet”,²⁷⁹ hatte er allerdings keine Erfahrungswerte. Bacon gab zu, die Wirkung mancher der von ihm empfohlenen medikamentösen Therapien gar nicht zu kennen: I expressly declare that I have not tested some of the points I shall make by experiment [...], but they are only derived with (as I judge) very good reason, from my principles and presuppositions.²⁸⁰
275 Bacon, HVM, OFB XII, S. 247. 276 Ebd., S. 247. 277 Ebd., S. 251. 278 Die Annahme, dass kurative Mittel auch zur Prävention taugten, war unter gelehrten Medizinern verbreitet und fand sich auch bei Settala. Vgl. hier Kap. 5.6.5. 279 Bacon, HVM, OFB XII, S. 237. 280 Ebd., S. 241.
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Dennoch schien Bacon ein Experiment lohnenswert, wobei ihm vage bewusst war, dass der Dauerkonsum von Opiaten nur bedingt empfehlenswert war. Daher riet er wahlweise zur Durchführung einer alljährlichen, vierzehntägigen Opiumkur im Frühsommer²⁸¹ oder zur Dauereinnahme sogenannter pharmazeutischer Austauschstoffe.²⁸² Damit unbekannte, nicht verfügbare oder teure Ingredienzien nicht wahllos durch andere Stoffe ersetzt wurden, waren diese seit dem sechzehnten Jahrhundert in pharmazeutischen Quidproquo-Listen verbindlich festgehalten. Die Austauschstoffe der Opiate besaßen nicht dessen Gefahrenpotential, jedoch eine verwandte Wirkung oder Qualität: There are medicines which possess a certain weak, hidden, and therefore safe degree of opiate virtue. They discharge a slow and abundant vapour, but not harmful as opiates do.²⁸³
Unter den opiumähnlichen Stoffen empfahl Bacon besonders den Tabak.²⁸⁴ Dessen Konsum musste zwar nicht unbedingt beworben werden, da er schon so weit verbreitet war, dass eine Debatte um ihn entbrannte, an dem sich auch Jakob I. von England mit dem Traktat A Counterblaste to Tobacco (1604) beteiligte. Der König bezeichnete es darin als seine ärztliche Pflicht, die Untertanen von ihrem Laster zu kurieren: “For remedie whereof, it is the Kings part (as the proper Phisician of his Politicke-body) to purge it of all those diseases, by Medicines meete for the same.”²⁸⁵ Der Tabakkonsum schien ihm der Gipfel des Müßiggangs seiner Untertanen: “And surely in my opinion, there cannot be a more base, and yet hurtfull, corruption in a Countrey, then is the vile use (or other abuse) of taking Tobacco in this Kingdome.”²⁸⁶ Trotz der verbalen Geißelung des “stinking Antidote” ließ sich Jakob I. gern gefallen, dass die staatliche Monopolisierung des Tabakhandels, die zur Einschränkung des Anbaus in England und Wales (1619), zum Verbot des Verkaufs von Tabak aus Virginia in nicht-englischen Häfen (1620) und zum Einfuhrverbot für ausländischen Tabak (1624) führte, in Form von Steuern beträchtliche Summen in die Staatskasse spülte. Die Tabakpolitik Jakobs I. war also doppelbödig, was besonders in einem Erlass des Jahres 1624 zum Ausdruck kam, in dem der König gleichzeitig seine Abneigung gegen das Gewächs
281 “Thus from youth to adulthood, let there be every year a certain opiate diet. [...] Let the medicine be taken only every other day, and the diet carried on for a fortnight.” Ebd., S. 251. 282 Schmitz, Geschichte der Pharmazie I, S. 394. 283 Bacon, HVM, OFB XII, S. 253. 284 Ebd., S. 249–251. Das Suchtpotential erwähnte Bacon nur beim Tabak, nicht beim Opium. 285 James I.: A Counterblaste to Tobacco. London 1604, o. S. 286 Ebd., o. S.
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(“as tending to the corruption both of the health and manners of Our people”) und seine Zuneigung zu seinem ökonomischen Nutzen kundtat, der nirgendwo deutlicher war als in der englischen Kolonie Virginia.²⁸⁷ Bacons Plädoyer für den Tabakkonsum war weniger doppelbödig – Tabak wirkte sich in seinen Augen sowohl positiv auf die Gesundheit und Langlebigkeit der Individuen aus als auch auf die ‚Gesundheit‘ der Nationalökonomie. In Of Plantations empfahl er den Tabakanbau in den Kolonien.²⁸⁸ Als Teilhaber der Virginia Company kannte er sich damit aus, denn er profitierte selbst von dem seit 1612 boomenden Tabakanbau in der jungen Kolonie. Die positiven Effekte des Tabakhandels auf die Staatskasse kannte er ebenfalls aus erster Hand, da er Kalkulationen über die sich aus der Monopolisierung ergebenden staatlichen Mehreinnahmen durchgeführt hatte.²⁸⁹ Bacons Empfehlung des Tabaks als herzstärkendes Mittel war daher politisch zu verstehen – der Tabakhandel stärkte tatsächlich das Herz des Staates, nämlich die zentralisierte Staatskasse, die sich in London und damit im Herzen des Staates befand, “the region which is the heart and seat of the state.”²⁹⁰ Eine weitere Möglichkeit der Verdichtung und Konzentration der Lebensgeister zum Zweck der Lebensverlängerung bestand in ihrer Abkühlung. Diese ließ sich vor allem chemisch-medikamentös durch die Zuführung von ‘nitre’ oder Salpeter bewerkstelligen. Sie konnte wahlweise durch die Inhalation von Dämpfen und Ausdünstungen sowie über die Nahrungsaufnahme erfolgen. Salpeter war ein Nitrat oder Salz und Bestandteil der Salpetersäure, doch verstanden die paracelsischen Autoren, die größten Anhänger des sogenannten “aerial nitre”, ein weit größeres Spektrum chemischer Substanzen darunter, vor allem verschiedene Salze. Bacon nannte Niter einen Erdgeist (“spirit of earth”) und deutete ihn als “cold and aromatic body”, der wie alle kalten Substanzen über eine geringe Spirituskonzentration verfügte.²⁹¹ Bacon schrieb Salpeter geradezu die Qualität eines Elixiers zu, indem er die Wirkung des flüssigen Goldes, einem klassischen Lebenselixier, auf dessen Salz-, bzw. Nitratgehalt zurückführte:
287 Kiernan, Commentary, OFB XV, S. 243. 288 Bacon, Of Plantations, OFB XV, S. 107. 289 Vgl. etwa den Brief vom 22. November 1619 an den Herzog von Buckingham. Kiernan, Commentary, OFB XV, S. 243. 290 Bacon, TGKB, SEH VII, S. 51. 291 “Almost all cold bodies [...] have a meagre and scanty spirit.” Bacon, HVM, OFB XII, S. 255.
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As for potable gold, it is given as a first-rate cordial in grave or desperate illnesses with no little success. But I think that rather than the gold the spirits of salt which bring the dissolution about confer the virtue we find in it.²⁹²
Salpeter war auch in einem ausgesprochen kriegsrelevanten Substrat, dem Schießpulver, in Form von Kaliumnitrat oder Schwarzpulver enthalten. “Nitre” konnte als Dunst oder Flüssigkeit aufgenommen werden: “Gunpowder, which is mainly made up of nitre, taken in a drink is said to inspire courage, and is often taken by soldiers and sailors before battle, just as the Turks take opium.”²⁹³ Eine derartige Schießpulverdiät taugte nicht nur zur Lebensverlängerung, sondern auch zur Förderung der Kriegsbereitschaft. Kriege stellten eine hervorragende Gelegenheit dar, die lebensverlängernde Salpeterluft zu schnuppern. Eine von Schießpulver erfüllte Luft trug in Bacons Augen nicht nur zur Langlebigkeit von Individuen bei, sondern beförderte auf kollektiver Ebene auch die staatliche Größe. Denn Bacon hielt die Existenz eines kriegerischen Geistes und kriegstechnischer Fähigkeiten in der Bevölkerung für den zentralen Faktor für die Entfaltung eines expansiven Staates: “the Principal Point of Greatnesse in any State, is to have a Race of Military Men.”²⁹⁴ Ein kriegerischer Geist bildete sich jedoch nicht mitten im Wohlstand aus, sondern in relativer Armut, die einen Anreiz darstellen sollte, die eigene Lage zu verbessern: “And all these men had no other wealth but their adventures, nor no other title but their swords, nor no other press but their poverty.”²⁹⁵ Auch die geopolitische Lage trug also in Bacons Augen zur Ausbildung eines kriegerischen Geistes bei.²⁹⁶ Doch die schönste kriegerische Disposition der Bevölkerung (“stout and warlike”²⁹⁷ ) nutzte wenig ohne die Gelegenheit, sie auszuleben: “For the Things, which we formerly have spoken of, are but Habilitations towards Armes: And what is Habilitation without Intention and Act?”²⁹⁸ Kriegerische Konflikte waren ein willkommener Anlass, dem martialischen Geist Gestalt zu verleihen, allerding nur, sofern es sich nicht um einen Bürgerkrieg handelte: “Multis utile bellum; an ill condition of a state (no question) if it be meant of a civil war, as it
292 Ebd., S. 235. 293 Ebd., S. 257. 294 Bacon, TGKE, OFB XV, S. 91. “[true greatness] consisteth also in the valour and military disposition of the people it breedeth: and in this, that they make profession of arms.” Bacon, TGKB, SEH VII, S. 48. 295 Bacon, TGKB, SEH VII, S. 57. 296 Das war eine Variation auf Machiavellis Überlegung, dass das Siedeln in sehr fruchtbaren Gegenden die wirtschaftliche Produktivität nicht förderte. Vgl. Machiavelli, Discorsi I, 1, S. 423. 297 Bacon, TGKE, OFB XV, S. 91. 298 Ebd., S. 95.
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was spoken; but a condition proper to a state that shall increase, if it be taken of a foreign war.”²⁹⁹ Daher gereichte die kriegerische Betätigung sowohl dem Staat als auch seiner Bevölkerung nur dann zur Gesundheit, wenn es sich um Kriege gegen andere Staaten handelte: No Body can be healthfull without, neither Naturall Body, nor Politique: And certainly, to a Kingdome or Estate, a Just and Honourable Warre, is the true Exercise. A Civill Warre, indeed, is like the Heat of a Feaver; But a Forraine Warre, is like the Heat of Exercise, and serveth to keepe the Body in Health: For in a Slothful Peace, both Courages will effeminate, and Manners Corrupt.³⁰⁰
Bacon unterschied kategorisch zwischen einer auf Befriedung und Erhalt ausgerichteten Innenpolitik und einer martialischen, expansiven Außenpolitik. Dafür lieferte er sowohl politische als auch naturphilosophische Argumente. Anders als in der Innenpolitik, wo sich Bacon vor allem für den Erhalt des Status quo interessierte, bezeigte er außenpolitisch ein großes Interesse an der kriegerischen Expansion, die auf den Zuwachs an Territorium und Einwohnern bedacht war. Bacon nahm auf Boteros Definition der Staatsräson Bezug, der diese als die Kenntnis der geeigneten Mittel, eine stabile Herrschaft über Völker zu begründen, zu erhalten und zu erweitern, bezeichnete.³⁰¹ Bacon ordnete die beiden zentralen Zielsetzungen der Staatsräson, die des Erhalts und die der Expansion, zwei verschiedenen Bereichen der Politik, nämlich der Innen- und der Außenpolitik, zu. In beiden politischen Sphären herrschten seiner Ansicht nach verschiedene Gesetzmäßigkeiten, eine These, die naturphilosophisch begründet war. Im Anschluss an Telesio ging Bacon wie Campanella von einem universellen kosmischen Konflikt aus. Dieser bestand in einem unablässigen, erbitterten Kampf zwischen zwei Prinzipien, die den gesamten Kosmos durchwalteten, dem Prinzip der Wärme und der Kälte.³⁰² Beide verkörperten eigene Reiche, die durch ihre gemeinsame Bestrebung zur Ausdehnung in Konflikt gerieten. Zwischen ihnen herrschte ein “implacable and deadly war […], one nature desires, strives and tries hard to destroy the other and to impose its exclusive domain on matter.”³⁰³ Dieser permanente Krieg fand gemäß Bacon nicht überall im Kosmos,
299 Bacon, TGKB, SEH VII, S. 59. 300 Bacon, TGKE, OFB XV, S. 97. 301 Botero, Della ragion di stato, S. 9. 302 Zu Telesio vgl. Mulsow, Frühneuzeitliche Selbsterhaltung. Telesios Einfluss auf medizinische und politische Konzeptionen ist schlecht erforscht. 303 Bacon, On Principles and Origins, OFB VI, S. 248.
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sondern nur an seinen Rändern statt. So schien es ihm auch in politischer Hinsicht wünschenswert: after he [Telesio] has sufficiently fortified the innermost parts of both kingdoms, he sets a military campaign in motion, for all tumult, conflict and infernal disorder can be found in those spaces between the outmost parts of the heaven and the innermost parts of earth as happens in empires where the borders are exposed to incursions and aggressions, while the internal provinces enjoy peace and security.³⁰⁴
Telesios naturphilosophische Überlegung lieferte eine wichtige Begründung für Bacons rigide Trennung zwischen innen- und außenpolitischen Maßnahmen – es handelte sich um zwei verschiedene Sphären, in denen andere Regeln galten. Mochten Verträge und Übereinkünfte auch innenpolitisch sinnvoll sein, in der Außenpolitik regierten andere Gesetze, oder vielmehr gar keine Gesetze. Denn die Ausdehnung des Kosmos “does not result from the laws that regulate covenants and agreements, but from sheer power.”³⁰⁵ Daher erschien Bacon die kriegerische Betätigung nur in einer der beiden Sphären, nämlich in der Randund Kampfzone, dem politischen Wohlergehen zuträglich. Diese naturphilosophischen Ausführungen waren kaum anders als politisch zu verstehen, zumal sich die Natur und der Kosmos nur schlecht vertraglich regulieren ließen. Bacon plädierte jedoch nicht für eine Expansion um jeden Preis, sondern für ein maßvolles Wachstum. So nahm er kein direktes Verhältnis zwischen der Größe eines Staates und seiner territorialen Ausdehnung, den in ihm vorhandenen Reichtümern und der Fruchtbarkeit des Territoriums an.³⁰⁶ Die territoriale Ausdehnung eines Staates erschien Bacon relativ unwichtig im Vergleich zu seiner Fähigkeit zum Wachstum und zur Entfaltung der Kräfte. So konnte ein Staat auch ein kleines Territorium haben, wenn er nur gut gedieh: The Kingdome of Heaven is compared, not to any great Kernell or Nut, but to a Graine of Mustard-seed; which is one of the least Graines, but hath in it a Propertie and Spirit, hastily to get up and spread. So are there States, great in Territorie, and yet not apt to Enlarge, or Command; And some, that have but a small Dimension of Stemme, and yet apt to be the Foundations of Great Monarchies.³⁰⁷
Damit orientierte sich Bacon im Gegensatz zu Zuccolo nicht an Machiavellis ‚Modell‘ Sparta, dem Beispiel des statischen Staats, sondern vielmehr am ‚Modell‘
304 Ebd., S. 231. 305 Ebd., S. 234. 306 Bacon, TGKB, SEH VII, S. 48. 307 Bacon, TGKE, OFB XV, S. 90.
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Rom, dem Muster eines expansiven Staates, der die eroberten Gebiete durch eine Politik der Einbürgerung zu integrieren suchte.³⁰⁸ Bacon konzentrierte sich an dieser Stelle ausschließlich auf die Expansion eines Staates, die sich für ihn wesentlich vom Erhalt und Wohlergehen eines Staates unterschied. Während sich der Erhalt mittels Religion, Gesetzen oder rechtlichen Bestimmungen bewerkstelligen ließ, bedurfte es zur Expansion die Staatsräson.³⁰⁹ Dabei hatte Bacon nicht nur die quantitative Ausdehnung im Blick. Die territoriale Ausdehnung des Staates musste nach Ansicht Bacons in einem angemessenen Verhältnis zu den vorhandenen ‚Kräften‘ stehen. Dieses ließ das römische Reich bei seinem Zusammenbruch missen: towards the end [...], the Roman empire, notwithstanding the magnitude thereof, became no better than a carcasse, whereupon all the vultures and birds of prey of the world did seize and ravine for many ages, for a perpetual monument of the essential difference between the scale of miles and the scale of forces.³¹⁰
Das Missverhältnis zwischen räumlicher Größe und den vorhandenen ‚Kräften‘ war nicht nur verantwortlich für den Niedergang des Staates, sondern korrespondierte auch mit dem altersbedingten Verlust der spiritus mortualis im politischen Körper. Wegen des Niedergangs der Vitalkräfte wurde die Versorgung eines großen Territoriums mit Lebenskraft vor allem für einen alten Staat zum Problem: For certainly like as great stature in a natural body is some advantage in youth, but is but burden in age; so it is with great territory, which when a state beginneth to decline, doth make it stoop and buckle so much the faster.³¹¹
An dieser Stelle verknüpfte Bacon das Prinzip der Expansion, das er für die Größe eines Staates verantwortlich machte, mit der Frage der Lebensdauer eines Staates. Bacons Expansionismus richtete sich nicht nur auf die materiellen Bedingungen wie die territoriale Ausdehnung oder die Finanzkraft eines Staates, sondern auch auf die Quantität und Qualität der Bevölkerung. So postulierte er: “Secondly, That true greatness consisteth essentially in population and breed of men.”³¹²
308 Machiavelli, Discorsi I, 6, S. 462. 309 Bacon, TGKB, SEH VII, S. 49. Bacon nannte die Staatsräson “remedies of estate” (ebd., S. 49), “reason of estate” (ebd., S. 50 f.) und “consideration of estate” (ebd., S. 54). 310 Ebd., S. 51. 311 Ebd., S. 53. 312 Ebd., S. 48.
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Die Staatsräson und die Alterung und Verjüngung des Staates
Wie Machiavelli hielt Bacon das römische Beispiel der Bevölkerungsvermehrung durch die Verleihung von Bürgerrechten an unterworfene Volksstämme für vorbildlich, wie aus seinem Plädoyer für die Einbürgerung der Schotten hervorging.³¹³ Auch bei der Bevölkerungsvermehrung zielte Bacon vordergründig nicht auf die rein quantitative Expansion. Weder er noch ein anderer Autor einer frühneuzeitlichen Utopie plädierte für die Steigerung der Geburtenrate. Das schuldete sich sehr wahrscheinlich der hohen Kindersterblichkeit, die die Erhöhung der Geburtenrate bevölkerungspolitisch sinnlos machte.³¹⁴ Bacon formulierte den Grundsatz, dass die Zahl der Einwohner eines Territoriums dem dort erzeugten Waren- oder Wirtschaftsvolumen entsprechen sollte: Generally, it is to be foreseene, that the Population of a Kingdome (especially if it be not mowen down by warrs) doe not exceed, the Stock of the Kingdome which should maintaine them.³¹⁵
Die Bevölkerungsdichte wurde in Bacons Augen von den materiellen Ressourcen bestimmt, wobei er mehr die Über- als die Unterbevölkerung fürchtete.³¹⁶ Bacon interessierte sich nicht nur für die Menge der Bevölkerung, sondern auch für ihre ständemäßige Verteilung. Problematisch war nicht die quantitative Vermehrung der unteren, sondern der oberen Stände. Da der Adel und Klerus wirtschaftlich unproduktiv war, drohte eine Unterversorgung mit Gütern: Neither is the Population, to be reckoned onely by number; For a smaller Number that spend more and earne lesse, doe weare out an Estate, sooner then a greater Number, that live lower, and gather more.³¹⁷
Die Problematisierung der Bevölkerungsverteilung war ein Gemeinplatz der frühneuzeitlichen Demographie.³¹⁸ Allerdings gab Bacon vor allem der Abneigung vor
313 Francis Bacon: A Brief Discourse touching the Happy Union of the Kingdoms of England and Scotland. In: SEH X, S. 90–99, S. 95 f. Auch in der Parlamentsrede The Article of the General Naturalization of the Scottish Nation äußerte sich Bacon positiv zu dem Vereinigungsprojekt Jakobs I. 314 Philip Kreager: Early Modern Population Theory: A Reassessment. In: Population and Development Review 17, 2 (1991), S. 207–227, S. 211. 315 Bacon, Seditions, OFB XV, S. 47. 316 Kreager ist der Ansicht, dass das Verhältnis zwischen Bevölkerungsdichte und Subsistenz in der Frühen Neuzeit selten in den Blick genommen wurde. Vgl. Kreager, Population Theory, S. 215. 317 Bacon, Seditions, OFB XV, S. 47. 318 Kreager, Population Theory, S. 212.
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der Vermehrung seines eigenen Standes Ausdruck: “Multiplying of Nobilitie, and other Degrees of Qualitie, in an over Proportion, to the Common People, doth speedily bring a State to Necessitie.”³¹⁹ Bei dieser Einschätzung konnte sich Bacon auf seine Erfahrung mit den ersten nordamerikanischen Siedlungsprojekten stützen. Bacon war in mehrere der kolonialisierenden Handelskompanien persönlich und finanziell involviert, darunter die Virginia Company of London (1609), die Newfoundland Company (1610), die North West Passage Company (1612) und die East India Company.³²⁰ Insbesondere in Virginia wurden die Effekte einer ungünstigen Bevölkerungsverteilung deutlich. Gravierende Versorgungsprobleme führten 1590 zum Verschwinden der kompletten Siedlung von Roanoke, der sogenannten lost colony. Noch zwischen 1619 und 1623 betrug die Mortalitätsrate in Virginia 75 Prozent.³²¹ Das war nicht zuletzt das Resultat der Einwanderung viel zu spezieller Berufsgruppen. So kamen 1612 in Jamestown anstelle von Schreinern, Farmern und Maurern 26 Edelleute, 2 Goldschmiede, 6 Schneider, ein Juwelier und ein Parfümhersteller an.³²² Bacon war sich bewusst, dass das nicht das richtige Personal in der Anfangsphase der Kolonialisierung war und schlug statt dessen die Versendung von “Gardners, Plough-men, Labourers, Smiths, Carpenters, Joyners, Fisher-men, Fowlers, with some few Apothecaries, Surgeons, Cookes, and Bakers” vor.³²³ Dabei stützte er sich auf eine Liste der Virginia Company (A true and sincere declaration), mit der sich die Handelsgesellschaft um die direkte Anwerbung von 32 erwünschten Berufsgruppen bemühte. Bacons Abneigung gegen die Vermehrung der wirtschaftlich untätigen Stände beruhte also wesentlich auf seiner persönlichen Erfahrung mit der frühen nordamerikanischen Kolonialisierung und ihren Versorgungsproblemen. Daraus ergaben sich zurückhaltende Thesen zur demographischen Expansion, die stets das Verhältnis zu den materiellen Ressourcen wahren sollte und auch schichtspezifisch war, da nur die Vermehrung der wirtschaftlich produktiven Stände angestrebt wurde.
319 Bacon, Seditions, OFB XV, S. 47. 320 Kiernan, Commentary, OFB XV, S. 239. 321 Ebd., S. 245. 322 John Smith: Map of Virginia. In: Philipp L. Barbour (Hg.): The Jamestown Voyages Under the First Charter 1606–1609. Documents relating to the foundation of Jamestown and the history of the Jamestown colony up to the departure of Captain John Smith, last president of the council in Virginia under the first charter, early in October, 1609. Cambridge 1969, S. 397–399. 323 Bacon, Of Plantations, OFB XV, S. 106.
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Die Staatsräson und die Alterung und Verjüngung des Staates
4.3.3 Erneuerung und Reparatur von Körperflüssigkeiten und Körperteilen Nicht alle makrobiotischen Ratschläge richteten sich auf die Konzentration und Verdichtung des spiritus. Auch die Erneuerung und Reparatur von Körperflüssigkeiten und anderen körpereigenen Stoffen schien Bacon geboten. Zur Erneuerung des Blutes und anderer Körpersäfte empfahl sich zunächst deren Entfernung, bzw. Reinigung. Dafür kamen sowohl Schwitzkuren als auch der Aderlass in Frage.³²⁴ Allerdings waren Bacon beide Maßnahmen zu unspezifisch und ineffizient, zumal beim Schwitzen alle Flüssigkeiten, die schädlichen wie die guten, gleichermaßen entwichen. Die Reparatur konnte vor allem durch Verfestigung, bzw. durch die Versorgung mit Fett bewirkt werden. Die beste Maßnahme zum Verschluss der Poren erschien Bacon das Einölen des Körpers: “anointing with oil is almost the most powerful operation affecting longevity.”³²⁵ Denn Bacon ging von einer besonders langen Haltbarkeit harter und fettiger Substanzen aus: “There are two kinds of bodies [...] which are consumed only with difficulty: hard and fat, as we see in metals and stones, and in oil and wax.”³²⁶ Während die Reparaturmaßnahmen auf Verfestigung und gute Ölung abzielten, verfolgten Bacons Empfehlungen zur Erneuerung die konträre Absicht, nämlich das Weichmachen und Durchfeuchten der Körperteile. Das versprach die Kapitelüberschrift: “Operations to tenderize the parts which have dried up, or to soften the body”.³²⁷ Dahinter stand die Idee, dass das Alter physiologisch durch Austrocknung gekennzeichnet sei. Auch wenn Bacon leugnete, dass der Verbrauch von humor vitalis oder calor innatus für den Alterungsprozess verantwortlich war, machte er mit der Aktivität des spiritus mortualis nur eine neue Ursache für das traditionelle medizinische Verständnis des Alterns als Austrocknungsprozess geltend. Doch gab es einen Unterschied. Während die hippokratische Tradition das hohe Alter vom kalten-feuchten, die aristotelisch-galenische vom kalt-trockenen Temperament gekennzeichnet sah³²⁸, vertrat Bacon eine altersbedingte Zunahme der Körperwärme. Damit schloss er erneut an Telesio an, der den Alterungsprozess als eine stetige Erwärmung gedeutet hatte.³²⁹ Daher maß er der Erneuerung, dem Erhalt von Körperflüssigkeiten und dem gründlichen Durch-
324 Bacon, HVM, OFB XII, S. 237. 325 Ebd., S. 279. 326 Ebd., S. 287. 327 Ebd., S. 319. 328 Vgl. Kap. 4.2, hier S. 228–230. 329 Vgl. Rees, Introduction, OFB VI, S. LXVII. Rees meint, Bacon habe ganz traditionell angenommen, dass die Temperatur des calor innatus bis ins mittlere Lebensalter ansteige und sich anschließend abschwäche. Doch Bacons konsequente Maßnahmen zur Kühlung des alternden
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feuchten eine große Bedeutung zu. Bacon erwog sowohl innere als auch äußere Anwendungen. Unter den äußeren Anwendungen gab Bacon Ölen und Bädern den Vorzug. Er hielt sie für ideale Weichmacher. Ihre Wirkung erschien ihm umso vorzüglicher, je mehr sich Badesubstanz und badender Körper materiell glichen. So galt für Bäder, “[that] they should consist in things which in their entire substance are similar to the body and flesh of human beings.”³³⁰ In dieser Perspektive boten sich Verjüngungskuren durch Blutbäder geradezu an. Mit sichtlichem Vergnügen kolportierte Bacon historische Beispiele für diese Maßnahme, nicht ohne ihre politischen Nachteile zu verschweigen: It is anciently received that bathing in the blood of infants cures leprosy and restores flesh already rotten. But instances of this brought down popular hatred on the heads of certain Kings.³³¹
Den Vorwurf, aus medizinischen Gründen im Blut von Kindern zu baden, hatten sich zu verschiedenen Zeiten verschiedene europäische Regenten zugezogen. Bekannt ist der Fall der ungarischen Gräfin Erzsébet Báthory (1560–1614), die einer politischen Intrige zum Opfer fiel, die sie der Ermordung zahlreicher weiblicher Dienerinnen bezichtigte, angeblich zum Zweck der Materialbeschaffung für verjüngende Blutbäder.³³² Noch um 1750 sah sich Ludwig XV. von Frankreich mit dem Gerücht konfrontiert, dass er zu dermatologischen Zwecken im Blut kleiner Kinder bade, was Madame de Pompadour mit dem Urteil quittierte: „Ich glaube, es gibt nichts derartig Dummes, wie zu glauben, daß man ihren Kindern Blut abzapfen wolle, um einem hautkranken Fürsten ein Heilbad zu bereiten.“³³³ Bacon war Blutbädern gegenüber nicht nur aus politischen, sondern auch aus ästhetischen Gründen skeptisch. Alternativ empfahl er die sensorisch angenehmere Form der Behandlung mit verjüngenden ‚Kompressen‘ in Menschengestalt: “Nor should we neglect soothing compresses made from living bodies.
Körpers zeugen davon, dass er wie Telesio von einem linearen Anstieg der Körpertemperatur ausging. 330 Bacon, HVM, OFB XII, S. 321. 331 Ebd., S. 321. 332 Diesen Vorwurf formulierte der Jesuit László Turóczi in Ungaria suis cum regibus compendio data (1721). 333 Madame de Pompadour [Jeanne Antoinette Poisson]: Briefe. Hg. u. übers. von Hans Pleschinski. München 2001, S. 376.
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Ficino says (and he was not joking) that David would have felt a lot better cohabiting with a girl, but that he took the treatment too late.”³³⁴ Bacon propagierte hier den sogenannten Sunamitismus, die Praxis der Verjüngung von Greisen durch das Beigesellen jungfräulicher geschlechtsreifer Frauen ohne sexuellen Verkehr. Diese Praxis wurde dem biblischen König David zugeschrieben, dessen Bettgefährtin, Abischag aus Schunem, zur Namensgeberin dieser Therapieform gegen Altersschwäche und Impotenz wurde.³³⁵ Bacon stand mit seinem Plädoyer für weibliche Kompressen zum Transfer von Wärme und Feuchtigkeit nicht allein. Mehrere gelehrte Mediziner wie Thomas Sydenham und Hermann Boerhaave propagierten diese medizinische Praxis ebenfalls.³³⁶ Bacons Empfehlung des Sunamitismus hatte zusätzlich eine politische Pointe. Denn Bacon erhoffte sich von den jungen englischen Kolonien an der nordamerikanischen Ostküste auch, dass sie dem ‚alten‘ europäischen Staat in Form von Handelsgütern ‚Feuchtigkeit‘ zuführten und ihn dadurch ‚verjüngten‘. Nicht umsonst hieß eine der jungen englischen Kolonien Virginia. Den neuen Kolonien sprach Bacon explizit eine regenerierende Wirkung auf die ‚alten‘ europäischen Staaten zu und konstatierte: “When the world was young, it begate more Children; but now it is old, it begets fewer: For I may justly account new Plantations, to be the Children of former Kingdomes.”³³⁷ Darüber hinaus betrachtete Bacon die Verjüngungskur der Kolonialisierung als wichtigste Praxis der staatlichen Expansion, auf die er die historische Größe und Bedeutung des römischen Reichs zurückführte: “Adde to this, their [the Romans’] Custome of Plantation of Colonies; whereby the Roman Plant, was removed into the Soile, of other Nations.”³³⁸ Nicht nur der Gründung von Kolonien, auch der Einbürgerung der Bevölkerung der neuen Gebiete sprach Bacon gleichsam den Effekt einer politischen Wiedergeburt zu: “For indeed unions and plantations are the very nativities or birth-days of kingdoms.”³³⁹ Bacon hatte neben der Besiedlung der nordamerikanischen Ostküste auch die innereuropäische Kolonialisierung wie diejenige Irlands und die Vereinigung mit Schottland im Blick. Während der Plan zur Vereinigung Englands und Schottlands zu Bacons Lebzeiten scheiterte, waren Bacons Kolonialisierungsprojekte in Nordamerika
334 Bacon, HVM, OFB XII, S. 325. 335 Vgl. Schäfer, Alter und Krankheit, S. 128. 336 Vgl. Stephen Shapin, Christopher Martyn: How to Live Forever: Lessons of History. In: British Medical Journal 321 (2000), S. 1580–1582, S. 1581 und Schäfer, Alter und Krankheit, S. 220 f. 337 Bacon, Of Plantations, OFB XV, S. 106. 338 Bacon, TGKE, OFB XV, S. 94. 339 Bacon, Discourse on the Plantation in Ireland, SEH XI, S. 116–126, S. 116 f.
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erfolgreicher. Nicht nur er selbst war praktisch und finanziell als Anteilseigner in die frühe englische Kolonialpolitik involviert, sondern auch seine halbe Familie. In medizinischer Hinsicht konnte die Verjüngung und Regeneration der Körpersubstanzen nicht nur durch das Auflegen von Kompressen, sondern auch durch innere Anwendungen erfolgen. Da Bacon annahm, dass Blut kontinuierlich reproduziert wurde, und zwar durch die sukzessive Transformation von Nahrung in Blut, war die Idee der Erneuerung des Blutes durch die Nahrungsaufnahme naheliegend. Auch hier favorisierte Bacon das Prinzip der größtmöglichen Ähnlichkeit zwischen dem Nahrungsmittel und den zu erneuernden Körpersäften. Das Standardbeispiel für dieses Prinzip war in der medizinischen Literatur das Baby, das aufgrund seiner eigenen weichen Konsistenz nur ihm ähnliche, also möglichst weiche und breiartige Nahrung zu sich nehmen konnte.³⁴⁰ Dass diese Maßnahme auch zur Verjüngung durch die Erneuerung von Körperteilen und -flüssigkeiten taugte, hatte bereits Ficino behauptet: Wenn du willst, dass dein Essen in erster Linie die Form deines Hirn annimmt, oder deiner Leber oder deines Magens, so iss so viel du kannst von ähnlichen Speisen, das heißt, Hirn, Leber und Magen von Tieren, die der menschlichen Natur nicht unähnlich sind.³⁴¹
Aus dieser Perspektive erschien der Kannibalismus geradezu geboten – eine Pointe, die sich Bacon nicht entgehen ließ. So stellte er klar, dass zu viel Ähnlichkeit zwischen Nahrungsmittel und Esser doch nicht empfehlenswert war.³⁴² Skeptisch war Bacon auch gegenüber Ficinos makrobiotischem Plädoyer für das Trinken von Blut, vorzüglich demjenigen junger Männer.³⁴³ In Bacons Augen war es weniger wichtig, ob das Nahrungsmittel seinem Esser substantiell glich, als vielmehr, ob es frisch und üppig war. So präsentierte Bacon den Wechsel des Weidegrundes bei Pflugochsen als regelrechte Wunderkur. Schickte man erschöpfte Ochsen auf frische Weiden, regenerierte sich ihr Körper und ihr Fleisch binnen kürzester Zeit: “It is certain that plough oxen, exhausted by their labours, when they are released into pastures fresh and new, regain flesh tender and young.”³⁴⁴ In medizinischer Hinsicht handelte es sich sicher um eine Verwechslung von Altersprozessen mit Zuständen körperlicher Erschöpfung. In politischer Hinsicht evozierten die Weiden “fresh and new” erneut den Zusammenhang zu den ‚jungfräulichen‘ Weiden der neuen Welt. Die
340 Bacon, HVM, OFB XII, S. 193. 341 Ficino, Three Books on Life, S. 247. 342 Bacon, HVM, OFB XII, S. 193. 343 Ebd., S. 321. 344 Ebd., S. 325.
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Umsetzung der Pflugochsen wurde nach Bacons Auffassung von einem kolonialisierenden Herrscher betrieben, der sich als Arzt oder Geriater betätigte, der durch einen Weidewechsel die Verjüngung seiner ‚Tiere‘ herbeizuführen hoffte. Mehrere der von Bacon propagierten Maßnahmen zur Lebensverlängerung lassen sich also politisch lesen und stehen in Zusammenhang mit der zeitgenössischen englischen Kolonialpolitik, die Bacon ideell und praktisch unterstützte. Ähnlich wie bei Zuccolo richteten sich auch Bacons Maßnahmen zur Lebensverlängerung des Staates hauptsächlich auf den Staat als Kollektiv, das dabei in seiner Seinsweise als omnes ut universi in Erscheinung trat. Viele Maßnahmen zielten jedoch auf die Individuen selbst ab, so etwa Bacons Vorschläge zur Förderung von kriegerischen Ambitionen. Eine große Rolle spielten bei Bacon auch geopolitische Faktoren, die die Grundlage des Staates als Kollektiv und der Bevölkerung als Ansammlung von Individuen bildeten. Die Betonung der spezifischen Bedingungen des Territoriums dürfte sich erneut Bacons Erfahrung mit der Kolonialpolitik schulden, bei der sich die wesentlichen Faktoren für die Besiedlung deutlich offenbarten.
Teil IV
5 Seuchenpolitik und Staatsräson: Die Mailänder Epidemie von 1629–1630 5.1 Die Mailänder Pest von 1629–1630 im Spiegel der zeitgenössischen Pesttraktate Zu dem engsten und konkretesten Zusammenschluss zwischen Politik und Medizin kam es im Zuge der frühneuzeitlichen Seuchenpolitik. Das ist umso interessanter, als mit Ludovico Settala der Autor eines Staatsräsontraktats in die mailändische Pestpolitik während der Epidemie von 1629–1630 involviert war. Daher soll im Folgenden ein genauerer Blick auf die Verbindung von Medizin und Politik bei den Seuchenmaßnahmen geworfen werden, die anlässlich der Epidemien, die Europa zwischen 1348 und 1722 regelmäßig heimsuchten, implementiert wurden. Während ältere Untersuchungen davon ausgingen, dass medizinische Anordnungen eine maßgebliche Rolle in der Seuchenpolitik spielten und von politischen Akteuren auch umgesetzt wurden, gehen jüngere Untersuchungen meist umgekehrt davon aus, dass die politischen Maßnahmen die medizinischen Konzeptionen beeinflussten. Das betrifft vor allem Ursache und Übertragungswege der Krankheit.¹ Während der Zusammenhang zwischen Seuchenpolitik und Sozialpolitik, insbesondere der Armenfürsorge, häufig untersucht wurde,² wird das Verhältnis von Seuchenmaßnahmen zur Politik, zumal zur politischen Theorie, selten thematisiert. Der Historiker Martin Dinges hat vertreten, die Politik der frühmodernen Staaten sei ganz wesentlich von Seuchenmaßnahmen inspiriert gewesen und geht von einer systematischen Wechselbeziehung zwischen Pest und Staat aus. Dabei untersucht er sehr allgemein die Beziehung zwischen Bürger und Staat und den Prozess der Staatsbildung.³ Da es wenig Sinn macht, die Frage so allgemein zu beantworten, wird sie im Folgenden anhand des konkreten Falls der Epidemie von 1629–1630 in Mailand untersucht. Die in Nord- und Mittelitalien praktizierten Pestmaßnahmen waren
1 Carlo Cipolla: Public Health and the Medical Profession in the Renaissance. Cambridge u. a. 1976. 2 Carmichael, Plague and the Poor. 3 Dinges, Pest und Staat, S. 72. Dinges bezeichnet die Wechselbeziehung zwischen Pest und Staat als kaum untersuchtes Thema. Vgl. ebd., S. 72. Relativ unbefriedigend, da ohne Rekurs auf die historische Seuchenforschung der Aufsatz von Ramón Reichert: Auf die Pest antwortet die Ordnung. Zur Genealogie der Regierungsmentalität. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7, 3 (1996), S. 327–357.
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im frühen siebzehnten Jahrhundert in Europa vorbildlich: Im Gegensatz zum Deutschen Reich gab es in Italien schon lange eine öffentlich finanzierte Gesundheitspolitik.⁴ Die medizinische Versorgung war südlich der Alpen allgemein besser. Ärzte und Chirurgen waren auch in mittelgroßen Städten schon früh zahlreich vorhanden, was aus der frühzeitig vollzogenen Etablierung der Medizin als universitärer Disziplin resultierte.⁵ Die mailändische Seuchenpolitik unterschied sich notwendigerweise von der besser erforschten venezianischen.⁶ Aus der geographischen Lage ergaben sich zahlreiche Differenzen. Während die Lagunenstadt mit dem Fokus auf dem See- und Levantehandel gut nach außen hin abschließbar war, kreuzten sich im Herzogtum Mailand internationale Handelswege nach Frankreich, in die Schweiz und ins Deutsche Reich. Außerdem war es über mehrere Alpenpässe und Wasserwege zu erreichen. Auch Mailand arbeitete schon frühzeitig mit isolationistischen Pestmaßnahmen wie Handelsembargos und Einreiseverboten und wurde dadurch zum Vorbild für die Pestpolitik anderer Städte im Inland. Die mailändische Epidemie von 1629–1630 war in Hinblick auf die Mortalität die mit Abstand verheerendste Pest, von der die Stadt jemals heimgesucht wurde. Legt man die niedrigsten modernen Schätzungen zugrunde, fiel ihr mit 60.000 Personen etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung zum Opfer.⁷ In der vorangegangenen Epidemie von 1575–1577 war es ‚nur‘ ein Zehntel der Bevölkerung, circa 16.000 Personen.⁸ Über die exorbitante Sterblichkeit hinaus entwickelte sich während der Mailänder Pest von 1629–1630 eine eigenartige Verschwörungstheorie, die besagte, dass die Pest von sogenannten Pestschmierern (untori) absichtlich verbreitet wurde. Untori bestrichen nachts die Häuser mit einer klebrigen gelben Paste, die giftig war und die Pestinfektion auslöste. Dieses merkwürdige
4 Zur erheblichen zeitlichen Differenz bei der Schaffung von Gesundheitsmagistraten südlich und nördlich der Alpen vgl. Dinges, Pest und Staat, S. 76 und Paul Slack: Introduction. In ders., Terence Ranger (Hg.): Epidemics and Ideas. Essays on the Historical Perception of Pestilence. Cambridge u. a. 1992, S. 1–20, S. 15 f. 5 Bylebyl, The School of Padua, S. 336. 6 Vgl. etwa Ernst Rodenwaldt: Pest in Venedig 1575–1577. Ein Beitrag zur Frage der Infektkette bei den Pestepidemien West-Europas. In: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse. 1952, 2. Heidelberg 1953 und Orazio Pugliese (Hg.): Venezia e la peste 1348–1797. Venedig 1979. 7 So Manfred Vasold: Pest, Not und schwere Plagen. Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis heute. München 1991, S. 146 und Carlo Cipolla: Cristofano and the Plague: A Study in the History of Public Health in the Age of Galileo. London 1973, S. 151. Ähnliche Zahlen bei Carmichael, die die Pesttoten auf 40 Prozent der Bevölkerung, nämlich 80.000 von 200.000 Einwohnern beziffert. Carmichael, Last Past Plague, S. 157. 8 Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 129.
Die Mailänder Pest von 1629–1630 im Spiegel der zeitgenössischen Pesttraktate
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Ansteckungsnarrativ zog auch die Aufmerksamkeit Alessandro Manzonis auf sich, der die Epidemie als Hintergrund für seinen historischen Roman I promessi sposi verwendete.⁹ Mit seiner Geschichte der Schandsäule¹⁰ (Storia della colonna infame, 1842)¹¹ lieferte er eine gut recherchierte Darstellung des Prozesses wegen Pestschmierereien gegen die beiden Hauptverurteilten und der anschließenden Errichtung der Schandsäule auf dem Boden des abgerissenen Wohnhauses Gian Giacomo Moras, die das kollektive Gedächtnis an die Ereignisse lebendig halten sollte. Obwohl die Schandsäule bereits 1778 abgerissen wurde, blieb ihre Existenz aufgrund von Manzonis Darstellung des Falls im öffentlichen Gedächtnis. Über die italienische Landes- und Sprachgrenze hinaus ist die Geschichte der Pestschmierereien wenig bekannt. Dabei wirft die auch von den Ärzten vertretene Idee der Ansteckung durch Pestsalben und -pulver ein interessantes Licht auf die medizinischen Annahmen über Ursache und Verbreitung der Pest. Diese spielten aufgrund ihrer Relevanz für die gegen die Epidemie ergriffenen Maßnahmen eine zentrale Rolle für den Konnex von Medizin und Politik. Es stellt sich zudem die Frage nach der politischen Funktion solcher Verschwörungstheorien, zumal sich schon Zeitgenossen wunderten, wozu es notwendig war, „den Tod so vieler Menschen zur Folge eines Verbrechens [...] machen [zu] wollen, obwohl er doch eine ganz natürliche Ursache hatte.“¹² Trotz dieser interessanten Aspekte ist die mailändische Pest von 1629–1630 nicht sonderlich gut erforscht,¹³ sofern man von den von Manzoni berücksichtigten Quellen und Themen absieht.¹⁴ Die meisten der hier zu untersuchenden
9 Alessandro Manzoni: I promessi sposi. 2 Bde. Hg. von Cesare Angelini. Turin 1982. Der Verlauf der Epidemie und die Geschichte der Pestschmierereien ist Gegenstand der Kapitel XXXI und XXXII. 10 Alessandro Manzoni: Geschichte der Schandsäule. In: Thomas Vormbaum (Hg.): Pest, Folter und Schandsäule. Der Mailänder Prozeß wegen ‚Pestschmierereien‘ in Rechtskritik und Literatur. Berlin 2008, S. 71–170. 11 1842 erschienen sowohl die endgültige Fassung der Promessi sposi als auch die der Storia della colonna infame. Die Geschichte der Schandsäule war von Anfang an als Zusatz zu den Promessi sposi geplant. Helmut C. Jacobs: Alessandro Manzonis Storia della colonna infame – Wahrheitssuche zwischen Faktizität und Fiktion. In: Thomas Vormbaum (Hg.): Pest, Folter und Schandsäule. Der Mailänder Prozeß wegen ‚Pestschmierereien‘ in Rechtskritik und Literatur. Berlin 2008, S. 225–240, S. 227 f. 12 Manzoni, Geschichte der Schandsäule, S. 119. 13 Zum Forschungsstand vgl. auch hier Kap. 1.2. 14 Manzoni hat ein wirkmächtiges, aber partiell unzutreffendes Bild der Epidemie und ihrer Protagonisten entworfen. Nicolini verwendete noch 1937 viel Energie darauf, Manzonis Abweichungen von den Quellen zu den Prozessen wegen Pestschmierereien in den Promessi sposi nachzuweisen. Nicolini, Peste e untori.
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Pestschriften sind bislang kaum untersucht, vor allem nicht in Hinblick auf ihren Bezug zu politischen Konzeptionen. Die mailändische Epidemie von 1629–1630 bietet in Hinblick auf das Verhältnis von Politik und Medizin auch die besondere Konstellation, dass mit Ludovico Settala ein Arzt im Staatsdienst stand, der sowohl über die Pest als auch über die Staatsräson geschrieben hat. Darüber hinaus war er mit Pest, Politik und Medizin auch praktisch vertraut. Der in Pavia studierte Settala praktizierte seit 1575 als Arzt in Mailand und stand seit 1627 als protomedico des Herzogtums Mailand als Gesundheitsbeamter permanent im öffentlichen Dienst. In der prestigeträchtigen Position als Arzt im Staatsdienst war Settala für die Überwachung des Gesundheitswesens zuständig sowie für die Anerkennung fachlicher Qualifikationen und die Erteilung von Lizenzen zur Ausübung des Berufs an Apotheker, Barbiere, Hebammen, Tierärzte und Scharlatane. So gehörte die regelmäßige Inspektion der Apotheken und der Qualität der Arzneimittel zu seinen Aufgaben sowie die Erstellung einer Gebührenordnung für die privat praktizierenden Ärzte und Chirurgen.¹⁵ Als Pestarzt kam Settala gleich mit zwei Epidemien in Berührung, mit jener von 1575–1577 und derjenigen von 1629–1630. In der späteren Epidemie war er darüber hinaus als medizinischer Berater, als fisico conservatore, für den mailändischen Gesundheitsmagistrat, den Tribunale di Sanità, tätig.¹⁶ Die personelle Kontinuität über zwei Epidemien hinweg schuldete sich neben dem Zufall des Ausbruchs der ersten Epidemie just nach Abschluss von Settalas akademischer Ausbildung vor allem der Langlebigkeit des Mediziners. Settala verfasste mehrere medizinische und politische Traktate. So publizierte er das umfangreiche gelehrte Pesttraktat De peste et pestiferis affectibus libri quinque (1622).¹⁷ Der lateinischen Schrift¹⁸ folgte 1630 ein zweites, kurzes volkssprachliches Traktat Preservatione dalla peste mit konkreten Ratschlägen zur Vorbeugung gegen die Pest.¹⁹ Es war bereits im Wissen um den sich abzeichnenden Ausbruch der Epidemie im selben Jahr verfasst.²⁰ Kurz zuvor veröffent-
15 Zu den Aufgaben des protomedico vgl. Richard Palmer: Physicians and the State in PostMedieval Italy. In: Andrew W. Russell (Hg.): The Town and State Physician in Europe from the Middle Ages to the Enlightenment. Wolfenbüttel 1981, S. 47–61, S. 57–59. 16 Die fisici conservatori waren zusätzliche oder beigeordnete Beamte (conservatori aggionti) des Gesundheitsmagistrats. Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 77. 17 Ludovico Settala: De peste et pestiferis affectibus libri quinque. Mailand 1622. 18 Alle Pestschriften Settalas sind nur in wenigen Bibliotheken vorhanden, was weder für eine hohe Auflage noch eine intensive Rezeption spricht. 19 Ludovico Settala: Preservatione dalla peste. Mailand 1630. 20 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 25.
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lichte Settalas Kollege Alessandro Tadino eine italienische Übersetzung der beiden letzten Kapitel von Settalas lateinischem Pesttraktat unter dem Titel Cura locale de’tumori pestilentiali (1629).²¹ Es handelte sich um eine Anleitung zur chirurgischen und medikamentösen Behandlung von Pestbeulen, Pestgeschwüren und Furunkeln, die sich an Chirurgen und Bader wendete. Möglicherweise stand auch Tadinos Popularisierungsunternehmen schon im Zeichen der imminenten Pest. Settala verfasste mit den Animadversionum et cautionum medicarum libri septem (1614) ein Traktat über die Medikamentenherstellung, das Tadino auszugsweise ins Italienische übersetzte.²² Zusammen mit Tadino veröffentlichte Settala 1627 die Forschungsergebnisse des früh verstorbenen Kollegen und Chirurgen Gaspare Aselli, der bei Vivisektionen von Hunden die Lymphgefäße im Darm entdeckte, die er allerdings für Milchdrüsen hielt.²³ Als politischer Denker war Settala wie viele Theoretiker der Staatsräson vom Aristotelismus geprägt. Dieses Interesse resultierte nicht zuletzt aus Settalas Lehrtätigkeit an den Scuole Cannobiane über die aristotelische Moralphilosophie und politische Theorie.²⁴ Die Beschäftigung mit der aristotelischen Philosophie mündete in der Publikation des umfangreichen Aristoteles-Kommentars In Aristotelis problemata.²⁵ Settalas bekanntestes politisches Werk war das Staatsräsontraktat Della ragion di stato (1627). Neben diesen Schriften werden für die Untersuchung des Verhältnisses von medizinischem und politischem Handeln noch zwei weitere Pesttraktate herangezogen, darunter Agostino Lampugnanos La pestilenza seguita in Milano l’anno 1630 (1634),²⁶ eine der ersten gedruckten Pestschriften über die Epidemie des
21 Ludovico Settala: Cura locale de’tumori pestilentiali, Che sono il Bubone, l’Antrace, ò Carboncolo, et il Furoncoli. Mailand 1629. 22 Ludovico Settala: Animadversionum et cautionum medicarum libri septem. Mailand 1614; ders.: Avertenze et osservationi appartenenti alla compositione de medicamenti. Tradotte dal nono libro delle Osservationi del Sig[nore] Lodovico Settala. Übers. von Alessandro Tadino. Mailand 1630. Dieses Werk findet sich in vielen Bibliotheken und Editionen. 23 Gaspare Aselli: De lactibus sive lacteis venis [...].
Mailand 1627. Das war das erste anatomische Werk, das mit großformatigen farbig gedruckten Holzstichen illustriert war. 24 Croce, Caramella, Politici e moralisti del seicento, S. 298. 25 Die ersten 14 Kapitel erschienen zwischen 1602 und 1607 in zwei Foliobänden. Die weiteren Abschnitte wurden vor 1627 verfasst, blieben jedoch unpubliziert. Ebd., S. 298. 26 Agostino Lampugnano: La pestilenza seguita in Milano l’anno 1630. Mailand 1634. Das Traktat wurde unlängst in einem kleinen Mailänder Verlag erneut publiziert, wohl aufgrund eines regionalgeschichtlichen Interesses. Vgl. Agostino Lampugnano: La pestilenza seguita in Milano l’anno 1630. Hg. von Ermanno Paccagnini. Mailand 2002.
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Jahres 1630.²⁷ Lampugnano gehörte als Benediktinermönch und Prior von San Simpliciano zur Gruppe der geistlichen Autoren von Pesttraktaten. Neben der Pestschrift verfasste er literarische Texte wie geistliche Spiele und Erzählungen. Er publizierte aber auch zur Grammatik und Linguistik.²⁸ Sein Pesttraktat war deutlich literarischer als die Schriften der Mediziner. Seine stilistische Brillanz erlaubte es ihm, das komplexe Geschehen der Epidemie auf nur 80 Oktavseiten in elf Kapiteln abzuhandeln. Lampugnanos sporadische Erklärungen von lokalen Besonderheiten und Begrifflichkeiten lassen darauf schließen, dass er auf ein nicht-mailändisches Lesepublikum zielte.²⁹ Das zweite Traktat Raguaglio dell’origine et giornali successi della gran peste contagiosa, venefica (1648) stammte von Tadino, der als Arzt während der Epidemie von 1629–1630 zusammen mit Settala für den Tribunale di Sanità tätig war. Tadino folgte Settala auch im Amt als mailändischer protomedico. Tadino war nicht nur Augenzeuge des Geschehens, sondern maßgeblich an den gesundheitspolitischen Beschlüssen und ihrer Durchführung beteiligt. Das spiegelte sich auch im Aufbau des in 62 Kapitel eingeteilten Pesttraktats. In die Pestchronik (il successo della peste), die die Entstehung, Entwicklung und Ausbreitung der Seuche schilderte, integrierte Tadino verschiedene andere Textgenres wie die Lazarettordnung (Governo del Lazaretto),³⁰ Briefe der beratenden Ärzte an den Tribunale di Sanità mit Ratschlägen für Pestmaßnahmen (Avvertimenti dati da i Fisici Carcano, Tadino, e Settali al Tribunale)³¹ und Gebete zur Befreiung von der Pest.³² Darüber hinaus enthielt die Schrift eine chronologische Auflistung aller Epidemien seit der Schöpfung und aller denkbaren Pestursachen, Übertragungsmöglichkeiten, bevorzugt befallenen Personenkreisen und tierischen Spezies.³³ Diese trug den Titel „Verschiedene Arten der Pest“ (Varietà di peste). Das Traktat
27 Zuvor erschienen kurze literarische Publikationen wie Carlo Giuseppe Origonis gereimter Brief I furori della peste in Milano und die Tragödie La peste del 1630 (1632) des Observantenpaters Benedetto Cinquanta. Vgl. Ermanno Paccagnini: Introduzione. In: Agostino Lampugnano: La pestilenza seguita in Milano l’anno 1630. Hg. von Ermanno Paccagnini. Mailand 2002, S. 7–20. 28 Er prägte den Begriff der Mode (moda) für eine verbreitete Art und Weise, sich zu kleiden als Ableitung von modo (Art und Weise). 29 So erklärte er den mailändischen Terminus foppone (Massengrab). Foppone ist eine Vergrößerungsform des mailändischen Dialektwortes foppa (Grab), abgeleitet von dem italienischen fossa (Graben, Grube). Auch nannte er die Bezeichnung monatti eine lokale Variante von beccamorti (Totengräber). Lampugnano, Pestilenza, S. 35, 26 f. 30 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 59–69. 31 Ebd., S. 77–79. 32 Das eine gerichtet an San Nicolò di Tolentino, das andere an Maria („Orationi à S[an] Nicola alla Beatissima Vergine per liberatione della Peste“). Ebd., S. 107. 33 Ebd., S. 139–149.
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schloss mit einer kurzen Auflistung von Medikamenten gegen die Pest (Antidoti contro la peste).³⁴
5.1.1 Pest oder nicht Pest? Probleme der historischen Seuchenforschung Die Erforschung der europäischen Epidemien seit dem ausgehenden Mittelalter wird von Sozialhistorikern, Medizinhistorikern, Mathematikern, Zoologen und Literaturwissenschaftlern mit sehr unterschiedlichen Methoden betrieben, was zu disparaten Forschungsergebnissen führt. So ist nicht einmal gesichert, ob die europäischen Epidemien vor 1800 von dem Erreger der modernen Pest, Yersinia pestis, hervorgerufen wurden.³⁵ Bei den berühmten Seuchenzügen, die Europa seit 1348 heimsuchten, handelte es sich, wenn überhaupt um die Pest, dann um die Beulenpest. Deren Erreger, das 1894 gefundene Bakterium Yersinia pestis, bedient sich gemäß der traditionellen Pesttheorie zur Übertragung des Rattenflohs. Erst der Rattenfloh ermöglicht die Übertragung auf den Menschen, denn die Krankheit überträgt sich nicht direkt von Mensch zu Mensch. Die Beulenpest hat eine Inkubationszeit von einem bis zu sechs Tagen; ihr wichtigstes Merkmal ist die Schwellung der Lymphdrüsen an jenen Stellen, die der Einstichstelle des Flohs am nächsten liegen, bevorzugt an der Leiste, den Achselhöhlen, am Hals und Hinterkopf. Die Krankheit äußert sich mit Schüttelfrost, hohem Fieber, starken Kopf- und Gliederschmerzen, Lichtscheue und einer allgemeinen körperlichen Unruhe.³⁶ Die zweite Erscheinungsform der Pest, die Lungenpest, ist via Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch übertragbar. Allerdings tritt sie vor allem im Winter auf, und ihre Symptome decken sich nicht mit den Pestschilderungen seit dem ausgehenden Mittelalter. Die Ergebnisse der modernen Pestforschung, die in Asien seit den 1880erJahren betrieben wurde, divergieren erheblich von den Schilderungen der historischen europäischen Seuchenzüge. Die Unterschiede betreffen die Mortalitätsrate, die Übertragungsweise, das Klima und die Geschwindigkeit der Ausbreitung. So war die Mortalität bei den historischen Epidemien viel höher als bei den modernen,³⁷ und auch die Sterblichkeitsrate schwankte lokal stark. Das
34 Ebd., S. 149 f. 35 So etwa Manfred Vasold: Grippe, Pest und Cholera. Eine Geschichte der Seuchen in Europa. Stuttgart 2008, S. 65. 36 Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 72 f. 37 So verbreitete sich die Pest sogar in Indien, wo viele Unterernährte auf engem Raum zusammen lebten, langsamer und hatte eine geringere Sterblichkeit zur Folge als die europäischen Epidemien des Mittelalters. Ebd., S. 86.
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wirft die Frage auf, ob es sich dabei stets um dieselbe Art von Erreger und somit um dieselbe Krankheit handelte.³⁸ Auch hinsichtlich der Verbreitung durch den Rattenfloh wirft die historische Pestforschung das Problem auf, dass keine mittelalterliche oder frühneuzeitliche Quelle Ratten erwähnt, geschweige denn ein Massensterben von Ratten, das gemäß der ‚Rattenflohtheorie‘ der Epidemie der Menschen vorausgehen sollte. Stattdessen war die Rede von Hunden, Katzen und anderen Haustieren, die oftmals systematisch während Epidemien getötet wurden.³⁹ Diese Tiere erwiesen sich jedoch in modernen Versuchen als recht immun gegenüber dem Pesterreger. Das lässt drei Schlüsse zu. Entweder lag eine Mutation des Pesterregers vor, oder der Ausbreitungsweg hatte sich geändert und verlief etwa über den Menschenfloh, oder die historischen Seuchen wurden nicht von Yersinia pestis verursacht, sondern einem anderen Erreger. Die erste These wirft das Problem auf, dass die mutationsbedingte Veränderung extrem gewesen sein muss.⁴⁰ Für die zweite These fehlt der experimentelle Nachweis, dass der Menschenfloh bei massenhaftem Auftreten zum Vektor der Ausbreitung werden kann.⁴¹ Die dritte These zieht aus dem Umstand, dass die Pest in Europa nach 1800 ganz ähnliche Formen wie in Indien um 1900 angenommen hat, den Schluss, dass es sich bei den früheren Seuchen nicht um die Pest handelte, sondern um andere Epidemien.⁴² Die letzte These vertraut den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schilderungen von Symptomen, Ansteckungsund Ausbreitungswegen und den betroffenen Lebewesen. Das ist jedoch insofern
38 Ebd., S. 92. 39 Vgl. Rodenwaldt, Pest in Venedig, S. 235. 40 Vasold, Grippe, Pest und Cholera, S. 67. Die Rattenflohtheorie wird in Deutschland maßgeblich durch Norbert Bulst vertreten, der auf Nachweise von Yersinia pestis qua DNA-Analyse vertraut, deren Aussagefähigkeit von Medizinhistorikern wie Vasold bezweifelt wird. Vgl. Neithard Bulst: Der schwarze Tod. Demographische, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Aspekte der Pestkatastrophe von 1347–1352. Bilanz der neueren Forschung. In: Saeculum 30 (1979), S. 45–67. 41 Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 83. Diese These wird vor allem von dem französischen Sozialhistoriker Jean-Noel Biraben in einer für Frankreich maßgeblichen Studie vertreten. Vgl. ders. : Les hommes et la peste en France et dans les pays européens et méditerranéens. 2 Bde. Paris u. a. 1975–1976. 42 Die von dem britischen Bakteriologen John Findley Drew Shrewsbury und Zoologen Graham Twigg vertretene These wurde von Cohn aufgegriffen. Auch Vasold kam in seiner jüngsten Publikation zum Thema zu einem ähnlichen Schluss. Vgl. John Findley Drew Shrewsbury: A history of bubonic plague in the British Isles. Cambridge u. a. 1970; Graham Twigg: The Black Death. A Biological Reappraisal. London 1984; Cohn, Cultures of Plague und Vasold, Grippe, Pest und Cholera, S. 65–68.
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problematisch, als nachweislich viele Pestschilderungen dieser Zeit nicht auf persönlicher Erfahrung beruhen, sondern sich der Abschrift aus anderen Pestschilderungen verdanken.⁴³ Zudem stellt sich die Frage, um welche Krankheit es sich dann handelte. Der wahrscheinlichste Kandidat ist der Milzbrand, eine Seuche, die Mensch und Tier befällt, hochkontagiös ist und sich auch über verseuchte Böden und Luft verbreitet.⁴⁴ Tatsächlich ähnelt Milzbrand der Pest in Symptomatik und Verlauf, und die Ansteckung durch direkten Kontakt mit infizierten Tieren, Böden oder Personen, die mit Textilien und Wolle arbeiteten und stets als bevorzugte Pestopfer geschildert wurden, ist möglich.⁴⁵ 2010 erschien schließlich eine Studie, die mittels einer kombinierten Analyse von DNA und Proteinen den Nachweis des Pestbakteriums Yersinia pestis an europäischen Pestleichen aus dem Zeitraum von 1347–1750 erbrachte.⁴⁶ Dieser Nachweis ist seither nicht auf grundsätzliche Kritik gestoßen. Es ist trotzdem fraglich, ob damit alle Probleme der historischen Seuchenforschung gelöst sind. Eine offene Frage ist etwa, ob die in der Frühen Neuzeit ubiquitäre Behauptung der direkten Übertragung von Mensch zu Mensch, die weder auf den Milzbrand noch auf die Beulenpest zutrifft, tatsächlich erfahrbar war oder ein mächtiges medizinisch-politisches Konstrukt, auf das sich sowohl die medizinische Ansteckungslehre als auch die Pestmaßnahmen stützten. Auch aufgrund der Benutzung unterschiedlicher Quellen gelangen Forschungen zur Pest zu disparaten Ergebnissen. Abgesehen von sozialhistorischen Studien bevorzugte die historische Forschung lange Zeit normative Quellen wie Pestordnungen. Aus diesem Grund etwa gerät auch Foucaults Schilderung der Pestpolitik in Überwachen und Strafen zu einer Vision der lückenlosen staatlichen Kontrolle, die jeden frühneuzeitlichen Herrscher ehrfürchtig den Hut hätte ziehen lassen:
43 So wurde beispielsweise Giovanni Boccaccios Pestschilderung des Decamerone, die lange als Erfahrungsbericht galt, massive Übernahmen aus antiken Quellen nachgewiesen. Vgl. Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 90 f. Die Bildzeugnisse zeigen kaum jemals Ratten. Wenn sie es taten wie Nicholas Poussins Die Pest von Asdod (1630) und Angelo Carosellis Kopie des Gemäldes aus dem gleichen Jahr, ist unklar, ob sich ihre Darstellung der Rezeption antiker Quellen schuldete oder ob die Maler die Pest ihrer Zeit mit Ratten in Verbindung brachten. Zu den Bildzeugnissen vgl. Franco Mormando: Introduction. In: Gauvin Alexander Baiey u. a. (Hg.): Hope and Healing. Painting in Italy in a Time of Plague 1500–1800. Chicago 2005, S. 1–44, S. 12–14. 44 Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 92. Zur Milzbrandthese bezüglich der Epidemie von 1348–1351 vgl. Twigg, Black Death, S. 212 ff. 45 Thomas V. Inglesby u. a.: Anthrax as a Biological Weapon. In: The Journal of the American Medical Association 281 (1999), S. 1735–1745. 46 Stephanie Haensch u. a.: Distinct Clones of Yersinia pestis Caused the Black Death.In : http:// www.plospathogens.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.ppat.1001134 (10. April 2014).
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Die Überwachung ist lückenlos [...]. Gardekorps an den Stadttoren, am Rathaus und in allen Stadtvierteln zur Gewährleistung des öffentlichen Gehorsams und die unbedingteste Autorität der Verwaltung.⁴⁷
Die lückenlose Registrierung aller medizinisch relevanten Daten erschien in dieser Perspektive ebenfalls als eine leichte administrative Übung: Diese Überwachung stützt sich auf ein lückenloses Registrierungssystem: Berichte der Syndizi an die Intendanten, der Intendanten an die Schöffen oder an den Bürgermeister. Zu Beginn der ‚Einschließung‘ wird das Verzeichnis erstellt, das jeden in der Stadt anwesenden Bewohner erfaßt [...]. Die Registrierung des Pathologischen muß lückenlos und zentral gelenkt sein. Die Beziehung jedes einzelnen zu seiner Krankheit und zu seinem Tod läuft über die Instanzen der Macht: ihre Registrierungen und ihre Entscheidungen.⁴⁸
Gemäß Lampugnano brach die „lückenlose Registrierung“ der Toten auf dem Höhepunkt der mailändischen Epidemie von 1629–1630 jedoch einfach ab.⁴⁹ Auch die extrem disparaten Angaben zur maximalen Mortalität pro Tag – Lampugnano bezifferte sie auf 1.300 Tote,⁵⁰ Tadino auf 3.504⁵¹ – zeigt, dass es mit der systematischen Registrierung einige praktische Probleme gab. Auf der Grundlage von normativen Quellen für die Stadt Vincennes schildert Foucault die Desinfektion der Häuser als wohlgeordnetes Vorgehen: Fünf oder sechs Tage nach Beginn der Quarantäne geht man daran, ein Haus nach dem anderen zu säubern. Man schafft die Bewohner hinaus; in jedem Zimmer hebt oder hängt man ‚die Möbel und die Waren‘ auf; man versprüht Riechstoff und läßt ihn verbrennen, nachdem man die Fenster und Türen bis zu den Schlüssellöchern, die man mit Wachs verstopft, abgedichtet hat. Am Ende schließt man das gesamte Haus ab, während sich der Riechstoff verzehrt. [...] Vier Stunden später können die Leute wieder einziehen.⁵²
Bei Tadino erschienen dieselben Vorgänge weit weniger wohlgeordnet, was mit dem eklatanten Mangel an Personal und Platz zu tun hatte: Wenn eine Person erkrankt war und ins Lazarett gebracht worden war, wurden alle aus der Familie und der Wohnung lange Zeit in ihren Häusern eingesperrt, in denen manchmal 30 oder 40 Personen auf einen einzigen Treppenaufgang, einen einzigen Brunnen, Zugseil
47 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 252. 48 Ebd., S. 252 f. 49 Lampugnano, Pestilenza, S. 67. 50 „in quel mese fino a mila trecento al giorno, n’eran sepelliti.“ Ebd., S. 67. 51 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 117. Auf S. 115 waren es 3.555 und mehr pro Tag. 52 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 253.
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und Abwasserkanal angewiesen waren. Auch wurden die Kleidungsstücke nicht zum Reinigungsort gebracht, wie es vorgesehen war. Nachdem die Insassen die 21 Tage der Quarantäne in ihren eigenen Räumen verbracht hatten, wurden sie von den Beauftragten der Gemeinde herausgelassen, ohne Reinigung der Häuser oder der infizierten Textilien.⁵³
Die systematische Durchführung der von Foucault beschriebenen Pestmaßnahmen setzte die Existenz einer öffentlichen Ordnung voraus, die über genügend Geld und ausgebildetes Personal für die Versorgung der Bewohner mit Lebensmitteln, zur Durchführung der Pestmaßnahmen inklusive Isolation, Krankenbetreuung, Bestattung und Seelsorge und zusätzlich über eine leistungsfähige Administration verfügt hätte. Davon konnte man im frühen siebzehnten Jahrhundert nur träumen. Normative Quellen wie Pestordnungen lassen keinen einfachen Schluss auf ihre praktische Durchsetzung zu.⁵⁴ Es dürfte ihnen kaum anders ergangen sein als den meisten frühneuzeitlichen Gesetzen, die höchstens partiell durchgesetzt wurden.⁵⁵ Die in der historischen Seuchenforschung häufiger formulierte These der Fortschrittlichkeit und besonderen Effizienz absolutistischer Regimes⁵⁶ dürfte ein Teil dessen sein, was Nicholas Henshall den „Mythos des Absolutismus“ genannt hat.⁵⁷ Alleinherrscher konnten ihre Intentionen sicher leichter in rechtskräftige Form bringen, doch diese sagte wenig aus über ihre praktische Realisierung und Effizienz. Trotz dieses Nachteils der normativen Quellen wurde in der historischen Seuchenforschung das reich überlieferte Genre der Pesttraktate eher ungern zugrunde gelegt. Das liegt nicht zuletzt an dem hybriden Charakter der Texte, die medizinische, politische, religiöse und literarische Elemente auf schwer nachvollziehbare Weise mischen. Die große Bandbreite an Themen, ihr interdisziplinärer Charakter und der Gebrauch literarischer Verfahren machte Pesttraktate für die meisten wissenschaftlichen Disziplinen gleichermaßen unattraktiv: Medi-
53 „se una persona s’infettava, et si conduceva al Lazaretto, di longo tutti di quella famiglia, et stanza si chiudevano nelle loro case, che alle volte sarebbero stati 30, et 40 con una sola scala, con un solo pozzo, corda, et condotto, et le robbe non si conducevano al luogo delle purghe, come di già si trovava stabilito, et restando nelle proprie stanze questa gente passati li 21 giorni di quarantena, li Deputati delle Parochie facevano la liberatione senza la purga delle case, et robbe infette.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 109. 54 Vgl. Dinges, Pest und Staat, S. 84. 55 Jürgen Schlumbohm: Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates? In: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 647–663, S. 659. 56 Z.B. Carmichael, Plague Legislation, S. 512 und Cohn, Cultures of Plague, S. 8. 57 Nicholas Henshall: The Myth of Absolutism: Change and Continuity in Early Modern European Monarchy. London 1992 und Jones, Plagues and Its Metaphors, S. 116
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zinisch waren sie nicht innovativ genug, literarisch nur selten auf der Höhe von Daniel Defoes berühmtem A Journal of the Plague Year (1722)⁵⁸ und in Hinblick auf politische Aspekte sind sie offensichtlich noch gar nicht untersucht worden.⁵⁹ Die Mischung von Genres macht Pesttraktate vielleicht für die Untersuchung historischer Abläufe weniger interessant. Sofern man jedoch akzeptiert, dass sich Pesttraktate gerade durch ihren hybriden Charakter und die Verschränkung von Diskursen auszeichnen, wandelt sich das Genre zu einem Forschungsgegenstand erster Güte. Eine solche Vorgehensweise unterscheidet sich von den alltagsgeschichtlichen Ambitionen, die etwa den Publikationen von Pestschriften unbekannter Autoren aus dem Bürgertum zugrunde liegt.⁶⁰ Diese tragen der literarischen Dimension der Quellen kaum Rechnung. Im Folgenden wird die Literarisierung vielmehr als charakteristisches Merkmal des frühneuzeitlichen Pestdiskurses verstanden, so dass sich an den Texten typische Narrative und Argumentationsstrukturen aufzeigen lassen. Zusätzlich hat man den Vorteil, sich mit nahezu unerforschten Texten zu befassen. Für eine solche diskursive Lesart von Pesttraktaten haben sich bisher allerdings nur wenige Forscher entschieden, unter ihnen insbesondere Jones⁶¹ und Samuel Kline Cohn, der seiner Studie von 2010 über die italienischen Pestepidemien von 1575–1577 ausschließlich Pesttraktate zugrunde gelegt hat.⁶²
5.1.2 Das Genre der Pesttraktate Die literarischen Verfahren der Pestschriften, die von gelehrten medizinischen Traktaten über populärwissenschaftliche und literarische Darstellungen reichte,
58 Zu literarisch hochrangigen Pestschriften des europäischen Kontinents vgl. David Steel: Plague Writing from Boccaccio to Camus. In: Journal of European Studies 11, 2 (1981), S. 88–110. Die hier verhandelten Pesttraktate befinden sich allesamt unterhalb der Wahrnehmungsschwelle dieser Studie. 59 Settala war nicht der einzige politische Theoretiker, der ein Pesttraktat verfasste. Auch der calvinistische Reformator und Monarchomach Théodore de Bèze verfasste ein Pesttraktat, das trotz der Bekanntheit des Autors so gut wie unerforscht zu sein scheint. Vgl. Théodore de Bèze: De Peste quaestiones due explicatae: una, sinte contagiosa: altera, an et quatenus sit Christianes per secessionem vitanda (1579). 60 Giulia Calvi: Histories of a Plague Year: The Social and the Imaginary in Baroque Florence. Berkeley u. a. 1989; James Amelang (Hg.): A Journal of the Plague Year: The Diary of the Barcelona Tanner Miquel Parets 1651. New York u. a. 1991. 61 Jones, Plagues and Its Metaphors. 62 Cohn, Cultures of Plague.
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sind alles andere als aufgearbeitet.⁶³ Auch aus historischer Perspektive gibt es keine Untersuchung über die gesamte Entwicklung des Genres, das im frühen siebzehnten Jahrhundert bereits auf eine mehr als 250-jährige Geschichte zurückblicken konnte. Vielmehr stand das Genre bislang noch gar nicht im Verdacht, sich überhaupt entwickelt zu haben.⁶⁴ Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnete der Medizinhistoriker Arturo Castiglioni das Pesttraktat als das erste Genre der populärwissenschaftlichen Literatur. Es florierte seit dem fünfzehnten Jahrhundert.⁶⁵ Wie populär das Genre im späten sechzehnten Jahrhundert war, illustriert das Beispiel des Nürnberger Stadtarztes Georg Palma, dessen Bibliothek immerhin 68 Pestschriften umfasste.⁶⁶ Als erstes Pesttraktat gilt das Regiment de preservacio a epidimia o pestilencia e mortaldats (1348) des katalanischen Arztes Jacme d’Agramont.⁶⁷ Seine Niederschrift ging der Ankunft der Pest in Lerida voraus.⁶⁸ Das Genre ging aus jenem der mittelalterlichen regimina sanitatis hervor. Diese Traktate mit Hygiene- und Gesundheitsregeln kamen bereits im dreizehnten Jahrhundert auf⁶⁹ und boten dem Leser medizinische, politischmoralische und astrologische Regeln. Auch diese Schriften sind so schlecht erforscht, dass jegliche Grundlage wie eine Übersicht über das Textkorpus fehlt. Für das Genre der Pesttraktate hat Karl Sudhoff zwischen 1910 und 1925 den Versuch unternommen, das Textkorpus zu erfassen. Daraus ging eine Sammlung von 288 Pesttraktaten aus dem Zeitraum von 1348 bis 1500 hervor. Diese Bibliographie ist unvollständig. Es fehlen vor allem Traktate aus dem französischen und italienischen Sprachraum.⁷⁰
63 Jones, Plagues and Its Metaphors, S. 101. 64 Cohn, Cultures of Plague, S. 2. 65 Arturo Castiglioni: Ugo Benzi da Siena ed il ‚Trattato utilissimo circa la conservazione della sanitate‘. In: Rivista di storia critica delle scienze mediche e naturali 12 (1921), S. 75–105, S. 75. 66 Klaus G. König: Der Nürnberger Stadtarzt Dr. Georg Palma (1543–1591). Stuttgart 1961, S. 98–102. 67 So Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 89. 68 Cohn ist der Meinung, dass die ersten europäischen Pesttraktate bereits um 1340 entstanden sind. Cohn, Cultures of Plague, S. 1. Dabei bezieht er sich auf Lynn Thorndike: A Pest Tractate Before the Black Death. In: Sudhoffs Archiv 23 (1930), S. 346–356. Da sich die Epidemie in Asien ab circa 1333 in Richtung Krim und Konstantinopel ausbreitete, 1346 Kleinasien und Ägypten erreichte, 1347 Sizilien, erscheint das plausibel. Vgl. auch Arturo Castiglioni: I libri italiani della pestilenza. In ders.: Il volto di Hippocrate. Istorie di medici e medicine d’altri tempi. Mailand 1925, S. 145–169, S. 147. 69 Castiglioni, I libri italiani della pestilenza, S. 153. 70 Sudhoffs Reise- und Forschungsmöglichkeiten waren während des ersten Weltkrieges begrenzt. Cohn, Cultures of Plague, S. 1. Im Folgenden wird von französischen oder italienischen
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Seuchenpolitik und Staatsräson: Die Mailänder Epidemie von 1629–1630
Während das Textkorpus der frühen Pestschriften unvollständig ist, sind die nach 1500 erschienenen Pesttraktate gar nicht systematisch, sondern nur punktuell erfasst. Neben der Epidemie von Marseille 1720 bis 1722, die als letzte große europäische Seuche gut erforscht ist, gibt es nur Einzelbibliographien für bestimmte Sprachräume und Zeitpunkte.⁷¹ Jones erstellte eine Bibliographie der nach 1500 erschienenen französischen Pesttraktate.⁷² Für den Zeitraum von 1500 bis 1770 kam er auf 264 Pesttraktate. Die meisten Publikationen erschienen zwischen 1610 und 1650. Allein im zeitlichen Umkreis der Epidemie von 1629–1630 waren es rund 100 Traktate, weitaus mehr als bei der Epidemie von 1575–1577, für die Jones nur circa 20 Traktate listete.⁷³ Cohn wiederum stützte sich bei seiner Erhebung von italienischen Pesttraktaten auf das Projekt Edit 16, das die meisten Publikationen des sechzehnten Jahrhunderts in öffentlichen und privaten italienischen Bibliotheken verzeichnet. Damit dürfte das Textkorpus der italienischen Pesttraktate des sechzehnten Jahrhunderts annähernd vollständig erfasst sein.⁷⁴ Cohn kam auf 378 gedruckte Pestschriften. Von diesen wurden allein 170 zwischen 1575 und 1578 publiziert. Sein Schluss, dass keine andere Epidemie eine derartige Flut von Pestschriften erzeugt habe, führt zur Behauptung, dass diese hinsichtlich der Mortalitätsrate eher unbedeutende Epidemie eine singuläre Relevanz habe. Mag die italienische Epidemie von 1575–1577 auch in Hinblick auf die Pesttraktate die produktivste des sechzehnten Jahrhunderts gewesen sein, der Vergleich zu jener von 1629–1630, die eine viel höhere Mortalitätsrate als ihre Vorgängerin hatte, wäre wesentlich interessanter gewesen als jener zu anderen Epidemien des sechzehnten Jahrhunderts. Da das Korpus der Pesttraktate des siebzehnten Jahrhunderts nicht erfasst ist – es gibt leider kein Edit 17 – ist das Verhältnis der Epidemie von 1575–1577 zu jener von 1629–1630 nicht einschätzbar. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die spätere entsprechend dem Befund von Jones nicht nur in Hinblick auf die Mortalität, sondern auch auf die Hervorbringung von Pesttraktaten überlegen war.
Pesttraktaten die Rede sein, womit alle in diesem Sprachraum entstandenen Traktate gemeint sind, unabhängig von der Sprache, in der sie verfasst sind. 71 Für Pesttraktate vor 1650 aus Großbritannien vgl. Paul Slack: The Impact of Plague in Tudor and Stuart England. London 1985 und ders.: Mirrors of Health and Treasures of Poor Men. In: Charles Webster (Hg.): Health, Medicine, and Mortality in Sixteenth Century England. Cambridge u. a. 1979, S. 237–273. 72 Auf der Grundlage der Bibliographie in Birabens Les hommes et la peste, kombiniert mit dem Verzeichnis des Catalogue des sciences médicales der Bibliothèque Nationale aus dem neunzehnten Jahrhundert. Jones, Plagues and Its Metaphors, S. 101. 73 Ebd., S. 103. 74 Cohn, Cultures of Plague, S. 22–25.
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Die Autoren der Pesttraktate rekrutierten sich vor allem aus den Berufsgruppen, die maßgeblich an der Durchführung von Pestmaßnahmen beteiligt waren: Mediziner (Ärzte, Chirurgen, Apotheker), Vertreter der Kommunalverwaltung und Kleriker. Die Ärzte waren in der Mehrzahl.⁷⁵ Die Autoren beschränkten sich jedoch nicht auf ihr jeweiliges Spezialgebiet. Vielmehr äußerten sich alle Autoren zu allen Elementen des Pestdiskurses.⁷⁶ Es lässt sich also nicht zwischen verschiedenen Arten von Pesttraktaten wie medizinischen und religiösen unterscheiden.⁷⁷ Jones sprach in diesem Kontext vielmehr von einer regelrechten Infektion der Diskurse und einem damit verbundenen Austausch des diskursiven Registers zwischen den drei beteiligten Interessengruppen.⁷⁸ Dabei erschien der menschliche Körper als Integral, das die drei Diskurse verband. Das hatte reale Hintergründe. So war die religiöse Konzeption der medicina spiritualis⁷⁹ nicht nur eine medizinische Metapher für die Seelsorge, sondern verwies auf den realen Umstand, dass die religiösen Orden maßgeblich in der Krankenpflege tätig waren, nicht nur in Pestzeiten. Krankenhäuser wurden zunächst ausschließlich von Ordensleuten betrieben. Erst im späten dreizehnten Jahrhundert begann man, medizinisches Personal hinzuzuziehen.⁸⁰ So lag die Krankenpflege im Mailänder Lazarett während der Epidemien von 1575–1577 und
75 75 Prozent der Autoren, doch der biographische Hintergrund konnte nur bei 25 Prozent von ihnen geklärt werden. Cohn kommt auf 90 Prozent, wobei die Publikationen zur Epidemie von 1575–1577 zu 44 Prozent von Nicht-Medizinern verfasst waren. Erstaunlicherweise erwähnt Cohn keine Probleme bei der Identifikation der Autoren, während Jones in drei Viertel aller Fälle daran scheiterte. Vgl. Jones, Plague and Its Metaphors, S. 104 und Cohn, Cultures of Plague, S. 26. 76 Jones, Plague and Its Metaphors, S. 106. 77 Eine solche Unterscheidung trifft Elisabeth Hipp: Poussin’s The Plague at Ashdod. A Work of Art in Multiple Contexts. In: Franco Mormando; Thomas Worcester (Hg.): Piety and Plague from Byzantinum to the Baroque. Kirksville, MO 2007, S. 177–223, S. 206. 78 Jones, Plague and Its Metaphors, S. 112. 79 Diese reale Synthese von medicina corporalis und medicina spiritualis wird von Worcester in seiner Untersuchung der Pestschriften des französischen Jesuiten Etienne Binets ausgeblendet. Thomas Worcester: Plague as Spiritual Medicine and Medicine as Spiritual Metaphor. Three Treatises by Etienne Binet, S.J. (1569–1639). In: Franco Mormando, Thomas Worcester (Hg.): Piety and Plague from Byzantinum to the Baroque. Kirksville, MO 2007, S. 224–236. Dasselbe gilt für Steiger, der zwar das ganze Repertoire von Analogien zwischen Medizin und Theologie seit der Spätantike auflistet, aber keinen Grund dafür nennt. Johann Anselm Steiger: Theologia medicinalis und apotheca spiritualis. Zur Intertextualität von medizinischen und theologischen Schreibweisen bei Luther und im Luthertum der Barockzeit. In: Nicolas Pethes, Sandra Richter (Hg.): Medizinische Schreibweisen. Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600–1900). Tübingen 2008, S. 99–130. 80 Das war in Mailand schon seit 1280 der Fall. Günter B. Risse: Mending Bodies, Saving Souls. A History of Hospitals. New York, Oxford 1999, S. 154.
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Seuchenpolitik und Staatsräson: Die Mailänder Epidemie von 1629–1630
1629–1630 in den Händen der Kapuziner.⁸¹ Wenn Kleriker das Erteilen medizinischer Ratschläge rechtfertigten, indem sie behaupteten, sie hätten möglicherweise mehr Pestkranke zu Gesicht bekommen als mancher Arzt, war das kein Witz.⁸² Die Länge der Traktate variierte zwischen vier und vierhundert Seiten. Die Schriften thematisierten Krankheitsursachen, -zeichen, -verlauf und Therapie ebenso wie die korrekte Durchführung von Pestmaßnahmen. Pesttraktate verwendeten eine Fülle von Erzähltechniken und Subgenres. Das wichtigste war jenes der Pestchronik, das die Entstehung, Entwicklung und Ausbreitung der Seuche schilderte. Ihre Wurzeln reichen bis in die griechische Antike zurück. Besonders einflussreich für spätere Darstellungen war Thukydides’ Schilderung der athenischen Pest 430 vor Christus⁸³ und die Giovanni Boccaccios über die florentinische Pest von 1348.⁸⁴ Weiterhin wurden Pestgedichte und -gebete aufgenommen, wissenschaftliche Erörterungen über die Ursachen der Pest und seit dem späten sechzehnten Jahrhundert die Schilderung von Pestmaßnahmen und Beschreibungen des Pestregimes. Die hier behandelten Pesttraktate Settalas, Tadinos und Lampugnanos brachten allesamt die Organisation der Pestmaßnahmen zur Sprache. Die Thematisierung von Pestmaßnahmen in den Pesttraktaten war gemäß Cohn ein Novum, das sich erstmals in Traktaten aus den Jahren 1560⁸⁵ und 1564⁸⁶ findet. Die frühen Pesttraktate zwischen 1348 und 1500 gaben keine Auskunft über kollektive Gesundheitsmaßnahmen.⁸⁷ Cohn begründet das neue Interesse der Traktate an der Pestpolitik mit dem Argument, dass sich neben Medizinern zunehmend auch andere Berufsgruppen wie Dichter, Gelehrte, Bischöfe und Notare als Autoren von Pesttraktaten betätigten.⁸⁸ Die elaboriertesten Berichte über Pestmaßnahmen und ihre Organisation stammten jedoch sowohl während der Mailänder Epidemie von 1629–1630 als
81 Carmichael, Last Past Plague, S. 156. 82 Jones, Plague and Its Metaphors, S. 106. 83 Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. Hg. u. übers. von Helmuth Vretska, Werner Rinner. Stuttgart 2000, II, 47–59, S. 145–152. 84 Giovanni Boccaccio: Das Dekameron. Übers. von Albert Wesselski. Frankfurt/M. 1972. 85 Giovanni Filippo Ingrassia: Trattato assai bello et utile di doi mostri nati in Palermo in diversi tempi [...] Agiontovi un ragionamento, fatto in presenza del Magistrato sopra le infermita epidemiali e popolari successe nell’anno 1558 in detta Città [...] (1560). 86 Agostino Bucci: Reggimento preservativo degli huomini, luoghi et città dall’influsso della peste [...] (1564). Buccis Schrift entstand während der Epidemie von 1564, die nur Piemont betraf. 87 So Cohn, Cultures of Plague, S. 248. 88 Ebd., S. 240.
Die Mailänder Pest von 1629–1630 im Spiegel der zeitgenössischen Pesttraktate
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auch der italienischen Epidemie von 1575–1577 von Medizinern im temporären oder permanenten Staatsdienst. Es war wohl vielmehr die Nähe dieser Autoren zur Sphäre der Politik, die das Interesse an der öffentlichen Gesundheitspolitik stimulierte. Francesco Alessandri war der Autor des Trattato della peste e febri pestilenti (1586), das wohl nicht zuletzt deshalb ein 36 Seiten umfassendes Kapitel zur Pestorganisation (Ordini et avvertimenti per gl’officiali et altri per tempo di Peste)⁸⁹ enthielt, weil er mit dem Beschluss und der Umsetzung von Pestmaßnahmen berufsbedingt vertraut war. Er war der Leibarzt des Herzogs von Savoyen und wurde zum Ausbruch der Epidemie in den Gesundheitsmagistrat der Stadt Turin berufen. Auch der sizilianische protomedico Giovanni Filippo Ingrassia, der sich seinerseits ausführlich zu Pestmaßnahmen äußerte, war nicht nur ein angesehener Mediziner, sondern stand wie Settala permanent im Staatsdienst.⁹⁰ Mit Tadino und Settala traten gleich zwei der drei der während der Epidemie von 1629–1630 für den Gesundheitsmagistrat tätigen Mediziner als Verfasser von Pesttraktaten hervor. Der dritte Arzt, Archileo Carcano, scheint nichts geschrieben zu haben. Doch sein gleichnamiger Vorfahr und Vorgänger im Amt, Archileo Carcano, verfasste zwei Traktate zur Epidemie von 1575–1577.⁹¹ Über die Leserschaft der Traktate lässt sich nur spekulieren. Die große Menge von Publikationen zeugt jedoch von einem großen und anhaltenden Publikumsinteresse. Dieses hing auch damit zusammen, dass Pesttraktate Ratschläge zur Selbstmedikation enthielten und Ärzte im Pestfall oft nicht verfügbar waren.⁹² Der zunehmende Anteil volkssprachlicher Traktate – er stieg von 23,7 Prozent zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts auf 92,6 Prozent im frühen siebzehnten Jahrhundert – zeugt davon, dass das Publikum nicht überwiegend aus Gelehrten bestand.⁹³
89 Francesco Alessandri: Trattato della peste e febri pestilenti. Turin 1586, f. 16–34. 90 Cohn, Cultures of Plague, S. 34. 91 Archileo Carcano d.Ä. war Arzt in Mailand und Professor für Medizin in Pavia. Er starb 1588 mit 32 Jahren. Archileo Carcano: De Peste Opusculum (1577); ders.: Trattato di peste utilissimo (1577). 92 Die Konsultation eines Arztes war in der Frühen Neuzeit allgemein nicht die erste Option, sondern eher die ultima ratio. Die medizinische Ratgeberliteratur war zentral für die weit verbreitete Praxis der Selbstmedikation. Vgl. Laurence Brockliss, Colin Jones: The Medical World of Early Modern France. Oxford 1997, S. 8. 93 Vgl. Jones, Plague and Its Metaphors, S. 123, Fn. 41.
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Seuchenpolitik und Staatsräson: Die Mailänder Epidemie von 1629–1630
5.2 Die Entstehung der Pest im Herzogtum Mailand: Vorzeichen und Ursachen der Epidemie bei Alessandro Tadino und Ludovico Settala Für Tadinos Traktat war das zentrale Genre jenes der Pestchronik (il successo della peste). Die chronologische Schilderung von Entstehung, Entwicklung und Ausbreitung der Seuche gliederte sich in vier Phasen: die Entstehung der Seuche im Herzogtum Mailand, der Beginn der Epidemie in der Stadt Mailand, ihr Höhepunkt in der Stadt und im Herzogtum Mailand und die ‚Befreiung‘ von der Seuche und die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung. Für jede einzelne Phase machte Tadino unterschiedliche Vorzeichen und Ursachen verantwortlich. Als erste Ursache der Epidemie benannte Tadino Gott: die göttlichen Strafen der Vergangenheit und der Gegenwart genügten nicht, um das Volk zur Einsicht in seine Irrtümer und Sünden zu bewegen, und zu ihnen kam eine allgemeine Hungersnot hinzu, die den ganzen Staat betraf und die wie gesagt im Jahr 1627 ihren Anfang nahm.⁹⁴
Gott sandte die Epidemie, um die Menschen – speziell die Mailänder – für ihr moralisches, soziales und politisches Fehlverhalten zu strafen. Die Pest war nur ein Teil des göttlichen Strafprogramms, das aus drei klassischen Plagen, Hunger, Krieg und Pest bestand.⁹⁵ Tadino unterfütterte das religiöse Erklärungsmodell auch mit wirtschaftlichen Argumenten. Neben die göttliche Strafe in Form der Missernte trat der menschliche Beitrag durch Spekulationen mit dem Getreidepreis und ökonomische Entscheidungen: zu dieser Zeit begann die Hungersnot und der Mangel, nicht nur von der mittelmäßigen, ja schwachen Ernte verursacht, sondern durch einige Getreideausfuhren aus dem Staat mit der Erlaubnis gewisser Minister, und durch die mangelnde Loyalität mancher Staatsbeamter, die geblendet vom Eigeninteresse und von der nicht allzu seltenen Geldgier die Ausfuhr nach Graubünden, in die Schweiz, ins Veneto, nach Genua und in andere angrenzende Fürstentümer erlaubten.⁹⁶
94 „non erano sofficienti li flagelli passati, et presenti per al recognitione delli errori, et peccati del Popolo; ad essi v’aggionse la Carestia parimente universale di tutto lo Stato, la quale hebbe principio il sopradetto anno 1627.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 6. 95 Das Erzählmuster war ubiquitär und fand sich auch bei Lampugnano. Vgl. hier Kap. 5.5.1. 96 „nel quale tempo cominciò la Carestia, et penuria di vivere, cagionata non solamente dal raccolto mediocre, anzi tenue, ma d’alcune estrattioni fuori dello Stato, permesse d’alcuni Ministri, et dalla poca fedeltà d’alcuni Commissarij dello Stato, li quali acciecati dall’interesse, et da non troppo inordinato desiderio dell’oro permettevano l’estrattioni alli Grigioni, Suizzeri,
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Tadinos Vorwurf war nicht singulär. Auch andere Autoren von Pestschriften wie der Gerbermeister Miguel Parets aus Barcelona machten im siebzehnten Jahrhundert politische und ökonomische Entscheidungen sowie die Korruption politischer Akteure für das Ausmaß von Hungersnöten verantwortlich. Es handelte sich um einen im frühen siebzehnten Jahrhundert wohletablierten Topos der Pestliteratur.⁹⁷ Die geschärfte Wahrnehmung sozialer und politischer Aspekte von Epidemien tritt in italienischen Pesttraktaten seit der Epidemie von 1575–1577 auf.⁹⁸ Neben schlechten Ernten und Spekulationen mit dem Getreidepreis machte Tadino auch die Verwicklung des Herzogtums Mailand in den Mantuanischen Erbfolgekrieg, einen wichtigen Nebenschauplatz des Dreißigjährigen Kriegs, für die soziale und ökonomische Malaise verantwortlich. Diese war gemäß Tadino das Resultat der politischen Entwicklung des Herzogtums Mailands seit dem Jahr 1535, in dem die Herrschaft der Sforza endete, was zur politischen Unterstellung des Herzogtums unter die spanischen Habsburger und den von ihnen eingesetzten Gouverneur führte. Das Unheil nahm für Tadino 1535 mit dem Tod des letzten Sforza Francesco Sforza II. seinen Lauf: „mit dem Tod des genannten Herzogs im Jahr des Herrn 1535 schien es, als ob zugleich der Friede Italiens sein Leben ausgehaucht hätte.“⁹⁹ Während Giuseppe Ripamonte in seinem Pesttraktat De Peste quae fait anno MDCXXX (1641) den Zeitraum von 1535 bis 1630 politisch als eine friedliche Phase schilderte,¹⁰⁰ stellte Tadino chronologisch weit entfernte politische Phänomene in Zusammenhang zur Epidemie von 1629–1630. Damit machte Tadino die Fremdherrschaft nicht nur für die finanzielle Situation des Herzogtums, sondern auch für die militärischen Verwicklungen verantwortlich, die zur Präsenz des französischen Militärs im angrenzenden Herzogtum Savoyen und der Armee des Deutschen Reichs auf mailändischem Territorium vor und während der Epidemie führte. Das war auch in Hinblick auf die zweite göttliche Plage, den Krieg, bedeutsam.
alli Stati Veneti, et Genovesi, et ad’altri molti Prencipi confinanti.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 6. 97 Angesichts der identischen Argumente bei Tadino kann es sich kaum um „persönliche Reflexionen über die Gründe des Unheils und die Rolle der Obrigkeit“ handeln. Vgl. Dinges, Pest und Staat, S. 86. 98 So Cohn, Cultures of Plague, S. 7. 99 „l’anno di nostra salute 1535. dell’accennato Duca la morte, si dubito essere seco spirata parimente la quiete dell’Italia.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 1. 100 „rimase per quasi cento anni (1535–1630) tranquilla“. Giuseppe Ripamonte: La peste di Milano del 1630. http://www.classicitaliani.it/ripamonti/Ripamonti_peste_01.htm. Übers. von Francesco Cusani (10. April 2014).
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Seuchenpolitik und Staatsräson: Die Mailänder Epidemie von 1629–1630
5.2.1 Der Ursprung des Kontagiums und das Lazarett Die Verarmung der Landbevölkerung führte 1628 zu einem massiven Zuzug nach Mailand, der die Möglichkeiten der Stadt Mailand hinsichtlich der Armenfürsorge überschritt und zweierlei bewirkte. Zum einen mündete er in politischen Unruhen, die etwa zur Plünderung einer Bäckerei führten sowie zum Angriff auf das Haus des Vicario di Provisione, einem der wichtigsten politischen Funktionäre des Mailänder Senats.¹⁰¹ Zum anderen führte die Präsenz vieler Bedürftiger in Mailand zu bedenklichen hygienischen Zuständen. Als die Verbesserung der öffentlichen Hygiene ebenso scheiterte wie die Versorgung der Armen mit Lebensmitteln, entschloss man sich zur räumlichen Isolation im Lazarett. Damit wurde vor dem Ausbruch der Pest eine genuine Pestmaßnahme angeordnet. Es wird häufig angenommen, dass die europäischen Seuchenzüge direkt zur Institutionalisierung von Pestmaßnahmen führten.¹⁰² Die bekanntesten Institutionen, die im Zuge der Pestwellen entstanden, waren Pestbehörden, Stadtärzte und Pestlazarette. Diese sind eng verzahnt mit der Durchführung isolierender Pestmaßnahmen wie Quarantäne und Reise- und Handelsbeschränkungen. Pestbehörden wie der mailändische Tribunale di Sanità entstanden in den frühen Pestepidemien seit 1348 zumeist ad hoc und wurden erst ein Jahrhundert später in permanente Einrichtungen umgewandelt.¹⁰³ Dieser Prozess vollzog sich in den nord- und mittelitalienischen Territorien seit dem fünfzehnten Jahrhundert, ungefähr ein Jahrhundert früher als nördlich der Alpen. Städtische Pestbehörden hatten als exekutive und judikative Instanz die Befugnis zum Erlass von Pestordnungen, Pestmaßnahmen und zur Bestrafung ihrer Übertretung. Meist wurden angesehene Bürger als Gesundheitsmagistrate ernannt, um die Durchführung der traditionellen Maßnahmen der öffentlichen Hygiene wie die Straßenreinigung, Müllbeseitigung und Kontrolle der Lebensmittel zu überwachen. Die von den Gesundheitsbehörden erlassenen Pestmaßnahmen waren zunächst wenig originell, sondern beschränkten sich auf die ausdrückliche Inkraftsetzung bereits bestehender Bestimmungen zur öffentlichen Hygiene wie der Straßenreinigung und Marktordnung.¹⁰⁴ Der Katalog von Bestimmungen lässt sich bis in die griechisch-römische Antike zurückverfolgen. Insbesondere die römische Antike machte sich um die Wasser- und Abwasserwirtschaft, Marktpolizei und Straßenreinigung ver-
101 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 7 f. 102 Dinges, Pest und Staat, S. 74. 103 Carmichael, Plague Legislation, S. 511. 104 Ebd., S. 510.
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dient.¹⁰⁵ Das römische Sanitätswesen ging auf die Zwölftafelgesetze zurück und wurde durch die lex Papiriana im zweiten Jahrhundert erweitert. Das Gesetz stellte die Wasserversorgung, die Straßen- und Marktpolizei, die Prostitution und das Leichen- und Kloakensystem unter die Aufsicht der Aedile und machte das öffentliche Gesundheitswesen zum Teil der Staatsverwaltung.¹⁰⁶ Die Entstehung von Pestbehörden als permanente Institutionen folgte der Pest im Abstand von mehr als 100 Jahren, und viele ihrer Verordnungen waren weder neu noch pestspezifisch. Auch die Anstellung von Stadtärzten bei den Kommunen vollzog sich nicht direkt als Reaktion auf Pestepidemien. Die Institutionalisierung dieses Postens fand in den europäischen Staaten zu unterschiedlichen Zeitpunkten statt. Während die ersten Stadtärzte in Italien bereits im dreizehnten Jahrhundert angestellt wurden und somit vor der ersten Pestwelle,¹⁰⁷ gab es in den mittelgroßen Städten des Deutschen Reichs im fünfzehnten Jahrhundert zwar schon die Pest, aber noch keine Stadtärzte.¹⁰⁸ Die wichtigste neuartige Pestmaßnahme war die Quarantäne. Sie beruhte auf dem Prinzip der Isolation. Eine Quarantäne wurde erstmals 1377 in der Hafenstadt Ragusa, dem heutigen Dubrovnik, verhängt.¹⁰⁹ Diese Praxis blieb zunächst ohne Beispiel, was sich der besonderen geographischen Lage und wirtschaftli-
105 So konstatierte Dionysios von Halikarnassos: „Mir fallen drei Gegenstände auf, in welchen ich die Größe des römischen Volkes bewundere, die Wasserleitungen, die öffentlichen Straßen und die Kloaken.“ Zitiert nach August Hirsch: Über die historische Entwicklung der öffentlichen Gesundheitspflege. Rede, gehalten zur Feier des Stiftungstages der Militär-Ärztlichen Bildungsanstalten am 2.8.1889. In: Militärärztliche Bildungsanstalten. Reden an den Stiftungstagen 1880–1889. Berlin 1889, S. 5–35, S. 14. 106 Ebd., S. 16. Offenbar wurde die Stadthygiene nicht erst seit dem ausgehenden Mittelalter als politische Aufgabe entdeckt, wie Dinges behauptet. Dinges, Pest und Staat, S. 76 f. 107 Hirsch, Gesundheitspflege, S. 25. Zur Institution der Stadtärzte vgl. auch Vivian Nutton: Continuity or Rediscovery? The City Physician in Classical Antiquity and Medieval Italy. In: Andrew W. Russell (Hg.): The Town and State Physician in Europe from the Middle Ages to the Enlightenment. Wolfenbüttel 1981, S. 9–46. 108 Dinges hält den Prozess der Anstellung von Stadtärzten im Deutschen Reich bereits im vierzehnten Jahrhundert für abgeschlossen und benennt mit Köln (1372), Straßburg (1383) und Frankfurt/M. (1384) Orte, an denen er frühzeitig stattfand. Vasold hingegen konstatiert, dass es noch im fünfzehnten Jahrhundert in mittelgroßen Städten wie Gießen, Marburg und Wetzlar gar keinen Arzt gab. Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 103. 109 Die Datierung ist kontrovers. Oft wird die erste Quarantäne in Marseille verortet. Grmek bezweifelt die Echtheit der Dokumente, aus denen die erste 40-tägige Quarantäneordnung in Marseille hervorgeht und auch, dass Ragusa dem Beispiel Venedigs folgte. Mirko Grmek: Le concept d’infection dans l’antiquité et au Moyen Age, les anciens mésures sociales contre les maladies contagieuses, et la fondation de la première quarantine à Dubrovnik. In: RAD Jugoslavenske Akademije Zanosti i Umjetnosti 384 (1980), S. 29–32. Ihm folgt Carmichael, Plague Legislation, S. 511.
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chen Bedeutung Ragusas schuldete. Die Stadt war ein wichtiger Umschlagplatz des See- und Landhandels: Sie lag am Endpunkt einer Karawanserei.¹¹⁰ Hafenstädte hatten es leichter, Isolationsmaßnahmen durchzuführen, da die ankommenden Schiffe per se einen abgeschlossenen Raum bildeten, der nicht erst zur Verfügung gestellt werden musste. Zudem besaßen Schiffe Verpflegung an Bord, so dass das Versorgungsproblem partiell entfiel. Was den Landhandel anging, so verhinderten hohe Berge den Zugang abseits der üblichen Strecken, was die Lage in Ragusa kontrollierbarer machte als in Städten wie Mailand, die in einer Ebene lagen und von allen Seiten aus zugänglich waren. Dort wurden die neuartigen Praktiken der Isolation wie Handelsbeschränkungen, Reisekontrollen und die Segregation der Kranken erst im frühen fünfzehnten Jahrhundert eingeführt.¹¹¹ Dabei spielte Mailand eine Vorreiterrolle. Zur Isolation der Pestkranken bedurfte es abseits von Hafenstädten einer eigenen Institution, nämlich Pestlazaretten. Pestspitäler waren keine völlig neuen Einrichtungen, ebenso wenig wie das Prinzip der Isolation der Kranken, das bereits im Umgang mit Leprakranken erprobt war. Die Lepra grassierte vor allem zwischen 1100 und 1350 in Europa, höchstwahrscheinlich infolge des intensiven Kulturkontakts zum Nahen Osten im Rahmen der Kreuzzüge. Allerdings handelte es sich bei der Lepra um eine Krankheit, die sich nicht besonders schnell ausbreitete. Daher war die Zahl der Leprakranken überschaubar, ebenso wie die Größe der Leprosarien¹¹² zu ihrer Unterbringung.¹¹³ Im Zuge der ersten Pestepidemien kam es oft zur temporären Umnutzung bestehender Einrichtungen zur Krankenpflege wie Leprosarien und Hospize. Das war in Venedig seit 1423 der Fall.¹¹⁴ Der erste Neubau eines Lazaretts wurde 1456 beschlossen.¹¹⁵ In Mailand
110 Paola Frati: Quarantine, Trade and Health Policies in Ragusa-Dubrovnik Until the Age of George Armenius Baglivi. In: Medicina nei secoli. Arte e scienza. 12, 1 (2000), S. 103–127, S. 108 f. 111 Carmichael, Plague Legislation, S. 512 und Slack, Introduction, S. 15. 112 Auch sie gingen auf die römische Antike zurück. Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 100. 113 Zur Geschichte der Krankenhäuser vgl. Risse, History of Hospitals, zur Entstehung der modernen Lazarette aus den Leprosarien insbesondere S. 173–190. 114 So Risse, History of Hospitals, S. 202 und Carmichael, Plague Legislation, S. 520. Vasold konstatiert etwas missverständlich, dass Venedig die erste Stadt war, die ein eigenes Spital für Pestkranke eingerichtet habe, das lazaretto oder nazaretto auf der Laguneninsel Santa Maria de Nasova (Nazareth). Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 99. Es handelte sich aber um die erste permanente Umnutzung eines bestehenden Hospizes zur Isolation der Pestkranken, nicht um einen Neubau. Der Neubau auf einer anderen Laguneninsel, San Erasmo, datierte von 1468. Vgl. Risse, History of Hospitals, S. 203 und Luca Beltrani: Il lazzaretto di Milano. In: Archivio storico lombardo 9 (1882), S. 403–441, S. 405. 115 So Risse, History of Hospitals, S. 203. Carmichael datiert die Fertigstellung des Baus auf 1671. Carmichael, Plague Legislation, S. 520.
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wurde 1468 der Bau des Lazaretts beschlossen. Begonnen wurde er 1488, 1513 abgeschlossen.¹¹⁶ Während der Epidemie 1524 war das Lazarett erstmals voll im Gebrauch.¹¹⁷ Die zeitliche Diskrepanz von 150 Jahren widerspricht der These, dass Pestepidemien direkt Institutionen wie Pestbehörden, Lazarette und Isolationsmaßnahmen generierten. Ein weiterer möglicher Grund für die Verzögerung ist ein medizinischer, nämlich der Übergang von einer miasmatischen Ansteckungstheorie zu einer kontagionistischen. Während die miasmatische Theorie ‚verdorbene‘ Luft und Gewässer als Ursache und Medium der Pestausbreitung auffasste, nahm die von Girolamo Fracastoro ausgehende kontagionistische Theorie die direkte oder indirekte Übertragung eines schädlichen Stoffes, bzw. Krankheitskeims an. Es ist vermutet worden, dass die Durchführung effizienter Pestmaßnahmen erst von der kontagionistischen Ansteckungslehre ermöglicht wurde. Während Mediziner oftmals auf der miasmatischen Theorie beharrten, stützten sich die mit der Durchführung von Pestmaßnahmen betrauten Politiker lieber auf kontagionistische Argumente.¹¹⁸ Doch für die meisten Mediziner, Politiker und Architekten schlossen sich um 1600 kontagionistische und miasmatische Erklärungsmodelle nicht aus. Das galt bereits für den mutmaßlichen Urheber der kontagionistischen Theorie Fracastoro selbst, der mit De contagione et contagiosis morbis et eorum curatione (1546) einen wirkmächtigen Beitrag zur Debatte über die Ursache epidemischer Krankheiten formulierte.¹¹⁹ Auch bei dem Neubau des Mailänder Lazaretts ließ sich eine eigenwillige Mixtur von miasmatischen und kontagionistischen Krankheitslehren beobachten. Während der die Pestbehörde beratende Arzt den Neubau auf der Grundlage einer miasmatischen Theorie befürwortete, hielten die Politiker ihn aus kontagionistischen Gründen für sinnvoll.¹²⁰ Das Mailänder Lazarett wurde nach langer Suche nach einem geeigneten Standort im Nordosten der Stadt¹²¹ vor dem Stadttor Porta Orientale (heute Porta Venezia) bei der Kirche San Gregorio errichtet.¹²² Die Lage flussabwärts im Osten der Stadt zeugt von miasmatischen Überlegun-
116 Risse datiert die Fertigstellung des Baus auf 1468. Risse, History of Hospitals, S. 204. Carmichael gibt den Baubeginn einmal mit ‚nicht vor 1486‘ an (Carmichael, Plague Legislation, S. 520), ein anderes Mal die Grundsteinlegung mit 1488. Carmichael, Last Past Plague, S. 152. 117 Carmichael, Last Past Plague, S. 152. 118 Nutton, Seed among Thorns, S. 197. 119 Ebd., S. 198. 120 Carmichael, Plague Legislation, S. 513, Fn. 19. 121 Beltrani berichtet, es sei bereits seit 1390 im Umkreis von Porta Orientale nach einem geeigneten Ort für das Lazarett gesucht worden. Beltrani, Lazaretto di Milano, S. 407. 122 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 78.
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Abb. 7: Das Mailänder Lazarett im Nordosten der Stadt, um 1630.
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gen, die nicht nur in Mailand einen wesentlichen Einfluss auf die architektonische Gestaltung ausübten: Die ersten Pesthäuser italienischer Hafenstädte errichtete man – wenn irgend möglich – auf Inseln oder an unzugänglichen Stellen der Küste, wobei darauf zu achten war, daß die vorherrschenden Westwinde die verdorbene Luft nicht in die Wohnviertel trieben. In Dubrovnik und Marseille, in Venedig und Genova findet man die Lazarette deshalb stets im Osten der Stadt und außerdem in beträchtlichem Abstand von jeder Ansiedlung.¹²³
Im Inland wurde der Bauplatz flussabwärts und zumeist im Osten der Stadt gewählt. Während also die Abschirmung gegen die Stadt auf kontagionistischen Annahmen beruhte, erklärte sich die geographische Lage miasmatisch.¹²⁴ Möglicherweise war es weniger die kontagionistische Ansteckungslehre, die den Pestmaßnahmen Kredit verschaffte, denn die Pestmaßnahmen, die der These Glaubwürdigkeit verliehen, dass die Pest eine von Mensch zu Mensch übertragbare Krankheit sei.¹²⁵ Tadino schilderte, dass die Armen ins Lazarett gebracht wurden, wo sich binnen kurzer Zeit 9.715 Personen unter bedenklichen hygienischen Bedingungen ansammelten: Dort verursachte das Vorfinden von dreckigem und stinkendem Stroh in vielen Räumen, das Trinken von brackigem Wasser, das Zusammenwohnen so vieler Armer in engen und überhitzten Zimmern während der ebenso heißen Jahreszeit [...] eine derartige Sterblichkeit und ein Blutbad unter den Armen, so dass man behaupten kann, dass das formale Pestkontagium [il contagio formale] bei ihnen Eingang gefunden hat.¹²⁶
Pro Tag starben im Lazarett zwischen 70 und 110 Personen. Dafür machte Tadino zunächst diätetische und miasmatische Ursachen verantwortlich: Und diese große Mortalität unter den Armen wurde von den Körperflüssigkeiten verursacht wegen des Trinkens von verdorbenem Wasser, und durch das schlechte Gesundheitsregime.¹²⁷
123 Dieter Jetter: Das Isolierungsprinzip in der Pestbekämpfung des siebzehnten Jahrhunderts. In: Medizinhistorisches Journal 5 (1970), S. 115–124, S. 115. 124 Ebd., S. 121. 125 Carmichael, Plague Legislation, S. 521. 126 „il ritrovare putrida, et fetida la paglia in molte Camere, ne mai renovata, il bevere l’acqua corrotta, l’habitare tanto numero de poveri in Camere anguste, et calde in stagione parimente ardente [...] causorno tanta mortalità, et strage nelli poveri, che si può dire v’entrasse il contagio formale frà di loro.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 11. 127 „Et questa cosi numerosa mortalità de poveri l’avevano causata li flussi di corpo per le acque bevute corrotte, et per loro mala regola del vivere.“ Ebd., S. 11.
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Man könnte allerdings vermuten, dass es die Segregationsmaßnahmen und die mit ihnen verbundenen hygienischen Zustände selbst waren, die die Ausbreitung der Seuche beförderten. Die armen Bevölkerungsschichten hatten allgemein die geringste Chance, der Einweisung ins Lazarett zu entgehen, was ihre Chance auf den Pesttod zusätzlich erhöhte. So schilderte Leibniz das Krankenhaus noch 1714 nicht als Ort der Genesung, sondern als sicheren Hort der Ansteckung, als seminarium mortis oder thesaurus infectionis,¹²⁸ der eher die Überlebenschance der Gesunden erhöhte als die der Kranken.¹²⁹
5.2.2 Vorzeichen der Pest und Pestursachen bei Tadino Tadino nahm an, dass der Putrefaktionsprozess, der sich in Luft und Wasser vollzog, die Ursache für die Entstehung des Kontagiums war: „Man konnte diese Krankheit formale Pest [peste formale] nennen, da sie mit der Zeit ansteckend wurde und sich in der ganzen Stadt verbreitete.“¹³⁰ Somit behauptete Tadino, dass das Pestkontagium bereits 1628 miasmatisch entstanden und allmählich ansteckend geworden war. Dabei setzte er miasmatische und kontagionistische Pestursachen in ein kausales Verhältnis. Wie die meisten frühneuzeitlichen Mediziner sah Tadino nicht den geringsten Widerspruch zwischen miasmatischer und kontagiöser Theorie der Pestentstehung.¹³¹ Die von Tadino geschilderte Seuche von 1628 blieb nicht auf die Lazarettinsassen beschränkt, sondern verbreitete sich auch in Mailand, wo das Sterberegister allein im September 8.570 Tote verzeichnete.¹³² Tadino verstand diese kleinere Epidemie von 1628 als Vorspiel der großen Epidemie von 1630. Damit entwarf er gemäß dem Pestnarrativ, das die Pest als eine der drei göttlichen Plagen deutete, Hunger und Armut als Vorzeichen der Pest. So prognostizierte Tadino, dass das Herzogtum Mailand „nicht nur von Hungersnot und Krieg heimgesucht, der den ganzen Staat zerrüttete, sondern sehr bald auch von der Pest
128 „Und können also die Lazarete wohl recht ein seminarium mortis und thesaurus infectionis genennet werden.“ Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Leibniz-Handschriften. Hg. von Eduard Bodemann. Hannover, Leipzig 1895, S. 274. 129 Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 99. 130 „Peste formale si poteva nominare questa infirmità, et che col tempo si sarebbe fatta contagiosa, et communicata à tutta la Città.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 12. 131 Nutton, Seed among Thorns, S. 198. Tadinos Argumentation zur Entstehung der Pest deckt sich mit derjenigen Settalas. Vgl. hier Kap. 5.2.5. 132 „dalli libri del Cancelliere de morti s’intese esserne estinti per tutto Settembre al numero de 8570. nella Città solamente.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 12.
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überfallen“¹³³ würde. Damit fungierte die kleinere Epidemie für diejenigen, die sie zu deuten wussten, als ein Zeichen, das auf die gravierendere Seuche von 1629–1630 vorauswies. Tadino schilderte Hunger, Krieg und Pest nicht als unerklärliche göttliche Heimsuchungen, sondern erklärte ihr Auftreten zugleich realistisch und kausal. Das wurde auch bei dem Verhältnis zwischen Krieg und Pest deutlich. Denn neben dem einheimischen Infektionsherd in Form der Armen und Bettler identifizierte Tadino mit der Armee des Deutschen Reichs, die sich auf mailändischem Territorium befand, einen zweiten, wandelnden Pestherd. Die gemäß Tadino generell pestverdächtigen deutschen Truppen¹³⁴ verbreiteten die Pest bereits seit dem Herbst 1629 im Zuge ihres Transits vom Comer See entlang des Flusses Adda in südlicher Richtung: der Durchmarsch der deutschen Söldner dauerte vom 20. September bis zum 3. Oktober 1629, und ungefähr drei Wochen lang beklagten sich die Menschen aus jedem Dorf, Weiler und jeder Siedlung, wo sie durchgezogen waren und bedauerten wechselseitig ihr Unglück, doch insgeheim fürchteten sie eine bevorstehende größere Katastrophe, der, da der Herbst und Winter, also die kalten Jahreszeiten begannen, die gleichermaßen schlimme wie beängstigende Nachricht der Pest folgte, da man sich sicher war, dass die Söldner sie auf dem ganzen Gebiet verbreitet hatten, durch das sie durchgezogen waren.¹³⁵
Sehr wahrscheinlich war es weniger die Bevölkerung als vielmehr Tadino selbst, der angesichts der ersten Pestfälle im Herbst 1629 den Ausbruch der Epidemie im kommenden Frühjahr fürchtete. Mit dem deutschen Militär benannte Tadino eine zweite Pestursache. Damit folgte er der Tendenz der Pesttraktate, ausländische Mächte für die Einschleppung von Epidemien verantwortlich zu machen.¹³⁶ Wahrscheinlich handelte es sich nicht nur um einen Topos der Pestliteratur, denn
133 „vedendosi oltre la Carestia, et guerra, la quale haveva desolato tutto lo Stato, sopraprendersi ancora tanto presto dalla Peste.“ Ebd., S. 15. 134 „mit Furcht sah man der zukünftigen Begegnung mit der Pest entgegen, welche gewöhnlich das deutsche Militär begleitete.“ („previsto co’l timore del futuro incontro della Peste la quale suole accompagnate di continuo l’arme Alemani.“). Ebd., S. 12. 135 „il passaggio, et transito di questa Soldatesca Alemana, che fù dalli 20. Settembre fino li trè Ottobre 1629 et per il spatio di trè settimane in cerca ciascuna Terra, Villa, è Borgo, per dove havevano transitato si lagnava insieme, e compativansi le reciproche calamità, ma nell’intimo ciascuno di loro stava nel sentimento d’aspettare maggior rovina; la quale per entrare nell’Autunno, et Inverno, stagione fredda, portò avanti alquanto l’horribile, et spaventosa nuova della Peste, tenendosi per certo, che ne havessero seminato per tutto il paese per dove fossero transitati.“ Ebd., S. 22. 136 Dinges, Pest und Staat, S. 95.
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die hygienischen Zustände beim Militär waren wirklich seuchenfördernd. Noch bis ins neunzehnte Jahrhundert kamen in Kriegen regelmäßig erheblich mehr Menschen durch Krankheit als durch Kriegsverletzungen um.¹³⁷ Tadino bezifferte das deutsche Heer auf eine Stärke von 36.256 Mann.¹³⁸ Der Durchzug einer solchen Menge an Soldaten war nicht nur ein epidemiologisches, sondern auch ein versorgungsmäßiges Problem, wie an Tadinos Schilderung der Quartiernahme deutlich wird.¹³⁹ So nahmen in Chiuso, heute ein Ortsteil von Lecco am Comer See, ganze 70 Personen pro Haushalt Quartier: „diese deutschen Söldner, die auf dem Gebiet von Chiuso mit 3.000 Leuten Quartier genommen hatten, obwohl dieses sehr klein war und nur 40 Feuerstätten hatte.“¹⁴⁰ Die Soldaten hinterließen nicht nur bis zur Unbewohnbarkeit verschmutzte Häuser, sondern gemäß Tadino auch die Pest. Dazu passte, dass sich die Pest entlang der Marschroute der Armee ausbreitete. Es stellt sich allerdings die Frage, wie eine pestinfizierte Armee so mobil sein konnte.¹⁴¹ Obwohl die Quartiernahme fremder Armeen kein populäres politisches Ereignis war, äußerte sich Tadino nicht sonderlich xenophob. Er nannte Plünderungen und das Anzünden von Häusern lakonisch „ein Ereignis, das sehr häufig im Krieg vorkommt.“¹⁴² Schlimmer als die Plünderungen erschien Tadino das freie Umherstreifen der gegnerischen Armee, so dass sich die Pest ausbreitete wegen des andauernden Durchmarschs der Deutschen durch das Gebiet von Val Sassina, des Comer Sees und der Brianza ohne Gesundheitspässe oder Nachweise ihrer Gesundheit, sie zogen in Grüppchen herum und nahmen Quartier, wo es ihnen passte.¹⁴³
137 „In früheren Kriegen [vor 1866] rechnete man durchschnittlich einen sechs mal so großen Verlust durch Krankheiten als durch Waffen.“ Robert Koch: Die Bekämpfung der Infektionskrankheiten insbesondere der Kriegsseuchen. Rede, gehalten zur Feier des Stiftungstages der Militär-Ärztlichen Bildungsanstalten am 2.8.1888. In: Militärärztliche Bildungsanstalten. Reden an den Stiftungstagen 1880–1889. Berlin 1888, S. 276–289, S. 277. 138 Tadinos Zahlen sind widersprüchlich. So ergeben die von ihm aufgelisteten Einzelarmeen in der Summe nur 30.765 Soldaten. Auch wenn die absoluten Zahlen nicht korrekt sind, war es wohl eine große Armee. 139 Auch Koch erwähnt das hygienische Problem der Nachtquartiere. Koch, Kriegsseuchen, S. 284. 140 „questi Soldati Alemani allogiati in questa terra di Chiuso al numero di 3000. per essere molta piccola da 40 fuochi solamente.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 32. 141 Kampfhandlungen erwähnte Tadino nicht. 142 „accidente molto frequente della guerra.“ Ebd., S. 17. 143 „per il transito continuo de Alemani nella Valsasina, per il Lago di Como, per il Monte Brianza senza bolette, ne sicurezze della loro salute, transitando alla sfilata, et allogiando dove à loro piaceva“. Ebd., S. 77.
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Der Armee einer Besatzungsmacht konnte man weder die Marschroute noch die Quartiernahme vorschreiben. Man konnte sie nicht in Quarantäne legen oder anderen Pestmaßnahmen unterziehen, da sie nicht der Befehlsgewalt der Gesundheitsbehörde unterstand. Die Reglementierung der Bewegung der einheimischen Bevölkerung nutzte wenig, solange Tausende von Soldaten unkontrolliert durch das Territorium streiften. Die geographische Lage und politische Konstellation erschwerte die Durchführung von Isolationsmaßnahmen, da Mailand 1630 nicht die vollständige Befehlshoheit über das Territorium besaß. Tadino unterschlug jedoch, dass der Tribunale di Sanità zu diesem Zeitpunkt noch gar keine Pestmaßnahmen angeordnet hatte. Nicht nur die gegnerische Armee, sondern auch die Einwohner des Herzogtums Mailand waren dem Beschluss von Pestmaßnahmen abgeneigt. In dem pestverdächtigen Ort Lindò wurden Waren aus den deutschen und schweizerischen Gebieten gehandelt und von dort aus nach ganz Italien transportiert. Obwohl Pestmaßnahmen hier durchsetzbar gewesen wären, konnte sich der Gesundheitsmagistrat aufgrund wirtschaftlicher Interessen nicht dazu entschließen: die Interessen einiger Magistrate, vereint mit den Kaufleuten, und auch der [drohende] Verlust des eigenen Profits der Räte, die dauerhaft ihr Amt bekleideten, waren der Grund, warum die Stadt Lindò nicht einmal für pestverdächtig erklärt wurde, geschweige denn für pestbefallen.¹⁴⁴
Die Forderung der drei für den Magistrat tätigen Ärzte Settala, Tadino und Carcano, die Pest zu erklären und Handelssperren zu verhängen, blieb unbeachtet. Die gegensätzliche Interessenlage von Handel und Medizin war charakteristisch für den Beginn frühneuzeitlicher Epidemien.¹⁴⁵ Auch in früheren mailändischen Epidemien führten langwierige Aushandlungsprozesse zwischen Vertretern der Politik, der Wirtschaft, der Gesundheitsmagistrate und Mediziner zu einer denkbar späten Pesterklärung.¹⁴⁶ Das Problem war, dass Pestmaßnah-
144 „mà gl’interessi d’alcuni Ministri, congionti con Mercanti, et anco la perdita dell’utile di chi in tale ministerio stava di continuo, forno causa, che assolutamente non fosse, non dirò bandita la Città di Lindò come infetta, mà ne anche sospesa.“ Ebd., S. 14. 145 Cipolla, Public Health, S. 36. 146 In Mailand kam es auch 1468 zum Konflikt zwischen Gesundheitsmagistrat, Ärzten und dem Herzog, wobei die Ärzte zurückhaltend waren mit der Pestdiagnose. Das hing auch damit zusammen, dass manche Pestfälle angesehene Bürger betrafen. So konnte man Giovanni Catelano, den wichtigsten für den Gesundheitsmagistrat tätigen Mediziner, nicht gut in Quarantäne
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men zwar nützlich für die öffentliche Gesundheit waren, aber allen Beteiligten wirtschaftlich schadeten.¹⁴⁷ In Lindò wurde die offizielle Pesterklärung nicht wegen der Präsenz der fremden Armee vermieden, sondern aufgrund von Handelsinteressen. Handelsware war zugleich ein wichtiges Medium, das deutsches Militär und einheimische Bevölkerung miteinander in Kontakt brachte. So waren die Einheimischen gemäß Tadino sehr an den Textilien und Pelzen der Soldaten interessiert, die man sich durch Kauf oder durch Plünderung, sofern die Soldaten im toten Zustand der Geschäftsfähigkeit entbehrten, aneignen konnte.
5.2.3 Die Medien der Pestausbreitung Mit Textilien, Leder und Pelzen sind auch jene Medien benannt, die Tadino wie die meisten Autoren von Pesttraktaten der Pestübertragung verdächtigte. Diese These stützte sich auf Fracastoros Konzeption der indirekten Infektion, der contagio per fomites. Diese fand durch die Übertragung von selbst nicht erkrankten Medien wie Krankheitsstoffen oder „Keimchen“ statt.¹⁴⁸ So konstatierte Tadino über einen frühen Pestfall in Bellano: „die Ursache dieses Kontagiums schrieb man einer Frau aus Badia zu, die einen toten deutschen Soldaten entkleidet hatte.“¹⁴⁹ Die Identifikation der Pest mit dem Begriff contagio zeigte, worin Tadino die Pestursache erblickte. Das kontagionistische Argument führte bei Tadino eine friedliche Koexistenz mit miasmatischen Erwägungen. So hinterließen die 3.000 Soldaten in dem kleinen Ort Chiuso nicht nur schlimme hygienische Zustände, sondern auch das Kontagium, das die miasmatisch geschwächte Konstitution der Einwohner endgültig kollabieren ließ: „Diese ansteckende Krankheit [...] verbreitete sich von Person zu Person [...]
legen, weil sein Dienstmädchen erkrankt war. Carmichael, Contagion Theory, S. 251, 247. Zu Catelano S. 222, 233. 147 Dinges behauptet, Mediziner hätten dazu geneigt, die Pesterklärung zu vermeiden. Sollte dem so sein, so traf das auf die Mailänder Pest von 1629–1630 nicht zu. Gemäß Tadino ging von den für die Pestbehörde tätigen Medizinern sogar der stärkste Impuls aus, frühzeitig die Pest zu erklären. Dinges, Pest und Staat, S. 75. 148 Zu Settalas Ansteckungstheorie vgl. hier Kap. 5.2.5. 149 „la causa di questo Contagio dicesi haver havuto origine da una donna della Badia, la quale spogliò uno Soldato Alemano morto.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 27.
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auch aufgrund der schlechten Disposition ihrer Körper unter diesen schlimmen Umständen.“¹⁵⁰ Auch in dem Bericht über seine Kontrollen von gemeldeten Verdachtsfällen in Val Sassina benannte Tadino neben dem Kontagium tierische und menschliche Kadaver als Pestursache und somit miasmatische Gründe: „in diesem Tal konnte man einen unerträglichen Gestank riechen, der von der Vielzahl toter Pferde ausging und den vielen Leichen der Soldaten.“¹⁵¹ Drastisch schilderte Tadino, wie sich der Verwesungsgeruch monatelang halten konnte: wir bemerkten bei der Ankunft und bei der Abreise in diesem Gebiet immensen Gestank, da es viele Monate des Jahres ohne Sonne ist, weil es am Fuß hoher Berge liegt, weshalb dieser Verwesungsgestank, der von den Häusern aufstieg, in welchen die deutschen Soldaten gestorben sind, weder von Winden bereinigt noch durch Wärme aufgelöst werden konnte und so die Ursache des großen Sterbens wurde.¹⁵²
Damit machte Tadino den von den Leichen ausgehenden Gestank für einen in der Luft stattfindenden Putrefaktionsprozess verantwortlich, der das Kontagium hervorbrachte. Darüber hinaus legte Tadino mit dem Hinweis auf die zahlreichen Pferdekadaver nahe, dass die Krankheit Pferde befiel. Auch am Ende des Traktats führte Tadino aus, dass unmittelbar im Anschluss an die Menschenseuche eine Tierseuche ausbrach und dass das allgemeine Kontagium der Menschen [...] quasi ohne zeitliches Intervall auf die Tiere überging, insbesondere auf die Rinder, die im Herzogtum Mailand und außerhalb davon zu Tausenden starben. Diese Epidemie wütete 1635 das ganze Jahr lang.¹⁵³
150 „questo male contagioso [...] si communicava di persona in persona [...] ancora per la mala dispositione di suoi corpi in questi tempi tanto calamitosi.“ Ebd., S. 32. 151 „in detta Valle si sentivano fetori insopportabili per la quantità de Cavalli morti, et ancora de molti cadaveri de Soldati.“ Ebd., S. 36 f. 152 „osservassimo nell’entrare, et uscire della terra fetori molti grandi, attesoche ancora si trova priva molti mesi dell’anno del Sole, per essere fabricata sotto la Montagna; per le quali cagioni non potendo da venti purgarsi, ne dal calore risolversi quelli aliti fetenti elevati dalle habitationi dove sono morti delli Soldati Alemani erano stati causa di maggiore mortalità.“ Ebd., S. 37. 153 „il contagio universale nelle creature humane [...] passasse quasi senza intervallo di tempo nelli animali, et particolarmente nelle bestie Bovine, delle quali ne furno distrutte nello Stato di Milano, et di fuori dello Stato à migliaia. Durò questo contagio per tutto l’anno 1635.“ Ebd., S. 138.
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Solche Beobachtungen sind auch nach dem jüngsten Nachweis von Yersinia pestis bei mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Pestopfern nur schwer zu erklären.
5.2.4 Astrologische Pestursachen Tadino benutzte zwar das Erzählmuster der drei biblischen Plagen, beschrieb aber den Zusammenhang zwischen der Plage des Kriegs und der Pest medizinisch detailliert durch die Entstehung und Ausbreitung des Pestkontagiums. Trotzdem besaß jede Plage zugleich die Funktion, auf das kommende Unheil zu verweisen. Das galt auch für die astralen Vorzeichen der Epidemie. So referierte Tadino eine astrologische Prognose für das Jahr 1629 für die Konjunktion von Saturn und Mars in den Zwillingen und in der Jungfrau, von Jupiter und Venus unbeeinflusst, und auch für die Konjunktion von Jupiter und Mars, die lautete: Hunger und Tod wird überall in Italien herrschen.¹⁵⁴
Dabei handelte es sich um dieselben Himmelsereignisse, die zeitgleich in Rom Morandis astrologische Spekulationen inspirierten.¹⁵⁵ Die Konjunktion der zwei traditionell negativ konnotierten Planeten Mars und Saturn war zusammen mit Sonnen- und Mondfinsternissen gemäß Tadino nicht nur verantwortlich für Erdbeben, Überschwemmungen, sondern über die Hungersnot hinaus auch für die Pest und andere schlechte Akzidentien der Luft, verursacht durch die Bewegungen der Sterne.¹⁵⁶
Tadino machte die Bewegung der Himmelskörper für die qualitative Veränderung der Luft verantwortlich. Damit erweist sich die astrologische Pestursache als ein miasmatisches Argument. Wann und wo zum ersten Mal astrologische Gründe wie eine Konjunktion für eine Epidemie verantwortlich gemacht
154 „E per certo à questa gran strage si sarebbe potuto addattare quella predittione Lunare per la congiontione di Saturno con Marte in Gemini, et in Vergine, da Giove, et Venere non impedita, et ancora per la congiontione di Giove, et Marte qual diceva Fames in Italia morsq[ue]; vigebit ubiquè.“ Ebd., S. 12. 155 Der reale Hintergrund dieser Vorhersagen war die sich abzeichnende Ausbreitung der Epidemie über weite Teile Italiens. Vgl. hier Kap. 3.3. 156 „Da quali aspetti gli Astrologi hanno osservato essere occorso per gl’Eclissi delli Luminari non solamente terremoti, et inondationi, mà oltre la penuria della fame, la peste ancora, et altri maligni accidenti dell’aria, per le turbationi delle Stelle.“ Ebd., S. 12.
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wurden, ist unklar.¹⁵⁷ Eine Übersicht darüber gibt es nicht.¹⁵⁸ Bereits die erste Pestwelle wurde von Giovanni Villanis Chronik der Stadt Florenz konjunktionistisch erklärt.¹⁵⁹ Das Argument der Konjunktion von Mars und Saturn in den beiden ‚menschlichen Zeichen‘ der Zwillinge und der Jungfrau als mögliche Pestursache ging auf das bekannte Pesttraktat Consilio contro la pestilenza (1481) von Ficino zurück.¹⁶⁰ Ficino schilderte die Entstehung eines dampfartigen Pestgiftes: Dieser giftige Dampf entsteht in der Luft, und zwar bei den allgemeinsten Epidemien durch ungünstige Konstellationen, vor allem durch die Konjunktionen von Mars und Saturn in den menschlichen Zeichen durch die Finsternisse von Sonne und Mond, wie es bei der jetzigen Pest von 1478 und 1479 der Fall war, und er schadet vor allem Menschen und Orten, deren Aszendent durch diese Konstellationen ungünstig bestrahlt wird. Bei den spezielleren Epidemien entsteht das genannte Gift durch üble Winde und Ausdünstungen von Seen, Sümpfen und Erdbeben.¹⁶¹
Mit seiner Theorie der Pestentstehung durch astral erzeugte giftige Dämpfe vertrat Ficino eine selbständige miasmatische Theorie der Ansteckung.¹⁶² Die supralunaren Sterne erzeugten in der sublunaren Sphäre einen Putrefaktionsprozess, der zur Vergiftung der Luft führte. Der Zusammenhang von Sterneneinfluss, Gift und Pest in Ficinos Infektionslehre beruhte auf einer astralen Zeugungslehre, bei der
157 Carmichael erwähnt ein von der medizinischen Fakultät Paris verfasstes Consilium des Jahres 1348, in dem die Konjunktion zwischen Saturn, Jupiter und Mars von 1345 für die Pest des Jahres 1348 verantwortlich gemacht wurde. Bei ihr auch weitere frühe Beispiele. Ann G. Carmichael: Universal and Particular: The Language of Plague, 1348–1500. In: Vivian Nutton (Hg.): Pestilential Complexities: Understanding Medieval Plague. London 2008, S. 17–52, S. 22. 158 Einen Ansatz, der sich bis zum Spätmittelalter erstreckt, liefert Laura Smoller: Of Earthquakes, Hail, Frogs, and Geography. Plague and the Investigations of the Apocalypse in the Later Middle Ages. In: Caroline Walker Bynum, Paul Freedman (Hg.): Last Things: Death and the Apocalypse in the Middle Ages. Philadelphia 2000, S. 156–178. 159 Vgl. Häusler, Weltchronistik, S. 143 und Carmichael, Language of Plague, S. 30–32. 160 Zur Popularität des Traktats Vivian Nutton, Seed among Thorns, S. 219, Fn. 81 und Cohn, Cultures of Plague, S. 33. Gemäß Cohn ist es eines der am häufigsten zitierten Pesttraktate des fünfzehnten Jahrhunderts. 161 „Questo vapore velenoso si concrea nell’aria; nelle pestilentie più generali dalle constellationi maligne, maxime dalle coniunctioni di Marte con Saturno negli segni humani dagli eclipsi de’luminari, come è la presente peste del Mcccclxxviii et del Mcccclxxviiii, et maxime offende gli huomini et luoghi li quali hanno l’ascendente infortunato per decte constellationi; ma nelle pestilentie piu particolari, el sopradecto veleno nascie da venti et da vapori maligni, dalli laghi et pantani et da terremuoti.“ Marsilio Ficino: Contro alla peste il consiglio. Florenz 1523, S. 3r. 162 Nutton, Seeds of Disease, S. 25.
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Planetenkonjunktionen und okkulte Qualitäten giftige Dämpfe generierten.¹⁶³ Die Vereinigung vollzog sich zwischen Lichtstrahlen der beiden Himmelskörper, die im ungünstigen Winkel aufeinandertrafen.¹⁶⁴ Die Entstehung des ansteckenden Pestgiftes, wie es Ficino nannte, war das Resultat des Aufeinandertreffens qualitativ schlechter Lichtstrahlen. Dabei spielte zum einen die ‚Qualität‘ der spezifischen Strahlung der Planeten eine Rolle, zum anderen der Winkel ihres Zusammentreffens: There are also in various stars various forces; and they differ among themselves in just this respect of their rays. Besides, from the impact of the rays falling in one way or another, diverse powers arise.¹⁶⁵
Es stellt sich die Frage, warum bestimmte Winkel in der astrologischen Aspektlehre als positiv, andere als negativ galten. Was hatten Winkel von 60° (Trigon) und 120° (Sextil) eigentlich einem von 90° (Quadrat) oder 180° (Opposition) voraus? Der Zusammenhang zwischen optischen, geometrischen und astrologischen Theorien bedürfte einer eingehenderen Erforschung. Eine optische Zeugungslehre war für Ficino schon deshalb kein Problem, da er sich die Strahlen der Planeten als belebt dachte: “For they are not inanimate like the rays of a lamp, but living and perceiving, since they shine forth through the eyes of a living body.”¹⁶⁶ Die Strahlen waren mit pneumatischen logoi spermatozoi der stoischen Tradition begabt und bewirkten daher eine Infektion über Distanz hinweg. Das Planetenlicht bewirkte Krankheiten durch die Transmission okkulter Qualitäten.¹⁶⁷ Ficinos Ansteckungslehre bildete auch den Ausgangspunkt für das verbreitete Verständnis von Infektionen als Vergiftung, wie es sich in den Pesttraktaten fand. Ficino war nicht der einzige Vertreter optischer Lehren in medizinischem Zusammenhang. Auch der Mediziner Mariano di Ser Jacopo begründete im vierzehnten Jahrhundert die ausschließlich lokale Wirkung von schädlichen Miasmen, die eigentlich nicht nur an einem Ort wirken konnten, durch den Hinweis auf Lichtbündelung. Daher konnte auch ein einzelnes Haus
163 Concetta Pennuto: Simpatia, fantasia e contagio. Il pensiero medico e il pensiero filosofico di Girolamo Fracastoro. Rom 2008, S. 394. 164 Eigentlich war die Konjunktion ein positiver Aspekt, doch da sie zwischen zwei negativ konnotierten Planeten stattfand, galt sie als negativ. Ficino nahm an, dass die Planeten selbst Licht aussendeten. Tatsächlich senden sie Infrarotlicht aus, wie im achtzehnten Jahrhundert entdeckt wurde. 165 Ficino, Three Books on Life, S. 325. 166 Ebd., S. 323. 167 Nutton, Seeds of Disease, S. 25.
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von üblen Miasmen heimgesucht werden.¹⁶⁸ Ficinos optisch-miasmatische Theorie der astralen Zeugung ansteckender Krankheitsgifte war eine Alternative zur vielbeachteten korpuskulären Ansteckungslehre Fracastoros.¹⁶⁹ Ein weiteres astrales Vorzeichen, das neben der Konjunktion auf die Epidemie von 1629–1630 vorauswies, erblickte Tadino in dem weithin sichtbaren Kometen des Jahres 1628: Ein wichtiges und von allen Astrologen bestätigtes Vorzeichen war das zwei Jahre vorher im Jahr 1628 stattfindende Erscheinen des großen Kometen, das von der Konjunktion von Saturn und Jupiter verursacht wurde.¹⁷⁰
Die Konjunktion von Jupiter und Saturn des Jahres 1623 verhieß zusammen mit dem Kometen Unheil für das Jahr 1630: die Konjunktion von Saturn und Jupiter, die uns mit folgenden Worten ankündigte, dass Gott im Jahr 1630 ‚tödliche Epidemien bereitet, man sieht wundersame Dinge‘, und so zur Strafe für unsere Sünden zu diesem Zeitpunkt ihren Höhepunkt erreichen wird.¹⁷¹
Tadino setzte den Kometen des Jahres 1628 in ein kausales Verhältnis zur großen Konjunktion von 1623. Dabei benutzte er dieselbe Argumentation wie Kepler, der die große Konjunktion 1603 als Vorzeichen der Supernova von 1604 deutete.¹⁷²
168 Carmichael, Plague Legislation, S. 509. 169 Pennuto, Fracastoro, S. 381–452. 170 „Grande Presagio, da tutti gl’Astrologi confirmato fù il vedere l’anno prossimo passato 1628 quel grande Cometa causato dalla congiuntione di Saturno, et Giove.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 55 f. 171 „Correva all’hora la congiuntione di Saturno, et Giove, la quale ci avisava con queste parole, che l’anno 1630. Mortales parat morbos miranda videtur; e ciò per castigo de nostri peccati in questo tempo al colmo arrivati.“ Ebd., S. 15. Bei dem Ausspruch „Mortales parat morbos miranda videntur“ handelte es sich um eine Prophetie, die aus dem Almanach Speccio degli almanacchi perfetti stammte, der 1623 in Turin gedruckt wurde. Manzoni, Promessi sposi XXXII, S. 669. 172 Die meisten Astronomen gingen davon aus, dass Kometen große Konjunktionen anzeigten, nicht umgekehrt. Vgl. etwa die Kometenschrift des Mathematikers und Gräzisten Erasmus Schmidt: Prodromus Conjunctionis Magnæ, anno 1623. futuræ. Das ist/ Kurtzes und Einfeltiges/ doch in Gottes Wort und der Astrologischen Kunst gegründets Bedencken von dem grossen Cometstern/ der in abgewichenem 1618. Jahre/ im Novembri sich erst recht sehen lassen/ und der vorstehenden grossen Conjunction, die anno 1623. geschehen wird/gleichsam ein Morgenstern gewesen/ Männiglich zur Nachrichtung/ Trewhertziger warnung/und besserer erkenntnis solches grossen Gotteswunderwercks/ wolmeinend gestellet/und an den tag gegeben. Wittemberg 1619. Kepler ist das einzige Beispiel für die umgekehrte Verweisstruktur von einer großen Konjunktion auf eine Supernova (nicht auf einen Kometen). Vgl. hier Kap. 3.1.8.
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Tadino stellte die astralen Konstellationen als Hinweis Gottes dar, dem die Menschen ihr zukünftiges Schicksal entnehmen konnten. Zugleich waren sie für Tadino auch Vorzeichen im Sinn der medizinischen Semiotik. Sie forderten dazu auf, Vorkehrungen in Form von Pestmaßnahmen gegen die Epidemie zu treffen. Daher kritisierte Tadino die Ignoranz seiner Zeitgenossen gegenüber den Vorzeichen der Pest aus religiösen und medizinischen Gründen. So beklagte Tadino die „Nicht geglaubte Pest in Mailand und die dadurch verursachte Unordnung“ in mehreren Kapitelüberschriften.¹⁷³ Auch schilderte er, wie Settala und er selbst mit Steinen beworfen wurden, weil die beiden Ärzte frühzeitig für die öffentliche Pesterklärung eingetreten waren:¹⁷⁴ eingelullt von dieser Illusion [dass es sich nicht um die Pest handelte], begann das unwissende Volk, diesen Ärzten übel nachzureden und es beschimpfte sie, als sie unglücklicherweise gerade die Brücke passierten, mit bösen und frechen Ausdrücken und wurde so unverschämt, dass es sich nicht nehmen ließ, sie auch mit Steine zu bewerfen.¹⁷⁵
Tadino stellte den religiösen Vorwurf der kollektiven Verblendung in den Dienst der Pestprävention. Doch die Weigerung des einfachen Volkes, den Pestausbruch
173 XIIII. „Nicht geglaubte Pest in Mailand und die dadurch verursachte Unordnung“ („Peste non creduta in Milano, et disordini causati“), S. 73, XX. „Angriffe auf die Ärzte Tadino und Settala und Schäden wegen der nicht geglaubten Pest“ („Insulti fatti contra li Fisici Tadino, et Settali, et danni per la peste non creduta“), S. 83, XXXVIII. „Vermehrung der Pest in Mailand aufgrund der Leugnung der Pest“ („Peste cresciuta in Milano per l’incredulità“), S. 109 und XXI. „Endlich geglaubte Pest in Mailand“ („Peste hormai creduta in Milano“), Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 84. 174 Die Episode wird prominent bei Manzoni geschildert. Bei ihm ist es der gebrechliche Settala allein, der mit Steinen angegriffen wird. Ob Tadino sich selbst in Szene setzen wollte, indem er seine eigene Anwesenheit behauptete oder ob Manzoni Settalas Kollegen aus ästhetischen Gründen fortgelassen hat, kann nicht beantwortet werden. Auch Lampugnano erwähnt nur einen Arzt: „So sah man auch einen der hervorragendsten Ärzte, der sich beständig für die Pesterklärung einsetzte, von dem dreisten einfachen Volk mit Beleidigungen und ähnlichen Unverschämtheiten auf der Straße angegriffen, so dass er sich, da er alt war, verstecken und Schutz suchen musste.“ („Se n’avvide uno de’primieri medici che costantemente seguendo l’affirmativa dall’insolente plebe fù con ingiurie, e con altri sì fatti scherzi, per la strada assalito, et hebbe, che fare, essendo vecchio, a nascondersi, e ripararsi.“) Lampugnano, Pestilenza, S. 25. 175 „la onde la Plebe insupata, et imbibita da questa illusione comminciò sparlare de questi Fisici li quali quando per sciagura transitavano i carobij gli trattavano con male, et dishoneste parole, et à tale petulanza arrivò questa Plebe, che non vi mancò con le pietre restassero percossi.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 83. Carobij waren alte Zugbrücken, die es an manchen Stadttoren gab. Diese Lokalität war fest mit Epidemien assoziiert, da dort während der Epidemie von 1524 große Kreuze aufgestellt wurden. Carmichael, Last Past Plague, S. 150 f., Fn. 44.
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anzuerkennen, hatte nicht nur religiöse und medizinische, sondern auch nachvollziehbare soziale Gründe: Die offizielle Pesterklärung führte in der Regel zum Zusammenbruch der ganzen Warenproduktion und des Handels. Der Verlust des Einkommens bedeutete für viele Arbeiter den sicheren Hungertod,¹⁷⁶ was den meisten schlimmer erschien als der eventuelle Pesttod.¹⁷⁷ Mit Verblendung meinte Tadino also weniger eine religiöse Haltung als eine wirtschaftlich begründete Opposition gegenüber den Pestmaßnahmen.
5.2.5 Vorzeichen der Pest und Pestursachen bei Settala Zur Pathologie der Pest äußerte sich Tadino nicht explizit. Es ist jedoch davon auszugehen, dass er Settalas Thesen über das Wesen der Pest, ihre Ursache, Vorzeichen und Krankheitssymptome teilte, zumal er mehrere der Schriften seines Kollegen ins Italienische übersetzte.¹⁷⁸ Settalas kurze Pestschrift Preservatione dalla Peste (1630), eine Kurzfassung seines lateinischen Pesttraktats, bildete den medizinischen Hintergrund von Tadinos Annahmen über die Pest. Settala unterschied darin zwischen allgemeinen und speziellen Krankheiten. Die speziellen Krankheiten (mali particolari oder dispersi) waren individuelle Erkrankungen, die von der Konstitution des Individuums und seiner Lebensweise abhingen.¹⁷⁹ Die allgemeinen Erkrankungen (mali universali oder communi) manifestierten sich bei vielen Personen gleichzeitig mit mehr oder minder einheitlichen Krankheitserscheinungen. Eine universelle Krankheit bedurfte auch einer universellen Ursache. Settala unterschied zwischen zwei Arten von universellen Ursachen, nämlich endemischen Faktoren wie Luft, Wasser und Lebensmittel, die ortsspezifisch waren und epidemischen Faktoren, die von außerhalb kamen: Andere wiederum, die akzidentiell durch eine neue Ursache entstehen, die nicht einheimisch ist, sondern plötzlich und akzidentiell, gehören zur anderen Gruppe der akzidentiellen Krankheiten, die von den Griechen epidemisch genannt werden.¹⁸⁰
176 Cipolla, Public Health, S. 42. 177 Ebd., S. 43. 178 Vgl. Kap. 5.1, hier S. 278 f. 179 Settala, Preservatione, S. 8 f. 180 „Altri poi, che sono cagionati Accidentalmente da una qualche nuova cagione, e non propria à tal luogo, mà occasionaria, et accidentale fà l’altra sorte de mali Accidentali, che Epidemij, ò Epidemici chiamansi da Greci.“ Settala, Preservatione, S. 9 f. Wen auch immer Settala mit den
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Settala differenzierte weiterhin zwischen endemischen (mali naturali) und epidemischen Krankheiten (mali accidentiali). Zu letzterer zählte er die Pest, die sich gemäß Settala durch die höchste Mortalität auszeichnete.¹⁸¹ Die Pest konnte durch fünf ‚universelle‘ Medien hervorgerufen werden: wir nennen jene Krankheit wirkliche Pest, die universell auftritt und von einer universellen Ursache hervorgerufen wird, wie der Luft, der schlechten Lebensweise, den Lebensmitteln, die notwendigerweise von einem Volk oder einem Land eingeführt wurden, oder von einem von auswärts eingeschleppten Kontagium.¹⁸²
Die Pest konnte entweder durch eine qualitative Veränderung innerhalb dieser Medien entstehen, oder durch einen äußeren Faktor.¹⁸³ Unter den Krankheitszeichen hob Settala den bestialischen Gestank der Pestkranken hervor: „Wenn wir sie genau beobachten, so riechen wir sie in allen Fällen den Gestank der Verwesung ausstrahlen: Ich verzichte darauf, Beispiele und Zeugnisse dafür anzuführen.“¹⁸⁴ Tadino ersparte es dem Leser nicht, sondern schilderte, wie der Präsident des Stadtrats, Giovanni Battista Arconato, „beim Besuch des Lazaretts aufgrund der fauligen Dämpfe, die aus den Körpern und Zimmern [der Insassen] entwichen, in eine erinnerungswürdige Ohnmacht fiel.“¹⁸⁵ Bei dem Gestank der Kranken handelte es sich um ein wohletabliertes, allseits anerkanntes Zeichen der Pest.¹⁸⁶ Für Settala indizierte der bestialische Gestank den Fäulnis- oder Putrefaktionsprozess, den er für das wichtigste Merkmal der Pest hielt:
Griechen meinte, Hippokrates war es nicht, denn der unterschied nicht zwischen endemischen und epidemischen Epidemien. 181 „La Peste è annoverata frà communi con questa aggiunta; Che per lo più uccide.“ Ebd., S. 9. 182 „questo male veramente chiameremo peste, il quale essendo commune dipenda da una cagione commune, come dell’Aere, dalla mala regola, e ragion di Vivere per necessità in qualche popolo, ò paese introdotta, ò dal Contagio altronde trapportato.“ Ebd., S. 10 f. 183 Ebd., S. 10. 184 „Osserviamole, che tutte le sentiremo spirar il puzzo della putredine: Tralascio d’apportar gli essempi, e le testimonianze.“ Ebd., S. 13. 185 „ciò conferma quello avenne al medemo Senatore, et all’hora Presidente Gio[vanni] Battista Arconato, quale nel visitare il Lazaretto, per li vapori fetidi, che essalavano da quelli corpi, et da quelle Camerette, fù da un notabilissimo svenimento assalito.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 11. 186 Das Symptom deckt sich nicht mit dem modernen Krankheitsbild der Pest. Die Quellen seit dem ausgehenden Mittelalter berichten unisono davon. Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 90.
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es gibt niemanden, der nicht davon ausginge, dass von allen Ursachen die Putrefaktion den ersten und zentralen Platz einnimmt, und dass sie immer mit der Pest einhergeht.¹⁸⁷
Nicht nur das pestilentialische, sondern alle Arten von Fieber waren von einem inneren Zersetzungsprozess (putredine) gekennzeichnet: „Immer, wenn von der bösartigen Putrefaktion üble Dämpfe aufsteigen und wenn das Herz von ihnen erwärmt wird, entsteht Fieber.“¹⁸⁸ Settala behauptete jedoch einen qualitativen Unterschied zwischen der Putrefaktion der gewöhnlichen Fieberarten und des pestilentialischen Fiebers.¹⁸⁹ Die intensive Putrefaktion des pestilentialischen Fiebers glich einer Vergiftung: „Dieselbe [Putrefaktion] ist auch von einer solchen Intensität und so bösartig, dass wir sie mit gutem Grund giftig nennen können.“¹⁹⁰ Mit der Identifikation der Infektion mit einer Vergiftung schloss Settala an Ficino an.¹⁹¹ Settala hielt das Fieber für ein entscheidendes Merkmal der Pest, anhand dessen sich Pestbeulen von anderen Arten von Körperschwellungen unterscheiden ließen. Pest und pestilentialisches Fieber wiederum differierten darin, dass Letzteres nur Individuen befiel, da seine Ursache individuell, nicht allgemein war. Bis zu diesem Punkt war Settalas Argumentation miasmatisch. Doch das pestilentialische Fieber unterschied sich zusätzlich dadurch von der Pest, dass es nicht ansteckend war: Aber es gibt folgenden Unterschied zur Pest, denn seine [des Fiebers] Ursache ist privat, das heißt, die schlechte Lebensweise des Kranken, und sie ist nicht allgemein, wie es bei der Pest der Fall ist, und es ist auch nicht so ansteckend durch Krankheitssamen [per fomite] oder so grimmig wie die richtige Pest.¹⁹²
187 „non vi sarà alcuno, che non dica in tutte queste cagioni la putredine il primo, e principal luogo havervi, et esser sempre con la pestilenza congiunta.“ Settala, Preservatione, S. 13 f. 188 „Ogni volta, che da maligna putredine ascendono vapori maligni, e da questi ne viene il cuor riscaldato, fassi la febre.“ Ebd., S. 15. 189 „Ma le febri pestilenti sono dall’altre differentiate per un’intenso grado de putredine.“ Ebd., S. 13 f. 190 „La quale [putredine] anco è di tanto grado, e tanto maligna, che con giusta ragione venenosa la potiamo chiamare.“ Ebd., S. 14. 191 Die These eines inneren Vergiftungsprozesses ist vom Standpunkt der modernen Medizin aus nicht abwegig. Die Stoffwechselprodukte des Pestbazillus Yersinia pestis bewirken tatsächlich eine Vergiftung, die mit psychischen und neurologischen Ausfallerscheinungen einhergeht. Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 73. 192 „Mà hà questo di differente dalla peste, perche la di lei cagione è privata, cioè la mala ragione del vivere dell’infermo, e non è comune, come nella peste, adiviene, ne anco è così contagiosa per fomite ne di tanta acerbità, come la vera peste.“ Settala, Preservatione, S. 16.
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Das Kontagium fungierte somit als Substanz, die ausschließlich für ein Merkmal der Pest zuständig war, nämlich die Ansteckung: Dass jede Pest etwas Kontagiöses an sich hat, zeigt sich daran, dass sie aus einer zu starken Putrefaktion entsteht, was dazu führt, dass sie sich ganz leicht anheftet, entweder unmittelbar nur durch den direkten Kontakt, oder mittels des Krankheitssamens [per mezzo del fomite] oder durch die Berührung durch die Luft, je nachdem, wo die genannte Putrefaktion stärker oder geringer ist.¹⁹³
Das Kontagium konnte einerseits miasmatisch aus einer starken Putrefaktion entstehen, die einer Vergiftung glich. Andererseits konnte das Kontagium auch einen Putrefaktionsprozess initiieren.¹⁹⁴ Die Luft konnte durch eine Änderung ihrer Qualität putrifiziert werden oder durch Exhalationen der Erde oder andere Ausdünstungen wie etwa die von zahlreichen Kadavern, seien es menschliche oder die anderer Lebewesen, die nach einer massenhaften Tötung unbestattet auf der Erde liegen geblieben sind, durch den Gestank der Kloaken, [...] den Unrat eines Heers oder einer Stadt, [...] den Dämpfen von sumpfigen Gebieten, [...] der Luft von Brunnen und anderen Örtlichkeiten, die lange Zeit verschlossen waren, wie auch den Wohnungen der Pestkranken, wenn sie nicht gelüftet wurden.¹⁹⁵
Bei den luftinternen Qualitätsänderungen erwog Settala meteorologische Phänomene wie extreme Hitze oder Feuchtigkeit und ein Zuviel oder Zuwenig an Luftbewegung. Auch astrale Faktoren wie der Einfluss des Lichts und die Bewegung der
193 „Che ogni peste habbi del contagioso si prova, perche essendo lei fatta da una troppo gran putredine, ne viene in conseguenza, che facilmente s’attacchi, ò per il solo tocco immediatamente, ò per mezzo del fomite, ò tocco, per mezzo dell’aere, secondo che è più, ò meno fiera, ò rimessa la detta putredine, nella quale è fondata.“ Ebd., S. 16. 194 Die Identifikation von Kontagium und Putrefaktion zeigt Settalas Rezeption der Ansteckungslehre Fracastoros an, der die Kontagion im ersten Buch von De contagione et contagiosis morbis et eorum curatione als eine Form der Putrefaktion beschrieben hat. Vgl. Nutton, Seed among Thorns, S. 201. Fracastoro war nicht die Quelle für Settalas Gleichsetzung der Putrefaktion mit einer Vergiftung. Diese stammte von Ficino. Fracastoro unterschied zwischen Infektion und Gift, da letzteres nicht kontagiös war. 195 Settala, Preservatione, S. 19 f. Das war eine bunte Mischung von traditionellen miasmatischen Argumenten, die auch Hippokrates in Über Lüfte, Gewässer und Örtlichkeiten nannte. Settalas erste Veröffentlichung war ein Kommentar dieser Hippokrates-Schrift: In librum Hippocratis Coi de aeribus, aquis et locis commentarii V (1590). Auch die anderen Argumente wurden in Pesttraktaten oft genannt. Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 72.
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Planeten auf die vitalen Vorgänge kamen ins Spiel.¹⁹⁶ Weiterhin nannte Settala die konjunktionistische Argumentation Matteo Villanis als Quelle für die These, dass Konjunktionen der äußeren Planeten, Mars, Jupiter und Saturn in den ‚menschlichen Zeichen‘ (Zwillinge und Jungfrau) die Pest verursachten.¹⁹⁷ Neben diesen kamen als Medium der Entstehung und Übertragung der Pest auch Lebensmittel in Frage, die von weiten Teilen der Bevölkerung konsumiert wurden: es können auch Nahrungsmittel und Getränke sein, aber sie dürfen nicht nur eine leichte Veränderung ihres natürlichen Zustands erfahren, sondern eine starke, und auch das genügt nicht, sie müssen weiterhin über einen gewissen Zeitraum von einer Vielzahl von Einwohnern konsumiert werden.¹⁹⁸
Settala argumentierte nicht traditionell, dass Pest und Hungersnöte gleichzeitig,¹⁹⁹ sondern dass sie zeitlich versetzt auftraten, womit er weniger eine verzögerte Wirkung behauptete als vielmehr, dass die Pest in Zeiten des Lebensmittelüberflusses ausbrach, die auf Hungersnöte folgten: viele geben meist der Hungersnot die Schuld an der Pest, obwohl die Pest nicht immer im selben Jahr beginnt oder wütet, sondern erst im folgenden Jahr, vor allem dann, wenn nach einer großen Hungersnot ein großer Überfluss herrscht.²⁰⁰
196 Vgl. das Kapitel An ab astris petenda sit aliquando pestis aliqua causa in De peste, S. 74–77, hier S. 74. 197 Giovanni Villani machte in den Storie keine Konjunktion, sondern einen Kometen in den ‚menschlichen‘ Zeichen für die florentinische Epidemie von 1340 verantwortlich: „Nel detto anno 1340 all’uscita di Marzo apparve in aria una stella Cometa in verso Levante, nel fine del segno di Vergine, e cominciamento della Libra, i quali sono segni humani, e mostrano i beni sopra i corpi humani di grande distruzione e morte.“ Villani, Storie CXIII, S. 839. Matteo Villani, der die Chronik seines Bruders nach dessen Pesttod fortführte, verwendete überhaupt keine astrologischen Argumente. Die These der pestanzeigenden Qualität von Konjunktionen in den ‚menschlichen‘ Zeichen stammt aus Ficinos Consiglio contro la pestilenza. Vielleicht handelt es sich um eine Verwechslung. Allerdings erwähnte Settala an dieser Stelle auch Giordano Bruno nicht namentlich, dessen These der Pluralität der Welten er in diesem Zusammenhang zustimmend referierte. Vielleicht vermied er die Namensnennung aus Vorsicht. Vgl. Settala, De Peste, S. 74 f. 198 „la potranno anco essere i cibi, e le bevande; mà non dovranno questi haver una sola leggiera alteratione dello stato suo naturale; ma una notabil mutatione; ne questo anco basta, bisognando anche, che per qualche tempo da molti dell’istesso luogo siano usati.“ Settala, Preservatione, S. 20. Aus moderner Perspektive enthält diese These den wahren Kern, dass das Pestbakterium auf Lebensmitteln wie Getreidekörnern, Kartoffeln, Obst und Schwarzbrot wochenlang infektiös bleibt. Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 72. 199 Vgl. die Beispiele bei Cohn, Cultures of Plague, S. 211–215. 200 „molti diano spesse volte la colpa della peste alla carestia; benche non sempre poi la peste cominci, e duri quell’anno stesso, mà il seguente; e principalmente se dopò una gran penuria ne viene una grande abondanza d’ogni cosa.“ Settala, Preservatione, S. 20.
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In diesem Fall vollzog sich die Pestentstehung durch die Zersetzung der Körpersäfte durch die schädlichen Lebensmittel. Die wichtigste Pestursache war für Settala jedoch das Kontagium: „Die dritte und auch die häufigste Ursache, wenngleich sie von den antiken Autoren nicht genannt wird, ist das Kontagium.“²⁰¹ Als ‚Substanz‘ der Ansteckung bewirkte es die direkte Transmission der Krankheit von Mensch zu Mensch sowie die indirekte Übertragung via Handelsgüter wie Textilien: „Es ist eine häufige Erfahrung, dass [...] die Pest [...] nur über Menschen oder über infizierte Waren eingeschleppt wird.“²⁰² Die Möglichkeit der indirekten Übertragung begründete Settala mit der Transmission durch fomites oder Krankheitsstoffe. Dabei verwies er auf „besonders jene Art der Pest, die sich durch einen infizierten Krankheitsstoff von sehr giftiger Qualität ausbreitet und überträgt.“²⁰³ Der Gebrauch des Begriffes fomes oder fomites im Sinne eines infektiösen und materiellen Agenten der Krankheitsübertragung rekurrierte auf die Ansteckungslehre Fracastoros, die dieser als Teil einer umfassenden Lehre von Sympathie und Antipathie formuliert hatte.²⁰⁴ Fracastoros Theorie der Ansteckung entstand nicht zuletzt unter dem Eindruck der Pestepidemie von 1534–1535. Fracastoro unterschied im ersten Buch von De contagione zwischen drei Möglichkeiten der Ansteckung: durch direkten Kontakt, durch indirekten Kontakt per fomites und über Distanz hinweg.²⁰⁵ Alle drei Arten der Ansteckung bedurften eines materiellen Trägers, der semina oder seminaria, die materiell unterschiedlich beschaffen waren und umso größer, je größere Distanzen sie zu überwinden hatten.²⁰⁶ Die indirekte Übertragung vollzog sich durch fomites oder seminaria contagionis (Keimchen, Sämchen). Diese Agenten der Ansteckung konnten auf selbst nicht ansteckende Medien wie Kleidung oder Holz übertragen werden.²⁰⁷ Diese Form der Ansteckung war der originellste Teil von Fracastoros Ansteckungslehre.
201 „La terza cagione; et anco la più frequente, benche da gli antichi non osservata e’l contagio.“ Ebd., S. 21. 202 „Sperimentandosi spessissime volte avvenire [...] la peste [...] solamente portata ò da gli huomini, ò dalle mercatantie infette introdotta.“ Ebd., S. 21. 203 „[la] peste, et in particolare [...] quella, che per fomite infetto da così velenosa qualità và vagando, e communicandosi.“ Ebd., S. 31. 204 Das aus drei Büchern bestehende Traktat De contagione et contagiosis morbis et eorum curatione entstand nach 1534 und bildete den ersten Teil von De sympathia et antipathia rerum (1546). Vgl. Nutton, Seed among Thorns, S. 199. 205 Ebd., S. 200. 206 Nutton, Seeds of Disease, S. 22. 207 Nutton, Seed among Thorns, S. 200.
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Settalas Verwendung des Begriffs fomes als terminus technicus indiziert bereits seine Kenntnis von Fracastoros Ansteckungslehre.²⁰⁸ Auch die Frage, ob eine Krankheit übertragen wurde, entschied sich für Settala wie für Fracastoro je nach dem Grad der Ähnlichkeit zwischen Infiziertem, bzw. dem Krankheitssamen und dem Neuinfizierten: Ansteckung ist nichts anderes als die Weitergabe oder die Übertragung der Zersetzung [corrottione], die von einem Körper auf den anderen durch eine gewisse Ähnlichkeit, die zwischen ihnen existiert, übergeht.²⁰⁹
Nur Gleiches konnte von Gleichem angesteckt werden, und es musste zugleich etwas Zersetzendes sein.²¹⁰ Settala unterschied weiterhin zwischen Form und Substanz der Krankheitssamen. Das erhellt, was Tadino mit dem contagio formale meinte.²¹¹ Nicht jeder Körper war in der Lage, die Form des Krankheitssamens aufzunehmen, was zu einer latenten Erkrankung führen konnte: wenn ein Körper nicht fähig ist, die Form der Krankheit aufzunehmen, ruht sie in ihm wie in ihrem Bett oder Nest, und wenn jener Körper von einem anderen Körper berührt wird, der fähig ist, diese Disposition aufzunehmen, erzeugt sie in ihm wieder denselben Effekt.²¹²
Dabei spielte die Humoralpathologie eine Rolle. Große Krankheitssamen wie jene der Syphilis hatten Schwierigkeiten, die engen Venen und Arterien der Melancholiker zu passieren: Und so kann es vorkommen, wenn jemand ein kaltes Temperament besitzt und alle Körperbahnen und Venen so eng sind, dass der schädliche Dampf nicht so leicht über die Arterien zum Herz gelangt, und das passiert vor allem dann, wenn die Krankheitssamen grob und elastisch sind, wie man es bei der Syphilis beobachten kann.²¹³
208 Settala kann Fracastoros Theorien auch indirekt durch andere medizinische Autoren, die Fracastoros Ansteckungslehre aufnahmen, rezipiert haben. Die Kombination der Konzeptionen Ficinos und Fracastoros fand sich häufiger in gelehrten Traktaten des sechzehnten Jahrhunderts. 209 „Il contagio, altro non è, che un’accommunamento, ò trapasso di corrottione, che fassi da un corpo all’altro per qualche similitudine, che frà loro si ritrovi.“ Settala, Preservatione, S. 21 f. 210 Nutton, Seed among Thorns, S. 200. 211 Vgl. hier Kap. 5.2.3. 212 „quando s’avviene in un corpo, non atto à ricever la forma di quel male, ne resta in lui quasi in suo letto, e nido; il quale poscia toccato da qualche corpo, che quella tal dispositione ricever possa, ne produce un’altro simile effetto.“ Settala, Preservatione, S. 22. 213 „E ciò può avvenire, se questo tale è di temperamento freddo, et habbi tutte le vie del corpo, et le vene sì anguste, che per l’arterie non possa sì facilmente trapassare il vapor maligno al
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Die Erwähnung der Syphilis verwies erneut auf Fracastoro, den Autor des bekannten Syphilisgedichts Syphilis sive morbus gallicus (1530), ebenso wie die These der verschiedenen Arten von Krankheitssamen.²¹⁴ Auch Fracastoro nahm an, dass manche humoralpathologische Konstitutionen bestimmten Krankheiten leichter zugänglich waren als andere. So sprach er dem einfachen Volk ein durch die Lebensweise erworbenes trockenes Temperament zu, das es weniger anfällig für die Pest mache.²¹⁵ Settala schloss sich dieser These an, indem er die warme und feuchte Konstitution, also die sanguinische und phlegmatische, über die Arme selten verfügten, als die pestanfälligste bezeichnete. Diese These stand in krassem Gegensatz zur allgemeinen Wahrnehmung, dass Arme und sozial Schwache der Pest besonders häufig zum Opfer fielen. So waren während der kleinen Epidemie in Florenz von 1449 60 Prozent aller Todesfälle in einem einzigen stark bevölkerten Arbeiterviertel zu verorten.²¹⁶ In anderen Epidemien sah es nicht grundsätzlich anders aus. Das hatte auch damit zu tun, dass die ärmere Bevölkerung weder die finanziellen Ressourcen zum Rückzug auf die Landgüter besaß noch zur Praktizierung der privaten Quarantäne. Obwohl die kontagionistische Theorie der Ansteckung also wenig Anhalt dafür bot,²¹⁷ richteten sich Pestmaßnahmen verstärkt gegen soziale Randgruppen wie Arme, Bettler und Prostituierte und mündeten entweder in deren zwangsweisen Ausschluss aus der Stadt oder ihrem zwangsweisen Einschluss im Gefängnis oder Lazarett.²¹⁸ Hinter der Segregation von Armen und Bettlern stand das Problem,
cuore; e ciò anco principalmente avverrà, se i semi del male saranno grossi, è viscosi: il che anco vediamo occorrere nel mal Francese.“ Ebd., S. 22 f. 214 Nutton, Seed among Thorns, S. 201. 215 Girolamo Fracastoro: De Contagione et Contagionis Morbis et Eorum Curatione Libri III. Hg. und übers. von W.C. Wright. New York 1930, S 109–111. 216 Die Existenz von Arbeiterghettos mit Tagelöhnern der Woll- und Seidenherstellung wird nicht von allen Historikern akzeptiert, aber von Carmichael und Cohn vertreten. Carmichael, Plague Legislation, S. 516 f.; Samuel Kline Cohn: The Laboring Classes in Renaissance Florence. New York 1980, S. 74 f. 217 Daraus folgert Carmichael, dass die medizinischen Konzeptionen keine Rolle für die Stigmatisierung von Armen als besondere Risikogruppe bei der Übertragung der Pest gespielt hätten, sondern ausschließlich soziale. Carmichael, Plague Legislation, S. 525. Wenngleich die Humoralpathologie keinen Anlass dafür gab, tat es doch die Diätetik. Sowohl Tadino als auch Settala betrachteten die schlechte Lebensweise der Armen („la mala regola di vivere“) als Pestursache. Vgl. Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 11, 13, 83, Settala, Preservatione, S. 10. 218 Vertreibungen von fremden Bettlern in Siena (1485), Perugia (1486), in Parma von allen vorhandenen Bettlern (1496), Einreiseverbote in den genannten Städten sowie in Ferrara, Mailand und Venedig. Eingesperrt wurden sie in Brescia (1477). Carmichael, Plague Legislation, S. 523.
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dass sich diese Bevölkerungsgruppe so stark vermehrte, dass die traditionelle Armenfürsorge durch kirchliche Institutionen und die Wohltätigkeit der Wohlhabenden angesichts der Menge der Betroffenen wirkungslos blieb. Die humorale Konstitution der Individuen konnte sich gemäß Settala durch miasmatische Einflüsse wie die Jahreszeiten und warme und feuchte Winde zugunsten einer warmen und feuchten und somit pestanfälligen Konstitution verändern.²¹⁹ Besonders das Frühjahr und der Herbst konnten der Konstitution einen warmen und feuchten Charakter verleihen. Auch wegen ihrer spezifischen Inkonstanz erschienen Settala Frühjahr und Herbst als besonders prädestiniert für den Beginn von Pestepidemien. Der Winter verzögerte den Ausbruch einer Epidemie, der Beginn der warmen Jahreszeit beförderte ihn.²²⁰ Dabei handelte es sich um einen Erfahrungswert, den Settala mit klimatischen Erwägungen unterfütterte. Tatsächlich kamen im Herbst einsetzende Epidemien stets erst im darauffolgenden Frühjahr zum Ausbruch. So warnte auch Settala den Tribunale di Sanità bereits im Herbst 1629 vor dem bevorstehenden Ausbruch der Pest im Frühjahr 1630, allerdings vergeblich.²²¹
5.3 Die Praxis der Pestdiagnose und Beginn der Epidemie in der Stadt Mailand 5.3.1 Die frühneuzeitliche Praxis der Pestdiagnose Mit den ersten fünf Pestfällen in Mailand im Herbst 1629 setzte eine neue Phase der Epidemie ein, die den Beginn der Seuche in der Stadt Mailand markierte. Während sich die Pest in der ersten Phase nur miasmatisch ausbreitete, wurde sie in der zweiten Phase durch das Hinzukommen des Kontagiums zugleich auch ansteckend. Daher waren die ersten städtischen Pestfälle für Tadino nicht nur ein Zeichen der Präsenz der Pest, sondern auch ein Hinweis auf ihren ansteckenden Charakter. Während der Phase des sporadischen Auftretens von Krankheitsfällen im Herzogtum Mailand begnügte sich Tadino mit Hinweisen auf den mutmaßlichen Kontakt der ersten Pestinfizierten zu Angehörigen der transitierenden
219 Settala, Preservatione, S. 24. 220 „perche dopò l’Autunno viene il Verno, che raffrena, e mitiga questo male; ma dopo’l verno se ne viene la Primavera, e la State stagioni atte più presto à dar luogo, e fomentar il male, che à spegnerlo.“ Ebd., S. 24. 221 Gemäß Tadino warnte Settala bereits auf der Sitzung des Gesundheitsmagistrats am 20.10.1629 vor dem bevorstehenden Pestausbruch. Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 25.
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Armee. Dieser erfolgte durch direkten Kontakt oder vermittelt durch Textilien. Für den genauen Weg der Ansteckung interessierte sich Tadino nicht besonders. Erst mit dem Eintritt der Epidemie in die Stadt Mailand begann Tadino, minutiös zu rekonstruieren, wie es von der Ansteckung der einen Person zur anderen kam. Er schilderte den Zusammenhang zwischen den räumlich und zeitlich verstreuten Fällen möglichst lückenlos und entwarf ein Narrativ des Übertragungswegs von Person zu Person. Erst jetzt war das Kontagium nicht nur präsent, sondern auch ansteckend geworden. Zur Rekonstruktion der Infektionskette bedurfte es zunächst einer Pestdiagnose. Während die moderne Medizin unter Diagnose vor allem die Bestimmung des nosologischen Krankheitsbildes versteht, die der Therapie chronologisch vorangeht, nahm die frühneuzeitliche gelehrte Medizin theoretisch gar nicht die Existenz fixer Krankheitseinheiten mit einem klinisch beobachtbaren Ensemble von Symptomen an.²²² Wie die Prognose war auch die Diagnose eine semiotische Praxis, die auf Hippokrates zurückging und aus der Beobachtung der Krankheitszeichen und dem Verlauf der Krankheit auf die Krankheitsursache schloss.²²³ Die Krankheitsursache war nur durch Zeichen und Symptome entschlüsselbar.²²⁴ Krankheiten wiesen in der Regel nicht nur eines, sondern mehrere Symptome auf. Nur, wenn sie miteinander übereinstimmten, konnte man davon ausgehen, dass es sich um eine bestimmte Krankheit handelte.²²⁵ Die frühneuzeitliche Diagnose war in erster Linie ein ‚Durchschauen‘ der Symptome und Zeichen.²²⁶ Dazu musste man sie zunächst einmal erheben. Dafür gab es drei mögliche Informationsquellen: die Patienten selbst, die sie pflegenden Personen und der Arzt. Während Patient und Betreuer jene Zeichen schildern konnten, die im Verlauf der Krankheit auftraten, war der Körper des Kranken der Ort, an dem sich Krankheitszeichen und Symptome aktuell manifestierten. Der Arzt war die Instanz, die aus dem anamnestischen Narrativ und den körperlichen Symptomen des Patienten aufgrund seines Wissens die Krankheitsursache herauszulesen vermochte. Das Ergebnis dieses elaborierten semiotischen Verfahrens bestand schließlich in der Diagnose.²²⁷ Die Pestdiagnose war ein Spezialfall der Diagnose, da sie gravierende soziale Konsequenzen für die Betroffenen hatte. Sie wurden samt allen Mitgliedern des
222 Hess, Entstehung der klinischen Methode, S. 14. 223 Ebd., S. 10. 224 Maclean, Logic, Signs and Nature, S. 282. 225 Ebd., S. 297. 226 Carmichael, Contagion Theory, S. 213. Das Spektrum der Bedeutung des Begriffs ‚Diagnose‘ umfasst ‚genau erkennen‘, ‚unterscheiden‘ und ‚sich entschließen‘. Hess, Entstehung der klinischen Methode, S. 13, Fn. 20. 227 Maclean, Logic, Signs and Nature, S. 293–306.
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Haushalts in Quarantäne gelegt, was vor allem, wenn die Quarantäne im Lazarett durchgeführt wurde, die große Wahrscheinlichkeit des Todes mit sich brachte. Darüber hinaus war die Pestdiagnose ein narratives Verfahren, das sich nicht nur auf medizinische und soziale, sondern auch auf erzählerische Elemente stützte.²²⁸ Damit soll weniger die allgemeine soziale Konstruktion von Krankheit herausgestellt werden als vielmehr aufgezeigt, dass die narrative Rekonstruktion des Infektionswegs ein zentrales Verfahren für die Identifikation von Pestfällen darstellte. Die Identifikation der Pest war in medizinischer Hinsicht nicht einfach. So seien ihre Erscheinungsformen ebenso wandelbar wie die des Protheus, je nach Konstitution des Patienten und der genauen Art der Pest.²²⁹ Als sicherstes Zeichen bewertete Settala das Auftreten von Pestbeulen oder anderen schwarzen Flecken und Geschwüren zusammen mit Fieber und einem schnellen, lethalen Krankheitsverlauf.²³⁰ Diese eindeutigen Zeichen traten jedoch nicht immer auf.²³¹ Daher beschrieb Settala noch mehrere weitere Symptome wie die gefühlte hohe Temperatur: auch wenn es nicht selten bei der Pest vorkommt, dass der Körper von außen gefühlt nicht sehr heiß scheint, aber auf jeden Fall glühen die armen Kranken von innen, so dass sie keinerlei Decke oder Laken ertragen können, die sie bedecken.²³²
Diese Beobachtung klang zwar realistisch, war jedoch ein Topos, der sich schon im Peloponnesischen Krieg des Thukydides fand.²³³ Auch Rastlosigkeit, starker Bewegungsdrang, Schwere der Glieder, extreme Lichtempfindlichkeit, Appetitlosigkeit, trockener Husten, unsichere, raue Sprechweise, Angstzustände, großen Durst und Schlaflosigkeit oder ein extremes Schlafbedürfnis hielt Settala für charakteristische Merkmale der Pest, begleitet von einer starken Schwächung der Lebenskraft.²³⁴
228 Carmichael, Contagion Theory, S. 214. 229 Settala, Preservatione, S. 25. 230 Ebd., S. 29 f. 231 Ebd., S. 27 f. 232 „[il] calore, perciò non rare volte avviene nella peste, che il corpo al toccarlo di fuori non sembra molto caldo; ma tuttavia i poveri infermi dentro ardono tutti, di modo che non ponno sopportar niuna coperta, ò lenzuolo, che gli copra.“ Ebd., S. 26. 233 „Wenn man von außen anfasste, war die Haut gar nicht besonders heiß [...]. Innen aber war die Fieberhitze so stark, dass man nicht einmal die Berührung ganz zarter Gewebe oder des feinsten Musselins ertrug und es überhaupt nur nackt aushielt.“ Thukydides, Der Peloponnesische Krieg II, 49, S. 147. 234 „Das zweite ist das Erleiden einer Schwächung aller Kräfte, sogar ein Verlust aller Kräfte, vor allem der Lebenskraft [virtù vitale], die dann denjenigen der anderen [Kräfte] nach sich
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Die wichtigsten Mittel der frühneuzeitlichen Diagnose waren die Pulsmessung und die Harnschau.²³⁵ Diesen Instrumenten gab Settala wenig Kredit. So unterscheide sich das Urin der Pestkranken von dem der Gesunden kaum und gliche mitunter jenem der Pferde.²³⁶ Auch der Puls der Pestkranken bleibe trotz der Angstzustände, des Durstes und der Schlaflosigkeit oftmals nahezu unverändert.²³⁷ Dabei handelte es sich sehr wahrscheinlich um Erfahrungswerte, die Settala mit den traditionellen medizinischen Lehren in Einklang zu bringen versuchte.²³⁸
5.3.2 Die Pestdiagnose während der Epidemie von 1629–1630 Zu Beginn der Epidemie erhielten die Ärzte des Tribunale di Sanità Meldung von Krankheits- oder Verdachtsfällen durch wichtige Repräsentanten wie Kommunalpolitiker oder Geistliche aus den pestverdächtigen Orten im Herzogtum Mailand. Im Fall der Ortschaft Galbiate bildete der Augenzeugenbericht des Bürgermeisters die Basis für den Pestverdacht. Daraufhin kamen Delegierte, zumeist die Ärzte des Tribunale di Sanità, und überprüften vor Ort die erhaltenen ‚anamnestischen‘ Hinweise. Meist bestätigte sich der Verdacht, da es wegen der Handelsverbote, die mit der offiziellen Pesterklärung einhergingen, niemand eilig hatte mit der Meldung. Die Delegierten ordneten lokale Pestmaßnahmen an wie die Isolation der Kranken und der pestverdächtigen Waren. Diese mussten anschließend systematisch gereinigt werden entweder in Form der Durchlüftung, Räucherung mit aromatischen Stoffen oder durch Waschen. Darüber hinaus wollten nicht nur die Kranken versorgt, sondern auch die Leichen entsorgt werden, wozu es Pferde,
zieht.“ („Il secondo è una subita debolezza di tutte le forze; anzi un perdimento d’ogni virtù; e principalmente della vitale, la quale poscia tirar l’altre in conseguenza.“ „Molti anco hanno questo, che non ponno sopportar, ne veder l’aere chiaro, e splendido; hanno dolori ne’luoghi dove vuol venir il tumore pestilentiale. L’appetito totalmente perso, sete inesausta, vomiti varij, e mali, tosse secca, titubamente nel parlare, raucità di voce.“ Settala, Preservatione, S. 26 f. Sehr wahrscheinlich waren das keine Beobachtungswerte, sondern stammten aus der Pestliteratur. 235 Maclean, Logic, Signs and Nature, S. 284. 236 „se bene anco tal’hora avviene, che ella è simile à quella de’sani.“ Settala, Preservatione, S. 27. 237 „patiscono angoscie, fastidi, sono assetati, e senza verun sonno: e tuttavia il polso non pare troppo alterato.“ Ebd., S. 26. 238 Ebd., S. 26 f. Settala versuchte auch in anderen Fällen, seine medizinische Erfahrung mit der medizinischen Tradition in Einklang zu bringen, z. B. seine Beobachtung der hohen Lethalität der Pest, die in Gegensatz zur Behauptung von Hippokrates und Galen stand, dass die Kranken mehrheitlich wieder genäsen. Ebd., S. 12 f.
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Wagen und Totengräber bedurfte. Zusätzlich wurde der ganze Ort, bzw. der Ortsteil durch die Aufstellung von Wachposten an Straßen und in Gebirgsregionen an Pässen isoliert, welche die Ein- und Ausreise kontrollierten. Im November 1629 wurden Gesundheitspässe (bollette) eingeführt, die den Bürgern der infizierten Gebiete die Einreise nach Mailand verboten.²³⁹ Zur Durchführung dieser Maßnahmen wurde vor Ort ein Kommissär ernannt. Für die medizinischen Maßnahmen sowie zur Reinigung der infizierten Gebäude wurden Barbiere und Totengräber abgeordnet,²⁴⁰ was nicht immer leicht war. So verpflichtete man in der venezianischen Pest von 1575–1577 zwangsweise Vagabunden und Gefängnisinsassen zur Arbeit als picegamorti.²⁴¹ Die Pestepidemien forderten einen erheblichen personellen und finanziellen Tribut der Stadtstaaten.²⁴² Tadino schildete den Prozess der Pestdiagnose und Pesterklärung ausführlich in seinem Bericht über Pestfälle in Chiuso. Chiuso war die kleine Ortschaft, die durch die Quartiernahme des deutschen Militärs in hygienische Bedrängnis geraten war. Vor Tadinos Ankunft waren bereits 27 Personen unter Pestverdacht gestorben. Tadino betrachtete das Vorliegen von äußerlichen Symptomen wie Exantheme als wichtigsten Indikator. Diese fanden sich an den Kranken in Chiuso zahlreich: sie waren alle an verschiedenen Körperteilen von Pestgeschwüren befallen. Diese waren am Rand schwarz und am höchsten Punkt der Schwellung rund und entzündet. Bei den Frauen sah man sie oft am Hals und auf der Brust, bei anderen sah man schwarze Flecken auf den Füßen, Beinen und dem ganzen Leib, andere wiederum hatten geschwollene Lymphknoten hinter den Ohren.²⁴³
Ein weiteres wichtiges Symptom war gemäß Tadino die eigenartige Gesichtsfarbe der Kranken, die zwischen schwärzlich und blass changierte und sowohl an Äthiopier²⁴⁴ wie auch an lebendig Begrabene gemahnte.²⁴⁵ Wie Settala betrachtete Tadino den schnellen, lethalen Krankheitsverlauf als ein wichtiges Kennzeichen der Pest. Auch spekulierte er, dass der Pesttod die Kranken bevorzugt an
239 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 27. 240 Ebd., S. 25. 241 In lombardischer Terminologie hießen sie beccamorti oder monatti. 242 Carmichael, Plague Legislation, S. 511. 243 „si trovavano tutti contaminati da questi accidenti pestilenti in diverse parti del corpo nella circonferenza negri, nella sommità ignei relevati rotondi, et alle donne in particolare vedevansi nel collo, et nel petto; à chi pustule negri nelle piedi, nelle gambe, nel corpo; à chi le parotide elevate dopo l’orecchie.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 33. 244 „alcuni di loro s’assomigliavano alli Ethiopi.“ Ebd., S. 33. 245 „la faccia livida cinerosa, come se fossi stati sepolti.“ Ebd., S. 33.
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Abb. 8: Die Therapie des Pestkranken, Venedig 1495
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den kritischen Tagen ereilte: „diese Symptome überlebten die armen Kreaturen kaum vier Tage lang, und höchstens sieben.“²⁴⁶ Auch der Pesttod vollzog sich also nach Maßgabe des narrativen Modells der Lehre von den kritischen Tagen. Tadino beschrieb seine Diagnosen als Ergebnis eigenhändiger ärztlicher Untersuchungen der Kranken. So berichtete er, wie ihm die Kranken bei seiner Visite teils in ihren Betten, und mangels Betten teils auf Türen präsentiert wurden.²⁴⁷ In einem anderen Fall schilderte Tadino, dass er zusammen mit Settala einen Gastwirt zwang, sich auszuziehen, wodurch eine Pestbeule an der Leiste sogleich sichtbar wurde.²⁴⁸ Das entscheidende Kriterium für die Pestdiagnose der 27 Toten in Chiuso waren jedoch nicht nur die körperlichen Merkmale, sondern die Idee, dass sich die Ansteckung von Mensch zu Mensch vollzogen hatte: da 27 Personen mit Pestbeulen, Beulengeschwüren und Furunkel an verschiedenen Körperteilen gestorben sind, und da die Krankheit von Familie zu Familie übertragen wurde und der größte Teil derer, die mit ihnen zu tun hatten, die für sie gearbeitet haben oder mit ihnen Kontakt hatten, gestorben ist, ist zu schließen, dass diese ansteckende Krankheit die wirkliche und reale Pest ist.²⁴⁹
Diese Information war jedoch nicht den Leichen, sondern nur dem Krankheitsnarrativ zu entnehmen. Diese Berichte über die Kranken entschieden die Diagnose: „es gab keinen Zweifel, dass diese ansteckende Krankheit wirklich die Beulenpest war, wie die Autoren darüber schreiben, da sie sich von Mensch zu Mensch überträgt.“²⁵⁰ Aus Tadinos Darstellung ging hervor, dass die drei Mediziner des Tribunale di Sanità die Kranken und die Toten regelmäßig selbst untersuchten. Das war
246 „à quali mali le misere creature non sopravivevono quattro giorni, et al più sette.“ Ebd., S. 25. 247 „volendo visitare tutti gl’infermi, parte nelli letti, parte sopra le porte.“ Ebd., S. 32. 248 „andorno donque di compagnia à visitare questo Hoste infermo, et fatte le debite diligenze, lo vollero vedere nudo, et avvicinatosi ambi duoi più un bubone eminente nell’inguine destro, perilche conclusero assolutamente essere peste.“ Ebd., S. 54. 249 „Si deve concludere fin all’hora, essendo morte 27 persone con questi buboni, carboni, et furoncoli in diverse parti del corpo, et passata questa infermità di famiglia in famiglia, che habbia pratticato, servito, et comerciato, et la maggior parte morire, essere questa infermità contagiosa vera, et reale Peste.“ Ebd., S. 32. Die verschiedenen Arten von Exanthemen werden folgendermaßen übersetzt: bubone = Pestbeule, corbone/carbone/antrace = Pestgeschwür, furoncolo = Furunkel. Der Terminus Karbunkel (für Furunkel) wird vermieden, da Settala carboncolo synonym mit carbone verwendete. Settala, Cura locale, S. 3. 250 „non vi restò dubbio alcuno, che questo male contagioso non fosse veramente Peste Bubonia, come dicono li Scrittori in tale materia, attesoche si communicava di persona in persona.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 32.
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nicht selbstverständlich.²⁵¹ Gemäß Tadino untersuchten die Mediziner im Dienst der Gesundheitsbehörde zumindest in der Anfangsphase die Kranken und Tote grundsätzlich auf die Manifestation körperlicher Zeichen. So berichtete Tadino im Zusammenhang seiner Reisen im Herzogtum Mailand zur Überprüfung von Verdachtsfällen mehrfach von der Exhumierung der Leichen und ihrer Untersuchung. Auch Settala beschrieb die postumen Erkennungsmerkmale der Pest differenziert. So erregten insbesondere „hängende und schwärzliche Nasenlöcher [...] den starken Verdacht eines solchen Todes, ebenso wie bläuliche oder schwärzliche Nasenflügel, sowie eine ungewöhnliche Schlaffheit der Körperglieder.“²⁵² Der furchtlose Kontakt zu Pestkranken war jedoch um 1630 nicht die Regel. So berichtete Tadino, dass beinahe sämtliche Ärzte, die nicht der Mailänder Ärztezunft, dem Collegio dei medici angehörten, geflohen waren.²⁵³ Übrig blieben nur die 14 Ärzte der Ärztezunft: Unsere Zunft ist seit einigen Jahren so wenig zahlreich, dass es nicht ausreicht, die Stadt zu versorgen, da sich nur 16 Personen darin befinden, die den Beruf des Arztes ausüben. Vier davon arbeiten im Hospitale Grande, sechs an der Santa Corona und vier sind für den Dienst für den Tribunale di Sanità zuständig, zwei reguläre und zwei zusätzliche.²⁵⁴
Das Mailänder Collegio dei medici war mit 14 Ärzten sehr klein, zumal es um 1516 noch 65 Ärzte umfasst hatte.²⁵⁵ Die Dezimierung war das Resultat eines Umstrukturierungsprozesses, wie er sich in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhun-
251 In früheren mailändischen Epidemien vermieden die für die Pestbehörde tätigen Ärzte häufig den direkten Kontakt zu den Kranken. So ist in Quellen für die Mailänder Epidemie von 1468 mehrfach von postumen Urinuntersuchungen die Rede. Der Urin der Toten muss sich in einem transportablen Gefäß befunden haben, das zum Arzt getragen wurde. In solchen Fällen fand mit Sicherheit keine ärztliche Visite statt. Carmichael, Contagion Theory, S. 233, 236. 252 „Le nari pendenti, e negriccie danno gran sospetto di tal morte; come anco l’ali delle narici livide, ò negreggianti, et una insolita mollezza de corpi.“ Settala, Preservatione, S. 30. Diese Zeichen gehören nicht zu den Standardsymptomen. 253 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 104, 133. Tadino war kritisch gegenüber den Ärzten, die nicht der Zunft angehörten. 254 „il Collegio nostro d’alcuni anni in quàsi trova di molto puoco numero, che non è sofficiente il servire alla stessa Città, ritrovandosi solamente sedici soggetti, quali attendono alla professione del medicare, quattro de quali servono all’Hospitale Grande, sei à S[anta] Corona, quattro riescono destinati al servitio del Tribunale della Sanità, duoi ordinarij, et duoi aggionti.“ Ebd., S. 104. Tadino summiert falsch. Wahrscheinlich waren die beiden regulären und zusätzlichen Ärzte mit den vier Ärzten des Tribunale di Sanità identisch. Das Hospitale Grande, bekannter als Ospedale Maggiore oder Ca’Grande wurde um 1450 direkt als Krankenhaus gebaut und war einer der ersten Klinikneubauten, kein ehemaliges Hospiz. Carmichael, Last Past Plague, S. 152. 255 Palmer, Physicians and the State, S. 51.
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derts auch in Rom und Florenz vollzogen hatte. Die Zunft repräsentierte nicht mehr die gesamte kommunale Ärzteschaft, sondern übernahm eine Kontrollfunktion in Hinblick auf das Gesundheitswesen des Territoriums.²⁵⁶ Die 14 mailändischen medici collegiati um 1630 standen allesamt im Staatsdienst. Wenn sie sich als besonders ‚tapfer‘ erwiesen, indem sie während der Pest in Mailand blieben, so nicht zuletzt deshalb, weil sie dafür bezahlt wurden. Allzu tapfer waren sie zudem nicht, denn Tadinos Liste der vorhandenen Ärzte und ihrer Zuständigkeit wurde dem Tribunale di Sanità vorgelegt, um nachzuweisen, dass keiner der Ärzte des Collegio dei medici in der Lage war, das Pestlazarett San Gregorio zu leiten.²⁵⁷ Das kam einer kollektiven Weigerung gleich, die nicht nur mit Überlastung zu tun hatte, sondern auch mit dem Unwillen, einen Posten zu übernehmen, auf dem sich binnen kürzester Zeit zwei Mediziner mit der Pest angesteckt hatten. Die in der Liste aufgeführten städtischen Krankenhäuser waren die regulären Arbeitsstätten der medici collegiati – so arbeitete Settala außerhalb von Pestzeiten als Arzt im Ospedale Maggiore und im Ospedale del Brolo.²⁵⁸ Im Zuge des Neubaus des Ospedale Maggiore fand die Zusammenfassung aller zuvor von Mönchen geleiteten mailändischen Krankenhäusern zu einer Korporation statt, die später in einer Spezialisierung der einzelnen Krankenhäuser auf bestimmte Erkrankungen resultierte.²⁵⁹ Im Jahr 1630 gab es also in Mailand nicht nur 14 Ärzte in öffentlicher Anstellung, sondern diese arbeiteten regulär in Krankenhäusern.²⁶⁰ Während der Pest von 1629–1630 wurden die Ärzte Stadttoren und den nach ihnen benannten Vierteln zugeordnet – so war Settala zuständig für Porta Romana, Tadino für Porta Orientale, ein Arzt namens Castiglione für Porta Ver-
256 Ebd., S. 57. 257 Ein Arzt war unter fadenscheinigen Vorwänden geflohen. Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 105. 258 Rota Ghibaudi, Settala, S. 21. 259 „Nel Maggiore si ricevevano quelli, che per febbre, od altri mali violenti correvano pericolo di morire. I Lebbrosi e con cancrene in quello del Brolio, ove dapprima vi aveva d’ordine del Cardinale Enrico la ruota per gli Esposti. I Tignosi nello Spedale di San Lazzero. I Zoppi, Manchi, Ulcerosi, e Vecchi in quello di San Simplicano. Gli Idropici a Santo Ambrogio. I Matti, Mentecatti, e Furiosi a San Vincenzo. In quello di San Celso si accolsero dipoi gli Esposti Bambini, perchè Spuri, o Figli di Genitori impotenti a mantenerli; e vi si ricevevano le Donne miserabili gravide di otto mesi, perchè ivi potessero partorire.“ Serviliano Latuada: Descrizione di Milano. Bd. 1. Mailand 1737, S. 324. 260 Dieser Befund ist nicht so ungewöhnlich, Bylebyl berichtet ganz ähnlich, dass in Padua bereits in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts im Krankenhaus gelehrt wurde. Bylebyl, School of Padua, S. 348.
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cellina.²⁶¹ Zu ihren Aufgaben zählte die Visite der Pestkranken unter „Beachtung der nötigen Vorsichtsmaßnahmen“: Allen Stadttoren wurden Ärzte des Collegio zugewiesen [...], um sie [die Viertel] vor der giftigen Krankheit zu schützen und zu verteidigen. Diese Ärzte waren verpflichtet, in ihren Bezirken alle Kranken mit den nötigen Vorsichtsmaßnahmen zu überwachen und zu untersuchen, und auch die Toten, und dem Tribunale di Sanità schriftlich Meldung über sie zu erstatten.²⁶²
Die Realität sah offenbar anders aus. So berichtete Tadino, dass sich manche Ärzte die Behandlung so teuer bezahlen ließen, dass es einer Verweigerung der Behandlung Mittelloser gleichkam: Zum totalen Zusammenbruch dieser Stadt kam die Grausamkeit einiger Ärzte, die sich um die Pest zu behandeln und die Pestbeulen zu öffnen, aus Eigeninteresse als so raffgierig gegenüber den mittellosen Kranken erwiesen, dass sie von denjenigen, die sich von ihnen untersuchen und den Puls fühlen ließen, den Preis von einer Zechine pro Berührung verlangten.²⁶³
Das reduzierte den Körperkontakt zu den Patienten auf ökonomische Weise, wobei die fragwürdige Methode, sofern wirklich alle nicht dem Collegio dei medici angehörigen Ärzte geflohen waren, von ihnen selbst praktiziert wurde. Die Chirurgen schilderte Tadino als unverbesserliche Pestskeptiker, von denen gleich vier die Zweifel mit ihrem Leben bezahlt hätten.²⁶⁴ So seien sämtliche Chirurgen
261 Die Namen der neun Stadttore existieren mehrheitlich noch heute und indizieren ihre Lage: Porta Romana liegt im Süden, Porta Orientale im Osten, Porta Ticinese im Westen, Porta Vercellina im Norden. Die Namen der Stadttore bezeichneten zugleich innerstädtische Bezirke. Tadino äußerte sich nicht zur Differenz von neun Stadttoren und 14 Ärzten. Einer der medici collegiati war nach Auskunft Tadinos geflohen, doch dann blieben immer noch vier Ärzte ohne Revier. Diese waren entweder für die verschiedenen borghi, die außerhalb der Stadttore liegenden Viertel, zuständig oder für die kleineren Stadttore. Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 84. 262 „furno destinati à tutte le porte Fisici del Collegio [...] per ripararle, et diffenderle da questo venenoso male, li quali Fisici fossero obligati ciascuno nelle sue porte di sopraintendere, et vistitare tutti gli infermi con le debite cautioni, et ancora li morti con farne attestatione in scritto al Tribunale.“ Ebd., S. 84. 263 „Alla totale rovina di questa Città si aggiongeva la crudeltà d’alcuni Medici [...] quali per haver il contagio, et buboni aperti, [...] si fecero tanto avari verso i poveri infermi per l’interesse ingordo, chi volevan fosse da loro visitati, et tocco il polso, havevano messo il prezzo ad uno cechino la toccata.“ Ebd., S. 133. 264 Tadino nannte namentlich nur pestskeptische Chirurgen („il Carcano, il Monte, il Calvo, et il Chiodo“), aber keine Ärzte. Ebd., S. 73.
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innerhalb eines Monats an übergroßer Profitgier gestorben, wegen der sie sich ohne die nötigen Vorsichtsmaßnahmen den Kranken genähert hätten, „um ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen.“²⁶⁵ Sehr wahrscheinlich besaßen diese Chirurgen eine akademische Ausbildung, denn Tadino unterschied sie von den ebenfalls chirurgisch arbeitenden Barbieren. Chirurgen mit akademischer Ausbildung waren in Norditalien nichts Ungewöhnliches, ebenso wenig wie Chirurgen an den Universitäten.²⁶⁶ Auch für die hohe Todesrate unter den Barbieren – bis zum Juli 1630 waren 108 verstorben²⁶⁷ – machte Tadino deren Geldgier und ihre Ungläubigkeit gegenüber der Existenz der Pest verantwortlich. Es war allerdings wohl eher der intensive Kontakt der Chirurgen und Barbiere zu den Kranken etwa bei der Behandlung der Pestbeulen.²⁶⁸ Auch um 1630 dürften eher sie als Ärzte mit der medizinischen Betreuung der Pestkranken betraut gewesen sein, was die Mortalitätsrate der beiden Berufsgruppen nach oben trieb.²⁶⁹
5.3.3 Die Rekonstruktion der Infektionskette in Mailand Die ersten Pestfälle in der Stadt Mailand datierten vom Oktober 1629. Der erste Patient stammte aus Lecco am Comer See und führte viele gekaufte oder von toten Soldaten gestohlene Textilien bei sich, die von den Pestbefürwortern unter den Ärzten mit der Ursache der Infektion identifiziert wurden. Es wurde eine Meldepflicht für Verdachtsfälle angeordnet, die für die Gemeindeältesten und die Barbiere und Ärzte des Armenkrankenhauses Santa Corona galt. Der Pestkranke
265 „l’utile molto accresciuto, per causa del quale s’approssimavano senza le debite cautioni à gli infermi per potergli votare la borsa.“ Ebd., S. 102. 266 Der Gegensatz zwischen Chirurgen und Ärzten wird häufig übertrieben. Laut Bylebyl wendeten italienische Ärzte seit dem sechzehnten Jahrhundert chirurgische Praktiken an, die sie im Studium erlernt hatten. Seit dem sechzehnten Jahrhundert gab es an den italienischen Universitäten Lehrstühle für Chirurgie. In Bologna besetzte man Lehrstühle für Chirurgie nur mit gelehrten Medizinern. Es muss also Personen mit dieser Doppelqualifikation gegeben haben. Bylebyl, School of Padua, S. 355. Sie ist bereits für den Vater Ficinos für das florentinische fünfzehnte Jahrhundert bezeugt. Kaske, Clarke, Introduction, S. 54. 267 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 103. 268 So wandte sich das neunte und zehnte Buch von Settalas Cura locale de’tumori pestilentiali ausdrücklich an Barbiere und Chirurgen. Settala, Preservatione, S. 60. 269 Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 127. Jones hält die geringere Mortalität unter den gelehrten Ärzten für einen wichtigen Grund dafür, dass diese so häufig als Autoren von Pesttraktaten in Erscheinung traten. Chirurgen schrieben deutlich seltener Pesttraktate als Ärzte, da sie die Epidemien seltener überlebten. Jones, Plague and Its Metaphors, S. 105.
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wurde ins Lazarett gebracht, seine Habe vernichtet, das Haus der Familie verschlossen. Doch wenige Tage später erkrankte ein Lautenspieler aus der Nachbarschaft des ersten Patienten. Dieser war gerade aus Monza zurückgekehrt, und es wurde vermutet, dass er dort mit deutschen Soldaten oder mit dem ersten Patienten aus seiner Nachbarschaft in Berührung gekommen war. Beide Narrative fungierten als Erklärung, wie der zweite Kranke mit der Krankheit in Kontakt gekommen war – sei es in Form einer Person oder eines Kleidungsstücks. Auch bei dem zweiten Kranken steckten sich mehrere Personen im Umfeld des Patienten an. Die pestverdächtigen Gegenstände wie Textilien konnten in diesem Fall nicht beschlagnahmt werden, da eine Frau einen Teil der Habe bereits als Votivgabe der Kirche San Rocco – Rochus war neben Sebastian ein wichtiger Pestheiliger – vermacht hatte. Andere Besitztümer wurden wohl versteckt. Da in der Frühen Neuzeit die Kleidung eines Toten nicht selten sein einziges Erbe war, stellte die Beschlagnahmung eine äußerst unpopuläre Maßnahme dar. Man versuchte, sie zu vermeiden, mit laut Tadino desaströsen Konsequenzen: viele Kleidungsstücke wurden versteckt und waren auf viele Häuser des Viertels verteilt, und es gab keinen Zweifel, dass sie im kommenden Frühjahr zu einem Massensterben im ganzen Viertel und der ganzen Stadt führen sollten.²⁷⁰
Der dritte Pestfall trat unabhängig von den beiden ersten in Porta Vercellina im Norden der Stadt auf. Der Erkrankte war mit einem gefälschten Gesundheitspass aus Merate in der Brianza eingereist. Allein, dass er aus einem pestinfizierten Gebiet kam, machte ihn pestverdächtig. Tadino ergänzte jedoch, dass der Patient einen Kragen aus Büffelfell von einem Deutschen erworben hatte.²⁷¹ Dieses Objekt fungierte dabei als materieller Träger, der die Annahme der indirekten Ansteckung per fomites beglaubigte. Im vierten Fall erkrankte im Dezember eine Frau in einem weiteren Viertel. Bei ihr ließ sich kein Kontakt zu pestinfizierten Gebieten, zu deutschen Soldaten oder zu den anderen mailändischen Pestfällen nachweisen. Trotz des raschen, lethalen Krankheitsverlaufs und einem Exanthem an der rechten Leiste waren die Ärzte uneins, ob es sich um die Pest handelte. Die Gegner der Pestdiagnose argumentierten gemäß Tadino miasmatisch: die Kranken litten nicht an der Pest, sondern nur an einem pestilentialischen Fieber, hervorgerufen durch die
270 „molte robbe si trovavano nascoste, et disperse per molte case del detto borgo, che non si poteva dubitare nella futura primavera, se non grandissime strage di mortalità in questo borgo, et per tutta la Città.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 52. 271 Ebd., S. 53.
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schlechte Lebensweise der Kranken („la mala regola“) und die Hungersnöte der letzten beiden Jahre. Daher weigerten sie sich „eine andere Form der Pest anzuerkennen als die der Luft“.²⁷² In ihren Augen handelte es sich um unabhängige Erkrankungen. In Mailand hielt sich der Zweifel, ob es sich um die Pest und somit um eine ansteckende Krankheit handelte, noch bis ins späte Frühjahr 1630, genau so lange, wie die Fälle vereinzelt auftraten. Das Ansteckungsnarrativ war ein wichtiges Argument gegen den Einwand der ‚Pestzweifler‘, dass die Betroffen unabhängig voneinander an verschiedenen Krankheiten oder individuellen konstitutionellen Problemen gestorben waren. Ohne die Rekonstruktion des Ansteckungsweges stand trotz eindeutiger Krankheitszeichen die gesamte Diagnose in Frage. Tadinos und Settalas These der Ansteckung durch ein Kontagium bedeutete also, den Zusammenhang zwischen den über die Stadt verteilten Einzelfällen zu Beginn der Epidemie lückenlos nachzuweisen. Nur durch die narrative Rekonstruktion des Ansteckungsweges konnte nachgewiesen werden, dass es sich bei den verschiedenen Fällen um dieselbe Krankheit handelte, dessen Kontagium in den Augen der Mediziner buchstäblich von Person zu Person weitergegeben wurde. Erst auf dieser Grundlage konnte offiziell die Pest erklärt werden, was die Voraussetzung für die Inkraftsetzung von Seuchenmaßnahmen darstellte. Die zögerliche Ausbreitung der Pest bis in den späten April 1630 hinein schien den Medizinern im Dienst des Tribunale di Sanità Unrecht zu geben.²⁷³ So wurde das Lazarett San Gregorio im Februar nicht zur Unterbringung von Pestkranken und Verdachtsfällen, sondern für Karnevalsveranstaltungen genutzt.²⁷⁴ Dabei überschritten nicht nur die Kranken das Kontaktverbot zu den Gesunden, sondern auch die Gesunden drängten in die Sphäre der Kranken, was die Isolationsmaßnahmen ad absurdum führte. Außerdem geriet das zur Disziplinierung gedachte Lazarett zu einem Ort größtmöglicher Freizügigkeit. Noch Anfang April 1630 wurde ein Pestfall von den Medizinern kontrovers diskutiert.²⁷⁵ So griff Tadino kurz darauf zu dem drastischen Mittel, die Pesttoten zu einem prägnanten Zeitpunkt öffentlich auszustellen. Er schickte an den Pfingstspaziergängern auf dem Weg zur Kirche San Gregorio al Foppone in
272 „ne loro conoscere altra peste, che quella dell’aria; et che questa mortalità copiosa dependeva dalla mala regola, et penuria del vivere questi duoi anni prossimi passati.“ Ebd., S. 83. 273 Zum Vergleich: Bei der venezianischen Pest von 1575–1577 brach die seit dem Herbst 1575 bezeugte Epidemie bereits in den ersten Märztagen aus. Rodenwaldt, Pest in Venedig, S. 68. 274 „anzi permettendo, che essendo di Carnevale si facevano feste con balli di notte nel detto Lazaretto di nascosto, andando sotto sopra tutto quello luogo per l’attioni lascive, le quali ogni giorno, et notte seguitavano.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 74. 275 Ebd., S. 92.
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der Nähe des Lazaretts einen Leichenwagen mit entkleideten Pesttoten vorbei: „ich ließ all diese Leichen nackt auf einem Wagen zum Lazarett bringen, damit jeder die klaren und eindeutigen Zeichen der Pest an ihnen sehen konnte, die sich zahlreich auf ihren Körpern befanden.“²⁷⁶ Die öffentliche Ausstellung der Pesttoten war das krasse Gegenteil der üblichen Praxis, dieselben möglichst im Verborgenen zu bestatten, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen.²⁷⁷ Tadino ging es jedoch darum, die der offiziellen Pesterklärung abgeneigte Bevölkerung aufzurütteln. Dabei setzte Tadino auf die Evidenz der sichtbaren Krankheitszeichen an den Leichnamen und natürlich auf den Anblick der Leichen selbst als memento mori.²⁷⁸
5.3.4 Die von der Pest belagerte Stadt Mit der öffentlichen Zurschaustellung von Pesttoten wollte Tadino sehr wahrscheinlich in Szene setzen, was nicht sichtbar war, nämlich die allmähliche und unaufhaltsame Annäherung einer Gefahr. Während die ‚Pestzweifler‘ die einzelnen Fälle als diskrete Abfolge ohne inneren Zusammenhang deuteten, schilderte Tadino ihr Auftreten als kontinuierlichen Prozess, bei dem sich der Kreis eines Heeres unsichtbarer Krankheitsstoffe immer enger um die Stadt zog, bis es die Stadtgrenze überschritt und einen massiven Ausbruch der Seuche bewirkte. Tadino bediente sich in diesem Zusammenhang einer Kriegsmetaphorik, die mit seiner These des Pestursprungs im deutschen Militär korrespondierte.²⁷⁹ Durch ihren ausländischen Ursprung erschien Tadino die Pest per se als Feind, der von außen in das mailändische Territorium drang. Diese Annahme hatte nicht nur in xenophoben Überlegungen Rückhalt, sondern auch in Settalas Definition der Epidemie als Krankheit, die von außen kam. Die moderne Seu-
276 „fece condurre al Lazaretto tutti questi cadaveri sopra un carro ignudi, acciò ciascuno potesse vedere li segni veri, et reali della peste, delle quali se ne trovavano in abbondanza sopra li loro corpi.“ Ebd., S. 85. 277 In Venedig wurde 1576 ein Verbot der weißen Barken gefordert, da diese den Leichentransport anzeigten. Rodenwaldt, Pest in Venedig, S. 93. 278 Carmichael versteht die Episode als ein Beispiel für “[the] use of public nudity as a particularly horrific mechanism of social control.” Carmichael, Last Past Plague, S. 145. Es ist aber anzunehmen, dass die Pointe weniger auf der Nacktheit der Leichen als auf dem Anblick der vielen Toten beruhte. Zum verwandten Motiv des trionfo della morte vgl. hier Kap. 5.5.3. 279 Der Topos scheint verbreitet. Auch Cohn nennt mehrere Beispiele aus Traktaten um 1575. Er begnügt sich mit der Feststellung seiner Existenz. Cohn, Cultures of Plague, S. 146, 157, 240, 246, 299.
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chenforschung spricht im Übrigen für den Realitätsgehalt der frühneuzeitlichen These, dass die Pest ein Importartikel war. Der verstärkte interkulturelle Kontakt der ökonomischen Globalisierung führte auch zur Globalisierung von Krankheiten und Mikroben.²⁸⁰ Das Militär als Medium der Ausbreitung war ebenfalls nicht völlig unrealistisch. Daran knüpfte auch Tadinos Schilderung der Pest als unsichtbare und allmählich näher rückende Bedrohung an. Zunächst nur als Gefahr apostrophiert,²⁸¹ erfuhr die Krankheit eine Personifikation als feindliche militärische Macht, die einen Überfall plante. So entwarf Tadino präventive Pestmaßnahmen als militärische Verteidigung, „damit dieser so verheerende Feind uns nicht ganz plötzlich überfällt.“²⁸² Als die Epidemie in Colico am Comer See ausbrach, zweifelte Tadino nicht, „dass die ansteckende Pest kurz vor den Toren der Stadt steht,“²⁸³ wie eine feindliche Armee, die zur Belagerung ansetzte. Tadino kritisierte das zögerliche Vorgehen der Stadträte, denn „sie gingen sehr langsam dabei vor, Vorkehrungen gegen einen so mächtigen Feind zu treffen.“²⁸⁴ Die medizinischen Berater des Tribunale di Sanità hatten bereits frühzeitig Vorschläge für Maßnahmen unterbreitet, um „den allgemeinen Feind, die Pest, zu bekämpfen.“²⁸⁵ Doch die Stadtregierung blieb untätig, so dass es dem Feind, der Pest, nicht nur gelang, sich über das Territorium des Herzogtums auszubreiten, sondern auch, sich in Mailand festzusetzen. Während die Stadt den Feind im eigenen Haus hatte und sich um sein Gift nicht kümmerte, breitete er sich im Herzogtum aus. Tadino schilderte die latente Präsenz der Epidemie während des Winters als eine Art Winterschlaf: Ende März, als der Frühling begann, machte sich die Pest im Viertel Porta Orientale erneut viel stärker bemerkbar. Dies geschah so spät aufgrund der Kälte, während der sie wie eingeschlafen schien, so dass man glauben konnte, sie existiere gar nicht.²⁸⁶
280 Emmanuel Le Roy Ladurie: A concept: The Unification of the Globe by Disease (Fourteenth to Seventeenth Centuries). In ders.: The Mind and Method of the Historian. Brighton 1981, S. 28– 83. 281 „questi pericoli di Contagio.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 23. 282 „acciò questo nemico così pernicoso, non ci assalisse alla sprovista.“ Ebd., S. 25. 283 „non possiamo dubitare ponto, che il Contagio pestilente sij vicino alle mura della Città.“ Ebd., S. 28. 284 „gli Decurioni della Città [...] andavano molto lenti in provedere à Nemico così potente.“ Ebd., S. 73. 285 „facendo ordini, et provisioni per debellare questo nemico commune della peste.“ Ebd., S. 77. 286 „Nel fine del mese di Marzo spontando la Primavera continuò molto più farsi sentire il contagio nel borgo di P[orta] O[rientale] la tardanza del quale per l’addietro si trovava causata dal freddo, et adormentato pareva che altro non fosse.“ Ebd., S. 83.
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Kurz nachdem die Pest im April 1630 aus ihrem Dornröschenschlaf erwachte, war ihre Präsenz in Mailand unübersehbar. Tadino verglich die Situation mit einem offenen Kriegszustand, bei dem die Pestmaßnahmen „zur Verteidigung und Sicherheit dieses Staates“ dienten, und dazu, „[die Stadt] [...] vor dieser giftigen Krankheit zu verteidigen.“²⁸⁷ Als die Seuche im Viertel Porta Orientale massiv ausbrach, war ein neues Stadium der Epidemie erreicht, während dessen man sich „das Feuer in Kürze in der ganzen Stadt ausbreiten sah.“²⁸⁸ Der Vergleich von Pestepidemien zu einem Lauffeuer, das durch einzelne Funken entstand, war nicht nur eine Metapher, sondern hatte medizinischen Rückhalt in der miasmatisch-optischen Ansteckungslehre Ficinos. Sie findet sich noch im neunzehnten Jahrhundert.²⁸⁹ Zugleich führte die Krankheit den Belagerungszustand metaphorisch fort: Da die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung zu spät einsetzten, sah sich „die unglückliche Stadt Mailand in kürzester Zeit von allen Seiten von der Pest belagert.“²⁹⁰ Der allmählichen Einkesselung der Stadt durch die Epidemie folgte metaphorisch die lauffeuerartige Verbreitung. Wie die akute militärische Bedrohung konstituierte auch eine Epidemie einen politischen Ausnahmezustand, der mit der Beendung des öffentlichen Lebens einherging – Schulen wurden geschlossen, Zünfte und Gilden wurde die Abhaltung von Versammlungen verboten, religiöse Veranstaltungen wie Messen und Prozessionen wurden untersagt.²⁹¹ Die Gefahr der raschen und unkontrollierbaren Ausbreitung erforderte gemäß Tadino äußerste Wachsamkeit, „denn ein einziger Fall, der entweder aus Nachlässigkeit nicht beachtet wurde, oder aus Eigeninteresse nicht richtig behandelt wird, kann einen ganzen Staat in den Ruin treiben.“²⁹² Für Tadino rief die Epidemie wie ein Krieg einen Ausnahmezustand hervor, der die Fortexistenz des Staates in Frage stellte. Das Phantasma des drohenden Niedergangs des Staates durch einen ein-
287 „per diffesa, et sicurezza di questo Stato“, „di diffenderla [la Città] [...] da questo venenoso male.“ Ebd., S. 82. 288 „vedeva in breve il fuoco acceso per tutta la Città.“ Ebd., S. 85. 289 „Die ersten Erkrankungen sind wie einzelne Funken, welche in ein Strohdach fallen. Der Funke läßt sich noch mit geringen Mitteln und sicher ersticken, während der auflodernde Brand bald allen Anstrengungen Trotz bietet.“ Koch, Kriegsseuchen, S. 286. 290 „si che l’infelice Città di Milano presto si trovarà da tutte le parti assediata dalla peste.“ Ebd., S. 86. 291 Cohn, Cultures of Plague, S. 119. 292 „perche un solo caso, ò negligentamente transcurato, ò per privato interesse ingiustamente governato può essere la rovina di tutto lo Stato.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 87 f.
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zigen übersehenen Pestfall wies bereits auf die paranoide Logik der Theorie der absichtlichen Pestausbreitung auf dem Höhepunkt der Epidemie voraus.
5.4 Höhepunkt der Epidemie und die Verschwörungstheorie der Pestschmierereien 5.4.1 Eine neue Pestursache Nachdem alle Versuche, den gefährlichen Feind des Pestkontagiums und seine Träger aufzuhalten, gescheitert waren, breitete sich die Epidemie tatsächlich lauffeuerartig in der Stadt und auf dem Mailänder Territorium aus. Im späten Juni 1630 erreichte die Epidemie mit dem Einsetzen der Sommerhitze das Stadium ihres massenhaften Ausbruchs. Das Lazarett füllte sich rapide mit 14.000 Patienten.²⁹³ Tadino bezifferte das Maximum der Neuerkrankungen im Juli und August 1630 auf 1.600,²⁹⁴ das Maximum von Toten pro Tag auf 3.555.²⁹⁵ Tadinos Zahlen sind wie alle zeitgenössischen Quantifizierungen mit Vorsicht zu genießen.²⁹⁶ Den exponentiellen Anstieg der Mortalitätsrate dürften sie jedoch korrekt wiedergeben. Angesichts der Menge gleichzeitiger Neuinfektionen wurde die Rekonstruktion des Ansteckungswegs eine immer leichtere Übung, aber auch immer uninteressanter. Es war offensichtlich, dass es nicht nur einen, sondern viele mögliche Infektionsherde gab. Zugleich wurde immer ungewisser, wer Träger der Krankheit war und wer nicht. So brach auch die anfänglich eindeutige Unterscheidung zwischen Gesunden und Kranken, zwischen Freund und Feind zusammen. Das führte zu einem politischen Ausnahmezustand, der dem militärischen ähnelte. Das öffentliche Leben kam bedingt durch die Pestmaßnahmen vollständig zum Erliegen, und mit ihm auch die meisten öffentlichen Vorgänge wie Gerichtsprozesse. Allerdings wurden die Maßnahmen so spät getroffen, dass zu
293 „havevano mantenuto nel Lazaretto tante migliaia de poveri, et in particolare un certo tempo 14V. come più à basso si dirà, nella maggior crudeltà della peste seguita nel mese di Luglio, et Agosto del detto anno.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 98. 294 „ogni giorno andava crescendo numero de appestati nel Lazaretto, per le nuove, che s’havevano dalli Padri Capuccini assistenti nel detto luogo al numero de 600 et mille al giorno.“ Ebd., S. 106. 295 Ebd., S. 115. 296 Tadino bezifferte die Toten pro Tag zwischen Juli und September an anderer Stelle mit 3.504. Ebd., S. 117. Bei Lampugnano waren es ‚nur‘ 1.300 („in quel mese fino a mila trecento al giorno, n’eran sepelliti.“). Lampugnano, Pestilenza, S. 67.
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diesem Zeitpunkt ohnehin niemand mehr ans Prozessieren dachte, wie Tadino sarkastisch anmerkte.²⁹⁷ Für das neue Stadium der Epidemie benannte Tadino zwei neue Ursachen, eine miasmatische und eine kontagionistische. So machte Tadino für den Höhepunkt der Epidemie erneut eine astrale Erscheinung verantwortlich, einen Kometen sowie mehrere Sonnen- und Mondfinsternisse: Ende Juni erschien ein sehr großer Komet am nördlichen Sternenhimmel und blieb lange Zeit sichtbar und wurde von vielen Personen gesehen. Man sah auch einige Finsternisse, insbesondere der Sonne und des Mondes – ein klares Vorzeichen der bevorstehenden Strafe der Pest, das uns der Herr schicken wollte.²⁹⁸
Diese kamen zu der unheilvollen Konjunktion von Saturn und Mars in den Zwillingen noch hinzu. Parallel zu den astralen Fernursachen gab Tadino eine weitere kontagionistische Erklärung für die galoppierende Ausbreitung der Pest – die Idee der absichtlichen Pestausbreitung durch sogenannte Pestschmierer (untori). Den ersten Fall von Pestschmiererei datierte Tadino auf Anfang Juni und damit auf einen Zeitpunkt, der dem Höhepunkt der Epidemie unmittelbar voranging. Im Mailänder Dom wurden vor der Frühmesse erstmals eigenartige Schmierereien auf den Kirchenbänken bemerkt: im Morgengrauen, oder besser gesagt, nach Öffnung der Kirche waren alle Bänke beschmiert, wo die Händler und Handwerker aus der Nachbarschaft zusammenkamen, um die Messe zu hören.²⁹⁹
Als Ursache dieser Schmierereien mit einer dunkelgelben Paste vermutete Tadino wahlweise einen Scherz von Studenten aus Pavia, das Werk mailändischer Adliger oder ein französisches Mordkomplott mittels giftiger Salben.³⁰⁰
297 „si sospendevano le liti, benche molto tardi, atteso che le persone già duoi mesi fà havevano altro sentimento, che di litigare, mà si bene da fuggire dalla Città.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 125. 298 „Apparve nel fine del mese di Giugno una Cometa molto grande verso Settentrione, et durò longo tempo, vista da più persone, come ancora si viddero alcuni Eclissi, et in particolare del Sole, et della Luna; inditio manifesto del futuro castigo della peste, che N[ostro] S[ignore] ci voleva mandare.“ Ebd., S. 110. Tadino benannte ein Prognostikon Antonio Portios als Referenz. Traktat und Autor konnten nicht identifiziert werden. 299 „si trovorno nel fare del giorno, ò per dire meglio doppo aperta la Chiesa unti tutti li banchi da sedere, ove concorrevano tutti li Mercanti, et Bottegari vicini per udire la Messa.“ Ebd., S. 101. Offenbar fanden Anfang Juni noch Messen im Dom statt. 300 Ebd., S. 101.
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Das Rätsel der beschmierten Bänke blieb ungelöst. Erst einen Monat später, zum Höhepunkt der Epidemie, der sich in den letzten Junitagen durch den Kometen ankündigte, erwähnte Tadino erneut Pestschmierereien. Diese erschienen damit ebenfalls astral angekündigt: „kurz danach kam es von neuem zu Schmierereien in der Stadt.“³⁰¹ Im Anschluss an eine weitere Schmiererei im Dom schilderte Tadino die bekannteste Episode. In der Nähe des Stadttores Porta Ticinese fanden sich einige Türen und Mauern mit gelblicher Paste beschmiert. Zwei Anwohnerinnen wollten den Kommissär Guglielmo Piazza dabei beobachtet haben, wie er dort Schmierereien am helllichten Tage anbrachte. So fand man heraus, dass der Pestschmierer ein gewisser Guglielmo Piazza war, Gesundheitskommissär des Tribunale della Sanità, der sofort ins Gefängnis gesperrt wurde und unter Folter gestand, mit einem gewissen Giovanni Giacomo Mora, einem Barbier, zusammenzuarbeiten, der diese Pestsalben herstellte, um die mailändische Bevölkerung umzubringen.³⁰²
Die Folter förderte den Namen des angeblichen Mitverschwörers und Urhebers der Pestsalbe, Gian Giacomo Mora, zutage. Nach der Verhaftung des Barbiers und seines Geständnisses unter Folter wurden diese beiden zum Tod durch Rädern verurteilt und auf Befehl des hohen Rats wurden ihre Häuser bis aufs Fundament zerstört. Zur Erinnerung für die zukünftigen Jahrhunderte wurde an dieser Stelle eine Säule, Schandsäule genannt, errichtet.³⁰³
Piazza war als Gesundheitskommissär Teil des städtischen Pestregimes und mit der Durchführung von Pestmaßnahmen betraut. Mit dem Barbier Mora stand ein weiterer Repräsentant des medizinischen Regimes unter Anklage. Entgegen Tadinos Darstellung gestand Piazza nicht unter Folter, der er zweimal standhielt, sondern auf die falsche Zusicherung der Straffreiheit hin im Fall seines Geständnisses. Er beschuldigte den ihm lose bekannten Barbier Gian Giacomo Mora. Dieser brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass er wegen der Produktion
301 „puoco doppo successero di nuovo le untioni nella Città.“ Ebd., S. 110. 302 „trovò essere stato l’ungente un tale Gulielmo Piazza moderno Commissario del Tribunale della Sanità, il quale fatto subito prigione à forza de tormenti confessò haver havuto communione con un tale Gio[vanni] Giacomo Mora Barbiere, il quale fabricava detti unguenti per far morire il popolo di Milano.“ Ebd., S. 113. 303 „questi tali furno condennati alla ruota, per ordine del Senato Eccellentissimo gli furno le loro case distrutte fino alli fondamenti, et per la memoria delli futuri secoli piantanta una colonna in mezzo con inscrittione detta, colonna infame, et à parte con epitafio inserto nel muro del tenore seguente.“ Ebd., S. 113.
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Abb. 9: Folter und Hinrichtung von angeblichen Pestschmierern in Mailand
einer Salbe für die Verbreitung der Pest vor Gericht stand. Er hatte vielmehr ein schlechtes Gewissen, weil er ohne offizielle Genehmigung eine Pestsalbe – also eine Salbe gegen die Pest – herstellte und vertrieb. Damit verstieß er gegen die Bestimmungen der Mailänder Medizinalordnung. Darauf stand allerdings nicht die Todesstrafe. Nicht nur Mora und Piazza, sondern fast alle der Pestschmiererei Verdächtigen zeichneten sich durch den engen Bezug zum Gesundheitswesen aus. So war Piazza der Schwiegersohn einer Hebamme,³⁰⁴ und Mora benannte unter Folter weitere angebliche Komplizen aus dem medizinischen Sektor wie den Barbier Stefano Baruello, der einem weiteren mailändischen Prozess wegen Pestschmierereien zum Opfer fiel.³⁰⁵
304 Manzoni, Geschichte der Schandsäule, S. 82. 305 Ebd., S. 134.
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Paradoxerweise wurden die Angeklagten wegen Pestschmiererei genau deshalb verdächtigt, weil sie Repräsentanten des Pestregimes waren. Als Kommissär und Barbier hatten sie Kontakt zu den Infizierten, wenn auch nicht zum Zweck der Verbreitung der Epidemie, sondern zu ihrer Bekämpfung. Nicht nur bei Piazza und Mora äußerte Tadino den Verdacht, dass die absichtliche Pestausbreitung von jenen betrieben wurde, die mit der Durchführung von Pestmaßnahmen betraut waren, den monatti³⁰⁶ und apparitori.³⁰⁷ Diese Berufsgruppen standen am untersten Ende der Hierarchie des Pestregimes und waren für viele Aufgaben zuständig, die sie in engen Kontakt zu den Pestkranken brachten. Dazu zählte die Durchführung von Leichentransporten, die Überführung von Pestkranken und -verdächtigen ins Lazarett, die Reinigung der Häuser und der pestinfizierten Gegenstände im Lazarett und in der Stadt. Weil das Pestpersonal scheinbar einen eigenen Nutzen aus der Pest zog, verdächtigte Tadino es, die Epidemie aktiv zu verbreiten: angeregt von der großen Freiheit und dem großen Gewinn, den die monatti und apparitori durch die Diebstähle, die sie begingen, machten, ließen sie des Nachts absichtlich und böswillig von den Leichenwagen Kleidungsstücke herunterfallen, die am nächsten Morgen von den gemeinen Leuten aus Habgier nach Hause getragen wurde, wo sie sich in kürzester Zeit selbst infizierten, wodurch der Nutzen für diesen Abschaum von monatti und apparitori noch wuchs.³⁰⁸
Dabei unterschlug Tadino, dass die für die Entsorgung der Leichen und die Purgation der Häuser zuständigen monatti nicht nur von der Pest profitierten, sondern sich auch der Gefahr der Ansteckung aussetzten. Das Risiko machte ihre Arbeit so unattraktiv, dass in Venedig und andernorts Prämien für die Anwerbung von Personal gezahlt wurden.³⁰⁹
306 Die Übersetzung des Begriffs monatti ist schwierig. Cohn spricht von plague workers. Vgl. Cohn, Cultures of Plague, S. 105, 257. Rodenwaldt behält die venezianische Variante picegamorti bei. Rodenwaldt, Pest in Venedig, S. 132. Hier wird der mailändische Terminus beibehalten. 307 Apparitori waren niedrigrangige Bedienstete, die vor den Wagen mit Kranken oder Toten hergingen und die Passanten mit einem Glöckchen vor der gefährlichen Fracht warnten. 308 „che gli Monatti, et Apparitori vedendosi la grande libertà, et utile del guardagno, per li furti, che facevano, à bella posta lasciavano la notte per malitia, cascare dalli carra delle robbe infette, et per la ingordigia della robba, la meschina gente alla mattina gli portavano alle loro case per tempo; d’indi à puoco s’infettavano, per lo che cresceva l’utile à questa canaglia de Monatti, et Apparitori.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 102. 309 Rodenwaldt, Pest in Venedig, S. 132–137. Ähnliche Rekrutierungsprobleme während der neapolitanischen Pest von 1656 bei Giulia Calvi: L’oro, il fuoco, le forche: la peste napoletana del 1656. In: Archivio Storico Italiano. Disp. III, 509 (1981), S. 405–458, S. 433. Dass sich diese Personengruppen bei ihrer Arbeit durch Diebstähle bereicherten und Frauen sexuell belästigten, wird
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Die Mailänder Anklagen wegen Pestschmierereien sind durch Manzonis Darstellung in I promessi sposi und Storia della colonna infame auch über den italienischsprachigen Raum hinaus bekannt geworden. Manzoni war sich bewusst, dass diese Art von Anschuldigungen seit dem sechzehnten Jahrhundert Konjunktur hatten und nannte sieben weitere Fälle.³¹⁰ Trotzdem hat die von ihm geschilderte Episode andere derartige Vorwürfe so in den Schatten gestellt, dass man sie für singulär halten könnte. Das waren sie nicht. Es sind zahlreiche Prozesse und Anschuldigungen wegen Pestschmiererei im Alpenraum zwischen 1530 und 1640,³¹¹ in Mailand³¹² und in Padua³¹³ während der Epidemie von 1575–1577 bezeugt. Auch der sizilianische protomedico Ingrassia referierte die Vorwürfe zustimmend.³¹⁴ Das belegt die räumlich und zeitlich weite Verbreitung der Verschwörungstheorie.³¹⁵ Die Wurzeln dieser kollektiven Paranoia lagen bereits in der Antike, insbesondere bei Thukydides, der beiläufig darüber spekulierte, dass die athenische Pest durch Gift verbreitet worden sei, ein Vorwurf, der von Seneca aufgenommen wurde, der von einer künstlich erzeugten Pest (pestilentia manufacta) sprach.³¹⁶ Die Geschichte der Idee der absichtlichen Pestausbreitung war zwar lang,³¹⁷ florierte jedoch erst seit der Frühen Neuzeit. Möglicherweise handelte es sich um eine Fortsetzung der spätmittelalterlichen Vorwürfe der Brunnenvergiftung. Seit 1321 wurde der Vorwurf der Brunnenvergiftung zumeist gegen Juden erhoben, was weniger in Prozessen als in Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung resul-
so häufig berichtet, dass es sich wohl nicht um eine Erfindung handelte. Vgl. Carmichael, Last Past Plague, S. 145 und Cohn, Cultures of Plague, S. 105. 310 Die sieben Fälle verortete Manzoni „in Palermo, del 1526; in Ginevra, del 1530; poi del 1545, poi ancora del 1574; in Casal Monferrato, del 1536; in Padova, del 1555; in Torino, del 1599.“ Manzoni, Promessi sposi, XXXII, S. 673. 311 Naphy, Plague-Spreading Conspiracies. 312 Carmichael, Last Past Plague, S. 149 f. 313 Dort warnte ein Pamphlet vor Pestschmierereien. Cohn, Cultures of Plague, S. 119. 314 Giovanni Filippo Ingrassia: Informatione del pestifero et contagioso morbo (1576). Vgl. Cohn, Cultures of Plague, S. 272, Fn. 40. 315 Die früheste Erwähnung scheint 1526 aus Palermo zu stammen. Vgl. Biraben, Les hommes et la peste en France II, S. 23 f. Die vollständige Geschichte dieser Beschuldigungen ist noch nicht geschrieben. Naphys Monographie deckt nur die Prozesse im Alpenraum ab. 316 Vgl. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg II, 48, S. 146; Seneca: De ira II, 9, 3. 317 „Die Annahme, ‚Pestwellen‘ seien in Wahrheit weder eine göttliche Strafe noch auf natürliche Gründe zurückzuführen, sondern auf Gift, ist gleichfalls alt; sie ist, wohl unabhängig voneinander, in verschiedenen Umkreisen belegt, sie taucht immer wieder auf, selbst noch bei den Choleraepidemien des 19. Jahrhunderts.“ František Graus: Pest – Geissler – Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit. Göttingen 1987, S. 301.
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tierte.³¹⁸ Seit der ersten großen europäischen Pestwelle zwischen 1345 und 1350 wurden stets Randgruppen verdächtigt, mittels absichtlicher Pestausbreitung konspirativ und feindselig zu agieren.³¹⁹ Die frühneuzeitlichen Vorwürfe der Pestschmierereien scheinen sich seit dem ersten gut untersuchten Fall, dem Genfer Prozess des Jahres 1530, direkt gegen Repräsentanten des öffentlichen Gesundheitswesens gerichtet zu haben, die in direktem Kontakt zu Pestkranken standen.³²⁰ So identifizierte nicht nur Tadino die Urheber der absichtlich verbreiteten Pestschmierereien mit den monatti, sondern auch zahlreiche weitere Autoren von Pesttraktaten. Bereits 1577 war die mailändische Pestbehörde mit dem Gerücht einer Verschwörung von Mönchen und Vertretern des Gesundheitsregimes konfrontiert, die die Pest durch die absichtliche Ausstreuung infizierter Gegenstände auszubreiten suchte.³²¹ Auch Lampugnano berichtete von ähnlichen Versuchen des Ausstreuens infizierter Textilien im sechzehnten Jahrhundert: In Padua wurde 1555 die Pest ausgebreitet, indem dort von einigen Leuten Leinentücher, Brot, Spielbälle und andere infizierte Gegenstände absichtlich in den Straßen ausgestreut wurden. Wenn sie von Unvorsichtigen aufgehoben wurden, infizierten sie sich an ihnen und starben.³²²
Im Fall der mailändischen Prozesse von 1630 richtete sich der Verdacht der absichtlichen Pestausbreitung mit der pestverbreitenden Salbe zudem auch gegen ein Medikament. Die Anklage wegen Pestschmiererei erforderte nicht nur die Aufklärung der Urheberschaft, sondern auch des Ursprungs der hochgiftigen Paste. Während in früheren Prozessen häufig ein übernatürlicher, diabo-
318 In Südfrankreich kam es 1321 zu Verdächtigungen dieser Art, ohne dass dort eine Pestepidemie geherrscht hätte. Vor der Pest richtete sich der Verdacht gegen Lepröse. Ebd., Pest, S. 301 f. 319 Vgl. hierzu insbesondere die Untersuchung von Séraphine Guerchberg: La controverse sur les prétendus semeurs de la ‚Peste Noire‘ d’après les traités de peste de l’époque. Revue des études juives 108 (1948), S. 3–40 und Samuel Kline Cohn: The Black Death and the Burning of Jews. In: Past and Present 196 (2007), S. 3–36. 320 Naphy, Plague-Spreading Conspiracies, S. 160 f. Schon die Vorwürfe der Brunnenvergiftung richteten sich mitunter gegen jüdische Ärzte, Kräutersammler und Mönche, die in die Krankenpflege involviert waren. Vgl. Graus, Pest, S. 301, Fn. 14 und S. 305–308. 321 Naphy, Plague-Spreading Conspiracies, S. 180. 322 „In Padova l’anno 1555 fù accresciuta la Peste, che ivi era da alcuni con panni lini, pane, palle da giuocare, e con altre tali cose infette, che questi a bello studio gettanvano per le strade: le quali pigliate da gli incauti, ne venivano infettati, e morivano.“ Lampugnano, Pestilenza, S. 59.
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lischer Ursprung der Pestschmierereien vermutet wurde,³²³ begnügte man sich in Mailand 1630 mit natürlichen Erklärungen. Bei der gelben Paste handelte es sich um eine Arznei, die mit üblichen Verfahren der Medikamentenherstellung gewonnen wurde. Die Beschuldigung des Barbiers Mora als Mitverschwörer war eine logische Notwendigkeit. Als sich bei der Durchsuchung der Barbierstube ein Kessel mit den undefinierbaren Resten einer gelbstichigen Lauge fand, richtete sich der Verdacht auf diese Substanz, deren Zusammensetzung ungeachtet ihres vermeintlich tödlichen Potentials von mehreren Medizinern und Wäschern gründlich untersucht wurde. Doch erst die Folter des Barbiers gab Auskunft über ihre Rezeptur: Es war Menschenkot, Lauge, [...] er bat mich darum, der Kommissär, um die Häuser damit zu beschmieren, auch war von dem Stoff dabei, welcher aus dem Mund der Toten läuft, die auf den Leichenwagen liegen.³²⁴
Damit wiederholte Mora die gängigen Annahmen über die Ingredienzien solcher Pestsalben. So nahm Federico Borromeo bei der mailändischen Epidemie von 1575–1577 an, dass sich Pestpasten und Pestpulver aus Kröten, Schlangen und den Sekreten Pestkranker zusammensetzten.³²⁵ Auch Tadino vermutete, dass Sekrete der Pestkranken enthalten waren: „sie benutzten die fauligen Sekrete der Pestbeulen, der dunklen Flecken und Geschwüre, zusammengemixt mit anderen Zutaten, die hier nicht zu Papier gebracht werden können.“³²⁶ Einen diabolischen Beitrag hielt Tadino ebenfalls für möglich. Dieser musste vor allem als Erklärung dafür herhalten, wie eine solche Menge von Salbe unbemerkt hergestellt und vertrieben werden konnte: man konnte nie in Erfahrung bringen, wo diese Paste in solcher Menge hergestellt werden konnte, nicht einmal durch die Prozesse, abgesehen von der Paste, die von dem Barbier hergestellt worden war, was wenig war, im Vergleich zu dem, was nach seinem Tod geschah, weshalb anzunehmen ist, dass es sich um eine übernatürliche Sache handelte, jede Nacht
323 Naphy, Plague-Spreading Conspiracies, S. 181. 324 Manzoni, Geschichte der Schandsäule, S. 131. Es handelt sich um eine Übersetzung aus den Prozessakten, für die Manzoni keine Quelle angibt. 325 Naphy, Plague-Spreading Conspiracies, S. 180. 326 „servirsi de escrementi putrilaginosi delli buboni, carboni, et antraci pestilenti misti con altri ingredienti, li quali per hora non conviene riporgli in carta.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 118. Dass der Kontakt mit diesen Sekreten bei den die Pestbeulen öffnenden Barbieren und Chirurgen zur Infektion führen konnte, ist aus moderner Perspektive zutreffend. Aber so kontagiös war die Substanz nicht, um damit Häuser zu bestreichen.
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Hunderte von Häusern mit der Paste angestrichen zu sehen, was eine enorme Menge der Paste verbrauchte.³²⁷
Die Logistik der Pestsalbenherstellung und -verbreitung war dem Arzt mit Affinität zum protomedicato, das für die Überwachung der Medikamentenherstellung zuständig war, so rätselhaft, dass er übernatürliche Ursachen, die arte diabolica, am Werk sah.³²⁸ Der Prozess gegen Piazza und Mora mündete in ihrer Hinrichtung und der anschließenden Errichtung einer Schandsäule an dem Standort von Moras Haus, das geschliffen worden war. Die Pestsäule sollte die Erinnerung an die Untaten der beiden Pestschmierer auch in Zukunft lebendig halten.³²⁹ Die Prozesse gegen Piazza und Mora beendeten die mailändische Panik vor Pestschmierereien jedoch nicht. Weitere Prozesse gegen angebliche Pestschmierer folgten.³³⁰ Wenn es sich bei der Hinrichtung Piazzas und Moras um eine einfache Sündenbockgeschichte handeln sollte,³³¹ so funktionierte sie außergewöhnlich schlecht. Sie erklärte zwar den exponentiellen Anstieg von Neuinfektionen im Juli und August 1630, warf aber das Problem auf, dass die Hinrichtung der ‚Täter‘ weder das Ende der Epidemie noch ihre Abschwächung bewirkte. Die rasante Ausbreitung der Pest war durch die Hinrichtung von Pestschmierern nicht zu stoppen. Dennoch rückte Tadino und nach seiner Aussage auch die Mehrheit der Mediziner, unter ihnen Settala,³³² nicht von der Theorie ab. Es wurde vielmehr vermutet, dass es noch mehr Täter geben musste, die eine großangelegte Verschwörung mit dem Ziel der Vernichtung der mailändischen
327 „mai s`è potuto cavare in che luogo si potesse fabricare tanta quantità di unguento, ne anco dalli processi sopra di ciò fabricati, se non di quello risultava fabricato dal Barbiere, che fù puoca cosa, rispetto al seguito doppò la sua morte, la onde credere si doveva, che il vedere ogni notte unte tante centinaia di case, et consumata quantità straordinaria di unguento in una sola notte, fosse cosa fuor di natura.“ Ebd., S. 118. 328 Ebd., S. 117. 329 Dinges erstaunt mit der These, man habe die Täter einer kollektiven condemnatio memoriae aussetzen wollen. Die Errichtung der Schandsäule mit dem durch die Inschrift beglaubigten Zweck, die Erinnerung an die Untaten im Gedächtnis der Nachwelt lebendig zu halten, läuft dem Ziel der Auslöschung aus dem öffentlichen Bewusstsein allerdings völlig zuwider. Vielleicht ist Dinges die Schandsäule entgangen. Sie verschwand 1778 aus dem Stadtbild. Vgl. Dinges, Pest und Staat, S. 93. 330 Auf Abb. 9 sind die verschiedenen Prozesse dargestellt. Unter Punkt M ist der Prozess gegen Giovanni Battista Farletta dargestellt, der in effigie hingerichtet wurde, da er schon während der Haft gestorben war. 331 So Dinges, Pest und Staat, S. 93 f. 332 Settala war nicht der aufgeklärte Mediziner, als den ihn Manzoni darstellte. Er äußerte sich verhalten zustimmend zur Möglichkeit des dämonischen Ursprungs der Pest. Settala, De peste, S. 19 f., 73 f. und Rota Ghibaudi, Settala, S. 32–34.
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Bevölkerung verfolgten. Es handelte sich weniger um eine Sündenbock- denn um eine Verschwörungstheorie, die chronologisch mit dem Höhepunkt der Epidemie zusammenfiel: die pestilentialische und giftige Infektion befand sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt ihres Wütens, obwohl der hohe Rat und der Tribunale di Sanità mit vereinten Kräften nach den Übeltätern suchten.³³³
Die gründliche Suche nach den Pestschmierern bewirkte allerdings weniger die Eindämmung der Seuche als die Intensivierung des Phantasmas.
5.4.2 Funktionen des Phantasmas der Pestschmierereien Es stellt sich die Frage, warum Tadino, der bereits eine große Menge kausaler Erklärungen für die Entstehung der Pest angeführt hatte, überhaupt noch eine weitere Pestursache benannte. Seiner Auffassung nach erreichte die Pest im Hochsommer 1630 eine neue Qualität hinsichtlich des Krankheitsverlaufs auf kollektiver wie auch individueller Ebene. Diese hielt er für erklärungsbedürftig. Tadino differenzierte zwischen einer natürlich verursachten, moderat verlaufenden Epidemie und einer künstlichen, durch Pestschmierereien verursachten Seuche, die sich durch eine extrem hohe Mortalitätsrate auszeichnete. Das schilderte Tadino am Beispiel der sizilianischen Epidemie des Jahres 1624, die zu Beginn nicht sehr schlimm war, die aber später durch die Böswilligkeit der monatti viel ärger wurde und die durch die von ihnen angerichteten Schmierereien mit Pest und Gift ein Blutbad unter der Bevölkerung anrichtete.³³⁴
Auch in diesem Fall verdächtige Tadino die gut bezahlten Totengräber der Habgier. Sie hätten die schon verlöschende Seuche mittels Pestschmierereien wiederbelebt, damit ihre Einkommensquelle nicht versiegte.³³⁵ Bei der Mailänder Epidemie von 1575–1577 sei dasselbe zu beobachten gewesen:
333 „[il] contagio pestilente, et venefico, il qual in quel tempo si trovava nel colmo del suo furore, non ostante che il Senato Eccellentissimo, et il Tribunale insieme con straordinarie diligenze non mancassero di ritrovare questi malfattori.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 115. 334 „la quale fù crudele non tanto nel principio, mà doppò ancora molto più peggiore per la malitia di quelli Monatti, con tanta strage di quei popoli per le untioni pestilenti, et venefiche da loro fabricate.“ Ebd., S. 119. 335 Ebd., S. 119.
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[die] Pest des Jahres 1576, während der eine ansteckende und giftige Salbe hergestellt wurde, um die Pest in der Stadt wiederzubeleben, indem Personen und Textilien gleichermaßen aus Geldgier beschmiert wurden.³³⁶
Damit unterteilte Tadino den natürlichen Verlauf einer Epidemie in zwei Phasen. Die zweite Phase kam nur durch menschliche Beihilfe zustande. Die logische Konsequenz war, dass sie dann auch von Menschenhand beendet werden konnte. Die Realität sah freilich anders aus. Die Pestschmierereien veränderten nicht nur den Gesamtverlauf der Epidemie, sondern modizierten auch Krankheitsbild und den Krankheitsverlauf der Individuen. Tadino nannte die künstlich hervorgerufene Pest „peste artificiosa“ – eine Variation auf Senecas „pestilentia manufacta“ und behandelte sie als eigene Spezies. Die „peste artificiosa“ wies einen eigenen Komplex von Krankheitszeichen und -symptomen auf und unterschied sich von der ‚natürlichen‘ Pest in Krankheitsverlauf, Ansteckungsweg, Infektiosität und Mortalität und übertraf sie in ihrer Wirkung: Denn wer bezweifelt, dass es möglich ist, derart ansteckende und giftige Salben herzustellen, die auf menschliche Körper aufgetragen, schlimmeren Schaden anrichten als die Pest selbst?³³⁷
Die künstlich hervorgerufene Pest unterschied sich gemäß Tadino auch substantiell von der natürlichen wie ein aus mehreren Ingredienzien zusammengesetztes Medikament, ein Kompositum, von einem Simplicium: diese giftige Krankheit ist gemäß dem Urteil der gelehrten und gebildeten Personen viel verheerender und schwerer auszulöschen, wenn sie von der Art der künstlichen Pest ist und zusammengesetzt aus viel mehr verschiedenen giftigen Ingredienzien als die normale Pest.³³⁸
Ähnlich wie Ficino schien Tadino davon auszugehen, dass die Anhäufung möglichst vieler Ingredienzien oder Wirkstoffe die Wirkung potenzierte. 100 schwach
336 „[...] la peste dell’anno 1576, nel qual tempo fù composto unguento contagioso, venefico per vivificare di nuovo la peste nella Città, ungendo le persone, et robbe insieme; solamente per il maladetto interesse del danaro.“ Ebd., S. 118 f. 337 „chi dubita dunque, che non possono comporsi unguenti di questa sorte contagiosi, et venefeci, che applicandogli alli corpi humani, sono di peggiore pernitie, che la medema peste?“ Ebd., S. 118. 338 „questo venenoso male; il quale à giuditio di persone perite, et dotte, e molto più crudele, et difficile di sradicarse, mentre è di questa sorte di peste artificiosa, et composta con simile sorte de ingredienti venefici pestilenti, che l’ordinaria.“ Ebd., S. 119.
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wirkende Ingredienzien zeitigten allein durch ihre Akkumulation schließlich eine durchschlagende Wirkung: For instance, if a hundred gifts of the Sun or Jupiter were scattered throughout a hundred plants, animals, etc., and you discovered them and were able to compound them and work them up into one form, in this you would actually seem already to possess completely the Sun or Jupiter.³³⁹
Ficinos astrologische und naturmagische Rezepturen spiegelten die frühneuzeitlichen Grundsätze der ars componendi medicamenta, der Medikamentenherstellung. Mit Ausnahme der paracelsischen Ärzte favorisierte die frühneuzeitliche Medizin pharmazeutische Komposita gemäß dem Prinzip ‚je mehr Ingredienzien, desto besser‘.³⁴⁰ Das beliebteste Mittel gegen die Pest war der Theriak, dessen aufwendige Herstellung in Italien schon im dreizehnten Jahrhundert unter öffentliche Aufsicht gestellt wurde, um eine gleichbleibende Qualität sicherzustellen.³⁴¹ Vor den Augen der einheimischen Ärzte wurde die Qualität der Inhaltsstoffe geprüft. Jeder Interessierte konnte dem Herstellungsprozess beiwohnen.³⁴² Das antike Universalmittel bestand aus 81 Ingredienzien, die bis ins späte sechzehnte Jahrhundert noch nicht alle identifiziert waren.³⁴³ Der neapolitanische Mediziner Donzelli schrieb dem Theriak eine geradezu universelle Wirksamkeit zu: Der Theriak ist besonders geeignet als Gegengift gegen Vipernbisse und gegen andere giftige Tiere, ebenso wie als Mittel gegen einfache und zusammengesetzte Gifte. Außerdem wirkt er gegen anhaltende Kopfschmerzen, Schwindelgefühle und Hörschäden, ebenso wie gegen die Fallsucht, den Schwachsinn [...], aber auch gegen Augenschmerzen, Halsschmerzen, Husten, Asthma, Blutspucken. Gegen Koliken, Cholera und Gelbsucht. Er hilft, Nierensteine zu sprengen, bei Schwierigkeiten beim Wasserlassen und bei Blasengeschwüren. Er weicht die Härte der Milz auf. Er wird gegen Fieberkrämpfe, gegen Wassersucht und Elefantitis verabreicht. Er löst die Menstruation aus und löst tote Embryos aus dem Bauch. Er mildert Gelenkschmerzen und hilft gegen Angst und melancholische Stimmungen und andere seelische Leiden. Und schließlich ist er ein sehr wirkungsvolles Mittel gegen die Pest.³⁴⁴
339 Ficino, Three Books on Life, S. 307. 340 Nur die Paracelsisten favorisierten die Simplicia. 341 Schmitz, Geschichte der Pharmazie I, S. 559 f. 342 Im siebzehnten Jahrhundert war die venezianische Theriakherstellung eine regelrechte theatrale Inszenierung und Touristenattraktion. Kalff, Pflanzenorchester, S. 21. 343 Richard Palmer: Medical Botany in Northern Italy in the Renaissance. In: Journal of the Royal Society of Medicine 78 (1985), S. 149–157, S. 152. 344 „La Teriaca è rimedio appropriato singolarmente alli morsi delle Vipere, e di altri animali velenosi, com’anche a i veleni semplici, ò composti. Giova di più alli continuati dolori del capo,
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Abb. 10: Theriak-Herstellung im frühen sechzehnten Jahrhundert
Die eingehende öffentliche Kontrolle schuldete sich nicht zuletzt dem immensen Verkaufserfolg des Medikaments, vor allem während den Pestepidemien. Tadinos Unterscheidung zwischen natürlicher und künstlicher Pest rekurrierte einerseits auf die pharmakologische Präferenz der pharmazeutischen Komposita wie dem Theriak. Andererseits verdächtigte der Mediziner genau diese Komposita, als Mittel zur Ausbreitung der Pest zu fungieren. Paradoxerweise
alle vertigini, et à i difetti dell’udito, e similmente al mal caduco, alla stupidità, [...], com’anche à i mali de gli occhi, alla raucedine, alla tosse, asma, sputo di sangue. A i dolori colici, colera, et Itteritia. Vale à rompere la pietra nelle reni, et alla difficoltà dell’orinare, et ulcere della vessica. Risolve la durezza della milza. Si dà utilmente ne i rigori delle febri, e nell’Hidropisia, e nell’Elefantia. Provoca i mestrui, e cava fuori dal ventre le creature morte. Mitiga ancora i dolori delle giunture, soccorrendo anche alle palpitationi, et effetti melancolici, et altre passioni dell’animo. E per ultimo si hà sicurissimo rimedio nella Peste.“ Giuseppe Donzelli: Nuovo, et universale theatro farmaceutico. Venedig 1667, S. 276.
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wurden mit dem Pestpersonal und Medikamenten systematisch jene Institutionen der Pestausbreitung verdächtigt, die eigentlich zu ihrer Bekämpfung dienten. Auch in ihrer Symptomatik unterschied sich die künstlich hervorgerufene Pest gemäß Tadino von der natürlichen. Sie verursachte keine äußeren Anzeichen wie Pestbeulen, und die Betroffenen starben rasch und ohne ersichtliche Krankheitszeichen: daher war es kein Wunder, dass eine solche Menge von Personen innerhalb von 24 oder 40 Stunden starb, ohne äußere Zeichen, oder jedenfalls mit nur sehr wenigen und an sehr versteckten Körperteilen.³⁴⁵
Dadurch ließ sich auch der Ansteckungsweg nicht mehr rekonstruieren: So starb eine große Menge von Menschen, bei denen man die Todesursache nicht feststellen konnte, da keine äußerlichen Zeichen bei ihnen auftraten und man auch nicht ausmachen konnte, ob die Infektion durch den Kontakt mit Pestkranken verursacht wurde oder durch die Berührung infizierter Textilien, weshalb man sicher war, dass sie beschmiert worden waren.³⁴⁶
Die Rekonstruktion des Ansteckungswegs war neben der Untersuchung der Krankheitssymptome ein wesentlicher Baustein der kontagionistischen Pestdiagnose. Wo sich dieser nicht nachvollziehen ließ, da zu viele Glieder der Ansteckungskette schnell und ohne eindeutige Pestsymptome starben, geriet die Diagnose ins Wanken. Auch das veranlasste Tadino, einen neuen Ansteckungsweg durch den Kontakt zu giftigen und hochinfektiösen Pestsalben in Betracht zu ziehen. Die Pestschmierereien fungierten also als Erklärung für eine rätselhafte
345 „perciò non era di meraviglia se tanta quantità di persone in 24 overo 40 hore morevano senza segni esterni di contagio pestilente, ò almeno molto pochi, et in parte remote del loro corpo.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 115. Vielleicht trat im Verlauf der Mailänder Epidemie tatsächlich eine neue Variante der Krankheit auf. Übergänge von einer Pest zur anderen wurden auch in dem berühmten Pesttraktat von Guy de Chauliac beschrieben (Inventarium sive chirurgia magna, 1363). Vgl. Cohn, Cultures of Plague, S. 65 f. Die von Tadino beschriebene Entstehung einer sekundären Lungenpest infolge einer Beulenpest ist vom Standpunkt der modernen Forschung plausibler als die umgekehrte Reihenfolge bei Guy, abgesehen davon, dass die Lungenpest eine Krankheit des Winters ist und hier mitten im Sommer aufgetreten sein soll. Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 73. 346 „Andava tutto ciò morendo quantità di persone, che non si sapeva la causa della loro morte non apparendogli segni esterni, ne si poteva sapere, che fosse stata per commercio con appestati, ne per haver tocco robbe infette, perciò si credeva per certo fossero unti.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 115.
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Symptomatik und eine auf normalem diagnostischen Weg schwer nachvollziehbare Ansteckung. Zugleich erfüllte die These der Pestschmierereien das von Settala formulierte medizinische Postulat, dass eine kollektive Wirkung einer kollektiven Ursache bedurfte.³⁴⁷ Somit stellen die Pestschmierereien während der Hochphase der Epidemie eine Kollektivursache dar, die in narrativer Hinsicht erst dann ins Spiel kam, als die Rekonstruktion des Übertragungswegs von Person zu Person angesichts der unüberschaubaren Menge an Neuinfektionen zum Scheitern verurteilt war.³⁴⁸ Die These der Pestschmierereien hatte auch eine wichtige narrative Funktion. Das quasi kriminalistische Erzählmuster der Rekonstruktion der Ansteckung funktionierte nur, solange es sich wie zum Beginn der Epidemie um wenige Fälle handelte. Sobald die Epidemie eine Vielzahl von Menschen betraf, versagte das Erzählmuster. Die Rekonstruktion aller Übertragungswege zwischen den vielen Fällen zum Höhepunkt der Epidemie war nicht nur medizinisch, sondern auch narrativ unbefriedigend. Spannend las sich das Narrativ nur bei Einzelfällen, die drohend auf das spätere Unheil vorauswiesen. Sobald die Epidemie eine kollektive Dimension erreicht hatte, änderte sich auch die Darstellungsweise. Wie andere katastrophale Ereignisse wie Kriege und Naturkatastrophen bedurfte das Pestnarrativ einer kollektiven Darstellungsform, bei der nicht der Einzelne, sondern viele summarisch das Subjekt der Erzählung bildeten, wie es sich etwa in der Bezifferung der Tausenden von Toten oder Kranken ausdrückte. Die These der Pestschmierereien fungierte als neue, kollektive Ursache für die massenhaften Neuinfektionen zum Höhepunkt der Epidemie im Hochsommer. Die zur „peste artificiosa“ mutierte Epidemie breitete sich nicht mehr durch den Kontakt von Person zu Person, sondern unpersönlich durch den Kontakt zu giftigen und hochinfektiösen Pestpasten oder ihrem pulverisierten Pendant, dem Pestpulver, aus. Die Theorie der Pestschmierereien forderte zugleich zur Suche nach den Tätern auf. Neben den Vertretern des eigenen Pestregimes gerieten erneut Fremde wie das französische Militär in den Verdacht. So erlitt die Mailänder Bevölkerung zum Höhepunkt der Seuche im Juli 1630 eine Art kollektive Panikattacke vor einem Überfall durch die französische Armee. Während einer Sitzung des Tribunale di Sanità wurde die Furcht derart übermächtig, dass sich die Bürger spontan kollektiv bewaffneten:
347 Vgl. hier Kap. 5.2.5. 348 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 115.
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man vernahm, dass die ganze Stadt zu den Waffen griff, aufgrund eines Gerüchts, dessen Ursprung unbekannt war, dass sich eine große Menge französischer Soldaten versteckt vor der Stadt befände.³⁴⁹
Die Mailänder fürchteten seitens des französischen Militärs weniger die militärische denn die biologische Offensive: man hörte, dass so viele Menschen [...] beschmiert worden seien, was sich auch bewahrheitete, denn viele von ihnen starben, teils mit äußeren Pestsymptomen, andere wiederum innerhalb von 40 Stunden ohne das geringste Pestsymptom, und es wurde behauptet, dass die Franzosen das getan hätten, um die mailändische Bevölkerung auszulöschen.³⁵⁰
Die Verdächtigung ausländischer Mächte als Urheber von Pestschmierereien war nicht singulär.³⁵¹ In der Mailänder Pest von 1575–1577 waren die Spanier in denselben Verdacht geraten.³⁵² Diese unwillkommenen Gerüchte wurden von den spanischen Statthaltern unterdrückt. Offensichtlich war es jeweils der wichtigste und präsenteste Gegner, dem gerüchteweise die absichtliche Pestausbreitung unterstellt wurde. 1630 erschienen statt der spanischen Habsburger die deutschen Habsburger und die französische Monarchie als Urheber der Pestverbreitung.³⁵³ Möglicherweise nahmen die realen Ängste vor militärischer Eroberung und aristokratisch-patrizischen Umwälzungsprozessen die Form irrationaler Ängste vor Pestschmierereien an. So endete 1450 die kurze republikanische Phase in Mailand mit dem Staatsstreich Francesco Sforzas, der die Schwächung der Regierung während einer Epidemie ausnutzte.³⁵⁴ Die Übertragung der Urheberschaft an den Pestschmierereien von den spanischen Habsburgern auf die französische Monarchie war nur vor dem Hintergrund der realen Erfahrung von Fremdherr-
349 „si sentì dare all’arma tutta la Città per causa di uno bisbiglio nato senza sapere l’origine, che quantità de Soldati Francesi si trovassero nascosti fuori della Città.“ Ebd., S. 128. 350 „al concorso di tanta gente, [...] s’hebbe per avviso, che [...] fosse unto molto numero di persone, come in effetto si ritrovorno, et molti di loro morsero, parte con segni esterni pestilentiali, altri in 40 hore senza un minimo segno di contagio, dicendosi ciò haver fatto fare li Francesi per anichilare il popolo Milanese.“ Ebd., S. 128. 351 Die Pestschmierereien in Mailand wurden 1630 wahlweise den Franzosen, Philipp IV., dem Herzog von Savoyen, Gonzalo de Cordoba, dem spanischen Statthalter des Herzogtums Mailand, und päpstlichen Gesandten zugeschrieben wurden. Tadino konzentrierte sich auf die Franzosen. Naphy, Plague-Spreading Conspiracies, S. 181. 352 Carmichael, Last Past Plague, S. 149. 353 Calvi, L’oro, il fuoco, le forche, S. 423. 354 Carmichael, Contagion Theory, S. 218.
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schaft möglich.³⁵⁵ Die Befürchtungen wurden zusätzlich durch die politisch-militärische Agitation der französischen Monarchie genährt, deren Armee die Grenze zum Herzogtum Mailand 1629 bei Susa im Piemont übertrat. Dort hielt sie sich noch im Januar 1630 auf.³⁵⁶ Die Furcht vor einer militärischen Eroberung wurde augenscheinlich in diejenige vor einer fiktiven biologischen Kriegsführung übersetzt. Die Panik vor französischen Pestschmierern war im Sommer 1630 immerhin so mächtig, dass sie zahlreiche Mailänder veranlasste, des Nachts freiwillig die Stadttore zu bewachen und durch die Straßen zu patrouillieren. In Hinblick auf die auf Isolation und Kontaktvermeidung gerichteten Pestmaßnahmen war das nächtliche Treiben auf den Straßen kontraproduktiv. Das vermutete auch Tadino, allerdings weniger wegen des zwischenmenschlichen Kontakts als wegen der angeblich allgegenwärtigen Gefahr der Pestschmierereien: „Aber das Umhergehen zahlreicher Leute war die Ursache dafür, dass viele dieser Personen beschmiert wurden und binnen kürzester Zeit starben.“³⁵⁷ Zum Höhepunkt der Epidemie erreichte die kollektive Furcht vor Pestschmierereien ihren Höhepunkt: Anfang des Monats August und im darauffolgenden Monat verging kein Tag, an dem man nicht große Neuigkeiten über diese schrecklichen Schmierereien in den verschiedenen Stadtvierteln vernahm, die alle nachts stattfanden, und von deren Urhebern man kaum einen fand.³⁵⁸
Die Verschwörungstheorie der Pestschmierereien kam also durch die Hinrichtung der beiden bekanntesten Protagonisten, Giovanni Piazza und Gian Giacomo Mora, nicht zum Erliegen, sondern breitete sich ebenso epidemisch aus wie die Pest selbst. Die Panik vor dem französischen Militär stellte den aktionistischen Höhepunkt der kollektiven Furcht dar. Das Verschwörungsnarrativ schloss an Tadinos militärische Metaphorik der allmählichen Annäherung der Epidemie an die Stadt Mailand, ihre Belagerung und schließliche Überwältigung an.³⁵⁹ Während Tadino das deutsche Militär für die Einschleppung der Seuche verantwortlich machte, verdächtigte er das französische der absichtlichen Pestausbrei-
355 Mailand wurde in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts gleich zweimal von Franzosen erobert. Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 1. 356 Ebd., S. 14, 72. 357 „Mà il caminare con tanta gente fù causa, che di queste persone molte fossero unte, et morsero in breve tempo.“ Ebd., S. 129. 358 „nel principio del mese di Agosto, et nel prossimo non vi era giorno, che non si sentissero grande novità di queste maledette untioni per le contrade di questa Città, il che tutto di notte succedeva, et pochi malfattori si ritrovavano.“ Ebd., S. 129. 359 Vgl. hier Kap. 5.3.4.
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Seuchenpolitik und Staatsräson: Die Mailänder Epidemie von 1629–1630
tung. Damit gab Tadino nicht nur eine medizinische Erklärung, sondern auch den Hinweis auf akute politische Probleme wie die militärische Bedrohung durch Nachbarstaaten. Auf der Handlungsebene erwies sich die Idee der französischen Verschwörung zur Vernichtung Mailands als unfruchtbar. Da de facto keine französischen Soldaten vor den Stadttoren Mailands lauerten, war es schwierig, nicht vorhandene französische Soldaten bei inexistenten Pestschmierereien zu ertappen. Dadurch wurden die Urheber der Pestschmierereien immer fiktiver. Mit der Hypothese der französischen Urheberschaft ließen sich die Täter zwar benennen, aber nicht mehr greifen. Damit war der fiktive Feind ebenso unsichtbar wie das nicht greifbare und doch allgegenwärtige Pestkontagium.
5.4.3 Medizinische Erklärungen der Pestschmierereien Wenngleich Tadino behauptete, dass die Mailänder Ärzte die Theorie der Pestschmierereien unisono befürwortet hätten,³⁶⁰ beglaubigte er sie mit nicht weniger als 29 Autoritäten. Die plötzliche Belegwut in dem sonst autoritätsarmen Traktat konterkarierte Tadinos Behauptung der allgemeinen Akzeptanz. Die 29 Autoritäten rekrutierten sich neben gelehrten italienischen Medizinern des sechzehnten Jahrhunderts wie Antonio Guainero, Girolamo Cardano, Bassiano Landi und Paolo Zacchia auch aus nichtmedizinischen Quellen wie Ovid, Seneca, Tacitus und Martin del Rio.³⁶¹ Neben Pesttraktaten berief sich Tadino auch auf Gifttraktate, zumal die frühneuzeitliche Ansteckungslehre im Anschluss an Ficino eng verwandt mit Vergiftungstheorien war.³⁶² Darüber hinaus wurde Gift wie die Pest schon frühzeitig der Gegenstand administrativer Regulierung. Vorschriften zur Giftabgabe gab es in den städtischen Medizinal- und Apothekerordnungen seit dem späten zwölf-
360 „Zu dieser Zeit gab es weder einen Mediziner noch einen anderen klugen Kopf, der anders von den Pestschmierereien dachte, oder dass sie nicht durch teuflisches Zutun fabriziert wurden.“ („In questo tempo ancora non fù Medico alcuno, ne persona intelligente, che havesse sentimento diverso di queste untioni pestilenti, che non fossero con arte diabolica fabricate.“). Ebd., S. 117. 361 Ebd., S. 121–123. Das deckt sich mit Cohns Befund, dass sich italienische Autoren von Pesttraktaten überwiegend auf andere italienische Autoren bezögen. Cohn, Cultures of Plague, S. 32–38. 362 Thorndike, Magic III, S. 525–45, Magic IV, S. 217 und Carmichael, Contagion Theory, S. 225.
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ten Jahrhundert.³⁶³ Die von Tadino genannten Gifttraktate bezeugten allerdings weniger die medizinische Möglichkeit von Pestschmierereien als die von Kontaktgiften.³⁶⁴ Als weiteren Beleg für die Existenz von Pestschmierereien führte Tadino andere historische Beispiele an. Er verwies auf ihr Vorkommen in Palermo und Messina und während der früheren mailändischen Epidemie von 1575–1577. Die Autorität dieser Gerüchte und Narrative stützte sich also vor allem auf ihre weite Verbreitung.³⁶⁵ Weiterhin versuchte Tadino, das Gerücht der absichtlichen Pestausbreitung durch einen Brief zu beglaubigen, den der spanische Gouverneur von Mailand 1628 vom spanischen König erhalten habe. Dieser habe vor vier Franzosen gewarnt, die nach einem vergeblichen Versuch der Pestschmiererei in Madrid auf der Suche nach einer neuen Wirkungsstätte seien.³⁶⁶ Mit dem spanischen König war eine wichtige politische Autorität benannt, die die rätselhaften Machenschaften beglaubigte.³⁶⁷ Der Brief belegte zugleich die Fiktion, dass Franzosen die Urheber der Pestschmierereien waren. Auch berief sich Tadino auf seine eigene Augenzeugenschaft. Er selbst habe 1629 zusammen mit Settala einen Mönch kontrolliert, der astrologische Traktate und pharmazeutische Produkte wie Pulver und Quecksilber mit sich führte und Wissen über die Mathematik, Medizin und insbesondere die Pest zu haben behauptete, die er 1624 in Palermo erlebt haben wollte. Tadino und Settala befrag-
363 Schmitz, Geschichte der Pharmazie I, S. 515, 532. Auch die Abgabe von Abortiva wurde darin geregelt. Abtreibungen kamen laut Tadino während Pestepidemien häufig vor, um der Gefahr zu entgehen, bei der Geburt zu sterben: „die armen Schwangeren fanden zum Zeitpunkt der Geburt weder Hebammen noch Freundinnen, die ihnen hätten helfen können, so dass sie während der Geburt sterben würden, wenn sie nicht vorher abtrieben.“ („le povere donne gravide, non ritrovavano nell’atto di partorire ne commadri, ne amiche, che le agiuttassero, in maniera che se non abortivano, morivano con li figliuoli nascenti.“) Dabei berief sich Tadino auf das Pesttraktat eines Ferdinando Epifanios, der häufige Abtreibungen als typisches Merkmal einer Pestepidemie bezeichnete. Es stellt sich die Frage, wie das Thema in anderen Pesttraktaten behandelt wurde. Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 116 f. 364 Das Potential von Kontaktgiften war jedoch gering. In seinem Kapitel über Giftanschläge erwähnte Settala zwar kursorisch die Notwendigkeit, Kleidung und Unterwäsche gut zu verschließen, ging dann aber nur auf die Vergiftung durch Nahrungsaufnahme ein. Vgl. Settala, Ragion di stato, S. 70–73. 365 Carmichael spricht von “recycled stories”. Dies., Last Past Plague, S. 140. 366 Vgl. Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 111. 367 Das war eine übliche Beglaubigungsstrategie von Gerüchten: „Neben der Fama wirkte 1321 folglich eine schriftliche Propaganda, die angebliche ‚Beweisstücke‘ verbreitete, echte und gefälschte Äußerungen der höchsten Autoritäten, des Papstes und des Königs, die alle geäußerten Vermutungen bestätigten und sanktionierten, den Gerüchten immer wieder Auftrieb gaben.“ Graus, Pest, S. 328.
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ten den mit falschen Papieren ausgestatteten entflohenen Mönch im Gefängnis zu seinen verdächtigen Pulvern, bevor er der Inquisition übergeben wurde.³⁶⁸ Noch vor dem Ausbruch der Pest wurden Pestschmierereien offenbar antizipiert. Schließlich folgerte Tadino aus der Existenz von Rechtsverfahren, dass das inkriminierte Delikt existieren müsse: Und dass Gift geschmiert wird [...], beweisen die Rechtsgelehrten indem sie jene bestrafen, die dieses Verbrechen begehen, wie es aus dem Gesetz Item obstetrix si quis vim ad l[egem] Aquileam hervorgeht.³⁶⁹
Der Rückschluss vom Verhalten der Institutionen auf die Existenz von Tatbeständen war angesichts von Verfahren wegen Hexerei, schwarzer Magie und gegen Tiere allerdings fragwürdig.³⁷⁰ Tadinos aufwendige Argumentation belegt jedoch, dass die Pestverbreitung durch Pestpasten und Pestpulver nicht die allseits anerkannte Theorie war, als die er sie präsentierte.
5.4.4 Nebenwirkungen der Pestmaßnahmen Die Verdächtigung des medizinischen Personals und pharmazeutischer Produkte als Agenten der Pestverbreitung lässt vermuten, dass dieses Phantasma auf den ambivalenten Charakter der Pestmaßnahmen selbst rekurrierte. Zumindest den Mailänder Ärzten, die sich weigerten, die Zuständigkeit für das Lazarett zu übernehmen, war bewusst, dass die Isolation der Kranken im Lazarett, die untereinander kaum isoliert waren, mitverantwortlich für die hohe Mortalität unter ihnen war.³⁷¹ Wenn im Lazarett, jenem Ort, der aufgrund von Pestmaßnahmen die höchste Ansteckungsgefahr aufwies, Pestschmierereien gesichtet wurden, so verwiesen diese darauf, dass die Isolation eine zweischneidige Maßnahme war. Sie schützte die Gesunden, aber gefährdete das Leben der Pestkranken und -verdächtigen. Die Pestschmierereien und ihre Medien, die Pestsalben und Pestpulver, zeigten die hohe Sterblichkeit im Lazarett diagnostisch an.
368 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 112. 369 „Et che si dij veneno per untione [...] lo provano i Giurisconsulti, mentre pongano pene à chi ciò commette, come appare dalla lege Item obstetrix si quis vim ad l[egem] Aquileam.“ Ebd., S. 121. 370 Graus verweist auf die beglaubigende Wirkung von behördlichen Reaktionen auf die Vorwürfe der Brunnenvergiftung, etwa durch die Absperrung von Quellen. Graus, Pest, S. 330. 371 Vgl. hier Kap. 5.3.2.
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Neben dem Lazarett, das wegen des engen Kontaktes der Insassen als Infektionsherd erster Güte galt, diskutierte Tadino Pestschmierereien – nunmehr in Pulverform – auch im Zusammenhang eines weiteren Phänomens, das viel Gelegenheit zu zwischenmenschlichem Kontakt bot, nämlich der großen Prozession zur Überführung der Gebeine von Carlo Borromeo, dem heiliggesprochenen Mailänder Bischof, der während der Epidemie von 1575–1577 zu Ruhm gelangt war. Prozessionen waren beliebte Pestmaßnahmen. Zusammen mit Votivgaben, dem Neubau von Sakralbauten zugunsten von Pestheiligen wie Sankt Rochus, Fabian und Sebastian, Mariens und weiterer lokaler Heiliger, von denen man sich die Befreiung von der Pest versprach, gehörten sie zu den wichtigsten religiösen Pestmaßnahmen. Politische Pestmaßnahmen verboten Messen und andere religiöse Zusammenkünfte, da Massenveranstaltungen gegen das Isolationsprinzip verstießen. Als Inszenierung der sozialen und religiösen Gemeinschaft waren Prozessionen allerdings so wirkungsvoll, dass sie häufig trotzdem stattfanden. So erteilte auch der Mailänder Stadtrat schließlich die Erlaubnis. Tadino betrachtete die im Hochsommer durch alle Stadtviertel mäandernde Prozession jedoch als Ursache der hohen Mortalität. Viele machten die „infizierte pulverisierte Kleidung, die durch die Wärme der nackten Füße [der barfuß gehenden Frauen] ins Fleisch aufgenommen worden“³⁷² sei, für die Ausbreitung der Pest verantwortlich. Tadino hingegen hielt es für viel wahrscheinlicher, dass es der Umgang der Infizierten mit den Gesunden an diesem Tag war, und die heiße Jahreszeit sowie die Zusammenkunft so vieler Personen, die Hitze, der Schweiß und die Dämpfe, die von den Infizierten ausgehen konnten, zusammen mit der schlechten körperlichen Verfassung [der Gesunden].³⁷³
Obwohl Tadino generell keinen Zweifel an der Existenz und Wirksamkeit von Pestpulvern hatte,³⁷⁴ hielt er diese nicht für die Ursache der starken Pestausbrei-
372 „robbe contagiose ridotte in polvere, et dal calore de piedi scalzi insupati nella carne.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 108. 373 „più verisimile, che fosse stato il commercio delle persone infette, con le sani per la giornata, et stagione molto calda, et per il concorso di tanto numero di persone, per il calore, sudore, et vapori, che potessero essalare da quelle creature infette di peste unite insieme, aggionta la mala dispositione delli loro corpi.“ Ebd., S. 108. 374 Tadino kolportierte einen Fall, in dem mit Pestpulver versetztes Weihwasser eine Mutter mit mehreren Töchtern ins Grab beförderte. Die Frauen tranken das Weihwasser. Ebd., S. 120 f. Das mit Pestpulvern vergiftete Weihwasser war offensichtlich ein Standardnarrativ der absichtlichen Pestausbreitung und stand in engem Zusammenhang zu den Brunnenvergiftungsvorwürfen. Während der Pest 1656 in Neapel kam es zu beiden Vorwürfen – Vergiftung von Brunnen und
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Abb. 11: Christus als Arzt
tung im Zuge der Prozession. Vielmehr hielt er die Prozession und deren Verstoß gegen das Isolationsprinzip für entscheidend. Lampugnano, der als Prior der religiösen Sphäre angehörte, von der die Pestmaßnahme der Prozession ausging, führte die Vielzahl von Neuinfektionen im Anschluss an die große Prozession wiederum auf Pestpulver zurück. Er erwähnte die Pestschmierereien erstmals in diesem Zusammenhang, wodurch er sie in ein enges chronologisches und kausales Verhältnis zur Prozession setzte. Er beklagte, dass das Gute unweigerlich das Böse auf den Plan riefe: „In dieser Weise [mit der Prozession] also unterstützten die Guten die öffentliche Gesundheit, während die Bösen nach Wegen suchten, um sie zu zerstören.“³⁷⁵ Dabei betrachtete er den Teufel als Komplizen der Pestschmierer: „Der Gegenspieler des Herrn, der das große Sterben veranlasst hat, leistet diesen teuflischen Menschen Hilfe und
von Weihwasser. Die Vergiftung des Weihwassers machte nur Sinn, wenn dieses regelmäßig getrunken wurde. Calvi, L’oro, il fuoco, le forche, S. 424 f. 375 „In tal maniera dunque i buoni alla salute del publico attendevano, e i cattivi si studiavano di rovinarlo.“ Lampugnano, Pestilenza, S. 42.
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lehrt sie, die ansteckenden Pulver und pesterregenden Salben herzustellen.“³⁷⁶ Das Bild rekurrierte auf die Konzeption von Christus als Arzt und Apotheker. Der Teufel nahm hier die Gestalt seines pharmakologischen Gegenspielers an: So wie dieser für die guten, heilenden Pharmaka zuständig war, oblag dem Teufel die Herstellung von Giften und den fiktiven ansteckenden Pestpasten- und pulvern. Tadinos und Lampugnanos Ansteckungsnarrative schilderten die religiöse Pestmaßnahme der Prozession in Hinblick auf das Ergebnis als ambivalent. Während Lampugnano als Vertreter der religiösen Ordnung behauptete, dass die Nachteile der Prozession medizinischer Natur waren – sie ermöglichte das Ausstreuen von Pestpulvern –, betonte Tadino als Vertreter des medizinischen Regimes, dass der Nachteil der Prozession religiöser Natur war, insofern als eine Prozession zwangsläufig zu einem großen Menschenauflauf führte. Obwohl beide Autoren die Ursache der Pestausbreitung infolge der Prozession in der Sphäre orteten, für die sie jeweils nicht verantwortlich waren, äußerten beide die vage Ahnung, dass die Pestmaßnahmen als solche problematisch waren. Die Theorie der absichtlichen Pestausbreitung konnte also auch dazu benutzt werden, die problematischen Aspekte von Pestmaßnahmen jeweils den Vertretern der anderen Sphäre zuzuschreiben und die eigene Verantwortung abzuwälzen.
5.5 Pest und Triumph des Todes bei Agostino Lampugnano 5.5.1 Pest und Staatsräson als göttliche Strafen Agostino Lampugnano war als Prior von San Simpliciano für einen vor den Stadttoren gelegenen borgo im Norden Mailands zuständig, der gemäß den Nekrologen während der Epidemien des sechzehnten Jahrhunderts eine hohe Mortalitätsrate aufwies.³⁷⁷ Sein Pesttraktat La pestilenza seguita in Milano l’anno 1630 (1634) ist mit 78 Seiten viel kürzer als dasjenige Tadinos. Die chronologische Pestnarration, die successio della peste, nimmt eine zentrale Rolle ein und erstreckt sich über zehn Kapitel. Das elfte und letzte setzt sich im Rückblick mit den Pestmaßnahmen und ihrer Effizienz auseinander. Lampugnano lehnte kausale medizinische und astrologische Gründe als erste Pestursache ab und kam zu dem Schluss: „Die Pest ist eine ansteckende Infektion, eine Plage, die Gott aussendet wann, wie und wo und zu wem es ihm
376 „L’adversario del Signore sollecito della strage delle genti sumministra a questi diabolici huomini aiuto, et insegna loro a comporre polveri contagiosi, et unguenti pestiferi.“ Ebd., S. 43. 377 Cohn, Cultures of Plague, S. 107, Fn. 34.
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gefällt, zur Strafe für die fehlbaren Menschen.“³⁷⁸ Damit führte er die Pest auf einen göttlichen Urheber zurück, der sich bei der Bestrafung der Menschen nicht nach Gesetzmäßigkeiten wie den Planetenbewegungen richten musste. Wie Tadino ging Lampugnano davon aus, dass die Pest nur ein Teil der göttlichen Strafen war: „Der Mensch war zu sehr gefallen und sündigte, und um seine Fehler zu korrigieren, bewaffnete Gott seine Rechte mit allen drei Geißeln.“³⁷⁹ Die anderen beiden Strafen waren erneut Hunger und Krieg und standen untereinander in einem anzeigenden Verhältnis. So konstatierte er: „Das war die Schranke, von der aus man von der ersten Plage des Kriegs zur zweiten der Hungersnot überging.“³⁸⁰ Die Abfolge der göttlichen Strafen unterlag also einer Gesetzmäßigkeit. Wo die eine war, war auch die andere nicht weit. Eine notwendige Reihenfolge gab es nicht. Jede konnte auf die baldige Ankunft der nächsten verweisen: So scherzen die drei Plagen untereinander, und wie die Geschichte lehrt, sieht man zuweilen der Hungersnot die Pest folgen, mitunter auch beide zugleich ein Blutbad unter der Bevölkerung anrichten, in anderen Fällen wiederum die Pest als Vorboten der Hungersnot.³⁸¹
Die Sukzession der drei göttlichen Plagen war für Lampugnano nicht nur eine Antwort auf die Frage der Pestursache, sondern auch das zentrale Erzählmuster für die Vorgeschichte und Anfangsphase der Epidemie. Die Heimsuchung der Mailänder durch die göttlichen Plagen entwarf die Pest von Anfang an als kollektives Ereignis. Im Unterschied zu Tadino verzichtete Lampugnano auf die Geschichte der Übertragung des Kontagiums von Person zu Person. Damit bereinigte er sein Narrativ von allen störenden Details und Ungereimtheiten, was ihm ermöglichte, die Abfolge der Ereignisse mit der Stringenz einer Tragödie zu erzählen. Für die Plage des Krieges machte Lampugnano mit der Staatsräson eine explizit politische Ursache verantwortlich. So lautete die Überschrift des zweiten Kapitels:
378 „la Peste è flagello d’infettione contagiosa, da Dio, quando, come, dove, et a chi lui piace vibrato, per punitione de gli uomini falli.“ Lampugnano, Pestilenza, S. 14. 379 „L’huomo troppo cadeva, peccava, e Iddio, per correggerlo, di tutti e tre i flagelli armava la Destra.“ Ebd., S. 15. 380 „Questo fù il varco, per lo quale si tragetto dal primo flagello della Guerra, al secondo della Carestia.“ Ebd., S. 20. 381 „Così scherzano trà di loro i mali, che come insegnono le Historie, si vede tal volta alla Carestia seguir la Pestilenza, tal volta ambedue insieme far de popoli macello; tal volta il contagio istesso essere stato l’apprestamento alla Carestia.“ Ebd., S. 20 f.
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Überheblichkeit, undankbare Tochter des Friedens. Staatsräson Ursache des Krieges. Richtete großen Schaden an. Auslöser der Hungersnot, und schließlich Ausbruch der bereits vorhergesagten Pest.³⁸²
Damit integrierte Lampugnano die moderne Institution der Staatsräson in den Katalog der göttlichen Strafen. Er schilderte sie als wildes Tier und Monster, das von Gott ausgesandt war, um den Frieden in den italienischen Territorien zu zerstören: So entfesselte Gott die erste [Plage], als er erlaubte, dass sich jenes verfluchte Monster, das sich Staatsräson nennt, aus den höllischen Verliesen befreite und [auf dem Erdboden] erschien, um den Frieden zu erschüttern, in dem Italien bis dahin lebte.³⁸³
Wie Tadino hatte Lampugnano den Mantuanischen Erbfolgekrieg im Blick, den er von den territorialen Ansprüchen des Herzogs Carlo Emmanuele I. von Savoyen ausgelöst sah.³⁸⁴ So stellte er den Herzog als von dem Dämon der Staatsräson überwältigt dar: „Dieses Monster weckte in der kriegerischen Seele des Herzogs von Savoyen alte [territoriale] Ansprüche.³⁸⁵ Unter Rekurs auf Aristoteles schilderte Lampugnano die Staatsräson als eine besondere Spezies von wilden Tieren. Während normale wilde Tiere entweder durch sexuelle Begierde oder Hunger zur Wildheit angestachelt wurden, war die ‚Bestie der Staatsräson‘ ein wildes Tier, dessen Blut und Körpersäfte dauerhaft verdorben waren.³⁸⁶ Die Staatsräson erschien damit als Krankheit, bei der das verdorbene Blut als humoralpathologische Ursache für die plötzliche Neigung zum Blutvergießen fungierte:
382 „Petulanza, ingrata figlia della Pace. Ragion di stato origine della guerra. Recò gran danni. Fù scala alla Carestia, e quindi si venne alla già preveduta Pestilenza.“ Ebd., S. 15. 383 „Scoccò dunque Iddio il primiero [flagello], quando permesse, che dalle carceri Infernali si sprigionasse quel maledetto mostro, che Ragion di Stato s’appella, e venisse a sconvolgere la quiete, che l’Italia si godeva.“ Ebd., S. 16. 384 Lampugnano kritisierte etwa die Ansprüche auf Monferrato. Das hatte auch damit zu tun, dass der Widmungsempfänger des Traktats, Carlo I. Gonzaga, Herzog von Mantua, Monferrato und Nevers war. 385 „Svegliò questo mostro nell’animo guerriero del già Duca di Savoia Carlo Emmanuele le antiche pretensioni.“ Ebd., S. 16. 386 Ebd., S. 16. Interessanterweise verwies der Prior auf die naturphilosophischen Schriften Aristoteles’, die eher nicht auf dem Lehrplan der Theologie standen.
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Dieses Blut, das zur freundlichen Einheit und zur Freundschaft zwischen Nachbarn und Blutsverwandten geneigt machen müsste, verwandelt sich in Lust an der Grausamkeit und am Töten.³⁸⁷
Staatsräson und Pest erschienen auch deshalb als verwandte Phänomene, da Pestepidemien in ihrer Hochphase oft ebenfalls als wilde Bestien apostrophiert wurden.³⁸⁸ Doch die Analogie von Staatsräson und Pestinfektion betraf auch die Symptomatik. Gemäß Lampugnano glich die Staatsräson dem vergifteten Blut, das ähnlich wie die Pest eine Vergiftung des ganzen Organismus bewirkte, wenn es zum Herzen gelangte. In politischer Hinsicht führte die ‚Krankheit‘ der Staatsräson zur Unfähigkeit, Freund und Feind auseinander zu halten: Aber die Staatsräson, sobald sie in einem Herzen Aufnahme gefunden hat, vor allem bei einem Fürsten, enthumanisiert sie die Menschlichkeit, so dass sie mehr verletzt als die Wunde selbst. Sie zerstört die Unterscheidbarkeit von Freund und Feind, Verwandtem und Fremdem, Unschuldigem und Schuldigem, und von Gläubigem und Ungläubigem.³⁸⁹
Die Staatsräson bewirkte im Individuum, insbesondere bei Herrschern, dasselbe wie die Pest auf kollektiver Ebene. Eine klare Unterscheidung zwischen Infizierten und Gesunden wurde unmöglich und führte zum gesteigerten Misstrauen zwischen den Menschen, so dass sie sich auch lange nach dem Ende der Epidemie nur sehr verhalten begegneten, wie Lampugnano schilderte: Die Freunde oder Verwandten, wenn sie sich zufällig begegneten, freuten sich über das Wiedersehen, und weil sie sich noch nicht dazu entschließen konnten, sich anzufassen, da sie einander nicht vertrauten, fassten sie sich nicht, wie sonst üblich, bei der Hand oder umarmten sich, sondern sprachen sich nur von weitem, froh, überlebt zu haben.³⁹⁰
387 „Anzi quel sangue, che servir dovrebbe, per cara unione, et amistà de’propinqui, e de consanguinei, si converte in attizzamento alle crudeltà, et alle stragi.“ Ebd., S. 16. 388 So etwa von Baravalle, nach dessen Aussage die Pest im Juni 1555 wie ein wildes Tier in Padua wütete: „Hebbe gran strage l’animal feroce.“ Cristoforo Baravalle: L’historia della peste di Padoa dell’anno MDLV (nach 1555). Zitiert nach Cohn, Cultures of Plague, S. 146. Ebenso besang Branchi das Ende der Epidemie als Befreiung von dem ‚angsterregenden Monster‘ und ‚wilden Tier‘ der Pest. Girolamo Branchi: Oratione [...] fatta per la liberatione della sua Patria dalla Peste. L’anno MDLXXVI (um 1577). Zitiert nach Cohn, Cultures of Plague, S. 142. 389 „ma la Ragion di Stato, tosto che alligna in alcun cuore, massime de’Grandi, così dishumana l’humanità, che infierita più della ferità istessa, toglie il discernimento tra l’amico, e’l nemico, tra’l parente, e lo stranio, tra l’innocente, e’l colpevole, e tra’l fedele, e l’infedele.“ Lampugnano, Pestilenza, S. 16. 390 „Gli amici, o parenti quando a caso s’incontravano, facevano le meraviglie in vedersi, e perche non s’assicuravano ancora di bazzicar insieme, non tenendosi sicuro l’uno dall’altro, non
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Wie die Pest brachte die Staatsräson eine Ununterscheidbarkeit von Dichotomien hervor und führte zur Vermischung von Disparatem, die nur durch eine Politik der Entmischung wieder aufgelöst werden konnte. Zudem schilderte Lampugano die Wirkung der Staatsräson analog zu der einer Epidemie. Sie war nicht nur giftig, sondern wirkte auch wie ein Kontagium. So erwies sich die staatsräsonbedingte Kriegsbereitschaft des Herzogs von Savoyen als kontagiös, indem sie dessen politische Gegner ebenfalls zu den Waffen rief. Kaum entschloss sich der Herzog zum Krieg, wurden sofort „die schärfsten politischen Maßnahmen ergriffen [...]. Wenn sich ein Fürst bewaffnet, müssen sich seine Nachbarstaaten ebenfalls bewaffnen.“³⁹¹ Die Idee, dass sich Kriege epidemisch ausbreiten, wird übrigens von der modernen Forschung unterstützt.³⁹² Lampugnano führte das Kontagium des von der Staatsräson verursachten Kriegs auf einen miasmatischen Ursprung zurück. Wie die Sonne die Feuchtigkeit aus dem Boden zog, extrahierten Kriege die materiellen Mittel des Herzogtums: Es genügt, sich diese Kriege als viele Sonnenstrahlen auszumalen, die aus dem ganzen mailändischen Staat die Reichtümer wie Dünste hervorzogen, ohne Erbarmen, um sie in Wolken zu verwandeln, die auf die genannten Orte hinabregneten, Regen von Vernichtung, Hagel von Musketenschüssen und Donner von Kanonen. [...] Oder vielmehr waren es Lichtstrahlen, die am Himmel bereits den von dem göttlichen Zorn vorbereiteten Blitz der Pest anzeigten, der sich anschickte, den mailändischen Staat sogleich durch Blitzschlag zu vernichten.³⁹³
Indem er die Staatsräson als Teil der göttlichen Strafen entwarf, dämonisierte Lampugnano sie und analogisierte sie hinsichtlich Ursache, Symptome und Wirkung einer Pestinfektion. Die Staatsräson war eine politische Krankheit. Wie
toccavansi, come s’usa di fare, la mano, ne meno s’abbracciavano: ma alla di lunge parlavansi, rallegrandosi d’esser sopra vissuti.“ Ebd., S. 76. 391 „Fù subito praticata la Politica Massima [...]. Quando un Prencipe arma, deonsi parimenti armar i vicini.“ Ebd., S. 17. 392 Die Anwendung eines quantitativen Modells der epidemiologischen Forschung auf die Kriegsführung führt zu dem Ergebnis, dass sich Kriege hinsichtlich ihrer räumlichen und zeitlichen Konzentration tatsächlich wie epidemische Krankheiten verhalten. Vgl. Henk W. Houweling, Jan G. Siccama: The Epidemiology of War, 1816–1980. In: Journal of Conflict Resolution 29 (1985), S. 641–663, S. 661. 393 „Basta a me di ravvisare queste Guerre per tanti raggi Solari; che da tutto lo Stato Milanese attrahevano in vapori le ricchezze senza risparmio, per convertirle in nuvole, ch’andavano a piovere sopra i mentovati luoghi, pioggie di danni, grandini di moschettate, e tuoni di canonate [...]. Overo erano baleni: che nel ciel dello sdegno divino, la già conceputa folgore della Pestilenza, mostravano, ch’era per tosto folgorar lo Stato.“ Lampugnano, Pestilenza, S. 18.
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die Pest war sie hochkontagiös. Durch die Integration der Staatsräson in das Register der göttlichen Plagen machte Lampugnano politische Gründe für die Entstehung der Epidemie verantwortlich. Diese lagen außerhalb seiner eigenen religiösen Sphäre, nämlich in der politischen und medizinischen, die er engführte. Als Teil des göttlichen Strafprogramms erhielten Politik und Medizin zugleich eine religiöse Funktion, die in der moralischen Reinigung der Menschen bestand.³⁹⁴ Vor diesem Hintergrund war es weniger relevant, was die Pest gesundheitlich als was sie moralisch anrichtete. Lampugnano hatte allerdings Zweifel, ob die Pest von 1630 moralisch die gewünschte Wirkung zeitigte und konstatierte am Ende resigniert: Nicht nur kann ich nicht erkennen, dass sich die Menschen gebessert hätten oder mehr Einsicht in ihre Fehler zeigten, sondern vielmehr haben sich die schlechten Sitten in diesem Jahrhundert sogar noch verschlimmert, weshalb ich die Menschen eifrig von neuem den göttlichen Zorn heftig entfachen sehe.³⁹⁵
Neben dem Narrativ der göttlichen Plagen rekurrierte Lampugnano mit dem Drama auf ein weiteres literarisches Genre, von dem er behauptete, dass es den Aufbau seines Traktats strukturierte. So kündigte er dem Leser eine Tragödie an, die auf dem Topos des Triumph des Todes beruhte. Er schilderte den anfänglichen Unglauben der Bevölkerung gegenüber der Existenz der Pest als Auftakt der Tragödie: „Mit der Ungläubigkeit zu diesem Zeitpunkt begann gewissermaßen auf offener Bühne die Prothese der Tragödie.“³⁹⁶ Die dramatische Wende fiel mit dem massiven Ausbruch der Epidemie in Mailand zusammen, den Lampugnano chronologisch nach der großen Prozession zu Ehren Carlo Borromeos ansetzte. Der Höhepunkt war mit dem eigentlichen ‚Triumph des Todes‘ erreicht – das war der Titel, den der Autor dem siebten Kapitel gab: „Beschreibung von Mailand. Schwierigkeit, die Pest zu heilen. Ihre Schrecklichkeit. Verursachte Schäden. Und Triumph des Todes.“³⁹⁷ Der Katastrophe ging jedoch die Peripetie voraus, wie Lampugnano im elften und letzten Kapitel formulierte: „Peripetie der Pest, durch
394 Die Darstellung der Pest als bellum divinum war ein Gemeinplatz, die Einbeziehung der Staatsräson war es nicht. Zur Pest als Krieg vgl. auch Athanasius Kircher: Scrutinium physicomedicum contagiosae luis quae dicitur pestis (1658). 395 „non solo non veggo migliorato e ravveduto de’suo’falli: ma deteriorato ne cattivi costumi questo secolo, e per precipitosamente correre ad attizzar di nuovo a furore lo sdegno divino.“ Lampugnano, Pestilenza, S. 76 f. 396 „La miscredenza all’hora quasi in ampio teatro incominciò la Prothesi della Tragedia.“ Ebd., S. 25. 397 Lampugnano erwähnte das Motiv selbst mehrmals, so etwa: „7. Descrittione di Milano. Difficoltà nel rimediar alla Peste. Sua horribilità. Danni recati. E trionfo della Morte.“ Ebd., S. 44.
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die Fürsprache der Mutter Gottes.“³⁹⁸ Die Wirkung der durch die Fürsprache Marias eingeleiteten Wendung des Geschehens ließ allerdings auf sich warten. Die Katastrophe sah er mit dem Zeitpunkt der höchsten Sterblichkeit von 1.300 Toten pro Tag gekommen: Schließlich war die Katastrophe der Tragödie erreicht, und die Pest verschwand plötzlich fast augenblicklich, so als ob die Erde nach der Aufnahme so vieler Leichen gesättigt war, oder der Tod müde geworden, dieses Volk zu bestrafen und zu dezimieren.³⁹⁹
Anschließend ging die Zahl der Toten rapide zurück: „Während zuerst täglich Tausende starben, waren es anschließend nur noch wenige, und zu Beginn des Jahres 1631 fast überhaupt niemand.“⁴⁰⁰ Dieser Befund entsprach kaum den Tatsachen, da die Mortalität weder in der Frühen Neuzeit noch zu einer anderen Zeit jemals bei Null lag. Zudem war die Pest um 1600 gar nicht die häufigste Todesursache.⁴⁰¹ Es war weniger die Realität denn die dramatische Konzeption des Stoffes, die nach der Heimsuchung durch die Pest eine vollständige Restitution forderte, und nicht die unspektakuläre Rückkehr zur normalen hohen Mortalität. Als Ursache für die Wendung der dramatischen Ereignisse und für das Ende der Epidemie benannte Lampugnano die Wundertätigkeit Mariens. Damit schrieb er das Ende der Pest nicht menschlichen Bemühungen, sondern der göttlichen Intervention zu: Man darf dies nicht der menschlichen Klugheit zuschreiben, die in diesen Angelegenheiten oft blind ist und vom fahlen Schimmer nicht allzugroßer Erfahrung getrübt, sondern vielmehr einem Wunder der Mutter Gottes.⁴⁰²
398 „Peripetia della Peste interceduta dalla Madre di Dio.“ Ebd., S. 72. 399 „Si venne finalmente alla catastrofe della Tragedia, quando, o fusse satia la terra di inghiottire tanti cadaveri, o stanca la morte dal colpeggiare, e sminuire questo popolo, cessò pure la Pestilenza quasi in un subito.“ Ebd., S. 72. 400 „Se giornalmente ne morivano le migliaia, vennero a pochi, et al principio dell’anno trenta uno, quasi a niuno.“ Ebd., S. 72. 401 Die pestbedingte Mortalität betrug in Frankreich zwischen 1600 und 1670 höchstens ein Fünftel der Kindersterblichkeit. Jones, Plague and Its Metaphors, S. 100. 402 „Non deesi cio ascrivere ad humana prudenza, che in cotali affari sovente é cieca, e nel barlume di non molto ferma sperienza annebbiata rimane: ma si bene a Miracolo della Madre di Dio.“ Lampugnano, Pestilenza, S. 72.
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Bei dem Begriff der menschlichen Klugheit, der humana prudenza, handelte es sich um einen Alternativbegriff zur Staatsräson.⁴⁰³ Daher hielt Lampugnano von ihr ebenso wenig wie von der Staatsräson. Auch Tadino, obwohl er Vertreter des Pestregimes war, führte die ‚Befreiung‘ Mailands von der Pest nicht auf Pestmaßnahmen, sondern auf die Fürsprache der Heiligen zurück. Während er in Mailand und in Casal Maggiore Wunder der Jungfrau Maria am Werk sah,⁴⁰⁴ waren es in Parma Carlo Borromeo und in Calvenzano Gera d’Adda die beiden Pestheiligen Rochus und Sebastian.⁴⁰⁵ Die These der Befreiung von der Pest durch die Fürsprache von Pestheiligen oder Mariens war ein verbreiteter Topos der Pesttraktate und der Kern eines eigenen literarischen Genres. Liberationi della peste oder liberationi della città konnten in Prosa oder in Versform verfasst sein.⁴⁰⁶ Pestgedichte und -gebete kursierten oft als Einblattdrucke und wurden wohl wegen ihrer Kürze häufig in andere Genres des Pestdiskurses wie Pestverordnungen (gride) oder Pesttraktate aufgenommen. Bei Tadino fanden sich ihrer zwei.⁴⁰⁷ Die ersten Exemplare dieses wenig untersuchten Genres stammten aus der ersten großen europäischen Seuchenwelle in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts. Mit den Gedichten und Gebeten wurden die Heiligen um die Fürsprache zur Befreiung von der Pest gebeten.⁴⁰⁸ Insbesondere Maria war eine wichtige Fürsprecherin in all ihren Erscheinungsformen, etwa als Madonna della Misericordia.⁴⁰⁹ Das war natürlich ein Reflex auf die reformatorischen und gegenreformatorischen Auseinandersetzungen um den Marienkult.⁴¹⁰ Gelegentlich kam es auch zur Anrufung heidnischer Götter.⁴¹¹ Mit der Behauptung der Intervention göttlicher Mächte in das irdische Geschehen rekurrierte Lampugnano in literarischer Hinsicht zudem auf das Genre des religiösen Spiels, dessen Verlauf von himmlischen Eingriffen bestimmt wurde.
403 Burke, Tacitism, S. 485. 404 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 133. 405 Ebd., S. 109, 133. 406 Cohn, Cultures of Plague, S. 142 f. 407 Das erste richtete sich an San Nicolò di Tolentino, das zweite war ein Mariengedicht. Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 107. 408 Cohn scheint davon auszugehen, dass es sich um nachträgliche Dankesgebete oder -gedichte handelte, aber das trifft auf die hier berücksichtigten Quellen nicht zu. Sehr wahrscheinlich sollten Gebete grundsätzlich von der Pest ‚befreien‘. Tadino merkte an, das zweite Gebet habe die Befreiung eines Konvents in Coimbra von der Seuche bewirkt („col mezzo della quale si liberò di peste un Convento di Monache di Santa Clara nella Città di Coimbra“). Ebd., S. 107. 409 Darüber hinaus gab es zahlreiche lokale Pestheilige. Mormando, Introduction, S. 28–30. 410 Vgl. Mormando, Pestilence, Apostasy, and heresy, S. 301. 411 Cohn, Cultures of Plague, S. 143.
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Trotz der Apostrophierung seiner Pestnarration als Tragödie war sie natürlich kein Drama, sondern ein Prosatext. Seine Handlung hatte aber, wie Lampugnano behauptete, die Struktur eines Dramas oder religiösen Spiels. Dabei rekurrierte er begrifflich auf den Aufbau des antiken griechischen Dramas. Gleichwohl fehlte mit der Dialogform das charakteristischste Element der Dramenform. Trotzdem hatte Lampugnanos Berufung auf das Drama insofern seine Berechtigung als die zeitgenössische Tragödie formal sehr frei gehalten sein konnte. So kam das Pestdrama La peste del 1630 (1632) des Observantenpaters Benedetto Cinquanta, das sich mit der Mailänder Epidemie von 1629–1630 demselben Thema wie Lampugnano widmete, mit einer szenischen Reihung ganz ohne Akte aus und ist daher als Dokumentartheater bezeichnet worden. Das Vorbild dieser Dramenform bildete die volkstümliche Franziskanerpredigt.⁴¹² Es ist sehr gut möglich, dass Lampugnano dieses Stück kannte. Die Inspiration für den Aufbau seiner eigenen Pestschrift kann sich ebenfalls dem Genre der volkstümlichen Predigten verdanken. Offensichtlicher war jedoch die Verwandtschaft mit einem anderen Genre, dem der Novelle.⁴¹³ Frühneuzeitliche Novellen waren verwandt mit Chroniken und bezogen sich häufig auf zeitgenössische Ereignisse.⁴¹⁴ Die Novelle war allgemein ein Genre, das einen großen Einfluss auf die Pestliteratur ausübte. Nicht zufällig stammt eine der einflussreichsten Pestschilderungen, diejenige Boccaccios, aus einer Novellensammlung. Manche Elemente in Lampugnanos Pestschrift waren jedoch untypisch für Novellen. So umfasste seine Darstellung der Pest den ganzen Erdkreis mit allen in ihm wirkenden göttlichen und diabolischen Mächten, die ins Geschehen eingriffen und dieses steuerten. Damit rekurrierte Lampugnano tatsächlich auf theatrale Formen wie das religiöse Spiel und das zeitgenössische Welttheater.⁴¹⁵ In Novellen war das Durchmessen des Erdkreises mit allen göttlichen und teuflischen Instanzen seltener. Novellen und Dramen standen um 1600 aber sowohl in der italienischen wie englischen Litera-
412 Volker Kapp u. a. (Hg.): Italienische Literaturgeschichte. Stuttgart, Weimar 20073, S. 205. Cinquanta war ein bekannter Prediger, der seine Predigten auch publizierte. Vgl. Benedetto Cinquanta: Le quaranta ore. Sermoni del Santissimo Sac[ramen]to novamente composti (1632). 413 Der Zusammenhang zur Novelle und zur volkstümlichen Predigt schließt sich nicht aus, da beide Genres mit exempla arbeiteten. Vgl. ebd., S. 84. 414 Erich Auerbach: Zur Technik der Frührenaissancenovelle in Italien und Frankreich. Heidelberg 19712, S. 41. 415 Noch Wolfgang Amadeus Mozarts und Lorenzo da Pontes Il dissoluto punito ossia Don Giovanni (1787) ist ein spätes Beispiel für das dramatische Konzept des Welttheaters, das alle irdischen und überirdischen Instanzen umfasst.
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tur in engen Zusammenhang, insofern Dramen und Opern sehr häufig Novellen zugrunde legten.⁴¹⁶
5.5.2 Die Pest als akustische Erfahrung Lampugnanos Prosatext verwendete zahlreiche literarische Verfahren. Dazu zählte etwa der häufige Gebrauch von Synästhesien. So vermittelte Lampugnano die Einstellung des öffentlichen Lebens während der Epidemie vor allem akustisch als ein allmähliches Verstummen der üblichen urbanen Geräusche. Lampugnano schilderte Mailand zunächst im Normalzustand als lebhafte Stadt mit vielen Fremden und starkem Verkehr: Dieses große Treiben von Ausländern und Bauern, diese Schlangen von Wagen feiner Damen und Herren und anderer Adliger, die normalerweise überall unterwegs waren und die Stadt füllten, verschwanden allmählich. Der Handel wurde eingestellt. [...] und in kurzer Zeit reduzierten sich die vielen Passanten auf einige wenige, und schließlich auf gar keine.⁴¹⁷
Anstatt des Straßenlebens, das die Plätze, Geschäfte und Straßen normalerweise akustisch füllte, herrschte nun gespenstische Stille: „die Heiterkeit der Stoffhändler, die über die verschiedensten Dinge lachten, die ihnen begegneten, das übliche Gelächter der Handwerker verwandelte sich in Wehmut und Traurigkeit.“⁴¹⁸ So geriet die Stille bei Lampugnano zum unheimlichen Merkmal der Pest, das vor allem zum Höhepunkt der Pest hervortrat: Dieser Lärm, der normalerweise auf den Straßen herrschte, die Stimmen der Händler an jeder Straßenecke, das Schlurfen der Fußgänger, das Getrappel der Pferde und [das Geräusch] der Wagen, das Schlagen der Hämmer und anderer Werkzeuge der Kunsthand-
416 D. Paul Schubring: Theater, Novelle und Bild in der italienischen Kunst des 15., 16. und 17. Jahrhunderts. In: Verzeichnis einer reichhaltigen und wertvollen Sammlung von alten Komödien und Tragödien, seltenen Werken über die Theatergeschichte und Theaterarchitektur, von festlichen Einzügen, Feierlichkeiten u.a.m. Hg. von C. Lang. Zürich 1905, S. II–VIII, S. VI f. Vgl. Shakespeares Romeo and Juliet, Measure For Measure und Othello und die zahlreichen Stücke, die aus Boccaccios Novellen hervorgingen, z. B. aus der letzten Novelle Griselda (X, 10) 417 „Quel gran concorso di forastieri, e di paesani, quelle fila di carrozze di gentildonne, di cavalieri, e d’alte nobili persone, che solevano scorrere per ogni canto, e vagamente la riempivano, andavansi scemando. Cessavano i traffichi. [...] e in poco tempo in somma la gran frequenza di tanta Città venne a poca, e di poca a nulla.“ Lampugnano, Pestilenza, S. 46. 418 „Que’ridenti fondachi per la varietà delle cose, che contenevano, quelle risate solite de’bottegari, si tramutò in mestitia.“ Ebd., S. 46.
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werker schwiegen plötzlich, als seien sie stumm geworden, und an ihrer Stelle erhob sich ein mattes Gemurmel von spitzen Schreien der Sterbenden, das den Zuhörern seltsam in den Ohren schmerzte.⁴¹⁹
Während die menschlichen Geräusche und Stimmen im Verlauf der Epidemie verstummten, erhoben sich die Stimmen der Kirchenglocken. So habe der mailändische Erzbischof Federico Borromeo dreimal tägliches Glockenläuten angeordnet, das vom Dom ausgehend zu den anderen Kirchen weitergetragen wurde: Neben dem Glockenschlag des Doms dreimal am Tag vernahm man auch jenes der anderen Kirchen. Die Menschen, die in ihren Häusern waren, sangen abwechselnd Psalmen und Litaneien und ließen die Stadt von ihren flehenden Stimmen widerhallen.⁴²⁰
Die Kirchenglocken gerieten zu diesem Zeitpunkt, zu dem keine öffentlichen Messen mehr stattfanden, zu einem der wenigen akustischen Signale, die in der ganzen Stadt zu vernehmen waren. Das Glockenläuten war allerdings ein ambivalentes Zeichen, da die für die Reinigung der Häuser und den Kranken- und Leichentransport zuständigen monatti zur Kennzeichnung ebenfalls mit Glöckchen ausgerüstet waren.⁴²¹ Äußerlich gekennzeichnet waren neben den monatti auch Ärzte,⁴²² Priester und andere höhere Funktionäre des Pestregimes durch das Tragen einer weißen Stola. Weiterhin war auch die jüdische Bevölkerung oftmals gezwungen, ein Kennzeichen zu tragen, ebenso wie andere soziale Randgruppen der frühneuzeitlichen Gesellschaft, darunter Prostituierte und Bettler.⁴²³ Diese unterschiedlichen Personenkreise mit Kennzeichnungspflicht trugen viel dazu bei, dass die Kennzeich-
419 „Quel rimbombo, che far soleva per le strade, e per ogni angolo la voce de’venditori, lo stropiccio de’caminanti, il calpestio de’cavalli, e di carrozze, lo strepito de’martelli, o d’altri stromenti de gli artigiani, ammutolito affatto taceva, et in sua vece haveva svegliato un flebile mormorio di discordanti stridori de’moribundi, che stranamente feriva le orecchie de gli uditori.“ Ebd., S. 50. 420 „Onde al suonar d’una campana del Duomo, tre volte al giorno, udivansi anche quelle delle altre Chiese. Le genti poi stando nelle proprie case, cantavano alternatamente salmi, e litanie, facendo rimbombar la Città di supplichevoli voci.“ Ebd., S. 37. 421 Vgl. z. B. Carmichael, Plague Legislation, S. 521. 422 Ärzte waren durch ihren eigenwilligen Mundschutz in Form riesiger Schnäbel ohnehin unverwechselbar. Vgl. hier Abb. 15. 423 Prostituierte hatten die doppelte Bürde der generellen Diskriminierung und der zusätzlichen Verdächtigung, eine besondere Risikogruppe bei der Übertragung der Pest darzustellen. Jüdinnen ebenfalls, da sie vielerorts zur selben Art der Kennzeichnung wie Prostituierte gezwungen waren. Vgl. Attilio Milano: Storia degli ebrei in Italia. Turin 1963, S. 588 f.
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nung selbst zu einem ambivalenten Zeichen geriet. Die Ambivalenz des Zeichens machten sich laut Lampugnano auch jene zunutze, die sich ungehinderten Zugang zu fremden Häusern verschaffen wollten: Drei junge Männer, die mit nicht sehr viel Verstand ausgestattet waren, hatten sich Glöckchen an die Füße gebunden, wie es die monatti tun, um auch für monatti gehalten zu werden.⁴²⁴
Während sich diese jungen Herren nur zum Spaß Zutritt verschafften, taten andere falsche monatti dies mit der Absicht des Diebstahls. Das führte zu verwirrenden Konfrontationen zwischen echten und falschen monatti: als sie die Glöckchen der monatti auf der Straße hörten, liefen die falschen monatti hinaus und verjagten ganz unverschämt die echten, die wiederum zur Gesundheitsbehörde eilten, um sie zu informieren.⁴²⁵
Das waren gemäß Lampugnano keine Einzelfälle.⁴²⁶ Das Glockenläuten war also ein vielschichtiges Zeichen, das ebenso gut die Kontinuität der religiösen Sphäre signalisieren konnte wie Quarantäne und Tod. Zudem gab es die Möglichkeit der Täuschung. Nicht zuletzt aufgrund des ambivalenten Charakters des Glockenklangs häuften sich gegen Ende der Epidemie Fälle von akustischen Halluzinationen, bei denen stets Glockenläuten vernommen wurde. Das galt insbesondere für die Glocken von Santa Maria delle Grazie: „Fromme Leute hörten deren Glocken wie durch ein Wunder von selbst schlagen.“⁴²⁷ Dieser Glockenklang wurde positiv, als Vorzeichen der göttlichen Gnade gedeutet. Religionspolitisch korrekt ging das wundersame Glockenläuten natürlich von der berühmten Marienkirche aus.⁴²⁸
424 „Tre Giovani, di poco cervello arredati, havevansi poste le campanella a piedi, come costumano i Monatti, per essere anch’essi creduti Monatti.“ Lampugnano, Pestilenza, S. 27. 425 „udendosi dalla strada le campanelle de’Monatti, usciron questi falsi, e con insolenza diedero la caccia alli veri, i quali corsero a darne notitia al Tribunale.“ Ebd., S. 28. 426 Er berichtete von 600 solcher Vorkommnisse. Ebd., S. 28. 427 „Le cui campane percio sono state da divote persone udite suonar da se stesse miracolosamente.“ Ebd., S. 73. 428 Im Refektorium des zugehörigen Dominikanerklosters befindet sich der Cenacolo, das letzte Abendmahl von Leonardo da Vinci.
Pest und Triumph des Todes bei Agostino Lampugnano
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5.5.3 Das Regime des Todes Gemäß Lampugnano verwirrte die Pest nicht nur die akustischen Signale, sondern hob auch soziale Grenzen und Dichotomien auf. Das wurde vor allem anhand eines Motivs des makabren Registers deutlich, dem Triumph des Todes. Der Triumph des Todes ist bekannter als Bildmotiv, das von der Schilderung der vier apokalyptischen Reiter der Johannes-Offenbarung inspiriert war, was zur Ikonographie eines geisterhaften Reiters auf einem fahlen Pferd anregte, der die Lebenden ohne Ansehen der Person niederritt.⁴²⁹ Der trionfo della morte existierte aber auch als literarisches Motiv, das die Ikonographie beeinflusste. Insbesondere Francesco Petrarcas verschiedene literarische trionfi inspirierten zahlreiche bildliche Darstellungen des trionfo della morte.⁴³⁰ Lampugnano entwarf den Tod jedoch nicht in der traditionellen spätmittelalterlichen Figur des skelettierten Reiters, sondern rekurrierte mit dem Triumphzug auf ein politisches Ritual der Renaissance.⁴³¹ So schilderte Lampugnano die mailändischen Leichenwagen, die das Straßenbild während der Epidemie prägten, als Triumphzug zu Ehren des Todes. Es schien, als habe Gott dem Tod einen Triumphzug gewährt, bei dem die Furcht als Herold diente, der Schrecken als Furier, und als Oberleutnant das Massensterben. Und von seinen Triumphen hochmütig gemacht, zog der Tod lange Reihen von Karren hinter sich her, die viele Monate lang täglich zu sehen waren, wie sie mit Toten beladen die Straßen füllten, um sie in den Tempel des Schattens zu bringen.⁴³²
Diese Gestaltung des Motivs des Triumphes des Todes bezog sich ganz untraditionell auf die reale politische Praxis der Triumphzüge der Renaissance-Fürsten, die von den antiken römischen Triumphen inspiriert war. Die heidnisch-antike Inspiration war bei Lampugnano daran ablesbar, dass Gott dem Tod einen Triumph gewährte wie die römischen Herrscher einem siegreichen Feldherren. Auch
429 Vgl. etwa Elina Gertsmann: Visualizing Death. Medieval Plagues and the Macabre. In: Franco Mormando, Thomas Worcester (Hg.): Piety and Plague from Byzantinum to the Baroque. Kirksville, MO 2007, S. 64–89, S. 69. 430 Ebd., S. 69. 431 Cohn hält das Motiv irrtümlich generell für einen obsoleten spätmittelalterlichen Topos. Cohn, Cultures of Plague, S. 147. 432 „che [...] Iddio [...] decretato havesse il trionfo alla Morte, alla quale per araldo servisse lo spavento, per forriere l’horrore, per tentente la strage, et ella superba per suo tronfei traheva lunghe fila di carri, che per molti mesi tutto dì vedevansi carchi d’estinti ingombrar le vie per passarsene al Campidoglio delle ombre.“ Lampugnano, Pestilenza, S. 50 f.
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Abb. 12: Straßenszene während der Mailänder Epidemie
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endete der Triumphzug nicht im christlichen Jenseits, sondern in einem heidnischen Schattenreich. Die vom Tod zur Schau gestellte Allmacht machte nicht den Eindruck einer religiösen, sondern einer politischen Herrschaft. Der Tod als politischer Herrscher war zudem demokratisch gesinnt. Das hielt Lampugnano jedoch wie die Mehrheit seiner Zeitgenossen für eine Schreckensherrschaft, die zur Aufhebung aller sozialen Unterschiede führte und ins sozialpolitische Chaos mündete, wie anhand seiner Schilderung eines Leichenwagens deutlich wird: Auf den Wagen, die zudem noch sehr zahlreich waren, sah man ununterscheidbar aufgehäuft bedeutende und unbedeutende Personen, Adlige und Nichtadlige, Herren und Diener, Arme und Reiche, Männer und Frauen, Junge und Alte durcheinanderliegen, manche nackt, manche bekleidet, manche halb ausgezogen, manche eingewickelt, manche nicht, in Tüchern oder Laken – sie alle zusammen bildeten ein sehr seltsames, zufälliges Aggregat, fast ein Kompositum für sich, das dem Grab Tribut zollte.⁴³³
Damit geriet der Leichenwagen geradezu zum rollenden Emblem für die Aufhebung der sozialen Ordnung und Hierarchie. Anstatt eines ständisch organisierten sozialen Körpers fand sich hier ein wirres Aggregat menschlicher Körper, der einen politischen Körper repräsentierte, dessen Glieder tatsächlich gleichwertig waren. Lampugnano entwarf die Pestzeit nicht als mundus inversus, sondern als eine Sphäre der Ununterscheidbarkeit, als Aufhebung der sozialen Hierarchie. Dem sozial gemischten Aggregat des Leichenwagens stellte Lampugnano die sorgfältige Schichtung der Leichen im Massengrab und die prosaische Leichenlogistik gegenüber, mit der er die Metapher des trionfo della morte realistisch unterfütterte. So beschrieb Lampugnano genau, wie die Leichen im foppone, dem neben dem Lazarett San Gregorio gelegenen Massengrab, aufgeschichtet wurden: Diese Massengräber waren riesige Gräben, die bis zum Grundwasser reichten, in welchen Schicht über Schicht gelegt wurde, das heißt, eine Lage Leichen, eine Lage Löschkalk, eine weitere mit Erde, und so weiter, bis sie voll waren.⁴³⁴
433 „Sopra i carri, che pure erano molti in numero, vedevansi confusa, et indestintamente giacere ammassati insieme grandi, e piccioli: nobili, e ignobili: padroni e servi: poveri e ricchi: maschi e femine: giovani e vecchi: tutti i quali chi ignudi, e chi vestiti, e chi quasi spogliati, involti, chi sì, chi nò, in panni, o in lenzuola: tutti i quali componevano un’assai strano aggregato per accidente, da essere poscia un composito per se, da recar per tributo alla fossa.“ Ebd., S. 49. 434 „Questi Fopponi erano una grandissima fossa, profonda fino alla sorgente dell’acqua, dentro a quali, si faceva strato sopra strato, cioè di cadaveri uno, di calce viva un’altro, et una’altro di terra, seguendo così fino al riempimento.“ Ebd., S. 35.
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Das war recht bald der Fall.⁴³⁵ Weil das Massengrab zudem so stank, dass die in der Nähe residierenden Mönche von San Primo die Flucht ergriffen, wurden zwei weitere Massengräber ausgehoben, die 60 Ellen lang und 12 breit waren, anders als die anderen, in welchen gewiss mehr als 40.000 Leichen bestattet wurden, ohne irgendein Problem mit den Ausdünstungen zu erzeugen, indem jeweils 12 Leichen quer gelegt wurden in dem Massengrab, das bis zum Grundwasser reichte, und jede Leiche wurde mit Löschkalk und Erde bedeckt.⁴³⁶
Minutiöse Anleitungen zur Bestattung waren ein beliebter Topos der Pesttraktate, die fast alle eine Einführung in die einschlägigen Schichttechniken des Massengrabs enthielten.⁴³⁷ Die Körper der Toten spielten nicht nur symbolisch, sondern auch praktisch eine wichtige Rolle im frühneuzeitlichen Ensemble von Pestmaßnahmen, auf das im Folgenden einzugehen sein wird.
5.6 Das mailändische Pestregime Dinges hat argumentiert, es habe im institutionellen Umgang mit der Pest keinen historischen Lernprozess gegeben, da diese nicht als kontinuierlich erfahren worden sei.⁴³⁸ Das Mailänder Pestregime von 1629–1630 zeichnete sich jedoch durch ein hohes Maß an Kontinuität gegenüber früheren Seuchenerfahrungen aus. So stand mit Settala ein Arzt im Dienst des Tribunale di Sanità, der bereits die Epidemie von 1575–1577 als Pestarzt erlebt hatte. Auch die Meldung der ersten Pestfälle in Mailand verdankte sich einem Geistlichen, der bereits wenige Jahre zuvor, 1624 in Palermo, Erfahrung mit einer Pestepidemie gemacht hatte.⁴³⁹ Neben der personellen Weitergabe spielte auch die genealogische und amtsmäßige Kontinuität eine Rolle. Genealogische Kontinuität war bei mehreren Mailänder Ärzte- und Chirurgenfamilien festzustellen. So stammte der Chirurg
435 „non bastava a dar sepoltura alla moltitudine di cadaveri la gran fossa del Lazaretto Grande, che con voce paesana, è detta il Foppone.“ Ebd., S. 35. Foppone ist wörtlich eine große Grube, von italienisch fossa (Graben, Grube) und mailändisch foppa. 436 „duoi altri Fopponi longhi sessanta brazza, et larghi dodeci diversi dalli altri, nelle quali per certo furno sepolti più di 40 V. cadaveri senza offesa di sorte alcuna de vapori, distendendose dodeci cadaveri al traverso del Foppone essendo di profondità fino all’acqua, et ciascuno restava coperto di calcina, et terra.“ Ebd., S. 127. 437 Einen Beobachter gemahnte die sorgfältige Schichttechnik gar an die Zubereitung von Lasagne. 438 Dinges, Pest und Staat, S. 81. 439 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 50.
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Catelano, der als Drisaldo Chirurgo della Sanità⁴⁴⁰ zusammen mit Tadino, Settala und Carcano im Dienst des Gesundheitsmagistrats stand, aus einer Familie von Ärzten und Chirurgen. Sein Vorfahr Giovanni Catelano war bereits in der Epidemie von 1468 als Pestarzt für die mailändische Pestbehörde tätig gewesen.⁴⁴¹ Auf Carcano traf dies ebenfalls zu.⁴⁴² Eine direkte Weitergabe von Pesterfahrung bestand natürlich auch zwischen Settala und seinem Nachfolger Tadino im Amt des protomedico. Auch die Errichtung kostenintensiver Institutionen widerspricht dem Befund, dass die Pest nicht als wiederkehrendes und kontinuierliches Phänomen wahrgenommen wurde. Der Beschluss zum Neubau von Pestlazaretten im fünfzehnten Jahrhundert nach beinahe 200 Jahren Pesterfahrung in Italien bezeugt, dass mit der Wiederkehr von Epidemien fest gerechnet wurde.⁴⁴³ Zudem stellten Pesttraktate ein wichtiges Mittel zur Weitergabe von Pesterfahrung dar. In diesen begann in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts auch der Austausch über Pestmaßnahmen. Mitunter wurden in ihnen ganze Pestordnungen tradiert. Wer Anregungen zur Organisation von Pestmaßnahmen suchte, fand sie in Pesttraktaten.⁴⁴⁴ Die Publikation dieser Schriften florierte vor allem während und kurz nach Pestepidemien. Es war oft ihre erklärte Intention, eine Richtschnur für Maßnahmen in zukünftigen Pestepidemien zu geben. Tadino und Settala betonten den Nutzen ihrer Pestschriften für zukünftige Epidemien. Während Settalas Anleitung für die chirurgische Behandlung von Pestexanthemen die Existenz von zukünftigen Pestbeulen voraussetzte, legitimierte Tadino den ausführlichen Bericht eines unklaren Pestfalls mit dem möglichen Nutzen seiner Beobachtungen für zukünftige Zweifelsfälle.⁴⁴⁵ Settalas lateinisches Pesttraktat De peste et pestiferis affectibus (1622) enthielt ein 20-seitiges Kapitel zu den mailändischen Pestbestimmungen, den sanitatis constitutiones.⁴⁴⁶ Diese bezogen sich auf die mailändische Epidemie von 1575–1577
440 Ebd., S. 76. 441 Carmichael, Contagion Theory, S. 222. 442 Vgl. Kap. 5.1.2, hier S. 291. 443 Zumal der Bau von lazzaretti in der Regel nach Pestepidemien beschlossen wurde. Slack, Introduction, S. 16. 444 Dinges meint, man hätte schwerlich eine andere Kommune um die Übersendung einer Pestordnung bitten können. Seit dem späten sechzehnten Jahrhundert hätte der Blick in ein einschlägiges Pesttraktat genügt. Vgl. Dinges, Pest und Staat, S. 82. 445 „per essere degno d’osservatione nelle future occasione sarà qui notato.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 91. 446 „Erectio magistratus sanitatis cum institutis ei rei consentaneis per excellentissimum mediolani ducem Franciscum Sfortiam vicecomitem.“ Settala, De peste, S. 322–343.
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und umfassten fast ausschließlich normative und administrative Regelungen. Ausführliche Informationen zur Pestordnung bezüglich der Epidemie von 1629– 1630 fanden sich bei Tadino und Lampugnano. So bot Tadinos Pesttraktat unter dem Titel „Lazarettregierung“ (Governo del Lazaretto) eine ausführliche Lazarettordnung, die mehrere Kapitel einnahm.⁴⁴⁷ Tadino und Lampugnano schilderten nicht nur die Pestmaßnahmen, sondern auch die Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Neu gegenüber früheren Traktaten war auch, dass sie sich bewusst auf die frühere Epidemie von 1575–1577 bezogen und Vergleiche anstellten.
5.6.1 Die Mailänder Gesundheitsbehörde nach Settala Settalas Regierungsnähe schlug sich in einem umfangreichen Kapitel zur Geschichte des Mailänder Gesundheitsmagistrats und zur aktuellen Organisation des öffentlichen Gesundheitswesens der Stadt nieder. Dabei führte er sämtliche Ämter und Funktionen des Tribunale di Sanità auf und bezifferte bei den gehobenen Positionen sogar die Höhe der Gehälter. Seine Unterscheidung zwischen Aufgaben in Pestzeiten (tempus pestis) und in pestfreien Zeiten (tempus salubris) macht deutlich, dass es sich um eine permanente Institution handelte.⁴⁴⁸ Die Gesundheitsräte (conservatores sanitatis) bekleideten das höchste Amt der Behörde. Den Räten standen zwei durch das Collegio dei medici ausgewählte Ärzte zur Seite. Darüber hinaus war auch der protophysicus Teil des Gesundheitsmagistrats.⁴⁴⁹ Das war das Amt, das Settala selbst innehatte. Den Räten waren mehrere Beamte unterstellt, ein Schreiber (20 Reichstaler), ein Chirurg⁴⁵⁰ (20 Reichstaler), drei Kommissäre (10 Reichstaler), zwei Ratsdiener (5 Reichstaler), ein Pförtner (5 Reichstaler), ein Schreiber für das Totenregister (5 Reichstaler) sowie Wächter (5 Reichstaler) des Pestlazaretts (hospitale purgatorium).⁴⁵¹ Der gut bezahlte Schreiber oder Sekretär war für umfassende Aufgaben der Buchführung zuständig. Ihm oblag die Protokollierung von Beschlüssen und Besprechungen des Gesundheitsmagistrats, die Abfassung und Veröffentlichung der Dekrete und die Aufzeichnung der Ausgaben des Magistrats. In Pestzeiten hatte er über Todesfälle und die verordnete ‚saubere‘ und ‚schmutzige‘ Quaran-
447 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 59–69. 448 Settala, De peste, S. 323. 449 Ebd., S. 322. 450 Das war während der Epidemie von 1629–1630 der genannte Catelano. Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 76. 451 Settala, De peste, S. 324.
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täne (purgationes mundorum, et immundorum) Buch zu führen.⁴⁵² Der Chirurg gehörte dem Magistrat offenbar nicht in gleicher Weise an wie die drei Mediziner, da er zu dem zusätzlichen Personal gezählt wurde. Die drei genannten Kommissäre waren von einem höheren Rang als die zahlreichen städtischen (commissarii urbanis) und territorialen Kommissäre (commissarii peregrinis).⁴⁵³ In Pestzeiten standen an jedem Stadttor Holzhütten mit Wachen, die rund um die Uhr die Passierscheine oder Gesundheitszeugnisse (bollette) der Reisenden kontrollierten.⁴⁵⁴ Die bollette wurden in Mailand von Bediensteten der Gemeinde ausgestellt und enthielten seit 1577 Informationen über die Gemeinde und den städtischen Bezirk, aus dem der Inhaber kam, seinen Namen, Familiennamen, Alter, Reiseziel, Grund der Reise und eine Personenbeschreibung.⁴⁵⁵ Das Wachpersonal, das sich aus dem Adelsstand rekrutierte, muss bei neun Stadttoren zumindest 18 Personen umfasst haben.⁴⁵⁶ In allen Stadtvierteln waren adlige deputati gentilhuomini für die tägliche Kontrolle der Häuser ihres Bezirks zuständig.⁴⁵⁷ Da der Adel zum Höhepunkt der Pest massenhaft floh, entstand ein gravierender Personalmangel. Er wurde zwar unter Androhung der Konfiskation ihrer Güter zurückbeordert, aber der Erfolg des Dekrets ist fraglich.⁴⁵⁸ Ob und wer diese vakanten Posten übernahm, ist unklar. In den städtischen Bezirken war gemäß Tadino folgendes Personal tätig: jede Pfarre hat einen Gemeindeältesten, jedes Viertel zwei Kommissäre und zwei Assistenten, einen Arzt, einen Barbier, und Inspektoren (visitatori) und jedes Viertel einen Gesund-
452 Ebd., S. 324. 453 Ebd., S. 330 und Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 87. 454 „Fuori di ciascheduna Porta, s’eran fabricate casuccie di legno per istarvi di giorno, e di notte le guardie. V’erano appresso rastelli grandi, dentro a quali, non si entrava, o si usciva, se non dopo fatta diligente inquisitione di dove si veniva, per dove s’era passato, e dove s’andava.“ Lampugnano, Pestilenza, S. 31. 455 Cohn, Cultures of Plague, S. 247, Fn. 35. 456 Zu den Stadttoren vgl. Johann Heinrich von Pflaumern: Mercurius Italicus. Hospiti fidus per Italiae. Praecipas, Regiones et urbes dux indicans explicans quaecumque in ius sunt visu ad scitu digna. Augsburg 1625, S. 450 und Latuada: „Si numerano 9. Porte, cioè 6. Maggiori, e tre Pusterle, o, come si chiamano dal volgo, Portelli, difeso essendo l’ingresso co’ponti levatori, e colla fossa aperta al di sotto; l’Edifizio estrinseco è l’Arco Romano.“ Latuada, Descrizione di Milano, S. XXV. Die Nebentore hießen eigentlich pusterie. 457 „Dentro poi alla Città in ciascheduna Porta, o Quartiere, che dir ci piaccia, come anche a caduna Parrochia, erano assignate persone nobili, e sollecite, ch’assistevano, e visitavano di giorno in giorno, bisognando, le case, e le habitationi d’ogn’uno, constringendo anche le persone, che ruolate tenevano a tal’effetto, a lasciarsi d’una in una vedere.“ Lampugnano, Pestilenza, S. 32 f. 458 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 115; Lampugnano, Pestilenza, S. 33.
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heitsbeamten, und dazu hat jede Kirchengemeinde Gesundheitsbeauftragte, und Adlige mit der Verpflichtung, zweimal die Woche einen Rundgang zu machen.⁴⁵⁹
Bei neun Stadttoren kommt man bereits auf elf Zuständige pro Einheit, was eine Summe von 99 Personen ergibt. Hinzu kamen 92 auf dem Stadtgebiet tätige monatti.⁴⁶⁰ Die Kompetenzen des Pestpersonals in den Vierteln überschnitten sich – gemäß Tadino und Lampugnano waren sowohl die Ärzte als auch die adligen Deputieren und die Gesundheitskommissäre für die Kontrolle des Gesundheitszustands der Einwohner ihres Viertels zuständig. Tadino berief sich auf das ‚Prinzip der 1.000 Augen‘: „mit vielen Augen kann es fast keine Gefahr geben.“⁴⁶¹ Dieses häufiger beschworene Prinzip bezeugt, dass die von Foucault behauptete ‚lückenlose Überwachung‘ gar nicht in der Absicht des frühneuzeitlichen Pestregimes lag. Dieses strebte vielmehr nach der systematischen Überschneidung der Kompetenzen, und zwar zur Herstellung eines Korrektivs und der wechselseitigen Kontrolle.⁴⁶² Die Gesundheitsbeauftragten der Viertel und Gemeinden hatten für die Einhaltung der Vorschriften der Pestordnung zu sorgen. Sie hatten außerordentliche rechtliche Befugnisse und verhängten Strafen ohne Prozess, die auf den Prangern vollstreckt wurden, die sich auf den meisten Plätzen der Stadt befanden.⁴⁶³ Die Gesundheitskommissäre unterstanden dem Tribunale di Sanità direkt und waren ihm gegenüber zur Berichterstattung verpflichtet. Ihnen standen Amtsdiener (apparitori) zur Seite. Außerdem waren sie gegenüber den monatti befehls-
459 „essendo per ogni Parochia uno Antiano, per ogni porta duoi Commissarij, et duoi apparitori, et un Medico, et un Barbiero, Visitatori, et in ogni porta il Conservatore della Sanità, et hora per ogni Parochia Deputati, più Gentil’Huomini con obligatione della visita due volte alla settimana.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 80. 460 Das ergibt sich aus Lampugnanos Angabe von 46 Leichenwagen und der Information: „Zu jedem Wagen gehörten zwei Totengräber und ein Pferd.“ Lampugnano, Pestilenza, S. 35. 461 „con tanti occhi quasi non vi potrà essere pericolo.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 80. 462 So wurden auch die Zahlen der Pesttoten oftmals gleich mehrfach erhoben, was eines der Probleme der modernen statistischen Analysen darstellt. Carmichael, Contagion Theory, S. 218–220. 463 „Alli Signori Deputati delle Porte, e delle Parrochie: perche più francamente essercitassero il loro fortito carico, fù data facoltà di poter senza processo, o altra tale informatione, gastigare chi non ubbidiva ai loro ordini, et commandi, massime quando essendo sequestrati in casa, e uscirne volevano [...] in tutte le piazze, e nelle contrade spatiose vedevansi alzati due travi, per dar la corda ai delinquenti.“ Lampugnano, Pestilenza, S. 36 f.
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Abb. 13: Brunetti: Das Mailänder Lazarett San Gregorio im Jahr 1630464
464 Die sechs dunklen Rechtecke mit abgerundeten Kanten oben im Bild stellen die Massengräber dar. Auf der Wiese sind zahlreiche Pesthütten zu erkennen. In der Mitte der Anlage befindet sich die Kapelle, il tempietto. Der Wasserlauf, der das Lazarett umgab, ist vorn im Bild als gestrichelte Fläche dargestellt.
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berechtigt. Gemäß Tadino waren die monatti für viele unangenehme Aufgaben zuständig: die Überführung der Kranken und der Pestverdächtigen ins Lazarett (monatti), die Reinigung der Häuser und Gegenstände (purgatori) und den Abtransport der Toten (sotterratori).⁴⁶⁵ Settala unterteilte die monatti in monatti brutti oder purgatores immundi, und monatti netti oder purgatores mundi.⁴⁶⁶ Während die monatti brutti für Aufgaben mit intensivem Kontakt zu den Kranken, infektiösen Gegenständen und Toten zuständig waren, kümmerten sich die monatti netti um harmlosere Aufgaben wie den Umgang mit den Pestverdächtigen. Tadino verwendete auch die weibliche Form monatte. Es gab offensichtlich weibliches Pestpersonal.⁴⁶⁷
5.6.2 Die Lazarettordnung Unter dem Titel Governo del Lazaretto referierte Tadino die Lazarettordnung.⁴⁶⁸ Dieses Vorgehen begründete er damit, dass die lateinischen Verordnungen für das weniger gebildete Personal unverständlich seien.⁴⁶⁹ Das Mailänder Lazarett erschien als zentraler Teil der städtischen Pestpolitik. Es diente der guten Regierung der öffentlichen Gesundheit, dass das außerhalb der Stadt liegende Hospital San Gregorio, Lazarett genannt, gewisse und bestimmte Regeln für seine Angestellten hat, und für seine eigene Leitung; Regeln, mittels derer es direkt jenen heiligen Zweck verfolgen kann, zu dem es eingerichtet wurde.⁴⁷⁰
Tadino nannte die öffentliche Gesundheit explizit das Ziel der guten Regierung („il buon governo“). Damit übertrug er einen wichtigen politischen Begriff auf die Organisation des öffentlichen Gesundheitswesens.⁴⁷¹ Das große quadratische Gebäude des Lazaretts hatte vier Trakte mit insgesamt 288 Räumen, von denen 3 Trakte mit 72 Zimmern für die Unterbringung der
465 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 88. 466 Settala, De peste, S. 333. 467 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 59. 468 Ebd., S. 59–69. 469 Ebd., S. 57. 470 „Convenendo al buon governo della publica salute, che l’Hospitale di Santo Gregorio detto Lazaretto fuori di questa Città, habbi certe, et determinate regole per li Ministri suoi, et per il suo governo, con le quali camini rettamente à quel fine, al quale santamente fù instituito.“ Ebd., S. 57 471 Il buon governo ist etwa auf dem bekannten Fresko Ambrogio Lorenzettis aus dem vierzehnten Jahrhundert im Palazzo Pubblico in Siena dargestellt.
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Patienten genutzt wurden.⁴⁷² Der vierte Trakt war um 1630 in baulich schlechtem Zustand. Daher empfahl Tadino seine Nutzung als Magazin für die Lagerung von haltbaren Lebensmittel und Heizmaterial.⁴⁷³ Das Lazarett war durch einen Wall und einen Wassergraben von seiner Umgebung isoliert; der Zugang war nur über wenige Zugbrücken möglich.⁴⁷⁴ In der Mitte des quadratischen Hofs befand sich eine von allen Seiten aus sichtbare achteckige Kapelle (il tempietto).⁴⁷⁵ Das Gebäude selbst war in vier verschiedene Sektionen aufgeteilt, entsprechend den Personen, die sich dort aufzuhalten hatten. Diese sind teils mit der Ausführung von Aufgaben betraute Personen, die sich Beamte nennen, teils Pestverdächtige und zum anderen Teil Pestinfizierte. Und sie haben Räumlichkeiten bestimmt für die ordnungsgemäße Reinigung der Güter und Waren.⁴⁷⁶
Der südliche Trakt besaß 33 Zimmer, in denen Pestverdächtige untergebracht waren und ein Großteil des Krankenhauspersonals wie der Krankenhausverwalter (custode), ein Buchhalter und die mit der Reinigung der Güter befassten städtischen Gesundheitskommissäre.⁴⁷⁷ Die ersten beiden Räume des Traktes waren dem Priester vorbehalten, der dritte dem Beamten, der für die Lebensmittelversorgung der Verdachtsfälle zuständig war. Zudem besaß der Trakt fünf Räume für widerspenstige Kranke. Der Teil des Traktes, in dem sich die Pestverdächtigen aufhielten, grenzte an die 72 Zimmer des östlichen Traktes, in dem ausschließlich Pestkranke untergebracht waren.⁴⁷⁸ Die Unterbringung dieser Sektion im östlichen Trakt schuldete sich wie die geographische Lage des ganzen Lazaretts im Osten der Stadt erneut miasmatischen Erwägungen. Im westlichen Trakt waren
472 Ebd., S. 57–59. 473 Ebd., S. 59. 474 Risse, History of Hospitals, S. 204. 475 Die Kapelle ist alles, was von dem mailändischen Lazarett übrig ist. Der Rest des Gebäudes fiel im späten neunzehnten Jahrhundert dem Wohnungs- und Eisenbahnbau zum Opfer. Dieter Jetter: Das europäische Hospital. Von der Spätantike bis 1800. Köln 1986, S. 80 und Beltrani, Lazaretto di Milano, S. 440 f. Vgl. Abb. 14. 476 „l’Hospitale di S. Gregorio detto Lazaretto compartendolo, et distinguendolo secondo le persone, che vi hanno da stare, le quali saranno parte gente deputata à qualche officio, che si chiameranno officiali, parte saranno le persone sospette, et l’altra parte gl’infetti, mà hanno assegnato il luogo delle purghe della mercantia con suoi ordini.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 57. 477 Hier wurde die Reinigung sämtlicher pestverdächtiger Güter, insbesondere Textilien aus der Stadt Mailand durchgeführt. Ebd., S. 68 f. 478 Ebd., S. 58 f.
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Abb. 14: Das Lazarett San Gregorio kurz vor dem Abriss im späten neunzehnten Jahrhundert
harmlosere Kranke wie pestverdächtige und pestinfizierte Frauen und weibliches Pestpersonal wie beispielsweise ein weiblicher Barbier untergebracht.⁴⁷⁹ Zum Höhepunkt der Epidemie, als sich gemäß Tadino und Lampugnano 16.000 Pestkranke im Lazarett aufhielten, dürfte die strikte Kompartimentalisierung allerdings zusammengebrochen sein. Während der Sommermonate residierte ein Teil der Patienten gar nicht im Lazarett, sondern unter freiem Himmel: Nach Auskunft der Kapuzinermönche befanden sich bis zu 16.000 Pestkranke im Lazzaretto Maggiore, von denen der größte Teil aufgrund ihrer Vielzahl im Freien lebte, der starken Hitze der Sonne und dem Grauen der Nacht ausgesetzt.⁴⁸⁰
Zeitweise war das mailändische Lazarett während der Epidemie ohne medizinische Betreuung, da der erste Lazarettarzt, Giovanni Battista Appiano, kurz nach der Übernahme der Leitung erkrankte. Das war keine gute Werbung für den
479 Ebd., S. 59. 480 „al Lazaretto Maggiore, per avviso de Padri Capuccini, se ne trovavano d’appestati fino al numero di sedici milla, alli quali per la loro moltitudine conveniva habitare la maggior parte in mezzo alla campagna esposti alli eccessivi calori del Sole, et horrori della notte.“ Ebd., S. 117.
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Abb. 15: Arzt mit Schnabelmaske während der Epidemie 1656 in Rom
Posten, der mit der Residenzpflicht im Lazarett verbundenen war – der Arzt durfte das Krankenhaus nicht verlassen. Noch während Appianos Genesung konnte der nicht aus Mailand stammende Arzt Carlo Romanò für den Posten gewonnen werden. Man versprach ihm eine kostenlose Lizenz, mit der er in Mailand als Arzt praktizieren konnte.⁴⁸¹ Doch trotz vieler Vorsichtsmaßnahmen starb der Arzt innerhalb von drei Wochen:
481 „di proporre à qualsivoglia Medico forense di dargli prattica senza spesa alcuna, gratia, et privilegio di non puoco momento [...] et di potere medicare nella Città con Medici Collegiati.“ Ebd., S. 105. Die Erlangung einer Lizenz war normalerweise mit hohen Kosten verbunden. Seit dem sechzehnten Jahrhundert florierte vielerorts ein städtischer Protektionismus, der es Ärzten schwer machte, an anderen Orten zu praktizieren als da, wo sie studiert hatten. Palmer, Physicians and the State, S. 55.
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dem Armen nützen weder die vier Brenneisen, der parfümierte Schnabel für die Nasenlöcher, noch alle Vorsichtsmaßnahmen, die man sich wünschen konnte, denn innerhalb von fünfzehn Tagen steckte er sich an und nach weiteren sieben starb er.⁴⁸²
Nachdem auch der zweite Lazarettarzt an seiner Aufgabe gescheitert war, konnte ein dritter nicht gewonnen werden. Daher blieb der Posten vakant und die 14 medici collegiati machten den Dienst im Lazarett im wöchentlichen Turnus, was dem Isolationsprinzip zuwiderlief. Das Interesse am Leben zu bleiben, war begreiflicherweise größer. Was ein einziger Arzt bei 16.000 Kranken ausrichtete, kann man sich ausmalen. Nicht nur der Lazarettarzt, auch der Krankenhauswärter (custode) hatte eine erdrückende Fülle von Aufgaben. Er war zuständig für die tägliche Kontrolle von 288 Räumen und die Führung von drei Büchern, in denen er täglich die Lebensmittelzuteilung an die Patienten, die Personendaten aller aufgenommenen Patienten, Informationen über deren Krankheitsverlauf, die zur Purgation gebrachten Gegenstände und die Namen ihrer Besitzer festhalten sollte.⁴⁸³ Eine solche Herkulesaufgabe konnte schwerlich von einer einzigen Person bewältigt werden. Wegen der Überlastung des Lazaretts entstanden in allen Bezirken dezentrale Einrichtungen zur Unterbringung der Kranken und zur Durchführung der Quarantäne. Zunächst wurden 5.693 Stroh- und 559 Holzhütten auf freiem Feld in der Nähe des Lazaretts und bei der Porta Romana errichtet, wo sie bereits während der Epidemie von 1575–1577 gestanden hatten.⁴⁸⁴ Neben den Pesthütten entstanden in den verschiedenen Bezirken temporäre Lazarette zur Unterbringung der Kranken, die jedoch in jeder Hinsicht unterversorgt waren: aber da sie nicht über die notwendigen Mittel verfügten, weder über Lebensmittel noch über Personal, nahmen sie einen so ungeordneten Anfang, bei dem die Genesenden und die Pestverdächtigen durcheinander gerieten.⁴⁸⁵
482 „al meschino non gli valse 4 cauterij, la picotera alle narici odorata, ne quante cautioni si poteva desiderare, che nel spazio de 15 giorni restò tocco, et finì la sua vita in sette giorni.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 106. Romanò starb in Übereinstimmung mit der Lehre von den kritischen Tagen am siebten Tag. 483 Das zweite Buch vereinigte offenbar die Funktionen des Aufnahmeprotokolls und der Krankenakte. 484 Das war eine verbreitete Praxis, vgl. etwa Rodenwaldt, Pest in Venedig, S. 131. 485 „mà non ritrovandosi le debite provisioni, ne del vitto, ne meno del governo, si diede principio talmente confuso, che gli convalescenti con li sospetti mischiandosi insieme.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 103.
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Mangels öffentlicher Versorgung war der Aufenthalt nur möglich, wenn der Patient imstande war, selbst für das Personal und die Lebensmittelversorgung aufzukommen. Am einfachsten war es daher, die Menschen zum Zweck der häuslichen Quarantäne (quarantena privata) in ihre Häuser zu sperren. Das Vorgehen führte allerdings zu hygienischen Missständen: Wenn eine Person erkrankt war und ins Lazarett gebracht worden war, wurden alle aus der Familie und der Wohnung für lange Zeit in ihren Häusern eingesperrt, in denen manchmal 30 oder 40 Personen auf einen einzigen Treppenaufgang, einen einzigen Brunnen, Zugseil und Abwasserkanal angewiesen waren. Auch wurden die Kleidungsstücke nicht zum Reinigungsort gebracht, wie es vorgesehen war. Nachdem die Insassen die 21 Tage der Quarantäne in ihren eigenen Räumen verbracht hatten, wurden sie von den Beauftragten der Gemeinde herausgelassen, ohne Reinigung der Häuser oder der infizierten Textilien.⁴⁸⁶
Wie bei der Betreuung von 16.000 Kranken durch einen einzigen Arzt und der Verwaltung des Lazaretts durch einen einzigen Angestellten handelte es sich auch bei der Praxis der häuslichen Quarantäne eher um eine symbolische Handlung denn um eine effiziente Pestmaßnahme.
5.6.3 Die Pestpolitik Tadino referierte auch Verordnungen des Tribunale di Sanità und Eingaben der Ärzte an den Rat.⁴⁸⁷ So wartete er mit einer mehrseitigen Liste von Vorschlägen für Pestmaßnahmen auf („Avvertimenti dati da i Fisici Carcano, Tadino, e Settali al Tribunale“), deren Implementierung die Ärzte dem Tribunale di Sanità empfahl.⁴⁸⁸ Die vorgeschlagenen Maßnahmen reichten von den üblichen sozialen Isolationsmaßnahmen wie der Vertreibung fremder Bettler und Vagabunden aus der Stadt⁴⁸⁹ über die der öffentlichen Hygiene, beispielsweise in Form der präventiven Aushebung von Gräbern bis hin zu wirtschaftspolitischen Erwägungen. Diese Vorschläge zielten in Richtung der frühneuzeitlichen Armen- und Sozialpolitik.
486 „se una persona s’infettava, et si conduceva al Lazaretto, di longo tutti di quella famiglia, et stanza si chiudevano nelle loro case, che alle volte sarebbero stati 30, et 40 con una sola scala, con un solo pozzo, corda, et condotto, et le robbe non si conducevano al luogo delle purghe, come di già si trovava stabilito, et restando nelle proprie stanze questa gente passati li 21 giorni di quarantena, li Deputati delle Parochie facevano la liberatione senza la purga delle case, et robbe infette.“ Ebd., S. 109. 487 Ebd., S. 9. 488 Ebd., S. 77–79. 489 Carmichael, Plague Legislation, S. 523.
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Die Mediziner machten insbesondere Vorschläge, wie die Produktion trotz der in seuchenprophylaktischer Hinsicht problematischen Heimarbeit fortgeführt werden konnte.⁴⁹⁰ Die Produktion in Heimarbeit war besonders im Sektor der Seiden- und Wollmanufaktur die übliche Wirtschaftsform.⁴⁹¹ Die Fortsetzung der Warenproduktion, die auf Heimarbeit angewiesen war, lag sowohl im Interesse der Produzenten als auch der Arbeiter.⁴⁹² Doch im Pestfall neigten die Hersteller dazu, die Produktion einzustellen, um zu vermeiden, dass die an Heimarbeiter ausgelagerte Ware beim Auftreten eines Pestfalls im Umfeld des Arbeiters vernichtet wurde, oder nur ‚purgiert‘, was in der Regel das Material schädigte und daher ebenfalls unpopulär war.⁴⁹³ Für arme Lohnarbeiter bedeutete die Stilllegung der Heimarbeit den vollständigen Verlust ihres Einkommens und daher oft den Hungertod.⁴⁹⁴ Trotz der problematischen Zirkulation der Rohstoffe und Waren plädierten die Ärzte für die Fortsetzung der Produktion, zumal der massive Anstieg der Arbeitslosigkeit das ungelöste Armutsproblem der frühneuzeitlichen Stadtstaaten noch verschärfte. Das Plädoyer, die Warenproduktion zum Wohl der Armen aufrechtzuerhalten, beruhte nicht nur auf christlicher Nächstenliebe. Denn Scharen arbeitsloser, hungernder Bürger bargen auch die Gefahr politischer Unruhen. Aus diesem Grund unternahm der toskanische Großherzog während der florentinischen Pest von 1630 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und gab den Woll- und Seidenherstellern einen achtzehnmonatigen Gratiskredit, damit sie die Produktion weiterführten.⁴⁹⁵ In Genua praktizierte die Administration während der Epidemie von 1656 dasselbe.⁴⁹⁶ Hunger und Pest gehörten für die Armen der Frühen Neuzeit sehr wohl zusammen. Hungersnöte gingen zwar Pestepidemien nicht voran, doch Epidemien führten zu Versorgungsengpässen.⁴⁹⁷ So waren es also nicht die Epidemien, sondern die durch diese verursachten Subsistenzkrisen, die zur politischen Rebellion führten. Die staatlichen Maßnahmen zur
490 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 79. 491 Ebd., S. 40 f. 492 „Acciò che ogn’uno intenda al Tribunale della Sanità essere sommamente à cuore, che si continavino quanto è possibile i lavorerij per sostenamento de poveri, et utile de Mercanti di questa Città.“ Ebd., S. 79. 493 Ein florentinischer Kommissär bedauerte 1631, 35 Kilogramm schönster Wolle verbrennen zu müssen. Das Bedauern des Besitzers dürfte noch größer gewesen sein. Cipolla, Public Health, S. 41. 494 Ebd., S. 42. 495 Ebd., S. 42. 496 Ebd., S. 42. 497 Mormando, Introduction, S. 26
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Beschäftigung und Versorgung der Armen waren nicht zuletzt von der Furcht der Wohlhabenden vor einem Aufstand inspiriert.⁴⁹⁸ Es mag überraschen, dass während der Mailändischen Epidemie von 1629– 1630 ausgerechnet die drei Mediziner des Tribunale di Sanità der Pestbehörde sozial- und wirtschaftspolitische Vorschläge unterbreiteten, die nicht der Logik der Vertreibung, sondern der Versorgung folgten. Dergleichen scheint in den Pesttraktaten im Gefolge der Epidemie von 1575–1577 noch nicht vorzukommen.⁴⁹⁹ Hier hatte offenbar ein Umdenken von der allenthalben diskutierten Möglichkeit der Vertreibung⁵⁰⁰ hin zur Beschäftigung und materiellen Versorgung stattgefunden.
5.6.4 Unfreiwillige Abenteurer: Ärztlicher Heroismus Der neapolitanische Anwalt Pietro Follerio befand in seinem Pesttraktat Ad instructiones urbanas (1577), dass die Pest schlimmer war als der Krieg und daher einer mindestens ebenso guten Organisation bedurfte.⁵⁰¹ Sehr wahrscheinlich war die frühneuzeitliche Analogisierung von Pest und Krieg, wie sie sich bei der Ansteckungslehre und den Pestmaßnahmen beobachten lässt, mehr als eine Metapher. Tadino war darüber hinaus der Ansicht, dass der Dienst am Staat während Pestzeiten mit quasimilitärischer Disziplin zu erledigen war. Wie der Belagerungszustand erforderte auch der epidemische Ausnahmezustand angesichts eines übermächtigen Feindes die unbedingte Loyalität der Ärzte gegenüber dem Staat und die Zurückstellung privater Interessen. So verbot sich beispielsweise die Flucht, gemäß dem beliebten Ratschlag der Pesttraktate mox fuge, longe recede, tarde redi (fliehe früh, weit fort und komme spät wieder). Das galt insbesondere für die Bediensteten des Staates. In Mailand verblieben 1629–1630 die meisten politischen Funktionäre und mit Pestmaßnahmen Betrauten auf ihren Posten. Auch die Tatsache, dass Settala
498 So schilderte es Besta, der während der Epidemie von 1575–1577 als Wächter an einem Mailänder Stadttor tätig war. Giacomo Filippo Besta: Vera narratione del successo della peste, che afflisse l’inclita città di Milano (1578). Vgl. Cohn, Cultures of Plague, S. 265. 499 Cohn, dessen sozialpolitisches Interesse außer Frage steht, erwähnt über die von ihm gesichteten Traktate nichts dergleichen. Cipolla zitiert mehrere Quellen für die Epidemien von 1630 und 1656. Cipolla, Public Health, S. 42 f. 500 Zahlreiche Beispiele bei Cohn, Cultures of Plague, S. 224–227. 501 Pietro Follerio: Ad instructiones urbanas et regias pro custodia pestis brevis apparatus praefectis sanitatis non inutilis (1577). Vgl. Cohn, Cultures of Plague, S. 247, Fn. 38.
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seinen Maßnahmenkatalog zur Pestprävention an die richtete, die nicht fliehen konnten, zeugt davon, dass Flucht nicht die einzige Option war: Ich könnte als erstes den Rat geben, früh zu fliehen, weit fort und spät wiederzukehren. Aber da das nicht allen möglich ist, entweder wegen der öffentlichen Verwaltung, der Seelsorge oder der Sorge für den Körper, oder wegen der Ämter und Magistraturen, oder schließlich auch mangels Unterkunft oder Geld, müssen Maßnahmen für jene, die dableiben müssen, gefunden und angewendet werden.⁵⁰²
Die Flucht existierte für Settala nur im Konjunktiv und wurde gar nicht diskutiert, da die Geflohenen keinen weiteren Bedarf an präventiven und therapeutischen Pestmaßnahmen hatten. Settalas intendierte Leserschaft rekrutierte sich aus den von ihm genannten Berufsgruppen und sozialen Schichten. Auch um 1630 war es nicht selbstverständlich, dass die Vertreter der politischen Ordnung und die Mehrheit der Bürger an dem pestbefallenen Ort verblieben. Das war in Norditalien die Frucht jahrhundertelanger Übung. Die gewünschten Verhaltensweisen bildeten sich unterstützt von einem staatlichen Sanktions- und Belohnungsregister aus. Zu den Belohnungen gehörten die Entschädigung im Fall der Vernichtung von pestinfizierten Gütern und die berufliche Involvierung zahlreicher Personen in das Pestregime, das für den Beschluss und die Durchführung von Pestmaßnahmen zuständig war. Auch die Schaffung gut bezahlter permanenter Ämter im Gesundheitsmagistrat, die von ihren Inhabern nicht ohne Verlust ihres Ansehens verlassen werden konnten, gehörte dazu. Die personelle Einbeziehung vieler Bürger in die Pestpolitik dürfte dazu beigetragen haben, dass Epidemien als kollektives politisches Ereignis wahrgenommen wurden, dem man sich nicht einfach durch Flucht entzog. Wo solche Anreize fehlten, wie im Deutschen Reich, blieb die Flucht die erste Wahl.⁵⁰³ Obwohl also nicht zuletzt finanzielle Anreize die Bürger in der Stadt hielten, schilderte Tadino die Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten während der Epidemie als soldatische Tugend. So appellierte Tadino an Bedienstete des Staates, die für die Durchführung der Pestmaßnahmen zuständig waren: Deshalb muss der gewählte Kommissär immer das Allgemeinwohl und die öffentliche Gesundheit vor Augen haben und diese sehr eifrig und gewissenhaft schützen. Er muss sich nicht nur davor hüten, eine Maßnahme nicht gut durchzuführen und dafür noch Geld zu
502 „Potrei per il primo precetto proporre il Fugire presto, Lungi, et il Ritornar tardi; mà perche ciò à tutti non lice, per amministrationi publiche, ò appartenenti all’anima, ò al corpo, ò à offici, e magistrati, ò finalmente per mancamento di commodità, ò de denari: bisognerà ritrovare qualche aviso per quelli, che sono necessitati à rimanersene, e pratticare.“ Settala, Preservatione, S. 33. 503 Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 129.
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verlangen, sondern auch mit aller Macht davor, sich den Ruf zu erwerben, den Eigennutz zu verfolgen, denn dieser Ruf ist nicht sehr weit entfernt von jenem, ein Vaterlandsverräter zu sein. Denn jedes Mal, wenn ein vom Geld verführter Kommissär seine Pflicht nicht korrekt erfüllt, verursacht die Pest ein schlimmeres Blutbad in der Stadt als wenn er sie den Feinden übergeben würde.⁵⁰⁴
Damit empfahl Tadino den Gesundheitskommissären, die während der Epidemie im staatlichen Auftrag tätig waren, eine Art von Amtsethos, dem sie offenbar von allein nicht zuneigten.⁵⁰⁵ Die Heroisierung, die in der quasimilitärischen Bereitschaft bestand, sein Leben für die politische und soziale Gemeinschaft zu riskieren, betraf nicht nur das Amt der Kommissäre, sondern verschiedene Funktionäre des Pestregimes. Insbesondere die Ärzte neigten dazu, sich selbst als heroische Kämpfer gegen einen tödlichen Feind zu stilisieren. Diese Tendenz lässt sich nicht erst im achtzehnten Jahrhundert feststellen, wo etwa der berühmte Pestarzt François Chicoyneau seinen furchtlosen medizinischen Kontakt zu den Kranken während der letzten großen Epidemie in Marseille von 1720–1722 als Gladiatorenkampf zugunsten der öffentlichen Gesundheit entwarf: [Chicoyneau] appeared in the city and entered all the infirmaries. The beds of the plague victims did not frighten him. He approached them calmly, examined them as he would have examined a tertian fever, himself breathing the air that came from the mouths of these wretched folk. He consoled them, he fed them with bouillons. He put his hands on the open buboes, he opened cadavers covered with the ravages of the disease.⁵⁰⁶
Der Selbstentwurf von Ärzten als unerschrockenen Helden im Kampf gegen die Epidemie fand sich zusammen mit der kriegerischen Metaphorik der Pest als militärischem Feind bereits in Tadinos Pesttraktat von 1648. So schilderte Tadino seinen eigenen medizinischen Dienst und jenen Settalas an den Kranken im Lazarett in ähnlich heroischem Ton wie Chicoyneau:
504 „Perciò il Commissario eletto doverà sempre haver avanti gli occhi il bene universale, et la publica salute per essere molto diligente, et accurato nel custodirla, mà solamente guardandosi di commettere cosa non sia ben fatta, per qual si voglia premio; ma fugendo anco ad ogni potere il solo nome d’interessato, il quale non è molto lontano dal nome di traditore della Patria, facendo per lo più strage maggiore della Città la peste; che li Nemici, alla quale il Commissario la darebbe in preda, tutta volta che corrotto dal danaro non facesse giustamente l’officio suo.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 88. 505 Tadinos deutet den häufigen Amtsmissbrauch durch Kommissäre und monatti an. Er berichtet von willkürlicher Verhängung und Verlängerung der häuslichen Quarantäne, wobei es offensichtlich darum ging, sich die Aufhebung der Maßnahme bezahlen zu lassen. Ebd., S. 82. 506 Jones, Plague and Its Metaphors, S. 118.
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Neben vielen anderen Aufgaben versäumten sie nicht, jeden Tag die Pestkranken zu visitieren und zu behandeln, die sich zu diesem Zeitpunkt dort [im Lazarett] befanden, sie scheuten kein Risiko, um ihre Aufgabe zu erfüllen, voller Wohltätigkeit gegenüber den armen Quarantänisierten.⁵⁰⁷
Ein Heldentod für seine neue Heimat schrieb er auch dem zweiten Lazarettarzt zu: „der Arzt Carlo Romanò wurde dem Lazarett zugeteilt und übernahm die Aufgabe mit viel Mut, doch der Unglückliche hielt nicht lange durch [...] und nach 20 Tagen beschloss er sein Leben im Dienst für Gott und sein Vaterland.“⁵⁰⁸ Die Darstellung von Ärzten als Heroen im Dienst der öffentlichen Gesundheit findet sich also schon in Pesttraktaten zur Epidemie von 1629–1630. Besonders effizient war der ärztliche Einsatz gegen die Krankheit jedoch nicht. Das hatte auch strukturelle Gründe wie die chronische Unterfinanzierung. Tadino bezifferte die Gesamtkosten der Pestmaßnahmen für die Stadt Mailand während der Epidemie von 1629–1630 auf 100.000 Scudi. Dass die Pestmaßnahmen trotzdem unzureichend waren, folgerte Tadino aus der Anzahl der Pesttoten, die er auf 165.000 bezifferte.⁵⁰⁹ In der vorausgegangenen Epidemie von 1575–1577 seien ‚nur‘ 17.745 Personen während der Epidemie gestorben.⁵¹⁰ Während Tadinos Zahlen für die frühere Epidemie auf einem Nekrolog beruhten und daher von der modernen Forschung geteilt werden,⁵¹¹ sind seine Angaben für die Epidemie von 1629–1630 diskutabel.⁵¹² Zweifellos aber waren die Toten so zahlreich, dass man sich wie der Pater des Genueser Pestlazaretts fragen konnte: „wenn keine Maß-
507 „Non mancavano frà tanto questi ogni giorno di visitare, et curare quelli infetti di peste, che alla giornata ivi si trovavano; non sparagnando alcun pericolo per compire all’ufficio loro, et con la carità verso li poveri quarantananti.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 56. 508 „fù disposto al Lazaretto, il Fisico Carlo Romanò, il quale con molto corraggio prese il carico, mà l’infelice durò puoco tempo [...] che in 20 giorni gli gionse la vita per servir a Dio, et alla sua patria.“ Ebd., S. 94. 509 „si spese più di 100 V. scudi in questa occasione del contagio, et con puoco frutto, et utilità per la grandissima mortalità seguita in numero eccedente di 165 V. persone.“ Die Gesamtbevölkerung vor der Pest bezifferte er auf 250.000. Ebd., S. 86. 510 „l’essempio della Peste dell’anno 1576, nella quale morsero solamente di numero 17.745 persone.“ Ebd., S. 116. 511 Vgl. Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 129 und Cohn, Cultures of Plague, S. 20. 512 Moderne Schätzungen gehen von einer niedrigeren Gesamtbevölkerung von 130.000 Einwohnern und 60.000 Tote aus. Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 146. Ähnliche Zahlen bei Carmichael, die annimmt, die Pesttoten betrügen 40 Prozent der Bevölkerung, nämlich 80.000 von 200.000 Einwohnern. Carmichael, Last Past Plague, S. 157.
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nahmen ergriffen worden wären, um die Stadt von der Pest zu befreien, hätte Genua größeren Schaden erlitten?“⁵¹³
5.6.5 Die Pest als lokale Infektion des politischen Körpers Obwohl die Probleme bei der Versorgung der Isolierten durch medizinisches Personal und Lebensmittel erheblich waren, verzichtete man auch zum Höhepunkt der Epidemie nicht auf die Quarantänisierung der Kranken und Pestverdächtigen. Eigentlich dienten die Maßnahmen ja zur Prävention. Durch Isolation und Quarantäne sollte die Epidemie geographisch und personell begrenzt werden. Die präventive Logik machte zumindest aus moderner Perspektive nur Sinn, solange die Seuche nicht in der ganzen Stadt wütete. Doch in der Frühen Neuzeit wurden isolierende Pestmaßnahmen mit wachsendem Eifer erst nach einem massiven Ausbruch der Epidemie ergriffen, wie Robert Koch bemerkte: Denn früher fing man in der Regel nicht eher an energische Maßnahmen zu ergreifen, als bis die Seuche durch die angerichtete Verwüstung und die in Aussicht stehenden weiteren Verluste einen unerbittlichen Zwang ausübten.⁵¹⁴
Sehr wahrscheinlich waren segregierende Pestmaßnahmen wie die Quarantäne und Einreisebeschränkungen genuin politische Maßnahmen, die weniger von Medizinern als von Politikern auf der Grundlage einer kontagionistischen Infektionstheorie erdacht und implementiert wurden.⁵¹⁵ Doch möglicherweise resultierte ihre stets späte Inkraftsetzung nicht nur aus politischen und ökonomischen Aushandlungsproblemen, sondern gründete auf der medizinischen Idee, dass präventive und therapeutische Maßnahmen grundsätzlich konvergierten. Was für die Individualmedizin galt, wurde auf das allgemeine Gesundheitswesen übertragen. Da die zumeist nur noch symbolisch durchgeführten Maßnahmen während einer allenthalben wütenden Seuche kaum präventiv genannt werden können, ist ihr Zweck therapeutisch zu nennen.
513 „Ditemi di grazia, se niuna diligenza si fosse usata per liberarla [d.i. la città] da un tanto male [...], poteva Genova patire maggiori rovine?“ Maria da San Bonaventura Antero: Li Lazaretti della Città e Riviere di Genova del MDCLVII. Genua 1658, S. 510 f. 514 Koch, Kriegsseuchen, S. 286. 515 So Carmichael, Contagion Theory, S. 221.
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Die wichtigste frühneuzeitliche therapeutische Pestmaßnahme war die Öffnung der Pestbeulen.⁵¹⁶ Der chirurgische Eingriff wurde häufig von Chirurgen und Barbieren, aber auch von Ärzten ausgeführt. Settala war der Ansicht, dass Chirurgen und Barbiere seiner sachkundigen Anleitung beim Aufschneiden der Pestbeulen und anderer Geschwüre bedurften. Er selbst verstand sich offenbar darauf.⁵¹⁷ Settala unterschied zwischen drei Arten von Exanthemen, Pestbeulen (buboni), Pestgeschwüren (antrace oder carboncolo) und Furunkeln (furoncoli).⁵¹⁸ Pestbeulen manifestierten sich nur in der Nähe von Lymphdrüsen, an der Leiste, unter den Achseln oder hinter den Ohren. Wo sie auftraten, hing davon ab, welches Organ für die Vertreibung der schädlichen und giftigen Körpersäfte verantwortlich war.⁵¹⁹ Settala stützte sich auf die galenische Krankheitslehre, gemäß der es zu begrüßen war, wenn sich der Krankheitsstoff, die materia peccans, vom Körperzentrum zur Peripherie bewegte und dort in Form einer Pestbeule zur Ausscheidung drängte. Das Ausbleiben von äußerlich sichtbaren Symptomen zeigte hingegen die umgekehrte Marschroute der materia peccans zum Herz hin an, was auf den baldigen Tod schließen ließ. Daher war es günstig, wenn Pestbeulen und Pestgeschwüre möglichst schnell auftraten: „In Hinblick auf die Prognose [...] ist es besser, wenn die Abszesse sofort nach Beginn der Krankheit auftreten, vor allem, wenn sie ziemlich groß sind und wenn sie schnell abheilen.“⁵²⁰ Die Heilkraft der Natur, die vis naturae medicatrix, bewirkte den Ausstoß und die ‚Reifung‘ der materia peccans.⁵²¹ Wo diese Kraft zu wünschen übrig ließ, musste therapeutisch nachgeholfen werden:
516 Der Aderlass, die wichtigste Maßnahme in den frühen Pestepidemien war nach Ansicht Cohns bereits im sechzehnten Jahrhundert obsolet. Cohn, Cultures of Plague, S. 17. Settala lehnte ihn als präventive Maßnahme ab, weil sie den Körper schwächte und die Infektion mit der Pest begünstigte. Settala, Cura locale, S. 40. 517 Gelehrte italienische Mediziner behandelten im sechzehnten Jahrhundert sehr häufig Patienten und nahmen an ihnen chirurgische Eingriffe vor. Chirurgische Praktiken lernten sie schon im Medizinstudium. Bylebyl, School of Padua, S. 335. 518 Settala, Cura locale, S. 3. 519 Für diejenigen an der Leiste zeichnete die Leber verantwortlich, unter den Achseln das Herz, hinter den Ohren das Gehirn. Ebd., S. 3 f. 520 „Circa al pronostico, generalmente parlando, e di quello solo, che al bubone s’appartiene: se questi abscessi si fanno subbito da principio sono migliori; e massime se saranno di notabile grandezza; e se presto vengono à maturarsi.“ Ebd., S. 5. 521 Zur Heilkraft der Natur vgl. hier Kap. 2.1.2.
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Es stimmt, dass die Natur selbst heilt, aber langsam – daher müssen wir jetzt die Medikamente in Betracht ziehen, die eine gemäßigte Kraft haben, die schädliche Materie herauszuziehen und zu extrahieren.⁵²²
Settala rekurrierte auf die Arzneimittelgruppe der attractiva.⁵²³ Ihre Aufgabe war es, die natürliche virtus attractiva, die anziehende Kraft, zu unterstützen und die schädlichen Stoffe aus dem Körperinneren ‚herauszuziehen‘. Die virtus attractiva war eine von vier Kräften, die Galen im Zusammenhang der Wundheilung am Werk sah.⁵²⁴ Sie ließ sich entweder medikamentös durch ‚ziehende‘ Mittel wie dem Theriak oder chirurgisch durch das Aufschneiden der Pestbeulen verstärken. Das Aufschneiden der Pestbeulen diente also zur Beschleunigung des Abheilungsprozesses. Bei den chirurgischen Verfahren zur Ausleitung der schädlichen Substanzen erwog Settala Einschnitte der Pestbeulen, das Ansetzen von Schröpfköpfen und Blutegeln und die Kauterisation, das Ausbrennen der Wunde mit einem Brenneisen. Dem Ansetzen der Schröpfköpfe an den Pestbeulen konnte das Einschneiden derselben vorausgehen. Settala plädierte dafür, es zunächst ohne zu versuchen.⁵²⁵ Der Einsatz von Schröpfköpfen zielte erneut auf die Verstärkung der virtù attrahente, der anziehenden Kraft, durch Unterdruck: Kommen wir zu [...] den Schröpfköpfen, die unter großer Hitze angebracht werden, damit sie über eine größere Distanz hinweg die vergiftete Substanz herausziehen.⁵²⁶
Schröpfköpfe konnten entweder allein oder kombiniert mit Blutegeln an den Pestbeulen angesetzt werden.⁵²⁷ Nach diesen blutigen Anwendungen wurden Umschläge und Verbände angelegt, welche die Heilung, bzw. Reifung der Wunde – Settala sprach konsequent von maturatione – beschleunigen sollten, indem sie sie aufweichten.⁵²⁸
522 „Che se poi la natura operasse sì, ma lentamente: all’hora dovremo valersi di quei medicamenti, che habbino una moderata forza di tirare, e cavar fuori il male.“ Ebd., S. 8 f. 523 Neuburger, Heilkraft der Natur, S. 23. 524 Die anderen drei vegetativen Grundkräfte waren die ausscheidende, die umwandelnde und die anhaltende Kraft. Ebd., S. 19. 525 Das war das sogenannte trockene Schröpfen im Gegensatz zum blutigen, dem das Einritzen der Exantheme vorausging. 526 „trapasseremo [...] alle ventose, le quali s’attaccheranno con molta fiamma, acciò tirando più da longi la materia venenata.“ Settala, Cura locale, S. 11. 527 Der Einsatz von Blutegeln stammt aus der arabischen Medizin und ist seit dem späten zehnten Jahrhundert bezeugt. In Europa kamen sie erst später häufig zum Einsatz. Harold Ellis: The Cambridge Illustrated History of Surgery. Cambridge u. a. 2009, S. 25. 528 Settala, Cura locale, S. 12.
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Settala empfahl den Einsatz des Brenneisens zur Öffnung der Pestbeulen und Geschwüre, wenn diese nicht von allein abheilten, sondern eiterten oder sich vergrößerten. Das Brenneisen erfreute sich bei den Patienten keiner großen Beliebtheit; sie zogen den Einsatz des ‚toten Feuers‘ (fuoco morto) vor. Dabei handelte es sich um ätzende Medikamente, die äußerlich auf die Exantheme angewendet wurden: Aber was das Öffnen dieser Tumore angeht, da die meisten Menschen das Brenneisen ablehnen, wählen sie das tote oder künstliche Feuer, das offen gesagt auch nützlicher ist, da es neben der öffnenden Wirkung auch noch über jene verfügt, das Gift abzustumpfen und es zu verzehren.⁵²⁹
Weniger erfreulich an der Kauterisation durch Ätzmittel war, dass ihre Wirkung nicht lokal begrenzbar war und auf die umliegenden Körperregionen übergriff.⁵³⁰ Daher setzte man im Umkreis der Exantheme ‚defensive‘ Medikamente ein.⁵³¹ Wenn das Geschwür auch den Ätzmitteln widerstand, kam das Brenneisen zum Einsatz: Wenn wir auch mit diesen Medikamenten das Geschwür nicht stoppen und beseitigen können, ist es nötig, diese Stelle mit wirklichem Feuer zu behandeln, denn es hat eine größere Kraft, das Gift zu beseitigen und dieser Stelle Stärke zu verleihen; und nachdem wir das Fleisch bis auf den Knochen abgebrannt haben, müssen wir es wegnehmen, wobei wir kleine Einschnitte in die Wunde machen, um den Körpersäften einen Ausgang zu verschaffen, ebenso wie den giftigen Dämpfen.⁵³²
Es galt, die verdorbenen, bzw. giftigen Körpersäfte aus dem Körperinneren abzuleiten. Daher empfahl Settala, die Wunde so lange wie möglich offen zu halten: Wenn das Geschwür geöffnet ist, muss man dafür sorgen, dass sich die Wundränder nicht schließen, ehe die ganze [schädliche] Materie durch diesen Kanal abgeflossen ist und die Natur von dieser Krankheit gereinigt [purgata].⁵³³
529 „Ma intorno all’aprire detti tumori, perche il più de gli huomini rifiutando il ferro, eleggono il fuoco morto, ò artificiale, il qual anco à dir il vero è più utile, havendo virtù, oltre l’aprire, di rintuzzare il veleno, e di consumarlo.“ Ebd., S. 13. 530 Dasselbe Argument bei Walther Hermann Ryff. Vgl. Ralf Vollmuth: Traumatologie und Feldchirurgie an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit: exemplarisch dargestellt anhand der ‚Grossen Chirurgie‘ des Walther Hermann Ryff. Stuttgart 2001, S. 206. 531 Settala, Cura locale, S. 14. 532 „Che se ne anche con questi medicamenti, potremo impedire, e fermare la grangrena, farà di mestiere caterizar la parte con fuoco attuale, perche hà maggior forza di ammazzare il veleno, e di dar vigore alla parte: e dopo l’haver abbrucciata la carne fin su’l vivo, la dovremo levar via co’l scarificarla; acciò habbino essito gli humori, e vapori venenati.“ Ebd., S. 16. 533 „Aperto il tumore devesi procurare che non prima si uniscano i labri, che tutta la materia non sia uscita per quel canale; e la natura sia purgata da quel male.“ Ebd., S. 14.
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Diese chirurgischen Anwendungen behandelten die Pestbeulen als lokale Wunden. Die von Settala referierten chirurgischen Praktiken waren nicht pestspezifisch und unterschieden sich nicht von der Behandlung von verletzten Weichteilen, Gangränen und anderem nekrotischem Gewebe. So findet man dasselbe Spektrum von traumatologischen – also die Wundheilung betreffenden – Verfahren beispielsweise auch in der populären Großen Chirurgie (1545) Walther Hermann Ryffs.⁵³⁴ Settalas Insistenz auf dem Ausstoß der materia peccans, bzw. des ‚Krankheitsgiftes‘ folgte jedoch auch der Logik des Ausschlusses und der Expulsion in präventiver Absicht, wie sie in Form von Pestmaßnahmen praktiziert wurde. Denn die chirurgische Behandlung der Pestbeulen zielte ja darauf ab, die Ausbreitung der Giftstoffe im ganzen Körper und somit den Übergang von einer lokalen Infektion zu einer universalen zu verhindern, die den ganzen Körper betraf. Wegen der Gefahr der Ausbreitung des Krankheitsgiftes mussten die Beulen, in denen es sich befand, unbedingt geöffnet werden. Die Idee der präventiven Öffnung betraf vor allem die Behandlung pestbedingter Exantheme: Aber weil die Substanz, aus der sie [die Pestbeulen] bestehen, extrem schädlich und giftig ist, müssen wir zwei Dinge berücksichtigen: Sie muss unbedingt und so schnell wie möglich entfernt werden, damit sie nicht, wenn sie erhalten bleibt, ihr Gift im ganzen Körper verteilen kann, und wir dürfen keine ‚kalten‘ Medikamente anwenden, die bei einer Entzündung eigentlich nötig wären, damit das Gift nicht wieder [in den Körper hinein] zu den Zentralorganen geschickt wird.⁵³⁵
Die Öffnung der Pestbeulen hatte nicht nur eine präventive Funktion, sondern beschleunigte auch den Heilungsprozess: Es ist zu beachten, das diese Schwellungen und schon vorhandenen Pestbeulen unbedingt geöffnet werden müssen, auch wenn sie noch nicht ganz ausgereift sind, denn es ist gar nicht gut, die komplette Abheilung abzuwarten; [...] deshalb ziehen wir so früh wie möglich die besagte giftige Materie aus dem Körper heraus, weshalb uns am Herzen liegen muss, dies so frühzeitig wie möglich zu tun.⁵³⁶
534 Da eine direkte Rezeption zwischen Ryff und Settala unwahrscheinlich ist, sind die von beiden Autoren diskutierten Maßnahmen chirurgischer common sense. Vollmuth, Traumatologie, S. 206 f. 535 „Ma perche la materia dalla quale vengono fatti è pessima, e venenosa, dobbiamo haver questi due avvertimenti: D’estrahere in ogni maniera, e quanto prima quella materia; accioche trattenuta non sparga il suo veleno per tutto il corpo; perciò non dobbiamo adoprare que’medicamenti freddi, che per ragione dell’infiammatione abbisognerebbero, per non ricacciarne il veleno alle parti principali.“ Settala, Cura locale, S. 6 f. 536 „Avvertendo anche, che le dette enfiature, e buboni già fatti, si devono in ogni modo aprire, benche non siano totalmente maturi; perche non è bene in niuna maniera l’aspettare la total maturanza; [...] perche così tireremo fuor del corpo quanto prima la detta materia venenosa; il che à cuore di questo caso esser ci deve di far quanto prima.“ Ebd., S. 13.
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So besaß die individualmedizinische Logik ein kollektivmedizinisch-politisches Pendant in den Pestmaßnahmen zur Isolation der Pestkranken und -verdächtigen und ihrer Entfernung aus der sozialen Ordnung. Durch die Verwendung des Terminus purgatio sowohl für die therapeutischen Reinigung des Körpers von der materia peccans als auch für die Quarantäne, durch die die ‚schädlichen‘ Elemente aus dem politischen Körper entfernt wurden, schuf Settala einen zusätzlichen Zusammenhang zwischen den beiden Vorgehensweisen. Settala nannte auch das Lazarett Hospitale Purgatorium.⁵³⁷ Das legt nahe, dass das von Jacques Le Goff untersuchte Fegefeuer (purgatoire) ebenfalls medizinische Implikationen hatte.⁵³⁸ Das Aufschneiden der Pestbeulen hatte sowohl eine präventive als auch eine therapeutische Funktion. Das hing damit zusammen, dass sich der medizinische Begriff der Prävention kaum von jenem der Therapie unterschied. So nahm Settala an, dass sich präventive und therapeutische Maßnahmen ohne Weiteres ineinander übersetzen ließen. Im Zusammenhang der medikamentösen Therapie merkte er an, dass sich die therapeutische Einnahme von der präventiven nur durch die Verdopplung der Dosis unterschied: „Aber da viele Mittel sowohl der Prävention [preservatione] als auch der Therapie dienen, wenn auch unterschiedlich angewendet, muss die Menge für die Therapie verdoppelt werden.“⁵³⁹ Daher machte er nur Gewichtsangaben für die Inhaltsstoffe für therapeutische Zwecke, „wobei sich versteht, dass für die Prävention nur die Hälfte genommen werden darf.“⁵⁴⁰ Schließlich setzte er vorbeugende und therapeutische Mittel gleich: Nun bleibt nur noch, die Heilmittel zu empfehlen, mit welchen die Körper vor der Pest bewahrt werden können [...] und zu diskutieren, warum die Mittel, die zur Therapie nützlich sind, sogar noch nützlicher zur Prävention sind.⁵⁴¹
Settala sprach auch von präventiven Heilmitteln (rimedi preservativi).⁵⁴²
537 Settala, De peste, S. 324. Das Lazarett als Purgatorium ist keine rein religiöse Metaphorik, wie Cohn meint. Cohn, Cultures of Plague, S. 127. 538 Le Goff erwähnt die medizinische Konnotation des Terminus bei seiner Herleitung des religiösen Konzepts des Fegefeuers nicht. Jacques Le Goff: Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter. München 1991. 539 „Mà perche molte cose sono, che sono communi, et alla preservatione, et alla curatione, se ben diversamente usate, dovendosi raddoppiare il peso per la curatione.“ Settala, Preservatione, S. 45. 540 „mettendovi la quantità per la cura, intendendosi che per la preservatione se ne debba pigliare solo la metà.“ Ebd., S. 45. 541 „Resterebbemi hora il proporre i rimedi con li quali possino li corpi preservarsi dalla peste, [...]: e perche le cose che convengono per la cura per lo più convengono ancora per la preservatione.“ Ebd., S. 42. 542 Ebd., S. 42.
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5.6.6 Präventive und therapeutische Isolationsmaßnahmen im Staat Dieselbe Idee des lediglich graduellen Unterschieds zwischen präventiven und therapeutischen Maßnahmen war auch bei der Pestpolitik zu beobachten. Nicht nur politische Konflikte verzögerten die offizielle Pesterklärung, sondern auch die Annahme, dass präventive Maßnahmen wie die Quarantäne auch therapeutisch wirksam seien. Es gab keinen Konsens, dass die präventive Isolation der Kranken medizinisch viel sinnvoller war als die therapeutische. Bei der Epidemie von 1629–1630 wurden die ersten Pestmaßnahmen außerhalb der Stadt Mailands getroffen und zielten darauf ab, die pestbefallenen Ortschaften vom Rest des Territoriums zu isolieren und die Verbindungswege nach Mailand zu kappen. Die über das Territorium verstreuten Infektionsherde wurden analog zum individualmedizinischen Krankheitsverständnis als lokale Entzündungen gedeutet. Im Gegensatz zu einer normalen Entzündung wurde ihnen jedoch das Potential zur Ausdehnung zugeschrieben, sofern sie nicht eingedämmt wurden.⁵⁴³ Das geschah durch die ‚Extrahierung‘ der Kranken, die entweder in Form der häuslichen Quarantäne (quarantena privata) oder im Lazarett vom kollektiven Körper isoliert wurden. Laut Tadino lehnten die drei Mediziner des Tribunale di Sanità die häusliche Quarantäne grundsätzlich ab: diese waren gar nicht damit einverstanden, dass die Kranken in ihren eigenen Häusern gehalten wurden [...], denn da sowohl das Haus als auch die Habseligkeiten durch den langen Umgang infiziert waren, hielt man es für unmöglich, dass sich die Quarantänisierten durch den Kontakt und Umgang mit ihren Sachen nicht anstecken würden.⁵⁴⁴
Eine private Quarantäne war nach Ansicht der Ärzte nur sinnvoll, wenn es im Haus genügend Platz zur Isolation der Kranken und Geld für Kleidung und Lebensmittel gab.⁵⁴⁵ Alle Türen wurden verschlossen, bis auf eine, vor der Wachen aufgestellt wurden. Auf diese Weise wurden meist ganze Familien in Quarantäne gelegt.⁵⁴⁶ Bei der Einweisung der Kranken ins Lazarett wurde das
543 Eine Bestimmung der Charakteristika der lokalen Entzündung hatte bereits der römische Mediziner Celsus unternommen. Die galoppierende Ausbreitung war gemäß der antiken Konzeption kein charakteristisches Merkmal. Andrew N. Kingsnorth, Aljafri A. Majid (Hg.): Fundamentals of Surgical Practice. Cambridge 2006, S. 211. 544 „non volendo essi consentire in modo alcuno, che si trattenessero nelle case proprie [...], perche impossibile si trovava, che essendo la casa, et robbe infette, al longo pratticare, si sarebbero gli quarantenati infettati per il maneggio, et prattica delle loro robbe.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 75. 545 Ebd., S. 75. 546 Ebd., S. 76.
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Abb. 16: Vorrichtungen zur Durchführung der purga
Haus oder die Wohnung von den Gesundheitskommissären inventarisiert und versiegelt⁵⁴⁷ und erst nach erfolgter Reinigung wieder zugänglich gemacht. Die Kranken wurden samt Familie ins Lazarett geschafft.⁵⁴⁸ Sowohl die Kranken als auch die mitgebrachten Gegenstände wurden bei der Ankunft im Lazarett purgiert. Die Reinigung der Kleidung wurde auf Kosten des Patienten durchgeführt, der die Gebühr bezeichnenderweise im Voraus zu entrichten hatte. Anschließend wurden die Habseligkeiten „ihren Besitzern oder Erben“ restituiert.⁵⁴⁹ Die Quarantäne sollte, so empfahl Tadino, zumindest Dreiviertel des Mondzyklus betragen, also 23 Tage. Im Winter konnte sie auf 30 oder 40 Tage ausgedehnt werden.⁵⁵⁰ Meist wird der Grund für die 40-tägige Dauer der Quarantäne
547 Ebd., S. 61. 548 „jeder, der an der Infektion erkrankte, wurde, wer auch immer es war, unwiderruflich ob er wollte oder nicht samt seiner Familie, mit der er zusammen lebte, ins Lazarett gebracht.“ („che alcuno e fusse chi fusse, era scoperto d’infettione ammalato, irremissibilmente, volesse, o non volesse, con tutta la famiglia, nella quale viveva, era condotto al Lazaretto.“) Lampugnano, Pestilenza, S. 33 f. 549 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 61. 550 „continuando la sua quarantena, benche per ordinario nelli sospetti sij di trè quarti di Luna, che sono giorni 23 niente di meno nel tempo freddo si potrà arrivare fino li 30 giorni, et ancora
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in der falschen Einschätzung der Inkubationszeit der Pest gesehen.⁵⁵¹ Tadinos Erwähnung des Mondzyklus’ verweist jedoch auf die Lehre von den kritischen Tagen, bei der der 40-tägige Krankheitszyklus ebenfalls eine Rolle spielte. So hieß es im Prognostikon: So verlaufen die Perioden in den ganz akuten Krankheiten in einer Additionsreihe von je vier bis hin zu zwanzig Tagen. [...] Weiterhin verläuft nach demselben Additionssystem die erste Periode in vierunddreißig, die zweite in vierzig, die dritte in sechzig Tagen.⁵⁵²
Es waren sehr viel eher die hippokratischen Angaben über die Dauer der Krankheitszyklen als reale Beobachtungen des Krankheitsverlaufs, die zur 40-tägigen Quarantäne führten.⁵⁵³ Gemäß Settala variierte die Länge der Quarantäne mit der Intensität des Krankheitsverdachts: Diejenigen, die für infiziert befunden wurden oder bei denen der starke Verdacht besteht, müssen eine komplette Quarantäne machen, bei jenen, bei denen es einige Zweifel gibt, genügen 22 Tage. Aber diejenigen, bei denen es nur einen ganz leichten Verdacht gibt, können in ihr Haus eingeschlossen werden, je nach Einschätzung der Präfekten.⁵⁵⁴
Wenn im Verlauf der Quarantäne im Lazarett ein Mitinternierter starb oder bei der privaten Quarantäne ein Kontakt mit der Außenwelt festgestellt wurde, begann die Zählung von neuem.⁵⁵⁵ Auch wenn die Lazarettinsassen die ‚schmutzige‘ Quarantäne (quarantena brutta) überstanden hatten, wurden sie nicht entlassen, sondern mussten sich anschließend der ‚sauberen‘ Quarantäne (quarantena
fino li 40 conforme il Tribunale giudicherà convenire per sicurezza della publica, et privata salute.“ Ebd., S. 66. 551 Diese betrug bei der Beulenpest bis zu zehn Tage. Vasold, Pest, Not und schwere Plagen, S. 98. 552 Hippokrates, Das Buch der Prognosen (Prognostikon) I, 20, S. 96. 553 Vgl. die zahlreichen Modelle für Krankheitszyklen bei Dell’Anna. Die 40 spielt immer eine wichtige Rolle, da sie die zweite Krankheitsperiode beendet. Vgl. Giuseppe Dell’Anna: Dies critici: La teoria della ciclicità delle patologie nel XIV secolo. Bd. 2. Lecce 1999, S. 198, 276–278. 554 „Quelli che sono giudicati infetti, ò che sono in grande sospetto, doveranno fare tutta la quarantena quelli, de quali vi è solo qualche dubio, basterà che vi stijno per ventidue giorni. Mà quelli, da quali se ne hà solo qualche sospetto leggiero, si potranno sequestrare nella propria casa ad arbitrio de Prefetti.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 90. Settala machte in seinem Kapitel zu den öffentlichen Gesundheitsmaßnahmen die gleichen Zahlenangaben. Settala, De peste, S. 329. 555 Zur Quarantäne im Lazarett Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 66, zur privaten Quarantäne S. 75.
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netta) im Trakt der Pestverdächtigen unterziehen.⁵⁵⁶ Von einer präventiven Funktion der Quarantäne kann hier keine Rede sein. Laut Tadino bestand die Logik der Pestmaßnahmen in allen Phasen der Epidemie darin, den Prozess der Ausbreitung der Krankheit durch die Isolation des Infektionsherdes zu stoppen, räumlich einzugrenzen und die Ausbreitungsgeschwindigkeit zu verringern. Für jedes Stadium der Pestausbreitung schlug Tadino neue Maßnahmen zur Begrenzung vor. Als die Pest im Viertel Porta Orientale wütete, schlug er der Pestbehörde mehrmals vor, das ganze Viertel unter Quarantäne zu stellen. Auch in seinem Pesttraktat insistierte er, „dass es sehr nützlich für die Stadt gewesen wäre, das genannte Viertel zu isolieren, was eine leicht zu ergreifende und kostengünstige Maßnahme gewesen wäre.“⁵⁵⁷ Vermutlich wohnte weder er noch ein anderes Mitglied der Pestbehörde dort. Ein ähnlicher Vorschlag wurde während der römischen Epidemie von 1656 in die Tat umgesetzt. Die Seuche brach zunächst in Trastevere aus, seinerzeit ein Armenviertel mit schlechten hygienischen Zuständen. Da das Viertel schon durch den Fluss von der Altstadt getrennt war, ließ der päpstliche Gesundheitsmagistrat die Bevölkerung kurzerhand über Nacht einmauern: ‘To snuff off every spark’ of plague, the Health Congregation decided in June to quarantine Trastevere. [...] Accompanied by workers and soldiers, three members of the Health congregation [...] came to the affected neighborhood at night to supervise the closure of the gates, the boarding up of windows, the blocking of alleyways, and the enclosure of the whole area with a temporary wall. In nine hours, this hastily arranged ‘cage’ was designed to prevent residents of Trastevere from escaping.⁵⁵⁸
Eigenartigerweise befanden sich die ad hoc ghettoisierten Bewohner Trasteveres förmlich in Sichtweite des permanenten jüdischen Ghettos am anderen Flussufer, was die Frage nach der Inspiration solcher Maßnahmen aufwirft. Tadinos Vorschlag wurde nicht umgesetzt. Die frühzeitige großflächige Segregation, bei der nicht nur die bereits pestbefallenen und -verdächtigen Häuser segregiert wurden, wäre tatsächlich eine präventive Maßnahme gewesen, die in Hinblick auf die im achtzehnten Jahrhundert gelingende Eindämmung von Epidemien durch das
556 Ebd., S. 58, 66. 557 „propose nel Tribunale più di una volta, che sarebbe stato di molto profitto alla Città di fare chiudere fuora il sodetto borgo come saria stata facil cosa, et di puoca spesa.“ Ebd., S. 85. 558 Risse, History of Hospitals, S. 193.
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Prinzip des cordon sanitaire,⁵⁵⁹ durch den ganze Regionen vom restlichen Territorium militärisch isoliert wurden, geradezu visionär war. Tadinos Vorschlag der Abriegelung von Porta Orientale war die letzte Isolationsmaßnahme, die den Namen präventiv verdiente. Kurz darauf verhielt sich die Pest definitiv nicht mehr wie eine lokale Entzündung, sondern grassierte flächendeckend in der ganzen Stadt. Ungeachtet ihres mäßigen Nutzens und der krassen Probleme bei der Versorgung der Kranken wurden die Isolationsmaßnahmen auch weiterhin durchgeführt. Ihre Funktion lässt sich im Sinn der politischen Medizin nur noch therapeutisch nennen. Wenngleich sie medizinisch absurd waren, erfüllten sie doch eine wichtige soziale und politische Funktion, indem sie das Fortexistieren des Staates und seiner Ordnung bekräftigten. Denn der Zusammenbruch des öffentlichen Lebens und vieler sozialer und familialer Beziehungen durch das massenhafte Sterben bot durchaus Anlass, an der Kontinuität der politischen Ordnung zu zweifeln. Ein Staat, der sich im Chaos weder durch Dekrete noch durch die Durchführung von Maßnahmen bemerkbar machte, konnte sehr leicht für inexistent gehalten werden. Deshalb war es besser, mit den Pestmaßnahmen fortzufahren, auch wenn sie sinnlos waren.
5.6.7 Die politische Medizin der Generalquarantäne Am deutlichsten trat die therapeutische Funktion bei der Durchführung der Generalquarantäne hervor, die zum Ende der Epidemie anberaumt wurde und hinsichtlich der Ansteckungsgefahr absurd war. Im Herbst 1630 ließ die Epidemie auf dem mailändischen Territorium allmählich nach. Anfang September verschwand sie nach starken Regenfällen auch in Mailand ebenso plötzlich wie sie begonnen hatte: Und plötzlich geschah es, dass der Herr seinen Segen in Form von heftigem Regen schickte, der fast zwei Tage lang anhielt; es war ein großes Wunder, die Luft kühlte sich ab, und Gott gestattete, dass die Pest vom einen Moment auf dem anderen aufhörte.⁵⁶⁰
559 Zur Pest in Marseille 1720–1722 vgl. Franz Mauelshagen: Neuerfindung einer medizinischpolitischen Kontroverse. Johann Jacob Scheuchzer und die Debatte der Kontagionisten und Antikontagionisten während der Pestepidemie von 1720–1722. In: Cardanus. Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte 7 (2007), S. 149–185. 560 „Ecco che una notte mandò la sua beneditione (divina misericordia) con tanta acqua, la quale durando puoco meno di duoi giorni, fù cosa miracolosa, refrigerandose l’aria, N[ostro] S[ignore] permise in un’istante cessare il contagio.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 134.
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Die Zahl der Toten pro Tag ging so rasch zurück, dass die Epidemie innerhalb von acht Tagen fast komplett erlosch. Anstatt sogleich zum normalen öffentlichen Leben zurückzukehren, traf die Pestbehörde den Beschluss, eine Generalquarantäne durchzuführen: Gegen Ende September, Anfang Oktober wurde die allgemeine Quarantäne begonnen, aber keine reguläre, denn es fehlten viele Dinge, die für ein solches Unternehmen notwendig gewesen wären.⁵⁶¹
Dieser ‚irregulären‘ Quarantäne folgte Ende Oktober eine weitere Quarantäne. Anfang November 1630 wurde eine zweiundzwanzigtägige Generalquarantäne verhängt. Das war bereits die dritte, bei der alle Menschen in ihren Häusern zu bleiben hatten und sie nicht verlassen durften, abgesehen von den Tagen, die die Pestbehörde festgelegt hatte, an denen sie Vorräte für ihre Häuser und Familien besorgen konnten.⁵⁶²
Vor dem Hintergrund, dass die Pest gemäß Tadino bereits Anfang September 1630 fast vollständig aus der Stadt verschwunden war, vermittelte diese sich über drei Monate erstreckende Generalquarantäne den Eindruck einer Trockenübung von Pestmaßnahmen, anhand derer ihre Wirksamkeit bei gewissenhafter Durchführung im Nachhinein vorgeführt werden sollte. So konstatierte Tadino: diese Quarantäne, obwohl sie nicht genau so ausgeführt war, wie es sein sollte, war jedoch eine gute Vorbereitung für die Zukunft, weil sie mit viel Gewissenhaftigkeit, Zuverlässigkeit und mit größter Genauigkeit durchgeführt wurde.⁵⁶³
Da gar keine Epidemie vorhanden war, verlief sie zufriedenstellend. So demonstrierte die allgemeine Quarantäne im Anschluss an die Pest die Effizienz der Pestmaßnahmen, die diese während der Epidemie hatten missen lassen. Die Durch-
561 „Verso poi il fine di Settembre, et principio di Ottobre, fù dato principio alla quarantena generale, mà non formale, poiche vi mancavano molte cose bisognevoli à detta impresa.“ Ebd., S. 135. 562 „Fù donque dato principio ad una quarantena de giorni 22 con stare ciascuna persona rinchiusa in sua casa, ne potendo uscire se non alli giorni determinati dal Tribunale per far le provisioni delle loro case, et famiglie.“ Ebd., S. 135. 563 „la quale quarantena benche non fosse tanto essatta, come si doveva, fù però dispositione buona alla futura di maggior stretezza, et sicurezza, come fù esseguita con ogni puntualità.“ Ebd., S. 135.
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führung von Pestmaßnahmen ohne Pest stellten eine kollektive Inszenierung dessen dar, was während der Pestzeit gefehlt hatte: wirksame, verlässlich ausgeführte Pestmaßnahmen. Mit der abschließenden Generalquarantäne setzte die Stadt Mailand eine Art utopisches, weil nun endlich funktionierendes Pestregime in Szene, das nicht an dem Problem krankte, dass sich die Pestfälle trotz Pestmaßnahmen exponentiell häuften. Da die Generalquarantäne mit den letzten Pestfällen einsetzte, war ihr der ‚Erfolg‘ sicher. Aufgrund des Abebbens der Seuche schienen die Pestmaßnahmen endlich zu bewirken, was man sich zu Beginn der Epidemie vergeblich versucht hatte, nämlich ihre Eindämmung und Beendung. Zu einer ähnlichen Inszenierung des gewünschten Zustands kam es im Zusammenhang der Armenfürsorge. Nachdem die reichen Bürger ihre Wohltätigkeit während der Pest in keinem erwähnenswerten Maß unter Beweis gestellt hatten – keines der Traktate äußerte sich dazu –, spendeten sie nach der Epidemie gemäß Lampugnano ganze Wagenladungen von Lebensmitteln: Andere Privatpersonen schickten dem Beispiel [des Erzbischofs] folgend, abwechselnd Wagen, beladen mit Brot, Reis und anderen Lebensmittel, um täglich so gut wie möglich für das zu sorgen, was die Eingeschlossenen für ihr Leben brauchten.⁵⁶⁴
Lampugnano schilderte unter Hervorhebung der klerikalen Wohltätigkeit einen wahren „Regen von Almosen“⁵⁶⁵ und verwies auf die theatralische Geste, mit der erneut im Anschluss an die Epidemie als funktionierend inszeniert wurde, was während der Epidemie versagt hatte, nämlich die Versorgung vieler Bedürftiger durch private Almosen. Die eigenartige, sich über drei Monate hinziehende Generalquarantäne war vor allem symbolischer Natur und stellte einen rite de passage bei der Rückkehr zur normalen Ordnung des zivilen Lebens dar. Im Verlauf dieser symbolischen Handlungen kam es jedoch zu ganz realen Hinrichtungen. So berichtete Lampugnano gelassen: Und viele derer, die sich wenig um die Infektion scherten und entgegen des Verbots ihre Häuser verließen und durch die Stadt zogen, wurden ins Gefängnis gesperrt und manch einer zum Tode verurteilt.⁵⁶⁶
564 „Altre private case ancora ad esempio suo, mandavano carri a torno, carichi di pane, di riso, e d’altro, per poter più agiatamente sumministrar di giorno, in giorno, quanto si doveva a i bisognosi rinchiusi.“ Lampugnano, Pestilenza, S. 74. 565 „una mirabil pioggia“. Ebd., S. 74. 566 „Poiche molti di quegli, che poco curavansi dell’infettione, e contro alle prohibitioni usciti dalle proprie case vagabondando andavano furon tolti prigioni, e condannatine tal’uno a morte.“ Ebd., S. 73.
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Auch Tadino bemerkte: „zwei Infizierte, die nicht gehorchen wollten und in der Stadt unterwegs waren, wurden gefasst und ihnen wurde der Kopf abgeschlagen.“⁵⁶⁷ Da die Epidemie bereits im September abgeklungen war, ist fraglich, welche Infizierten im späten November 1630 durch die Straßen flanierten. Sehr wahrscheinlich bestand ihre Krankheit vor allem im zivilen Ungehorsam, die Pestverordnungen zu ignorieren. Die Gefährdung der politischen Ordnung wurde in eine fiktive medizinische Bedrohung übersetzt. Die zweite wichtige Funktion der Generalquarantäne ohne Pest bestand also in der Wiedereinübung des verloren gegangenen politischen Gehorsams. Die Flucht weiter Teile des städtischen Patriziats und der Zusammenbruch des öffentlichen Lebens während der Epidemie führten zu einer Entwöhnung von den Herrschaftsstrukturen, die vor der Wiederaufnahme des zivilen Lebens erneut geübt werden sollten. So wurden im Rahmen der zweiten Quarantäne „geeignete Anordnungen getroffen und von der Pestbehörde Aufgaben für alle Viertel beschlossen, die von den Adligen überwacht wurden, die viele Befugnisse erhielten, um diejenigen, welche die Bestimmungen übertraten, schwer zu bestrafen.“⁵⁶⁸ Dabei wurden nicht nur harmlose Bürger, die des Hausarrests überdrüssig waren, schwer bestraft. Es gab tatsächlich gravierende rechtliche Missstände, von denen die Pesttraktate unisono berichteten. So strebte Tadino danach, alle falsche Kommissäre zu enttarnen, die gar nicht im Dienst der Stadt standen, sondern zum Zweck des Diebstahls mit gefälschten Papieren unterwegs waren.⁵⁶⁹ Während der zeitgleich in Florenz herrschenden Epidemie war die Zahl der Delikte so hoch, dass eigens neue Gerichte eingerichtet wurden.⁵⁷⁰ Pestzeiten waren regelmäßig von Zuständen der Gesetzlosigkeit begleitet.⁵⁷¹ So hatte die allgemeine Quarantäne durchaus eine politische Berechtigung. Zur Wiederherstellung der Ordnung des politischen Körpers bedurfte es therapeutischer Maßnahmen. Daher erfolgte die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung durch medizinisch inzwischen völlig sinnlose Pestmaßnahmen. Lampugnano nannte die Funktion der allgemeinen Quarantäne ganz unverhohlen politisch:
567 „duoi infetti, che non volevano ubbidire, andando per la Città furno presi, et gli fù troncata la testa.“ Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 136. 568 „Arrivati poi al fine d’Ottobre, fù dato di nuovo principio alla quarantena, et furno disposti gli ordini opportuni, et compiti dal Tribunale à tutte le porte, con la sopraintendenza de Gentil’huomini, alli quali fù dato grande autorità di comminare pene gravi alli transgressori.“ Ebd., S. 135. 569 Ebd., S. 137. 570 Calvi, Histories of a Plague Year, S. 35. 571 Cohn, Cultures of Plague, S. 265.
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Daher gab die Gesundheitsbehörde das Steuerruder der Regierung nicht aus der Hand, sondern tat vielmehr ihre Pflicht. Als sie den wundersamen Rückgang der Pest bemerkte, traf sie Anordnungen für eine feierliche und allgemeine Quarantäne.⁵⁷²
Mit dem Bild des Steuermanns, einer traditionellen Metapher der politischen Herrschaft, schrieb er der Pestbehörde diese Rolle bei der Wiederherstellung der Regierungsgewalt und des politischen Gehorsams zu. Die allgemeine Quarantäne zum Abschluss der Mailänder Epidemie von 1629–1630 war also eminent politisch. Sie wurde nicht vom Magistrat, sondern von der Gesundheitsbehörde verfügt. Die Anordnung einer allgemeinen Quarantäne beruhte ausschließlich auf den exekutiven Befugnissen des Tribunale di Sanità. Gesetzeswidrig war sie nicht. Ihre Verfügung war ein klassischer Fall der Ausübung exekutiver Befugnisse in einem politischen Ausnahmezustand und somit eine politische Handlung aufgrund von Staatsräson. Ob die Praxis der abschließenden Generalquarantäne spezifisch mailändisch war, muss offen bleiben. Über andere Epidemien wird nichts dergleichen berichtet.⁵⁷³ Üblicher waren abschließende religiöse Maßnahmen wie der Bau von Kirchen für Pestheilige und andere Fürsprecher, denen man die Befreiung von der Epidemie zuschrieb. Das geschah auch in Mailand. Doch sowohl Tadino als auch Lampugnano beschlossen ihre Pestnarrationen mit der Generalquarantäne und der Wiederherstellung der politischen und wirtschaftlichen Ordnung. Insofern begann und endete die mailändische Epidemie von 1629–1630 äußerst politisch.
5.7 Politische Krankheiten in Settalas Della Ragion di stato (1627) Settalas Staatsräsontraktat zeichnet sich durch seine Gelehrsamkeit aus. Im Unterschied zu den meisten anderen Autoren über die Staatsräson gab Settala nicht vor, der erste Theoretiker zu sein, der sich mit dem Thema befasste. Er diskutierte vielmehr zahlreiche verschiedene Positionen zur Staatsräson und zitierte Botero, Ammirato, Bonaventura, Palazzo, Frachetta und vor allem Zuccolo, an den er besonders eng anschloss. Settala hatte nicht den Anspruch, eine völlig
572 „Non lasciò però il Tribunale il timone del governo: ma ponendovi la mano, fece il suo debito. Veggendo egli il miracoloso recesso, che hormai faceva la Pestilenza, preconizò, e diede fuori le sue instruttioni di fare una solenne e generale Quarantena.“ Lampugnano, Pestilenza, S. 73. 573 In der Forschungsliteratur wird diese Maßnahme nirgends erwähnt. Auch Cohn berichtet über seine 300 Traktate nichts dergleichen.
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neue Konzeption zu entwickeln, sondern prüfte die vorhandenen Lehren auf ihre Konsistenz. Auch systematisierte er die verschiedenen Thesen über die Staatsräson mit der Absicht, die Politik als eine Wissenschaft zu entwerfen, in welcher der Lehre der Staatsräson ein zentraler Platz zukam. Das tat er, wie zu zeigen sein wird, unter Rekurs auf medizinische Konzeptionen. Settala bemühte sich nicht, den Zusammenhang zwischen Medizin und Politik in besonders plakativer Weise herzustellen wie etwa Canoniero, der bereits auf dem Titelblatt seines Staatsräsontraktats darauf verwies, dass er Doktor der Philosophie, Medizin und Theologie war.⁵⁷⁴ Wenige Seiten später stellte er die These auf, dass in der Politik wie in der Medizin Fachwissen vonnöten war, um den Staat nicht durch Quacksalberei umzubringen. Daher warnte Canoniero den Genueser Widmungsempfänger Giovanni Agostino Balbi, Politik zu betreiben wie jene, die wie unerfahrene Mediziner die menschlichen Körper umbringen oder sie deformieren oder sie schwächen und sie nicht heilen [...], und anstatt den großen Körper des Staates zu therapieren oder [seine Gesundheit] zu bewahren, ihm vielmehr Schaden zufügen, ihn verändern oder stören oder mit unvernünftigen Heilmitteln die ihm zugefügten Wunden vergrößern und neu aufreißen.⁵⁷⁵
Wie Cavriana verwies Canoniero auf seine medizinischen Qualifikationen, um seine eigenen Kompetenzen als politischer Autor zu begründen.⁵⁷⁶ Verglichen mit Canonieros offen vertretener Behauptung der Affinität von Politik und Medizin argumentierte Settala zurückhaltender.⁵⁷⁷ Dem möglichen Einwand, dass es nur Fürsten, Staatssekretären und anderen politischen Beratern zukam, sich über die politische Theorie zu verbreiten, nicht aber Ärzten und Philosophen,⁵⁷⁸ setzte er entgegen, dass sogar die Begründer derselben, Platon und Aristoteles, keine Staatssekretäre, sondern Philosophen gewesen waren.⁵⁷⁹
574 „Dottore di Filosofia Medicina e Teologia.“ Vgl. Canoniero, Dell’introduzione alla Politica, Titelblatt. 575 „i quali à guisa d’inesperti medici, ch’i corpi humani ammazzano, ò stroppiano, ò mal disposti rendono, et no li risanano, [...] et invece il gran corpo della Rep[ublica] di curare ò preservare, lo danneggiano, ò lo alterano, ò lo conturbano, e gli allargano con gli importuni rimedii le ferite dateli, ò li rinuovano quelle, che sono state da i pratici guarite, e risaldate.“ Ebd., S. 3 f. 576 Zu Cavriana vgl. hier Kap. 4.1.4. 577 Zum Verhältnis zwischen Politik und Medizin bei Canoniero vgl. Silvana D’Alessio: Per una nuova scienza. Medicina e politica nella prima età moderna. In: Antonella Argenio (Hg.): Biopolitiche. Avellino 2006, S. 1–27. 578 „Né sia chi dica, questa essere materia da essere trattata, o da prencipi, o da consegliere o secretario di prencipe, e non da medico o filosofo.“ Settala, Ragion di stato, S. 50. 579 „Platone e Aristotele, i quali piú di tutti si sono in questo affaticati, e non solamente posti i fondamenti a quest’arte, ma perfettamente fabricatala, essere stati filosofi.“ Ebd., S. 50.
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Zu den Ärzten und Philosophen zählte natürlich Settala selbst, der nicht nur viele Jahre als Arzt, sondern auch als Dozent für aristotelische Philosophie an der mailändischen Akademie der Scuole Canobbiane tätig war.⁵⁸⁰ Weiterhin begründete er seine politische Kompetenz mit seiner langjährigen Erfahrung als Berater und Beobachter politischer Vorgänge und mit der extensiven Lektüre politischer und historischer Werke: Ich mit meinem Alter von 73 Jahren habe viele politische Vorgänge und Handlungen von Fürsten und Staaten mit einiger Neugier beobachtet und viele Historiker aus vielen Ländern und in vielen Sprachen gelesen. Aus zahlreichen speziellen Situationen habe ich allgemeine Grundsätze abgeleitet, und spezielle Regeln aus allgemeinen Prinzipien.⁵⁸¹
Er berief er sich damit sowohl auf praktische Erfahrung als auch auf gelehrtes Wissen. Bereits Machiavelli hatte seine politische Kompetenz „durch lange Erfahrung mit den modernen Angelegenheiten und der beständigen Lektüre der antiken Werke“ begründet.⁵⁸² Dieses Verständnis der politischen Erfahrung beruhte auf dem frühneuzeitlichen Begriff der experientia, wie er auch in der Medizin angewendet wurde, der sowohl direkte praktische als auch indirekte theoretische Erfahrung meinte.⁵⁸³ Seine Kompetenz als Mediziner ließ Settala in politischem Zusammenhang völlig außen vor und bemerkte bescheiden: „Die Tatsache, dass ich Arzt bin, hindert mich nicht daran, meinen Verstand auf andere Wissensgebiete anzuwenden.“⁵⁸⁴ Sehr wahrscheinlich hatte Settala es im Unterschied zu Cavriana und Canoniero nicht nötig, den Zusammenhang von Politik und Medizin zu behaupten, da er als Dozent für aristotelische Philosophie über eine weitere Qualifikation verfügte, die den beiden Medizinern fehlte. Zwar war es üblich, dass
580 „tanto piú essendo piú di vent’anni, che in questa mia patria, nella famosa s[cuola] Canobiana, io leggo filosofia attiva.“ Ebd., S. 51. 581 „io in questa mia etá di settantatré anni, avendo osservate tante cose e azioni de’prencipi e republiche, con non poca curiositá, e avendo letto tanti storici di tante nazioni e linguaggi, e cavatone molti universali da’particolari, e molti particolari dagli universali.“ Ebd., S. 50. 582 „non ho trovato [...] cosa quale io abbia più cara o tanto existimi quanto la cognizione delle actioni degli omini grandi, imparata da me con lunga experienzia delle cose moderne et una continua lectione delle antiche.“ Machiavelli, Principe, Widmung, S. 108. Auch in den Discorsi heißt es: „quanto io ho imparato per una lunga pratica e continua lectione delle cose del mondo.“ Machiavelli, Discorsi, Widmung, S. 1198. 583 Siraisi, Disease and Symptom, S. 218. Vermutlich war der weite Erfahrungsbegriff nicht auf Medizin und Politik begrenzt. 584 „Né l’essere io medico impedisce il poter esercitare l’intelletto in altre materie.“ Settala, Ragion di stato, S. 51.
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sich Ärzte während des Studiums mit Philosophie befassten,⁵⁸⁵ aber unüblich, wie Settala beide Interessengebiete zeitlebens weiter zu verfolgen. So fühlte sich Settala weniger durch seine praktische Tätigkeit als Arzt in den Mailänder Hospitälern als durch seine Lehrtätigkeit über aristotelische Philosophie als politischer Autor qualifiziert.⁵⁸⁶ Wenngleich Settala seine medizinischen Qualifikationen nicht als Ausweis seiner politischen Kompetenzen benutzte, führte er Medizin und Politik doch eng, indem er medizinische Konzeptionen auf die Politik übertrug. Diese erfüllten wichtige strukturelle Funktionen in seiner Theorie der Staatsräson.
5.7.1 Politik als Wissenschaft Wie Zuccolo setzte Settala bei Boteros Definition der Staatsräson an und konstatierte, „dass der Staat eine feste Herrschaft über die Völker ist, und die Staatsräson die Kenntnis der Mittel, um eine solche Herrschaft zu gründen, zu erhalten oder zu vergrößern.“⁵⁸⁷ Der Erhalt des Staates, die conservatione, hatte absolute Priorität, da die Expansion leicht zu einer Veränderung der Staatsform führte und den Erhalt gefährdete. Das begründete Settala mit einem zoologischen Argument. Jede Expansion in Form eines starken Bevölkerungszuwachses änderte das rechte oder proportionale Verhältnis zwischen den drei Ständen, dem Patriziat, das aus Adel und Geldadel bestand, dem Mittelstand und dem Volk.⁵⁸⁸ Das führte zu einer Mutation der Spezies der Verfassung: Denn auf dieselbe Weise wie der Körper eines Lebewesens, das sich in den ihm eigenen Körperproportionen erhalten möchte, gut daran tut, alle seine Körperteile unter Wahrung der Proportionen zu vergrößern – denn wenn der Fuß auf die Größe von vier Ellen anwüchse, während der Rest des Körpers nicht über zwei Handspannen hinausreichte, würde dieses Lebewesen gar nicht entstehen oder sein Leben nicht erhalten bleiben, oder das Lebewesen könnte vielmehr sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht derart wachsen, dass es sich in eine andere Form verwandeln würde und jene verlieren, die ihm eigen ist –
585 “The typical graduate would take a doctorate in arts (i.e. philosophy) and medicine and would call himself philosophus et medicus.” Bylebyl, School of Padua, S. 338. 586 Wahrscheinlich hatten es Autoren mit Doppelqualifikationen nicht nötig, den engen Zusammenhang ihrer Gebiete herauszustreichen. Auch Cardano verzichtete als Arzt und Astrologe darauf, die Affinität der beiden Wissenschaften zu betonen, obwohl er sie quasi verkörperte. Grafton, Siraisi, Between the Election and my Hopes, S. 77. 587 „dicendo, che stato è un dominio fermo sopra i popoli, e ragion di stato notizia de’mezzi atti a fondare, conservare, e ampliare un dominio cosí fatto.“ Settala, Ragion di stato, S. 63. 588 „i nobili, o ricchi, i mediocri, i plebei.“ Ebd., S. 120.
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so verhält es sich auch mit den Republiken, in denen ein unverhältnismäßiges Wachstum einiger Teile zu einem Verlust der Harmonie führen kann und zur Transformation des Staats in eine völlig andere Form.⁵⁸⁹
Durch die Zurückstellung der Aspekte Gründung und Expansion geriet der Erhalt des Staates (conservatione) bei Settala zum ausschließlichen Ziel der Staatsräson und zum Hauptthema des Traktats. Der Begriff conservatione war zugleich mit der Pestpolitik und dem öffentlichen Gesundheitswesen verbunden, war doch Settala während der Epidemie von 1629–1630 als fisico conservatore für die Pestbehörde tätig, für die die Conservatori della Sanità arbeiteten.⁵⁹⁰ Die Logik des Erhalts war tatsächlich nicht nur ein zentrales Element des Pestdiskurses, sondern auch der Debatte um die Staatsräson.⁵⁹¹ Settala definierte Handeln aufgrund von Staatsräson als ein „mit dem Wesen, bzw. der Form des Staates konformes Handeln, dessen Erhalt oder Konstitution sich der Mensch zum Ziel gesetzt hat.“⁵⁹² Dabei hatte Settala wie Zuccolo vor allem die Bewahrung der ‚guten‘ Staatsformen (Monarchie, Aristokratie und Politie) im Sinn.⁵⁹³ Gemäß Settala war die Staatsräson ein politisches Mittel, dessen Qualität davon abhing, in welcher Staatsform es zur Anwendung kam: „Wenn sie [die politischen Maßnahmen] dazu dienen, das Schlechte aufrechtzuerhalten, sind sie ganz einfach schlecht,⁵⁹⁴ [...] und gut sind nur jene, die dem Erhalt der guten Fürsten und guten Staatsformen dienen.“⁵⁹⁵ Der Zweck der Maß-
589 „Perche sicome il corpo dell’animale, à volersi conservare nella sua proportionata statura, conviene che vada augmentandosi proportionatamente in tutte le sue parti; onde se il piè crescesse alla grandezza di quattro cubiti, non passando il resto del corpo sopra due palmi, non si riceverebbe, ò non si conservarebbe la vita dell’animale; ò veramente potrebbe anco talmente crescere in quantità e qualità, che mutarebbesi in altra forma, perdendo quella, che è propria dell’esser suo: Così anco il medesimo s’hà à presupporre delle politie, che un’accrescimento sporportionato seguito in alcune delle parti possa e stemperare, e tramutare la Republica in un’altra forma totalmente diversa dalla prima.“ Settala, Ragion di stato 1752, S. 560–2. 590 Tadino, Raguaglio della gran peste contagiosa, S. 77. 591 Jones, Plague and Its Metaphors, S. 112. 592 „operare conforme all’essenza o forma di quello stato, che l’uomo si ha proposto di conservare o formare.“ Settala, Ragion di stato, S. 64 f. 593 Vgl. „Onde l’operare per Ragione di Stato non verrà altro à dire, che uno operare conforme alla esenza, ò forma di quello Stato, che l’huomo si hà proposto di conservare, ò di costituire.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 56. 594 „servendo a conservar il male, saranno mali semplicemente.“ Settala, Ragion di stato, S. 66. 595 „solo saranno buoni quelli, che servono a’buoni prencipi e buone forme di republiche.“ Ebd., S. 66.
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nahmen aufgrund von Staatsräson war in allen Staatsformen derselbe, nämlich der Erhalt (conservatione). Verschieden war nur die Form der Staaten: Daher sind die Ziele von allen Arten der Staatsräson dieselben und bestehen in dem Bewahren der gewählten Form des Staates. Doch die Mittel sind verschieden, denn je nachdem, ob die Staatsform [moralisch] gut oder verwerflich ist, sind die Mittel gut oder schlecht.⁵⁹⁶
Settala versuchte auch, das Spezifische der Staatsräson zu bestimmen. Gegenüber Botero, der alle Mittel, die zum Erhalt, zur Expansion oder zur Gründung eines politischen Gebildes dienten, auf die Staatsräson zurückgeführt hatte, spezifizierte Settala, dass die Staatsräson nur in einem politischen Bereich eine wichtige Rolle spielte, und zwar der Exekutive. So vertrat er, dass die Staatsräson inhaltlich weniger umfassend sei als die politische Klugheit (prudenza civile), denn die Staatsräson habe ausschließlich mit der Exekutive zu tun, und nichts mit der Legislative und der Judikative.⁵⁹⁷ Settalas Einteilung der Politik und der herrschaftlichen Befugnisse in Exekutive, Legislative und Jurisdiktion ist erstaunlich, zumal sie häufig erst John Locke zugeschrieben wird. Settala machte kein Geheimnis daraus, dass sie aus der Politik des Aristoteles stammte.⁵⁹⁸ Auch andere politische Theoretiker wie Bodin kannten die aristotelische Unterscheidung. Bodin berücksichtigte sie jedoch bei seiner Aufzählung von Herrschaftsbefugnissen nicht. Stattdessen präsentierte er eine unzusammenhängende Liste in der Tradition der mittelalterlichen Regalien.⁵⁹⁹
596 „I fini adunque di tutte le ragioni di stato sono li medesimi, che sono il conservare quella forma di republica nella quale sono posti; ma i mezzi sono diversi: perché secondo che la forma della republica è buona o rea, i mezzi sono buoni o mali.“ Ebd., S. 65. 597 „non è vero, che la vera e buona ragion di stato sia l’istessa con la prudenza civile: perché questa è come genere alla consultatrice, legislatrice e giudiciale; e la ragion di stato solo sotto la consultazione si trattiene.“ Ebd., S. 55 f. Settala sprach wörtlich von prudenza consultatrice (‚beratende‘, ‚beschließende‘ Klugheit). 598 „Von diesen drei Teilen ist nun der eine das über die gemeinsamen Angelegenheiten beratende Element, der zweite das im Hinblick auf die Ämter, das heißt, welche müssen über welche entscheiden und welche Wahl hat bei ihnen stattzufinden, der dritte aber ist das richterliche Element. Das beratende Element entscheidet über Krieg und Frieden, über Kampfbündnis und dessen Auflösung, über Gesetze, über Tod, über Verbannung, über die Einziehung des Vermögens, über die Wahl der Ämter und ihre Rechenschaftsablage.“ Aristoteles, Politik IV, 13 (1298a1), S. 233. Vgl. Settala, Ragion di stato, S. 59. 599 Zu Bodins Referat von Aristoteles vgl. Bodin, Staat I, S. 285. Neben dem Recht auf Erlass und Aufhebung von Gesetzen folgten in wirrer Reihenfolge die Regalien: „das Recht über Krieg und Frieden zu entscheiden, die Entscheidung in letzter Instanz über die Urteile aller Magistrate, das Recht zur Ernennung und Absetzung der höchsten Beamten, das Recht, den Untertanen Steuern und Abgaben aufzuerlegen oder sie davon zu befreien, das Recht von der Härte
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Settala erwähnte die aristotelische Dreiteilung nicht nur, sondern wandte sie auch an, um die Zuständigkeitsbereiche der Politik und der Staatsräson zu unterscheiden. Jedes dieser drei Gebiete verfügte gemäß Settala über eine spezifische Form der Klugheit (prudenza). Die Staatsräson oder exekutive Klugheit (prudenza consultatrice) bildete zusammen mit der legislativen und judikativen die allgemeine Staatsklugheit (prudenza politica), die Grundlage der Regierungskunst („governo o arte del governare“): Diese regiert mit der ganzen politischen Klugheit, also der exekutiven, legislativen und judikativen, jene hingegen, wie wir zeigen werden, stützt sich fast ausschließlich auf die exekutive, aber auch nicht auf alle Dinge, die unter die exekutive Klugheit fallen, sondern sie beschränkt sich quasi nur auf jene Angelegenheiten, die mit den Mitteln zusammenhängen, mit welchen sich die Staatsform erhalten lässt.⁶⁰⁰
Settala verwendete die aristotelische Dreiteilung also schon mehrere Jahrzehnte vor Locke. Bezeichnenderweise war Settala wie auch Locke Arzt. Allerdings waren es sehr wahrscheinlich weniger die medizinischen Kenntnisse denn die Beschäftigung mit der Politik des Aristoteles, die zur Übernahme der Einteilung in drei Herrschaftsbereiche führte. Darüber hinaus spielte wohl auch juristische Unkenntnis eine Rolle. Während Bodin sich auf die mittelalterlichen Regalien stüzte, weil er sie als gelehrter Jurist kannte, hatten Settala und Locke wenig Erfahrung mit der juristischen Tradition. Settala differenzierte zwischen Politik und Staatsräson auch hinsichtlich ihrer Tragweite: „Die Politik umfasst alle Dinge, die zum ganzen Staatskörper gehören.“⁶⁰¹ Während die Politik auf das Gemeinwohl ausgerichtet war, diente die Staatsräson vor allem dem Wohl der Herrschenden: „Die Staatsräson zielt mehr auf das Wohl derjenigen, die an der Spitze des Staates stehen.“⁶⁰² Aller-
des Gesetzes durch Gnadenakte oder Dispense abzuweichen, die Befugnis, über die Währung, Anhebung und Senkung des Geldwertes und des Münzfußes zu bestimmen und das Recht, von Untertanen und ligischen Vasallen verlangen zu können, dass sie demjenigen, dem sie den Treueid zu leisten haben, uneingeschränkte Treue halten.“ Ebd., S. 294. 600 „Quella si governa con la prudenza politica tutta, consultatrice, legumlatrice e giudiziale: questa, come dimostreremo, è quasi tutta appoggiata alla consultatrice; ma non ancora peró abbraccia tutte le cose, che cadono sotto la prudenza consultativa, restringendosi quasi solo alle cose, che servono ai mezzi con li quali si conserva la forma di tal republica.“ Settala, Ragion di stato, S. 55. 601 „[la politica] contiene tutte le cose, che appartengono a tutto il corpo della republica.“ Ebd., S. 53. 602 „[il governo] mira principalmente al ben publico, e la ragion di stato piú al bene di coloro, che sono capi della republica.“ Ebd., S. 50. Fast wörtliches Referat von Zuccolo, Considerationi politiche, S. 55.
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dings sah Settala hier keinen Konflikt. Während Zuccolo die beiden Ziele – Erhalt des Staates oder der Macht eines Herrschers – als divergent auffasste, betrachtete Settala sie als zwei verschiedene teloi, die nicht kollidierten, weil er sie auf verschiedenen politischen Ebenen verortete. Da die Staatsräson nicht die ganze Politik, sondern nur die Exekutive umfasste, bezeichnete Settala sie als „die Wissenschaft oder das Handwerk, das die Regeln lehrt, mit denen der Herrscher und die gewählte Herrschaftsform des Staates erhalten werden kann.“⁶⁰³ Sie existierte in zwei Erscheinungsformen, einer praktischen und einer theoretischen: „Wir können sagen, dass es zwei Arten von Staatsräson gibt – eine, welche die Mittel lehrt, um die Staatsform zu erhalten, und eine andere, welche diese in die Tat umsetzt.“⁶⁰⁴ Dabei berief er sich im Anschluss an Zuccolo auf das Beispiel der Rhetorik: „Der Rhetor lehrt die Regeln und Mittel des Überzeugens, der Redner wendet sie praktisch an.“⁶⁰⁵ So verhielte es sich auch mit Theorie und Praxis der Staatsräson: Der politische Theoretiker lehrt die Arten, das Fürstentum oder den Staat gut einzurichten und die Mittel, den Staat sowohl mit den Gesetzen als auch mittels der exekutiven Staatsklugheit zu bewahren, der Herrscher nimmt sie in Gebrauch und praktiziert sie.⁶⁰⁶
Bei allen praktischen Wissenschaften gab es gemäß Settalas eine theoretische und eine operative Herangehensweisen, „eine, welche die Mittel und Methoden lehrt, die Ziele zu erreichen, und eine andere, die gemäß der Unterweisung in die ersteren diese zur Anwendung bringt.“⁶⁰⁷ Die praktische Anwendung erschien ihm wie Zuccolo als wichtiger, da sie die Theorie miteinschloss: „Die Anwendung schließt als das Noblere und Raffiniertere von beiden das erstere mit
603 „é la scienza o arte che ci insegna i precetti di conservar il dominante e il dominio nello stato che si ha eletto.“ Settala, Ragion di stato, S. 53. 604 „possiamo [...] dire, la ragion di stato esser di due sorti: l’una, che insegna i mezzi atti a conservare la forma della republica, e l’altra, che gli mette in opera; ma conosciuta l’ultima, non è difficile conoscere e intendere l’altra.“ Ebd., S. 52. 605 „Il retorico insegna i modi e i mezzi di ben persuadere, l’oratore gli pone in opera.“ Ebd., S. 52. Vgl. Zuccolo: „Quello, che’l Retorico insegna per ben persuadere, l’oratore il pone in opera.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 59. 606 „il politico insegna il modo di ben disponere il principato o republica, e i mezzi di ben conservarla tanto con le leggi quanto con la prudenza consultativa: il dominante gli mette in uso e pratica.“ Settala, Ragion di stato, S. 52. 607 „In tutte le scienze attive, e fattive, e nelle facoltá e arti, si danno due abiti: l’uno de’quali insegna a conoscere i mezzi e i modi per conseguir il fine; e l’altro, conforme agli insegnamenti di quel primo, si vale di quelli.“ Ebd., S. 52.
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ein.“⁶⁰⁸ Die Höherbewertung des ‚Operativen‘, wie es Settala nannte, kam in der Medizin erst im späten sechzehnten Jahrhundert auf.⁶⁰⁹ Der wichtigste Einfluss ging von den methodischen Überlegungen des Aristotelikers Jacopo Zabarella aus, der in Padua Naturphilosophie lehrte.⁶¹⁰ Er differenzierte mit aristotelischer Terminologie wie Zuccolo und Settala zwischen Medizin und Naturphilosophie, wobei er die Medizin als ars factiva bezeichnete und mit dem Terminus ‚operativ‘ bedachte.⁶¹¹ Settalas Unterscheidung zwischen einem praktischen und theoretischen Teil der Politik bedeutete auch, dass es eine Theorie der Politik oder vielmehr eine politische Wissenschaft gab, die sich zur praktischen Politik verhielt wie die Naturphilosophie zur Medizin. Im Rekurs auf das methodische Verhältnis zwischen Naturphilosophie und Medizin entwarf Settala hier eine Wissenschaft der Politik, bei der die Staatsräson eine zentrale Rolle spielte. Darüber hinaus verglich Settala ihr Verhältnis auch mit jenem zwischen Geometrie und Optik oder zwischen Arithmetik und Musik.⁶¹² So fanden sowohl die Politik als auch die Staatsräson einen Ort innerhalb der aristotelischen Wissenschaftsklassifikation. Settala sprach explizit von einer politischen Wissenschaft, einer scienza politica.⁶¹³ Bereits Zuccolo hatte Argumente geliefert, um die Politik in den aristotelischen Wissenschaftskanon zu integrieren, jedoch ohne die klare Absicht, die Politik als Wissenschaft zu konzipieren. Settala systematisierte Zuccolos Argumente mit dem Ziel, eine solche zu begründen. Settala war sich bewusst, dass seine politische Wissenschaft bislang nur auf Papier existierte und bedauerte, dass „diese politische Wissenschaft so wenig bekannt und schlecht verstanden“ sei.⁶¹⁴ Diese Anregung wurde weit entfernt aufgenommen, nämlich in Helmstedt,
608 „l’operativo, come piú nobile e fino dell’altro, in sé comprende il primo.“ Ebd., S. 52. Settala rekurriert hierbei auf das Beispiel des Rhetors, der zwar die Regeln und technischen Mittel der Redekunst kenne, aber deswegen nicht unbedingt ein guter Redner sein müsse. Vielleicht hatte Settala hierbei Isokrates im Sinn, den er häufiger zitierte, der zwar in einer eigenen Schule Redner ausbildete, jedoch aufgrund seiner Schüchternheit nicht im Traum daran dachte, selbst als Redner aufzutreten. Vgl. Zuccolo: „Ma, perche l’operante non può bene operare, se prima non conosce.” Zuccolo, Considerationi politiche, S. 59. 609 Maclean, Logic, Signs and Nature, S. 74. 610 Zu Zabarella und dem venezianischen und italienischen Aristotelismus vgl. Heikki Mikkeli: An Aristotelian Response to Renaissance Humanism. Jacopo Zabarella on the Nature of Arts and Sciences. Helsinki 1992, S. 12–18. 611 Maclean, Logic, Signs and Nature, S. 74 f. 612 Settala, Ragion di stato, S. 53. 613 Settala, Ragion di stato 1752, S. 356. 614 „per esser questa scienza Politica cosi poco ben conosciuta, et intesa.“ Ebd., S. 356.
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wo die Politik erstmals als wissenschaftliches Fach unterrichtet wurde.⁶¹⁵ Ihre Begründer, Henning Arnisaeus und Hermann Conring, waren beide Mediziner und hatten in Helmstedt nacheinander den Lehrstuhl für Anatomie inne. Wie Zuccolo und Settala stützten auch sie sich auf die politische Philosophie und Methodik des Aristoteles. Man hat sich gefragt, wieso die beiden politischen Theoretiker, die zumeist im Umfeld eines wenig modernen Aristotelismus verortet werden, ein so innovatives Programm umsetzten. Abgesehen von der Fehlinterpretation des Aristotelismus’ als verstaubte Schulphilosophie (derselbe Aristotelismus zeitigte bei Harvey recht originelle Ergebnisse) erklärt es sich durch die – nachweisbare – Rezeption der beiden italienischen Theoretiker der Staatsräson. Bislang ist übersehen worden, dass die Anregung zur Begründung der Politik als Wissenschaft von ihnen stammte.⁶¹⁶ Zuccolo und Settala hatten mit den beiden politischen Theoretikern aus Helmstedt gemeinsam, dass sie sich auf die antiken Konzeptionen der Politik, vor allem des Aristoteles, bezogen. Methodisch spielte Aristoteles, zumal in der zeitgenössischen Aufbereitung Zabarellas, eine wichtige Rolle für den Entwurf der Politik als praktische Kunst und als Wissenschaft unabhängig von den Rechtswissenschaften.
5.7.2 Settalas politische Pathologie Settalas Lehre der Staatsräson war nicht nur deshalb medizinaffin, weil sich der Autor sowohl politisch als auch medizinisch auf Aristoteles stützte, sondern weil medizinische Konzeptionen sein Staatsräsontraktat strukturierten. Settala insistierte im Gegensatz zu Zuccolo darauf, dass die Mittel zum Zweck des Erhalts der sechs verschiedenen Staatsformen verschieden seien: die Mittel, gute oder schlechte [Staatsformen] zu instituieren oder zu erhalten, können nicht dieselben sein oder auch nur ähnlich, vielmehr sind die Mittel, um die guten Staaten zu erhalten, die schon ihrer Natur nach untereinander verschieden sind, noch verschiedener von den Mitteln der schlechten [Staatsformen].⁶¹⁷
615 Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus, S. 6 f. 616 Dass Conring Zuccolo kannte, ist erwiesen. Auch Arnisaeus war mit der italienischen Staatsräsonliteratur vertraut. Dreitzel hat sich die Frage zeitgenössischer Vorbilder für den Helmstedter Entwurf der Politik als Wissenschaft nicht gestellt. Ebd., S. 118. 617 „i mezzi d’introdurre o conservar le buone e le male non possono esser i medesimi, né simili; anzi li mezzi di conservar le buone republiche, essendo esse di natura diversa tra di loro, saranno ancora diversi, come ancora i mezzi delle ree.“ Settala, Ragion di stato, S. 65.
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Daher gab es bei Settala ebenso viele Mittel wie Staatsformen. So kam er auf sechs verschiedene Arten der Staatsräson. Dabei behandelte er die Verfassungstypen wie zoologische Spezies, deren Unterarten genauer bestimmt werden mussten. Seine zoologische Klassifikation der Staatsräson strukturierte das ganze Traktat: Nach dem ersten Buch, das sich der Staatsräson im allgemeinen widmete, folgten sechs Bücher, die die Staatsräson als Mittel zum Erhalt der einzelnen Staatsformen behandelten. Settala folgte dem Dekadenzmodell, von der Monarchie, Aristokratie und Politie über die Tyrannis und Oligarchie bis zur Demokratie.⁶¹⁸ Dieser Aufbau hatte kein Vorbild in der Literatur der Staatsräson. Diese folgte keinem einheitlichen Modell, nach denen der Stoff strukturiert wurde. Das führte häufig zu einem unsystematischen Aufbau. Zuccolo etwa versprach dem Leser „100 Orakel“ oder Kapitel. Der Inhalt ließ sich mehr oder minder klar an den Kapitelüberschriften ablesen. Auch bei Ammirato bildeten die Kapitelüberschriften den einzigen inhaltlichen Anhaltspunkt. Eine übergeordnete Einteilung in Bücher existierte zwar, sie hatte allerdings mit dem behandelten Inhalt wenig zu tun. Besonders unübersichtlich war Frachettas Staatsräsontraktat, das im Titel „110 Kapitel, die ungefähr 8.000 Maxime oder universale Lehrsätze und Regeln oder Unterrichtungen über den Staat und den Krieg enthalten“,⁶¹⁹ ankündigte. Das war keine leere Drohung. Die Kapitel waren zwar übertitelt, bestanden jedoch ausschließlich aus extrahierten Sentenzen zumeist antiker Historiker und waren von einer kurzen Abhandlung (Discorso) gefolgt. Die versammelten Aphorismen und Sentenzen hatten nur einen vagen Bezug zum Thema des Kapitels.⁶²⁰ Das letzte Kapitel des 800-seitigen Traktats enthielt alles, was in den 109 thematisch keineswegs eng gefassten anderen Kapiteln keinen Platz gefunden hatte, all jene „Maximen und universale Regeln, die kein bestimmtes Thema haben.“⁶²¹ Ein Inhaltsverzeichnis enthielt die Ausgabe von 1647 nicht, was die Übersicht erschwerte.⁶²² Dagegen war nun Settalas Traktat außerordentlich systematisch aufgebaut und folgte einem medizinischen Modell. So orientierte sich die Einteilung in sechs
618 Buch II: Monarchie („Della ragion di stato regia“), Buch III Aristokratie („Della ragion di stato de gli ottimati“), Buch IV Politie („Della ragion di stato della vera republica“), Buch V Tyrannis („Della ragion di stato tirannica“), Buch VI Oligarchie („Della ragion di stato oligarchica, ò del governo de pochi“), Buch VII („Della ragion di stato democratica ò popolare“). 619 Frachetta, Seminario de’governi di Stato, Titelblatt. 620 Ebd., S. 72. Frachetta zitierte kaum moderne Historiker, und von diesen fast ausschließlich Francesco Guicciardini. 621 „Massime, et regole universali, che non hanno luogo determinato.“ Ebd., S. 787. 622 Girolamo Frachetta: Il seminario de’governi di Stato, et di guerra. Venedig 1647.
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Bücher nach den in ihnen behandelten Verfassungstypen vage an den verschiedenen humoralen Konstitutionen von Lebewesen. Der Zusammenhang zwischen Verfassungstyp und humoralpathologischer Konstitution war bereits sprachlich durch den Begriff der costitutione gegeben. Settala versuchte allerdings nicht, Verfassungstypus und humorale Konstitution in Konvergenz zu bringen.⁶²³ Als Mediziner nahm er die Existenz zahlreicher Unterarten und Mischtypen an, eine Vielzahl spezifischer Konstitutionen, die wie die individuelle humorale Konstitution von Lebewesen nicht leicht zu bestimmen waren.⁶²⁴ Die Einteilung von Settalas Traktat nach den sechs reinen Verfassungstypen setzte voraus, dass es für den Erhalt der einzelnen Staatsformen spezifische Maßnahmen gab: Viele haben Vorschriften der Politik und der Staatsräson aus Historikern wie Titus Livius und Cornelius Tacitus extrahiert [...], aber ohne System und Ordnung, und sie haben nicht zwischen politischen Rezepten und jenen der Staatsräson unterschieden, zwischen den guten und den schlechten [Staatsformen] und haben die spezifischen Vorschriften und ihre Maximen nicht auf die sechs verschiedenen Arten von Staaten abgestimmt.⁶²⁵
Was für den einen Staat gut war, bekam dem anderen möglicherweise weniger, ganz wie es in der Individualmedizin der Fall war.⁶²⁶ Zum Erhalt der Konstitution eines Staates bedurfte es ebenso spezifischer ‚Rezepte‘ wie bei der Therapie des Individuums. So sprach Settala konsequent von precetti, ärztlichen Vorschriften oder Rezepten, mit denen er politische Probleme zu behandeln gedachte. Darüber hinaus formulierte er Vorschriften und Regeln (avvertimenti), ein Begriff, der ebenfalls auf die Medikamentenherstellung verwies, zumal er fast identisch im Titel der italienischen Übersetzung von Settalas Traktat zum Thema als Avertenze et osservationi appartenenti alla compositione de medicamenti (1630) erschien.
623 Ein solcher Versuch findet sich in Thomas Starkeys A dialogue between Reginald Pole and Thomas Lupset (1535–1536). Archambault, The Analogy of the ‘Body’, S. 43. 624 „diese sechs sind die einfachen [Verfassungen], wobei es viele gemischte gibt, die daher nach der vorherrschenden [Form] benannt werden.“ („queste sei sono le semplici, essendovene molte di miste, che però ricevono poi il nome dalla prevalente“). Settala, Ragion di stato 1752, S. 280. 625 „molti aver cavati precetti, e politici e di ragion di stato, da istorici, come da Tito Livio e da Cornelio Tacito [...] ma senza metodo e ordine; né aver distinti i precetti politici da quelli della ragion di stato, né i buoni da’cattivi; né aver adattati a ciascuna delle sei specie di republica i propri precetti e le sue massime“ Settala, Ragion di stato, S. 48. 626 Jones, Plague and Its Metaphors, S. 107 f.
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In Hinblick auf die Aristokratie verkündete Settala: „Deshalb werde ich nicht versäumen, von der Staatsräson der Optimaten zu sprechen und die Rezepte [precetti] und Vorschriften [avvertimenti] auf die noch unvollkommenen Aristokratien anzuwenden.“⁶²⁷ Die pharmakologische Terminologie findet sich nur in Settalas Staatsräsontraktat.⁶²⁸ Ihr Gebrauch ist insofern interessant, als Rezepte ein Genre mit einer starken Handlungsaufforderung darstellen. Diesen Status zwischen Theorie und Praxis teilen die medizinischen Rezeptsammlungen mit den Staatsräsontraktaten.⁶²⁹ Auch die Frage, wozu er eigentlich Anweisungen zum Erhalt der negativ konnotierten Staatsformen gab, beantwortete Settala ausgesprochen medizinisch. So wie der Arzt nicht nur die Gesundheit kennen durfte, sondern ebenfalls über Krankheiten Bescheid wissen musste, sollte sich auch der Politiker in der politischen Pathologie auskennen: Das Ziel des Arztes ist die Gesundheit, und die Krankheiten zu kennen, die diese zerstören, und zwar, um sie zu vertreiben und erneut die Gesundheit wiederherzustellen. Der Arzt beschäftigt sich nicht mit Giften, um sie zu empfehlen, sondern um die Heilmittel zu lehren, sie zu besiegen, und dann, nachdem die Krankheit überwunden ist, die Gesundheit wiederherzustellen.⁶³⁰
Bereits Ammirato hatte im Proömium seines Tacitus-Kommentars den Vergleich zum Gift gezogen und sich gleich auf die Arzneimittelherstellung berufen: Es ist legitim für den Autor [...], [aus Tacitus] die guten Schlussfolgerungen herauszuziehen und aus ihnen exzellente Lehrsätze zu bilden. Es darf mir nicht verboten werden, was jede
627 „Peró non mancherò di trattare della ragion di stato degli ottimati, applicando i precetti e gli avvertimenti alle aristocrazie ancorché imperfette.“ Settala, Ragion di stato, S. 96. Vgl. auch S. 106. 628 Geprüft wurden Zuccolo, Palazzo, Frachetta, Botero und Ammirato. Precetto kann auch in einer allgemeineren Bedeutung als ‚Vorschrift‘ verwendet werden, wird es aber nicht. Die anderen Traktate sprechen bevorzugt von regole und massime. Zuccolo sprach häufiger von rimedio (Heilmittel) und medicina (hier: Medikament). Auch Settala sprach zuweilen von rimedi. 629 Burke, Tacitism, S. 483. Burke bezeichnet die Staatsräsontraktate als “How-to-do-it books“. 630 „Il fin del medico è la sanitá, e saper i mali che quella distruggono, per potergli cacciare e di nuovo introdur la sanitá. Tratta il medico de’veleni, non per insegnargli, ma per mostrar i rimedi da vincerli, e superati gli accidenti introdur la sanitá.“ Settala, Ragion di stato, S. 53. Cohn, der dem Thema Medizin und Politik eine einzige, instruktive Seite widmet, nimmt an, dass Settala mit dieser Passage seine Beschäftigung mit der Politik rechtfertige. Das trifft jedoch, wie den obigen Ausführungen zu entnehmen ist, nicht zu. Settala rechtfertigte hier nur seine Beschäftigung mit den schlechten Staatsformen und den Mitteln zu ihrem Erhalt. Cohn, Cultures of Plague, S. 262.
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Ratsversammlung den Medikamentenherstellern gestattet, dass sie nämlich aus Vipern und Skorpionen und nicht nur aus giftigen Tieren, sondern auch aus Pflanzen Säfte und Medikamente extrahieren dürfen, die heilsam sind.⁶³¹
Hinsichtlich der Pathologie boten die Staaten mit ‚schlechter‘ Verfassung ein reicheres Anschauungsmaterial als die ‚guten‘. Wie Individuen mit einer schwachen Konstitution, bedurften sie mehr therapeutischer Zuwendung als Staaten mit einer ‚gesunden‘ Verfassung. So nannte Settala die vierte Subspezies der Oligarchie, eine Art oligarchische Despotie, nicht nur noch schlechter, sondern auch ungesünder als alle anderen Verfassungstypen: Daher muss sich der Politiker mehr anstrengen, um Mittel und Verfahren zu finden, mit welchen diese gut eingerichtet werden können. Und einmal begründet, müssen sie erhalten werden, und vor Gefahren beschützt, da sie, wie der schlechteste Staat, gewöhnlich leicht umgeworfen werden. Denn, wie ich bereits gesagt habe, so wie schlecht temperierte und schwache Körper, die bei jeder kleinen Verstimmung, sei sie durch das Essen oder Trinken, durch die Luft oder durch irgendeine innere oder äußere Ursache hervorgerufen, gleich schwer krank werden und in Lebensgefahr geraten [...], so sind, wie Aristoteles lehrt, die lasterhaften und schlecht temperierten Republiken noch viel weniger in der Lage, Auseinandersetzungen und Intrigen auszuhalten, die gegen sie unternommen werden, weshalb sie bei ihrer Einrichtung, Gründung und ihrem Schutz mehr Fürsorge und Arbeit erfordern.⁶³²
Die schwache Gesundheit der oligarchischen Despotie, die sich ihrer schlechten konstitutionellen Disposition ergab, wurde bereits durch geringfügige diätetische Fehler beim Essen, Trinken und der Qualität der Luft erschüttert.⁶³³ Von Aristote-
631 „esser lecito all’autore [...] di cavarne le sue conclusioni buone, e di formarne le sue propositioni ottime; quando pur questo fosse, non dee eßer a me ne negato di far quello, che in ogni civil ragunanza a componitori di medicamenti è conceduto: cioè, che come ad essi da vipere, e da scorpioni, e non solo da animali, ma da piante velenose è permesso cavar unguenti, e medicine utile all’infirmità.“ Ammirato, Discorsi sopra Cornelio Tacito, o. S. 632 „perciò dovere il Politico più affaticarsi in trovar modi, et ingegni, con li quali possa ben fondarsi: Et istituti tali che possa conservarsi, et difendersi da i pericoli, che, come à pessima Republica, più sogliono soprastare, essendoche, come disopra hò detto, sicome i corpi mal disposti, e debboli per ogni leggier disordine, ò nel mangiar e bere, ò del aere, ò di qualsivoglia causa ò interna, ò esterna sogliono cadere in gravi infirmità, e scorrere pericolo di morte [...]; cosi insegna Aristotele quanto più le Repub[liche] sono viciose, e mal disposte; tanto meno atte si ritrovano à sostenere gli incontri, e le machine, che le vengono preparate contro; e perciò haver bisogno di maggior cura, e diligenza a disporle, formarle, e defenderle.“ Settala, Ragion di stato 1752, S. 460. 633 Diese ‚Umweltfaktoren‘ zählten zu den sex res non naturales. Vgl. Kümmel, Musik und Medizin, S. 132.
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les stammte dieses diätetische Argument natürlich nicht. Daher brauchten diese Staaten „mehr Prävention und Therapie, da die schlechten Staatsformen mehr Stützbalken und Halt benötigen.“⁶³⁴ Gut eingerichtete, mit einer gesunden Konstitution ausgestattete Staaten bedurften der ärztlichen Zuwendung seltener als die ungesünderen und schlecht eingerichteten Staatsformen. Nur aus diesem Grund habe Aristoteles mehr über die Bewahrung der ‚schlechten‘ Staatsformen geschrieben als über die lobenswerten Verfassungstypen, nicht, weil sie ihm als besonders erhaltenswert erschienen.⁶³⁵ Auf Settalas eigene Ausführungen angewendet, müsste man jedoch schließen, dass er die Monarchie für die problematischste Staatsform hielt (145 Seiten), für annähernd doppelt so problematisch wie die Demokratie (93 Seiten) und die Tyrannis (89 Seiten). Zum Erhalt von Aristokratie und Politie hatte Settala ähnlich viel zu sagen (79 und 71 Seiten); die wenigsten Worte entlockte ihm eine der problematischsten Staatsformen, die Oligarchie (63 Seiten). Auch die Binnenstruktur der einzelnen Bücher in Settalas Staatsräsontraktat folgte einem ähnlichen Aufbau wie seine medizinischen Schriften. Das wird besonders anhand seiner kleinen Pestschrift Preservatione dalla Peste (1630) deutlich. Das Traktat begann mit der Definition der Pest, der Bestimmung des Status’ der Krankheit in der Pathologie und ihrer wichtigsten Merkmale. Es folgte eine ausführliche Analyse der Pestursachen, gefolgt von der Schilderung der Krankheitszeichen, -symptome und -vorzeichen, durch die sich die Krankheit ankündigte. Darauf erfolgte eine Zäsur, die den Übergang zu den präventiven und kurativen Maßnahmen markierte, mit denen sich Individuen vor der Infektion schützen konnten. Die Maßnahmen ließen sich in chirurgische und medikamentöse unterteilen.⁶³⁶ Die Identifikation von präventiven und kurativen Mittel ließ die Trennung zwischen diesen ärztlichen Verfahren verschwimmen. Das erste Buch von Settalas Staatsräsontraktat trug den Titel „Über die allgemeine Staatsräson“ („Della Ragion di stato in commune“) und diskutierte verschiedene Definitionen der Staatsräson. Während sich die Frage, ob die Pest eine Krankheit war, in medizinischer Hinsicht nicht ernsthaft stellte, warf Settala in politischer Hinsicht die Frage auf, ob die Staatsräson selbst eher eine politische Krankheit oder ein therapeutisches Mittel gegen dieselbe war. Die weiteren
634 „havendo più bisogno di preservatione e di cura: essendoche nelle ree sempre facci più bisogno de’pontelli, e sostenamenti, che nelle rette.“ Settala, Ragion di stato 1752, S. 294. 635 Dabei bezog sich Settala auf die Bücher IV bis VI der Politik, die vornehmlich die Machttechniken zum Erhalt der Tyrannis erörterten. 636 Da die chirurgischen Maßnahmen in einem eigenen Traktat behandelt wurden, kamen sie hier kaum zur Sprache. Vgl. Settala, Cura locale.
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Bücher setzten sich mit den spezifischen Problemen der einzelnen Verfassungstypen auseinander und empfahlen politische Gegenmaßnahmen. Im Fall der Aristokratie identifizierte Settala den Fortbestand des Staates mit der Aufrechterhaltung seiner Gesundheit. Die Merkmale der Gesundheit ergaben sich ex negativo aus dem Zustand der Krankheit: Bisher haben wir die Ursachen für die Umwälzungen und Vernichtung von aristokratischen Staaten erläutert und die Heilmittel, diese entweder zu kurieren oder abzuwenden – nun bleibt nur noch, die Ursachen für den Erhalt dieser Staatsform zu erörtern und die Wege, sie zu bewahren. Dabei fassen wir uns jedoch kurz, denn sofern die Ursachen für ihren Zerfall bekannt sind, versteht man auch sehr leicht die Gründe für ihre Gesundheit.⁶³⁷
Da der pathologische Zustand den gesunden zu erkennen gab, leiteten sich die Mittel zum Erhalt des Staates aus der politischen Pathologie ab. Daher konzentrierte sich Settala so stark auf die Krankheiten, dass er den unwahrscheinlichen Fall ihrer Abwesenheit gar nicht erst diskutierte. Bevor man die politischen Probleme behandelte, musste man ihre Ursachen kennen: Die Mediziner haben die lobenswerte Überzeugung, dass die Menschen weder vor den Krankheiten geschützt noch von ihnen geheilt werden können, wenn man nicht zuerst die Gründe für den Zustand der Gesundheit in Erfahrung gebracht hat sowie jene, welche die Krankheit verursachen.⁶³⁸
Politiker taten gemäß Settala gut daran, dem ärztlichen Beispiel zu folgen. Politische Krankheiten manifestierten sich in allen Staatsformen durch wenige, aber eindeutige Krankheitszeichen wie Aufstände und Umstürze, die die Staatsform zu verändern drohten.⁶³⁹ Aufstände und Umstürze nahmen in den verschiedenen Verfassungstypen unterschiedliche Formen an. So waren Monarchien vor allem
637 „Abbiamo fin qui proposte le cause delle mutazioni e distruzioni delle republiche degli ottimati, e i rimedi o per rimediargli o impedirle; ora ci restano da proporre le cause della conservazione di tal forma di republica e il modo di preservarla: nel che saremo alquanto piú brevi, perché, conosciute le cause della rovina loro, facilmente si conoscono le cause della salute.“ Settala, Ragion di stato, S. 104. 638 „Ben giudicarono i Medici, non potersi gli huomini ò preservare da i mali, ò ben curarsi, se prima non si conoscono le cause dello stato della sanità, e quelle che ci apportano le infirmità.“ Settala, Ragion di stato 1752, S. 358. 639 „mutazioni di stato, e [...] sedizioni e ribellioni“. Settala, Ragion di stato, S. 76; „sedizioni, tumulti, e finalmente congiure e mutazioni di stato“, S. 94; „sedizioni, tumulti, e mutazioni di forma di republica“. S. 106. Auch der Terminus mutatione hat eine ausgesprochen revolutionäre Implikation – Campanella verwendete ihn im Sinn eines gravierenden Umsturzes, der später mit
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von Glaubenskriegen, Aristokratien von Bürgerkriegen und Politien bevorzugt von Volksaufständen bedroht. Das allgemeinste Krankheitszeichen von Settalas politischer Pathologie war also der Konflikt, den er im Unterschied zu Machiavelli nicht als Motor der Expansion verstand, sondern als Indikator einer lethalen politischen Krankheit. Daher äußerte sich Settala zur Frage, ob Herrscher zur Absicherung ihrer eigenen Macht politische Konflikte schüren sollten, überaus ablehnend. Obwohl dieser Vorschlag von Machiavelli stammte, schrieb Settala ihn Cato zu: Es war die Ansicht Catos und anderer sehr kluger Politiker, dass es nützlich sei, die Uneinigkeiten und Parteibildung, die zwischen zwei bedeutenden und mächtigen Bürgern entstanden waren, noch weiter anzuheizen, um den Gefahren vorzubeugen, die eine Aristokratie zerstören könnten.⁶⁴⁰
Settala dürfte bewusst gewesen sein, dass dieser Gedanke von Machiavelli stammte. Er apostrophierte ihn zuweilen als „florentinischen Sekretär“, ohne ihn jedoch namentlich zu erwähnen.⁶⁴¹ Das hatte seinen Grund sehr wahrscheinlich in der Zensurpraxis, zumal Machiavellis Werke ja indiziert waren.⁶⁴² Politische Konflikte waren gemäß Settala kein Therapeutikum, sondern Gift für den Staat. So habe Titus Livius vertreten, „dass die Uneinigkeit zwischen den Ständen das wahre Gift der Staaten ist.“⁶⁴³ Damit verglich Settala die Ursache der politischen Krankheit des Konflikts mit Gift. Settala behandelte das Thema des Giftmordes in einem eigenen Kapitel.⁶⁴⁴ Darin riet er zum generellen Austausch von Brot, das zum Essen gereicht wurde. Er lehnte die Zwischenschaltung von Vorkostern ab, da diese mitvergiftet werden oder aber selbst Komplizen beim Giftmord sein konnten. So könne ein Vorkos-
dem Namen Revolution bedacht wurde. In der Frühen Neuzeit waren Revolutionen gleichförmige zyklische Phänomene wie die Planetenumläufe. Vgl. hier Kap. 3.1. 640 „Fu parere di Catone e d’altri prudentissimi politici, per fuggire i pericoli che potessero distruggere una republica degli ottimati, o de’pochi, esser utile il fomentar le discordie e le fazioni che fossero nate tra due grandi e potenti.“ Settala, Ragion di stato, S. 112. 641 Ebd., S. 45. 642 Trotz der offenkundigen Inspiration bezog sich keiner der italienischen Autoren der Staatsräson offen und positiv auf Machiavelli. Der einzige der hier behandelten Autoren, der das tat, war Bacon. Er befand sich außerhalb der Reichweite der italienischen Zensur. 643 „Livio notò che le discordie degli ordini sono il vero veleno delle republiche.“ Ebd., S. 113. Settala dürfte sich auf die Livius-Rezeption Machiavellis oder Guicciardinis beziehen. 644 „Dass sich der König vor Anschlägen auf sein Leben schützen muss, die gegen ihn mittels Gift unternommen werden.“ („Che deve il re guardarsi dall’insidie che si fanno alla persona sua per mezzo de’veneni.“). Settala, Ragion di stato 1752, S. 70–73.
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ter „von jenem Stück essen, von dem er weiß, dass es nicht vergiftet [infetta] ist.“⁶⁴⁵ Settala verwendete hier den Terminus „infiziert“ (infetta). Auch in politischem Zusammenhang rekurrierte Settala also auf Ficinos Ansteckungslehre.⁶⁴⁶ Darüber hinaus betrachtete er das Gift, das politische Konflikte generierte, als ansteckend. So lehnte Settala die Parteinahme von aristokratischen Herrschern im Konfliktfall ab, weil sich Auseinandersetzungen zwischen mächtigen Personen infektionsartig auf einen Großteil der Einwohner auszudehnen pflegten: Diejenigen, die den Zügel des Staates in der Hand haben, müssen [einen solchen Fall] gemeinsam vorhersehen und prophylaktische Maßnahmen dagegen ergreifen, damit das Feuer dieser Streitigkeiten nicht auf die Gemüter der anderen übergreift.⁶⁴⁷
Die Frage, ob Herrscher im Konfliktfall Partei ergreifen sollten, war seit Machiavelli ein gängiger Topos der politischen Literatur.⁶⁴⁸ Während Machiavelli dies ebenso ablehnte wie Bacon,⁶⁴⁹ befürwortete Bodin, den Settala als Referenz nannte, die Idee.⁶⁵⁰ Settalas Argument, dass innenpolitische Konflikte einen infektiösen und gleichsam epidemischen Charakter aufwiesen, war jedoch singulär. So beschrieb Settala den republikanischen Konflikt zwischen Lepidus und Maecenas als lauffeuerartig, bis es Maecenas gelang, „den Brand des neuen Bürgerkriegs“ zu löschen.⁶⁵¹ Settala erblickte die als giftiges Kontagium verstandene Ursache politischer Konflikte in den Lastern der Bürger, die ihm nicht nur aus moralischen Gründen missfielen.⁶⁵² Er benannte sieben Hauptursachen oder Laster, die den Niedergang von Staaten bewirkten, nämlich „die Ehre, den Reichtum, die Schande, die
645 „potrà doppo vomitare; potrà mangiare di quella parte, che sà non esser infetta.“ Settala, Ragion di stato 1752, S. 72. 646 Vgl. hier Kap. 5.2.4. 647 „dovendo e insieme chi ha la briglia in mano del governo provedere e prevenire con rimedi opportuni, che non s’attacchi il fuoco di queste discordie negli animi degli altri.“ Settala, Ragion di stato, S. 107. 648 Der gemeinsame Nenner der Schriften, die diese Frage behandeln, dürfte die MachiavelliRezeption sein. 649 Machiavelli, Discorsi III, 27, S. 1109 f. 650 Kap. IV, 7 trägt den instruktiven Titel „Ob der Fürst bei inneren Unruhen Partei ergreifen und der Untertan gezwungen werden sollte, einer der beiden Parteien beizutreten und über die Mittel zur Beilegung von Aufständen.“ Bodin, Staat II, S. 135 ff. 651 „estinse l’incendio della nuova guerra civile.“ Settala, Ragion di stato, S. 115. 652 „la republica tanto si conserverá [...] quanto le virtú civili e le buone legi signoreggiaranno.“ Ebd., S. 96. Der Begriff der virtù hat nicht nur moralische Implikationen, sondern bezeichnet auch Fähigkeit oder Leistung.
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Angst, die Verachtung, das Sichhervortun und das Wachstum.“⁶⁵³ Problematisch waren diese Verhaltensweisen für Settala deshalb, weil sie Konflikte erzeugten, die drohten, epidemisch um sich zu greifen. Sie übertrugen sich wie die Pest von Person zu Person, bis schließlich der ganze Staat von ihnen infiziert war: Wenn man in irgendeiner Weise erreichen könnte, dass die Bürger stets gut handelten und ehrenwerte Ziele verfolgten und den unehrenhaften aus dem Weg gingen, würde der gute Staat ewig bestehen. Wenn nur jene, die ihn regieren, das in das Laster abgleitende Volk unterstützen würden, denn da sich durch seine wilde Gier die ganze Stadt mit Lastern ansteckt, müssten seine Fehler durch die Enthaltsamkeit verbessert und korrigiert werden.⁶⁵⁴
Neben einer natürlichen Neigung der Bevölkerung zur Sittenlosigkeit konnte die ‚Infektion‘ mit lasterhaftem Verhalten wie die Pest auch eingeschleppt werden. Nicht selten war das Laster ein Importartikel, der die heimischen Gebräuche durch anhaltenden Kulturkontakt ‚infizierte‘ und veränderte: Entweder durch den beständigen Umgang mit Ausländern oder im Verlauf der Zeit oder durch die Nachlässigkeit der Herrschenden infizieren sie [die einheimischen Sitten] sich ganz allmählich mit den fremden Gebräuchen, die, wenn dem nicht vorgebaut wird, sehr leicht die Staatsform umstürzen können.⁶⁵⁵
653 „Sette principali cause delle rovine, e distruttioni delle Republiche [...]: l’honore, il guadagno, l’ingiuria, la paura, lo sprezzo, l’eccellenza, e l’accrescimento.“ Settala, Ragion di stato 1752, S. 358. Die Monarchien wurden von den beiden letztgenannten Ursachen ausgenommen. Trotz ihrer Siebenzahl waren die genannten nicht mit den christlichen Lastern identisch. Wahrscheinlich bezog sich Settala auf die römischen Laster, die Sallust benannte: „Seit der Reichtum Ehre brachte und sich in seinem Gefolge Ruhm, Herrschaft und Macht einstellte, begann die sittliche Kraft zu erlahmen, Armut für Schande, Redlichkeit für Bösartigkeit zu gelten. Also rissen infolge des Reichtums unter der Jugend Üppigkeit und Habsucht samt Frevelmut ein: überall Raffen und Prassen, Unzufriedenheit mit dem eigenen, Gier nach fremdem Gut, Gleichgültigkeit gegen Schamhaftigkeit und Keuschheit, gegen alles Göttliche und Menschliche, kein Gewissen, keine Selbstbeherrschung.“ Sallust, Die Verschwörung Catilinas V, 12. 654 „se in qualche maniera si potesse ottenere che i cittadini di continuo bene operassero e seguitassero le cose oneste e fuggissero le brutte, perpetua sarebbe la buona republica, purché quelli che la governano sostenessero il popolo sdrucciolante: perché si come dalle loro cupidità tutta la cittá s’infetta di vizi, cosí si emenda e corregge con la continenza.“ Settala, Ragion di stato, S. 90. 655 „o con la continua pratica coi forastieri, o per la proprietá del tempo, e per la negligenza di coloro che governano la republica, pian piano s’infettano de’costumi forastieri; al che se presto non vien provisto, facil cosa è mutar forma.“ Ebd., S. 109.
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Ohne frühzeitige Intervention drohte die Ausbreitung des ‚Kontagiums‘ der fremden Sitten und Gebräuchen wie im Pestfall durch Infektion von Mensch zu Mensch.
5.7.3 Therapeutische Grundsätze des politischen Handelns Die Ausbreitung der Laster wollte Settala mit jenen Maßnahmen verhindern, die ihm durch die Pestpolitik vertraut waren: Antizipation der Gefahr, Prävention und frühzeitige Intervention. Es galt, die Ursachen der politischen Krankheiten möglichst früh zu erkennen, damit sich aus unauffälligen Symptomen keine schwere Krankheit mit galoppierendem Verlauf entwickelte: Man darf nicht über irgendwelche kleine Verfehlungen am Anfang hinwegsehen, denn da sie klein sind und wenig beachtet werden, fassen sie allmählich Fuß. Während sie anwachsen, kann man sich ihnen noch leicht entgegenstellen oder sie entfernen, aber einmal voll entwickelt, lassen sie sich nicht mehr beseitigen, wie bei den Krankheiten, principiis obsta, sero medicina paratur, etc. [Wenn die Krankheit in ihren Anfängen ist, such sie zu bekämpfen, sonst kommt die Heilung zu spät]⁶⁵⁶
Auch in diesem Fall war es weniger Ovid als Machiavelli, der die Notwendigkeit zur Früherkennung ‚pathologischer‘ politischer Entwicklungen anhand des Modells der Tuberkuloseerkrankung postuliert hatte.⁶⁵⁷ Während Machiavelli die frühzeitige Therapie empfahl, weil die Krankheit im fortgeschrittenen Stadium unheilbar wurde, hielt Settala die Intervention für nötig, um ihre epidemische Ausbreitung zu verhindern. Misslang die Früherkennung der politischen Krankheit, empfahl Settala ein Verfolgungsprogramm, das inhaltlich und begrifflich mit den Pestmaßnahmen korrespondierte: Man sollte den Ehrgeiz einsperren, die Gier eliminieren, den Hochmut verbannen und die Verschwendung, die Zerstörerin des Wohlstands, und all die anderen häßlichen Bestien, damit sich die [Republiken] lange Zeit stabil und fest am Leben halten.⁶⁵⁸
656 „Non si deve sprezzare qualsivoglia errore nel principio, perché essendo piccolo, e perció poco stimandosi, pian piano pigliando possesso, e perciò avanzandosi, e potendovisi facilmente opporre e levarlo, accresciuto non si puó sradicare: come ne’morbi, principiis obsta, sero medicina paratur, etc.“ Ebd., S. 100. Das Zitat stammt aus Ovids Remedia amoris. 657 Vgl. hier Kap. 4.2.3. 658 „Sequestrisi l’ambizione, tolgasi la cupidigia, si bandisca la superbia e il lusso distruttore delle ricchezze, e l’altre bruttissime bestie, che quelle [le republiche] stabili e ferme per lungo tempo si conserveranno.“ Settala, Ragion di stato, S. 97.
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Dabei übertrug Settala die Maßnahmen des Einsperrens, Verbannens und Isolierens, wie sie in Pestepidemien praktiziert wurden, auf politisch bedenkliche Verhaltensweisen der Individuen. Die Maßnahmen zur Abwehr politischer Aufstände glichen also jenen zur Pestbekämpfung, die Settala im zweiten Teil der Preservatione dalla Peste formulierte. Settala sprach auch in politischem Zusammenhang von Prävention und von präventiven therapeutischen Maßnahmen (rimedi preservativi), wie er es bezüglich der Medizin getan hatte: Bisher haben wir die präventiven Heilmittel [rimedi preservativi] der Aristokratie und Oligarchie gelehrt: damit keiner [der Herrschenden] allzu große Macht erhielte [...] und sich daranmachte, die Staatsform umzuwerfen und sich zum absoluten Herrscher zu machen. Nun bleibt noch, die Therapie zu lehren, das heißt, die Wege, um zu verhindern, dass sich der, der sich vor den anderen ausgezeichnet hat, [...] zum Herrn macht und die Staatsform ändert.⁶⁵⁹
Die Maßnahmen, die Settala vorschlug, um den Machtzuwachs eines aristokratischen Herrschers zu verhindern, unterschieden sich nicht von jenen, die Umwandlung einer Aristokratie in eine Monarchie abzuwenden. Settala plädierte in beiden Fällen für die offene oder verdeckte Vertreibung der gefährlichen Individuen aus dem Staat. Für die politische Behandlung galt dasselbe wie für die medizinische: Die präventiven Mittel unterschieden sich nur graduell von den therapeutischen. War die politische Krankheit akut, musste einfach das gleiche Mittel mit mehr Radikalität angewandt werden, analog zum Prinzip der Verdopplung der Dosis, das Settala im Kontext der medikamentösen Therapie formuliert hatte.⁶⁶⁰ Eine weitere pharmakotherapeutische Maxime rief Settala mit der Forderung auf, gegen jede politische Krankheit ein spezifisches Gegenmittel zu verabreichen: „Um zur speziellen Natur der Heilmittel zu kommen, so ist das letzte, das von den Ärzten gewöhnlich empfohlen wird, auch das speziellste. Daher gedenke ich nun, wie ich es bei den anderen Staatsformen gemacht habe, nun zu den spezifischen präventiven Mitteln zu kommen.“⁶⁶¹ Settala verglich seine Ratschläge
659 „Abbiamo fin qui insegnati i rimedi preservativi nella republica aristocratica e oligarchica: acciò facendosi alcuno troppo potente [...], non procurasse di distruggere la republica e farsi assoluto signore. Ora resta da insegnar la cura, cioè il modo di impedire, che colui che sopra gli altri si è fatto, [...] non si facci patrone mutando la forma della republica.“ Ebd., S. 114. 660 Vgl. Settala, Preservatione, S. 45 und hier Kap. 5.6.5. 661 „perche il venire alla particolar materia de’rimedi, è l’ultimo, che da medici è solito proporsi, come più particolare; perciò hò pensato, come hò fatto nelle altre forme di Republiche; di venire à rimedi preservativi particolari.“ Settala, Ragion di stato 1752, S. 488 f.
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mit den speziellen Ingredienzien, die zur medikamentösen Therapie notwendig waren: das Erkennen der gerade genannten Ursachen der Umstürze [rivoluzioni] müsste eigentlich genügen, um sie zu heilen, doch da bei der medikamentösen Behandlung, wenn man den Präparaten nicht spezielle Ingredienzien hinzufügt, die Therapie unvollständig bleibt, gedachte ich nun, um die Prävention und Therapie dieser vielen Krankheiten, die diese Staatsform gefährden, vollständig zu machen, zu den speziellen Mitteln und Rezepturen zu kommen, mit denen Aufstände verhindert und die Ursachen für den Umsturz und Niedergang dieser Staatsform eliminiert werden können.⁶⁶²
Weiterhin machte Settala das therapeutische Behandlungsprinzip der contraria contrariis, also einer Krankheit ein Medikament entgegenzusetzen, das ihr möglichst unähnlich war, politisch fruchtbar.⁶⁶³ Hinsichtlich der Oligarchie formulierte er: Das, was oben bereits über die Ursachen, Veränderungen und den Zerfall dieser Staatsform gesagt wurde, müsste genügen, um die Heilmittel zur Aufrechterhaltung und Konservierung der oligarchischen Staatsform aufzufinden, und um jeder dieser Ursachen ihr Gegengift entgegenzusetzen, und ihr Gegenmittel [rimedio contrario].⁶⁶⁴
Der Einsatz von Giften, die dem Krankheitsgift entgegenwirken sollten, zeitigte jedoch nicht immer die gewünschte Wirkung, ob medizinisch oder politisch. Die Ambivalenz des Giftes war ein verbreiteter medizinischer Topos. In medizinischer Hinsicht war Settala den Giften gegenüber nicht abgeneigt. So empfahl er gegen die Pest ein Elektuarium, den „Lattorvaro dell’Ovo dell’Imperator Massimiliano primo“, das nicht nur aus opiathaltigem Theriak, sondern auch aus Brechnuss (noce vomica) bestand. Letztere enthielt hochdosiert Strychnin
662 „ancora che dovrebbe bastare l’assegno delle cause già annoverate delle rivoluzioni per rimediarvi; perchè però nel medicare, se non vi si aggiunge la materia particolare de’rimedi, la cura resta imperfetta: per adempire perfettamente questa preservazione e curazione di tanti mali, che soprastanno a questa maniera di republica, ho pensato di venire ancora ai rimedi particolari e alle avvertenze, con le quali si possano impedire i tumulti e levare le cause delle mutazioni e rovine di questo stato di republica.“ Settala, Ragion di stato, S. 135. 663 Maclean, Logic, Signs and Nature, S. 69. 664 „doverebbe bastare à trovare i rimedi di conservare e preservare questa forma di Repub[lica] Oligarchica quello, che disopra è stato scritto delle cause, mutationi, e rovine di questa forma di Signoria; contraponendosi à ciascuna di quelle cause il suo antidoto, e rimedio contrario.“ Settala, Ragion di stato 1752, S. 488. Die gekürzte Fassung von Croce und Caramella hat aus dem Kapitel nur diese pharmazeutische Passage herausgenommen. Das ist ein gutes Beispiel, wie ein Text durch Kürzung von seinen medizinischen Implikationen bereinigt wurde.
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und andere giftige Alkaloide. Das seit dem sechzehnten Jahrundert in Europa bekannte Mittel wurde zunächst zur Beseitigung von Katzen, Hunden, Füchsen und Nagetieren verwendet, also jenen Tieren, die gerade in Pestzeiten massenhaft getötet wurden. Settala wusste um die potentiell tödliche Wirkung, für die er eine persönliche oder artspezifische Disposition verantwortlich machte. So betonte er, dass Störche und Raben ohne gesundheitlichen Schaden Schierling und Nieswurz verzehrten, was zeige, dass nicht jede Spezies gleich auf Giftstoffe reagierte.⁶⁶⁵ Die Brechnuss allerdings wirkte gleichermaßen tödlich auf Tier und Mensch, wobei allein die Höhe der Dosis den Unterschied machte.⁶⁶⁶ Auch in politischer Hinsicht war Settala dem Gifteinsatz gegenüber aufgeschlossen. So habe Aristoteles die politischen Strategien der Tyrannen nur aus prophylaktischen Gründen gelehrt, damit die Völker jene Machenschaften erkennen konnten, die zu ihrem Schaden angewendet werden, und um sie zu vermeiden, so wie die Ärzte es machen, die, wenn sie Gifte verschreiben, ihre Aufmerksamkeit auf den öffentlichen Nutzen richten. Denn wenn die Menschen die Natur [dieser Machenschaften] erkannt haben, wissen sie auch, wie sie sich schützen und heilen können.⁶⁶⁷
Die Idee, dass jedes Pharmakon eine giftige oder eine heilsame Wirkung haben konnte, wurde bereits von Platon auf das politische Handeln übertragen.⁶⁶⁸ Im Anschluss an Platon diskutierte Settala die politische Legitimität der Lüge und ihre Funktion als Pharmakon. Wie Platon lehnte er die Lüge in privatem Zusammenhang ab, schrieb ihr in öffentlich-politischem Kontext jedoch eine heilsame Wirkung zu: Man muss die Wahrheit sehr hoch schätzen, und sicher kommt den Göttern nicht die Lüge zu, doch den Menschen dient sie als Medikament: das heißt, sie muss den öffentlichen
665 „Alcuni sono, che non mettono in questo lattovaro la noce vomica per esser veleno à sorgi, gatti, e cani; mà questo non molto ci move; perche la cicuta, che à noi è veleno, à storni è buon cibo, e l’elleboro alle coturnici e cibo, à noi è veleno.“ Settala, Preservatione, S. 57. 666 Im achtzehnten Jahrhundert experimentierte Georg Karl Hillefeld mit der Dosis. Karl F.H. Marx: Die Lehre von den Giften, in medizinischer, gerichtlicher und polizeylicher Hinsicht. Bd. 1, 2. Göttingen 1829, S. 26–29. 667 „Ma ció fece egli, non per insegnare cattivi precetti, ma piú tosto acciocché i popoli conoscessero quelle machine, che a rovina loro erano fabricate, per poterle sfuggire: come fanno i medici, che scrivendo de’veneni indrizzano i loro pensieri all’utilitá publica, conosciuta la natura loro, gli uomini potessero saper i rimedi, e per preservarsi e per curarsi.“ Settala, Ragion di stato, S. 51. 668 Derrida, Dissemination, S. 108.f.
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Ärzten [den Politikern] gestattet sein, doch den Privatpersonen darf sie niemals erlaubt sein.⁶⁶⁹
Weiterhin referierte er Thukydides, der jegliches Regierungshandeln für legitim erklärt habe, sofern es dem Herrscher nutzte.⁶⁷⁰ Gleich im Anschluss an die beiden antiken Referenzen postulierte Settala die Maxime, dass der Herrscher über zwei Arten von Fähigkeiten verfügen sollte, nämlich über jene des Löwen und die des Fuchses, also sowohl über List als auch Stärke.⁶⁷¹ Als Quelle benannte Settala den spartanischen Feldherrn Lysander, der von Plutarch porträtiert worden war.⁶⁷² Sehr viel bekannter war der Topos allerdings durch ein Kapitel des Principe,⁶⁷³ so dass erneut Machiavelli den eigentlichen, wenn auch heimlichen Bezugspunkt der Argumentation bildete.⁶⁷⁴ Durch den Verweis auf Lysander umging Settala die Nennung Machiavellis. In Settalas Augen zählten List und Vertrauensbruch jedoch nicht zu den Herrschertugenden. Es handelte sich bei diesen politischen Mitteln nicht um Heilmittel, sondern um pesterzeugende Medikamente: „Aber diese Auffassung ist so schädlich, und so pesterzeugend [pestifera].“⁶⁷⁵ Damit knüpfte Settala an die Idee eines pesterzeugenden Medikaments an, das in Form von Pestsalben und -pulvern während der Mailänder Epidemien von 1575–1577 und 1629–1630 am Werk gesehen wurde. Erneut bezog sich Settala auf eine spezifisch epidemische Konzeption und übertrug die Theorie der Pestausbreitung auf die absichtliche Ausbreitung politischer Unsitten, die er als Medikamente mit kontagiöser Wirkung beschrieb.
669 „Si deve far grande stima della verità; e certamente agli dei non giova la bugia, ma agli uomini giova in luogo di medicamento: cioè deve permettersi a’medici publici, ma agli uomini privati non si deve permettere mai.“ Settala, Ragion di stato, S. 79. 670 „Al prencipe niente è ingiusto, che apporti frutto, e utilità.“ Ebd., S. 79. Wahrscheinlich war Thukydides hier eine Chiffre für Machiavelli. 671 „diceva Lisandro, che il principe deve esser e leone e volpe.“ Ebd., S. 84. 672 Plutarch schrieb dem Feldherrn den Ausspruch zu: „Wo das Löwenfell nicht ausreicht, muß man den Fuchspelz anziehen.“ Plutarch: Große Griechen und Römer. 6 Bde. Bd. 3. Eingel. und übers. von Konrat Ziegler. Zürich 1955, S 14. 673 Machiavelli, Principe XVIII, S. 296 f. 674 Es war Usus, Machiavelli anhand dieser Maxime zu diskutieren. Vgl. Michael Stolleis: Löwe und Fuchs. Eine politische Maxime im Frühabsolutismus. In: Ingo von Münch (Hg.): Staatsrecht – Völkerrecht – Europarecht. Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer. Berlin, New York 1981, S. 151–166, S. 154. Eigenartigerweise führt Schröder den Topos von Fuchs und Löwe auf Ciceros De officiis, 1 zurück und erwähnt Plutarch gar nicht. Vgl. Peter Schröder: Niccolò Machiavelli. Frankfurt/M. 2004, S. 55. 675 „Ma quanto sia perniciosa questa così fatta opinione, e quanto pestifera.“ Settala, Ragion di stato, S. 79 f.
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Das therapeutische Prinzip, dass die Heilmittel qualitativ mit dem Schweregrad der Krankheit korrespondieren sollten, erwähnte Settala hingegen nicht. In anderen Staatsräsontraktaten wurde es häufig behandelt. Bei Ammirato firmierte es unter dem Titel „Dass die Heilmittel nicht stärker sein dürfen als die Krankheiten.“⁶⁷⁶ Zuccolo riet, bei einer Volkserhebung nicht mehr als einige Anführer hinzurichten, da es nicht gut sei, „wenn die Medizin herber ist als die Qualität der Krankheit.“⁶⁷⁷ Derselbe therapeutische Grundsatz inspirierte Ammirato zu einem elaborierten Vergleich zwischen medizinischer und politischer Praxis: Die erste Aufgabe des werten Arzt ist es, die Krankheit des Patienten zu erkennen, die zweite ist es (um die Ausdrücke zu verwenden, die diese [die Ärzte] benutzen), das für diese Krankheit geeignete Heilmittel anzuwenden. Doch wenn das Heilmittel zu schwach ist, heilt es den Kranken nicht, wenn es aber sehr stark ist, tötet es nicht nur die Krankheit, sondern auch gleich noch die Person, die von ihr befallen ist. So muss also der Politiker vorgehen, der sich wie der Arzt, der sich um die körperlichen Krankheiten kümmert, mit den Krankheiten der Seele befasst, wobei er für die Krankheit geeignete Heilmittel verwenden muss, die für die Stadt passend sind, ohne das rechte Maß und die Grenzen des Ehrenhaften zu überschreiten.⁶⁷⁸
Als Quelle der Maxime nannte Ammirato Tacitus. Es war nicht verwunderlich, dass sich mit Cavriana noch ein weiterer Vertreter des Tacitismus auf diesen Grundsatz bezog.⁶⁷⁹ Cavriana, der als Leibarzt der Regentin Caterina de’Medici tätig war und während der französischen Religionskriege schrieb, nannte Bürgerkriege die schlimmste politische Krankheit und postulierte: Und wenn die Blutmasse [des politischen Körpers] schmerzt und plötzlich bitter und stechend wird, kann sie nicht mehr allein zu ihrem ursprünglichen Zustand zurückkehren, es
676 „Che i rimedi non dorebonno esser più aspri de mali.“ Ammirato, Discorsi sopra Cornelio Tacito, S. 80. 677 „Non è anco conveniente, che la medicina sia più aspra di quello, che la qualità della malattia richiede.“ Zuccolo, Considerationi politiche, S. 129. 678 „A prima sufficienza del valente medico è conoscer il male dell’infermo. La seconda è applicare (per usar la voce, che essi usano) il rimedio appropriato à quel male; imperoche se il rimedio non è bastante, non guarisce l’infermità; se è molto gagliardo, nonche il male, uccide anche la persona, in cui è il male; cosi appunto dee fare il politico, il quale come il medico discende a mali corporali, cosi l’uffizio suo s’adopera circa le malattie dell’animo; dovendo usar remedi opportuni a mali, che avvengono alla Città senza trapassar la misura, et i termini dell’honesto.“ Ammirato, Discorsi sopra Cornelio Tacito, S. 80. 679 „gravior remedijs quam delicta erant.“ Cavriana, Discorsi sopra i primi cinque libri di Cornelio Tacito, S. 80. Das Zitat stammt aus Tacitus, Annalen III, 28.
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sei denn mit scharfen und radikalen Heilmitteln, und über einen langen Zeitraum, während dessen der Patient in Lebensgefahr schwebt.⁶⁸⁰
Cavriana legte die Maxime recht frei im Sinne von „schwere Krankheiten erfordern drastische Maßnahmen“ aus und erwog radikale Maßnahmen, die das Potential hatten, den Patienten auf therapeutischem Weg ins Grab zu befördern. Cavriana befürwortete auch blutige chirurgische Maßnahmen wie Amputationen zu therapeutischen Zwecken: So wie der Arzt mitunter gezwungen ist, ein infiziertes Körperteil abzuschneiden, um den Körper vor dem Verfall zu bewahren, so ist es auch bei der Regierung der Staaten, wo es zu bestimmten Zeiten nötig ist, Strenge walten zu lassen, die tatsächlich fast eine Form der Grausamkeit ist, die von jenen, die den Grund dafür nicht kennen, der in der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe besteht [...], leicht verurteilt wird.⁶⁸¹
Seine Rechtfertigung politischer Radikalkuren wie der präventiven Amputation erkrankter Glieder las sich als Kommentar zu den politischen Ereignissen im Verlauf der französischen Religionskriege wie dem Massaker der Bartholomäusnacht. Sehr wahrscheinlich äußerte sich Settala nicht zu dieser verbreiteten Maxime, weil es sich gar nicht um eine medizinische Regel handelte, sondern lediglich um eine politische Sentenz im medizinischen Gewand. Zuccolos Verwendung des Grundsatzes in strafrechtlichem Zusammenhang lässt vermuten, dass es sich eigentlich um einen juristischen Gedanken handelte, die Verhältnismäßigkeit von Tat und Strafe, der zuweilen auch medizinisch ausformuliert wurde.⁶⁸² Möglicherweise interessierte Settala die Maxime aber auch deshalb nicht, weil sie mit dem epidemiologischen Zusammenhang nichts zu tun hatte. Es ist auffällig, dass er in seinen politischen Texten immer wieder auf Autoren wie Thukydides zurückgriff, die eine Affinität zur Pest hatten.
680 „E la massa del suo sangue per natura sua dole, fattasi all’hora acre, e pungente non può al primiero stato ritornare, se non con aspri, e violenti rimedi, e con lunghezza di tempo, nel quale l’infermo corre della vita pericolo.“ Ebd., S. 85. 681 „In quella a guisa che il Medico per conservare un corpo dalla corrozzione, è tal volta forzato a dovere un membro infetto tagliare; così nel governo delli stati fa di mestiero d’usare a certi tempi il rigore, che invero, è quasi spezie di crudeltà, e da coloro i quali di ciò non conoscono la cagione, che è di mantenere la publica tranquillità, et l’honor del Principe, quando d’esso l’autore ne sia ministro, vien facilmente biasmato.“ Ebd., S. 88. 682 Möglicherweise handelte es sich wie bei der Krise um eine Konzeption, die auf verschiedenen Gebieten wie dem juristischen, theologischen, medizinischen und astronomischen relevant war.
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5.7.4 Immer regieren, als ob Gefahr herrscht Settala war der einzige Theoretiker der Staatsräson, der die politischen Auswirkungen der Pest selbst thematisierte. Das tat er im Zusammenhang des Erhalts von Aristokratien. Wie Kriege hatten Epidemien eine sehr hohe Mortalität zur Folge, die vor der herrschenden Schicht nicht haltmachte. Settala riet, auch bei einer starken Dezimierung der zur Herrschaft zugelassenen Patrizierfamilien diese nur vorsichtig durch neue zu ergänzen, um eine übermäßige Vermehrung der Herrschaftsfamilien beim Übergang zur normalen Mortalität zu vermeiden.⁶⁸³ Auch im Fall der Politien knüpfte Settala einen Zusammenhang von Pest- und Kriegsszenario. Da Settala annahm, dass Politien nicht durch innere, sondern durch äußere Feinde bedroht würden, musste die Bevölkerung vor außenpolitischen Gefahren geschützt werden: man muss sie mit allen nötigen Mitteln für den Verteidigungsfall ausrüsten, und gut mit Lebensmitteln versorgen, das Volk bewaffnen und an den Waffen ausbilden, die Grenzen bewachen und gute Spione in den angrenzenden Territorien unterhalten.⁶⁸⁴
Settalas Vorschläge zur Abschließung des Territoriums zum Schutz vor äußeren Feinden waren identisch mit den Pestmaßnahmen auf dem Mailänder Territorium, wie sie Tadino referierte.⁶⁸⁵ Damit legte Settala nahe, dass die klassischen Pestmaßnahmen wie die Sicherstellung der Lebensmittelversorgung, Bewachung der Grenzen und Spionage in den Nachbarterritorien einen militärischen Ursprung hatten. Sollte das zutreffen, so hieße das, dass die militärische Metaphorik der Pest als angreifender und belagernder Feind einen ganz realistischen Kern besaß.⁶⁸⁶
683 „Perché se bene per qualche guerra o peste o altro fossero scemati di numero, e quasi paresse oligarchia per l’avvenire; però non dopo molto tempo moltiplicandosi, non si fa mistura, con maggior unione preservandosi: dove che ricevendo altri di nuovo, o nuove famiglie, si scorre pericolo di troppo moltiplicarsi.“ Settala, Ragion di stato, S. 100 f. 684 „fornirla e di tutte le cose necessarie in guerra per difesa; ben fornirla di vettovaglie; armare e agguerrire il popolo; presidiare i confini; aver buone spie ne’vicinati.“ Ebd., S. 117. 685 Vgl. hier Kap. 5.3. 686 Während die Untersuchungen zur Interferenz von Politik und Pest bereits spärlich sind, fehlen sie zu der von Krieg und Pest für die Zeit vor dem cordon sanitaire ganz. Die historische Seuchenforschung scheint an der Militärgeschichte ebenso uninteressiert wie umgekehrt. Sporadische Äußerungen wie etwa bei Dinges, der den Einfluss von Pestmaßnahmen auf die Territorialgrenzen behauptet, lassen vermuten, dass die Zusammenschau von Pestpolitik und Kriegstechnik interessante Ergebnisse brächte. Dinges, Pest und Staat, S. 79.
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Wenngleich in den Politien die außenpolitischen Gefahren überwogen, nannte Settala auch innenpolitische Probleme und Mittel zu ihrer Bekämpfung. Diese korrespondierten erneut in erstaunlichem Maß mit den Pestmaßnahmen von Überwachung, Ausschluss und Versorgung.⁶⁸⁷ Da Settala prinziell die Transformation einer Staatsform zu jeder anderen für möglich hielt, da sie nicht wie bei dem Verfassungszyklus von Polybios und Machiavelli in einer bestimmten Reihenfolge verlief,⁶⁸⁸ drohte politische Gefahr von allen Seiten. Umstürze konnten von oben wie von unten erfolgen. So sollten sich etwa Monarchen vor Rebellionen aus dem Volk durch die Aussendung von Spionen schützen, um in Erfahrung zu bringen, ob es im Volk jemanden mit unruhigem, kämpferischem und rebellischem Temperament gäbe, der entweder selbst oder mit Hilfe eines Adligen oder Reichen vom selben Schlag politische Neuerungen wagen könnte.⁶⁸⁹
Ähnliches galt für reiche und mächtige Bürger, die in allen Staatsformen eine Gefahr darstellten, da sie Zugang zu hohen Ämtern forderten. Diese Personen mussten aus dem Territorium verbannt werden. Das konnte entweder durch direkte Vertreibung oder in verschleierter Form, etwa durch das Fortschicken in einer ehrenvollen Mission, geschehen.⁶⁹⁰ Diese Praxis entsprach einerseits dem antiken Ostrazismus, andererseits schuldete sich Settalas Rekurs den zeitgenössischen Praktiken der Exklusion, wie sie gerade in Pestzeiten zur Anwendung kamen. In diesem Fall diente die frühzeitige Intervention durch Aussondern und Verbannen ebenfalls präventiven Zwecken. Die von Settala vorgeschlagenen Maßnahmen waren zudem extrem präventiv. Auch ohne Nachweis, dass ein politischer Umsturz geplant war, reichte ihm die bloße Möglichkeit, einen solchen durchzuführen. Bei Aufständischen aus den niederen sozialen Schichten plädierte Settala ebenfalls für die Inhaftierung oder Vertreibung auf bloßen Verdacht hin: Man müsse solche Personen voneinander separieren, „indem man einen von ihnen unter irgendeinem Vorwand in ein fernes Land schickt, oder wenn die Gefahr wächst, für einige Zeit ins Gefäng-
687 Ebd., S. 77 und Jones, Plague and Its Metaphors, S. 11. 688 So degenerierte die Monarchie ‚naturgemäß‘ zur Tyrannis, die Aristokratie zur Oligarchie, die Demokratie zur Ochlokratie – bei Settala hingegen war alles möglich. 689 „se tra’popolari vi sia alcuno di stirpe inquieto e bellicoso e sedizioso; e che o per se stesso o per mezzo di qualche nobile e ricco, che fosse della medesima natura, potesse tentare qualche novitá.“ Settala, Ragion di stato, S. 86. 690 „In tal caso o l’ostracismo è il vero rimedio, o l’onorarlo di qualche ambasceria onorevole.“ Ebd., S. 97 f.
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nis sperren, ohne ihm die Gründe zu nennen.“⁶⁹¹ Die präventive Verhaftung von Verdächtigen ohne Anklage und Möglichkeit zur Verteidigung⁶⁹² hielt Settala für ein völlig akzeptables politisches Mittel. Ausnahmsweise stammte es nicht von Machiavelli. Die Maßnahmen von Vertreibung und Inhaftierung standen zueinander in einem Verhältnis von Prävention und Therapie: War die Gefahr klein, genügte die Vertreibung, war sie imminent, war die Inhaftierung angezeigt. Nicht alle Maßnahmen zielten auf die Unterdrückung oder Beseitigung unerwünschter politischer Energien. Subsistenzkrisen hielt Settala für die größte Gefahr für eine bestehende politische Ordnung. Hunger, Armut und Unterdrückung waren in jeder Staatsform die wichtigsten Motive für Volksaufstände.⁶⁹³ Daher musste ihnen durch öffentliche Versorgung vorgebeugt werden: Zunächst muss eine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Dingen organisiert werden, damit das Volk nicht die Gelegenheit hat, neue Dinge zu unternehmen, denn es gibt in jeder Art von Staat nichts, was stärker einen Aufstand provoziert als ein Mangel [an diesen Dingen].⁶⁹⁴
Hungersnöte waren ein gravierendes Problem der frühneuzeitlichen Ökonomie und Politik.⁶⁹⁵ Daher wurde es nicht nur von Settala, sondern auch von Bacon und Ammirato als Bedrohungsszenario im Zusammenhang der Staatsräson diskutiert. Ammirato griff es im Anschluss an sein langes Kapitel über die Staatsräson auf.⁶⁹⁶ Während sich Ammirato ausschließlich mit antiken Hungersnöten befasste, ging Settala nur auf die Subsistenzprobleme der Gegenwart ein. Auch seine wirtschaftspolitischen Ratschläge waren mehrheitlich nicht antiken Ursprungs.
691 „disgiungerli, mandando con qualche occasione in lontan paese uno di essi; o se si accrecesse il sospetto, carcerarlo per qualche tempo senza peró che ne sappi la causa.“ Ebd., S. 86. 692 Oligarchien empfahl er dasselbe System von Früherkennung und präventiver Inhaftierung. Nach Auskundschaftung durch Spione sollte man Verdächtige ins Gefängnis sperren, ohne sie sich verteidigen oder den Grund ihrer Inhaftierung wissen zu lassen. („carcerarlo senza lasciargli parlare, nè lasciandogli sapere la causa della prigionia.“). Ebd., S. 129. 693 Ebd., S. 85. 694 „Prima procurare l’abondanza delle vittovaglie e delle cose necessarie, acciò non abbi occasione di procurare cose nuove: che non si è vista cosa in qualsivoglia sorte di governo che piú mova a sollevazione, che tal mancamento.“ Ebd., S. 85. 695 Piero Camporesi: Das Brot der Träume. Hunger und Halluzinationen im vorindustriellen Europa. Frankfurt/M., New York 1990, S. 15. 696 Vgl. Buch XII, 3. „Von der Hungersnot und ihren Gegenmitteln“ („Della carestia, e de’rimedi di essa“), Ammirato, Discorsi sopra Cornelio Tacito, S. 206–215. Zu Bacon vgl. hier Kap. 2.2.2.
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Settala interessierte sich nicht aus karitativen Gründen für das Subsistenzund Armutsproblem. Die öffentliche Organisation der Lebensmittelversorgung sollte vielmehr als Narkotisierungsprojekt fungieren, da die Menschen nichts so sehr interessiere wie ihr Besitz, ihr „zweites Blut“,⁶⁹⁷ wie es Settala nannte: Das, was dem Volk am meisten am Herzen liegt, und das es in gewisser Weise einschläfert, so dass es sich um nichts anderes kümmert und sich mit der gegenwärtigen Staatsform zufrieden gibt, ist, dass es genug zum Überleben gibt.⁶⁹⁸
Zur Betäubung empfahl Settala die Förderung von Produktion und Handel, insbesondere die Steigerung des Produktions- und Handelsvolumens durch die Ansiedlung neuer Handwerkszweige, die steuerliche Begünstigung des internationalen Handels und den Schutz der einheimischen Wirtschaft: Um solchen Zusammenstößen zu entgehen, muss man dem Volk und den Kleinbürgern, aber auch den ehrbaren Kaufleuten jede Art von Unterstützung geben, damit die Einkünfte in der Stadt wachsen, indem man neue Handwerke einführt, die Effizienz der vorhandenen verbessert, die ausländischen Händler auszeichnet, indem man sie mit der Befreiung von Zöllen oder niedrigen Zöllen ermutigt, viele Verträge abzuschließen [...]. Die einheimischen Händler müssen bevorzugt werden, zum einen, weil sie Staatsbürger sind und auch, weil sie den Handwerkern und kleinen Leuten Arbeit geben und diese durch das tägliche Einkommen in politischer Hinsicht friedlicher und weniger rebellisch stimmen.⁶⁹⁹
Die Ansiedlung neuer Wirtschaftszweige und Märkte war Settala offenbar besonders wichtig, denn diesen Ratschlag erteilte er mehrfach.⁷⁰⁰ Auch alle Formen der korporativen beruflichen und religiösen Organisation dienten gemäß Settala der politischen Narkotisierung. Sie hatten zusätzlich den Vorteil, kostengünstig
697 Settala bezog sich auf eine Redensart. „Ben si dice volgarmente la robba esser il secondo sangue.“ Settala, Ragion di stato 1752, S. 372. 698 „La cosa più cara al popolo, e che in maniera l’addormenta, che di altro non curandosi si accontenterà del presente stato di republica, è l’abbondanza delle cose pertinenti al vivere.“ Settala, Ragion di stato, S. 128. 699 „per fuggire cotali incontri, prima alla plebe e popolo minuto, ma anco a’mercatanti onorati si darà ogni sorte di aiuto, acciò nella città si accrescino i guadagni, introducendo nuove arti, accrescendo gli utili alle ritrovate; onorando i forastieri negozianti, dondogli occasione di venir spesso a’contratti, con franchigie o non alte gabelle, [...] i mercatanti cittadini si favoriranno, e per esser cittadini e perchè dando da operare agli artefici e plebei, gli rendono con il guadagno d’ogni giorno più quieti e meno tumultuanti nella republica.“ Ebd., S. 136 700 „die Herrschenden sollten in der Stadt neue Handwerkskünste einführen, mit denen das Volk sich finanziell voranbringen kann, oder öffentliche Märkte und Jahrmärkte einrichten.“ („doveranno i rettori introdurre nella città nuove arti, con le quali il popolo possa avanzarsi ne’guadagni, o introdurre nelle città mercati publici o fiera libera.“). Ebd., S. 129.
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zu sein. Die Neugründung korporativer Einrichtungen sei unbedingt zu unterstützen, aber ihre Versammlungen sollten unter Aufsicht stattfinden: Deshalb soll man Vereinigungen erlauben, und je nach den in den großen Städten vertretenen Handwerken Zünfte, Bruderschaften, Korporationen und Ähnliches. [...] denn durch diese Organisationen unter sich beruhigen sie sich und denken nicht an die Regierungspolitik.⁷⁰¹
War die Bevölkerung mit diesen Aktivitäten beschäftigt, kam sie, so hoffte Settala, gar nicht mehr dazu, sich mit Politik zu befassen. Neben diesem Ablenkungsprogramm riet Settala zu staatlichen Investitionen, da er in der Misswirtschaft mit staatlichen Geldern eine weitere wichtige Ursache für Rebellionen und Aufstände erblickte.⁷⁰² Es empfahl sich der Bau von öffentlichen Einrichtungen, deren Kosten und allgemeiner Nutzen leicht ersichtlich war und die zudem repräsentativ waren: Man sorge dafür, das Volk zu überzeugen, vielmehr ihm zu zeigen, dass die öffentlichen Einkünfte zum Nutzen und Glanz des Staates in öffentliche Bauten investiert werden, indem man Akademien eröffnet, Krankenhäuser baut und mit finanziellen Mitteln ausstattet, für die Kranken und zur Unterbringung von Pilgern, Kirchen, Brücken, Häfen und ähnliche Dinge zum öffentlichen Nutzen und zum Ruhm des Volkes.⁷⁰³
Dabei bezog sich Settala ausdrücklich auf Tacitus’ Annalen. Offenbar sah er Tiberius doch nicht nur als Tyrannen,⁷⁰⁴ sondern bedachte auch dessen verwaltungstechnisches Geschick und seine Investitionen in öffentliche Bauprojekte. Mit Krankenhäusern und gelehrten Akademien benannte Settala jedoch keine antiken, sondern zeitgenössische Neugründungen, die auch seine eigene
701 „Perciò se le concederanno le abbazie, secondo la varietà dell’arti nelle città grandi, i collegi, le confraternite, le congregazioni, e simili cose: o sotto titolo di pietà o d’altro, con i suoi priori o rettori od altro, con suoi ufficiali, perchè da queste preeminenze fra loro acquetati non pensano al reggimento publico.“ Ebd., S. 128. 702 „o vedendo i sudditi le entrate, tolte e da’beni loro, e con tanto disagio proprio scosse, esser rubate, né andare al beneficio publico, fine di tutte le republiche; sdegnati, faranno delle sollevazioni e penseranno al mutar forma di governo.“ Ebd., S. 99. 703 „Si procurerà ancora di persuadere al popolo, anzi di fargli vedere, che le entrate publiche si spendono in servitio e splendore della Republica facendo publici edifici; aprendo Academie, edificando, e dotando d’entrate Hospitali, e per gli infermi, e per alloggiar peregrini, Chiese, ponti, porti, e simile cose e per utilità publica e più del popolo, e per magnificenza.“ Settala, Ragion di stato 1752, S. 264. 704 Settala, Ragion di stato, S. 4.
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Bildungs- und Berufslaufbahn prägten.⁷⁰⁵ Dass Settala als Arzt den Bau von Krankenhäusern empfahl, verwundert nicht. Aber auch unabhängig von seinen eigenen Interessen waren Krankenhäuser in der Frühen Neuzeit repräsentative Gebäude, wie ein Blick in die Reiseliteratur belegt. Diese verzeichneten neben Sakralbauten, Regierungs- und Festungsgebäuden Krankenhäuser und Lazarette als wenige rein zivile Einrichtungen auf den Stadtplänen und regten mit Stichen ihrer Fassaden und Grundrissen zur Besichtigung an.⁷⁰⁶ Es waren zugleich jene Institutionen, deren Entstehung sich vor allem der frühneuzeitlichen Seuchenpolitik verdankte. Auch der Vorschlag, untätige Einwohner einem staatlichen Beschäftigungsprogramm zu unterziehen, stand im Zusammenhang der frühnzeitlichen Seuchenpolitik. Um unnötige Ausgaben zu vermeiden, schlug Settala vor, die Untätigkeit durch kriegerische Betätigung zu beenden: Wenn man weiß, dass sehr viele einfache Bürger untätig sind, sollte man dafür sorgen, sie in den Krieg zu schicken, entweder für sich und den eigenen Staat oder zur Unterstützung von verbündeten Staaten, denn so wird die Stadt von faulen und lasterhaften Menschen gereinigt [purgherá] und man bildet zugleich Soldaten aus.⁷⁰⁷
Der Begriff des Reinigens [purgare] verwies unmissverständlich auf den Seuchenzusammenhang. Darüber hinaus empfahl Settala auch andere Formen der Zwangsarbeit, sofern sie zur physischer Erschöpfung führten: „Wenn es keinen Krieg gibt, sollte man Wege finden, das untätige Volk mit mühevollen, aber angesehenen Arbeiten zu beschäftigen.“⁷⁰⁸ Die Idee der militärischen Betätigung zur Bekämpfung des Sittenverfalls fand sich schon bei Sallust und Cicero. Diese allerdings hatten nicht die Absicht, die Stadt von den Untätigen zu ‚reinigen‘ und sie aus dem sozialen Körper der Stadt zu entfernen. Diese Logik war modernen Ursprungs und verdankte sich unter anderem den frühneuzeitlichen Pestmaßnahmen, die auf dem Isolationsprinzip basierten. Auch die zwangsweise Beschäftigung war eine Praxis, die zwar häufig gefordert, aber selten, und dann haupt-
705 Die Jesuitenschule, die er seit 1568 besuchte, war erst drei Jahre zuvor gegründet worden. Auch die Scuole Canobbiane, an denen er über 20 Jahre lang lehrte, waren zu seinen Lebzeiten gegründet worden. Rota Ghibaudi, Settala, S. 17. Wie erwähnt arbeitete er in pestfreien Zeiten in den städtischen Krankenhäusern. 706 Vgl. etwa von Pflaumerns Mercurius Italicus und Latuadas Descrizione di Milano. 707 „Procurerá, se conoscerá aver molti della plebe oziosi, d’inviarli alla guerra, o per sé e suo imperio, o in servizio d’altri amici: perché così purgherá la cittá d’uomini contumaci e viziosi, e a sé preparerá soldati al bisogno.“ Settala, Ragion di stato, S. 87 708 „Se non vi sará occasione di guerra, troverá modo di esercitare la plebe oziosa in opere faticose, ma di guadagno.“ Ebd., S. 87.
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sächlich während Epidemien zum Einsatz kam, um die zahlreichen Arbeitslosen zu beschäftigen und unter Kontrolle zu halten. Settalas wirtschaftspolitische Erwägungen deckten sich weitgehend mit der Liste von Maßnahmen, die die Mediziner dem Tribunale di Sanità während der Epidemie im Jahr 1629 machten.⁷⁰⁹ Settalas Übertragung der Prinzipien der Pestpolitik auf pestfreie Zeiten implizierte, dass er keinen wesentlichen Unterschied sah. In Pestzeiten manifestierten sich dieselben politischen Probleme, nur deutlicher. Das Pestszenario spitzte politische Probleme wie Armut und Hunger zu und stellte eine akute Gefahr für den Staat dar. Aber auch ohne Pest oder Subsistenzkrise galt es, so empfahl Settala, zu regieren, als ob dem Staat große Gefahr drohte: Sehr schön ist die Strategie, [...] dass man zum Erhalt des Staates eine imminente Gefahr aufzeigen oder erfinden muss, denn unabhängig davon, ob sie existiert oder nicht, vergrößert sie doch den Eifer der Herrschenden, die Gefahren früh zu erkennen und dafür zu sorgen, dass man nicht in sie gerät, und die Bürger sind bereiter zur Verteidigung.⁷¹⁰
Bürger seien viel gewillter zu Kooperation und Gehorsam, wenn man ihnen eine Gefahr vor Augen stellte. Um einen ständigen Ausnahmezustand zu suggerieren, konnten Gefahren auch simuliert werden: Daher ist es aus Gründen der Staatsräson auch opportun, wenn es keine wirkliche von inneren oder äußeren Feinden ausgehende Gefahr gibt, eine solche zu erfinden, damit der Fortbestand des Staates mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wird.⁷¹¹
Die Einübung eines ständigen Gefühls von Bedrohung war für Settala mithin ein wesentlicher Zweck der Staatsräson. Diese geradezu visionäre Idee verdankte sich wahrscheinlich vor allem der Pestpolitik. Das Pestszenario war genau eine solche Art von Gefahr, die ständig drohte und nicht nur zur Errichtung permanenter Institutionen wie Pestbehörden und Lazaretten führte, sondern auch zu
709 Vgl. hier Kap. 5.6.3. 710 „Bellissimo è lo stratagema, [...] che per mantenere una republica si deve mostrare o fingere un imminente pericolo: perché, o falso o vero che sia, si rendono i governatori della republica più diligenti nell’antivedere i pericoli e provedere che non vi si inciampi; e i cittadini staranno più pronti alla difesa.“ Settala, Ragion di stato, S. 122. Settala führte die Idee zu Recht auf Aristoteles zurück. Allerdings empfahl dieser nicht die Simulation von Gefahren. Aristoteles, Politik V, 8, S. 269. 711 „Perciò per ragion di stato conviene, se non vi è vero pericolo de’nemici o interni o esterni, fingerne de’verisimili, acciò si stia con gli occhi aperti per conservarsi.“ Settala, Ragion di stato, S. 122.
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einer Regierungspolitik, die mit der ständigen Wiederkehr der Pest und somit einem Ausnahmezustand rechnete.⁷¹² Mit seiner Forderung nach einer Politik der ständigen Gefahr befürwortete Settala den zeitgenössischen politischen Prozess der Autokratisierung, der im Zuge der Perpetuierung von Notverordnungen stattfand.⁷¹³ Die theoretische Befürwortung sagt jedoch nichts darüber aus, ob eine solche Politik im siebzehnten Jahrhundert in der Praxis zu finden war. Wahrscheinlich war sie es nicht.
712 Carmichael, Last Past Plague, S. 160. 713 Cohn, Cultures of Plague, S. 8.
6 Resümee Die frühneuzeitliche Allianz zwischen Medizin und Politik kristallisierte sich um 1600 in vier Diskurszusammenhängen, der Physiologie, verstanden als eine allgemeine Naturphilosophie, der Krisenlehre, Makrobiotik und dem epidemiologischen Szenario. Physiologische Modelle zur Beschreibung der Entstehung von Wärme, etwa in Form des Fiebers und der Bewegung, sei es die der medizinischen spiritus, des Blutes oder des Herzens, wurden von Campanella, Bacon und Harvey reklamiert, um politische Dynamik zu beschreiben. Auch umgekehrt gerieten politische Ereignisse wie Aufstände und Kriege plötzlich zu Modellen für die Beschreibung selbsttätig ablaufender natürlicher Prozesse. Die Naturphilosophie fungierte als wichtiger Katalysator zum Verständnis dynamischer, aber regelhafter Prozesse in der Politik und Medizin. So fanden Campanella und Bacon in dem Naturphilosophen Telesio längst vor Leibniz einen „Theoretiker der Kraft“, dessen physiologische Bewegungslehre sich auf politische Kräfteverhältnisse übertragen ließ. Bereits vor der Anwendung physikalischer Lehren auf politische Konstellationen gab es also eine politische Bewegungslehre. Bei Bacon stand die Beschäftigung mit der Physiologie im Zeichen der politischen Beratung, und zwar einer Beratung jenseits der Rechtswissenschaft. Obwohl er studierter Jurist war, versuchte Bacon nicht, sich der Politik durch die Publikation juristischer Schriften empfehlen, sondern verfasste mit der Instauratio magna und mehreren medizinischen Schriften ein umfangreiches naturphilosophisches Werk. Das spricht für den Mehrwert der Naturphilosophie und Medizin, der sich auch bei zahlreichen anderen hier untersuchten Theoretikern zeigt, die zumeist ohne juristische Qualifikationen als politische Berater tätig waren. Campanella beriet zeitweilig den von astrologischen Ängsten heimgesuchten Papst Urban VIII. Dessen Ängste wurden unter anderem von Morandis unabhängigem astrologischem Beratungsinstitut für Zukunftsfragen geschürt. Möglicherweise geriet es Morandi zum Verderben, dass er eine unabhängige Beratung für verschiedene Auftraggeber praktizierte. Harvey war königlicher Leibarzt, Settala protomedico des Herzogtums Mailand, Magini Hofastronom in Ferrara, Titi diente sich den italienischen Habsburgern mit unbekanntem Erfolg als politischer Berater an. Offenbar gab es um 1600 viele Möglichkeiten, politischer Berater zu werden. Eine juristische Ausbildung war dazu nicht nötig. Naturphilosophische und medizinische Kenntnisse qualifizierten mindestens ebenso gut für diese Tätigkeit. Tatsächlich wurden die Wissensgebiete der Medizin und Politik häufig als ähnlich empfunden. Trotz ihrer unterschiedlichen politischen Ausrichtung einte die Autoren der Staatsräson die Forderung nach der Professionalisierung der
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Politik in Analogie zum Arztberuf. Das war nicht nur ein Reflex auf den Prozess der Professionalisierung der Medizin, der in Italien dazu führte, dass sich die gelehrten Mediziner mit allen Mitteln von der nicht gelehrten Konkurrenz abzuheben versuchten. Es handelte sich vielmehr um einen neuen Anspruch, dass auch Politiker eine professionelle Ausbildung haben sollten oder über herrschaftsrelevantes Wissen verfügen, um kompetent für den Erhalt des Staates zu sorgen. Auf die Frage, was herrschaftsrelevantes Wissen war, gab es keine einheitliche Antwort. Cavriana behauptete die Relevanz von medizinischem Wissen und betrachtete wie Zuccolo präzise Kenntnisse des Staates, seiner politischen Bedingungen und seiner Einwohner als Voraussetzung für effizientes Regierungshandeln. Die arcana imperii, die Geheimnisse des Staates und seiner Natur, waren in den Augen der politischen Theoretiker mit denselben Verfahren zu erforschen wie die natürlichen Phänomene. So interessierten sich die Autoren der Staatsräson mindestens ebenso lebhaft für die Geheimnisse der Natur wie für die des Staates. Sie schrieben nicht nur über die Politik, sondern auch über die Medizin (Canoniero, Settala, Bonaventura), Kriegskunst (Machiavelli und Frachetta), Physiognomie (Chiaramonti und Settala), natürliche Magie (Bodin, Canoniero und Campanella), Astrologie (Campanella) und über die Lehre von den kritischen Tagen und Jahren (Bonaventura). Das von den Theoretikern der Staatsräson abgedeckte Spektrum von Herrschaftswissen rekurrierte sehr wahrscheinlich auf das Modell des pseudo-aristotelischen Secretum Secretorum aus dem dreizehnten Jahrhundert, das dieselbe Mischung von politischen, medizinischen und astrologischen Themen innerhalb eines einzigen Werkes aufwies. Doch auch unabhängig von diesem Traktat hatten diese Wissensgebiete miteinander die semiotische Methode gemeinsam. Politik, Verhaltenslehre, Kriegskunst, Medizin, Physiognomie und Astrologie teilten den Status als artes coniecturales. Die Ergebnisse dieser Künste oder Praktiken waren nicht gewiss und nur bedingt vorhersehbar. Daher wurde in all diesen Wissensgebieten eine semiotische Zeichenlektüre betrieben, um Ergebnisse zu prognostizieren oder nach ihrem Eintritt ihre Ursachen zu ergründen. Während sich Morandi bei seiner Suche nach verborgenen Todesursachen allein auf astrologische Mittel verließ, die ihm eine probate Alternative zur Autopsie erschienen, glich Argoli seine astrologischen Befunde mit jenen der tatsächlichen Autopsie ab. Morandis astrologische Autopsie setzte nicht auf Beobachtungen am Körper des Kranken, sondern nutzte astrologische Verfahren, um die Todesursache zu narrativieren. Auch während der Mailänder Epidemie stützte sich die Pestdiagnose, sofern sich kein Ansteckungsweg nachweisen ließ, häufig auf Ansteckungsnarrative, wie sie mit der Idee der Pestausbreitung durch Pestschmierereien vorlagen. Was sich der Beobachtung entzog, wurde erzählerisch
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eingeholt. An die Stelle der Medizin trat die Rhetorik, die von Settala aufgrund ihrer methodischen Ähnlichkeit ohnehin als Verwandte der Medizin beschrieben wurde. Campanella, Morandi und Titi benutzten semiotische Verfahren aus der Medizin, Theologie, Astrologie und Astronomie zur Vorhersage und Analyse von politischen Umwälzungen, oder im Fall Bodins zur Begründung ihres Ausbleibens. Damit erweist sich die Prognostik als wichtige Hilfswissenschaft der Politik und Regierungstechnik. Eigenartigerweise führte der Drang zu präziseren Daten, seien sie biographischer oder astronomischer Natur, bei Morandi zu proto-statistischen Erwägungen, bei Magini und Titi zu proto-logarithmischen Berechnungen, die später von ihrem astrologischen Kontext befreit im Bereich der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung relevant wurden. Durch ihren Anspruch, eine Erfahrungswissenschaft zu sein, schaffte sich die Astrologie zunehmend selbst ab. Für mehrere der italienischen Autoren der Staatsräson spielte die Rezeption Aristoteles’ eine große Rolle, die sich neben seinen politischen auf die naturphilosophischen und methodischen Schriften erstreckte. Bei Zuccolo und Settala führte der Aristotelismus zum Entwurf der Politik als selbständige Wissenschaft, deren Kernstück die Lehre der Staatsräson bildete. Die Konzeption der Politik als theoretische und praktische ars in Analogie zur Medizin setzte die beiden Wissensgebiete in ein enges und exklusives Verhältnis, zu der noch die Rhetorik trat, die sich ebenfalls durch einen theoretischen und praktischen Anteil auszeichnete. Zuccolos und Settalas Verständnis der Politik als semiotische Theorie und handlungsorientierte Praxis wurde von den beiden Helmstedter Medizinern und Politologen der ersten Stunde, Arnisaeus und Conring, aufgegriffen, die an der dortigen Universität die Politik als akademisches Fach institutionalisierten. Auch Zuccolos und Settalas Entwurf einer politischen Wissenschaft kam ohne Rekurs auf die Rechtswissenschaften aus und erfolgte erneut in Anlehnung an die Medizin und Naturphilosophie. Weitere konjekturale Wissensgebiete wie die Rhetorik und die Optik spielten ebenfalls eine Rolle, im Grunde alles bis auf die Jurisprudenz, die gar nicht erwähnt wurde. Das auffällige Desinteresse am Recht hat die politische Literatur der Frühen Neuzeit gerade im deutschen Sprachraum häufig dem Verdacht ausgesetzt, bis auf einige sehr bedeutende Autoren wie Machiavelli, Bodin und Hobbes nichts Bemerkenswertes hervorgebracht zu haben. Die Abwendung vom Recht erfolgte jedoch im Namen des Interesses am Gesetzmäßigen, Regelhaften, Wiederkehrenden, im weitesten Sinne an den strukturellen Aspekten einerseits und ihrem pragmatischen und handlungsorientierten Anteil andererseits. Dazu taugte das Recht gleichermaßen wenig. So scherten sich etwa Settalas Ratschläge zur Abwendung von politischen Gefahren wenig um die Frage der Rechtmäßigkeit der politischen Mittel. Das hatte nicht nur mit Settalas Machiavelli-Rezeption zu tun, sondern auch mit seiner per-
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sönlichen Erfahrung mit zwei Pestepidemien, die er als Arzt im Dienst der Mailänder Gesundheitsbehörde erlebte. Epidemien waren eine gute Gelegenheit, um die Irrelevanz von rechtlichen Maßnahmen wie Erlassen und Verordnungen zu studieren, die sich aufgrund von Geld- und Personalmangel während Pestzeiten noch schlechter durchsetzen ließen als in pestfreien Zeiten. In Extremsituationen wie Epidemien, Revolten und Aufständen zeigte sich besonders deutlich, dass sich eine gelungene Politik nicht in der Gesetzgebung erschöpfte. Keiner der hier behandelten Autoren erwog, die Politik durch rechtliche Mittel zu verbessern. Das mochte mitunter daran liegen, dass sie von Jurisprudenz nicht viel verstanden. Doch auch die Juristen Bodin und Bacon erblickten die politischen Probleme nicht im Bereich des Rechts. Bacon nutzte den Diskurs der Lebensverlängerung, um eine territoriale und bevölkerungspolitische Expansion zu rechtfertigen, die er auch praktisch mit seiner Beteiligung an der Kolonialisierung Irlands und Nordamerikas und Kanadas verfolgte. So half die Debatte um die Lebensverlängerung, ein relativ neues politisches Themenfeld, das der Kolonialpolitik, zu strukturieren. Settala hingegen zog aus seinen Erfahrungen mit Epidemien den Schluss, man müsse immer regieren, als ob akute Gefahr drohe. Nach der Pest war vor der Pest: Daher übertrug er Maßnahmen der Pestpolitik wie jene der präventiven Isolation und Organisation auf das normale politische Leben in pestfreien Zeiten. Diese Arbeit hat das Panorama des in Vergessenheit geratenen Zusammenschlusses der Politik und Medizin in der Frühen Neuzeit rekonstruiert, der sich unter Beteiligung verschiedener weiterer artes coniecturales wie der Naturphilosophie und Astrologie in zahlreichen Diskurszusammenhängen vollzog. Dabei erweist sich das Metier der politischen Beratung als zentral, für das man sich zwischen 1600 und 1630 nicht nur juristisch, sondern auch naturphilosophisch und medizinisch qualifizieren konnte. Naturphilosophisches und medizinisches Wissen erschien nicht zuletzt aufgrund seines prognostischen und analytischen Potentials geeignet, auch komplexe politische Situationen zu deuten und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. In politologischer Hinsicht handelte es sich um eine kurze Zeit, in der juristische Konzeptionen eine geringe Rolle für die politische Theorie spielten. Die hier untersuchten Lehren sind vielmehr als Vorläufer späterer struktureller Theorien wie den ökonomischen und soziologischen Konzeptionen des achtzehnten Jahrhunderts zu verstehen. Ihre strukturelle Komponente lässt sich durch das obskure Beiwerk leicht übersehen. Der frühneuzeitliche Zusammenschluss von Politik und Medizin stellt zugleich eine Fortsetzung der von Kantorowicz entworfenen Entwicklungslinie von einer theokratischen und christologischen bis hin zu einer juristischen Herrschaftskonzeption dar. Um 1600 waren Naturphilosophie und Medizin jene Wissensgebiete, die stark auf die politische Theorie einwirkten. Juristische Elemente
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wurden von medizinischen und naturphilosophischen Argumenten nicht vollständig verdrängt, sondern mitunter lediglich überlagert. Aber nur der Rekurs auf medizinische Konzeptionen und Praktiken verlieh politischen Argumenten in dieser Zeit die nötige Überzeugungskraft.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1 (Kap. 3.1) Orazio Morandis Horoskop für Tommaso Campanella. Quelle: Rom, Archivio di Stato. Tribunale criminale del Governatore. Processi 1630, Nr. 251, f. 1294. Abb. 2 (Kap. 3.3) Die frühneuzeitliche Darstellung der astrologischen Häuser. Quelle: Franz Boll, Carl Bezold, Wilhelm Gundel: Sternglaube und Sterndeutung. Die Geschichte und das Wesen der Astrologie. Darmstadt 19665, S. 63. Abb. 3 (Kap. 3.3) Morandis Horoskop für Urban VIII. mit Löwe-Aszendent. Quelle: Rom, Archivio di Stato. Tribunale criminale del Governatore. Processi 1630, Nr. 251, f. 1050. Abb. 4 (Kap. 3.3) Morandis Horoskop für Urban VIII. mit Jungfrau-Aszendent. Quelle: Rom, Archivio di Stato. Tribunale criminale del Governatore. Processi 1630, Nr. 251, f. 1025. Abb. 5 (Kap. 3.4) Titis Horoskop für den Ausbruch der neapolitanischen Revolte. Quelle: Placido Titi: De diebus decretoriis et aegrorum decubitu. 2 Bde. Bd. 1. Pavia 1660, S. 252. Staatsbibliothek zu Berlin –Preußischer Kulturbesitz, Jf 4030–1. Abb. 6 (Kap. 3.4) Titis Geburtshoroskop für Masaniello. Quelle: Placido Titi: De diebus decretoriis et aegrorum decubitu. 2 Bde. Bd. 1. Pavia 1660, S. 256. Staatsbibliothek zu Berlin –Preußischer Kulturbesitz, Jf 4030–1. Abb. 7 (Kap. 5.1) Das Mailänder Lazarett im Nordosten der Stadt, um 1630. S. 490. Quelle: Storia di Milano. 16 Bde. Bd. 10. Fondazione Treccani degli Alfieri per la storia di Milano. Mailand 1957, S. 239. Abb. 8 (Kap. 5.3.) Die Therapie des Pestkranken, Venedig 1495. Quelle: Arturo Castiglioni: I libri italiani della pestilenza. In ders.: Il volto di Hippocrate. Istorie di medici e medicine d’altri tempi. Mailand 1925, S. 145–169, S. 149. Abb. 9 (Kap. 5.4.) Folter und Hinrichtung von angeblichen Pestschmierern in Mailand. Quelle: Anonym: Torture and execution of alleged plague carriers in Milan, 1630. Kupferstich o. J. Wellcome Library, London.
Abbildungsverzeichnis
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Abb. 10 (Kap. 5.4.) Theriak-Herstellung im frühen sechzehnten Jahrhundert. Quelle: Hieronymus Brunschwig: An apothecary publically preparing the drug theriac, under the supervision of a physician. Holzschnitt 1512. Wellcome Library, London. Abb. 11 (Kap. 5.4.) Christus als Arzt. Quelle: Johann Gelle nach Egbert van Panderen: The medical practitioner appearing as Christ when he arrives (1609). Wellcome Library, London. Abb. 12. (Kap. 5.5.) Straßenszene während der Mailänder Epidemie. Quelle: In: Storia di Milano. 16 Bde. Bd. 10. Fondazione Treccani degli Alfieri per la storia di Milano. Mailand 1957, S. 555. Abb. 13 (Kap. 5.6.) Brunetti: Das Mailänder Lazarett San Gregorio im Jahr 1630. Quelle: Brunetti: Carta prospettica animata eseguita dall’incisore Brunetti appestato al Lazzaretto nel 1630. In: Storia di Milano. 16 Bde. Bd. 10. Fondazione Treccani degli Alfieri per la storia di Milano. Mailand 1957, 1. unpaginierte Seite nach S. 236. Abb. 14 (Kap. 5.6.) Das Lazarett San Gregorio kurz vor dem Abriss im späten neunzehnten Jahrhundert. Quelle: Anonym: Fotografie aus dem Jahr 1882. Storia di Milano. 16 Bde. Bd. 10. Fondazione Treccani degli Alfieri per la storia di Milano. Mailand 1957, S. 518. Abb. 15 (Kap. 5.6.) Arzt mit Schnabelmaske während der Epidemie 1656 in Rom. Quelle: Arturo Castiglioni: I libri italiani della pestilenza. In ders.: Il volto di Hippocrate. Istorie di medici e medicine d’altri tempi. Mailand 1925, S. 145–169, S. 145. Abb. 16 (Kap. 6.6.) Vorrichtungen zur Durchführung der purga. Quelle: Anonym: Plague apparatus from a lazaretto in Venice, used to disinfect clothing. Fotografie o. J. Wellcome Library, London.
Personenregister Adam, Tobias 47 Agrippa von Nettesheim 222 Albumasar 124 Aldobrandino, Pietro, Kardinalsnepot 168 Aldrovandi, Ulisse 239 f Alessandri, Francesco 291 Alexander der Große 207, 232 Alexander VI., Papst (Rodrigo Borgia) 159 Al-Kindi 124 Alpetragius 68 f Altobelli, Ilario 167 f Ammirato, Scipione 8, 210–213, 216, 220, 224, 403, 413, 415 f, 427, 431 Antero, Maria da San Bonaventura (Filippo Micone) 389 Appiano, Giovanni Battista 380 f Arconato, Giovani Battista 312 Argoli, Andrea 17, 22, 131, 151, 163 f, 166–169, 171, 173, 438 Aristarch von Samos 68 Aristoteles 30 f, 40, 57 f, 62, 64, 75, 79, 82, 88, 91, 118, 143, 201, 207, 213, 215, 227 f, 235 f, 238, 248, 279, 359, 404, 408 f, 412, 416 f, 425, 435, 439 Arnisaeus, Henning 412, 439 Aselli, Gaspare 279 Augustinus, Aurelius 107, 137 Augustus, röm. Kaiser 145, 207, 219, 234 f, 250 Averroes 40 Avicenna 39 f, 64, 228, 234, 245 f Azo, Porcius 200 Bachelard, Gaston 13 Bacon, Francis 17–20, 37, 50, 54–73, 95, 98, 225, 243, 253–272, 419 f, 431, 437, 440 Bacon, Roger 125 f, 225 f, 245, 247 Baglivi, Giorgio 164 Balduin von Flandern, Graf 137 f Baravalle, Cristoforo 360 Barberini, Antonio d.Ä., Kardinal 154 Barberini, Antonio d.J., Kardinal 154, 158 Barberini, Carlo 158 f Barberini, Francesco, Kardinal 154, 158 Baruello, Stefano 338
Báthory, Erzsébet, Gräfin 269 Besta, Giacomo Filippo 385 Blumenberg, Hans 12 Boccaccio, Giovanni 283, 290, 365 f Boccalini, Traiano 8 f, 25, 203, 206, 247– 249 Bodier, Thomas 17, 22, 128, 163–165, 171, 173 Bodin, Jean 5 f, 21, 32, 119 f, 129–146, 171, 210, 222 f, 227, 237, 240, 408 f, 420, 438–440 Boerhaave, Hermann 270 Bonaventura, Federico 8, 104, 119, 227, 403, 438 Borromeo, Carlo, Kardinal 355, 362, 364 Borromeo, Federico, Kardinal 342, 367 Botero, Giovanni 7, 24, 30, 51, 208, 218, 263, 403, 406, 408, 415 Braccini, Giulio Cesare 156, 158 Brahe, Tycho 123, 131, 138, 151, 165 Branchi, Girolamo 360 Bruno, Giordano 80–82, 315 Bünting, Heinrich 146 Campanella, Tommaso 8, 10 f, 16–21, 37–53, 55, 61, 63–65, 71–73, 87, 95, 98, 101–128, 130, 144, 148, 153, 162, 171 f, 175, 206, 222 f, 227, 232, 247, 418 f, 437–439 Campano da Novara, Giovanni 193 Canoniero, Pietro Andrea 2, 8, 24, 51, 223, 227, 404 f, 438 Capaccio, Giulio Cesare 203 f Carafa, Giuseppe, Herzog von Maddaloni 183, 190 Carcano, Archileo 291, 303, 328, 373 Cardano, Girolamo 22, 111, 130, 136–138, 140, 162, 165, 172, 352, 406 Carlo Emmanuele I., Herzog von Savoyen 359, 361 Cassiodorus, Magnus Aurelius 239 f Catelano, Giovanni 303, 373 f Caterina de’Medici von Frankreich, Königin 2, 218 Cato d.J. (Marcus Porcius Cato Uticensis) 419
Personenregister
Cavriana, Filippo 2, 8 f, 24, 206, 218 f, 224, 227, 404 f, 427 f, 438 Censorinus 251, 426, 434 Cerquozzi, Michelangelo 191 Chiaramonti, Scipione 8, 221, 227, 438 Chicoyneau, François 387 Cinquanta, Benedetto 280, 365 Clemens VIII., Papst (Ippolito Aldobrandini) 160, 168 Codazzi, Viviano 191 Cola di Rienzo 110 Conring, Hermann 205, 412, 439 Contarino, Angelo 155 Cornaro, Luigi 225, 229, 234 Cranach, Lukas, d.Ä. 243 Croce, Benedetto 24, 424 Cromwell, Oliver 188, 195 Cureau de la Chambre, Marin 221 D’Ailly, Pierre 125, 133 f, 137 Dastin, John 225 Defoe, Daniel 286 Della Casa, Giovanni 7 Della Porta, Angelo 192 Della Porta, Giovanni Battista 220 Del Río, Martín Antonio 352 Descartes, René 67, 73 f, 83 Devereux, Robert, Earl of Essex 69 Dio Cocceianus, Cassius 59 Diodorus Siculus 232 Dionysios von Halikarnassos 59, 295 Donzelli, Giuseppe 191, 346 f Elisabeth I. von England, Königin 56, 130 Empedokles 75 Epikur 205 Fernel, Jean 37, 41, 75 f Feyerabend, Paul 31 Ficino, Marsilio 11, 61, 222–225, 229, 270 f, 307–309, 313–315, 317, 329, 334, 345 f, 352, 420 Filomarino, Ascanio, Kardinal 182, 186, 190 Firmicus Maternus 134 Firpo, Luigi 21, 23 f, 104, 205 Fleck, Ludwik 13 f Follerio, Pietro 385
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Foucault, Michel 5, 14, 26, 29, 36, 51, 53, 57, 72, 81, 199–203, 206, 219, 283–285, 376 Fracastoro, Girolamo 4, 69, 297, 304, 309, 314, 316–318 Frachetta, Girolamo 8, 24, 104, 156, 209, 216, 227, 403, 413, 415, 438 Francesco Maria II., Herzog von Urbino 154, 205 Galen 40 f, 43 f, 58, 60, 64, 75–77, 83–86, 88, 111, 113, 118, 205, 228, 245 f, 251, 254, 268, 322, 390 f Galilei, Galileo 19, 47, 55, 83, 93 f, 147, 151 Garcaeus, Johannes 162 Gargiulo, Domenico (Micco Spadaro) 176, 190–192 Gaurico, Luca 162 Genoino, Giulio 189 Gherardi, Gherardo 161 Gierke, Otto von 6, 98, 200 Giraffi, Alessandro 186, 190 Giustiniani, Orazio, Kardinal 168 Gohory, Jacques 222 Graunt, John 74 Gregor XIII., Papst (Ugo Boncompagni) 115, 167 Gregor XV., Papst (Alessandro Ludovisi) 157, 159 Guainero, Antonio 352 Guicciardini, Francesco 52 f, 233, 413, 419 Gustav Adolph von Schweden, König 166 Guy de Chauliac 348 Haly Abbas 245, 251 Haly Abenragel 114, 182 Harrington, James 73 f Harvey, William 4 f, 11, 17, 20, 41, 44, 55, 71, 73–98, 201, 412, 437 Heinrich II. von Frankreich, König 166 Heinrich III. von Frankreich, König 130, 166 Heinrich IV. von Frankreich, König 166 Helmont, Johann Baptist van 41, 46, 74, 225 Herakleides Pontikus 68 Heraklit 75 Hippokrates 44, 111–114, 117, 182 f, 218, 228, 257, 268, 312, 314, 320, 322, 397 Hobbes, Thomas 9, 73 f, 223, 439
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Personenregister
Ingrassia, Giovanni Filippo 290 f, 340 Isaak Israeli 245 f Isidor von Sevilla 107 Isokrates 411 Jakob I. von England, König 56, 95, 253, 260, 266 Joachim von Fiore 108–110 Kantorowicz, Ernst H. 3, 6, 96 f, 215, 219, 248, 440 Karl Gustav von Schweden, König 188 Karl I. von England, König 89, 92, 95 Kepler, Johannes 121, 123, 126, 131, 138, 146, 159 f, 162, 165, 178 f, 309 Koch, Robert 302, 334, 389 Kopernikus, Nikolaus 69, 92–94, 123, 131, 151 Koselleck, Reinhart 13, 20, 109 f Kubrick, Stanley 356 Lampugnano, Agostino 25, 279 f, 284, 290, 292, 310, 335, 341, 356–371, 374–376, 380, 396, 401–403 Landi, Bassiano 352 Lanti, Marcello, Kardinal 158 Leibniz, Gottfried Wilhelm 29, 53, 300, 437 Leni, Giovanni Battista, Kardinal 163 Leonardo da Vinci 231, 368 Leopold Wilhelm von Österreich, Erzherzog 172 Leowitz, Cyprian von 121, 125, 130–133, 137 f Liberati, Liberato 2 Lipsius, Justus 7, 104, 221 Livius, Titus 59, 414, 419 Lorenzetti, Ambrogio 378 Lovelace, Richard 60 Ludovisi, Ludovico, Kardinalsnepot 157 f Ludwig XV. von Frankreich, König 269 Lukrez 47, 52, 107 Luther, Martin 109, 111, 143 Lydos, Johannes 139 Lykurg 51, 234 Lysander 426 Machiavelli, Niccolò 7–9, 24, 36, 50–53, 61, 71, 80 f, 95, 105, 129, 200, 205 f, 213,
222, 226 f, 230–236, 244 f, 251 f, 257, 262, 264–266, 405, 419 f, 422, 426, 430 f, 438 f Machivelli, Lorenzo 159 Madame de Pompadour (Jeanne Antoinette Poisson) 269 Magalotti, Lorenzo, Kardinal 154 Magini, Giovanni Antonio 17, 22, 151, 155, 163–166, 171–173, 193 f, 437, 439 Mancini, Giulio 161 Manzoni, Alessandro 26, 277, 309 f, 338, 340, 342 f Masaniello, Tommaso (Tommaso d’Aniello) 23, 172–174, 179, 182–192, 195 Massari, Bartolomeo 194 Mästlin, Michael 127 Meinecke, Friedrich 24 Melanchthon, Philipp 122, 143, 162, 231 Menenius Agrippa (Agrippa Menenius Lanatus) 59 Milton, John 119 Mora, Gian Giacomo 277, 337–339, 342 f, 351 Morandi, Orazio 22, 106, 146–163, 166–173, 221, 306, 437–439 Nero, röm. Kaiser 169 Nicolaus von Lyra 109 Nikolaus Cusanus 125, 143 Nietzsche, Friedrich 12 Orosius 137 Osiander, Andreas 109 Ovid 249, 352, 422 Pagel, Walter 11, 20, 40, 46, 73 f, 79 f, 82, 84, 87, 93, 96 Palazzo, Antonio 8 f, 29–36, 53, 202, 206, 209–212, 218, 235 f, 243, 403, 415 Palma, Georg 287 Paracelsus 11 f, 44–46, 225, 246 f, 261, 346 Partridge, John 195 Paul II., Papst (Pietro Barbo) 159 Pereira, Gomez 41 Petrarca, Francesco 110, 369 Petty, William 74, 78 Peucer, Caspar 162
Personenregister
Philipp III. von Spanien, König 128 Piazza, Guglielmo 337–339, 343, 351 Pico della Mirandola, Giovanni 126, 193 Pietragrassa, Bartolomeo 2 Pietro d’Abano 93 f, 125 Pius IV., Papst (Giovanni Angelo Medici) 217 Platon 79 f, 93, 141, 199, 215, 404, 425 Plutarch 139, 234, 236, 426 Polybios 51, 142, 144, 233, 430 Pomponazzi, Pietro 93 Poussin, Nicholas 161, 283 Ptolemäus 68, 114, 118, 122, 136, 140, 177, 187, 206 Regiomontanus 151, 193 f Reinhold, Erasmus 131 Rheticus, Georg Joachim 123 Ripamonte, Giuseppe 293 Rist, Johann 1 Rodrigo de Castro 2, 93, 96 Romanò, Carlo 381 f, 388 Rossi, Girolamo 165 Ryff, Walther Hermann 392 f Salbriggio, Marco Cesare 2 Sallust 251, 421, 434 Sarpi, Paolo 205 Saumaise, Claude 119 Scaglia, Desiderio, Kardinal 167 Scaliger, Joseph Justus 22, 146 Schmidt, Erasmus 309 Schmitt, Carl 9 Seneca 201, 340, 345, 352 Serafino da Fermo (Serafino Aceti de’Porti) 109 Servet, Michel 76, 91 Settala, Ludovico 2, 8 f, 11, 18 f, 24–26, 104, 204–206, 208 f, 212 f, 217 f, 221, 227, 229, 259, 275, 278–280, 286, 290 f, 300, 303 f, 310–319, 321–323, 325–327, 329, 331 f, 343, 349, 353, 372–374, 378, 385–387, 390–395, 397, 403–440 Seyssel, Claude de 235 f Sforza, Francesco II., Herzog von Mailand 293 Sibly, Ebenezer 195 Sibly, Manoah 195
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Simoncelli, Girolamo, Kardinal 168 Solinus, Gaius Iulius 139 Stadio, Giovanni 151 Starkey, Thomas 414 Stöffler, Johannes 132, 231 Sudhoff, Karl 21, 113, 287 Suslyga, Laurentius 127 Sydenham, Thomas 270 Tacitus 7 f, 203, 206 f, 219–221, 224, 248, 250, 252, 414 f, 427, 433 Tadino, Alessandro 18, 25, 160, 278–280, 284 f, 290–294, 297, 299–306, 309–312, 317–320, 323, 325–337, 339, 341–345, 347–355, 357–359, 364, 372–376, 378–380, 382–388, 395–400, 402 f, 407, 429 Tannstetter, Georg 163 Tartaglia, Niccolò 83 Tarutius, Lucius 139 Telesio, Bernardino 42, 47–50, 52 f, 61, 63, 66, 84, 95 f, 263 f, 268 f, 437 Thomas von Aquin 87 Thukydides 207, 290, 321, 340, 426, 428 Tiberius, röm. Kaiser 207, 220, 250, 433 Titi, Placido 17, 22 f, 163 f, 166, 172–190, 192–195, 437, 439 Trithemius, Johannes 125 Urban VII., Papst (Giambattista Castagna) 167 Urban VIII., Papst (Maffeo Barberini) 147 f, 150–154, 156–159, 161, 167, 171, 173, 437 Valeriano, Pierio 239 f Varro, Marcus Terentius 118, 139 Velleius Paterculus 207 Vesalius, Andreas 11, 86 Vespasian, röm. Kaiser 250 Villani, Giovanni 125, 307, 315 Villani, Matteo 315 Virdung von Haßfurt, Johannes 163 Virile, Luca Antonio, Kardinal 167 Visconti, Raffaele 151–153 Whalley, John 195
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Personenregister
Zabarella, Jacopo 10, 76, 411 f Zacchia, Paolo 352 Zinani, Gabriele 8, 24 Zuccolo, Ludovico 7–9, 11, 17, 19, 24, 104,
204–209, 213–215, 218 f, 221, 236–246, 249–252, 264, 272, 403, 406 f, 409–413, 415, 427 f, 438 f