Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert 9783484366145, 3484366141, 9783110937572

At first glance, the category of 'sincerity' has little in common with 17th century culture. On the contrary,

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German Pages 380 [384] Year 2006

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung. Aufrichtigkeit – zum historischen Stellenwert einer Verhaltenskategorie
Christliche Aufrichtigkeit und sakrale Rhetorik
superbia fidei. Hochmut des Glaubens und Aufrichtigkeit des Menschen in der Theologie Martin Luthers und des barocken Luthertums
Aufrichtigkeit und Verstellung im 17. Jahrhundert: dissimulatio, simulatio und Lügen als debitum morale und sociale
Hypertrophie als Demut. Paradoxien der Codierung von Aufrichtigkeit in der Barockmystik
Der Silberblick der Selbstbetrachtung. Perspektiven der Aufrichtigkeit in der meditativen Literatur
Sozialverhalten und Unverstelltheit
„Ehrenhafte Spione”. Geheimnis, Verstellung und Offenheit in der Diplomatie des 17. Jahrhunderts
Ironie der Aufrichtigkeit. Disputation und Narration einer kommunikativen Norm
Listen der (Un)Aufrichtigkeit. Der geschminkte weibliche Körper in der Literatur des Barock
Aufrichtigkeit und ,Lebendigkeit‘ bei Christian Weise, pragmalinguistisch betrachtet
‚Teutsche‘ Redlichkeit und wahres Sprechen
Pastorale Aufrichtigkeit. Ein Blick in Georg Philipp Harsdörffers und Johann Klajs Pegnesisches Schäfergedicht
Die Gemeinschaft der Aufrichtigen. Die Sprache der Nation und der redliche Grund des Sozialen im 17. Jahrhundert
„vnd wann wir vns begossen, da ist die zunge loß”. Die Aufrichtigkeit des Weins im 17. Jahrhundert
Wissenschaften und Künste der Aufrichtigkeit
Aufrichtige Anlässe. Ausgangspunkte der (poetischen) Rede im 17. Jahrhundert
Paul Flemings stoizistische Liebesdichtung und die Latenz des Subjekts in der Frühen Neuzeit
Johann Christian Günthers Redlichkeit
Über die Schwelle der Un/Aufrichtigkeit. Die ‚Wahrhaftigkeit‘ von Talanders „Liebenswürdiger Europäerin CONSTANTINE“
Gibt es eine Aufrichtigkeit des Körpers? Zu den deutschen Tanzlehrbüchern des späten 17. Jahrhunderts
Formen der Aufrichtigkeit. Zeitgeschehen in Wort und Bild im Theatrum Europaeum (1618-1718)
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Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert
 9783484366145, 3484366141, 9783110937572

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Frühe Neuzeit Band 114 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert Herausgegeben von Claudia Benthien und Steffen Martus

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN-13:978-3-484-36614-5

ISBN-10:3-484-36614-1

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag GmbH, München http: //www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach

Inhalt

Claudia Benthien

/ Steffen

Marius

Einleitung Aufrichtigkeit - zum historischen Stellenwert einer Verhaltenskategorie

1

Christliche Aufrichtigkeit und sakrale Rhetorik Johann Anselm superbia

Steiger

fidei

Hochmut des Glaubens und Aufrichtigkeit des Menschen in der Theologie Martin Luthers und des barocken Luthertums Lutz

19

Danneberg

Aufrichtigkeit und Verstellung i m 17. Jahrhundert: dissimulatio, simulatio und Lügen als debitum morale und sociale Claudia

45

Benthien

Hypertrophie als D e m u t Paradoxien der Codierung von Aufrichtigkeit in der Barockmystik Stephanie

93

Wodianka

Der Silberblick der Selbstbetrachtung Perspektiven der Aufrichtigkeit in der meditativen Literatur

109

Sozialverhalten der Unverstelltheit Heidrun

Kugeler

„Ehrenhafte Spione" Geheimnis, Verstellung und Offenheit in der Diplomatie des 17. Jahrhunderts Ursula

127

Kundert

Ironie der Aufrichtigkeit Disputation und Narration einer kommunikativen Norm

149

VI

Inhalt

Miroslawa Czarnecka Listen der (Un)Aufrichtigkeit Der geschminkte weibliche Körper in der Literatur des Barock

Wilfried Barner Aufrichtigkeit und .Lebendigkeit' bei Christian Weise, pragmalinguistisch betrachtet

163

179

, Teutsche' Redlichkeit und wahres Sprechen Klaus Garber Pastorale Aufrichtigkeit Ein Blick in Georg Philipp Harsdörffers und Johann Klajs Pegnesisches Schäfergedicht

191

Ingo Stöckmann Die Gemeinschaft der Aufrichtigen Die Sprache der Nation und der redliche Grund des Sozialen im 17. Jahrhundert . . .

207

Steffen Marius „vnd wann wir vns begossen, da ist die zunge loß" Die Aufrichtigkeit des Weins im 17. Jahrhundert

231

Wissenschaften und Künste der Aufrichtigkeit Dirk Niefanger Aufrichtige Anlässe Ausgangspunkte der (poetischen) Rede im 17. Jahrhundert

267

Thomas Borgstedt Paul Flemings stoizistische Liebesdichtung und die Latenz des Subjekts in der Frühen Neuzeit

279

Ernst Osterkamp Johann Christian Günthers Redlichkeit

297

Nicola Kaminski Über die Schwelle der Un/Aufrichtigkeit Die ,Wahrhaftigkeit' von Talanders „Liebenswürdiger Europäerin CONSTANTINE". .

311

Inhalt

VII

Marie-Therese Mourey Gibt es eine Aufrichtigkeit des Körpers? Zu den deutschen Tanzlehrbüchem des späten 17. Jahrhunderts

329

Gerhild Scholz Williams Formen der Aufrichtigkeit Zeitgeschehen in Wort und Bild im Theatrum Europaeum (1618-1718)

343

Claudia Benthien / Steffen Marius

Einleitung Aufrichtigkeit - zum historischen Stellenwert einer Verhaltenskategorie

Auf den ersten Blick hat die moralische und kunsttheoretische Kategorie .Aufrichtigkeit' mit dem 17. Jahrhundert wenig gemein. Im Gegenteil, der emphatische Wunsch, die Codes der Rhetorik, die ästhetischen Konventionen und die Künstlichkeit der tradierten Zeichensysteme zu transzendieren, gilt als Charakteristikum eben jener historisch anschließenden Epoche, die sich von der des Barock so vehement abzuheben suchte: der Aufklärung. Der vorliegende Band möchte diese geistesgeschichtliche Trennung relativieren, indem er nach Formen und Strategien des Authentischen und Unverstellten in der Literatur und den Künsten, in Verhaltenslehren und Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts fragt. Sicherlich unterscheiden sich diese Ausprägungen von Aufrichtigkeit in vieler Hinsicht von jenen des 18. Jahrhunderts und späterer Epochen. Dennoch spielen sie, so die Hypothese, eine bedeutende Rolle. In der bisherigen Debatte, die sich eher der „Sprache der Verstellung"1 und der theatralen Artifizialität der Barockepoche zuwandte, wurden sie aber wenig beachtet, was insbesondere für die germanistische Forschung gilt.2 Das Buch fugt sich daher methodisch in neuere Untersuchungen zur Frühen Neuzeit ein, die weniger von einem radikalen Epochenbruch zwischen Barock und Aufklärung als vielmehr von einem sukzessiven Wandel ausgehen.3 Der in der Titelformulierung des Buches anklingende Widerspruch einer aufrichtigen Künstlichkeit' oder .künstlichen Aufrichtigkeit' entspricht in vieler Hinsicht dem spielerischen und antithetischen Denken der Zeit. Der Begriff der Aufrichtigkeit bietet gegenüber ähnlichen Konzepten wie Authentizität, Natürlichkeit oder Echtheit als Arbeitsbegriff vor allem den Vorteil, der für die Frühe Neuzeit historisch angemessene Terminus zu sein. So beschreibt sich

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Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992. Vgl. demgegenüber beispielhaft für den französischen Kontext: Roland Galle: Honetete und sincerite. In: Französische Klassik. Theorie, Literatur, Malerei. Hg. von Fritz Nies u. Karlheinz Stierle. München 1985, S. 33-60; Henri Peyre: Literature and Sincerity. New Haven u. a. 1963. Als ,Age of Sincerity" gilt für Peyre das 20. Jahrhundert (ebd., S. 237 iE); die deutsche Literatur bleibt bis ins 19. Jahrhundert ausgeblendet. Eine deutlich andere Perspektive bietet Lionel Trilling: Das Ende der Aufrichtigkeit. Frankfurt a. Μ. 1989; hier auch kurz zur Begriffsgeschichte von „sincerity" und kursorisch zum Stellenwert der Aufrichtigkeit in der Frühen Neuzeit (ebd., S. 12 ff., 21 ff.). Sylvia Heudecker, Dirk Niefanger u. Jörg Wesche (Hg.): Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt. Tübingen 2004, S. 47-66.

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Claudia Benthien / Steffen Marius

etwa Andreas Gryphius' Märtyrerfigur Papinianus im gleichnamigen Trauerspiel mit den Worten: „Auffrichtig hab ich stets zu wandeln mich beflissen"4, und nach der Hinrichtung des Rechtsgelehrten heißt es, dass auf seiner Stirn „der Tugend Wesen / Und treu' Auffrichtikeit ausdrücklich war zu lesen".5 In Johann Christian Hallmanns Trauerspiel Die Göttliche Rache Oder Der verführte Theodoricus veronensis liefert sich im ersten Reyen die Allegorie der „Auffrichtigkeit" ein Wortgefecht mit diversen anderen Allegorien - der „Sanfftmuth", der „Regierkunst", der „Gewalt" und der „Heuchelei".6 In dem anonym erschienenen lehrhaften Kompilat Kurtzweiliger Zeitvertreiber erfahrt man scheinbar Widersprüchliches über die Aufrichtigkeit: „Einer der alles saget / was er weiß; Ist nicht Weltweise: Und wer anders redet / als er meynet; ist nicht auffrichtig." 7 Demgegenüber appelliert Friedrich von Logau in zwei Sinngedichten, die beide mit Auffrichtigkeit betitelt sind, an die Geradlinigkeit von Handlungen und Rede: „Wer wenig jrren wil / er thu gleich was er thu / | Der schweiffe weit nicht um / er geh gerade zu."8 Im zweiten Epigramm entwirft Logau Aufrichtigkeit als christliche Tugend der Unverstelltheit und greift damit ein bekanntes Bibelwort auf: Ja soll ja / vnd nein soll nein/ Nein nicht ja / ja nein nicht seyn: Der / der anders reden kan Ist noch Christ noch Biedermann.9 Neben derartigen pragmatischen Ansichten - die mit dem Ideal des .Biedermanns' überraschend deutlich auf eine Leitkategorie der Frühaufklärung verweisen - impliziert der Begriff weitere Dimensionen. Denkt man etwa an den ,aufrechten Gang', welcher den homo sapiens von den Tieren differenziert und der es ihm ermöglicht, sich von seinen Trieben zu emanzipieren und Herr über seine Handlungen zu sein, so wird ein anthropologischer Bezug ersichtlich, der auch die biblische Lehre von der rectitudo des Menschen kennzeichnet (vgl. Johann Anselm Steigers Beitrag „superbia fidei. Hochmut des Glaubens und Auf-

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Andreas Gryphius: Grossmütiger Rechts-Gelehrter Oder Sterbender Aemilius Paulus Papinianus. In: ders.: Dramen. Hg. von Eberhard Mannack. Frankfurt a. M. 1991, S. 307-441; 1/175. Die besondere „Auffrichtikeit seines Gewissens" betont Gryphius gleich im ersten Satz der Zusammenfassung. Vgl. ebd., S. 313. Gryphius (1991), V/468. Johann Christian Hallmann: Die Göttliche Rache Oder Der verführte Theodoricus veronensis. In: Sämtliche Werke. Bd. 2. Nachdruck der Ausgabe Breslau 1700. Hg. von Gerhard Speilerberg. Berlin u. New York 1980, S. 1-383, S. 44-47. Anonym: Kurtzweiliger Zeitvertreiber / Welcher augebutzt mit allerhand lustigen Hofreden / lächerlichen Schwäncken / artigen Schnacken / nachdenklichen wolgerissenen Possen / kurtzweiligen Begebnüssen / merkwürdigen Geschichten / nützlichen Erzehlungen / und wohlgegebenen Poetischen Ergötzlichkeiten [...]. Hg. von C. U. M. von B. o. 0.1668, S. 609. Bei dem Pseudonym handelt es sich um den Autor Chasmindo von Weitencher; es ist laut VD17 aber bibliografisch nicht aufzulösen. Friedrich von Logau: Deutscher Sinn-Getichte Drey Tausend. Breslau 1654, S. 213. Logau (1654), S. 143.

Einleitung

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richtigkeit des Menschen in der Theologie Martin Luthers und des barocken Luthertums"). Zudem beinhaltet der Begriff eine juristische Dimension (im Sinne von .rechtlich',,Recht') und eine moralische (im Sinne von .recht', .richtig'). Aufrichtigkeit kann demnach sowohl das Gattungswesen als auch jene spezifischen Personen oder Gruppen kennzeichnen, die einen .aufrechten', unverstellten Lebensweg verfolgen. Hier wird deutlich, dass mit derartigen Konzeptionen auch historische Modelle von Individualität und Subjektivität verhandelt werden. Eine .Kunst der Aufrichtigkeit' ist nicht zuletzt Lebenskunst. Die Fragestellung des Tagungsbandes knüpft daher an Arbeiten im Bereich der Öffentlichkeitsforschung sowie an Fragen kollektiver oder nationaler Identität an (vgl. Ingo Stöckmanns Beitrag „Die Gemeinschaft der Aufrichtigen. Die Sprache der Nation und der redliche Grund des Sozialen im 17. Jahrhundert").

Orte der Unverstelltheit Die epochale Selbstmodellierung seit der Aufklärung übersieht, dass Aufrichtigkeit ein altes Verhaltensideal ist. Als sinceritas oder veracitas taucht sie schon in der antiken Moralphilosophie und Rhetorik auf und wird von dort aus weiter tradiert.10 Zwar erscheint das .rhetorische' Sprechen auf den ersten Blick als das Gegenteil von .aufrichtigem' Sprechen, weil die Rhetorik immer wieder Techniken des strategischen Handelns vermittelt - sie orientiert sich nicht primär am Sprecher und dessen tatsächlicher Einstellung, sondern am Adressaten und dessen Beeinflussbarkeit durch erfolgsorientiertes Agieren. Andererseits braucht das aufrichtige Sprechen Signale, mit denen es seine Wahrhaftigkeit und Unverstelltheit vermitteln kann. Aufrichtigkeit muss bemerkt werden, wobei es bestimmte ,Orte' gibt, die für ihre Entfaltung prädestiniert sind oder diese in hohem Maße unwahrscheinlich machen. Dazu gehören nicht nur konfessionelle, gender- oder gattungsspezifische Orte, sondern auch bestimmte Anlässe und kulturelle Räume. Die Selbstentwürfe des 17. Jahrhunderts sind zu großen Teilen topographisch angelegt. In der Memorialkunst, in den Tabellen der wissenschaftlichen oder staatlichen Repräsentation, in den bildnerischen Darstellungsverfahren, in den barocken Wunderkammern oder auch in der Gesellschaftskonzeption - immer wieder wird eine Ordnung im oder als Raum entworfen. Von hier aus stellt sich die Frage, ob es .Stellen' einer .unverstellten' Selbstaussprache gibt, ob sich gleichsam Nischen der Aufrichtigkeit in einer auf Inszenierung bedachten Kultur finden lassen. Das betrifft zunächst Räumlichkeiten im wörtlichen Sinn und

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Vgl. Claudia Schmölders: Einleitung. In: Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie. Hg. von ders. München 21986, S. 9-67, S. 12; Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie. München I0 1990, S. 33 (§ 66, 1), 142 (§430, 3).

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Claudia Benthien /Steffen Marius

damit die Frage, welche Möglichkeiten der Aufrichtigkeit etwa klerikale Räume wie Kloster, Beichtstuhl oder Eremitage bieten. Wenn im 17. Jahrhundert die Notwendigkeit besteht, Reservate aufrichtigen Sprechens zu schaffen, dann muss man auch die Verantwortlichkeit des Sprechers und das Modell von .Aufrichtigkeit' so konzipieren, dass es nicht anthropologisch, von der Innerlichkeit des Menschen aus, sondern topographisch, also eher dezentriert, gedacht wird. Konfessionelle Unterschiede spielen dabei eine wichtige Rolle, was allein schon im Blick auf die Kritik an monastischen Lebensformen in der Reformation nahe liegt. Mystische oder pietistische Glaubensentwürfe beispielsweise konstruieren die Aufrichtigkeit des Glaubens anders als die Anhänger der Orthodoxie in ihren wiederum je spezifischen Ausprägungen. Insgesamt verschärft sich das Problem der Aufrichtigkeit auch vor diesem Hintergrund in einer Weise, daß die Unterscheidung von Lüge und Wahrhaftigkeit die Beobachter überfordert und neue, nicht mehr theologisch fundierte Konzepte von Aufrichtigkeit provoziert (vgl. Lutz Dannebergs Beitrag „Aufrichtigkeit und Verstellung im 17. Jahrhundert: dissimulatio, simulatio und das Lügen als debitum morale und sociale). Wie also muss im Zeitalter des Konfessionalismus die ,Kunst der Aufrichtigkeit' im religiösen Diskurs differenziert werden? Wie verbindet sie sich mit der topographischen Denkordnung des 17. Jahrhunderts - oder wie läuft ihr diese konfessionelle Differenzierung zuwider? Welche Modelle entsprechen den eher topographischen, welche den eher anthropologischen Aufrichtigkeitskonzepten? Geschlechtsspezifische, alterstypologische oder pathologische Formen der .Aufrichtigkeit' gehören in diesen Zusammenhang ebenso wie die Frage nach historischen Allegorien und Figuren der Unverstelltheit wie zum Beispiel Kinder,,Wilde', Mönche oder Märtyrer. Die literarische Dimension des Themenfeldes ,Orte der Unverstelltheit' erschließt sich aus der Homologie von Gattungssystem und Sozialsystem. Wenn die Diskussion um das Verhältnis von ,hohem' und .niederem' Roman poetologisch u. a. entlang der Grenze einer nur .wahrscheinlichen' im Unterschied zu einer .wahren' Darstellung verläuft, dann liegt auch hier die Vermutung nahe, dass es im barocken Gattungssystem spezifische ,Orte der Unverstelltheit' gibt. Dazu gehört beispielsweise das Landleben (vgl. Klaus Garbers Beitrag „Pastorale Aufrichtigkeit. Ein Blick in Georg Philipp Harsdörffers und Johann Klajs Pegnesisches Schäfergedicht'). Die Darstellungsgesetze der laus ruris mit ihren entsprechenden Gattungen zeigen, dass bei einer ganzen Reihe von Aufrichtigkeitstopoi das Selbstbewusstsein der Aufklärung, das sich aus der Wendung gegen die barocke Kultur der Inszenierung ableitet, wenig überzeugend ist. Dabei ist die stilistische .Natürlichkeit', die gewissermaßen intuitiv den .aufrichtigen' Gattungen entspricht, nur die eine Seite einer .Rhetorik der Aufrichtigkeit'. Auf der anderen Seite nämlich erklärt sich auch die Überfülle des ornatus gegen Ende des 17. Jahrhunderts nicht nur aus der aemulatio, sondern stilgeschichtlich vielleicht auch aus einer Überbietungsgeste, die auf die , Aufrichtigkeit der Aufrichtigkeit' deuten will: Wie zeigt der Redner oder Schreiber - etwa in den verschiedenen Formen der Lobrede - seine Aufrichtigkeit, wenn alle Mittel bereits konventionalisiert sind?

Einleitung

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Rhetorische Aufrichtigkeit Verschiedene rhetorische Kategorien reagieren auf diese Problemstellung. Die Haltung des Redners beispielsweise wird unter der Kategorie des ethos behandelt. Dabei geht es um die Instrumentalisierung des Charakters als Beweismittel sowie - vor allem im Kontext der Diskussion um den vir bonus - um die Grenzen dieser Instrumentalisierung und um Fragen der Redemoral. Die perspicuitas gehört entsprechend zu den höchsten Tugenden der Rede: „Oratio vero", erklärt bereits Quintilian, „cuius summa virtus est perspicuitas, quam sit vitiosa, si egeat interprete?"11 Auch wenn man es hier nur mit einer bereichsspezifischen Geltung der Aufrichtigkeitsnorm zu tun hat, wie sie typisch für die Vielfältigkeit der Rhetorik und ihrer Tradition ist,12 und auch wenn die Aufrichtigkeit immer wieder eine Rhetorik des Unrhetorischen entwickelt: Dass aufrichtiges Verhalten besser als unaufrichtiges Verhalten ist, gehört zum festen Normenkanon. Unter dem Motto Concordia cordis et oris zur Pictura des Pfirsichbaums heißt es etwa bei Joachim Camerarius 1590: „Persea fert cordis fructus, folia aemulia linguae: | Ο utinam in cunctis haec bene juncta forent".13 Das Epigramm weist darauf hin, dass Herz (cordis) und Zunge (lingua) eine Sprache sprechen sollen, was mittels des Kerns und des Blattes des Pfirsichs versinnbildlicht wird. Oder, wie es bereits Hans Sachs mit dem Mut zur einfachen Lehre formuliert: Also noch heut, wer frei aufrichtig wandelt und sich hüt vor verreterischen tücken, treulich gen feinden und gen freunden handelt, dem muß sein sach aus billikeit gelücken; wer aber sich untreuer art helt, der entget dem Unglück hart hört man die weisen sagen. 14

Ein solches Votum für Aufrichtigkeit als Garant dafür, dass unverstelltes Handeln auch erfolgreiches Handeln ist, bleibt in dieser Deutlichkeit selten, gehört allerdings schon mit Horaz' „Si vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi"15 11

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„Die Rede, deren höchster Vorzug die Klarheit ist, wie fehlerhaft wäre sie, wenn sie einen Dolmetscher brauchte!" Marcus Fabius Quintiiianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. 2 Teile. Hg. und übs. von Helmut Rahn. Darmstadt 3 1995,1, 6, 41. Vgl. Wilfried Bamer: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 2 2002. „Der Baum Persea trägt Früchte von der Gestalt eines Herzens und Blätter, die mit einer Zunge in ihrer Form wetteifern: Ο wenn doch bei allen die beiden [Herz und Mund] wohl geeint wären!" Arthur Henkel u. Albrecht Schöne (Hgg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Taschenausgabe. Stuttgart u. Weimar 1996, Sp. 237. Die allegorische Bezugnahme auf den Pfirsichbaum entstammt Phitarchs Text Über Isis und Osiris. Zur entsprechenden sprachkritischen Ikonographie und Emblematik der Frühen Neuzeit vgl. Claudia Benthien: Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert. München 2006, Kap. Π.Ι. Hans Sachs: Dichtungen. Erster Theil. Geistliche und weltliche Lieder. Hg. von Karl Goedeke. Leipzig 1870, S. 58. Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch / deutsch. Übs. und mit einem Nachwort hg. von Eckart Schäfer. Revidierte und bibliographisch ergänzte Aufl. Stutt-

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Claudia Benthien / Steffen Marius

zum Bestand der Lehre vom poetischen und auch rhetorischen Erfolg (vgl. Dirk Niefangers Beitrag „Aufrichtige Anlässe. Ausgangspunkte der (poetischen) Rede im 17. Jahrhundert") und wird im 17. Jahrhundert vielfach tradiert. So definiert etwa Justus Georg Schottel die veracitas folgendermaßen: „Die Wahrhaftigkeit nennet man / wan in reden und schweigen / in thun und lassen / und allen Verrichtungen man sich ehrlich / redlich und aufrichtig bezeiget / und überall recht Treu und Glauben hält."16 Man mag die Aufrichtigkeit zwar für moralisch besser halten als die Unaufrichtigkeit, für vorteilhafter hält man sie deswegen nicht notwendigerweise. Die Vorbehalte gegenüber aufrichtigem Verhalten finden sich vor allem in der Tradition strategischer Verhaltenslehren, deren berühmteste Baltasar Grecians Oraculo manual ist („Die erste qvalitet eines klugen und verschlagenen Staats- und Hoffmannes beruhet darinne / das er sich niemand gäntzlich zuerkennen geben und sein Gemüth einen andern nicht offenbahre") 17 . In diesem Kontext gibt es vielfach die Empfehlung, Aufrichtigkeit (sincerite), die immer als potentielle Gefahr der Selbstpolitik verbucht wird, nur sparsam einzusetzen: „Sois sincere seulement dans la mesure oü cette sincerite ne peut pas te porter tort, a fortiori si eile contribue ä renforcer ta position dans le monde" - im Rahmen der „Eloquence ä la cour", so Cardinal Mazarin 1684, gilt das Simulieren als Pflicht.18 Und in der deutschen Übersetzung von Diego de Saavedra Fajardos Idea de un principe politico-christiano liest man entsprechend: Jeder zeit die warheit klar herauss sagen wehre eine gefährliche aufrichtigkeit / weil das stillschweigen in der Regierung eins auss den vornehmsten werckzeugen ist. Wer seine geheimniss einem andern leichtsinniger weise anvertraut / der vbergibt jhm zugleich den Scepter. Lügen gehört einem Fürsten nit zu / aber wol stillschweigen / oder die warheit bergen [...]. Im vbrigen soll der Fürst in allen sein thun vnd lassen eine Königliche aufrichtigkeit spüren lassen / deren er sich auch gebrauchen soll gegen denen die er vermeindt zu vntergehen: dan legen sie solches wol auss / so werden sie in jhren anschlagen verwirrt und fangen an zu wancken: gleichwol aber es ist kein besser vnd edeler betrug als die warheit [...].19

Die Wahrheit als ,beste Lüge' - diese von Graciän entwickelte paradoxe Formel wird im 17. Jahrhundert wieder und wieder variiert. So heißt es zum Beispiel in Christian Georg Bessels Hofschule, dem Neuen Glücks-Schmied von

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gart 1984, S. 10 f. (V. 102 f.). Vgl. dazu Jürgen Stenzel: „Si vis me flere ..." - „Musa iocosa mea". Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts. In: DVjs 48 (1974), S. 650-671. Justus Georg Schottel: Ethica. Die Sittenkunst oder Wollebenskunst. Nachdruck der Ausgabe Wolfenbüttel 1669. Hg. von Jörg Jochen Berns. Bern u. München 1980, S. 519. Baltasar Graciän: L'homme de cour Oder Baltasar Gracians Vollkommener Staats- und Welt-Weise. Übs. von K. Sauter. Leipzig 1686, „Index Rerum", o. S. Cardinal Jules Mazarin: Breviaire des politiciens. Übs. aus dem Lat. von Francis Rosso. Hg. von Umberto Eco. Paris 1997, S. 76 u. 83 f. Diego de Saavedra Fajardo: Ein Abriss Eines Christlich-Politischen Prinzens / In CI. Sinnbildern und mercklichen Symbolischen Sprüchen gestellt [...]. Amsterdam 1655, S. 373. Ausfuhrlich zur prudentistischen Differenzierung von Dissimulation, Schweigen, Verschweigen und Heimlichkeit vgl. Benthien (2006), Kap. ΠΙ. 1.

Einleitung

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1681, über die darin implizierte Gratwanderung pointiert: „Es ist keine grössere Spitzfindigkeit in der Welt / als ein ehrlicher auffrichtiger Mann seyn".20 Einerseits als wird .rhetorisches' Sprechen als das Gegenteil von .aufrichtigem' Sprechen konzipiert; andererseits braucht das aufrichtige Sprechen Signale, mit denen es seine Wahrhaftigkeit und Unverstelltheit vermitteln kann. Aufrichtigkeit muss bemerkt werden. Paradoxerweise bedarf es also einer .Rhetorik der Aufrichtigkeit', um den Fesseln der simulierenden und dissimulierenden Kommunikation zu entkommen. Verhaltens- und Klugheitslehren gehen vom bedrohten Individuum aus; Aufrichtigkeit ist fur sie daher meist ein Fehler, eine unvorsichtige Selbstentblößung, die gegen den aufrichtig Handelnden gekehrt werden kann. Simulatio und dissimulatio gelten, in je unterschiedlicher Gewichtung als akzeptable, wenn nicht gar notwendige Mittel (vgl. Wilfried Barners Beitrag „Aufrichtigkeit und ,Lebendigkeit' bei Christian Weise, pragmalinguistisch betrachtet"). Zugleich gestehen sich viele diese strategozentrische Haltung nicht wirklich ein. Es gibt Traditionen der Verhaltenslehre in der Frühen Neuzeit, die - insbesondere aus christlicher Perspektive - der Aufrichtigkeit einen wesentlich höheren Stellenwert zumessen, als andere, primär der höfischen Karriere gewidmete. Auch das Ständesystem verbindet die Stellung in der Gesellschaft mit bestimmten Formen der Verstellung bzw. der Aufrichtigkeit. Ähnliches gilt für spezifische soziale Sphären, etwa die Diplomatie (vgl. Heidrun Kugelers Aufsatz „,Ehrenhafte Spione'. Geheimnis, Verstellung und Offenheit in der Diplomatie des 17. Jahrhunderts").

Aufrichtige Gesellschaften und Nationen Gegen diese oftmals als französisch codierten und der Sphäre des Hofs zugeordneten Unaufrichtigkeitsgebote profiliert sich eine ,teutsche' Aufrichtigkeitsnorm. „Aufrichtigkeit und alte Teutsche Treu"21 werden gleichgesetzt. In Georg Philipp Harsdörffers Frauenzimmer-Gesprächsspielen gelten ein klares ,Ja' und ,Nein' als „Kennzeichen der Teutschen Redlichkeit"22 und Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau lobt in einem TrauerGedicht bey Absterben eines vertrauten Freundes besonders die „deutsche Redligkeit"23 des Toten. Gryphius' Scherzspiel Horribilicribifax teutsch und Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Schelmenroman Der abentheuerliche Simplicissimus teutsch verweisen mit dem programmatischen Attribut ,teutsch' im Titel auf zweierlei: einerseits

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Christian Georg Bessel: Neuer Politischer Glücks-Schmied / Mit allerhand zum Hof- und Welt-Leben dienenden / und auff gegenwärtige Zeiten absonderlich gerichteten heylsamen und höchstnöthigen Lehren [...]. Frankfurt 1681, S. 353 f. Georg Philipp Harsdörffer, Sigmund von Birken u. Johann Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht. 1644-1645. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 1966, S. 39. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer-Gesprächsspiele. Bd. 8. Nachdruck d. Ausgabe Nürnberg 1649. Hg. von Irmgard Böttcher. Tübingen 1969, S. 110 f. Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: Gedichte. Stuttgart 1964, S. 100.

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Claudia Benthien /Steffen Marius

auf die Tatsache, dass es sich um volkssprachliche Werke handelt, geschrieben in einer Sprache, die sich als Literatursprache gerade erst etabliert und die noch mit ihrer Marginalisierung durch die modernen europäischen Sprachen und das Lateinische zu kämpfen hat. Andererseits, und hierauf wird besonders im Simplicissimus-Roman vielfach hingewiesen,24 hat ,teutsch' im 17. Jahrhundert durchweg positive Konnotationen wie redlich, echt, deutlich - oder eben ,aufrichtig'. Als nationalisiertes Gegenkonzept ist Aufrichtigkeit Teil jener spezifischen Alamode-Kritik, wie sie sich in Satiren und polemischen Traktaten artikuliert.25 Grundsätzlich sind dabei zwei Impulse zu differenzieren. Zum einen gibt es das erklärte Ziel, die „rechte der deutschen hoch-prächtigen zungen"26 zu stärken und die eigene Sprache von allen Fremdworten und Manierismen zu .reinigen', so etwa der Wunsch vieler Sprachlehrbücher und Rhetoriken.27 Ihre Kritik richtet sich gegen alle „Sprach-Verderber", die, wie Johann Georg Schiebel es formuliert, „unsere teutsche Helden-Sprache mit neuen Wörtern" oder auch „mit einer selbst erdachten Schreib-Art" verunstalten, wenn nicht gar „verunziehren und schänden".28 Die attribuierte Reinheit und Natürlichkeit der deutschen Sprache wird dabei durchaus in religiösen Dimensionen gedacht.29 Zum anderen geht es auch allgemeiner um die Abwertung jeglicher mit dem höfischen und politischen Bereich verbundenen Künstlichkeit und Verstellungskunst, die sich nicht nur auf das Gebiet der Sprache, sondern auch auf die Bereiche von Verhalten, Manieren, Kleidung und Kosmetik bezieht - und damit auf nationale und geschlechtsspezifische Zuschreibungen (vgl. Miroslawa Czarneckas Beitrag „Listen der (Un)Aufrichtigkeit. Der geschminkte weibliche Körper in der Literatur des Barock"). Aufrichtigkeit dient als Leitbegriff einer ,redlichen' Geselligkeit, der daher beispielsweise auch im Namen der„Aufrichtigen Tannengesellschaft" firmiert.30 Auf dieser Linie wird, nicht zuletzt in den von den Aufstiegsbemühungen der 24

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Vgl. etwa Wendungen im Text wie jemand etwas „nur allzu Teutsch zu verstehen" geben', ,sich „so gut Teutsch erzeigen'" oder die Rede von einer „angebomen Teutschen Redlichkeit". Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen: Der abentheurliche Simplicissimus Teutsch. Werke Bd. 1.1. Hg. von Dieter Breuer. Frankfurt a. M. 1989, S. 206, 258 u. 364. Vgl. Erika Vogt: Die gegenhöfischen Strömungen in der deutschen Barockliteratur. Leipzig 1932. Philipp von Zesen: Palm-baum der höchst-löblichen Freucht-bringenden Gesellschaft zuehren aufgerichtet. In: Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse. Hg. von Albrecht Schöne. München 1963, S. 692. Vgl. Paul Hankamer: Die Sprache. Ihr Begriff und ihre Deutung im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Ein Beitrag zur Frage der literaturhistorischen Gliederung des Zeitraums. Nachdruck der Ausgabe Bonn 1927. Hildesheim 1965, S. 128-39; Bamer (2002), S. 159-67; Nicola Kaminski: Ex bello ars oder Ursprung der „Deutschen Poeterey". Heidelberg 2004. Johann Georg Schiebel: Neu-erbautes erbauliches Historisches Lust-Hauß: Darinnen Ein ansehnlicher und Hertz-vergnügender Vorrath Auserlesener Geschichte / Merckwürdiger Reden / Artiger Sinnbilder / Nachsinnlicher Wahl-Sprüche [...]. Leipzig 1685, S. 87. Vgl. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 7 1996, S. 181. Vgl. Monika Bopp: Die ,Tannengesellschaft'. Studien zu einer Straßburger Sprachgesellschaft von 1633 bis 1670. Frankfurt a. M. u. a. 1998.

Einleitung

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Gelehrten geprägten Sprachgesellschaften,31 ein bestimmtes Verhaltensraster unterlaufen: die soziale Orientierung, die Unverstelltheit insbesondere dann für problematisch hält, wenn es sich um höhergestellte Personen handelt. An die Stelle der hierarchisierten Aufmerksamkeitstheorie, die Unverstelltheit für bestimmte Sozialverhältnisse und bestimmte gesellschaftliche Gruppen reserviert, tritt die übergreifende Idee von .menschlicher' Kommunikation (vgl. Steffen Martus' Beitrag „,vnd wann wir vns begossen, da ist die zunge loß'. Die Aufrichtigkeit des Weins im 17. Jahrhundert"): Wir sind Menschen / und ob schon der andere in höhere Station, Dignität und grössere Glück sitzet / ist er doch ein Mensch / dahero man auch mit selbigen / als mit einem Menschen / das ist / frey / aufrichtig und mit redlichen / nicht niedergeschlagenen Augen / reden soll / ob es auch schon ein Fürst oder andere Person von Condition wäre.32

Glaube und Glaubwürdigkeit Der in Georg Rodolf Weckerlins Formulierung, „aufrechte[ ] Teutschef ]"33 kann dabei auch von theologischen Traditionslinien profitieren, die innerweltlichem Karrierestreben und damit der Nützlichkeit von Verstellung erwartungsgemäß wenig abgewinnen können. Der Wunsch, aus dem „Natterort" herausgeführt zu werden, wo nach Ansicht von Quirinus Kuhlmann die „Aufrichtikeit verdrehet" wird, folgt daraus ebenso konsequent34 wie die von Simon Dach artikulierte Glaubenssicherheit, „dass bey dieser Zeiten List, | Herr, dein Hertz auffrichtig ist".35 Auch für die neostoizistische Abhärtungsdramaturgie eines Daniel Caspar von Lohenstein wird „Aufrichtigkeit" zu einem Gut, dass „Kwai und Schimpf und Hencker" nicht „besigen" können.36 Wenn allerdings der postlapsare Zustand des Menschen dessen prinzipielle Aufrichtigkeit, also die Übereinstimmung mentaler Zustände und wahrnehmbarer Körper und Sprachhandlungen, stört, dann kann eine ,gezwungene' Haltung, die sich den disziplinierenden Regimes der 17. Jahrhunderts ausgesetzt hat, zur eigentlichen Aufrichtigkeit werden (vgl. Marie-Therese Moureys Beitrag „Gibt es eine Aufrichtigkeit des Körpers? Zu den deutschen Tanzlehrbüchern des

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Vgl. Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982; Steffen Martus: Sprachtheorien. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. von Albert Meier. München u. Wien 1999, S. 140-155, S. 140 ff. Curieuser Reise-Hoffmeister / oder Kurtze / doch Deutlicher Anweisung / wie Ein junger Mensch / welcher in die Welt gehen / und seinem Vaterlande hernach die Veritable StaatsKlugheit / sammt einer Wohleingerichteten Conduite weisen will / müsse beschaffen seyn. Leipzig 1702, S. 85 f. Georg Rodolf Weckherlin: Gedichte. Hg. von Karl Goedecke. Leipzig 1873, S. 263. Quirinus Kuhlmann: Kühlpsalter. Bd. 1. Hg. von Robert L. Beare. Tübingen 1971, S. 45. Simon Dach: Gedichte. Hg. von Walther Ziesemer. Bd. 2. Halle a. d. Saale 1937, S. 244. So in Lohensteins Agrippina. Daniel Casper von Lohenstein: Afrikanische Trauerspiele. Hg. von Klaus Günther Just. Stuttgart 1957, S. 81.

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späten 17. Jahrhunderts")- Ähnlich kompliziert wird der Umgang mit Aufrichtigkeit, wenn Unaufrichtigkeit nicht mehr deren einfache Opposition darstellt. In der galanten Zeit ,um 1700' gehört das Spiel mit der aufrichtigen Unaufrichtigkeit und der unaufrichtigen Aufrichtigkeit zum Repertoire einer kulturellen Neuorientierung (vgl. Nicola Kaminskis Beitrag „Über die Schwelle der Un/Aufrichtigkeit. Die ,Wahrhafftigkeit' von Talanders ,Liebenswürdiger Europäerin CONSTANUNE'").37 Diese betrifft die verbale wie die mediale Kommunikation gleichermaßen. So bezieht sich beispielhaft ein Epigramm mit dem Titel Schlaue Aufrichtigkeit von Christian Wernicke auf den Modus der Mündlichkeit: Schein was du bist / bekenn dein Hertz im Angesicht/ Die albern-kluge Welt wird diß Verstellung nennen; Sprich rund heraus / man glaubt dir nicht/ Geh nackt / und man wird dich nicht kennen. 38

In Benjamin Neukirchs Anweisung zu teutschen Briefen hingegen wird am Beispiel der Liebe auf das ähnlich gelagerte Problem der affektiven Aufrichtigkeit in der Schriftkommunikation hingewiesen: Galante liebes-briefe sind schreiben / welche man mit frauenzimmern wechselt / und in welchen man entweder eine liebe simuliret; oder eine wahrhafftige so schertzhafft und galant furbringet / daß sie die lesende Person für eine verstellte halten muß. 39

Diese irisierende Zwischenstellung der galanten Un/Aufrichtigkeit indes erlaubt die Entfaltung neuer Kommunikationscodes, weil sie sowohl ausreichende Enttäuschungssicherheit für das stets mögliche Scheitern individualisierter Verständigung bietet als auch durch die Forderung nach Originalität und Überraschung eine solche Individualisierung von Kommunikationsverhältnissen anregt. Die aufrichtige Unaufrichtigkeit und unaufrichtige Aufrichtigkeit der galanten Poesie ermöglicht, die Aufrichtigkeit als .Redlichkeit' neu zu positionieren, um sie dann unter Beobachtung bürgerlicher Normierungen und theologischer Vorbehalte gegen ihre Katalysatoren und Vorbereiter zu wenden (vgl. Ernst Osterkamps Beitrag „Johann Christian Günthers Redlichkeit").40

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Vgl. dazu die Beiträge in Heudecker, Niefanger u. Wesche 2004. Zu den komplizierten Volten, die ein Verhalten zwischen „Scherz" und „Tugend" verlangt, vgl. exemplarisch Ernst Osterkamp: Scherz und Tugend. Zum historischen Ort von Johann Christian Günthers erotischer Lyrik. In: Text + Kritik 74/75. Johann Christian Günther. München 1982, S. 42-61. Zu einem .aufrichtigeren' Verständnis der galanten Scherze vgl. Thomas Borgstedt: ,Du schickst mir einen brieff / und greiffst mir nach dem hertzen'. Hoffinannswaldau, die erotische Versepistel und der galante Diskurs. In: ders. u. Andreas Solbach (Hg.): Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle. Dresden 2001, S. 13-39; sowie ders.: ,Tendresse' und Sittenlehre. Die Liebeskonzeption des Christian Thomasius im Kontext der ,Preciositi' - m i t einer kleinen Topik galanter Poesie. In: Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. von Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997, S. 405-428. Christian Wernicke: Überschriffte Oder Epigrammata In acht Büchern Nebst einem Anhang von etlichen Schäfergedichten / Theils aus Liebe zur Poesie, theils aus Haß des Müssiggangs geschrieben. Hamburg 1701, S. 39. Benjamin Neukirch: Anweisungen zu Teutschen Briefen. Leipzig 1709, S. 312.

Einleitung

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Überdies ist für die gesamte Barockzeit danach zu fragen, welche ,Spezialrhetoriken' und Untergattungen sie ausbildet, die der Aufrichtigkeit einen besonders prominenten Platz zuweisen. Dabei wäre zum Beispiel an die Homiletik oder an die christliche Mystik zu denken (vgl. Claudia Benthiens Beitrag „Hypertrophie als Demut. Paradoxien der Codierung von Aufrichtigkeit in der Barockmystik"). Die Intensität des Fühlens wird hier positiv bewertet; deren authentische sprachliche Wiedergabe aber wird oftmals zu einer Darstellungsproblematik, die sich selbst zum Thema hat. Angestrebt wird eine Rede, die sich aus der Zirkulation der Zeichen im rhetorischen Prozess der Sprachproduktion zu lösen sucht und als Referenz eine wie auch immer konzipierte Innerlichkeit und Aufrichtigkeit behauptet. Ähnliches gilt für die rastlose Selbstbefragung in der religiösen Meditation (vgl. Stephanie Wodiankas Beitrag „Der Silberblick der Selbstbetrachtung. Perspektiven der Aufrichtigkeit in der meditativen Literatur".)

Wahrhaftigkeit und Repräsentation Die oben beschriebene Suche nach kommunikativer .Echtheit' impliziert auch medien- und gattungstheoretische Fragestellungen, etwa danach, wie Aufrichtigkeit in der Distanzkommunikation und wie sie demgegenüber in der Interaktion prozessiert wird. Dabei kommen Strategien in den Blick, die in die Schriftkommunikation Modi der Face-to-Face-Kommunikation, die als authentischer und sinnlicher gilt, integrieren. Beispielhaft realisiert wird dies etwa in der weltlichen Liebeslyrik (vgl. Thomas Borgstedts Beitrag „Paul Flemings stoizistische Liebesdichtung und die Latenz des Subjekts in der Frühen Neuzeit"). Oder es wird, wie in der Erzählliteratur, eine vertrauliche Kommunikation zwischen der Erzählinstanz und den Leser/innen aufgebaut, die dazu dient, Innen- und Außenperspektiven der Protagonisten gleichermaßen zeigen zu können, ihr aufrichtiges Fühlen von der auf der Handlungsebene inszenatorisch dargebotenen Unaufrichtigkeit zu scheiden (vgl. Ursula Kunderts Beitrag „Ironie der Aufrichtigkeit. Disputation und Narration einer kommunikativen Norm"). Bei den im 17. Jahrhundert entstehenden modernen Naturwissenschaften ist gleichfalls nach leitenden Strategien der Aufrichtigkeit und Authentifizierung zu fragen, richtet sich das wissenschaftliche Ethos der New Science doch explizit gegen den ornatus sowie gegen die metaphysische Verhaftung der bisherigen Gelehrtenkultur in Theorie und Praxis. „Ciaire et distincte"41 haben wahrheitsfahige Gegenstände zu sein, so die berühmte Forderung Rene Descartes', mit der er das naturwissenschaftliche Erkenntnismodell begründet, das auf Transparenz und Präzision aufbaut. Auch Gott könne täuschen, allein das cogito sei un40 41

Vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Frankfurt a. M. 21995, S. 97 ff. So im Discours de la methode. Rene Descartes: Philosophische Schriften in einem Band. Mit einer Einführung von Werner Specht und „Descartes Wahrheitsbegriff' von Ernst Cassirer. Hamburg 1996, S. 62.

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verstellt und könne entsprechend Aufrichtigkeit für sich reklamieren. Die Sprödigkeit der neuen, empirischen Wissenschaften, wie sie etwa Francis Bacon mit seiner Forderung nach einer ungeschönten Darstellung der Natur und dem „Versprechen", .jedes rhetorische Ornament zu meiden", betont,42 liegt in ihrem Aufklärungsanspruch begründet: Der Inhalt habe sich nicht länger der Form unterzuordnen. Die .Wahrhaftigkeit' der Wissensrepräsentation ist für die Naturwissenschaften wie für die Philosophie oder die Historiographie (vgl. Gerhild Scholz Williams' Beitrag „Formen der Aufrichtigkeit. Zeitgeschehen in Wort und Bild im Theatrum Europaeum (1618-1718)") gleichermaßen virulent.

Historische Grenzen der Aufrichtigkeit Angesichts dieser langen Tradition, in der Aufrichtigkeit als Handlungsnorm, als darstellerisches und als ästhetisches Ideal behandelt wird, muss ein Blick auf das 18. Jahrhundert, das Aufrichtigkeit für sich zu reklamieren scheint, irritieren. In einem 1759 erschienenen Beitrag „Von der Freundschaft" lässt beispielsweise Friedrich Gottlieb Klopstock zwei Vorstellungen von gelungener Nahkommunikation gegeneinander antreten und differenziert damit paradigmatisch Verhaltensformen aus. Auf der einen Seite steht das Votum für „Politesse", die Abneigung gegen alle beleidigende Offenheit der Meinungsäußerung und gegen eine unkontrollierte ,Naivität', kurz: die Reserve gegenüber der ,,harte[n] Art" des Umgangs.43 Auf der anderen Seite steht die „aufrichtig" geäußerte Vorstellung eines freundschaftlichen Zusammenlebens, bei dem auch die „geringste[ ] Kleinigkeit" interessiert, bei der „Alles" offen ausgesprochen wird, bei der mit größter Strenge jeder Fehler wechselseitig nicht nur verbucht, sondern auch angemerkt wird. Zwischen Menschen, die keine Vorbehalte gegeneinander kennen und sich stets ihre „völlige Meinung" sagen, herrscht ein Verhältnis der „offensten Aufrichtigkeit". 44 Klopstocks Aufsatz ist eine Provokation; indem er die argumentativen Verschlingungen von .Freundschaft', die stets die wünschenswerte Offenheit mit der notwendigen Zurückhaltung unauflösbar miteinander verbinden, sortiert und auf zwei Seiten verteilt, macht er die Zumutungen der Aufrichtigkeit transparent. Damit führt er zugleich der Aufklärung vor Augen, welche Lasten sie sich aufgebürdet hat. Denn das 18. Jahrhundert sucht sich selbst von einer vorangegangenen Verhaltenskultur abzugrenzen, indem es dieser Eitelkeit, Verstellung und Unaufrichtigkeit zuordnet, sich selbst aber Unverfalschtheit, Offenheit und Aufrichtigkeit als Merkmale zumisst.45 42

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Friedrich Vollhardt: Eine Kultur? Zeitgenössische Darstellung und wissenschaftshistorische Deutung frühneuzeitlicher Vakuumexperimente. In: Monumenta Guerckiana 52.6 (1999), S. 30-40, S. 32. Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke. Hg. von Karl August Schleiden. Nachwort von Friedrich Georg Jünger. München u. Wien 4 1981, S. 938 f. Klopstock (1981), S. 937,941. Vgl. Geitner (1992), S. 171 ff.; Günther Sasse: Aufrichtigkeit: Von der empfindsamen Programmatik, ihrem Kommunikationsideal, ihrer apologetischen Abgrenzung und ihrer Apo-

Einleitung

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Aufrichtigkeit gehört zu jenem großen Ensemble, das sich um das Ideal der Natürlichkeit gruppiert, das von allen Ausprägungen des Aufklärungszeitalters für sich reklamiert wird und das zu entsprechenden Konfusionen führt, weil in den Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Strömungen offensichtlich werden muss, dass es de facto verschiedene ,Naturen' gibt. „Aufrichtig ist der Mensch geschaffen", behauptet Johann Gottfried Herder dennoch mit großer Zuversicht. 46 Freilich gerät bei einer solch strikten Behauptung in Vergessenheit, welche höchst produktive Verdrängungsleistung hinter einer radikalen Orientierung an der Aufrichtigkeit steht, wie sie Klopstock empfiehlt. Während das Deutsche Wörterbuch der Grimms die einschränkungslose Offenheit betont, wenn es die Bedeutungen von „aufrichtig" oder „aufrichtigkeit" bestimmt, 47 schließt noch Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch an die traditionelle Unterscheidung von simulatio und dissimulatio und an deren jeweilige moralische Wertigkeit an.48 Der Artikel differenziert genau: „Ein Offenherziger", heißt es dort, „sagt alles, was er denkt; der Aufrichtige redet allemahl so, wie er denkt, ohne eben alles zu sagen, was er denkt".49 Deutlicher formuliert der Artikel „Aufrichtigkeit" in Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon von 1732 die Vorbehalte und Vorsichtsmaßnahmen, die sich mit der „Tugend" der „Aufrichtigkeit" verbinden: Aufrichtigkeit, ist eine Tugend, nach welcher wir unserm Nächsten, alles, wodurch sein Nutze befördert, oder sein Schade abgewendet werden kan, frey heraus sagen. Nicht überall ist es eine Aufrichtigkeit, wenn wir unsere Meinung andern Leuten sehen lassen, sondern wenn es nicht mit einem vernünffligen Entzwecke geschiehet, wird es Einfalt genennet. Es gehöret dahero zu der wahrhaffiigen Aufrichtigkeit 1.) dass wir schuldig sind, dem Nächsten dasjenige, was wir wissen, zu sagen, 2.) dass wir nicht etwan uns selbst, indem wir eines andern Nutzen suchen, in Schaden setzen, 3.) dass wir versichert sind, es werde auch unsere Aufrichtigkeit nicht übel angewendet werden.50

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rie, dargestellt an Gellerts Zärtlichen Schwestern. In: Texttyp, Sprechergruppe, Kommunikationsbereich. Studien zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart. FS für Hugo Steger zum 65. Geburtstag. Hg. von Heinrich Löffler α a. Berlin u. New York 1994, S. 105120. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Mit einem Vorwort von Gerhart Schmidt. Textausgabe. Darmstadt 1966, S. 127. Als Erläuterungen werden beispielsweise angeboten: „aufrichtig gesagt, gerad heraus; aufrichtig zu gestehen" oder mit Kant die Bestimmung: „Offenherzigkeit, die ganze Wahrheit, die man weisz, zu sagen, aufrichtigkeit, dasz alles, was man sagt, mit Wahrhaftigkeit gesagt sei". Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1. München 1984, Sp. 711. Vgl. Wolfgang G. Müller: Ironie, Lüge, Simulation, Dissimulation und verwandte rhetorische Termini. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986. Hg. von Christian Wagenknecht. Stuttgart 1988, S. 189-208. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Erster Theil. Leizpig 21793, Sp. 520. Johann Heinrich Zedier: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste [...]. Bd. 2. Halle u. Leipzig 1732, Sp. 2164.

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Wichtig für die Einschätzung von Aufrichtigkeit als zentraler Verhaltensorientierung im 18. Jahrhundert ist an dieser Stelle vor allem: Selbst wenn es viele Bereiche geben mag, die die Sorge um eine rückhaltlos aufrichtige Person zurückdrängen, so vergisst doch auch die Aufklärung nicht, welche Zumutung Aufrichtigkeit bedeutet. Dies fuhrt erneut zum Vorhaben unseres Bandes, der aus den Beiträgen zu einer von der DFG geforderten Tagung im Januar 2004 an der HumboldtUniversität zu Berlin hervorgegangen ist. Auf der einen Seite wollen wir zeigen, dass die Selbstunterscheidung, die die Aufklärung durch die Reklamation von Aufrichtigkeit vornimmt, in jeder Hinsicht selektiv ist: Weder erfasst diese Zuschreibung angemessen, welchen Stellenwert diese Kategorie bereits im 17. Jahrhundert hatte, noch bekommt sie die Probleme, die die Aufrichtigkeit auch im 18. Jahrhundert bereitet, in den Blick. Zugleich soll aber auch deutlich werden, dass die Wertschätzung von Aufrichtigkeit an sich, wie sie in der gesamten Frühen Neuzeit verbreitet ist, zwar auf Zusammenhänge und Übergänge aufmerksam macht, dass aber für die historische Einschätzung entscheidend bleibt, in welche diskursiven Netze und in welche kommunikativen Verstrickungen sie eingebettet ist. Im 18. Jahrhundert geht Aufrichtigkeit eine konzeptionelle Allianz nicht nur mit Vorstellungen von .Natürlichkeit' ein, sondern vor allem mit den fortan handlungsleitenden Fiktionen einer psychisch stabilen, nach Maßgabe der Selbstgleichheit und biographischen Kontinuität agierenden Person, wie sie beispielsweise die aufklärerische Modegattung des pragmatischen Romans entwirft. 51 Gelöst werden soll auf diese Weise vor allem ein Problem: Da Kommunikation immer verstellungsanfallig ist, bleibt nach wie vor offen, wie die Aufrichtigkeit der Aufrichtigkeit bezeichnet und beglaubigt werden soll.52 Die Lösung findet die Hermeneutik des Menschen im 18. Jahrhundert daher in Übereinstimmung der aktuellen „Meinungen" mit „unsern übrigen Gedancken, Vorstellungen, und Willens-Meinungen", 53 dies allerdings unter Bedingungen der Entwicklungsfähigkeit, nicht mehr des Ideals der constantia, das im 17. Jahrhundert gemeinsam mit Aufrichtigkeit gegen die rota fortunae gesetzt wurden. 54 An die Stelle einer gleichsam atemporal organisierten Form von Aufrichtigkeit, die auf Selbstgleichheit und Selbsttransparenz gegen die Zeit setzt, tritt eine temporalisierte Form von Aufrichtigkeit, die über Selbstgleichheit im Wandel konzipiert wird und dennoch auf Selbsttransparenz nicht verzichtet. Zumindest spekulativ lässt sich von hier aus auch die Funktion dieses anthropologischen Konzeptes im Modernisierungsprozess der Frühen Neuzeit entwerfen: In einer Welt der .gleichen Menschen', die in abnehmendem Maß strati51 52

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Viktor Zmegac: Der europäische Roman. Geschichte seiner Poetik. Tübingen 21991, S. 58. Vgl. zu dieser Frage auch Wolfgang Engler: Die Konstruktion von Aufrichtigkeit. Zur Geschichte einer verschollenen diskursiven Formation. Wien 1989, S. 22 ff. Johann Martin Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften. Mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer. Düsseldorf 1969, S. 158 f. So bei Weckherlin (1983), S. 315: „selig, der bei dem hofrad / aufrecht und beständig bleibet!"

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fikatorisch gedacht wird, können potentiell mehr Sozialkontakte realisiert werden als in den typischerweise hierarchisch und bereichsspezifisch organisierten und konzipierten Welten der Frühen Neuzeit. In einer solchen Umgebimg, in der vervielfältigte und sozial ungeordnete Begegnungen wahrscheinlicher sind, bleibt dann eben weniger Zeit für Anbahnungsbemühungen. Eine sich in diesem Sinn modernisierende Gesellschaft ist auf Beziehungsmodelle angewiesen, die eine gewisse Form der Beliebigkeit, Sorglosigkeit und damit Geschwindigkeit aushalten, um unwahrscheinliche Kommunikation wahrscheinlicher zu machen. In einer primär auf „versachlichte" Beziehungen umgestellten Gesellschaft kann Aufrichtigkeit zur Normalität werden, weil die entsprechende Verhaltenstransparenz und die korrespondierende Angleichung von mentalen und kommunikativen Zuständen wichtig ist, um erfolgreich, reibungslos und in vielfältigen Zusammenhängen agieren zu können.55 Insgesamt zeichnet sich ab, dass Aufrichtigkeit und deren Verhandlungen charakteristisch sind fur die Disziplinierungsleistungen einer sich aus- und einprägenden Langsicht und ihrer Utopien der Gleichheit, des Vertrauens, der Konstanz von Beziehungen über Entfernungen und damit des Umgangs mit Abwesendem, die in einer komplexer werdenden Gesellschaftsordnung vorausgesetzt werden müssen. An der Auseinandersetzung mit den Problemen der Aufrichtigkeit werden exemplarisch Konzepte der Abschließung entworfen, die eine neue Öffnung des Individuums ermöglichen. Störungen und Komplikationen werden ausgeblendet, indem wechselseitig Offenheit unterstellt wird, und zwar ohne dass dazu lange Anbahnungsbemühungen unternommen werden müssen. Die noch immer zu verzeichnenden Vorbehalte gegen eine strategisch ungebrochene Aufmerksamkeit demonstrieren dabei, welche Umstellungsanforderungen die historischen Entwicklungen aufgeworfen haben. Aufrichtigkeit hat ihren Ort in einer egalisierten Gesellschaft, die weniger auf Sichtbarkeit setzt als aufs Übersehen, auf Unsichtbarkeit und Imagination. Die bis weit ins 18. Jahrhundert gültigen Grenzen der Aufrichtigkeit zeigen, mit welchen Gefahren eine Kultur der Aufrichtigkeit zu rechnen hat, wenn im .Zeitalter der Kritik' 56 Bestätigung als Verhaltensideal einer Kultur der Repräsentativität immer mehr in Frage gestellt wird. Die grundlegende Hypothese unseres Projekts, dass die ästhetische und moralische Kategorie Aufrichtigkeit eine bislang in der Forschung zum 17. Jahrhundert vernachlässigte, aber zentrale Kategorie sei, hat sich bestätigt.57 Die 55

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Vgl. in diesem Zusammenhang zur Soziologie des Vertrauens: Georg Simmel: Gesamtausgabe. Bd. 11: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Hg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M. 1992, S. 393 f. So die bekannte Formulierung von Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. von Raymund Schmidt. Mit einer Bibliographie von Heiner Klemme. Hamburg 1993, A XI (Anm.). Eine erste Publikation zu dieser Thematik entstand im Kontext unserer Tagung Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert, wurde jedoch vorab separat veröffentlicht: Ingo Stöckmann: Deutsche Aufrichtigkeit. Rhetorik, Nation und politische Inklusion im 17. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78 (2004), S. 373-97.

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Beiträge des vorliegenden Bandes zeigen, welche Rollen die Aufrichtigkeit in allen Bereichen des 17. Jahrhunderts spielt: von der Rhetorik, über die Moralphilosophie bis zu den verschiedenen Künsten, von der Anthropologie über die juridische Diskussion bis zu den Verhaltenslehren, in den unterschiedlichen Gattungen oder Stilphasen der Barockdichtung und in den theologischen Auseinandersetzungen. Die Frage nach dem Stellenwert, der Legitimität, der Funktion und den Arten der Aufrichtigkeit bleibt dauerhaft Gegenstand diffiziler Überlegungen und kreativer Verhaltensentwürfe. Der Blick auf diese Konstellationen erlaubt eine Relativierung der oftmals implizit oder explizit in der Forschung gezogenen Grenze zwischen dem 17. und dem 18. Jahrhundert, ohne die Unterschiede zwischen den Epochen zu vernachlässigen. Im Gegenteil werden gerade am Beispiel der Frage nach der historischen Semantik der Aufrichtigkeit längerfristige Traditionslinien und tiefer liegende Differenzen offensichtlich. Die interdisziplinäre Ausrichtung der Tagung hat dabei auch gezeigt, wie komplex die Beziehungen sind, in die die Frage nach Aufrichtigkeit verknüpft ist.

Aufrichtiger Dank Danken möchten wir vor allem der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die das vorliegende Buch durch die großzügige Finanzierung der gleichnamigen Tagung ermöglicht hat, sowie dem Institut fur deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin für seine ergänzende Unterstützung. Den studentischen Hilfskräften Sonja Helms und Kristian Kißling sind wir für Ihre organisatorische Mitarbeit auf der Tagung verpflichtet und Thomas Borgstedt, Miroslawa Czarnecka, Ernst Osterkamp, Werner Röcke, Inge Stephan und Friedrich Vollhardt für die Übernahme von Moderationen. Manuela K. Schulz danken wir für die umsichtige Redaktion des Manuskripts, Bernd Klöckener für dessen sorgfaltige Einrichtung. Überdies schulden wir natürlich den Autorinnen und Autoren herzlichen Dank, die sich .aufrichtig' für das Projekt begeistert haben.

Christliche Aufrichtigkeit und sakrale Rhetorik

Johann Anselm Steiger

superbia fidei Hochmut des Glaubens und Aufrichtigkeit des Menschen in der Theologie Martin Luthers und des barocken Luthertums

Verlust und Wiederaufrichtung der imago Dei bei Luther Der Mensch ist Gen 1,26 zufolge - im Unterschied zu den Tieren und allen anderen Kreaturen1 - als imago Dei geschaffen.2 Seit dem Sündenfall, und seitdem die Gottesbeziehung des Menschen gestört ist jedoch, ist diese Gottebenbildlichkeit, so Luther, wie das Paradies verloren.3 Um die Radikalität der Gottesferne des sündigen Menschen in den Vordergrund zu heben, hat Luther gepredigt, dass der Mensch durch den Sündenfall zum Ebenbild des Teufels geworden ist.4 Wenn Adam nicht gefallen wäre,

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Vgl. ζ. B. Martin Luther: Werke. Weimar 1883 ff. (fortan zit.: WA), hier: WA 42,43,5 f. (Vorlesungen über 1. Mose 1535-45). Vgl. zur imago Dei in Luthers Theologie einführend: Albrecht Peters: Art. Bild Gottes IV. In: Theologische Realenzyklopädie 6 (1980), S. 506-515, bes. S. 510f. Vgl. weiter: David Löfgren: Die Theologie der Schöpfung bei Luther. Göttingen 1960, S. 61-94.168 f. u. ö. Ivar Asheim: Glaube und Erziehung bei Luther. Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses von Theologie und Pädagogik. Heidelberg 1961, S. 202-225; Helmut Thielicke: Die Subjekthaftigkeit des Menschen. Studie zu einem Hauptproblem der imago-Dei-Lehre. In: Der Mensch als Bild Gottes. Hg. von Leo Scheffczyk. Darmstadt 1969, S. 348-363 (= Theologische Literaturzeitung 75 [1950], Sp. 449-458); Herbert Olsson: Schöpfung, Vernunft und Gesetz in Luthers Theologie. Uppsala 1971, S. 270 ff.; Albrecht Peters: Der Mensch. Gütersloh 1979, bes. S. 43-49.56-59; Gerhard Ebeling: Lutherstudien. Bd. 2: Disputatio de homine. 3. Teil: Die theologische Definition des Menschen, Kommentar zu These 20-40. Tübingen 1989, bes. S. 98 ff. 494-500; Albrecht Peters: Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. 2: Der Glaube - Das Apostolikum. Hg. von Gottfried Seebaß. Göttingen 1991, S. 83-91. Vgl. darüber hinaus Simo Peura: Die Vergöttlichung des Menschen als Sein in Gott. In: Luther-Jahrbuch 60 (1993), S. 39-71; sowie die Beiträge in: Luther und Theosis. Hg. von Joachim Heubach. Erlangen 1990. Zum Zusammenhang von Bild Gottes und Bildung vgl. Tuomo Mannermaa: Glaube, Bildung und Gemeinschaft bei Luther. In: LutherJahrbuch 66 (1999), S. 167-196. Vgl. WA 42,68,31-34: „Ad hunc modum stulte disputant adversarii hodie: Imaginem et similitudinem Dei manere etiam in homine impio. Mihi multo rectius viderentur dicere, si dicerent: Imaginem Dei in homine ita post peccatum periisse, sicut originalis mundus et Paradisus perierunt." Vgl. WA 24,51,12 f. (Predigten über das 1. Buch Mose 1527): „Der mensch mus ein bilde sein entwedder Gottes odder des Teuffels, Denn nach wilchem er sich richtet, dem ist er enhlich."

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Johann Anselm Steiger weren wir alle Gott enhlich gewesen, Das hette man denn geheissen ein erbgerechtickeit, als die da gebracht und geerbet were von Adam durch die geburt. Nu ist er nicht also blieben, und ist das bilde umbkomen, und wir sind dem Teuffei enhlich worden durch diese geburt.5

Als Ebenbild war der Mensch im Urständ in Gott eingebildet, hat sich aber, indem er der Schlange mehr gehorchte als Gott, in das Bild des Teufels eingebildet, der Gott „ein larven" anzieht und so das wahre Bild Gottes verzeichnet. Sed ubi Teufel kam, der zöge unserm herr Gott ein larven an, ideo kerts verbum umb, malet unsern herr Gott so für: putas eum patrem et tarn amicum, ut se stelt, Si esset pater, lies dich ex arbore essen, timet, dw werst zw klug [...] Ibi amittit bild, quod deus ei creavit, und bildet sich jnn bild diaboli.6

Die imago Dei ist, so Luther, „per peccatum amissa"7. Daher ist Luther nicht bereit, mit Augustin im menschlichen Erinnerungsvermögen, in Geist und Willen {memoria, mens, voluntas) auch nach dem Sündenfall eine Abbildung der Trinität zu sehen oder gar mit der scholastischen Tradition den Fortbestand einer naturhaften imago Dei und lediglich den Verlust der gnadenhaften similitude zu behaupten.8 Vielmehr müsse beachtet werden, dass die Seelenkräfte des Menschen dem biblischen Zeugnis zufolge und seine Vernunft nach dem Fall in geistlichen Dingen völlig unfähig und finster geworden sind.9 Diesen Verlust bezeichnet Luther auch als „priuatio vniversae rectitudinis"10. Die imago Dei ist also nach Luther anders als der von Thomas von Aquin geprägten Scholastik zufolge verlierbar. Hierin besteht wohlgemerkt aber auch eine Differenz zur spätmittelalterlichen Mystik Meister Eckharts, der der Ansicht ist, dass die Gottebenbildlichkeit nach dem Sündenfall zwar nicht mehr sichtbar ist, dennoch aber im tiefsten Seeleninnern fortbesteht und nur wieder aufgedeckt werden muss.11 Auch Tauler meint im Anschluss an Albertus Magnus und sich von

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WA 24,51,21-24. WA 37,454,5-10 (Predigten des Jahres 1534 [18.6.]). WA 42,46,4. Vgl. ζ. B. WA 24,49,23-30: „Hie bey haben sich nu unsere lerer beyde alt und new seer gebrochen, das sie auslegen was das bilde Gottes sey, darnach der mensch geschaffen ist, und gesagt, das dreyerley krefft ynn der seelen seyen, nemlich gedechtnis, verstand und wille, damit sie enhlich sey der heyligen Dreifaltickeit, dem vater, son und heiligen geist, Darüber haben sie sich wunderlich müssen brechen und sind ynn so viel frage komen, das man sie nymmer kan aus erbeyten. Den synn lassen wir gehen und bleyben bey den einfeltigen Sprüchen und rede der schlifft." Vgl. hierzu auch WA 42,45,3 ff. Zur unterschiedlich scharfen Kritik an Augustins vestigia- und der scholastischen similitudo-Auffassung vgl. Ebeling (1989), S. 100-102. Als Überblick über die altkirchliche und mittelalterliche imagoDei-Lehren vgl. Ludwig Hödl: Art. Ebenbild Gottes. In: Lexikon des Mittelalters 3 (1986), Sp. 1508-1511. Vgl. WA 42,46,5-7: „Memoriam, voluntatem et mentem habemus quidem, sed conuptissima et gravissime debilitata, imo, ut clarius dicam, prorsus leprosa et immunda." WA 56,312,9 (Vorlesung über den Römerbrief 1515-16). Vgl. Meister Eckhart: Die deutschen Werke. Hg. und übs. von Josef Quint. Bd. 5: Traktate. Stuttgart 1963, S. 113 f. (Von dem edeln Menschen), bes. S. 114: „Von dem edeln menschen, wie gotes bilde, gotes sun, säme gütlicher nature in uns niemer vertilget wirt, aleine er bedecket werde, sprichet künic Davit in dem salter."

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Thomas von Aquin distanzierend, dass das mit Gott wesensgleiche Ebenbild im Seelengrund verborgen liegt, in den sich der göttliche Abgrund hineinsenkt, um den Menschen göttlich zu überformen. 12 Obgleich Luther der Scholastik mit ihrem Theorem von der substanzhaftunzerstörbaren imago Dei nicht folgt, kann er dennoch ontologisch von der „substantialis imago"13 sprechen. Aber aus der Substantialität der Gottebenbildlichkeit folgt nach Luther nun nicht, dass sie unzerstörbar ist. Denn zugleich gilt, dass die imago „mutabiliter creata"14 ist, was zeigt, dass Luther anders als die Scholastik die Substanz als eine der Wandelbarkeit unterworfene denkt. Gottferne und Verlorenheit des sündigen Menschen zeigen sich gerade darin, dass der Mensch durch den Sündenfall die substantielle Gottebenbildlichkeit verloren hat. Dies ist nur ein Beispiel fur die Tatsache, dass Luther Metaphysik und Ontotogie nicht schlechthin auflöst, deren Begrifflichkeit vielmehr aufgreift und einer Vergeschichtlichung unterzieht, indem nun von einer mutatio substantiae die Rede sein kann. Ziel des Heilsplanes Gottes ist es, die imago Dei durch Christus wiederherzustellen, die Menschen also mit der Ebenbildlichkeit des Gottessohnes erneut zu überkleiden bzw. das durch Adams Fall versunkene Bild wiederaufzurichten.15 „Hanc imaginem miserabiliter amisimus per lapsum Adae, sed recuperamus eam per Christum. Imago Dei est sanctitatis, iusticiae, veritatis imago. Haec est amissa, sed reparata per Christum."16 Hierzu wird Christus, der nach Kol 1,15 von Ewigkeit her Ebenbild des Vaters ist, Mensch, also Ebenbild des Menschen. Schon hieran zeigt sich, wie eng Luther die //wago-Anthropologie und die i'wago-Christologie mit der Zwei-Naturen-Lehre verquickt. Die reparatio der Gottebenbildlichkeit ist für Luther gleichbedeutend mit der Rechtfertigung allein aus Glauben,17 die sich in der imputatio der fremden Gerechtigkeit Christi vollzieht und in der Taufe ihren Ort hat.18 Oder anders: Indem Gott Mensch wird, wird die vollgültige und durch keinerlei Sünde entstellte göttliche είκών wahrhaft Ebenbild des Menschen und nimmt alles, was den Menschen auszeichnet, auf sich: Sünde, Tod, Bedürftigkeit usw. Zwei-Naturen-Lehre ist bei 12

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Vgl. Louise Gnädinger: Johannes Tauler. Lebens weit und mystische Lehre. München 1993, S. 191, 298 f., 362 f. u. 374. WA 39/1,108,14 (Disputation de iustificatione 1536). WA 39/1,108,14. Vgl. WA 14,178,10-12 (Predigten über das 1. Buch Mose 1523/24): „Hec imago iam submersa est per Adae casum, ut iam in posterum homo pronus sit ad peccatum etc. Per Christum hec imago iterum erecta etc." WA 39/1,124,13-15. Vgl. WA 40/Π,178,16-19 (In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius 1531/1535): „Nova autem creatura, qua reparatur imago Dei, non fit fuco aut simulatione ullorum operum externorum, Quia in Christo Iesu neque circumcisio aliquid valet, neque praepucium, sed secundum imaginem Dei in iusticia et sanctitate veritatis creatur." Vgl. auch WA 40/Π, 176,4. Vgl. WA 39/11, 236,3-6 (Promotionsdisputation von Hieronymus Nopp und Friedrich Bachofen 1543): „4. Fides Christi affert remissionem et mortificationem peccatorum per Spiritum sanctum, 5. Qui veterem hominem cum suis concupiscentiis et crucifigit et renovat ad imaginem Dei." Vgl. WA 5,639,31 f. (Operationes in Psalmos 1519-1521).

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Luther die Lehre von der Doppelebenbildlichkeit Christi. Die in der christologischen Formel von Chalkedon (451) festgehaltene Homousie der göttlichen Natur Christi mit Gott und die Homousie der menschlichen mit uns Menschen wird aussagbar in dem Satz, dass Christus - obgleich eine Person - imago Dei et imago hominis gleichermaßen ist. Der fröhliche Wechsel und Streit, in dem Christus alle Wesensbestimmungen des Menschen auf sich nimmt, den Menschen aber im Gegenzug all das, was sein und göttlich ist, zueignet, ist nichts anderes als ein Bild-Wechsel. „Indult formam et figuram nostram et imaginem et similitudinem, ut nos induat imagine, forma, similitudine sua."19 Dieser BildWechsel vollzieht sich dadurch, dass dem Menschen der Heilige Geist eingestiftet wird, der einen „auffrichtigen geist und fidem"20 bewirkt.

Verebenbildlichung des Menschen mit Christus und Wiederherstellung der rectitudo Wie nun aber ist es möglich, dass die Gottebenbildlichkeit des Menschen durch den Gottessohn, der seinerseits Bild Gottes ist, repariert wird? Ist doch nach üblichem, auch platonischem Verstände ein Abbild nicht das Abgebildete selbst, sondern allenfalls Schattenriss und unvollkommenes Gleichnis, also ein ontologisch depotenziertes Abbild eines Urbildes. Christus indes - so Luther - ist nicht eine defizitäre Abbildung des Vaters, nicht unterbelichtet oder gar verwackelt, sondern er ist imago essentialis, wesentliches und wahres21 Bild des Vaters, „imago Dei perfecta": „Generans diffundit substantiam suam divinitatis in filium, et tarnen manet in eo divinitas tota ita, ut filius sit imago Dei perfecta."22 Daher kann von Christus als Bild allein gesagt werden: „,das bild ist auch got, in einerley wesen, krafft, sapientia'." 23 Hierin unterscheidet sich die imago essentialis von allen anderen irdischen Bildern. „Talis imago non videtur in creaturis."24 Der Sohn Gottes ist Licht vom Licht, wahrer Gott von wahrem Gott, wie das Nicaeno-Constantinopolitanum formuliert. Christus ist imago essentialis Gottes, weil er als eigenständige Person zwar ein Gegenüber zur ersten Person der Trinität bildet, er sich mit Gott aber in einer unio essentialis befindet, da es trinitätstheologisch gesehen nur eine göttliche substantia gibt. Gott schaut sich selbst in seinem Gegenüber, in seinem geliebten Sohn, dem präexistenten Logos, den er durch einen Sprechakt vor Ewigkeit generiert hat, an: Gott ante mundum hat ein wort gesprochen, und das ist ein naturlich bild und sihet sich drinne und feilet dem bild nichts, quicquid habet pater, et imago, nisi quod filius a patre. 25

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WA 1,28,28-30 (Sermo in Natali Christi 1515). WA 11,109,7 (Predigten des Jahres 1523 [17.5.]). Vgl. WA 42,167,17. WA 39/Π,23,31-33 (Disputation über Joh 1,14 1539). WA 20,375,23 f. (Predigten des Jahres 1526 [17.4.]). WA 20,375,24.

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So macht Luther vermittels der Trinitätslehre verständlich, was Jesus z.B. in Joh 14,9 sagt: ,Wer Mich sihet / der sihet den Vater.' Solch bild ist ynn keyner creatur; denn alle bilder, die da gemacht werden, synd eyniß andernn weßens und natur, denn das, des bild sie sind. Aber alhie ist der ßon eyn solchs bild veterlichs weßens, das das vetterlich weßen ist das bild selbs [...] das bild ist auß dem veterlichen weßen gemacht, das es nit alleyn dem vater gleych und ehnlich ist, ßondernn auch seyn gantzes weßen und natur vollicklich ynn sich begreyffi. 26

Kein Künstler kann ein Bild von einem Menschen machen, das „eyn bild des menschlichen weßens oder natur [wäre]; denn es ist nit eyn mensch, ßondern steyn odder holtz."27 Anders jedoch Christus: Er ist sakramentales Bild Gottes, ist eins mit dem Vater (Joh 10,30), er ist χαρακτήρ der göttlichen ύποστασις (Hebr 1,3). Dieses sakramentale Bild Gottes repräsentiert die erste Person der Trinität nicht nur, sondern vergegenwärtigt den Abgebildeten derart, dass man von einer Realpräsentierung sprechen muss. „Alhie ist das bild unnd der, des bild es ist, eyniß weßens."28 Da Christus „novam grammaticam et dialecticam, novam linguam et novam cogitationem et sapientiam"29 stiftet, gewinnt auch das Wort,imago' in ihm, dem wesentlichen und mit Gott einigen Bild, eine neue Bedeutung.30 Christus also ist imago essentialis, weil und insofern in ihm das Göttliche in seinem Gegenteil sichtbar wird: Gott im Menschen, Licht in der Finsternis, das Leben selbst in einer vom Tod gezeichneten Wirklichkeit. Mehr noch: Christus ist zugleich imago essentialis des Menschen, indem er alle diese Verderbensmächte auf sich nimmt und in ihr Gegenteil verkehrt. Nur weil Christus imago essentialis des Vaters und zugleich Prototyp des neuen Menschen ist, kann er die sündigen Menschen zur vollgültigen Gottebenbildlichkeit bilden und ihnen die göttlichen Eigenschaften wie Gerechtigkeit, ewiges Leben usw. zueignen. Von Christus - so Luther - geht eine ungeheure Attraktion aus. Denn dieses wesentliche Bild zieht die teufelebenbildlichen Menschen an, überkleidet sie mit der Gerechtigkeit und dem Bild des neuen Menschen und fuhrt sie so in die conformitas und letztendlich in die mystische Union mit Christus hinein. Im Akt der Rechtfertigung des Menschen allein aus Glauben vollziehen sich - so Luther - die .reformatio ad meliorem imaginem', die ,regeneratio per fidem' und die ,unio cum Christo' zugleich: Hoc autem nunc per Euangelium agitur, ut imago ilia reparetur [...] Euangelium igitur hoc agit, ut ad illam et quidem meliorem imaginem reformemur, quia in vitam aetemam vel po25

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WA 36,413,15-17 (Predigten des Jahres 1532 [29.12.]). In diesen Zusammenhang gehört auch: WA 39/11,384,33 (Promotionsdisputation von Petrus Hegemon 1545): „Pater se ipsum loquitur et profert imaginem Filii sui." WA 10/1,155,15-21 (Kirchenpostille 1522 [Epistel am Christtag]). Vgl. WA 17/1,278 f. (Predigten des Jahres 1525 [11.6.]). WA 10/1,155,9-11. WA 10/1,156,11. WA 39/Π,304,7 f. (Promotionsdisputation von Georg Major und Johannes Faber 1544). Vgl. WA 39/11,304,8f.: „Drumb muß man hie originem, imaginem, similitudinem alles änderst verstehn."

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Johann Anselm Steiger tius in spem vitae aeternae renascimur per fidem, ut vivamus in Deo et cum Deo, et unum cum ipso sumus, sicut Christus dicit.31

Die reparatio der Gottebenbildlichkeit begreift Luther als einen eschatologischen Prozess, der am Jüngsten Tag mit der Aufrichtung der mystischen Lebensgemeinschaft mit Christus zu seinem Ziel kommen wird. Der Mensch, der als Glaubender im Wechsel und Streit mit Christus steht, wird dann in Christus eingebildet werden32 und so in einem lebendigen Wechselverhältnis zweier Bilder stehen: jlnduimini dominum Ihesum Christum', idest, ut Eph. 4., novum hominem, ut, sicut imaginem portavimus terreni, ita imaginem portemus et coelestis. Induere enim Christum aliud non est quam imagini eius et exemplo conformari. 33

In diesem Leben jedoch kann dieser Prozess nur .anheben'34, „sed non perficitur in hac vita"35, da der Mensch bis zur Vollendung aller Dinge noch gerechtfertigt und Sünder zugleich ist. Im Glauben allein erlangt der Mensch die imago Dei in der Zueignung der iustitia aliena zurück - und zwar vollgültig. Das alleinige, die Wiederherstellung der imago bewirkende Medium ist das Evangelium - „Sanctum Euangelium, In quo concipimur, per quod facit nos imaginem sui."36 Die Predigt des Evangeliums als der einzig wahre Gottesdienst bewirkt die ,formatio imaginis Dei in hominibus' und ist darum Inbegriff der,pietas'37. Oder mit anderen Worten: „Gott mus sein wort lassen erschallen und ergreiffen fidem, accendit per spiritum sanctum, et sic homo per verbum ehnlich fit, dei filius et imago."38 Dennoch bedarf diese Restitution der Gottebenbildlichkeit noch der eschatologischen Vollendung. Diesen Prozess nennt Luther einen solchen der ,eruditio', der Bildung. Die den Glaubenden hier und jetzt zurückgeschenkte imago vergleicht er mit Himmel und Erde, die am ersten Schöpfungstag noch wüst und 31

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WA 42,48,11-16. Vgl. WA 40/1,650,6-8: „Est autem ista voluntas, spiritus Christi, quod mortuus pro peccatis nostris ad obedientiam patris. hoc credere est habere imaginem quam Christus." Vgl. hierzu auch WA 9,13,36-40 (Randbemerkungen zu Augustini opuscula): „Creavit deus hominem ad imaginem et similitudinem suam i. e. ad filium suum qui est imago et similitudo patris per quam omnia sunt similia et imaginata. Ut enim veritate vera sunt quae sunt vera, ita similitudine similia sunt quae similia sunt, sic imagine imaginata sunt quae imaginata sunt." WA 7,469,21-24 (Enarrationes epistolarum et euangeliorum, quas postillas vocant 1521). Vgl. WA 42,48,27f.: „Ad hunc modum ineipit imago ista novae creaturae reparari per Euangelium in hac vita [...]." WA 42,48,28. WA 45,80,16 f. (Predigten des Jahres 1537 [29.4.]). Darum kann Luther auch sagen, dass Adam „imaginem amissam" wiedererlangt habe, indem er dem Protevangelium (Gen 3,15) Glauben schenkte (WA 42,250,4 f.). Vgl. WA 26,110,7-11 (Vorlesungen über den 1. Timotheusbrief 1528): „Deum colere maxime situs in praedicando verbo, quia docendo Euangelium colitur deus, gratiae aguntur et omnia sacrificia veteris testamenti implentur et omnis cultus veteris testamenti. Eo cultu servitur proximo et formatur imago dei in hominibus, ut se necant, vivant, ut sint similes deo. Das ist pietas." WA 45,69,3-5 (Predigten des Jahres 1537 [8.4.]).

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leer, also ungebildet, waren, was zugleich impliziert, dass die Reparatur der imago Dei einer creatio ex nihilo gleichkommt, zu der der Mensch nichts aus eigenen Kräften beisteuern kann. Da der Gerechtfertigte in diesem Äon noch zugleich Sünder ist, handelt es sich bei dem wiederaufgerichteten Gottesbild um eine „imago obscurata et viciata"39, um eine ,imago rudis', die der eschatologischen eruditio harrt, wie auch die Wüstenei des ersten Schöpfungstages noch der Ausformung bedurfte. Sicut autem coelum et tena initio quasi rudia corpora fuerunt, priusquam lux esset addita, Ita pii illam imaginem rüdem intra se habent, quam Deus perficiet in novissimo die in iis, qui verbo crediderunt. 40

Somit hat nach Luther erst die durch Christi Heilswerk wiederhergestellte Gottebenbildlichkeit als ,imago obscurata' diejenige Qualität, die jene nach scholastischer Auffassung schon nach dem Fall besitzt, ohne dass es hierzu freilich des Leidens und Sterbens Christi bedürfte. Die Regeneration der imago Dei ist also ein eschatologisches, auf Vollendung hin angelegtes Geschehen. Analog zur Doppelebenbildlichkeit Christi entwickelt Luther implizit den Gedanken von der Doppelebenbildlichkeit des gerechtfertigten Menschen, der -simul iustus etpeccator - bis zum Jüngsten Tag zwei Bilder zugleich trägt: dasjenige Gottes und das des Teufels. Das Wachstum des Glaubens konkretisiert sich darin, dass ersteres das letztere immer mehr und schließlich ganz ausmerzt.41 Doch bis zu diesem Zeitpunkt versucht der Teufel, dem Menschen sein Bild erneut derart vollständig einzudrücken, dass die im Glauben gerade erst wiedergewonnene imago Dei zerbricht. Der Teufel „hetzt tag und nacht, ut sein bild in uns truck et dei imaginem zubreche intus et foris etc."42 Die Wiederaufrichtung des göttlichen Ebenbildes koinzidiert nach Luther mit der Wiederherstellung der rectitudo des Menschen, die ebenfalls daraufhin angelegt ist, erst eschatologisch zur Vollendung zu kommen. Die fides, die nach Lutherschem Verständnis in der fiducia kulminiert, ist es, die auch die Aufrichtung des niedergeschlagenen Herzens mit sich bringt, weswegen Luther das erste Gebot folgendermaßen summarisch auslegt: Das Erste gepot habt yhr gehört, wird erfüllet durch einen waren rechten festen glauben und durch ein aufrichtiges hertz und gute Zuversicht gegen Gott, also das sich der mensch zu Gott versihet, er werde yhn erhalten, helffen, ratten und alles gutes geben, zeitlich und ewiglich. 43

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WA 42,48,40. WA 42,48,35-37. Vgl. WA 39/1,177,7-10 (Disputation de homine 1536): „37. Et qualis fuit terra et coelum in principio ad formam post sex dies completam, id est, materia sui, 38. Talis est homo in hac vita ad futuram formam suam, cum reformata et perfecta fuerit imago Dei." Vgl. Asheim (1961), S. 216 f. Dieser Gedanke ist schon implizit an folgender Stelle prägend: „Tarn diu crux ilia poenitentiae debet durare, donee secundum Apostolum destruatur corpus peccati et pereat vetustas primi Adae cum sua imagine et perficiatur novus Adam ad imaginem dei". WA 1,534,11-13 (Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute 1518). WA 41,442,13 f. (Predigten des Jahres 1535 [3.10.]). Vgl. auch WA 37,460,3 f. WA 16,470,33-37 (Predigten über das 2. Buch Mose 1524-27).

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Der „auffrichtige geist"44, den man nach Luther allein im Glauben haben kann, ist,richtig', weil und insofern er sich an Gott ausrichtet. Der Geist des sündigen Menschen, d.h. des alten Adam, dagegen ist „ein krummer geist [...], der ynn allen dingen sich ynn sich selbs beuget, das seine suchet"45, ist mithin incurvatus in se, in sich verkrümmt und selbstsüchtig allein ausgerichtet auf sich selbst. Die Ausrichtung auf Gott hin und die mit ihr einhergehende Aufrichtung aber kann nicht der Mensch aus eigenen Kräften leisten, sie muss vielmehr von Gott bewerkstelligt werden. Der sich an Gott ausrichtende „gute wille [...] mus von newem gemacht werden und eingegossen [werden] von Gott ynn das ynnerste unsers hertzen."46 Das Medium, das im Hinblick auf diese Aufrichtung des Menschen unersetzbar ist, ist das verbum Dei, durch das Gott die Sünder gleichsam zu sich zieht, ja erzieht: „Gottes wort aber machet das hertz auffrichtig gegen Gott."47 Aufrichtigkeit ist nach Luther - und kürzer wird man es nicht zusammenfassen können - Aufgerichtetsein durch Gott und ist mithin zuallererst Gegenstand der Glaubenslehre, nicht der Ethik. Hierin artikuliert sich ein Grunddatum Lutherscher Anthropologie, dem zufolge nicht die Selbstkonstituierung des Menschen als animal rationale aus den Kräften seiner Vernunft etc. im Mittelpunkt steht, sondern sein von außen her Konstituiertsein als homo iustificandus48 Doch heißt dies keineswegs, dass Luther .Aufrichtigkeit' nicht auch als ethische Kategorie kennt - ganz im Gegenteil. Denn so wie der von Gott zuvor geliebte Mensch frei wird, selbst zu lieben (lJoh 4,19) und Werke der Nächstenliebe zu tun, so wird der Glaubende auch durch die Gnade Gottes und die umsonst erfahrene Aufrichtung dazu befähigt, seinem Nächsten gegenüber aufrichtig zu sein. Gilt nach Luther, dass die Taten des Menschen nicht dann Sünden sind, wenn sie dem Gesetz Gottes widerstreiten, sondern radikaler, dass alle Taten Sünden sind, solange sie nicht aus Glauben geschehen (vgl. Rom 14,23), so trifft etwas ähnliches auch auf die Aufrichtigkeit zu: Aufrichtig kann nur der sein, der die Aufrichtung Gottes erfahren, sprich: erlitten hat. Erst diese völlige Passivität als Bedingung der Möglichkeit des göttlichen Handelns am Menschen setzt diesen in Stand, aktiv aufrichtig zu sein. Demnach hat die wahre Aufrichtigkeit nach Luther ihren Ort mitnichten in der philosophischen Ethik, sondern einzig und allein in der Ethik, die aus der Glaubenslehre resultiert. In seiner Auslegung von Ps 11 l , 7 f - der Luther im Jahre 1530 folgende Übersetzung zugrundelegt: ,Alle seine gebot sind rechtschaffen. Jmer und ewiglich werden sie erhalten. Geschehen ynn warheit und auffrichtig' 49 - heißt es: Das wort aber ,Jasar', das man zu latin Equitas, Rectitudo, Und ich zu deudsch ,auffrichtig' heisse, ist so viel, das ein Christ nicht aus gunst noch umb lohn noch umb einiger person ansehen willen guts thut, sondern aus freyem, reinen, richtigen, einfeltigem hertzen, 44

WA 18,504,12 (Die sieben Bußpsalmen. Zweite Bearbeitung 1525). WA 18,504,lOf. "« WA 18,504,13 f. 47 WA 31/1,9,4 f. (Der 119. Psalm, verdolmetscht und ausgelegt. Item der 83. Psalm etc. 1529). 48 Vgl. WA 39/1,176,33-35 (Disputation de homine 1536). 49 WA 31/1,420,21;421,2.18 (Der 111. Psalm ausgelegt 1530). 45

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nicht das seine sucht noch jemand zu liebe odder leide sondern allein Gott zu ehren und dem nehesten zu gut wolthut. 50

Wer dagegen bloß aus Furcht vor Strafe bestrebt ist, gute Werke zu tun, ist - so Luther - nicht aufrichtig, weil ihm das Aufgerichtetsein durch Gott abgeht.51 Dass die dem Menschen allein aus Gnade geschenkte rectitude nach Luther keineswegs in ethisch-moralischer Abzweckung darin aufgeht, aufrichtig Werke der Nächstenliebe zu tun, zeigt sich u. a. daran, dass sie auch die Affekte betrifft. Der Glaubende nämlich findet sich in der Situation vor, in der sich Adam vor dem Fall befand. Die Tatsache aber, dass Adam „secundum dei imaginem creatus"52 war, konkretisierte sich nicht nur darin, dass er aufrichtig gegen Gott („rectus erga deum"53) war, sondern auch darin, dass er vom Affekt des göttlichen Zorns, mithin auch von der Furcht nichts wusste, sondern bestimmt war vom Affekt der laetitia. Adam „wust von keiner furcht, vermessenheit, nihil de morte, krancheit, ira dei, sed mera leticia."54

rectitudo und curvitas des Menschen in der lutherisch-orthodoxen Theologie Die lutherische Orthodoxie ist Luther in seiner Neuformulierung der imago-DeiTheologie gefolgt. Auch hier steht die Radikalität des Verlustes der Gottebenbildlichkeit durch den Sündenfall im Vordergrund,55 wenngleich man im Gefolge der flacianischen Streitigkeiten verstärkt darum bemüht war, klarzustellen, dass durch den Fall die Sünde nicht zur Substanz des Menschen geworden ist,56 da dies unweigerlich einen manichäischen Dualismus zur Folge hätte, also die

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WA 31/1,422,6-11. Vgl. WA 31/1,421,32-37: „Das er aber dazu setzt ,Jnn warheit und auflrichtig', hat die meinung, das solch gebot geschehen unter den Christen rechtschaffen und nicht feischlich jm schein, dazu auch rechter einfeltiger meinung. Denn warheit setzt er gegen die heuchler, welche auch für geben, Gottes gebot zu halten, und ist doch lauter gleissen und schein, Thun nichts von hertzen, sondern gezwungen aus furcht der hellen odder straffe." WA 45,163,10 (Predigten des Jahres 1537 [7.10.]). WA 45,163,7. WA 45,163,7-9. Vgl. z.B. Conrad Dieterich: INSTITUTIONES CATECHETICAE. o.O., o.J. (Privatbesitz), S. 368: „Fuitne imago haec Dei ab Adamo in posteros propagata? Minime: sed per lapsum ejusdem amissa, & concreata haec naturae integritas horribili depravatione corrupta est. Unde consequenter Adamus filios (non ad imaginem illam primaevam Dei, sed[)] ad imaginem SUAM (peccato depravatam) genuisse dicitur, Genes. 5. v. 3." Vgl. Justus Feurbom: Dissertatio Theologica De PECCATO IN SPIRTTUM S. IRREMISSIBHJ: Ad solius divini verbi normam CONSCRIPTA AC VARUS VETERVM ET RECENTIOrum Scriptorum erroribus, ac corruptelis noxiis OPPOSrTA ET IN CHRISTIANORUM, AC imprimis Ecclesiae Dei Ministrorum, & S. Theol. Studiosorum usum, atque solidum afflictarum conscientiarum solatium EDITA [...]. Gießen 1620 (Privatbesitz), S. 195: „Imago Dei opposita est imagini diaboli: Sicut igitur haec indistracte comprehendit iniquitatem & aetemam damnationem: ita illa inseparabiliter complectitur sanctitatem & vitam aeternam." Vgl. z.B. Dieterich (o.J.), S. 366.

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Ansicht, die Sphäre des Leiblich-Kreatürlichen sei schlechthin A u s f l u s s des b ö s e n Prinzips und nichts anderes. Dennoch: A u c h nach lutherisch-orthodoxer Lehre hat der M e n s c h durch den Sündenfall die Gottebenbildlichkeit eingebüßt. S o sagt etwa N i c o l a u s Hunnius, dass die imago Dei durch den Fall in das Ebenbild des Satans verwandelt worden ist. 57 D a s Ebenbild Gottes des nicht gefallenen M e n s c h e n hat nach lutherisch-orthodoxer Sicht der D i n g e seinen Sitz vor allem in der Seele, mithin in den Seelenkräften. N a c h Johann Gerhard leuchtet in der mens „clarissima lux divinae sapientiae", in der voluntas

herrscht „libera

ad D e u m conversio", während das Herz sich einer „harmonia omnium affectuu m c u m lege" 5 8 erfreut. V o r d e m Fall also befand sich der M e n s c h , das B i l d Gottes, in einer glückenden Kommunikation mit Gott, d e m Schöpfer, als d e m Urbild. A u f f a l l i g häufig bezeichnet Gerhard - w i e die lutherische Lehrtradition insgesamt - diesen Urzustand als „summa rectitudo" 59 , die sich - im Anschluss an Luther 6 0 - in allen Seelenkräften nicht nur, sondern auch in allen Gliedern des Leibes artikuliert. Im Urständ kennzeichnet den M e n s c h e n keinerlei „curvitas" 61 , während diese den sündigen M e n s c h e n durch und durch bestimmt. D i e s e ursprüngliche Aufrichtigkeit, diese „summa o m n i u m animae et corporis virium rectitudo" 6 2 ist geradezu Inbegriff der „integritas" 63 des M e n s c h e n im Paradies. Leonhart Hütter formuliert: Justitia originalis respicit non tantüm secundam tabulam Decalogi: sed primam quoque, quae praecipit de timore Dei, de fide, de amore Dei. Itaque homo ad imagmem hanc Dei conditus, habiturus erat, non tantüm aequale temperamentum qualitatum corporis; sed etiam notitiam Dei certiorem, timorem Dei, fiduciam Dei, aut certe rectitudinem, & vim ista efficiendi: Item immortalitatem & dominium in res creatas. 64

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Vgl. Nicolaus Hunnius: EPITOME CREDENDORUM, Oder Jnhalt Christlicher Lehre / So viel einem Christen darvon zu seiner Seelen Seligkeit zu wissen und zu glauben höchst= nöthig und nützlich ist / Aus GOttes Wort verfasset [...]. Wittenberg 1683 (Privatbesitz), S. 100 f., wo der „Geistliche Schade" des Sündenfalls dahingehend definiert wird, „daß nach dem Bilde GOttes ein abscheuliches Bild des leidigen Satans erfolget; das ist / eine solche Unwissenheit und Unverstand in Göttlichen Dingen / daß / die fleischlich gesinnet seynd / eine Feindschafft worden sind wider GOtt / daß an statt der Heiligkeit des Menschen Hertz mit Sünden dermassen durchgiffiet / und überfüllet worden / daß alles sein Dichten und Trachten nur böse ist immerdar / IB. Mose 6/5." Johann Gerhard: LOCI THEOLOGICI [...]. Hg. von Eduard Preuß. 9 Bde. Berlin bzw. Leipzig 1863-1875, hier: Bd. 2, 113b. Gerhard (1863-1875). Bd. 2,113b. Vgl. WA 24,72,4 f.: „ A d a m rectus a Deo conditus erat corpore et anima." Vgl. WA 42,86,36: „Sed nos, si Mosen sequimur, definiemus, originalem iusticiam dici, quod homo fuit iustus, verax, rectus, non solum corpore, sed magis animo, quod agnovit Deum, quod obedivit Deo cum summa voluptate, quod intellexit opera Dei, etiam non admonitus." Gerhard (1863-1875). Bd. 2,114a. Gerhard (1863-1875). Bd. 2, 114a. So auch Dieterich (o.J.), S. 364: „Quaenam vero & qualis est Imago Dei? Est aliud nil, quam justitia & sanctitas vera, in qua primus homo conditus erat, Eph. 4, 24. consistens in summa totius hominis perfectione, omnium animae & corporis virium rectitudine, integritate, puritate, ac cum lege divina confoimitate." Gerhard (1863-1875). Bd. 2, 114a. Leonhart Hütter: COMPENDIUM LOCORUM THEOLOGICORUM, EX SCRIPTURIS SACRIS ET LEBRO CONCORDLAE Antehac collectum OPERA ET STUDIO LEON-

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Biblisch begründet wird dies u. a. mit Koh 7,3065: ,Alleine schaw das / Jch hab fanden / das Gott den Menschen hat auffrichtig gemacht'. Diesem weisheitlichalttestamentlichen Text kommt innerhalb der lutherisch-orthodoxen Anthropologie - wie übrigens bei Luther auch66 - eine zentrale Bedeutung zu. Dies ist nicht nur an der einschlägigen dogmatischen Literatur abzulesen, sondern auch an der exegetischen, so ζ. B. an Johannes Olearius' Biblischer Erklärung, die der Auslegung von Koh 7,30 auffällig breiten Raum gibt. Nach Olearius ist in diesem Vers „Das aufrichtige Kunststück / Adam / im Stande der Unschuld"67 das Thema, womit Olearius diesen Text in denselben Sachzusammenhang einordnet wie der Schwäbisch Haller Reformator Johannes Brenz dies in seiner Auslegung des Predigers Salomo, mithin in der ersten reformatorischen Interpretation dieses biblischen Buches, getan hat.68 Olearius formuliert nach eingehender Analyse des alttestamentlichen Gebrauchs von jaschar' folgende „Summa": Es heist jaschar. rectitudo vitiosae tortuositati & lacunis defectuum opposite, physica & moralis, sicut linea recta etiam artificialis NB. Sprüchw. 26/10. oder eine Richtigkeit ohne alle krumme Unart und Unrichtigkeit / ohne Fehler.69

Im Unterschied zur zeitgenössischen römisch-katholischen Theologie definiert Gerhard diese geistliche und körperliche Aufrichtigkeit als eine dem Menschen anerschaffene, in der Gottebenbildlichkeit wurzelnde Eigenschaft, als eine „rectitudo [...] naturalis"70, die nichts anderes ist als eine Konkretion der Urgerechtigkeit (iustitia originalis), der aber schon darum keine substanzhafte Qualität

HARDI HUTTERI S. THEOLOG. D. ET PROFESSORIS IN ACADEMIA WITteberg. Ordinarii. Jst aber jetzo / allgemeiner Christenheit / und sonderlich der lieben Schul= Jugend / zum besten / Die Deutsche Version / Wie sie der Herr Autor Seel. selbst übersetzet hat / auff jedem Blat hiebey gefuget. Braunschweig 1661 (HAB Wolfenbüttel Te 607), S. 69. 65 Vgl. Gerhard (1863-1875). Bd. 2, 114a. Vgl. Abraham Calov: BIBLIA [...] ILLUSTRATA [...] Editio secunda. 4 Bde. Dresden u. Leipzig 1719, I, S. 1239. Calov unterscheidet zwischen „intellectus rectitudo" und „rectitudo voluntatis." 66 Vgl. WA 40/11,323,10 f. (Enarratio Psalmi 51 1532 [1538]): „Creavit deus hominem rectum etc." Vgl. auch WA 4,650,22 (Sermone aus den Jahren ca. 1514-1520). An beiden Stellen haben die Editoren der WA offenbar das Zitat aus Koh 7,30 übersehen. 67 Johannes Olearius: Biblischer Erklärung Dritter Theil / Darinnen Der Psalter Davids / Die Sprüche / Der Prediger / und Das Hohelied Salomonis / ebenmäßig Aus der Grundsprache deß Heiligen Geiste betrachtet / und mit notwendiger Lehre / Trost und Vermahnung / zu Gottes Ehre / und täglicher Beförderung der waren Gottseeligkeit / vorgestellet wird. Leipzig 1679 (Privatbesitz), S. 1038b. 68 Vgl. Johannes Brenz: Der Prediger Solomo mit hoch gegrunter auß heiliger götlicher geschrifft / außlegung [...]. Hagenau 1528 (Reprint. Hg. von Martin Brecht. Stuttgart-Bad Cannstatt 1970), fol. 136v-138r, hier etwa fol. 137r/v: „Sihe zu / sie waren beyde wol vnnd auffrichtig erschaffen / aber so bald sie mit iren eigen kunstlin vnd grifflin vmbgiengen / warden sie verderbt." Vgl. ebd., fol. 138r: „Vnnd wie alle menschen inn Adam waren auffrichtig erschaffen / also seyen all menschen inn dem Adam auß der freyheit inn gefencknus des teuffels / sampt allen iren krefftenn / gefallenn / wie Paulus spricht / Wir sterben all zumal inn Adam." 69 Olearius (1679), S. 1038b. ™ Gerhard (1863-1875). Bd. 2,116a.

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zukommt, weil sie ihren Grand hat in der lebendigen Kommunikation des Ebenbildes mit dem, dessen Bild sie ist, nämlich Gott. Damit grenzt sich Gerhard scharf ab von der u. a. von dem jesuitischen Theologen Robert Bellarmin verfochtenen Ansicht, der zufolge sowohl die iustitia originalis als auch die rectitudo des Menschen im Paradies lediglich dona supernaturalia seien. Die Urgerechtigkeit nennt Bellarmin ein „indumentum, quod superadditur extrinsecus humano corpori"71, weswegen konsequenterweise auch die aus ihr resultierende rectitudo nur ein „supernaturale donum"72, ein dem Menschen äußerlich anhaftendes „ornamentum quoddam"73 sein könne. Dies fügt sich gut ein in die überlieferte mittelalterlich-scholastische Lehre, wonach zwischen imago und similitude dergestalt zu unterscheiden ist, dass durch den lapsus Adae lediglich die similitude des Menschen mit Gott verloren gegangen ist74 und mit ihr die rectitudo, die imago Dei im Menschen jedoch unzerstört geblieben ist. Da Bellarmin im Unterschied zur lutherischen Theologie einen logischen Konnex zwischen imago Dei und Urgerechtigkeit bestreitet, diese also nicht für gleichursprünglich hält, letztere vielmehr der similitudo zuordnet, konzediert er zwar einen Verlust der iustitia originalis, der aber keineswegs einen solchen auch der imago Dei impliziere. Nach Ansicht der Scholastik wie deijenigen Bellarmins zieht der Sündenfall also lediglich eine Beraubung des übernatürlichen göttlichen Geschenkes,75 nicht aber einen Verlust der natürlichen Güter nach sich,76 weswegen die in der Ebenbildlichkeit des Menschen begründeten und durch den Fall nicht wesentlich tangierten Seelenkräfte es dem Menschen auch weiterhin ermöglichen, sich Gott trotz aller Hinneigung zum Bösen (inclinatio ad malum) aufgrund des eigenen freien Willens zuzuwenden. Die lutherische Lehre ist diesbezüglich weitaus radikaler. Zwar kann auch Gerhard die iustitia originalis als ein donum bezeichnen. Doch er spricht kritisch sich gegen Bellarmin wendend77 - nicht von einem solchen donum, das 71

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Robert Bellarmin: DISPVTATIONVM DE CONTROVERSDS CHRISTIANAE FIDEI, ADVERSVS HVIVS TEMPORIS HAERETICOS Opus [...], 4 tom. Ingolstadt 1601 (Privatbesitz), tom. 4, S. 24D. Bellarmin 4, 15B. Vgl. ebd., 19A-B: „Omnes enim communi consensu docent, rectitudinem primi hominis effectum fuisse doni cuiusdam supernaturalis, & eo dono remoto mansisse naturam, qualis esset, si in puris naturalibus condita fuisset, quod attinet ad motus inordinatos partis inferioris." Bellarmin (1601). tom. 4, 356C. Bellarmin (1601). tom. 4, 6B: „Ex his igitur tot Patrum testimoniis cogimur admittere non esse omninö idem imaginem, & similitudinem, sed IMAGINEM ad naturam, SMILITVDINEM ad virtutes pertinere: proinde Adamum peccando non imaginem Dei, sed similitudinem perdidisse [...]." Vgl. Bellarmin (1601). tom. 4, 25B-D. Vgl. Bellarmin (1601). tom. 4, 17B: „Proinde corruptio naturae, non ex alicuius doni naturalis carentia neque ex alicuius malae qualitatis accessu, sed ex sola doni supernaturalis ob Adae peccatum amissione profluxit Quae sententia communis est Doctorum Scholasticorum veterum, & recentiorum." Ähnlich auch Dieterich (o.J.), S. 367 f. Vgl. auch Johannes Rudbeckius: Loci theologici. Föreläsningar vid Uppsala universitet 1611-1613. Hg. von Bengt Hägglund. Mit einer deutschen Einleitung: Wittenberg-Orthodoxie in Uppsala am Anfang des 17. Jahrhunderts. Stockholm 2001, S. 107.

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dem Menschen nur äußerlich ist wie ein herrliches Gewand, das einem Leprösen übergeworfen wird, um dessen Pestbeulen zu verdecken. Vielmehr handelt es sich nach Gerhard um ein „intrinsecum totius naturae in Adamo ornamentum"78.

Die Ruinen der Gottebenbildlichkeit nach dem Fall und die Predigt des Gesetzes Die lutherisch-orthodoxe Theologie hat im Vergleich mit Luther an der Radikalität des Sündenfalles keinerlei Abstriche gemacht.79 Der lapsus Adae bringt die Zerstörung der imago Dei mit sich, also auch eine Destruktion der ursprünglichen rectitudo sowie der iustitia originalis, die nach lutherischer Lesart letztendlich gleichbedeutend sind. Die römisch-katholische Unterscheidung von imago und similitudo lehnt die lutherische Dogmatik ab - nicht zuletzt aus exegetischen Gründen.80 Die Lehre von der Destruktion der imago divina durch den Fall hindert Gerhard allerdings nicht daran, davon zu sprechen, dass es im Menschen auch nach dem Fall gewisse Übrigbleibsel der imago Dei gibt - ähnlich wie die Ruinen eines völlig zerstörten Gebäudes noch an dasselbe erinnern. Hierin sollte man nicht eine Annäherung an die römisch-katholische Lehrmeinung erblicken.81 Das ist schon darum ausgeschlossen, als diese gerade die Unzerstörbarkeit der substanzhaften Gottebenbildlichkeit behauptet und allenfalls von einer ,imago obscurata et deformata'82 spricht, näherhin von einer solchen imago, die lediglich die Farbe verloren hat und gleichsam zum Schwarzweiß-Bild geworden ist.83 78 79

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Gerhard (1863-1875). Bd. 2,114b. Vgl. Hütter (1661), S. 70f.: „Mansitne haec imago Dei, post lapsum, in homine reliqua? Non: nam peccatum originis, quod ex lapsu primorum parentum in omnes homines derivatum est, tam profunda & tetra est corruptio naturae, ut nullius hominis ratione intelligi possit. Quapropter meri sunt errores & caligines, contra hunc articulum, Scholasticorum Doctorum dogmata, quibus docetur, post Adae lapsum, Hominis naturales vires mansisse integras & incorruptas." Und weiter ebd., S. 71 f.: „Sed unde hoc ipsum probas? Probo vel inde, quöd lapsum Adae excepit statim totalis carentia, seu defectus, sive privatio concreatae in Paradiso Justitiae originalis, seu imaginis Dei, ad quam homo initiö in veritate, sanctitate atque justitia creatus fuerat: & simul etiam subsecuta est αδυναμία, impotentia & stupiditas, qua homo ad omnia divina sive spiritualia prorsus est ineptus: uti ex subsequentibus Articulis, de peccato originis, & libero arbitrio, dilucidius patebit." Calov (1719). Bd. 1, S. 230a bezeichnet .similitudo' und ,imago' zutreffend als ein Hendiadyoin. Vgl. ähnlich Friedrich Karl Schumann: Imago Dei. In: Imago Dei. Beiträge zur theologischen Anthropologie. FS Gustav Krüger. Hg. von Heinrich Bornkamm. Gießen 1932, S. 167-180, S. 172. Bellarmin (1601). tom. 4, 356A-B. Bellarmin (1601). tom. 4, 356A/B: „Ac peccatum quidem substantiam imaginis de medio tollere non potuit, sustulit tarnen perfectionem illam, & eximiam similitudinem, quae in habitu, & actu cognitionis, & amoris posita erat: Itaque imago non periit, sed obscurata, ac deformata, est, quasi coloribus extinctis. & ideo reformari dicitur cum gratia & sapientia

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Nach Gerhard aber ist das Ebenbild Gottes nach dem Fall nicht verdunkelt, sondern destruiert, allerdings so, dass einige Ruinen noch übrig sind, die aber ihrerseits „obscuratae" sind, also nicht ohne weiteres (sprich: vernünftig) als solche zu erkennen sind. Gerhard hat also etwas qualitativ völlig anderes im Blick als die scholastische (durch Bellarmin weitergetragene) Tradition, was sich bereits an seiner höchst vorsichtigen Formulierung erkennen lässt: Constat igitur satis perspicue ex Scripturae et experientiae testimonio, imaginem divinam ita in posteris Adae periisse, ut vix tenues quaedam reliquiae, eaeque ipsae per peccatum obscuratae et labefactatae sint superstites.84

Nicht die imago Dei, wie dies Bellarmin zufolge der Fall ist, hat durch den lapsus Adae eine Verdunkelung erfahren, vielmehr ist diese derart zerstört, dass auch deren Reliquien kaum noch erkennbar sind, weil es sich um bloßen Trümmerschutt handelt, an dem man kaum die ursprüngliche Schönheit und den Glanz des völlig zerstörten Gebäudes erkennen kann, es sei denn, man werde zugleich auch anderwärts an dieselbe erinnert. Es handelt sich nach Gerhard also keineswegs um einen naturhaft-unzerstörbaren Restbestand der imago Dei.K Vielmehr sind die reliquiae der Gottebenbildlichkeit Medien, deren sich Gott im Hinblick auf seine Verkündigung bedient, um dem sündigen Menschen erstens anhand des Trümmerschuttes dessen einstige Herrlichkeit erinnerungsweise vor Augen zu stellen, die er andernfalls nicht erkennen könnte. Zweitens sollen die Trümmer als Merkzeichen der Barmherzigkeit Gottes fungieren, die dieser den im höchsten Maße unwürdigen Sündern erzeigt hat. Insofern kommt den reliquiae imaginis divinae eine ähnliche Funktion zu wie dem sog. Protevangelium (Gen 3,15). Die Verheißung des dereinst die Erlösung bringenden Schlangentreters wäre ja völlig missinterpretiert, würde sie gleichsam als eine Ermäßigung der mit der Vertreibung aus dem Paradies verhängten Strafe verstanden. Vielmehr wird einzig und allein angesichts dieser promissio deutlich, welch tiefgreifende, ja grundstürzende Folgen der Fall gehabt hat. Hätte Gott nicht sogleich mit dem Gerichtsurteil über die sündigen Menschen auch das Evangelium verkündet, wäre ewige Verdammnis die notwendige Folge und jegliches irdische Leben unmöglich gewesen. Ähnlich verhält es sich auch mit den Trümmern der Gottebenbildlichkeit: An ihnen wird die Barmherzigkeit Gottes insofern offenbar, als an ihnen erkennbar wird, dass Gott den Menschen zwar gestraft, nicht aber dessen Existenzmöglichkeit überhaupt destruiert hat. Zum dritten, so sagt Gerhard, sind die Übrigbleibsel des göttlichen Ebenbildes „rectrices externae disciplinae, qua velut pae-

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repaiantur in nobis, quomodo imago depicta renouari dici posse, si colores fermd extincti eidem imagini iterum adderentur." Gerhard (1863-1875). Bd. 2,140b. Insofern kann Gerhard davon sprechen, „quöd homo etiam post lapsum sit imago DEI non substantialiter, sed accidentaliter". Johann Gerhard: COMMENTARIUS super GENESIN, IN QVO Textus declaratur, quaestiones dubiae solvuntur, observationes eruuntur, & loca in speciem pugnantia conciliantur. Editio novißima & emendatior. Jena 1653, S. 243.

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dagogia quadam Deus utitur ad instaurationem imaginis suae partam nobis per Christum."86 Auch mit dieser Aussage ist es Gerhard nicht um eine Ermäßigung der Radikalität des Sündenfalles und der aus ihm resultierenden absoluten Verlorenheit des gottfernen Menschen zu tun. Vielmehr ist die Rede von den Trümmern und Reliquien der Gottebenbildlichkeit im Bereich des dogmatischen locus ,de lege' zu verorten und dessen Behandlung der literarischen Gattung der Gesetzespredigt zuzuordnen: Der Mensch, der die rectitude durch den Fall verloren hat und mithin auch der Möglichkeit, sich aus eigenen Kräften am Gesetz Gottes auszurichten, verlustig gegangen ist, bedarf der „rectrices externae disciplinae", die er daraus gewinnt, dass ihm im Medium der Predigt des göttlichen Gesetzes seine Sündhaftigkeit vor Augen gestellt und er mit den Trümmern seiner Gottebenbildlichkeit konfrontiert wird, um hieraus seine Vergebungsbedürftigkeit abzunehmen und dergestalt auf die Wiederaufrichtung der imago Dei durch das Heilswerk Christi vorbereitet zu werden. Letztlich also kommt den jämmerlichen Resten der imago Dei im sündigen Menschen genau dieselbe Aufgabe zu wie der lex: nämlich den Menschen seiner Sündhaftigkeit durch die Stiftung von cognitio peccati zu überführen. Nur in diesem Lichte wird auch begreifbar, weswegen Gerhard im Kontext der Abhandlung der als „rectrices" fungierenden Ruinen der Gottebenbildlichkeit Gottes „paedagogia"87 thematisiert. Denn auch dem Gesetz kommt nach Gal 3,24 als deijenigen Instanz, die Sündenerkenntnis stiftet, das Amt eines Pädagogen auf Christus hin zu. Davon bleibt unberührt, dass letztlich auch in intellectus und voluntas des Menschen Reliquien der Gottebenbildlichkeit zu finden sind. Doch auch hierin liegt keine Annäherung an die nachtridentinische Lehre, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben könnte. Denn Gerhard nimmt nur die Fähigkeiten von Intellekt und Willen des Menschen außerhalb des geistlichen Bereiches, also im Reich der Welt in den Blick,88 das auch Luther und Confessio Augustana Artikel 18 zufolge die Sphäre darstellt, die dem Urteil der menschlichen Vernunft unterworfen ist, während die ratio des Menschen in geistlicher Hinsicht nichts auszurichten im Stande ist.

Die statura erecta des Menschen und die Entzifferung des Körpers als Text Der sündige Mensch, der seine ursprüngliche rectitudo eingebüßt hat, ist nach Lutherscher Definition ein in sich verkrümmtes Wesen - incurvatus in se - , das sich nicht nur nicht am göttlichen Gebot ausrichtet, sondern zudem nicht will, dass Gott Gott ist, sich vielmehr, gegen diesen aufbegehrend, an dessen Stelle setzen will, letztendlich also sein eigenes Menschsein negiert. Selbst und aus 86 87 88

Gerhard (1863-1875). Bd. 2, 141a. Gerhard (1863-1875). Bd. 2,141a. Vgl. Gerhard (1653), S. 243. Vom gefallenen Menschen kann als imago Dei gesprochen werden „ratione generalis alicujus conformitatis cum DEO quoad intellectum & voluntatem, ac harum facultatum usum in rebus externis & rationi subjectis."

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eigenen Kräften kann sich der Sünder nicht aufrichten, sondern eine neue Aufrichtigkeit nur erlangen durch Gott, ,der den Geringen aufrichtet aus dem Staube und erhöht den Armen aus dem Kot' (Ps 113,7; vgl. 147,6: ,Der Herr richtet auf die Elenden und stößt die Gottlosen zu Boden'). Aufrichtung und Rechtfertigung erlangt der sündige Mensch allein um des Glaubens willen, dass Gott in ihm aus purer Gnade die Aufrichtung des Ebenbildes Gottes vollzieht, indem er sich selbst in Christus um willen der sündigen Menschen ebenbildlich wird und erniedrigt. So sehr sich die Lehre der lutherischen Orthodoxie gegen das scholastische89 und in der nachtridentinischen Theologie gepflegte Theorem wendet, dem zufolge in den Seelenkräften mens, voluntas und memoria Spuren der göttlichen Trinität zu finden sind, so sehr zieht gerade die Betonung des radikalen Verlustes der imago Dei eine umso intensivere Suche nach deren Sichtbarwerdung nach sich. Im Zuge dessen kommt es u.a. zu einer recht ausgeprägten Hinwendung zur Leiblichkeit des Menschen, die charakteristisch für die lutherische Theologie sein dürfte. Dies wird nicht zuletzt an folgendem Sachzusammenhang deutlich: Die scholastische Tradition verortet den Sitz der imago Dei in der Seele (anima) des Menschen und folgert hieraus, dass der menschliche Leib nicht eigentlich als zur imago Dei gehörig gerechnet werden könne, da Gott ,incorporeus' sei,90 weswegen sich in einem Körper die Gottebenbildlichkeit allenfalls zeichenhaft zur Geltung bringen könne. Dies ist im übrigen eine Ansicht, die schon Augustin vertreten hat.91 Thomas von Aquin begründet dies damit, dass sich der göttliche Logos ausschließlich in der Intelligibilität des Menschen artikuliert, während alle anderen Kreaturen nur Spuren dieses Wortes, das alles geschaffen hat, erkennen lassen. Diese vestigia indes ermöglichen zwar einen Rückschluss auf die causa producens, sind aber nicht selbst Träger des Logos.92

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Vgl. Thomas von Aquin: Summa theologica diligenter emendata Nicolai, Sylvii, Billuart, et C.-J. Drioux notis ornata, 8 tom. Bar-le-Duc u. Paris 111879,1, q. 93, art. 7. Vgl. ζ. B. Thomas von Aquin (1879). I, q. 93, art. 6: „Unde relinquitur quöd nec in ipsa rationali creatura invenitur Dei imago nisi secundum mentem; in aliis verö partibus, si quas habet rationalis creatura, invenitur similitudo vestigii, sicut et in caeteris rebus, quibus secundum partes hujusmodi assimilatur." Anders im Übrigen Bellarmin, der formuliert: , 3 t quamuis imago Dei proprie resideat in anima, tarnen ratione animae totus homo rectd dicitur conditus ad imaginem Dei. Et certe Scriptura in primo illo capite Geneseos non dicit, factam esse animam ad imaginem Dei, sed factum esse hominem [...]". Bellarmin (1601). tom. 4, 302B. Gerhard (1863-1875). Bd. 2, 127b zitiert Augustin: De genesi ad literam, lib. 6, cap. 12 (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 28,1, S. 187,5-11): „quod homo dicitur factus ad Dei imaginem, non secundum corpus, sed secundum intellectum mentis accipiendum est, quanquam et in ipso corpore habeat quandam proprietatem, quae hoc indicet, nimirum quod erecta statura factus est, ut in hoc ipso admoneretur, non sibi terrena esse sectanda velut pecora, quorum voluptas omnis ex terra est, unde in alvum cuncta pecora prona atque prostrata sunt." Vgl. Thomas von Aquin (1879). I, q. 93, art. 6: „In aliis autem creaturis non invenitur principium Verbi, et Verbum, et amor; sed apparet in eis quoddam vestigium, quod haec inveniantur in causa producente."

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Sowohl die lutherische Dogmatik als auch die reformierte 93 jedoch gehen diesbezüglich einen - freilich einen entscheidenden - Schritt weiter. So ist auch Gerhard der Meinung, dass die sedes der Gottebenbildlichkeit allen voran in der Seele zu verorten ist.94 Den scholastischen Seele-Leib-Dualismus aber überwindet Gerhard, indem er zur Geltung bringt, dass nach biblischer Auffassung nicht nur die Seele, sondern auch der Leib unsterblich ist, weswegen im Leib des Menschen nicht lediglich gewisse zeichenhafte Spuren der imago Dei zu finden sind. Vielmehr ist der Körper des Menschen integraler Teil der imago Dei. Woran aber wird diese pars imaginis divinae sichtbar? Die Antwort ist einfach und traditionell vorgegeben: an der statura erecta, an des Menschen aufrechtem Gang, an dem sich abbildet und anhand dessen dieser erkennen soll, dass er sich nicht am Irdischen, sondern am Himmlischen auszurichten hat, um seiner Bestimmung nachzukommen. Im Unterschied aber zur scholastischen Tradition bietet die statura erecta des Menschen nicht bloß ein signum, das auf die Gottebenbildlichkeit nur uneigentlich hindeutet. Vielmehr ist der aufrechte Gang, so Gerhard, Konkretion der eminentia des Menschen, die selbst Bestandteil der imago divina ist. Sed cum immortalitas sit pars imaginis divinae, recte additur, in corpore hominis non tantum signum quoddam imaginis divinae, videlicet erectam staturam esse, sed etiam partem quandam, videlicet immortalitatem. 95

Ähnlich jedoch wie dies bezüglich des usus zu erkennen war, den Gerhard aus der Lehre von den Reliquien des göttlichen Ebenbildes zog, steht auch in dem nun in Rede stehenden Kontext die Nutzanwendung im Sinne der Gesetzespredigt im Vordergrund. Im Anschluss an Bernhard von Clairvaux und diesen zitierend nämlich entwickelt Gerhard aus der empirischen Beobachtung der rectitude corporis die Paränese, dass der Mensch sich auch der rectitudo spiritualis zu befleißigen hat, die Augen also emporrichten („habere oculos sursum"96) und trachten soll nach dem, was droben ist (Kol 3,lf). In seiner Schola pietatis formuliert Gerhard: „So viel Glieder des Leibes / so viel Zeugen der göttlichen mildreichen Gutthätigkeit tragen wir in vns selber."97 Diesen Gedanken breit ausführend, bietet Valerius Herberger seinem Leser „eine

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Gerhard (1863-1875). Bd. 2, 128a zitiert in diesem Zusammenhang Bucanus. So auch David Hollaz: EXAMEN THEOLOGICUM ACROAMATICUM UNIVERSAM THEOLOGIAM THETICO-POLEMICAM COMPLECTENS. 2 Bde. Stargard 1707 (Nachdruck Darmstadt 1971), hier: Bd. 1/2, S. 18. Gerhard (1863-1875). Bd. 2, 128a. Gerhard (1863-1875). Bd. 2, 128a. Das Zitat findet sich bei: Bernhard von Clairvaux: Opera. Bd. 1-8. Hg. von Jean Leclercq, C.H. Talbot u. Η. M. Rochais (Bd. 1-2), hg. von Jean Leclercq u. Η. M. Rochais (Bd. 3-8). Rom 1957-1977. Bd. 1, S. 157, 15. Johann Gerhard: SCHOLAE PIETATIS LIBRI V. Das ist: Fünff Bücher / VOn Christlicher vnd heilsamer Vnterrichtung / was fur Vrsachen einen jeden wahren Christen zur Gottseligkeit bewegen sollen / auch welcher gestalt er sich an derselben vben soll [...]. Jena 2 1625 (Privatbesitz), hier: I, fol. 19v.

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kurze Anweisung, [s]einen Leib zu beschauen"98, in der er u. a. die körperliche rectitude des Menschen thematisiert und sagt: Du hast uns nicht auf die Erde gekehret wie das unvernünftige Vieh, sondern aufgerichtet gegen den Himmel. Denn das Vieh ist nur dazu erschaffen, daß es sich mäste, und dem Menschen zu Nutz komme. Wir aber sind nicht dazu bereitet, daß wir uns nur in diesen Weltgütern mästen, sondern, daß wir uns hinauf gen Himmel wenden mit Herzen und Gedanken, und uns um dich bekümmern. Ach hilf, daß ich allezeit mit allen meinen Gedanken mich hinauf richte zu dir, und nicht allein den Kopf, sondern auch das Herz empor recke, und das suche, was droben ist; ja, zuerst suche das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit. ,Du Mensch reckest das Haupt empor, und das Herz willst du nicht empor heben', saget Bemhardus."

Das lutherische Theologumenon von der partiellen Sichtbarwerdung der imago Dei am Leibe des Menschen - dies zeigt sich hier unstreitig - stiftet zur praxis pietatis an, die ernst macht mit dem Umstand, dass die statura recta des Menschen diesen zum geistlichen Emporstreben ermahnt. Doch damit nicht genug. Vielmehr ist es Herberger zudem darum zu tun, den gesamten Körper des Menschen im Sinne einer ausführlichen enumeratio partium in den Blick zu nehmen, die von dem Axiom geleitet ist, dass das, was vom Ganzen gilt, Gültigkeit auch bezüglich seiner Teile haben muss, sprich: dass am ganzen Körper etwas sichtbar wird von der Gottebenbildlichkeit und der dem Menschen durch den Schöpfer erwiesenen Gunst: Ich trage nur an meinem eignen Leibe 365 Glieder, im Jahre habe ich eben auch 365 Tage. So viel Tage im Jahr sind, so viel Glieder ich an meinem Leibe habe, so viel Zeugen habe ich deiner Gunst, Liebe, Huld und Gnade, so viel Antreiber habe ich dir zu dienen, dich zu loben, zu lieben und zu preisen.100

Herberger geht an den einzelnen Teilen des Körpers entlang, weist recht häufig - hierin durchaus physikotheologische Mentalität des folgenden Jahrhunderts vorwegnehmend - deren zweckmäßige und weise Einrichtung durch Gott, den Schöpfer, auf oder unternimmt eine geistliche Interpretation der Glieder des Leibes im Hinblick darauf, wie die Organe zum Lobe Gottes eingerichtet sind. Von den Zähnen sagt Herberger: „die müssen meine Müller sein, die Speise mir wohl zu reiben und zu mahlen; ja, sie müssen auch mir die Worte klärlich und deutlich zu sprechen und zu formiren nützlich sein: ach welch ein großer Schatz ist das!"101 Das „Mundwerk" des Menschen nennt Herberger „ein kunstreiches Orgelwerk" und die „Lungen" „Blasebälge"102, während er über die Füße sagt:

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Valerius Herberger: Magnalia Dei. Die großen Thaten Gottes. Wie Gott der Vater mit seinem Sohne Jesu Christo durch die ganze heilige Schrift gepranget und groß gethan hat, daß also die ganze Bibel ist ein immerwährendes Zeugniß und Kunstbuch von Christo: Jesus aber hingegen der ganzen heiligen Schrift Herz, Kern, Stem, Leben, Mark, Ziel, Ende, Zweck, edler Stein und Heiligthum. 1.-4. Teil: Das erste Buch Mose. Neue Auflage. Halle a. d. Saale 1854 ('1608-16), S. 88. Herberger (1854), S. 84. Herberger (1854), S. 82. Herberger (1854), S. 85. Herberger (1854), S. 85.

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Da hält uns Gott auf freiem Futter zwei starke Rosse, daß wir auf der Apostel Pferden können spazieren reiten, so oft wir wollen, und daß es ja schnell und behende von statten gehe, so muß am Knie ein künstliches Gelenke sein. 103

An dieser hier nur kurz vorgestellten Textpassage wird folgender Sachverhalt deutlich: Die lutherisch-orthodoxe Überzeugung, der zufolge sich die imago Dei - mit den Augen des Glaubens betrachtet - auch körperlich-äußerlich artikuliert, ist Bedingung der Möglichkeit der Ausbildung einer solchen Somatik, die die geistliche Lesbarkeit des Körpers zum Programm erhebt. Der Mikrokosmos des menschlichen Körpers avanciert hier zur geistlichen Textwelt.

Hochmut des Glaubens Neben der Aufrichtigkeit des Körpers kennen Luther und die lutherische Lehrbildung noch eine weitere Spielart der rectitude - man könnte sagen eine geistliche Aufrichtigkeit. Der rechtfertigende Gott und der glaubende Mensch befinden sich nach Luther in einer Gegen- und Wechselbewegung, die ihren Grund darin hat, dass sich Gott in Christus - in dessen Erniedrigung (Inkarnation) und Erhöhung (Himmelfahrt) in Bewegung gesetzt hat. Im Zuge dessen gelingt es Luther auch, des Menschen Existenz als eine der Entäußerung und Erhöhung Christi analoge zu bestimmen. Wenn Gott sich entäußert, dann wird dies als befreiende Tat Gottes für den Glaubenden Anlass, in einer Gegenbewegung gen Himmel zu fahren. Wo Gott die größte Demut übt, lernt der Mensch den Hochmut, die Hoffart des Glaubens und mit ihr den wahrhaft eschatologischen Affekt der Freude. „GOtt [...] ist mir so nahe worden, dass er ist, was ich bin [...] Das ist unser Herrlichkeit und dis sol uns frölich machen, dass unsere Hertzen möchten fur Hoffart und freuden zerspringen."104 Im lateinischen Text der in Rede stehenden Predigt heisst es: „prae superbia mocht unser hertz prae gaudio zuspringen."105 Luther definiert somit die superbia, die in der römisch-katholischen Lehre wohlgemerkt als Todsünde galt,106 als positive Wesensbestimmung des Glaubens. Zuweilen kann er gar „fidutia et superbia"107 im Rahmen eines Hendiadyoin als Synonyme gebrauchen. Nach Luther gibt es folgerichtig zweierlei Hochmut - einen weltlich-menschlichen und einen von Gott gestifteten: „Est 103 104 105 106

107

Herberger (1854), S. 87. WA 29,651,15 f.21-23 (Predigten des Jahres 1529 [25.12.]). WA 29,651,7 f. Das spiegelt sich etwa in dem Beichtgedicht, das der ,ars moriendi' des Geiler von Kaysersberg beigegeben ist und von Hans Foltz stammt: „Fürt ich üch syben totsiind nen(n) / Und meld wie ma(n) ir ieckliche ken(n) / Uss den Hochfart die houbt sünd ist / Wann sy am(m) höchsten hatt genist / Und ein urspru(n)g aller der sünd / Die ich hernach erzel und verkünd". Geiler von Kaysersberg: ,Ars Moriendi' aus dem Jahre 1497 nebst einem Beichtgedicht von Hans Foltz von Nürnberg. Hg. und erörtert von Alexander Hoch. Freiburg i. B. 1901, S. 90 f. WA 29,278,29 (Predigten des Jahres 1529 [28.3.]).

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igitur discernendum inter divinam et mundanam superbiam"108, wobei letztere auch verdient, „pia superbia" genannt zu werden, „quam etiam invenies in divo Paulo, Augustino, Hilario ceterisque doctoribus."109 Anders als Gerson, Geiler von Kaysersberg, Staupitz und andere spätmittelalterliche Theologen hat Luther Angefochtenen nicht nur den stereotypen seelsorglichen Rat gegeben, Demut (humilitas) zu üben. Vielmehr hat er gewusst, dass es auch eine vom Teufel eingeblasene Demut - etwa den Kleinglauben! - gibt, der man nur durch glaubenden Hochmut und ,Keck-Werden' begegnen kann. Deswegen hat Luther als Briefseelsorger Angefochtenen zuweilen geraten, stets das Gegenteil von dem zu tun, was der Teufel ihnen gerade einbläst. Will der Teufel mich zum Hochmut gegen Gott verfuhren, soll ich Demut üben, will er mich aber zur kleingläubigen Demut zwingen, soll ich mich fröhlich im Hochmut des Glaubens üben.110 Koinzidieren in Christus nicht nur göttliche und menschliche Natur, sondern auch die höchste Hoheit und die tiefste nur denkbare Niedrigkeit, so trägt der Glaubende, der eins ist mit Christus, eine ähnliche Bestimmung an sich. „Sic Christianus manet in pura humilitate et superbia."111 Die falsche, sündige superbia wurzelt in der Selbstverherrlichung des Menschen, der meint, die Angelegenheiten seines geistlichen Heils selbst in die Hand nehmen zu können, während die „superbia fidei"112 darin gründet, dass der Mensch sich nicht seiner, sondern der ihm geschenkten fremden Gerechtigkeit rühmt. „Hec nostra superbia, quod gloriamur non in nostris, iustitia, sed in sua (seil. Christi) iustitia, sapientia et quidquid in eo, quia, quando coniunguntur masculus et femina, fit 1 corpus, communia bona, liberi."113 Es handelt sich mithin um „maxima gloria et superbia, quae non pendet ex bonitate et iustitia nostra."114 Nichts jedoch ist so Luther - schwieriger, als diese superbia des Glaubens zu lernen und zu üben,115 da sie in folgenden hochmütigen Worten dem Satan gegenüber gipfelt: „Quid mihi facere potes cum omnibus peccatis, cum morte et omnibus mails?"116 Schwer zu erlernen also ist diese superbia fidei, weil ihr nichts weniger zugemutet wird, als den Hochmut des Satans durch den Hochmut des Glaubens zu überwinden. Insofern geht diese geistliche rectitude weit über das hinaus, was man heutzutage landläufig unter .Aufrichtigkeit' versteht.

108

WA 27,291,35 f. (Predigten des Jahres 1528 [2.8.]). 109 WA 27,291,33. 110 Vgl. Luther, Briefwechsel. 18 Bde. Weimar 1930-1985, hier: Bd. 5, 519,48-51 (Nr. 1670, an Hieronymus Weller: Juli [?] 1530): „Proinde si quando dixerit diabolus: noli bibere, tu sic fac i Iii respondeas: atqui ob earn causam maxime bibam, quod tu prohibes, atque adeo largius bibam. Sic semper contraria facienda sunt eorum, quae Satan vetat." i n WA40/1,372,3f. 1 2 1 WA 43,116,24 (Vorlesungen über 1. Mose 1535-45). 113 WA 40/11,556,11-14 (Praelectio in psalmum 45 1533). 114 WA 40/111,443,20 f. (In XV Psalmos graduum 1532 f. [1540]). 115 Vgl. WA 40/11,562,16-18: „Nihil igitur est hac superbia spirituali difficilius, quae est in Christo, atque utinam hanc superbiam perfecte discere et exercere possimus." 116 WA 40/11,562,18 f.

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Hierzu fügt sich, dass Luther im Zuge seiner völligen Neubesetzung des Begriffes .superbia' auch denjenigen der Arroganz radikal umwertet. Wir haben es hier mit der Umgestaltung eines ganzen Wortfeldes im Sinne der Lexik des Glaubens zu tun, die die Welt auf den Kopf stellt. Die Arroganz des Glaubens wird darin greifbar, dass sie sich den Triumph Christi über alle erdenklichen Verderbensmächte aneignet, ja anmaßt. „Ergo in hoc omnes incumbamus praecipue, ut Christum bene discamus cognoscere, ut arrogemus nobis cum omni superbia illum triumphum et maiestatem illam, quam habemus in Christo."117 Die falsche superbia rühmt sich der eigenen Werke, die rechte aber der Herrlichkeit des Herrn (vgl. IKor 1,31; 2Kor 10,17), der mit dem Glaubenden in einem kommunikativen Prozess des Tausches und Wechsels steht, in dem er die Sünde und den Tod der Menschen auf sich nimmt und ihnen im Gegenzuge seine Macht und seine gloria kommuniziert.118 Unterscheidet Luther für gewöhnlich zwischen certitudo, der Gewissheit des Glaubens, einerseits und der abzulehnenden securitas andererseits, so kann er bisweilen im Zuge der Umwertung der superbia auch im positiven Sinne von securitas sprechen. Was sich - so Luther - im Protokoll des Briefes des Paulus an Titus artikuliert ('PAulus ein Knecht Gottes / Aber ein Apostel Jhesu Christi / Nach dem Glauben der ausserweleten Gottes / vnd der erkentnis der Warheit zur Gottseligkeit / in der Hoffnung des ewigen Lebens / welches verheissen hat / der nicht leuget / Gott vor den zeiten der weit / Hat aber offenbaret zu seiner zeit / sein wort durch die predigt / die mir vertrawet ist / nach dem befelh Gottes vnsers Heilandes' [Tit 1,1-3]), ist geistliche „superbia", die der Reformator gleichsetzt mit „securitas confidentiae in Deum"119.

.Erhebet eure Häupter' oder: Die rectitudo des Glaubenden vor Gericht Die Reparatur der imago Dei vollzieht sich Luther zufolge, wie wir gesehen haben, im Prozess der Rechtfertigung allein aus Glauben. Darum handelt es sich auch bei der Wiederaufrichtung der imago Dei im Menschen um einen Prozess. Johann Olearius formuliert: „Die verlohrne Richtigkeit deß Göttlichen Ebenbildes wird nicht auf einmal wieder erlanget NB. 1. B. Mos. 1/27. Col 3/10. Ephes. 4/24. sondern successive NB. Hebr. 12/14. nach und nach."120 Demzufolge kommt die restauratio imaginis divinae erst im Eschaton, am Jüngsten

117 118

119

120

WA 40/Π,562,28-30. Vgl. WA 40/0,562,31-35: „Est enim in gloria dei superbiendum, non in stercoribus operum et meritorum nostrorum, Sed quod sponsus est omnipotens in Ecclesia, quae, quanquam onerata est variis malis, tarnen habet sponsum, qui in se recipit eius mala et communicat ei potenciam et gloriam suam." WA 48,305,5 (Präparationen zu der Vorlesung über den Titusbrief 1527). Vgl. WA 44,718,20 (Vorlesungen über 1. Mose 1535-45). Olearius (1679), S. 1040a.

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Tag zum Abschluss, 121 wenn die vom Tode Auferstandenen eingehen werden in die Herrlichkeit des himmlischen Jerusalem und es dort nicht nur zur Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht (IKor 13,12) kommen wird, sondern auch zur glorificatio, die nicht nur die Seele, sondern (nach Phil 3,21 122 ) auch den Leib des Menschen umfassen wird, in denen nun wie in Spiegeln die vollendete Herrlichkeit Gottes leuchten wird. Die Vollendung des göttlichen Ebenbildes im Menschen ist Teil der - wohlgemerkt orthodox verstandenen - άποκατάστασις πάντων: „Dies extremi judicii erit olim tempus αποκαταστάσεως πάντων, Actor. 3, v. 20." 123 Dies jedenfalls ist der zentrale Trost, der aus der Lehre von der Ebenbildlichkeit Gottes abzunehmen ist: Dass das Ende der Zeiten eine Wiederaufrichtung der verlorenen Aufrichtigkeit mit sich bringen wird. Olearius definiert die aus Koh 7,30 abzunehmende consolatio, indem er das Lexem A u f richtigkeit' als deutsches Äquivalent von ,rectitudo' verwendet: „Der Haupt= Trost / ist gleich die anerschaffene Aufrichtigkeit und Heiligkeit deß Göttlichen Ebenbildes durch Sünde verlohren v. 30. 1. Mos. 3. so werden wirs doch im ewigen Leben reichlich erstattet finden. 1. Cor. 15."124 Gelegenheit, sich im Sinne einer Vorschule in diese endgültige Spielart der Aufrichtigkeit einzuüben, bietet die eschatologische Zeit der zuende gehenden Zeit vielfältig, insbesondere angesichts der apokalyptischen Zeichen des herannahenden Endes der alten Schöpfung. Besonders intensiv traktiert Luther diese Thematik in seinen Predigten zum zweiten Advent über Lk 21,25ff. Die kosmischen Zeichen an den Himmelskörpern, die apokalyptische Drangsal und die Angst der Menschen bieten den Glaubenden Anlass dafür, die Situation glaubend umzukehren und in ihnen das Gegenteil dessen zu erblicken, was sie auf den ersten Blick zu bedeuten scheinen: ,Wenn aber dieses anfehet zu geschehen / So sehet auff / vnd hebet ewer Heubter auff / darumb / das sich ewer Erlösung nahet' (Lk 21,28). Die superbia des Glaubens konkretisiert sich in apokalyptischer Situation dergestalt, dass diejenigen Zeichen, die vernünftig betrachtet Grund genug sind, bange zu sein und zu verschmachten, nun umgekehrt die Menschen ihre Häupter erheben lassen, „quod est signum gaudii et leticiae, 121

Vgl. Hütter (1661), S. 72: „Potestne amissa imago Dei in homine repaiari? Humana natura, quae hoc malo perversa & tota corrupta est, aliter sanari non potest, nisi ut per Spiritum sanctum regeneretur & renovetur. Quod ipsum tarnen opus Spiritus Sancti, in hac vita tantummodo in nobis inchoatur: in altera verö demum absolvetur & perficietur." Vgl. Dieterich (o. J.), S. 369 f.: „Restaurator (seil, imago divina) fidelibus in hac vita inchoative, reparatione Christi, 2. Cor. 6, 17. & 1. Cor. 15, 49. & innovatione vitae per Spir. S. Eph 4, 23 Coloss. 3. v. 10. in futura autem vita perficietur consummative, Psalm. 17. v. 15. Philip. 3. v. 21. 2. Cor. 3. v. 18." Vgl. Gerhard (1863-1875). Bd. 2,141a: „[...] quodque amissum hoc bonum Christus in nobis reparare ineipit, in aeterna vita opus illud consummaturus." 122 Vgl. Gerhard (1863-1875). Bd. 9,361b. 123 Gerhard (1863-1875). Bd. 2, 141b. Vgl. Gerhard (1863-1875). Bd. 9, 356a: „Quemadmodum enim primitiae testimonium sunt secuturae messis, sie inchoata divinae imaginis reformatio evidens indicium est, plenam et perfectam renovationem secuturam in vita aeterna, quae propterea vocatur αποκαταστάσεως πάντων Act. 3, ν. 21. tunc enim bona per lapsum amissa, inter quae eminet divina imago, ad quam primi homines conditi erant, perfecte restituentur." i « Olearius (1679), S. 1040a.

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sicut submittere caput signum tristitiae"125. Diese Aufforderung zur Erhebung der Häupter ist mit Maximen der Vernunft in keiner Weise zu vereinbaren, sie ist auch keineswegs nur übervernünftig, sondern wie die Aufforderung, in den Endzeitzeichen das Herannahen des Sommers der nova creatio zu erblicken, schlichtweg „contra omnem rationem"126 - widervernünftig und widersinnig. Der hochmütige Glaube also hat im Hinblick auf die schrecklichen Zeichen eine radikal ungewöhnliche Lektüreperspektive und sieht in ihnen gegen den Augenschein Motivationen für den eschatologischen Affekt der Freude (vgl. Joh 16,20-24), welcher wiederum lesbar wird anhand der Körpersprache des Glaubenden, der erhobenen Hauptes sich bewegt, wo man sich vernünftigerweise nicht nur ducken, sondern verkriechen und zur Bewegungslosigkeit erstarren müsste. Dadurch, dass Christus verheißt, dass die apokalyptischen signa zugleich Anzeichen der nahenden Erlösung sind, „rieht er fidem auf' und kausiert somit die Erhebung der Häupter, mithin eine endzeitliche rectitudo. Indem Luther die Rede des Sohnes Gottes in Lk 21 amplifikatorisch entfaltet, formuliert er in direkter Rede: Sic mundus wenn sie die äugen verkeret und es gar anders wird, tunc .tollite capita', schreckt nicht da fur. ,Quia venit redemptio vestra.' Man solt ista verba mit gulden buchstaben yns hertz schreiben, Sie trösten alle, qui credunt vitam aeternam, quando videbitis, das das angehet, das die weit knacket, scheuslich anzusehen ist, tum vos non terreamini, sed last die schrecken, die es angeht [...] Quando igitur videbitis, das himel und erden krachen, item, das die leute bos sind und dass als wider den ström gehet, So seid frolich, nembt ein hertz, Auff wen? auff euch? Nein, auff mich, quia Ich wil komen, Es wird ein wenig schrecklich sein, quia sol ich sie würgen, so mus sie sauer sehen, die äugen verkern. Aber ich bin da, Erschreckt nicht, ir solt erloset werden. 127

Die endzeitliche Einübung in die Aufrichtigkeit des Glaubens streckt sich jedoch nicht nur der endgültigen Aufrichtung der imago Dei entgegen, sondern auch deijenigen der Vernunft. Luther zufolge hat die natürliche Vernunft ihren angestammten Ort, an dem sie ihre Urteilskraft entfalten kann, im Reich der Welt. In Glaubensdingen jedoch ist die ratio des Menschen nicht nur finster und unfähig, sondern dokumentiert ihre Sündhaftigkeit, indem sie gegen Gottes Gottheit rebelliert. Dies geht nicht nur damit einher, dass der natürliche Mensch seine eigene Kreatürlichkeit negiert und Desinteresse am Gnadenangebot Gottes zeigt, sondern zudem aktiv gegen das Gnadenlicht „wueted" und „tobett"128: Do hebet sich denn der streytt, da wueted die vornunfft widder die gnade und schreyett ubir der gnaden lieeht, gibt yhm schult, es vorpiete gutte werck, und will nit leyden, das furworffen werde yhr weyße und maß frum tzu werden, tobett ymer anhynn, man soll frum seyn und gott dienen, und muß alßo das gnadenliecht yhr narr seyn, ia yrthum und ketzerey seyn. 129

125 WA 126 WA 127 WA 128 WA 129 WA

17/1,481,26 f. (Predigten des Jahres 1525 [10.12.]). 37,207,29 (Predigten des Jahres 1533 [7.12.]). 36,382,11-22 (Predigten des Jahres 1532 [8.12.]). 10/1,1,205,22.25 (Kirchenpostille 1522). 10/1,1,205,22-206,1.

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Erst die absolute Blendung der sich selbst licht dünkenden Vernunft, d. h. deren Niederwerfung und Gefangennahme unter den Gehorsam Christi (2Kor 10,5) im Prozess der den Menschen seiner Sündhaftigkeit überfuhrenden Gesetzespredigt und der Offenbarung des Gnadenlichtes im Rahmen der Evangeliumsverkündigung setzen die Vernunft frei, eine erleuchtete, weil glaubende und somit ein „schön herrlich Instrument und Werkzeug Gottes" 130 zu werden. Ziel der göttlichen Offenbarung ist es mithin zuerst, „das wir müssen zu narren werden" 131 , die menschliche Vernunft also zunächst von Gott zum Narren gehalten werden muss, damit sie sodann der Narretei Gottes, die die wahre Weisheit ist (IKor 1,25), ansichtig und teilhaftig werden kann. Die Niederwerfung der Vernunft des natürlichen Menschen ist die Bedingung der Möglichkeit von deren Aufrichtung, die sich dadurch vollzieht, dass sie durch den Glauben erleuchtet und neu wird. Zentrale Bedeutung kommt hierbei der Heiligen Schrift zu, deren Predigt Glauben stiftet (Rom 10,17), das lumen gratiae vermittelt, die regenerate des gesamten Menschen, mithin auch der Vernunft, in Gang setzt und sich in der Wiederherstellung der imago Dei konkretisiert. Wie diese allerdings erst eschatologisch in der beata visio Dei (bzw. αυτοψία Dei 132 ) nach IKor 13,12 und lJoh 3,2 zu ihrer Vollendung gelangt, so sind auch die Erleuchtung und Neuwerdung der Vernunft noch Stückwerk, solange die endgültige Offenbarwerdung Gottes am Jüngsten Tage noch aussteht. Diese eschatologisch vollendete Vernunft hat Gerhard im Blick, wenn er von der „recta ratio" 133 spricht. Anhand von Lk 21 entfaltet Luther exemplarisch seine Hermeneutik der ,neuen Sprache'. Endzeitlich wird das Trivium (Rhetorik, Grammatik und Dialektik) neu begründet. Über Lk 21,25ff predigend, benennt Luther die unerhörte Grundaussage des Textes: Wenn das gesamte Weltgebäude ins Wanken gerät und ins Chaos fallt, dann ist dies in radikal kontrafaktischer Weise für den Glauben Anlass, die neue Schöpfung antizipiert zu sehen. Der Glaubende sieht im apokalyptischen Weltende das Aufblühen der neuen Welt, so wie in einem blühenden Feigenbaum bereits der Sommer antizipiert ist. Diese Logik des Glaubens, die mit der Weltweisheit völlig inkommensurabel ist, zieht eine neue Rhetorik und Dialektik nach sich: Denn wer hat jhe gehöret, das das heisse bewme ausschlahen und blühen, wenn Sonn und Mond jren schein verleuret, himel und erden krachet, die leute beben und zittern, lufft, wasser und alle Creatuin sich so stellen, als wolle es jtzt alles zu grund gehen? Heisst das anfahen zu grünen und Sommer werden, so ist es ein seltzame spräche und newe Grammatica, Ich meinete, es solt viel mehr heissen das widderspiel, einen rauhen, kalten, todten winter komen, der alle frucht und, was da wechst, verderbet, Aber Christus ist ein ander Meister, der anders von Sachen kan reden und besser trösten denn wir, Machet aus dem unfreundlichen anblick ein lieblich, tröstlich bild und eine schöne, köstliche interpretacio

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Luther, Tischreden. 6 Bde. Weimar 1912-1921, hier: Bd. 3,106,18 f. (Nr. 2938b); vgl. WA 39/1,175,22 f. WA 20,418,35 (27.5.). Gerhard (1863-1875). Bd. 9,357b. Gerhard (1863-1875). Bd. 9,360b.

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aus der Rhetorica und deutets so, Das, wenn ich sehe Sonn und Mond finster, wasser und wind brausen und beide, berg und tal, umbreissen, sol ich sagen: Des sey Gott gelobt, Es wil nu Sommer werden. 134

Der Glaube, der nach Luther untrennbar auf die Affekte bezogen ist, insofern er den Intellekt des Menschen affiziert, während er zugleich und umgekehrt die Affekte reflektiert, zeitigt eine Erhebung der Herzen in die Höhe, eine Fröhlichkeit und eine Sehnsucht nach der himmlischen Heimat, mithin eine Aufrichtigkeit, die sich der endgültigen Aufrichtung der imago Dei verdankt und ihren Grund darin hat, dass der Glaubende außer sich, eben extra seipsum, versetzt ist, da er in Christus eine neue Existenz hat, also mit den Füßen noch auf Erden, mit dem Kopf aber schon im Himmel ist: Das ist eine fröliche predigt und vermanung nicht alleine den Jüngern, sondern uns allen, wilche predigt die hertzen ynn die höhe hebt und frölich macht. Bis hieher hat man mit der helle und tod, mit fasten und beten, mit walfarten und anderm narrenwerck die köpffe nür nidder und zu boden geschlagen. Hie aber sagt Christus: seyt frölich, hebet euer heubter empor, schöpffet ein frölichs, tröstlichs gewissen, lauffi nicht ynn die Carthausen odder ynn die klöster, sondern richtet die gewissen auff, seyt wacker und keck, denn es nahet sich eure erlösung. Das sehet yhr ytzund fein, Gott hat uns aus lauter güete und gnade sein heiliges wort widder gegeben, das uns so frölich und muttig macht, das wir widderümb dürffen kecklich und auffgericht fur Christum komen, yhn ansehen und ansprechen, für welchem wir uns zuvor gefurcht haben und für ein gestrengen, ernsten Richter gehalten [...] Damit hat man also die köpffe niddergeschlagen, und sind ynn trefflicher grosser furcht für dem gerichte Gottes einher gegangen. Aber nu das Euangelion komen ist, da richten sich manche hertzen widderümb auff zu Christo. 135

Warum aber richten sich die Herzen endzeitlich wieder zu Christus auf? Weil sie in dem Sohn Gottes nicht mehr den Richter, sondern den einigen Mittler (lTim 2,5) erblicken dürfen. Das heißt aber noch lange nicht, dass Luther überhaupt kein Jüngstes Gericht kennt - im Gegenteil. Grund dafür, gleichwohl aufrecht vor dem Sohn Gottes erscheinen zu können, ist nach Luther die Gewissheit, dass dieser es ist, der anstelle der Menschen das Jüngste Gericht erlitten, den Zorn Gottes gespürt und die ewige Verdammnis in seinem Leiden getragen hat. Hieraus resultiert die Gewissheit, dass derjenige, der glaubt, um Jesu Christi willen nicht ins Gericht kommt, sondern vom ewigen Tod zum ewigen Leben hindurchgedrungen ist (vgl. Joh 5,24), weswegen er auch fröhlich, keck und heiteren Gemüts, mithin aufrecht vor Gott als dem Richter erscheinen kann. Darin besteht das zentrale Kriterium reformatorischer Theologie.

134 135

WA 34/11,480,14-26 (Predigten des Jahres 1531 [10.12.]). WA 21,25,15-27.31-34 (Winterpostille 1528).

Lutz Danneberg

Aufrichtigkeit und Verstellung im 17. Jahrhundert: dissimulatio, simulatio und Lügen als debitum morale und sociale

Zum Problem der Aufrichtigkeit Im Blick auf die Aufrichtigkeit als einer der traditionellen Verhaltenserwartungen ist im 17. Jahrhundert vieles in Wandlung begriffen. Erhöhte Aufmerksamkeit hat in diesem Zusammenhang die eloquentia corporis mit simulatio und dissimulatio in spezifischen sozialen Räumen menschlichen Umgangs - etwa höfischen Gesellschaften - gefunden. Zwei Werke sind es vor allem, die immer wieder die Erörterung von Unaufrichtigkeit und Verstellung im 17. Jahrhundert angestachelt haben: Niccolo Machiavellis (1469-1527) II Principe von 1532 und Baltasar Gracians (1601-1658) Oräculo manual y arte de prudencia von 1647. Machiavellis II Principe wird zweimal (1559 und 1564) auf den Index librorum prohibitorum gesetzt. Die Handlungsanweisung empfiehlt im Rahmen von virtii und fortunä (mit occasione, necessitä und qualita de' tempi) dem Fürsten explizit (wenn es die necessitä erfordere) Verstellung, Treuebruch und Heuchelei bei Glaube und Tugend sowie die Lüge überhaupt: Ein Herrscher braucht also all die [...] guten Eigenschaften nicht in Wirklichkeit zu besitzen; doch muss er sich den Anschein geben, als ob er sie besäße. Ja, ich wage zu behaupten, dass sie schädlich sind, wenn man sie besitzt und stets von ihnen Gebrauch macht, und dass sie nützlich sind, wenn man sich den Anschein gibt, sie zu besitzen. 1

Zu den einschlägigen Botschaften in Graciäns Aphorismensammlung gehört: „Man gelte nicht für einen Mann von Verstellung, obgleich sich's ohne solche heutzutage nicht leben lässt."2 Zwar hat die Klugheit („arte de prudencia") immer schon die Beherrschung der Affekte und die Beschränkung der fremden Zugänglichkeit zum eigenen Selbst geregelt, doch bei Graciän, der neben seiner Tätigkeit als Prediger und Beichtvater geraume Zeit als Professor für Moraltheologie, Philosophie und Bibelexegese wirkte,3 erfasst das letztlich jeden

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Machiavelli: Der Fürst. Π Principe [gedr. 1532]. Obersetzt von Rudolf Zorn. Stuttgart 1978. XVm, S. 73. Graciän: Handorakel und Kunst der Weltklugheit [1647]. Deutsch von Arthur Schopenhauer. Mit einer Einleitung von Karl Vossler. Stuttgart 1967. Nr. 219, S. 93. Zum jesuitischen Hintergrund u. a. C. Eguia Ruiz u. Miguel Batlori: La vida alternante de Baltasar Graciän en la Compafiia de Jesüs. In: Archivum Historicum Societatis Jesu 18 (1949), S. 1-84; Benito Pelegrin: Ethique et esthetique du Baroque. L'espace jesuitique de Baltasar Graciän. Arles 1985, insbes. S. 113 ff. 6

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Lutz Danneberg

Lebensbereich im Zuge der eigenen situationsangemessenen Anpassung (versatilitas) an eine als bedrohlich wahrgenommene Welt von Verstellungen und Täuschungen. Im Rahmen einer .pessimistischen Anthropologie', nach der Menschen hauptsächlich durch ihren Trieb zur Selbsterhaltung, aber wenig von Tugenden bestimmt sind, nach der sie „stets ihren bösen Neigungen folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben" 4 , und nach der deijenige, „der immer nur das Gute möchte" - selbst dabei „undankbar, wankelmütig, verlogen, heuchlerisch, ängstlich und raffgierig" 5 - , „zwangsläufig zugrunde gehen" werde, 6 beschränkt sich die Gewieftheit in der Kunst der Verstellung nicht mehr allein auf die höfische Gesellschaft mit ihren Hierarchien und längst wird sie nicht mehr bedient durch normierende Traktate zum Ideal eines tugendhaften und vollkommenen Hofmanns. Gleichwohl können im 17. wie im 18. Jahrhundert neben .Staatsräson', ein Konzept, das sich seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts ausbildet, sincerite und authenticite zu Schlagwörtern des Lebensgefuhls werden, etwa als ein unverstellter Rückgriff auf sich selbst oder als Verteidigung eigener Identität in einer sich verstellenden Welt. Die Linien laufen denn auch geraume Zeit parallel, nicht zuletzt mit dem Ideal eines Princeps christianus, der die Maßstäbe für die prudentia regnativa, die Regierungsklugheit, bietet. Vier Jahre vor Machiavellis II principe erscheint II Libro del Cortegiano Baidassare Castigliones (14781529), und es verleiht einem ganzen Genre seine Prägung. Nicht zuletzt ist es die Vorstellung, dass die ,Moral' zugleich die Ratgeberin der Herrschenden sein soll, welche die beiden für das Völkerrecht so bedeutsamen relectiones De Indis recenter invendis und De iure belli des Spaniers Franciscus de Vitoria (14861546) orientieren. Gemeinsam ist den Empfehlungen von Handlungsweisen, seien sie nun in den Augen der Zeitgenossen besonders moralisch oder unmoralisch, dass zunehmend mehr Wissen und Kompetenz erforderlich wird - bei denjenigen, die Empfehlungen vortragen, ebenso wie bei denjenigen, die sich bei ihrem Handeln danach richten wollen. Sicherlich ließe sich bei den bislang von der Forschung erörterten Aspekten noch einiges erkunden - etwa über die ethischen Probleme, die sich den Zeitgenossen angesichts des christlichen Verbots von Lüge und Verstellung im Zuge der Rezeption der genannten wie aber auch anderer Werke stellen. Mehr noch gilt das für die jeweiligen Begründungen der Erfordernisse von Verstellung und Lüge. So ist Machiavellis Ausspruch, er wende sich an Kenner und wolle daher keine ,Phantasiegebilde' vorsetzen, sondern sich an die wirkliche Wahrheit (ven i a effetuale della cosa) halten,7 immer wieder als Bekenntnis zu empirischer Nüchternheit und normativer Enthaltsamkeit verstanden worden. Aber die Forschung konnte in seinem Werk zugleich eine meisterhafte Handhabung politi4

5 6 7

So prägnant in Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung [1532], Übs., eingel. und erl. von Rudolf Zorn. Stuttgart 2 1977.1, 3, S. 17. Machiavelli (1978). XVÜ, S. 68 f. Machiavelli (1978). XV, S. 63. Dem „wirklichen Wesen der Dinge nachzugehen", sei zweckmäßiger als „deren Phantasiebild"; Machiavelli (1978). XV, S. 63.

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scher Täuschung, ausgerichtet an einer republikanischen Absicht seines Verfassers, vermuten. Selten nur hat man in seinen expliziten Ansprüchen auch Aufmerksamkeits- und Rechtfertigungstopoi zu sehen vermocht, kaum je seine vermeintlichen empirischen Verallgemeinerungen hinsichtlich des zu erwartenden unmoralischen Verhaltens der Menschen als normierende Festlegungen von Zweckmäßigkeiten gesehen - bei einem wahrscheinlich zu erwartenden Verstoß gegen moralische oder sittliche Gebote ist es keineswegs immer zweckmäßig, dem mit einem Normenverstoß zuvorzukommen oder bestimmte Normen nicht als geltend zu behandeln. Schließlich hat man wohl nur selten den kontrastiven Charakter der Normierungen Machiavellis wahrgenommen, die den Gepflogenheiten seiner Zeit längst nicht den Rücken kehren. Doch auch bei Graciän bleiben nicht wenige Fragen offen oder sind nur schwer zu beantworten. So beruht seine zentrale Handlungsanweisung auf einer doppelten kontrafaktischen Annahme: „Man wende die menschlichen Mittel an, als ob es keine göttlichen, und die göttlichen, als ob es keine menschlichen gäbe. Große Meisterregel, die keines Kommentars bedarf." 8 Bedauerlich ist, dass diese „Meisterregel", besser wohl ,Regel des Meisters', vom jesuite espagnol auch tatsächlich als einzige Regel in seinem Oräculo manual y arte de prudencia nicht kommentiert wird, wobei sie dem Regeltext nach die längste ist im Vergleich zur knappen Prägnanz aller anderen. Obwohl Ignatius von Loyola (1491-1556) eine parallele Formulierung bietet 9 und obwohl sie an kontrafaktische Imaginationen der Nichtexistenz Gottes, etwa in Hugo Grotius' (15831645) De Jure belli et pacis erinnert,10 ist diese regula de gran maestro alles andere als leicht zu deuten. Im Anschluss an einige der Probleme, die einem aufrichtig geführten Leben im 17. Jahrhundert erwachsen - ich kann das hier freilich nur anreißen - , werde ich mich auf wenige Momente konzentrieren: Zunächst deute ich an, welche neuen Schwierigkeiten bei der Erfüllung des Aufrichtigkeitsgebots mit der Konfessionalisierung entstehen. Dann erörtere ich eine wichtige, in der Zeit immer gegenwärtige Einschränkung der Reichweite des Lügeverbots auf der Grundlage der Unterscheidung von simulatio und dissimulatio. Im Anschluss daran 8 9

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Graciän (1967). Nr. 251, S. 106. Vgl. Louis Stinglhamber: B. Graciän et la Compagnie de Jesus. In: Hispanic Review 22 (1954), S. 195-207, hier S. 201: „En las cosas del servicio Nuestro Sefior, usaba de todos los medios humanos, como si dellos dependiera el buen suceso; y de tal manera confiaba en Dios, como si todos los medios humanos no fueran de algün efeto." Zur Beziehung Grecians zum Ordensbegründer Ignacio Elizalde: Baltasar Graciän u. Ignacio de Loyola. In: Manresa 52 (1980), S. 235-248. Zur Rolle solcher kontrafaktischer Imaginationen sowie zu diesem Beispiel Lutz Danneberg: Säkularisierung, epistemische Situation und Autorität. In: Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Hg. von dems. α a. Berlin u. New York 2002, S. 19-66, sowie ders.: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen. In: Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Exempel einer neuen Geistesgeschichte. Hg. von Lutz Raphael u. Heinz-Elmar Tenorth. München 2005 [im Druck]; sowie ders.: Kontrafaktische Imaginationen und Wissensentwicklung. In: Imagination und Innovation. Hg. von Toni Bernhart u. Philipp Mehne. Berlin 2005 [im Druck].

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stelle ich den besonderen christlichen Hintergrund der ausnahmslosen Geltung des Lügeverbots dar und verbinde das mit einer systematischen Darstellung des Sprechakts des Lügens. Grundlegend ist dabei das Argumentationsmuster, das die Uneingeschränkheit des Lügeverbots aus dem Verhältnis des Menschen zu Gott begründet. Dieses wird von Thomas von Aquin (1224/25-1274) nicht nur in subtiler Weise entfaltet, sondern er gilt lange Zeit auch bei dieser quaestio magna als die Autorität. Der Verzicht auf genau dieses Argumentationsmuster ist es, der bei den scheinbar geringfügigen Veränderungen in der Bestimmung des Lügens und in der Begründung des Lügeverbots bei Hugo Grotius seine radikale Abkehr von der traditionellen Auffassung beleuchtet. Freilich beseitigt seine - wenn man so will - ,Sozialisierung' der Lüge und die damit korrespondierende Vergesellschaftung der Aufrichtigkeit nicht alle Schwierigkeiten der traditionellen Auffassung, sie erzeugt vielmehr neue Probleme, die bis hin zu Kants vehementem Eintreten für ein striktes Lügeverbot virulent bleiben.

Aufrichtigkeit und Konfessionalismus Einen mitunter noch deutlicher sichtbaren Ausdruck der sich vollziehenden Wandlungen bei den Problemen von Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit im 17. Jahrhundert als in Machiavellis und Graciäns Verhaltenslehren bieten drei Konzepte, die bislang kaum näher gewürdigt, geschweige denn im Zusammenhang mit den sich verändernden Vorstellungen des Philosophierens und des Verstehens gesehen wurden: der (minus) probabilismus, die reservatio (restrictio) mentalis und die aequivocatio (locutio ambigua). Zumindest zwei der genannten Konzepte regten in der Zeit immer wieder den Verdacht, unter Beibehaltung des strikten Lügeverbots das ,Lügen' in nahezu uneingeschränkter Weise zu ermöglichen. Hinzukommt, dass ihre Erörterung besonders von katholischen, nicht zuletzt von jesuitischen Gelehrten gepflegt wurde. So sind die beiden ersten besonders umstrittenen - (minus) probabilismus und reservatio mentalis - geradezu sprichwörtlich für die Moralvorstellungen der Jesuiten geworden. Weniger die päpstlichen Verbote bestimmter rigoristischer wie laxistischer Formulierungen als vielmehr die ebenso brillante wie polemisch ungerechte Kritik in Blaise Pascals (1623-1662) Lettres Provincales haben zu diesem Stereotyp beigetragen - nach den Worten des Jesuiten Gabriel Daniel (1649-1728), gleichermaßen kritisch gegen Cartesianer wie Jansenisten, habe Pascals Werk den Jesuiten mehr Schaden zugefügt als alle Werke des Jansenisten Antoine Arnauld (1612-1694) zusammen.11 11

Vgl. [Gabriel Daniel]: Reponse aux lettres Provinciales de L. de Montalte on entretiens de Cleandre et D'Eudoxe. Amsterdam 1696, S. 13 ff.; „L. de Montalte" im Titel bezieht sich auf das Pseudonym Louis de Montalte, unter dem Pascal seine Lettres Provinciales veröffentlich hat; freilich scheint das Pseudonym schnell durchschaut worden zu sein. Zur Funktion dieser Pseudonymisierung Pierre Kuentz: Un discours nomme Montalte. In: Revue d'histoire litteraire de la France 71 (1971), S. 195-206. Jean Nicole (1625-1695) wiederum

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Pascals Unternehmen steht weitgehend im Dienst der Verteidigung eines jansenistischen ,Rigorismus' gegen einen jesuitischen ,Laxismus':12 In den Lettres V bis X richten sich seine Vorwürfe gegen die Morallosigkeit einer durch Verallgemeinerung spezieller Kasuslösungen entlarvten ,Moral der Jesuiten', die er letztlich an der Überzeugung von der unüberwindbaren Sündhaftigkeit der menschlichen Natur misst. Die Lettres wenden sich nicht allein gegen den Probabilismus {Lettres V und VI) sowie gegen die aequivocatio mit der restrictio mentalis {Lettre IX), sondern auch {Lettres VII und VIII) gegen die angebliche methodus dirigendae intentionis {diriger Γintention)™ - vulgo: gegen die These, der Zwecke heilige jedes Mittel. Doch in dieser Form dürfte eine solche uneingeschränkte Regel nie Vertreter gefunden haben, und nicht selten unterschlägt Pascal die immer beim Minus-Probabilismus erörterte Qualifikation als Ausnahmen, wenn etwa der äußerste Notfall gemeint ist {casus rarissimus).14 Im 17. und 18. Jahrhundert waren gleichwohl bestimmte Formen des moralischen Probabilismus ebenso wie Varianten der reservatio mentalis unter den Katholiken und im Orden selbst genauso heftig umstrittene wie komplexe Instrumente der Linderung von Problemen eines Lebens unter dem Gebot der Aufrichtigkeit. Ex post, dabei herausgelöst aus den konfessionellen Auseinandersetzungen und gesehen aus einer Welt, in der mehr denn je - wie es zeitgenössisch hieß ein Laxismus die Beziehungen zum Nächsten orientiert, können aequivocatio, reservatio mentalis wie probabilismus als Versuche erscheinen, nicht allein drängende Probleme des innerkirchlichen Lebens zu regulieren, sondern das mit

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übersetzt das Werk ins Lateinische, Litterae provinciates, unter dem Pseudonym „Guillelmus Wendrockius". Skizzenhaft zum theologischen Hintergrund Walter E. Rex: Pascal's Provincial Letters: An Introduction. London 1977; zu weiteren Aspekten Patricia Topliss: The Rhetoric of Pascal. Leicester 1966; Harald Weinrich: ,Parier avec verite, parier avec discretion ...'. In: Sprache im technischen Zeitalter 20 (1966), S. 320-326; Jürgen Grimm: Parier avec verite - Parier avec Discretion. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 79 (1979), S. 121153; Richard Parish: Pascal's Lettres provinciates·. Α Study in Polemic. Oxford 1989; ferner Thomas More Harrington: Verite et Methode dans les ,Pensees' de Pascal. Paris 1972; sowie Louis Marin: Secret, dissimulation et art de persuader chez Pascal. In: ders.: Pascal et Port Royal. Paris 1997, S. 92-116. Vgl. Pascal: Lettres Provinciales [1656/57]. In: ders.: (Euvres completes. I. Edition presentee, etablie et annotee par Michel Le Guem. Bd. I. Paris 1998, S. 579-816; Septieme lettre, S. 649: „Mais quand on n'est pas dans cette malheureuse disposition, alors nous essayons de mettre en pratique notre methode de diriger I 'intention, qui consiste ä se proposer pour fin de ses actions un ojet permis. Ce n'est pas qu'autant qu'il est en notre pouvoir nous ne detournions les hommes des choses defendues; mais, quand nous ne pouvons pas empecher Taction, nous purifions au moins l'intention; et ainsi nous corrigeons le vice du moyen par la purete de la fin." Hierzu u. a. Karl Weiss: P. Antonio de Escobar y Mendoza als Moraltheologe in Pascal's Beleuchtung und im Lichte der Wahrheit. Klagenfurt 1908; Augustin Gazier: Blaise Pascal et Antoine Escobar. Etude historique et critique. Paris 1912; Emile Baudin: Etudes historiques et critiques sur la philosophie de Pascal. ΠΙ: Sa critique de la casuistique et du probabilisme moral. Neuchätel 1947; Malcolm Hay: The Prejudices of Pascal: Concerning in Particular The Jesuit Order and The Jewish People. London 1962; resümierend Albert R. Jonson u. Stephen Toulmin: The Abuse of Casuistry. A History of Moral Reasoning. Berkeley, Los Angeles u. London 1988, S. 231-249.

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den Gegebenheiten und Umständen des sozialen Zusammenlebens konfrontierte Handeln im Blick auf das eigene Gewissen zu entlasten. Das herkömmliche und erlaubte Mittel, um etwa indiskreten Fragen zu entgehen, war das Schweigen15 als Mittel nur in wenigen Konstellationen effektiv (.beredtes Schweigen'), so dass nicht mehr als Gottvertrauen blieb. Allein angesichts der Gerichtspraxis im Zuge der Strafverfolgung, bei der ein Recht der Zeugnisverweigerung selbst für den Angeklagten noch unbekannt war und man zur Offenlegung anvertrauter Angelegenheiten (etwa im Fall des Beichtgeheimnisses bei den Katholiken) gewaltsam gezwungen werden konnte, lassen sich solche Auflockerungen auch im Zusammenhang mit der Abwehr absolutistischer Willkür wie im Rahmen der sich ausbildenden Rechtskultur deuten. Mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts konnte für jeden Christen der Versuch, ein aufrichtiges Lebens zu führen, in besonderer Weise zur Herausforderung an das eigene Gewissen werden. Aus dem konfessionellen Widerstreit entsteht eine Vielfalt zu regelnder Probleme des religiösen Zusammenlebens, die der alten Kirche faktisch unbekannt waren und zu deren Lösung komplizierte Vorgänge der Verrechtlichung religiös motivierter, aber nach dem Kirchenrecht nicht regulierbarer Auseinandersetzungen erforderlich werden. Ein erhellendes Beispiel für die neu entstehenden Konfliktsituationen bietet die Erörterung eines Widerstandsrechts mit dem Versuch, die theologischen Konflikte in Rechtsbeziehung, das theologische Problem in einen Rechtsfall und die vom einzelnen Gläubigen wahrgenommene causa religionis in eine causa iuris zu verwandeln. Nur erwähnt sei, dass es vor Thomas Hobbes (1588-1679) bereits Vorstellungen vom (politischen) Konsens bei Theoretikern des politischen Friedens gegeben hat, der unabhängig vom Ziel der Wahrheit aufgefasst wird, und entsprechende Handlungsnormen, denen zufolge Widerstand nur dann erlaubt ist, wenn man explizit auf die sicher nachweisliche Unwahrheit verpflichtet wird. Im Zuge der nachreformatorischen Entwicklung bilden sich konfessionell dominierte, aber multikonfessionelle Territorien und mit ihnen das Problem der äußeren Befolgung der alten (oder neuen) Zeremonien, die man innerlich ablehnt - also der religiösen dissimulatio/simulatio oder des Nikodemismus. 16 15

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Vgl. Augustinus: Contra Mendacium ad Consentium [422]. Paris 1887a, Sp. 517-548, hier 10, 23, Sp. 533. Das zweite Mittel ist nach Augustinus das direkte Bekunden, nichts sagen zu wollen. Nach Thomas von Aquin: Summa Theologica [1266-73]. Editio [...] Josepho Pecci [...]. Editio Tertia. Roma 1925. II-II, q 69, a 1, S. 346 könne man im Fall der Befragung in einer ungesetzlichen Situation (non secundum ordinem legis) die Antwort verweigern oder sich der Beantwortung in anderer Art und Weise entziehen („aliter licite subterfugere"), aber nicht durch Lügen. Hierzu neben Arbeiten von Delio Cantomori - ζ. B. ders.: Submission and Conformity. .Nicodemism' and the Expectations of a Conciliar Solution to the Religious Question. In: The Late Italian Renaissance 1525-1630. Hg. von Eric Cochrane. London 1970, S. 244-265 - vor allem Carlo Ginzburg: II Nicodemismo. Turino 1970, der hierin allerdings eher eine allgemeine (theoretische) Bewegung sieht als nur situative Anpassungen; kritisch hierzu und materialreich Albano Biondi: La giustificazione della simulazione nel Cinqucento. In: Eresia e Rifoima nell'Italia del Cinquecento. Miscellanea I. Hg. von dems. u. a Firenze u. Chicago 1974, S. 7-68. Als allgemeines Problem verschiedener Arten religiöser wie anderer Verstellung in der Frühen Neuzeit tritt das Thema erst in Erscheinung bei Perez Zago-

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Trotz der allseits grundsätzlich geteilten Ansicht, dass sich der Glaube nicht erzwingen lasse, wird im Laufe des 16. Jahrhunderts der Konfessionseid auf allen konfessionellen Seiten obligatorisch. So sind zwar auch die Reformatoren, die ,Entdecker des Gewissens', die oftmals als Vertreter einer ,Gewissensreligion' gesehen werden, mit der Berufung auf die Freiheit des Gewissens gegenüber der alten Kirche schnell bei der Hand, haben aber angesichts der Auseinandersetzung mit den .Schwärmern' und .Enthusiasten' immer wieder das ,richtige' Gewissen der anderen zu reglementieren versucht. 17 Ebenso wenig wie ein persönliches Gewissen zur Begründung der Freiheit der religiösen Betätigung in der Zeit dienen konnte, führte die Berufung auf das Gewissen zur Duldung Andersgläubiger. Die protestantischen Bekenntnisschriften verbinden durchweg das Gewissen eng mit dem Wort Gottes (cum Deo et bona conscientia) - von den Kritikern immer wieder als Weg zum Buchstabenglauben gesehen, der das freie Walten des Geistes behindere. Es sind dann die so genannten,.Schwärmer", die ,falschen Propheten", „pseudoprophetae", „fanatici" oder enthusiasmi - etwa Sebastian Franck (1499-1542), Thomas Müntzer (ca. 1490-1525), Caspar von Schwenckfeld (1489-1561) oder Andreas Bodenstein von Karlstadt (ca. 1477-1541) die meinten, dass „die himmlische Stimme allein zu ihnen spreche." 18 Angesichts solcher Konflikte hat denn auch das Postulat der freien Zugänglichkeit zur Heiligen Schrift massive Regulierung erfahren. Bei der Interpretation des göttlichen Wortes dürfe niemand meinen, sein eigener .Meister' zu sein, denn Gott habe den Geist nicht an die Buchstaben, sondern an die Vorgesetzten mit ihren Diensten und Ämtern gebunden - so Martin Luther (1483-1546).19 Wie Jean Calvin (1509-1564) bemerkt, sei die Heilige Schrift nicht jedem geschenkt, damit er in ihr lese, sondern es sei ein rechtmäßiges Amt - police — von Gott eingesetzt worden, so dass immer Lehrer zur Unterweisung da seien. 20 Die direkte Begegnung mit der Heiligen

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rin: Ways of Lying: Dissimulation, Persecution, and Conformity in Early Modem Europe. Cambridge u. London 1990, der mit Recht seine Darstellung unabhängig von der Reformation mit den spanischen Marranos anheben lässt. Vgl. u. a. Gunther Wenz: Sine vi, sed verhol Toleranz und Intoleranz im Umkreis der Wittenberger Reformation. In: Kerygma und Dogma 41 (1995), S. 136-157; Marc Lienhard: Les autorites politiques et les dissidents d'apres Luther. In: Aequitas, Aequalitas, Auctoritas. Raison theorique et ligitimation de l'autoriti dans le XVF siecle europeen. Hg. von Daniele Letocha. Paris 1992, S. 57-67; sowie ders.: Die Grenzen der Toleranz: Martin Luther und die Dissidenten seiner Zeit. In: Außenseiter zwischen Mittelalter und Neuzeit. Hg. von Norbert Fischer. Leiden 1997, S. 127-134. Vgl. Martin Luther: Wes sich Doctor Andreas Bodenstein von Karlstadt mit Doctor Martino Luther beredt zu Jena [1524]. In: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 15. Weimar 1899, S. 323-347, hier S. 335. Vgl. Martin Luther: Operationes in Psalmos [1519-21]. In: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 5. Weimar 1892, S. 579: „Spiritum enim legis posuit deus non in literas in papyro positas, in quas haeretici confidunt, sed in homines officcis et ministeriis prepositos, ut ex illorum ore reuiratur. Alioquin quid facilius diabolo quam seducere eum, qui suus Magister esse nititur in Scripturis reiecto hominis ministerio? Unum verbum male intellectum in tota Scriptura confusionem facere potest." Calvin: Quatre Sermons [...] traictans de matieres fort utiles pour nostre temps [1552]. In: ders.: Opera quae supersunt omnia [...]. Bd. IX. Brunsvigae 1870, Sp. 369-452, hier Sp. 412 f.

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Schrift bleibt zwar das Prinzip, an dem sich das Autostereotyp der Protestanten gegenüber dem posttridentinischen Katholizismus fortwährend zu bestätigen vermochte, doch die Praxis sieht vielfaltige Kanalisierung dieses Zugangs vor.21 Die beiden lutherischen Katechismen sind nur besonders augenfällige Beispiele einer komplexen Praxis der Regulierung und Filterung. Solche Aufbereitungen der Heiligen Schrift sind freilich nicht allein für die Heranwachsenden erwünscht, sondern überhaupt für die ,Laien': „Der catechismus ist der leien biblia, darin der gantze inhalt schriftlicher lehre, so einem iden christen tzur Seligkeit tzu wissen notig, begrieffen."22 Mit Blick auf die gesteuerte Form der Zugänglichkeit zur Heiligen Schrift dürfte eine kaum weniger wichtige Rolle bei der Formung des Erwartungshorizonts, mit dem man an die Bibel tritt, die Förderung des Schulwesens und der damit einhergehenden Disziplinierung der Wahrnehmungsweisen gespielt haben.23 Die Auseinandersetzungen mit den .Schwärmern' und anderen Streitparteien bietet denn auch den Hintergrund dafür, dass der interpretatorische Zugang zur Heiligen Schrift lehr- und lernbar wird. Calvin wählt für das Problem den (sprichwörtlichen) Vergleich, dass man sich ansonsten so verhalte, als könne man ohne Flügel fliegen.24 Sola scriptura umschreibt das Beweiskonzept und das Ideal des Zugangs zum Glauben samt der relevanten Wissensansprüche, nicht aber die Bedingungen und Voraussetzungen des Vollzugs - im Leben wie im Beweisen.

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Vgl. Richard Gawthorp u. Gerald Strauss: Protestantism and Literary in Early Modern Germany. In: Past and Present 104 (1986), S. 31-55, insbes. S. 35 ff., dort u. a. S. 39: „Once public education had been firmly set in the track of catechization, with the catechism established as the single source of religious knowledge, authorities no longer feared the spread of false ideas. In an approved Lutheran catechism one could not find a false idea. This was certainly not true of the Bible, and it was always from the Bible that deluded spirits in recent experience had drawn their destructive notions." Vgl. auch Gerald Strauss: Luther's House of Learning. Indoctrination of the Young in the German Reformation. Baltimore 1978, Kap 8. Martin Luther: Tischreden. 5. Bd. Weimar 1919. Nr. 6288, S. 581. An Kurfürst Johann schreibt Luther 1530: , 3 s wachset jetzt daher die zart Jugend von Knäblin und Maidlin, mit dem Catechismo und Schrift so wohl zugericht, dass mir's in meinem Herzen sanft tut [...]"; vgl. ders.: Briefwechsel [1529-30]. In: ders.: Werke [...]. Bd. 5. Weimar 1934. Nr. 1572, S. 325 f. Hierzu, wenn auch nicht in allen Punkten unumstritten, Strauss (1978); feiner u. a. James M. Kittelson: Successes and Failures in the German Reformation. In: Archiv für Reformationsgeschichte 73 (1982), S. 153-175; sowie ders.: Visitations and Popular Religious Culture: Further Reports From Strasbourg. In: Pietas et Societas. New Trends in Reformation Social History. Hg. von Philip N. Bepp u. Kyle C. Sessions. Kirksville 1985, S. 89101; Scott H. Hendrix: Luther's Impact on the Sixteenth Century. In: Sixteenth Century Journal 16 (1985), S. 3-14; ferner G. Strauss: The Reformation and Its Public in an Age of Orthodoxy. In: R. Po-chia Hsia (Hg.): The German People and the Reformation. Ithaca u. London 1988, S. 194-214; sowie ders.: Lutheranism and Literarcy: A Reassessment. In: Religion and Society in Early Modern Europe 1500-1800. Hg. von Kaspar von Greyerz. London 1984, S. 109-123. Vgl. Calvin (1987), Sp. 412f.; vgl. auch Melanchthon: Briefe. In: ders.: Opera Quae Supersunt Omnia [...]. Bd. I. Halis Saxonum 1834, Sp. 704: „Illis sine pennis volaturi sibi videntur."

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Von hier aus ergibt sich ein erster Rückverweis. Obwohl Thomas von Aquin so betont und konsequent wie kein anderer vor ihm das Befolgen des eigenen Gewissens selbst dann zur zentralen Norm erhebt, wenn es (unfreiwillig) irrt (iconscientia errans), hält er bei hartnäckigen Häretikern die Todesstrafe für zulässig, ja erforderlich. Häretiker, wenn sie hartnäckig an ihren irrigen Meinungen festhalten, begehen Thomas zufolge eine Sünde. Diese Sünde verdient, nicht allein durch Exkommunikation geahndet, sondern auch durch den Tod der Sünder von der Welt separiert zu werden.25 Eine solche Argumentation ist bei allen Konfessionen seit dem 16. Jahrhundert verbreitet. Der entscheidende Punkt ist nicht der Widerstreit, in dem sich der Häretiker zu anderen Auffassungen setzt, sondern seine Hartnäckigkeit: Trotz (mehrfacher) Belehrung über seinen Irrtum hält er an ihm fest. Frei sei das Gewissen (allein) bei der Zuwendung zum Glauben. Heiden oder Juden („gentiles et Judaei") dürften daher auch nicht zum Glauben gezwungen werden.26 Hat man jedoch einmal den (christlichen) Glauben (freiwillig) angenommen, so habe man ein Versprechen abgegeben. Es ist das Brechen dieses Versprechens, das (gegebenenfalls) zu bestrafen sei.27 Die Stelle, in der sich im Neuen Testament die bildliche Rede findet vom .Weizen' und dem ,Unkraut', das zugleich wächst, bei dem der Herr aber sagt: f a s set beides miteinander wachsen bis zur Ernte' („Sinite utraque crescere usque ad messem"; Mt 13, 30), bedeutet nach Thomas keine grundsätzliche Aussage zur Behandlung der ,Ketzer': Der Herr spreche an dieser Stelle nur von den problematischen Fällen', bei deren Tilgung auch der ,Weizen' zu Schaden komme, denn zuvor heißt es (in den Worten Luthers): „Er sprach / Nein /Auff das jr nicht zu gleich den Weitzen mit ausreuffet / so jr das Vnkraut ausgettet."

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Vgl. Thomas von Aquin (1925). II-II, q XI, a 3, S. 78: „Multo enim gravius est corrumpere fidem, per quam est animae vita, quam falsare pecuniam, per quam temporali viteae subvenitur. Unde si falsari pecuniae vel alii malefactores statim per seculares principes juste morti traduntur, multo magis haeretici statim, ex quo de haeresi convincuntur, possunt non solum excommunicari, sed et juste occidi. Ex parte autem Ecclesiae est misericordia ad errantium conversionem; et ideo non statim condemnat, sed post primam et secundam correptionem, ut Apostolus docet; postmodum vero si adhuc pertinax inveniatur, Ecclesia de ejus conversione non sperans, aliorum saluti providet, eum ab Ecclesiae seperando per excommunicationis sententiam; et ulterius relinquit eum judicio seculari a mundo exterminandum per mortem." Das ist nicht unumstritten gewesen, zumindest nicht nach dem scharfsinnigen Versuch des Duns Scotus (bis 1308) dafür zu argumentieren, dass Gott ein größeres Recht auf Kinder besäße als deren Eltern und von daher auch die gewaltsame Taufe von (jüdischen) Kindern zulässig sei, hierzu u. a. Ulrich Horst u. Barbara Faes de Mottoni: Die Zwangstaufe jüdischer Kinder im Urteil scholastischer Theologen. In: Münchner Theologische Zeitschrift 40 (1989), S. 177-189. Vgl. Thomas von Aquin (1925). II-II, q 10, a 8, S. 69 f.; dort heißt es: „Alii vero sunt infideles qui quandoque fidem susceperunt, et eam profitentur, sicut hareetici, et quicumque apostatae; et atles sunt etiam corporaliter compellendi, ut impleant quod promiserunt, et teneant quod semel susceperunt." ,Häretiker' sind diejenigen, die noch mehr oder weniger große Teile des christlichen Glaubens teilen; ,Apostaten' solche, die sich ganz vom Christentum abgewendet haben, sich also nicht mehr zum Christentum (anders als die Häretiker) bekennen; dem enstpricht freilich nicht das Tempus von „profitentur", falls es sich sowohl auf die Häretiker als auch auf die Apostaten beziehen soll.

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In den anderen Fällen hingegen gelte das ,Ausreißen' des .Unkrauts' bereits hier und heute; 28 denn nach dieser Deutung ist die Nachsicht zeitlich begrenzt {usque ad tempus). Freilich gab es daneben zumindest Spuren einer anderen Tradition, die sich ebenfalls auf die Heilige Schrift berufen konnte, nämlich im Anschluss an 1 Kor 11, 19 auf den paulinischen Grundsatz Oportet et hareses esse. Der Apostel schreibt aus Ephesos, dass er von ,Spaltungen' (σχίσματα) gehört habe und er fahrt fort - in Luthers Übersetzung: „Denn es müssen Rotten unter euch seyn, auf dass die, so rechtschaffen sind [die Bewährten, ο!' δόκιμοι, προβατι], offenbar unter euch werden." In der lateinischen Vulgata steht sectae; in der griechischen αιρέσεις. 29 In Titius 3, 10 wird gesagt, man solle einen „ketzerischen Menschen meiden, wenn er einmal und abermal ermahnt ist". Hiernach ist der ,Ketzer' nur zu ermahnen und soll, so er hartnäckig ist, nur gemieden werden. Spätestens mit der auf Augustinus zurückgehenden Deutung dieses Diktums ließ sich der ,Streit' positiv auffassen: Aber die auf dem rechten Wege Fortschreitenden haben Nutzen [in usum cedunt] davon [seil, von den Häretikern], nach dem Wort des Apostels [...]. Denn vieles, was zum katholischen Glauben gehört und was der hitzige und ruhelose Geist der Ketzer anficht, wird in ihrer Abwehr sorgfaltiger erwogen [considerantur diligentius], klarer erkannt [intelleguntur clarius] und nachdrücklicher verkündet [instantius praedicantur], so dass das Aufrühren einer Streitfrage durch den Gegner Anlaß zum Lernen gibt.30 In den Auseinandersetzungen mit den Häretikern vermochte man die Providentia Dei zu erkennen und eine anhaltende Herausforderung zu sehen, die zu positiven Konsequenzen für das Wissen für den eigenen Glauben führt. 31 Und man konnte sie sogar so auffassen, dass sich dabei ein tieferes Verständnis der Heiligen Schrift bildet 32 und in diese Nachsicht und Duldung („tolerantia") auch die Heuchler („hypocritis") einschließen. 33 28

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Vgl. Thomas (1925). II-II, q 11, a 3, ad tertium (S. 78): „Si tarnen totaliter eridicentur per morten haretici, non est etiam contra mandatum Domini; quod est in eo casu intelligendum, quando non possunt extirpari zizania sine extirpatione tritici, [...]." Haereticus ist als Lehnwort von αιρετικός, gebildet aus dem Verb αίρεομαι (auswählen). Die so bezeichneten Häretiker machen oder akzeptieren nur eine Auswahl (αίρεσις) aus einem Ganzen, das sie als das Ganze ansehen, welches den Glauben betrifft. Vgl. auch H. Petre: Haresis, schisma et leur synonymes latins. In: Revue des etudes latines 15 (1937), S. 316-325. Augustinus: Vom Gottesstaat [De civitate Dei, 413-26], Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen. München 21985. XVI, 2, S. 279. Hierzu mit viel Material Herbert Grundmann: Oportet et hareses esse. Das Problem der Ketzerei im Spiegel der mittelalterlichen Bibelexegese. In: Archiv fur Kulturgeschichte 45 (1963), S. 129-164. Vgl. Augustinus: Enarrationes inPsalmos [392-420]. In: ders.: Opera omnia [...J.Paris 1841, Sp. 67-1028, hier 67, 39, S. 896 f.: „Multi enim sensus scripturarum sanetarum latent, et paucis intellegentioribus noti sunt; nec asseruntur commodius et aeeeptabilius, nisi cum respondendi haereticis cura compellit [...] quam multi scripturarum sanetarum sensus de Christo Deo asserti sunt contra Photinum! Quam multi de homine Christo contra Manichaeum!"

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Auch wenn die ,Häresie' im christlichen Verständnis in den Augen einiger eine wichtige Rolle spielen konnte, bedeutete das freilich nie, dass der einzelne Häretiker, der unnachsichtig verfolgt werden konnte, davon profitiert hat. Die Diskrepanz zwischen der Forderang, seinem, wenn auch unbemerkt, irrenden Gewissen zu folgen, und der Bestrafung des individuellen Glaubensirrtums dürfte sich daraus erklären, dass in solchen Fällen das Gewissen als nicht mehr unfreiwillig irrend angesehen wird: Es erscheint als das hartnäckige Verharren in einer direkten freiwilligen Unwissenheit (ignorantia voluntaria directe), als ein böswilliges Leugnen der Wahrheit - der Häretiker wird durch seine Hartnäckigkeit zum Lügner. Zur Begründung der Todesstrafe zieht Thomas eine Analogie mit dem Falschmünzer, die es ihm ermöglicht, einen Schluss de minore ad majus zu ziehen: Da die Falschmünzerei wesentlich weniger sündhaft sei als die Häresie und die weltliche Obrigkeit solche Straftaten rechtens mit dem Tode bedrohe, könnten Häretiker mit noch größerem Recht hingerichtet werden.34 Allgemein formuliert verbirgt sich dahinter das Problem, dass ein Falschreden (falsiloquium) nicht eine Lüge sein muss, aber sein kann, und dass ein offenkundiges Falschreden, das augenscheinlich den gewissesten Wahrheiten widerstreitet, ein sicheres Indiz für den Verdacht zu sein scheint, dass der Irrtum in Wirklichkeit eine Lüge ist. Das Problem liegt mithin nicht allein (und auch nicht zunächst) darin, worin eine Lüge besteht, sondern darin, wie man eine (sprachliche) Handlung als Lüge, als Täuschung oder Unaufrichtigkeit erkennen kann. Im theologischen Bereich verschiebt sich der Vorwurf des Lügens denn auch schnell von der Beziehung zur subjektiven' Absicht des Handelnden (intentio fallendi) in eine ,objektive' Relation zum richtigen Wissen mit der Folge des tendenziellen Ausschlusses der Möglichkeit des (schuldlosen) Irrtums: Es werden Wissens- oder Glaubenskonstellationen imaginiert, nach denen das Verfehlen des richtigen Wissens oder des richtigen Glaubens allein eine Deutung des absichtlichen Irrtums, der Lüge, zulässt. Jeder beispielsweise, der nicht einsieht, dass er eine religiöse Scheinexistenz als sündiger Mensch führt, heuchelt oder lügt: Weder mit dem Hinweis auf die Verderbtheit der eigenen Natur35 noch mit Unwissenheit, Irrtum oder Unbedachtsamkeit könne sich der Mensch ent-

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So Anselm von Havelberg (vor 1158), hierzu Winfried Eberhard: Ansätze zur Bewältigung ideologischer Pluralität im 12. Jahrhundert. Pierre Abelard u. Anselm von Havelberg. In: Historisches Jahrbuch 105 (1985), S. 368-387. Mir ist allerdings kein weiteres Beispiel hierfür bekannt Vgl. Thomas von Aquin: Scriptum super libros Sententiarum [1252-56]. In: ders.: Opera Omnia. Bd. X. Paris 1873. IV, d 13, q 2, a 3, solutio, S. 330: „[...] unde magis possunt puniri isti quam illi qui sunt rei criminis laesae majestatis, et illi qui falsam monteum cudunt." - Augustinus, der auch für Thomas zu den immer zu beachtenden Autoritäten zählt, ist in seinen Ansichten zur Frage der Gewaltanwendung gegenüber Häretikern nicht konstant, so dass man sich immer auch auf Augustinus berufen konnte; vgl. Emilien Lamirande: coercitio. In: Augustinus-Lexikon. Bd. I. Hg. von Cornelius Mayer. Basel 1986, Sp. 1038-1046. Vgl. Calvin: Commentarius in librum Psalmorum [1557]. In: ders.: Opera quae supersunt omnis [...]. Bd. XXXI. Brunsvigae 1887. Ps 51, 7, Sp. 513: „[...] neque tarnen de naturae suae corruptione loquitur, sicut hypocritae hoc velum obtendere solent ad tegendam suam culpam."

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schuldigen.36 Sowohl Luther als auch Calvin kennen ein solches Verfehlen des Glaubens an den wahren Gott als Lüge. Luther kann das nicht nur den Juden vorwerfen, so in Von den Juden und ihren Lügen·, er kann auch zu den Schweizern' hinsichtlich ihrer Auffassung von der Abendmahlslehre sagen: Sie lügten, denn sie würden das Wort nicht vom redenden Gott her definieren, sondern vom empfangenden Menschen.37 Auf diese Weise wird jeder Widerstreit per se zum Streit zwischen Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit, und das eigene Gewissen wird dann zum Garanten der Erkennens, wo die Aufrichtigkeit liegt. Die Entlastung vom strikten Lügeverbot durch reservatio mentalis, aequivocatio, aber auch probabilismus nicht zuletzt bei dem in vielfaltiger Weise bedrängten ,Gewissen', geschieht (vereinfacht gesagt), indem man einerseits zwar die Striktheit des Verbots beizubehalten versucht. Andererseits wurden jedoch die Handlungen, die in bestimmten Konstellationen für Unaufrichtigkeit anfallig sind, und damit das handlungsleitende Gewissen im Zuge ihrer Analyse immer komplexer. Auf diese Weise erschwert sich die Identifikation eines Sprechakts als Lüge. Kurzum: Aufgegeben ist, eine Rede gegen die intentio auctoris und damit richtig zu ,verstehen'. Am Ende des Jahrhunderts erscheint die Situation als so komplex, dass man um ihrer Lösung willen bereit ist, das wesentliche Lehrstück sowohl der hermeneutica generalis als auch der hermeneutica sacra, das vom kontroverstheologischen Dissens nicht betroffen war, aufzugeben, freilich zunächst nur für die allgemeine Hermeneutik: die interpretatio authentica als die sicherste Form der Interpretation überhaupt.38 Ausgangspunkt des Interesses an Versuchen, die Striktheit des Lügeverbots in der einen oder anderen Weise einzuschränken, sind Ähnlichkeiten mit gleichzeitigen philosophischen Vorstellungen der Erzeugung und Darstellung von Wissensansprüchen in Verbindung mit dem hermeneutischen Aspekt der Erfolgsaussichten der Unaufrichtigkeit: Das Falschsagen wird zwar erst durch die es begleitende Täuschungsabsicht (intentio fallendi) zu einer im menschlichen Verkehr moralisch verwerflichen Lüge, aber der Erfolg des lügenden Sprechaktes erfüllt sich erst im Zuge des Verstehens der entsprechenden Äußerung, und das heißt dann auch, dass dieser Erfolg davon abhängt, inwieweit es nicht gelingt, die betreffende Äußerung contra intentionem mit Blick auf den Äußernden (richtig) zu verstehen oder ,zu durchschauen'. Aus hermeneutischer Perspektive, freilich nur aus ihr, verringern sich (zunächst) die Unterschiede zwischen uneigentlichem - metaphorischem, allegorischem, ironischem oder verhüllen36

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Vgl. Calvin (1887). Ps 38, 6, Sp. 388: „[...] hypocritae [...] excusent dimidia ex parte ignorantiae [...] vel errore et incogitantia [...]." Vgl. Martin Luther: Tischreden. Bd. 3. Weimar 1914. Nr. 3868, S. 670: „Et ita mentiuuntur et definiunt verbum non secundum dicentem Deum, sed secundum recipientem hominem, et tarnen hoc volunt esse verbum Die, quod sit verbum fructificans, afferens pacem et vitam, sed quia in impiis non operator, non sit verbum Dei." Zu dieser Entwicklung unter dem Aspekt der Ausbildung von Maximen des Besserverstehens, die die interpretatio authentica verdrängen: Lutz Danneberg: Besserverstehen. Zur Analyse und Entstehung einer hermeneutischen Maxime. In: Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Hg. von Fotis Jannidis u. a. Berlin u. New York 2003, S. 644-711.

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dem - Sprechen und dem Lügen. In allen Fällen sind hermeneutische Operationen erforderlich: eine veränderte Bestimmung des Status einer Rede (eines Textes), ein Bedeutungsübergang oder beides. Die übergreifende Ähnlichkeit liegt in dem beiden gemeinsamen Problem der Zugänglichkeit: zu einem Wissen, wie es sich im Rahmen der im 17. Jahrhundert sich ausbildenden Vorstellungen der Wissenserzeugung und des Wissenserwerbs konfiguriert, wie zu den für die Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit ausschlaggebenden Intentionen der Akteure. Grob angedeutet verläuft die Entwicklung im 17. Jahrhundert so: Zunächst geht es um das Sichtbarmachen oder Sichtbarhalten von etwas, dann um das Erkennen eines Äußeren bei verborgenem Inneren, schließlich um den (partiellen) Verzicht, das Verborgene zu erkennen, indem man seine Existenz zwar nicht bestreitet, aber sein Erkennen für bestimmte zwischenmenschliche Vollzüge entbehrlich wird. Die Frage nach der Zugänglichkeit des Wissens wie nach der der Intentionen zielt dabei auf ein einziges Problem: das Vertrauen in das menschliche Zeugnis. 39 Im Weiteren will ich mich auf drei Momente konzentrieren. Ohne die ausnahmslose Geltung des Lügeverbots und seinen christlichen Hintergrund bleibt die Erörterung von Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit im 17. wie im 18. Jahrhundert in ihrer Heftigkeit weitgehend unverständlich. Ich werde zu zeigen versuchen, wie diese ausnahmslose Geltung, die das 17. Jahrhundert erbt, sich begründet und wie sich vor diesem Hintergrund der spektakuläre Versuch verstehen lässt, die Ausnahmslosigkeit des Lügeverbots einzuschränken, und zwar nicht zuletzt unter Aufgabe des Herzstücks seiner (herkömmlichen) Begründung mittels christlicher Theoreme. Zuvor jedoch will ich die Reichweite der Ausnahmslosigkeit des Aufrichtigkeitsgebots erörtern; denn noch im 17. Jahrhundert hat man hinsichtlich der Unaufrichtigkeit eine Grenze gezogen, die am Unterschied zwischen dissimulatio und simulatio entlang verläuft und die später immer weniger zum Gemeingut gehört.

dissimulatio und simulatio Nachdrücklich heißt es bei Aristoteles, dass die Wahrheit ein Wert an sich sei, das ψεϋδος hingegen einen Unwert darstelle: 40

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Zu dem hier umschriebenen Untersuchungskomplex ist in Vorbereitung Lutz Danneberg: Lüge, List und die Logik von Wissen und Verstehen [vorauss. 2006]. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Hg. u. übs. von Olof Gigon. München 1991. IV, 13 (1127a28-32); zum Hintergrund auch Rudolf Schottländer: Die Lüge in der Ethik der griechisch-römischen Philosophie. In: Die Lüge in psychologischer, philosophischer, pädagogischer, historischer, soziologischer, sprach- und literaturwissenschaftlicher und entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung. Hg. von Otto Lipmann u. Paul Plaut. Leipzig 1927, S. 98-121; Paul Wilpert: Die Wahrhaftigkeit in der aristotelischen Ethik. In: Philosophisches Jahrbuch 53 (1940), S. 324-338; Jane S. Zembaty: Aristotle on Lying. In: Journal of the History of Philosophy 31 (1993), S. 7-29.

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Lutz Danneberg An sich ist die Lüge [ψεύδος] schlecht und verwerflich, die Wahrheit schön und lobenswert. So wird denn auch der Wahrhaftige als der Mittlere zu loben sein, die Lügnerischen [seil, der Eingebildete, der Aufschneider und die hintergründige Bescheidenheit] sind aber beide zu tadeln; mehr immerhin der Eingebildete.41

Die gesuchte αρετή der αλήθεια erscheint bei Aristoteles als Mitte zwischen Angeberei (iactantia) und der sich verkleinernden Ironie (dissimulatio) im Blick auf die Wahrhaftigkeit in Wort, Tat und Verhalten. 42 Entscheidend ist auch hier das so oft bei Aristoteles systematisch verwendete Konzept der Mitte: der όρθος λόγος bedeutet die Einhaltung der Mitte (τό όέ μέσον εστίν ώς δ λόγος όρθος λέγει) 43 Zu den Charaktertugenden - neben freundschaftlichem Benehmen (amicitia) und geistreichen Scherzen (urbanitas) - gehört nach Aristoteles Wahrhaftigkeit (veracitas). Auch sie ist ein Mittleres durch die Vermeidung von Prahlerei (arrogantia) und Verstellung (simulatio).44 Explizit kommt er angesichts der zweiten, weniger tadelnswerten Form der Unaufrichtigkeit auf Sokrates zu sprechen, der ihm als besonderes Beispiel des εί'ρων erscheint. 45 Είρωνες würden Vorzüge, die ihnen große Ehren machten, gern verleugnen - gemeint ist wohl Sokrates' Art, seine dialektischen Fähigkeiten in den Hintergrund zu stellen, obwohl er die Dialoge dominierte. Die Unaufrichtigkeit als Bescheidenheit mit der dissimulatio des Sokrates {ironia Socratica) hat seine Wiederentdeckung vor allem in der Frühen Neuzeit erlebt 46 - nur ein Beispiel: Zur Verstellung des Philosophen heißt es bei Angelo Poliziano (Politianus, 1454-1494): „Quanquam aliquod mendacium quoque philosopho congruit, ut cum se ipse et sua extenuat, quali Socrates ironia fertur eleganti usus adversus inflatos sophistas, ut qui ab homine refellerentur imperitum agente facilius intellegerent quam omnino nihil ipsi scirent" 47 - freilich stehe auch einem Philosophen ein gewisses Maß an Verlogenheit zu, nämlich dann, wenn er sich selbst und seine Lehre ein wenig zurücknimmt. Sokrates soll dieses elegante ironische Mittel gegen aufgeblasene Sophisten eingesetzt haben. Widerlegt von einem Mann, der den Unkundigen spielt, geben sie leichter zu erkennen, wie wenig sie wissen. Diese Form der Ironie ist in christlichen Augen

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> Aristoteles (1991). IV, 13 (1127a28-32). Vgl. Aristoteles (1991). IV, 13 (1127'20); zum Konzept der Ironie in der Antike, zunächst als Verstellung mit täuschender Absicht, neben Otto Ribbeck: Über den Begriff des ε'ι'ρων. In: Rheinisches Museum N.F. 31 (1876), S. 3 8 M 0 0 ; Wilhelm Büchner: Über den Begriff der Eironea. In: Hermes 76 (1941), S. 339-358; Leif Bergson: Eiron und Eironea. In: Hermes 99 (1971), S. 409-422; Gerasimos Markantonatos: On the Origin and Meaning of the Word ΕΙΡΩΝΕΙΑ. In: Rivistadi filologia 103 (1975), S. 16-21. 43 Vgl. Aristoteles (1991). VI, 1 (1138b19-20); zum Konzept der .Mitte' bei Piaton und Aristoteles und in allen Bereichen (außer Poetik) Theodore James Tracy: Physiological Theory and the Doctrine of the Mean in Plato and Aristotle. The Hague u. Paris 1969. 44 Vgl. Aristoteles (1991). Π, 7 (1108a). 45 Vgl. Aristoteles (1991). IV, 13 (1127b24-26). 46 Zu dieser Wiederentdeckung auch Dilwyn Knox: Ironia. Medieval and Renaissance Ideas on Irony. Leiden 1989, S. 97 ff. 47 Poliziano: Lamia. Praelectio in Priora Aristotelis analytica [1492/93], Critical Edition, Introduction and Commentary by Ari Wesseling. Leiden 1986, S. 7. 42

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aus demselben Grund erträglich wie die dissimulatio, und zwar im Unterschied zur simulatio. Solche Ungleichbehandlung wird in der Forschung zwar durchweg mit Verwunderung wahrgenommen, 48 beispielhaft ist jedoch der Titel einer Schrift Toquatto Accetos (ca. 1590-ca. 1640) De la dissimulazione onesta. Dem modernen Verständnis erscheint jede dissimulatio als simulatio und umgekehrt, und schon bei einem der loci classici heißt es, beide seien ,nah verwandt und fast gleich'.49 Allerdings sind die vorgetragenen Beispiele oftmals nicht einschlägig, so etwa wenn angenommen wird, die dissimulatio von Feindschaft sei die simulatio von Freundschaft. Hier erzeugt die dissimulatio nicht mehr als eine Uneindeutigkeit - und sie ist dadurch eher mit der aequivocatio verwandt. Hingegen ist jede simulatio auch eine dissimulatio, die nur dann auch eine simulatio sein kann, wenn es sich um eine Eigenschaft handelt, die durch das Nichtvorhandensein einer anderen Eigenschaft definiert ist. Jede ein Vorhandensein verbergende dissimulatio erzeugt dann das Vorliegen der entsprechend definierten Eigenschaft. Noch komplizierter ist das bei der dissimulatio artis, bei der der Kunstcharakter eines Artefaktes verborgen bleiben soll.50 Um bei einem Artefakt bestimmte artifizielle Eigenschaften zu verbergen und ihm so den Anschein eines natürlichen',,kunstlosen', .schlichten' Charakters zu verleihen, müssen Eigenschaften simuliert werden (was immer die dissimulatio einschließt). Anstelle dieser Simulation von Eigenschaften kann das Werk auch auf bestimmte Eigenschaften der Darstellung verzichten und gleichwohl einen artifiziellen Charakter besitzen, weil der Verzicht selbst gewollt ist. Dass die Kunst(artigkeit) verborgen sein soll, meint also zum einen, dass das Werk bestimmte Eigenschaften tatsächlich nicht hat und man mit ihm gleichwohl erreicht, wofür das artifizielle Mittel dient; in diesem Fall würde der Erfolg gerade dann nicht eintreten, wenn das Mittel als Mittel durchschaut wird. Zum anderen meint die verborgene Kunstartigkeit das Verbergen der Kompetenz desjenigen, der das Werk geschaffen hat. Nach dem geläufigen Schluss causatum causae simile werden dann bestimmte Eigenschaften auf das Werk selbst übertragen oder auf das, worüber es spricht. Für das Thema der Aufrichtigkeit ist das immer dann aufschlussreich, wenn in irgendeiner Weise Authentizität mit dem kunstlosen Charakter etwa einer Rede verbunden wird. Nach Aristoteles müsse eine Rede, die mit dem Überzeugen Erfolg hat, nicht als artifiziell, sondern als ,natürlich' erscheinen. Denn der Hö48

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Ein Ausnahme ist Wolfgang G. Müller: Ironie, Lüge, Simulation, Dissimulation und verwandte rhetorische Termini. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Hg. von Christian Wagenknecht. Stuttgart 1988, S. 189-208. Vgl. Quintilian: Institutio oratorio. VI, 3, 85. An den italienischen Renaissancehöfen gehörte zum Bildungs- und Menschenideal die sprezzatura, nicht nur „eine gewisse Lässigkeit", sondern auch .Täuschung', die darin bestand, das Artifizielle zu verbergen und allem den Anschein einer gewissen Natürlichkeit zu verleihen; vgl. Manfred Hinz: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992, S. 122 ff., ferner Giulio Ferroni: ,Sprezzatura' e Simulazione. In: La corte e il .Cortegiano'. Bd. I. Hg. von Carlo Ossola. Roma 1980, S. 119-147.

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rer oder Leser wittere schnell beim Redner einen Hinterhalt, vor dem er sich schützen will.51 Beispiel ist das Verbergen des nicht spontanen, des stattdessen planvollen und berechnenden Charakters einer Rede oder das Erzeugen des Eindrucks des ex-tempore-Sprechens. Es ist die Schlichtheit als die einer Verstellung vermeintlich unzugänglichen Simplizität, die das Täuschen unwahrscheinlich mache. Den Hintergrund bildet die Vorstellung, beim Einfachen, Einfaltigen sei keine oder geringere Gefahr der Verfälschung gegeben; denn das Lügen, die Unaufrichtigkeit, erfolgt ex duplicitate animi, aufgefasst als das Nichteinfache, als duplex cor, als duplicitas,52 ,Herz' ist die stehende Redeweise fur den sermo interior, zugleich aber kann es auch für das ,Gewissen' stehen, denn die göttlichen Gebote sind dem Menschen ins Herz geschrieben (Rom 2, 15), in einer Schrift allerdings, die er post lapsum nicht mehr deutlich lesen kann.53 Nach der Bibel erscheint das Herz als das von Gott geschaffene Zentrum im Menschen, in dem sich der Akt der geistigen Erkenntnis wie der der Unterscheidung von Gut und Böse vollziehe. Augustins Wort lex scripta in cordibus hominum (Conf Π, 4) ist die immer wieder zitierte autoritative Sentenz und opinio communis. Sincerity oder sincerite leiten sich ab von sincerus: ,rein', ,unvermischt' - und in diesem Sinn sind sie ,einfach'. Nach einer alten Etymologie soll sincerus herrühren von sine cera, ,ohne Wachs'. Gemeint ist damit: ein Gebilde, dessen Wert sich dadurch erhöht, dass es nicht aus mehreren Teilen mittels Wachs zusammengesetzt wurde, also ,einfach' ist.54 Im Blick auf die Aufrichtigkeit stellt sich das Gegenteil des ,Einfachen' als eine innere Entzweiung desjenigen dar, der lügt. Während die Wahrhaftigkeit in der Regel veracitas

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Vgl. Aristoteles: Rhet. ΠΙ, 2 (1404b18-22). Neben Homer: Ilias. IX, 312 f., vgl. ζ. B. Hieronymus: Commentariorum in Epistolam ad Ephesios [um 387]. In: ders.: Opera Omnia [...]. Paris 1884, Sp. 467-589, Π, 3, Sp. 513: Man denke etwas anderes im Herzen, als man mit dem Mund ausspricht. Ferner Augustinus: De Mendacio [396]. In: ders.: Opera omnia. Paris 1887b, Sp. 487-518, ΠΙ, 3, Sp. 488: „duplex cor [...] duplex cogitatio"; auch ders.: In Johannis Evangelium CXXIV [407- 416], In: ders.: Opera Omnia [...]. Paris 1841, Sp. 1379-1976, tr. VII, 18, Sp. 1446; vgl. Abaelard: Expositio in epistolam Pauli ad Romanos [ca. zw. 1133-37]. In: ders.: Opera Omnia. Paris 1885, cap. 9, Sp. 910B: „Non enim mentitur apud Deum, id est reus mendacii non reputatura Deo, nisi qui per duplicitatem loquitur." Ferner Thomas von Aquin (1925). ΙΙ-Π, q 109, a 2, ad 4, S. 524: „[....] per oppositum duplicitati, qua scilicet aliquis aliud habet in corde et aliud istendit exterius [...] unum praetendit et aliud intendit." Ein Beda Venerabiiis (673-735) lange Zeit zugeschriebener Psalmenkommentar spricht von duplex voluntas; vgl. (Ps.-Beda): De Psalmorum libro Exegesis [ca. 12. Jh.]. In: ders.: Opera omnia. Paris 1862, Sp. 477-1097, hier Sp. 503. Die Stellen ließen sich beliebig vermehren. Noch Kant spricht von einem ,guten' und ,einem bösen Herzen', das uns treibt, und von einer „Verkehrtheit des Herzens" ; vgl. Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [1793/94], In: ders.: Gesammelte Schriften [...]. 1. Abth. Werke. Bd. VI. Berlin 1907, S. 1-202, hier S. 37, sowie an anderen Stellen. So heißt es bei Luther, allerdings vor dem Hintergrund eines gegenüber der Tradition veränderten Gewissensbegriffs: „Qae est ergo lucerna nostra, quae hoc verbi lumine illuminatur? Sine dubio cor nostrum, sive id conscientiam sive intellectum voces, nihil refert." Vgl. Luther (1892), S. 525. Vgl. Lionel Trilling: Das Ende der Aufrichtigkeit [Sincerity and authenticity, 1972], Frankfurt a. Μ. 1989, S. 21.

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(gelegentlich auch veritas) heißt, erklärt sich daraus, dass sie in bestimmter Hinsicht auch simplicitas (Einfalt, Offenheit, Geradheit) genannt werden konnte.55 Es ist das Fehlen von Wissen beim Sprecher, das dazu fuhren kann, ihm nicht die Kompetenz eines so komplizierten Unternehmens wie Verstellung oder Lüge zuzutrauen. Nicht zuletzt in der (forensischen im Unterschied zur epideiktischen) Rhetorik findet sich die Empfehlung der dissimulatio artist Die äußerst raffiniert imitierte (scheinbare) Einfachheit („callidissima simplicitatis imitatio") sei (in bestimmten Situationen) von größter Bedeutung.57 Das geht bis in die bewusste Irreführung hinsichtlich der Absichten, die man verfolgt; der Redner deute nur in beiläufiger und versteckter Weise das an, was er später mehr oder weniger überraschend ausführlich und offen behandelt: Zuweilen [...] muß man [...] den Richter täuschen [„fallendus"] und mit allen möglichen Kunstgriffen [„artibus"] dazu bringen, daß er glaubt, es handle sich um etwas anderes als das, worauf wir es abgesehen haben. Denn manchmal ist das Beweisziel eine harte Zumutung, vor der der Richter, wenn er sie voraussieht, nicht anders zurückschreckt als jemand, der das Messer des Arztes schon erblickt hat, bevor er behandelt wird. Wenn dagegen die Rede dadurch, daß das Ziel nicht vorher angekündigt ist, den Zuhörer sorglos und durch keinen verdächtigen Hinweise daraufhingelenkt antrifft, wird sie erreichen, was dem Redner, hätte er schon zugesichert, daß es sich beweisen ließe, nicht geglaubt würde [,,ηοη crederetur"].58

Für das Verstehen, für die ,Lektüre' seien nur die allerbesten Werke (die denjenigen, der sich ihnen anvertraut, am wenigsten hintergehen) mit großer Sorgfalt, ja mit Ängstlichkeit nicht nur Teil für Teil zu durchforschen [„per partes modo scrutanda omnia"], sondern das bearbeitete Werk sei erneut zu studieren. Das gelte insbesondere für Reden, die gerade das Vorzüglichste mit großem Aufwand verborgen hielten [„occultantur"].59 Wichtiger aber noch ist, dass man durchweg zwischen dissimulatio und simulatio einen Unterschied zu sehen vermochte, der hinreichte, um beide moralisch unterschiedlich zu werten: Man sah ihn zwischen (aktivem) Handeln (Vorspiegeln) und Unterlassen (Verbergen). Das Letzte impliziere keinen Akt (absque omni actu) und stelle nur eine simplex negatio dar, das Erste sei hingegen eine,Übertretung' (transgressio). Wenn Augustinus beispielsweise erörtert, dass Abraham seine Frau im Alten Testament als seine Schwester bezeichnet, dann heißt es bei ihm (wie stichhaltig eine solche Interpretation auch immer sein mag), Abraham habe seine Ehe verschwiegen, ohne sie zu leugnen.60 Grund55

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Vgl. ζ. B. Thomas von Aquin (1925). Π-ΙΙ, q 111, a 3, ad 2, S. 534: „[...] virtus simplicitas est eadem virtuti veritatis; [...]." Vgl. ζ. B. Quintilian: Institutio oratorio. IV, 1, 57, oder IX, 4, 144, wo es im Blick auf die kunstvolle Rhythmisierung der Rede heißt: Gerade die Stellen seien hinsichtlich der Wortfugung wieder aufzulösen, die gerade die größte Mühe bereitet haben, so dass man ihnen diese Mühe nicht ansieht. Vgl. Quintilian: Institutio oratorio. IV, 2, 57. Vgl. Quintilian: Ausbildung des Redners [Institutio oratoria]. Hg. und übs. von Helmut Rahn. Darmstadt 1972. IV, 5, 5. Vgl. Quintilian: Institutio oratoria. X, 1, 20. Vgl. Augustinus (1985). XVI, 19, S. 313 - uxorem tacuit, non negavit.

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sätzlich sieht denn auch Thomas von Aquin die dissimulatio im Unterschied zur moralisch verwerflichen simulatio (hypocrisis).61 Deutlich wird das beispielsweise, wenn er meint, der Tugend der Wahrhaftigkeit widerstreite nicht, nach dem Weniger zu gehen, also wenn man von sich selber weniger Gutes, als vorhanden ist, sagt - er versteht dies als ein (passives) Unterlassen (das auf eine res praesens zielt). Hingegen sei deijenige unaufrichtig, der dieses (bei sich vorhandene) Gute leugne - hier versteht Thomas das Leugnen als ein (aktives) Handeln (das auf einen res absens zielt).62 Allerdings bedeutet das nicht, dass bestimmte Unfahigkeitsbekundungen keine Probleme boten: Wenn etwa Paulus von sich sagt, er sei der Geringste unter den Aposteln und nicht wert, ein solcher genannt zu werden (1. Kor 15, 9: ego enim sum minimus apostolorum, qui non sum dignus vocari Apostolus), dann bedurfte das einer Deutung, die dieser Äußerung den Schein der simulatio nimmt.63 Der Unterschied zwischen simulatio und dissimulatio meint dabei nicht, die Passivität der dissimulatio-Handlung würde folgenlos bleiben. Eine menschliche Handlung ohne .Folgen', die sich dann auch nicht moralisch bewerten ließe, gibt es in der Vorstellung etwa des Aquinaten nicht, und zwar allein schon deshalb nicht, weil der (menschlichen) Handlung immer eine Wahlentscheidung zugrunde liegt, durch die alternative Handlungsoptionen unrealisiert bleiben. Simulatio gilt als Verbergen von Fähigkeiten wie von Affekten. 64 Der terminus technicus für das in bestimmten Situationen gerechtfertigte Verschweigen und Verstellen ist dann dissimulatio.65 Das wiederum bildet die Grundlage für die Unterscheidung von dolus bonus und dolus malus. Selbst der in nicht wenigen Fragen rigorose Calvin lässt die dissimulatio als akzeptable Form der Täuschung gelten. Sie sei unbedenklich, wenn man etwas in seinem .Herzen' verheimliche, was man wirklich glaubt, nur dürfen keine diesen Überzeugungen widerstreitenden Reden geführt oder entsprechende Handlungen vollzogen werden. Bei der simulatio vollziehe man eine zweifache Idolatrie (idouble espece d'idolaterie), denn Gott verlange sowohl die spirituelle Verehrung des ,Herzens' wie die äußere, physische - gleichgültig, was intendiert werde:66 Das Innere und das Äußere habe man in Übereinstimmung zu bringen.67 61

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Dort, wo in der griechischen Version der Heiligen Schrift hypocrisis steht, hat die lateinische simulatio. Vgl. Thomas von Aquin (1925). II-II, q 109, a 4, resp. S. 525. Vgl. hierzu Artur Landgraf: Die Lüge der Vollkommenen und die Lüge aus Bescheidenheit im Urteil der Frühscholastik. In: Divus Thomas 20 (1942), S. 67-91, insbes. S. 81 ff Vgl. Thomas von Aquin (1925). q 110, a 3, ad quart., S. 529, q 111, a 1, ad quart., S. 432 sowie q 11, a 2, S. 533. Und Thomas von Aquin (1925), S. 529 meint damit auch - obwohl streng genommen die Stelle bei Augustinus, auf die er sich bezieht, das nicht hergibt - in Übereinstimmung mit Augustinus zu sein: „Licet tarnen veritatem occultare prudenter sub aliqua dissimulatione, ut Augustinus dicit [...]." Vgl. Calvin: Petit traicte monstrant que c'est que doit faire un homme fidele congroissant la verite de l'Evangile les quand il est entre les papistes [1543]. In: ders.: Opera [...]. Bd. VI. Brunsvigae 1867, Sp. 537-588, hier Sp. 546, auch Sp. 570. Vgl. auch Calvin: Sermon contre l'idolatrie [1552], In: ders.: Opera [...]. Bd. VIII. Brunsvigae 1870, Sp. 369-452, hier Sp. 380.

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Die Teilnahme an der von Lutheranern gestalteten Abendmahlsfeier stellt nach Calvin eine simulatio dar, da dieser Akt stillschweigend, aber handelnd die von den Reformierten abgelehnte lutherische Abendmahlslehre billige. 68 In der Regel wird die dissimulatio als etwas gesehen, das einen Mangel ausgleichen soll. Zum einen ist das ein Mangel an Vertrauen, den es zugleich zu verbergen gilt. Aufgrund der (Lebens-)Klugheit besteht nicht nur nicht die Pflicht der Selbstpreisgabe. Auch ist es dem Nächsten gegenüber keine Pflicht, ihn im Blick auf das eigene Wissen gleichzustellen. 69 In den Situationen offenkundig unberechtigten Begehrens eines bestimmten Wissens sei das Verbergen nicht nur nicht verwerflich, sondern von der Klugheit geboten. 70 Die Lüge verfallt demnach auch nicht aufgrund des Gebots der Offenlegung des eigenen Wissens moralischer Ächtung - mehr noch: dass eine solche Pflicht nicht besteht, schafft erst die Voraussetzungen für den Erfolg des Lügens. Bei optimalem Wissen kann es zwar ein Lügen geben, aber keines, das Erfolg hat: Gott kann nicht erfolgreich belogen werden; ihm gegenüber kann man aber die Sünde des Lügens begehen - und wie zu sehen sein wird, rechtfertigt erst Letzteres die Striktheit des Lüge Verbots. Zum anderen kann die dissimulatio als Kompensation eines kognitiven Mangels erscheinen. In seinem Essay Of Simulation and Dissimulation unterscheidet Francis Bacon (1561-1626) die stärkere von „the weaker sort of politics". 71 Die Erstere beruhe auf politischer Kunst („arts or policy"), die Letztere auf „dissimulation and closeness". Die „dissimulation and closeness" rühre aus der Vorsicht, die immer dann geraten sei, wenn es für die Handlungsentscheidungen an Urteilsschärfe („penetration of judgements") fehle. Denn der mit solcher Urteilsschärfe ausgestattete Akteur „can discern, what things to be laid open, what to be secret, and what to be shewed at half a lights, and to whom and whence". 72 Offenbar fasst Bacon hier „dissimulation and closeness" als eine Strategie der 68

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Vgl. Calvin: Theasauri Epistolici Calviani. Bd. IX. In: ders.: Opera [...]. Brunsvigae 1878, Nr. 3184, Sp. 62, Brief vom April 1560: „[...] quanquam mali exempli rem esse video, si quis a coena abstineat, perversae tarnen atque adeo perfidae simulationis esset, accepto concordiae symbolo, falsum illud et absurdum commentum, quod exitialibus praestigiis fidei principia evertit, vel tacite approbare, nisi clara et ingenua praecedat sanae doctrinae confessio." - Zu Calvins Kritik am Nikodemismus, bei der er immer wieder vehement alle äußere Anpassung rügt, Carlos Μ. N. Eire: Calvin and Nicodemism. A Reappraisal. In: Sixteenth Century Journal 10 (1979), S. 45-69; ders.: Prelude to Sedition? Calvin's Attacks on Nicodemism and Religious Compromise. In: Archiv fur Reformationsgeschichte 76 (1985), S. 120-145; auch ders.: War Against Idols: The Reformation of Worship Form Erasmus to Calvin. Cambridge 1986, vor allem Kap. 6 und 7. So bereits Augustinus (1887a). 6, 15, Sp. 527: „[...] et si propter id, quod nondum est, fidei nostrae sacramentique particeps factus, aliqua iIii occultanda sunt vera, non tarnen ideo dicenda sunt falsa." Thomas von Aquin (1925). Π-ΙΙ, q 69, a 2, S. 346 f.: „Sic ergo reo qui accusatur, licet se defendere, veritatem occultando, quam confiteri non tenetur, per aliquosconvenientes modos, puta si non respondeat ad quae respoindere non tenetur. Hoc autem non calumniose se defendere, sed magis prudenter evadere." Francis Bacon: Of Simulation and Dissimulation. In: ders.: Essays or Counsels Civil and Moral [1612], In: ders.: Works [...]. Bd. VI. London 1890, S. 365-603, hier S. 387. Bacon (1890), S. 387.

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Vorsicht aufgrund eines Mangels an Urteilsschärfe auf: Der eine Akteur besitzt die Voraussetzungen, um zu wissen, wann er etwas verheimlichen sollte, bei dem anderen geschieht das allein aus Vorsicht. Wenn deqenige, der die „arts of state and arts of life" beherrsche, dissimulatio betreiben müsse, dann bleibe sie aufgrund seines erlangten Rufs („good faith and clearness of dealing") „almost invisible". Das gibt zugleich das Stichwort zu einem Aspekt des Wissens bei der Erkennung der Unaufrichtigkeit: Bei Bacon kompensiert die dissimulatio den Mangel an Urteilsschärfe, und das heißt, den Mangel an der Kraft zum ebenso richtigen wie tiefgehenden Unterscheiden. Diese discretio hat eine ebenso lange wie wandlungsreiche Geschichte. Das braucht hier im Einzelnen nicht nachvollzogen zu werden. Spätestens bei Thomas von Aquin wird der alte Gedanke der discretio spirituum ersetzt durch den der Klugheit (prudentia), und die scharfsinnige discretio wird zu einem ihrer Instrumente. In beiden Situationen, dem des Täuschens wie des Entlarvens, hängen ihre Erfolgsaussichten an einem speziellen Wissen, das sich wesentlich durch die Fähigkeit des Unterscheidens erzeugt. Nicht der Charakter eines Sprechaktes selbst als Lüge, sondern seine Erfolgsaussichten hängen mit dem (Unterscheidungs-)Wissen desjenigen zusammen, an den sich die Äußerung richtet. Das nun ist gleichbedeutend damit, dass man den Sprechakt,richtig' versteht. Versteht man ihn richtig, und zwar contra intentionem richtig, dann ist die Täuschungsabsicht wirkungslos, weil durchsichtig (auch wenn so getan werden kann, als sei die Absicht nicht erkannt). Graciän bringt das auf den Punkt: „Erst sei man Herr über sich" - und das meint nicht nur Selbstkontrolle,73 sondern auch Wissen zur Selbsterkenntnis „so wird man es nachher über andere sein."74 Das wiederkehrende Motto und die Botschaft sind prägnant genug: Viel Kopf ist erfordert, um den fremden auszumessen. Es ist wichtiger, die Gemütsarten und Eigenschaften der Personen als die der Kräuter und Steine zu kennen. Jenes ist eine der scharfsinnigsten Beschäftigungen im Leben. Am Klang kennt man die Metalle und an der Rede die Menschen. Die Worte geben Anzeichen der Rechtlichkeit, aber viel mehr die Taten. Hier nun bedarf es der außerordenlichsten Vorsicht, der tiefen Beobachtung, der feinen Auffassung und des richtigen Urteils.75

Es geht bei Graciän immer wieder um das Erlernen der Kunst des Chiffrierens (cifra), also des Zeichensetzens fur das raffinierte Verstellen und die Verrätselung der eigenen Absichten, wie um die Kunst des Dechiffrierens (contracifra de intentiones, descifrar; arte de descifrar), also das kunstvolle Aufdecken des Trugs durch das Erkennen der Zeichen der verstellten Intention:76 „man lerne ein Gesicht entziffern und aus den Zügen die Seele herauszubuchstabieren."77 73 74 75 76

Ζ. B. Graciän (1967). 52, S. 22: „Nie aus der Fassung geraten." Graciän (1967). 55, S. 23. Graciän (1967). 291, S. 122. Zu diesen beiden Ausdrücken cifra, contracifra (bzw. descifrar) Hellmut Jansen: Die Grundbegriffe des Balthasar Gracian. Geneve u. Paris 1958, S. 135-143; vgl. ζ. B. Graciän (1967). 98, S. 40: „Sein Wollen nur in Ziffemschrift."

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Mehrfach nennt Graciän das auch moral anatomia del hombre - in der Zeit nicht ungewöhnlich, was den anatomia-Ausdruck betrifft.78 Crisi IX im 1651 erschienenen primera parte seines Criticon hat Graciän diesem Thema gewidmet. Das Verfahren beruht im Wesentlichen auf der discretio, auf der Unterscheidungsfähigkeit, wie es Graciän in El discrete im Kapitel Hombre juicioso y notante beschreibt:79 Urteilssicherheit und das Unterscheidungsvermögen sind die Mittel, um in die tiefsten Tiefen der Mitmenschen einzudringen und das Innere selbst bei den raffiniertesten Verstellungen zu erkennen. Immer erkennt ein solcher Mann das Wesentliche.80 Das seien die großen Dechiffrierer der Absichten und Ziele, denen aufgrund ihrer Vermögen immer das entschlüsselnde Urteilen zur Verfugung stehe.81 Das Größte aber sei, wenn zwei Männer mit solchen Fähigkeiten aufeinander treffen, mit gleichen,Waffen der Aufmerksamkeit und des Durchblicks' („con aramas iguales de atenciön y de reparao"82) beim gegenseitigen Täuschen und Entlarven. Sie betreiben die Anatomie des Geistes, die Prüfung des Verstandes: „Desta suerte van haciendo anatomia del änimo, examen del caudal [...]."83 Sie sezieren den anderen bis in die Eingeweide und bestimmen ihn aufgrund seiner Eigenschaften und seines Wesens.84 Höher aber noch als im gegenseitigen Kampf mit gleichen Waffen ist der Zugewinn, wenn diese beiden im Schutz von Freundschaft und Vertrauen zur Kooperation finden und ihr .Wissen' („concepto") offenbaren: „joh, lo que ensenan!, joh, lo que iluminan!"85 Das, was Graciän hier beschreibt, ist im Verständnis der Zeit nichts anderes als das Erzeugen subtilen (wissenschaftlichen) Wissens - das spiegelt auch seine Sprache. So dürfte Graciän den Ausdruck „examen" in seiner technischen philosophischen Bedeutung verwenden. Dabei bleibt ein solches Wissen nicht auf das beschränkt, was man passiv oder durch teilnahmslose Erkundungen erlangt, sondern es wird auch aktiv gewonnen, gleichsam im Experiment, indem man dem zu Erkennenden (metaphorisch) „Daumenschrauben" ansetzt und ihm

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Graciän (1967). 273, S. 115. Vgl. Lutz Danneberg: Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers: das Lesen im liber naturalis und supernaturalis. Berlin u. New York 2003. Der anatom ία-Ausdruck findet sich in diesem Werk Graciäns noch an anderen Stellen; vgl. ders.: El discreto [1647]. Ediciön, introducciön y notas de Aurora Egido. Madrid 1997. I, S. 167 sowie V, S. 202. Vgl. Graciän (1997). XIX, S. 310 f.: ,31 varön juicioso y notante - hällanse pocos, y por eso mäs singulares - luego se hace sefior de cualquier sujeto y objecto, Argos a atender y lince al entender. Sonda atento, los fondos de la mayor profundidad; registra, cauto, los senos del mäs doblado disimulo y mide, juicioso, los ensanches de toda capacidad. [...] Todo lo descubre, nota, advierte, alcanza y comprehendre, definiendo cada cosa por su sencia." Graciän (1997). XIX, S. 312: „Son grandes descifradores de intenciones y de findes, que llevan siempre consigo la juiciosa contrcifra." Graciän (1997). X K , S . 313. Vgl. Graciän (1997). XIX, S. 313. Vgl. Graciän (1997). XIX, S. 314: „[...]; de modo que hacen anatomia de un sujeto hasta las entranas y luego le dinfinen pro propriedades y esencia." Graciän (1997). XIX, S. 314.

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etwas entlockt, was verborgen bleiben sollte. Die Mittel sind Verstellungen durch (vorgetäuschten) Unglauben, durch (künstlichen) Widerspruch und Zweifel, durch (gespielte) Geringschätzung oder durch (provozierende) Stichelreden („varillas"): 86 Zu widersprechen verstehen. Eine große List zum Erforschen [„gran treta del tentar"]; nicht um sich, sondern um den andern in Verwicklung zu bringen. Die wirksamste Daumenschraube [„torcedor"] ist die, welche die Affekte in Bewegung setzt; daher ist ein wahres Vomitiv [„vomito"] für Geheimnisse die Lauheit im Glauben derselben; sie ist der Schlüssel zur verschlossenen Brust und untersucht mit großer Feinheit den Willen und den Verstand. 87

Die „böse Absichtlichkeit [,,la mala intention"] [...] wird den Versuch tausendmal wiederholen, bis sie die wunde Stelle gefunden hat". 88 Schließlich sieht Graciän die Kunst des Verbergens wie des Entbergens in einer fortwährenden Wechselbeziehung: „Indem die Verstellung [„simulation"] ihre Künste erkannt sieht, steigert sie sich noch höher und versucht nunmehr, durch die Wahrheit selbst zu täuschen: [...], indem sie so ihren Betrug auf die vollkommenste Aufrichtigkeit gründet." 89 Es ist ein fortwährender Kampf ,,[d]ie Zurückhaltung des Vorsichtigen kämpfe gegen das Aufpassen des Forschenden" - um das „praktischste Wissen", das in der „Verstellungskunst" besteht,90 und es ist das Wissen um diese ,Kunst', das der „descifrador" für seinen .entziffernden' Scharfblick zu nutzen habe: Ihm ist aufgetragen, ein ,AllesSeher' („el Veedor de todo") zu werden. Entkleidet aller verhüllenden Formulierungen scheint damit nicht zuletzt zum Ausdruck gebracht zu werden, dass es vom Umfang des Wissens abhängt, ob man gleichermaßen undurchschaubar wird und wie man die anderen zu durchschauen vermag. Beides steigert sich im Wechselspiel. Zurück zu Bacon: Er unterscheidet drei Grade der Verstellung. 91 Den ersten Grad der Verstellung bilden „Closeness, Reservation, and Secrecy", wobei sowohl die Verschwiegenheit gegenüber dem Gesagten anderer (sie führe dazu, dass einem vertraut wird) als auch die eingeschränkte Preisgabe seiner selbst

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Vgl. Graciän (1967). 37, S. 16: „Stichelreden kennen und anzuwenden verstehen. Dies ist der Punkt der größten Feinheit im menschlichen Umgang [„mäs sutil del humano trato"]. Solche Stichelreden werden oft hingeworfen, um die Gemüter zu prüfen, und mittelst ihrer stellt man die versteckteste und zugleich [„mäs disimulada y penetrante"] eindringlichste Untersuchung des Herzens an." Zum metaphorisch verwendeten Ausdruck „varillas" („Stäbchen"), etwa als Insinuierungen, vgl. Jansen (1958), S. 139, Anm. 115. Graciän (1967). 213, S. 90. Graciän (1967). 145, S. 61. Graciän (1967). 13, S. 6. Graciän (1967). 98, S. 40. Im Text findet sich an dieser Stelle ein Druckfehler, denn es heißt dort: „Pbrstellungskunst"; im spanischen Text heißt es „disimulaciön". Drei Grade von zulässig bis zu unzulässig {levis, media, magna), die aber anders als bei Bacon bestimmt sind, kennt auch Justus Lipsius (1547-1606): Politicorvm siue ciuilis doctrinae libri sex, qui ad principatum maxime spectant [...]. Lugduni Batavorum 1589. IV, 14, S. 206-224, zur ersteren gehören diffldentia und dissimulatio, zur zweiten conciliatio und dissimulatio, zur dritten petfidia und iniustitia.

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gemeint sind.92 Die Verschwiegenheit („the habit of secrecy") sei daher beides: „politic and moral". Den zweiten Grad der Verstellung bildet die Verstellung „in the negative", mithin die dissimulatio, „when a man lets fall signs and arguments, that he is not that he is".93 Die Verschwiegenheit fuhrt nach Bacon fast immer zur dissimulatio, denn „equivocations, or oraculous speeches" - beides hält Bacon mithin nicht fur prinzipiell problematisch - bleiben nicht lange erfolgreich: „no man can be secret, except he gives himself a little scope of dissimulation."94 Der dritte Grad der Verstellung ist schließlich die simulatio, die Bacon nur in Ausnahmen gelten lassen will; denn: „a general custom of simulation" sei ein Laster und zeuge vom Naturell des Akteurs. Drei Vor- und drei Nachteile sieht Bacon bei dissimulatio und simulatio. Zu den Vorteilen gehöre, dass das Verbergen der eigenen Absichten („intentions") aufgrund des Vorenthaltens handlungsrelevanten Wissens die Erfolgsaussichten des eigenen Handelns steigere. Darüber hinaus mehre es das eigene Wissen, wobei Bacon das Sprichwort „Teil a lie and find a truth" mit dem Kommentar kontert, dass es auch andere Wege als den der „simulation" gäbe, um etwas aufzudecken („way of discovery"). Der gravierendste der Nachteile liege darin, dass die Verstellung „the most principal instruments" des Handelns zu zerstören drohe: „trust and belief'. 95 Durchweg gilt die unterschiedliche moralische Wertung der dissimulatio und simulatio für das 17. Jahrhundert. Das schließt zwar nicht aus, dass man auch zu simulacion auffordern konnte, wie es wohl bei einigen der Aphorismen Grecians in seinem Oräculo manual y arte de prudencia der Fall ist.96 Doch komplexe Umgehungsstrategien wie aequivocatio und restrictio mentalis erscheinen dann und (nur) insoweit gerechtfertigt, wie sie sich auf dissimulatio zurückfuhren oder sich die entsprechenden Sprechhandlungen als eine solche deuten lassen.

Das strikte Lügeverbot als debitum morale Im Christentum hat es von Beginn an zwei Traditionen hinsichtlich der Verwerflichkeit des Lügens gegeben. Eine davon erscheint im Blick auf das Aufrichtigkeitsgebot als weniger streng, insbesondere indem sie Notlügen erlaubt, die aufgrund ihres Erlaubtseins nicht nur mindere, lässliche Sünden - peccata venialia - darstellen, sondern keine. Nie ging es freilich darum, das Lügen nicht 92

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Bacon (1890), S. 388: „For he that talketh what he knoweth, will also talk what he knoweth not." Wobei letzteres wohl meint, dass deijenige unbeabsichtigt etwas von sich preisgibt, das er nicht einmal selber von sich weiß. Bacon (1890), S. 388. Bacon (1890), S. 388 f. Bacon (1890), S. 389. So soll man ζ. B. die „Kunst, in Zorn zu geraten", kennen und gegebenenfalls einsetzen; vgl. Graciän (1967). 155, S. 65 f.

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zu verdammen oder seine grundsätzliche Missbilligung aufzuheben. 97 Immer aber galt bei der weniger strengen Auffassung hinsichtlich der grundsätzlichen Verkommenheit des Lügens abzuwägen: bei der Einschätzung der Absichten, die das Lügen bestimmen, wie den Folgen, die es für die Welt hat. Über eine solche situative Duldung gehen Vorstellungen hinaus, die in irgendeiner Weise beim Lügen eine .Notwendigkeit' sehen, 98 so dass das Lügen sogar zu einer Art Pflicht und unvermeidbar wird, wenn auch in streng umzirkelten Situationen. Zumeist ist es eingeschränkt auf den fremden Nutzen, mehr noch, wenn zudem das Lügen zum eigenen Schaden fuhrt. Dient die Lüge dem eigenen Nutzen, so ist sie unter der Voraussetzung erlaubt, dass kein fremder Schaden entsteht. Die Überlegungen zur strengeren und ausnahmslosen Geltung des Lügeverbots finden sich für das Christentum zuerst bei Augustinus begründet. Neben anderen zahlreichen gelegentlichen Äußerungen des Kirchenvaters werden für die Scholastik seine Werke De mendacio (396) und Contra mendacium (422) maßgeblich. 99 Augustinus kann den Bischof von Thagatse loben, weil dieser weder lügen noch verraten, sondern lieber Folterqualen erdulden wollte. 100 Die Ausnahmslosigkeit des Lügeverbots schließt Fremde und Feinde ein, 101 und ei97

Neben der älteren, aber sehr ausfuhrlichen dogmengeschichtlichen Untersuchung von Louis de Thomassin (1619-1695): Traite de le vörite et du mensonge. Paris 1671; und den Hinweisen bei Arthur Vermeersch: De mendacio et necessitatibus commercii humanii. In: Gregorianum 1 (1920), S. 11-40 sowie S. 425-475 zum Hintergrund vor allem Franz Schindler: Die Lüge in der patristischen Literatur. In: Beiträge zur Geschichte des christlichen Abendlandes und der Byzantinischen Literatur. Hg. von Albert Michael Koeniger. Bonn u. Leipzig 1922, S. 421-433; Waclaw Sadok Mackowiak: Die ethische Beurteilung der Notlüge in der altheidnischen, patristischen, scholastischen und neueren Zeit. Gniezno 1933, S. 46150; Artur Landgraf: Definition und Sündhaftigkeit der Lüge nach der Lehre der Frühscholastik. In: Zeitschrift für katholische Theologie 63 (1939), S. 50-85 und S. 157-180; Gerhard Müller: Die Wahrheitspflicht und die Problematik der Lüge. Freiburg, Basel u. Wien 1962; Boniface Ramsey: Two Traditions on Lying and Deception in the Ancient Church. In: The Thomist 49 (1985), S. 504-553. 98 Vgl. ζ. Β. Johannes Cassian (ca. 360-430/35): Conlationes [nach 420]. Hg. von Michael Petschenig [1886]. Wien 22004, XVD, 19, 7, S. 481: „[...] sine dubio subeunda est nobis necessitas mentiendi." Zu anderen Aspekten der Auffassung Cassians J. A. Fleming: By Coincidence or Design? Cassian's Disagreement with Augustine Concerning the Ethics of Falsehood. In: Augustinian Studies 29 (1998), S. 19-34. 99 Hierzu auch die an Hinweisen zur Auffassung der Lüge in der Antike reiche Einleitung, die Paul Keseling seiner Übersetzung beigegeben hat; vgl. Augustinus: Die Lüge (De mendacio). Gegen die Lüge (Contra mendacium). Abgefaßt um 395 bzw. um 420 n. Chr. Übertragen und erläutert. Würzburg 1953; ferner Thomas D. Feehan: Augustine on Lying and Deceiving. In: Augustinian Studies 19 (1988), S. 131-139; ders.: The Morality of Lying in St. Augustine. In: Augustinian Studies 21 (1990), S. 67-81; sowie ders.: Augustine's Own Example of Lying. In: Augustinian Studies 22 (1991), S. 165-190; auch Alan Brinton: St. Augustine and the Problem of Deception in Religious Persuasion. In: Religious Studies 19 (1983), S. 437-450. >00 Vgl. Augustinus (1887b). 12,23, S. 504. 101 Vgl. ζ. Β. Laktanz (ca. 260-nach 326): Diuinarum Institutionum [304-311/13], In: ders.: Opera Omnia [...] Pars I [...] Recensvit Samvel Brandt. Pragae, Vindobonae u. Lipsiae 1890, S. 1672, VI, 18, S. 547: „[Cultor Dei] non mentiatur unquam decipiendi aut nocendi causa. Est enim nefas, eum qui veritati studeat, in aliqua ne esse fallacem, atque ab ipsa, quam sequitur, veritate discedere. In hac iustitiae virtutumque omnium via nullus menadcio locus est.

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ner der Anlässe für Augustins Überlegungen ist die von ihm strikt verneinte Frage, inwiefern man Ketzer mittels Lügen und Verstellung entlarven dürfe. Nicht zuletzt aufgrund ihres systematischen Charakters überstrahlen jedoch die Ausführungen des Aquinaten mehr als achthundert Jahre später die des Bischofs von Hippo, der mit seinen Überlegungen zudem selbst nicht immer zufrieden gewesen zu sein scheint.102 Die Frage nach der Begründung der Ausschließlichkeit des Lügeverbots möchte ich in eine systematische Darstellung des Sprechakts des Lügens betten. Aufrichtigkeit - hier synonym mit Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit gebraucht ist eine zumindest vierstellige Relation: Ein Mensch ist im Rahmen seiner verbalen wie non-verbalen (gestischen) Handlungen (mendacium in factis) und in einer bestimmten Situation gegenüber einem anderen aufrichtig im Blick auf etwas. Dieses Etwas sollen hier vornehmlich Wissensansprüche sein. Die sprachliche Form der Unaufrichtigkeit ist dann die Lüge. In der Sprache der Zeit verfehlt man die Veritas moralis (Veritas conscientiae), wenn sermo interior und sermo exterior, also der Gedanke und sein sprachlicher Ausdruck, nicht übereinstimmen. Sermo interior wird hier allein im Gegensatz zu sermo exterior gebraucht - andere gängige Entgegensetzungen sind geistig/körperlich, verbum mentis/oris, verbum internum/externum, oder es finden sich Bezeichnungen wie inferiores conceptus mentis oder verbum cordis. Oftmals wird das auch als eine dreistufige Abfolge gedacht: Der Mensch denkt zunächst das, was ist; dann überlegt er, wie er das Gedachte ausdrückt; schließlich realisiert er die sprachliche Form im Aussprechen (prolatio vocis).m Das Verstehen solcher Kundgaben bietet sich dann durchweg als Umkehr (als ordo inversus) dieses Prozesses: Das, was bei der Kundgabe das Letzte ist, ist beim hermeneutischen Verstehen das Erste, und das Letzte ist beim Verstehen, was beim Produzieren das Erste ist.104 Doch die Bestimmung der Lüge scheint weniger an bestimmte, im Lauf der Zeit sich wandelnde Deutungen des sermo interior gebunden zu sein. Das schließt freilich nicht aus, dass bestimmte Vorstellungen vom sermo interior zu speziellen Problemen bei der Bestimmung der Lüge oder des Lügens fuhren können. 105

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Itaque viator ille verus ac iustus non dicte illud Lucilianum: ,Himini amico ac familiari non est mentiri meum' [...] sed etiam inimico atque ignoto existimabit non esse mentiri suum nec aliquando committet, ut linga, interpres animi, a sensu et cogitatione discordet." Er wollte die Verbreitung von De mendacio sogar unterbinden; vgl. Augustinus: Retractationvm libri Π [427]. In: ders.: Opera. Tumholti 1984.1,27, S. 87 f.; in diesem Werk hält er noch bestimmte wohlwollende Lügen fur zulässig. So ζ. B. bei Bonaventura: In Primum Librum Sententiarum Petri Lombardi [um 1250], In: ders.: Opera Omnia [...]. Bd. I. Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1882. d XXVII, pars Π, a 1, q IV, S. 489 f. Zu diesem Aspekt der Hermeneutik nicht allein im 17. Jh. Lutz Danneberg: Logik und Hermeneutik im 17. Jahrhundert. In: Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik - Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie. Hg. von Jan Schröder. Stuttgart 2001, S. 75-131. Angedeutet findet sich das etwa bei Hester G. Gelber: I Cannot Tell a Lie. Hugh of Lawton's Critique of William of Ockham on Mental Language. In: Franciscan Studies 44 (1984), S. 141-179, insbes. S. 154-156.

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Zu den vier Bestimmungsstücken des Sprechakts des Lügens gehört zunächst das, was sich als inneres Verwerfen eines Wissensanspruchs W von A, also Vj(A, W) bezeichnen lässt. Sodann gehört zum Sprechakt des Lügens das, was sich als äußeres Akzeptieren durch A, also A ä (/i, W), bezeichnen lässt Hinzu treten zum einen die Umstände C, in denen Α die Äußerung Ä(A, W) vollzieht, zum anderen seine Absicht der Täuschung (intentio fallendi) Ι τ : Α glaubt mit seiner Äußerung zu erreichen, dass Β ein inneres Akzeptieren gegenüber seiner Äußerung Ä(A, W), also Aj(5, Ä), vollzieht - in diesem Fall, dass Β glaubt, dass Α glaubt, ρ sei der Fall. Man könnte das auch mit dem Fehlen des Behauptungscharakters der Äußerung Ä(W) ausdrücken106 - mit Befehlen zum Beispiel ließe sich dann nicht lügen. Ich brauche hier nicht näher auf die Relationierung der Täuschungsabsicht und der Äußerung Ä(A, W) einzugehen. Sie kann dem Äußerungsakt vorausgehen oder auch ihm gleichzeitig sein, und in vielen Fällen gibt es nicht die Möglichkeit nachträglicher Täuschungsabsichten. Doch bei einigen Sprechakten ist das der Fall: etwa bei dem des Versprechens, das man mit dem Vorsatz, es zu brechen oder es einzuhalten, geben kann, wobei man später seine Ansichten hierzu ändert. Ich will auch nicht darauf eingehen, inwiefern die Absicht, ein Versprechen zu brechen, wenn sie nicht verwirklicht wird, bereits eine Täuschung darstellt. Allgemein gesagt liegt die Möglichkeit nachträglicher Täuschungsabsichten bei solchen Sprechakten vor, bei denen ihr Gelingen Prognosen über das Verhalten desjenigen einschließt, der sie äußert. Der Adressat Β ist für die Bestimmung des Sprechaktes des Lügens deshalb erforderlich, weil Lügen immer ein Belügen ist. Wenn von einem ,inneren Lügen', dem mendacium internum im Unterschied zum mendacium externum, also dem ,Selbsttäuschen' die Rede ist, so scheint A=B gegeben zu sein. Ohne an dieser Stelle auf Konzepte der Selbsttäuschung näher eingehen zu können: Sollen Paradoxien vermieden werden, die bei der Anwendung dieser Bestimmung des Lügens entstehen, wenn A=B gilt, muss bei einem ,inneren Belügen' eine Teilung von Α zumindest in zwei in irgendeiner Weise unterschiedene Teile Aa und Ab angenommen werden. Als letztes Bestimmungsstück kommt noch der Zweck Ζ des Lügens hinzu, der oftmals, wenn auch nicht immer, durch die Umstände C bestimmt ist. Nun könnte die Betonung der Täuschungsabsicht (voluntas fallendi) misstrauisch gegenüber dieser Bestimmung des Lügens machen. Man könnte prüfen, inwieweit das intentionale Bestimmungsstück für das Lügen immer als zwingend erforderlich angesehen wurde, ob es mithin auch entfallen kann oder es sich durch ein nichtintentionales ersetzen lässt. Nun rühren die

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Etwa dann, wenn man wie Ernst Tugendhat: Vorlesungen zur Einfuhrung in die analytische Sprachphilosophie. Frankfurt a. M. 1978, S. 254 bestimmt: „Daß der, der einen assertorischen Satz ,p' verwendet, etwas behauptet, heißt, so können wir sagen, daß er eine Garantie dafür übernimmt, daß es wahr ist, daß p." - Freges Antwort, man lüge nicht, „weil die behauptende Kraft" fehle, die Schauspieler nur so täten, „als behaupteten sie", was man an den jeweiligen Umständen erkennen würde; Gottlob Frege: Logik in der Mathematik [1914]. In: ders.: Schriften zur Logik und Sprachphilosophie. Hamburg 21978, S. 92-165, hier S. 139, lässt die Frage unbeantwortet, wie man diese Umstände, den nicht-behauptenden Charakter einer Äußerung, erkennt.

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Probleme, die das 17. oder 18. Jahrhundert mit Intentionen hatte, weniger aus Bedenken ob ihres ontologischen Status, sondern aus der Frage ihrer Erkennbarkeit, also ihrer Zugänglichkeit. Als überraschend erscheint dann freilich der Befund zeitlicher Parallelität zweier Formulierungsvarianten bei der Charakterisierung der Lüge, die sich just hierin unterscheiden: Die eine berücksichtigt explizit die Täuschungsabsicht, enuntiatio falsa cum intentione fallendi,und ebenso explizit verzichtet die andere darauf. Bei Augustinus finden sich zwar beide Formeln,108 doch favorisiert er offenbar die Variante mit expliziter Angabe der Täuschungsabsicht.109 Gleichsam kodifiziert findet sich diese Variante in den Sentenzen des Petrus Lombardus (um 1095-1160),110 die lange Zeit jeder Theologe zu kommentieren hatte. Doch fehlt sie gerade bei dem Bestimmungsversuch, der wohl wie kein anderer bis ins 16. und 17. Jahrhundert als autoritativ angesehen wurde. Es ist der des Aquinaten: mendacium est locutio contra mentem. Die Bestimmung von mendacium als falsa vocis significatio intentione fallendi steht dann der von mentiri als contra mentem loqui gegenüber. Hebt die erste Bestimmung wesentlich auf die Täuschungsabsicht I T ab, sind es bei der zweiten Vj (W) und Α ä(W). Einig sind sich beide freilich in der Ansicht, dass die Lüge eine innere und damit eine wesentliche Unsittlichkeit darstellt. Letztlich begreift Augustinus jede menschliche Erkenntnis der Wahrheit als von der Wahrheit, also von Gott ausgehend. Jede willentliche Abweichung von ihr erscheint gleichsam als Aufstand gegen Gott, mithin als eine Sünde. Nicht ohne Grund könne man daher nach Augustinus sagen, dass alle Sünden Lügen seien, denn der Mensch soll nach der Wahrheit leben, und diese Wahrheit ist Gott.111 Die Bestimmung der Lüge erfolgt zwar bei Augustinus (wie beim Aquinaten) in der Beziehung zu Gott, aber sie erscheint gleichsam als identisch mit der Sündhaftigkeit des Menschen post lapsum. Von hier ist es dann kein großer Schritt zu Vorstellungen, »Täuschung' wie Selbsttäuschung' (etwa der Hochmut) sind nicht allein dem Sündenfall geschuldet, sondern seien gleichsam in allen menschlichen Handlungen eingewoben, gehörten zur verderbten Natur des Menschen. Bei Thomas findet die Täuschungsabsicht im Rahmen seiner systematischen Bestimmung erst als das Wollen der Wirkung in der Ursache Berücksichtigung 107 Vgl. Augustinus (1887a). XII, 26, Sp. 537: der das mendacium als falsa significatio cum voluntate fallendi definiert; auch Augustinus (1887b). IV, 5, Sp. 491: „Nemo autem dubitat, mentiri eum, qui volens falsum enuntiat causa fallendi: enuntiationem falsam cum voluntate ad fallendum prolatam manifestum est esse mendacium." Auch ders.: Enchiridion de Fide, Spe et Caritate ad Laurentium [423]. In: ders.: Opera Omnia [...]. Paris 1887c, Sp. 231290,22, Sp. 243. 108 Vgl. ζ. B. Augustinus: Enarrationes in Psalmos [392-420]. In: ders. Opera omnia [...]. Paris 1841, Sp. 67-1028, hier Ps 5,7, Sp. 85. 109

Vgl. Augustinus (1887b). III, 3, Sp. 489: „Culpa vero mentientis est, in enuntiando animo suo fallendi cupiditas [...]." no vgl. Petrus Lombardus: Sententiae in IV libris distinctae [1150-52]. Editio Tertia [...]. 2 Bde. Grottaferrata (Romae) 31981. ΠΙ, d 38, c 3 (S. 215): „[...] mendacium est falsa significatio vocis cum intentione fallendi." Die Ausführungen des Lombarden folgen durchweg, so auch hier, wörtlichen Zitaten Augustins. 111 Vgl. Augustinus (1985). IIV, 4.

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und kommt so erst der vollendeten Lüge zu.112 Das Fehlen der Täuschungsabsicht bei der Bestimmung der Lüge im engeren Sinn ebenso wie die uneingeschränkte Geltung des Lügeverbots wird erst verständlich, wenn man den philosophisch-theologischen Hintergrund der Begründung beim Aquinaten betrachtet. Den Ausgang bildet die Bestimmung der Tugendhaftigkeit und Lasterhaftigkeit von Handlungen überhaupt. Danach werde eine Handlung als tugendhaft oder lasterhaft beurteilt entsprechend dem vom Handelnden wahrgenommenen Gut (apparens bonum), das den eigentlichen Gegenstand des Willens, das (unmittelbar) erstrebte Ziel der Handlung (obiectum als materia circa quam) darstellt,113 und nicht entsprechend dem materialen, tatsächlichen Gegenstand der Handlung. Daher ist nach Thomas jedes Gewissen verpflichtend - gleichgültig, ob es irrt oder wahr ist, und gleichgültig, ob es sich auf Dinge bezieht, die in sich schlecht oder indifferent sind. Daher sündigt deijenige (immer), der gegen sein Gewissen handelt.114 Dem Aquinaten zufolge versteht sich die Verbindlichkeit des (persönlichen) Gewissens (conscientia) als Anwendung (applicatio scientiae ad aliquem specialem actum) eines Wissens (habitus synderesis — oder habitus principiorum practicorum, habitus sapientia und habitus scientiaus), der ratio (agere secundum rationem116), die dem inneren Willensakt das vom Willen intendierte Ob112

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Vgl. Thomas von Aquin (1925). II-II, q 110, a 1, resp. S. 526: „Quod autem aliquis intendat falsitatem in opinione altenus constituere, fallende ipsum, non pertinet ad speciem mendacii, sed ad quamdam perfectionem ipsius [...]." Der ,Gegenstand' einer Handlung ist immer ein relationaler Ausdruck, dessen Bezug ein ,Tätigkeitsprinzip' ist; der Gegenstand kann die Akte erst unter Bezug auf ein solches Prinzip in der einen oder anderen Weise spezifizieren; vgl. u. a. Thomas von Aquin: Über sittliches Handeln. Summa theologiae I-II, q 18-21. Übs., komm, und hg. von Rudolf Schönberger. Einleitung von Robert Spaemann. Stuttgart 2001, q 18, a 5, S. 42-49. - Zu diesem, in der Zeit erst neu gebildeten Ausdruck, der ebenso wie subiectum (,Gegenstandsbereich') später eine andere Bedeutung erhält, Lawrence Dewan: „Obiectum". Notes on the Invention of a Word. In: Archives d'histoire doctrinale et litteraire du moyen age 48 (1981), S. 37-96. Vgl. Thomas von Auin: Quaestiones quodlibetales [1256-59; 1269-72]. Cura et studio Raymundi Spiazzi. Torino 1956. III, q 12, a 2, resp. S. 65 f.: „[...] actus humanus iudicatur virtuosus vel vitiosus secundum bonum apprehensum, in quod per se voluntas fertur, et non secundum materialem obiectum actus: [...] Et ideo dicendum est quod omnis conscientia, sive recta, sive erronea, sive per se malis, sive in indifferentibus, est obligatoria; ita quod qui contra conscientiam facit, peccat." Vgl. Thomas von Aquin: De veritate [1256-59]. In: ders.: Quaestiones disputatae. Bd. I. Cura et studio Raymundi Spiazzi. Romae 1964. q XVII, a 1, resp. S. 148: (applicati scientiae) „ad aliquem actum particularem [...] secundum quod consideratur an actus sit rectus vel non." Sapientia meint in etwa das Wissen, das sich auf die höchsten Gründe bezieht und scientia mehr oder weniger das empirische Wissen; synderesis den natürlichen, gegenwärtigen und unverlierbaren Habitus (selbst bei Kain sei sie nicht verloren gegangen), der die obersten moralischen Prinzipien umfasst, den nach dem Sündenfall verbliebenen ,göttlichen Kern', der weder irren noch sündigen kann. Allerdings ist bei der Verwendung des Ausdrucks nicht immer klar, ob die ersten Prinzipien der praktischen Vernunft (primum pricipium in ratione paraticä) gemeint sind oder die vorgängigen Vorschriften des natürlichen Gesetzes {primum praeceptum legis). Vgl. Thomas von Aquin (1925). I-II, q 90, a 1, resp. S. 418: „Regula autem et mensura humanorum actuum est ratio, quae est principium primum actuum humanorum [...]."

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jekt vorstellt (als subjektive Vorstellung - apprehensio). Genau das ist es, was die moralische Qualität des (inneren) Aktes bestimmt:117 „Wenn es von der Vernunft als schlecht vorgestellt wird, richtet sich der Wille darauf als etwas Schlechtes - nicht weil es wesentlich schlecht [malum secundum je], sondern weil es in der Erfassung durch die Vernunft in akzidentieller Weise schlecht ist."118 Bei den hier nur vereinfachenden Darlegungen ignoriere ich die Wandlungen, die sich bei dem doctor angelus etwa von seinem frühen Sentenzenkommentar bis zu den Auffassungen, die er in De malo oder gegen Ende seines Lebens in seiner Summa Theologiae darlegt, und ebenso vernachlässige ich die Frage, ob das Gewissen (dictamen rectae rationis) immer ohne Schuld irre.119 Hinter den speziellen Ansichten des Aquinaten steht die Vorstellung, dass niemand freiwillig das Böse anstrebe. Das Wesen des Menschen sei es, glücklich zu sein -finis ultimum ist die beatitude, die Glückseligkeit. Die Glückseligkeit würde zwar von allen verstanden als der in höchster Weise vollkommene Zustand, worin er aber wesenhaft bestehe, bleibe verborgen.120 Gleichwohl sei es unmöglich, dass der Mensch das nicht wolle; er besitze eine natürliche Neigung' (naturalis inclinatio) zum Guten. Das Ziel, dem der Wille unbedingt folge, ist nicht wieder Mittel für ein Ziel; der Mensch handle immer in Bezug auf einen Zweck, propter finem, und letztlich: propter ultimum finem. Es ist ,das letzte Ziel', und es ist nach Thomas nicht möglich, dass der Wille dieses letzte Ziel nicht will: „[...] voluntas naturaliter tendit in suum findem ultimum; omnis enim homo naturaliter vult beatitudinem. Et ex hac naturali voluntate causantur omnes aliae voluntates, [..,]."121 Der Mensch trägt in sich ein natürliches Verlangen', das nicht nichtig sein kann, wenn Gott als Bildner der Natur den Dingen nicht das entzieht, was ihnen eigentümlich ist - ein natürliches Streben' kann daher, weil »natürlich', nicht von vornherein vergeblich, sondern es muss prinzipeil erfüllbar sein.122 Irren kann sich das .Gewissen' beim praktischen Vernunftgebrauch im Ziehen der Schlussfolgerungen,123 beim iudicum prudentiae angesichts des Tuns 117

Vgl. Thomas von Aquin (2001). q 19, a 3, S. 94 f. Thomas von Aquin (2001). q 19, a 5, resp. S. 106 f. 119 Vgl. ζ. B. Thomas von Aquin (1964). q XVII, a 4, ad 9, S. 335, wonach auch das sich irrende Gewissen nicht ohne guten Grund etwas vorschreibt: „Quando conscientia erronea dictat aliquid faciendum, dictat illud sub aliqua ratione boni [...]." 120 Vgl. Thomas von Aquin: Scriptum super libros Sententiarum [1252-56]. In: ders.: Opera omnia [...]. Bd. VIII. Paris 1880. II, d 38, 1,2, ad2. 121 Vgl. u. a. Thomas von Aquin (1925). I-I, q 60, a 2, resp. S. 313. 122 Vgl. Thomas von Aquin (1925). Ι-Π, q 3, a 8, resp S. 23; zum desiderium naturale auch Thomas von Aquin (1925). I-I, q 75, a 6, resp. S. 377. Zu diesem wichtigen Lehrstück des Aquinaten gibt es zwar nicht wenig Literatur, aber ich kann das hier auf sich beruhen lassen. 123 Vgl. Thomas von Aquin (1925). I-II, q 94, a 6, S. 439. Während beim theoretischen Gebrauch der ratio die Schlussfolgerungen notwendig sind (per modum conclusionem) und sie von allen auch prinzipiell eingesehen werden können, werden sie bei praktischen Bestimmungen ad particularia jeweils durch .Ergänzungen' (determinatio, consideratio, compositio) erzeugt; vgl. ebd., I-II, q 95, a 2, resp. S. 441: wo zwischen conclusiones ex principiis und determinationes quae aliquorum communium bzw. specificatio quaedam praeceptorum legis naturae unterschieden wird. Die speziellen Folgerungen für das Han118

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im Einzelfall, bei der richtigen Erfassung der jeweiligen Handlungssituation:124 Letztlich handelt es sich immer um ein nur probables, nie von Unsicherheiten freies Handlungswissen.125 Hieraufbraucht an dieser Stelle ebenso wenig weiter eingegangen zu werden wie auf die Analyse der einzelnen Schritte, in denen bei Thomas der Handlungskomplex gesehen wird, obwohl das unter dem Aspekt aufschlussreich ist, dass so die Komplexität der Beschreibung eines durch mannigfache Teilakte zusammengesetzten Gesamtvollzuges zunimmt: Differenziert wird dieser Vollzug zum einen im Blick auf die Bildung des Ziels (von apprehensio über volitio und cognitio zur intentio), zum anderen hinsichtlich des Findens und der Wahl geeigneter Mittel {consilium über consensus, iudicium, electio und praecipere bis usus) mittels finaler Analyse (modo resolutorio)126, und überwölbt wird das ganze durch die Verwandlung des ordo intentionis in einen ordo executionis: Das principium intentionis ist der letzte Beweger des Willens und der Lust, das principium executionis ist das, wodurch die menschliche Handlung in Gang gesetzt wird (also die unmittelbare Bewegungsursache).127 Irritierend ist auf den ersten Blick, dass man nach Thomas seinem Gewissen (der ratio) selbst dann zu folgen habe, wenn es irrt (conscientia errans, ratio

dein (proprias conclusiones propinquae primis principiis) sind nicht allen einsichtig; vgl. ebd., H I , q 94, a 4, S. 437. Schließlich bedarf es der Überwindung der .ungeordneten sinnlichen Strebebewegungen', die den Vernunftgebrauch behindern; vgl. ebd., Ι-Π, q 59, 5, ad 1, S. 258: „virtus passiones incordinatas superat". 124 Zum Ort der prudentia, des iudicium prudentiae, vgl. Thomas von Aquin (1925). Ι-Π, q 57, a 5, ad 3, S. 249: die Klugheit als die rechte Vernunft des Tubaren (recta ratio agibilium). - Auf die Wandlungen, die sich beim (moralischen, ethischen) prudentia-Begriff vollzogen haben, kann hier nur hingewiesen werden, vgl. u. a. James E. Keennan: Distinguishing Charity as Goodness and Prudence as Rightness. In: The Thomist 56 (1992), S. 407-426; sowie ders.: Goodness and Rightness in Thomas Aquina's Summa Theologiae. Washington 1992, ferner John Treloar: Moral Virtue and the Demise of Prudence in the Thought of Francis Suarez. In: American Catholic Philosophical Quarterly 65 (1991), S. 387-405. 125 Das Urteil bleibt angesichts der Vielzahl möglicher Mittel immer unsicher; vgl. Thomas von Aquin (1964). q 22, a 6, ad 4, S. 400: „[...] ea quae sunt ad finem, non habent hanc determinationem respectu finis [seil, wie „in scientiis demonstrativis"], ut remoto aliquo eorum, removeatur finis [...]. Et ideo ex necessitate [...] respectu finis non inducitur necessitas ei [seil, voluntati] respectu eorum, quae sunt ad finem." 126 vgl. Thomas von Aquin (1925). I-II, q 14, a 5, resp. S. 72. Hierzu u. a. Julius Pinckaers: La structure de l'acte humain suivant saint Thomas. In: Revue Thomiste 55 (1955), S. 393-412; sowie Ralph M. Mclnemy: Aquinas on Human Action. A Theory of Practice. Washington 1992, vor allem S. 51-74. 127 vgl., ohne damit bereits die Komplexität eines solchen Übergangs anzusprechen, ζ. B. Thomas von Aquin (1925). I-II, q 1, a 4, resp. S. 4: „In finibus autem invenitur duplex ordo, scilicet ordo intentionis et ordo executionis, et in utroque ordine oportet esse aliquid primum. Id enim quod est primum in ordine intentione, est quasi principium movens appetitum; unde subtracto prineipio appetitus a nullo moveretur. Id autem quod est principium in executione, est unde ineipit operatio; unde isto prineipio subtracto, nullus ineiperet aliquid operari. Principium autem intentionis est ultimus finis; principium autem executionis est primum eorum quae sunt ad finem." Beim Aquinaten finden sich auch Andeutungen, dass beides nach unterschiedlichen Verfahren prozediert, modo compositionis und modo resolutorio·, vgl. Thomas von Aquin (1925). I-II, q 14, 5, S. 72.

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erronea). Die Beziehung zwischen obligatio legis, also der eindeutigen Bindung durch das (göttliche) Gesetz, und obligatio conscientriae, also der verbindlichen Kraft des subjektiven Gewissens, scheint nie zuvor in dieser Weise gefasst worden zu sein. Voraussetzung für die Entschuldbarkeit ist freilich, dass die Unkenntnis unfreiwillig (involuntarie) zustande kommt. Das aber war der entscheidende Punkt: die Frage nämlich, inwiefern es überhaupt einen Irrtum gibt (error conscientiae), der nicht verantwortbar ist. Obwohl kein Zweifel bestand, dass es erst vor dem Hintergrund einer übergeordneten Normierung des Sittlichen sinnvoll erscheint, von conscientia recta und erronea zu sprechen,128 stellt sich die Frage nach dem Wissen um die obligatio legis. Von der Antwort hierauf hängt ab, ob es ein schuldlos irrendes Gewissen gibt, durch welches sich das Handeln rechtfertigen lässt. Anders formuliert: Wie gestaltet sich der Zusammenhang zwischen ignorantia, die zweifellos schuldfrei gegeben sein kann (aber frei gewollt, eine Sünde darstellt), und error, der gleichwohl immer schuldhaft sein kann? Wie begreift sich also die Theorie des Irrtums? Wird der error so bestimmt, dass er allein auf das dictamen conscientiae bezogen ist, so ist er immer dann unentschuldbar, wenn er als eine Zweiteilung aufgefasst wird: Es ist dann bereits das Bewusstsein um die Sündhaftigkeit des Tuns als das Auseinandertreten der Einsicht in das Gesollte und der in irgendeiner Weise motivierten Abweichung von diesem Gesollten - es ist ein Tun, bei dem man weiß, dass es nicht getan werden darf. Das nimmt dem irrenden Gewissen als gewusste Verkehrtheit die Spitze. Es ähnelt dann eher Auffassungen der Selbsttäuschung (etwa als Willensschwäche). Doch das entspricht gerade nicht den Vorstellungen des Aquinaten. Denn auch dann, wenn das irrende Gewissen sich auf etwas richtet, das per se gut ist, verpflichtet es nicht. Nach der älteren Auffassung ist allein die Zurückweisung des Irrtums gefordert - nicht gefordert ist hingegen die Korrektur des Irrtums, sondern allein die Aussetzung des handelnden Gewissens (deponere conscientiam), des dictamen conscientiae. Im Großen und Ganzen erscheint das als die Lösung des Problems vor der thomistischen: Der Mensch sündigt, wenn er seinem irrenden Gewissen folgt; er sündigt aber auch, wenn er ihm zuwider handelt.129 Keine Instanz, nicht einmal Gott,130 dürfe und könne den Menschen nach Thomas von Aquin zwingen, gegen sein Gewissen zu handeln.131 Die Erklärung 128

Damit zusammen hängt der noch im 17. Jahrhundert beliebte Gottesbeweis auf der Grundlage des Zeugnisses des Gewissens: das dictatum conscientiae zeuge von einem göttlichen Gesetzgeber (der seine Gesetze gleichsam in das Herz der Menschen geschrieben habe), so dass ihnen mehr oder weniger dunkel eine Gottesvorstellung einwohnt. 129 Vgl. Bonaventura: In Secundum Librum Sententiarum Petri Lombardi [um 1250]. In: ders.: Opera Omnia [...]. Bd. Π. Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1885. d. 39, q ΠΙ, S. 906f. Hierzu auch Xavier G. Colavechio: Erroneous Conscience and Obligations. A Study of the Teaching From the Summa Halesiana, Saint Bonaventura, Saint Albert the Great and Saint Thomas Aquinas. Washington 1961. 130 Gott könne einem Sünder, der nicht bereue, oder gegen dessen Überzeugung nicht verzeihen; vgl. Thomas von Aquin (1925). III, q 86, a 2, resp. S. 578: ideo impossibile est quod peccatum alicui remittatur sine poenitentia secundum quod est virtus." 131 Vgl. Thomas von Aquin (1964). q 22, a 8 und a 9, S. 401-404.

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des Aquinaten findet diese ..Unverfügbarkeit' des Gewissens und damit die uneingeschränkte Geltung der Aufrichtigkeit als das Gebot, seinem Gewissen zu folgen, in der Gottesbeziehung des Menschen. Da der menschliche Wille immer partikulär ist (ratio particularis), stellt sich die Frage, wie er, wenn er gut sein soll, mit dem Willen Gottes übereinzustimmen habe.132 Der Verstand (des Christen), selbst wenn er irrt, begreift sein Urteil als wahr und daher als von Gott abgeleitet; und darin, dass alle Wahrheiten von Gott stammen, irrt der Mensch nie. Im Einzelnen wisse der Mensch zwar nicht unbedingt, was Gott von ihm wolle - und so ist er denn auch nur eingeschränkt daran gebunden, seinen Willen dem Gottes anzupassen133 - , doch das Gewissen selbst erscheint als Ankunft des göttlichen Gebotes.134 Auch wenn man nicht immer wisse, was Gott will, so wisse man doch, was Gott will, dass wir es wollen. Nicht hinsichtlich des materialiter, sondern hinsichtlich des formaliter Gewollten richtet sich das menschliche Handeln auf das umfassende göttliche Gut.135 Formaliter habe sich der Mensch dem göttlichen Willen anzugleichen - und das heißt nichts anderes, als seinem Gewissen zu folgen.136 Die locutio contra internam conceptionem mentis ist immer contra conscientiam, und das unterbricht die mit dem Folgen des eigenen Gewissens verwirklichte Beziehung zu Gott: Derjenige, der lügt, folgt nicht seinem Gewissen und verstößt so gegen das (einzige) Gebot (für den inneren Willensakt), nämlich sich formaliter dem göttlichen Willen anzugleichen. Die Begründung des Lügeverbots beruht mithin zunächst nicht auf einem Verhältais zum Mitmenschen, sondern in der Beziehung zu Gott. Genau das ist für die uneingeschränkte Geltung des Gebots der Aufrichtigkeit (officium veracitatis) entscheidend. In Konstellationen menschlichen Zusammenlebens können Fragen der Notlüge daher auch nicht den Charakter dieses Lügeverbots berühren, keine Umstände können die universelle Geltung dieses Gebots der Aufrichtigkeit einschränken - veracitas obligat semper ad semper. Anders verhält es sich beispielsweise beim Tötungsverbot, dessen Begründung bei Thomas denn auch nicht dem des Lügeverbots entspricht, auch wenn nicht selten die Notlüge in Parallele zur Situation der Notwehr gesehen wurde. Und ebenfalls anders verhält es sich mit den so genannten Ausgleichsünden (peccata compensata), die in Kauf genommen werden, um größere Sünden zu vermeiden.137

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Vgl. Thomas von Aquin (2001). I-II, q 19, a 10, resp. S. 132 ff. Vgl. Thomas von Aquin (2001). I-II, ad 1, S. 136: „Sed in particulari nescimus quid Deus velit; et quantum ad hoc non tenemur conformare voluntatem nostram divinae voluntati." 134 vgl. Thomas von Aquin (1964). q XVII, a 4, ad 2, S. 335: „[...] conscientiae dictamen nihil est aliud quam perventio praecepti divini [...]." 135 Vgl. Thomas von Aquin (2001). I-II, q 19, a 10, S. 134: „Ex fine autem sumitur quasi formalis ratio volendi illud quod ad finem ordinatur. Unde ad hoc quod aliquis recta voluntate velit aliquod particulare bonum, oportet quod illud particulare bonum sit volitum materialiter, bonum autem commune divinum sit volitum formaliter." 136 Thomas von Aquin (2001). I-II, q 19, a 10, S. 134: „Voluntas igitur humana tenetur conformari divinae voluntati in volito formaliter [...]; sed non materialiter." 137 So auch Augustinus (1887a). 9,20, Sp. 530. 133

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Genau in dem Moment der Bestimmung der Lüge, bei der die Beziehung zu Gott wesentlich ist, liegt denn auch die Erklärung dafür, dass Thomas bei seiner Definition des Lügens auf die Täuschungsabsicht (zunächst) verzichten kann. Die Wahrhaftigkeit ist keine Rechtspflicht - nicht etwas, das man dem Nächsten schulde. Die Aufrichtigkeit anderen gegenüber resultiert aus dem, was man seiner eigenen Ehrenhaftigkeit (honestas morum; imago Dei) schuldet. Es ist ein debitum morale, nicht nur ad maiorem honestatem virtutis, sondern ad conservandam honestatem.™ Ansonsten widerstreite der Mensch seiner göttlichen (Vernunft-)Natur: „Gott wird von uns nur dadurch beleidigt, dass wir gegen unser Gutes [„nostrum bonum"] handeln."139 Und da das menschliche Gute im secundum rationem esse liege,140 ist das Lügen immer verwerflich. Erst als debitum legale wird die Aufrichtigkeit in Wort und Tat, die Veritas in dicendo, zu einer Teiltugend der Gerechtigkeit, und erst bei ihr greifen letztlich Begründungen wie der Missbrauch der Sprache oder die Zerstörung des sozialen Zusammenlebens. Die Aufrichtigkeit ist daher auch keine reine Umgangstugend wie die Höflichkeit. Während allein der ungeordnete Wille (inordinata) als causa efficiens der Lüge (voluntas falsum enuntiandi) erscheint, richtet sich der Sprechakt der Lüge als debitum legale an der Wirkung der Aussage aus, also an der Täuschung als Effekt der Lüge. Dabei sind dann drei Momente ausschlaggebend: der Wille, etwas (gemessen an den eigenen Überzeugungen) Falsches (falsitas materiale) zu sagen (falsitas effectiva), also V-,(A, Wt); die vom inneren Urteil abweichende äußere Rede (locutio difformis ab inferiore iudicio mentis), also A t (A, W2)> wobei man den Willen hat, andere zu täuschen (voluntus alium decipiendf), also I x (falsitas formale) - Versprecher oder Schreibfehler werden auf diese Weise ausgeschlossen - ; sowie die beim Adressaten erzeugte falsche Auffassung (deceptio realiter secuta\ communicatiofalsitatis), also: Aj(ß, W2).m Letzteres bindet den Sprechakt des Lügens an seinen Erfolg. Vereinfacht gesagt: Die Lüge ist allein schon aufgrund der bewussten falsitas materiale angesichts Gottes verwerflich. Erst die Täuschungsabsicht (cupiditas fallendi), die Erfolg haben kann, macht sie gegenüber dem Nächsten verwerflich.

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Vgl. Thomas von Aquin (1925). Π-ΙΙ, q 80, resp. S. 385: „Debitum quidem legale est ad quod reddendum aliquis lege adstringitur; et tale debitum proprie attendit justzitia, quae est principaluis virtus. - Debitum autem morale est quod aliquis debet ex honestate virtutis. Et quia debitum necessitatem importat, ideo tale debitum habet duplicem gradum. Quoddam enim est sic necessarium ut sine eo honestas morum conservari non possit; [...] sicut conferens ad maiorem honestatem, [...]." Thomas: Summa contra gentiles [1259-64]. Ediderunt, transtulerunt, adnotationibus instruxerunt Karl Albert et Paulus Engelhardt cooperavit Leo Dümpelmann. Darmstadt 2001. III, 122, S. 196 f. Thomas von Aquin (2001). I-II, q 18, a 5, resp. S. 44: „[...] bonum hominis est secundum rationem esse, malum autem quod praeter rationem." Dabei handelt sich um ein DionysiusZitat. Das entspricht der nach dem vierfachen aristotelischen Ursachen-Schema vollzogenen Analyse der veracitas, vgl. Thomas von Aquin (1925). I-II, q 55, a 4, S. 239.

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Beim Lügen handelt es sich mithin um eine Handlung, die ex natura actus trotz bester Absichten immer zu verwerfen, immer Sünde ist. Beim konkreten Handeln kommt es zu einer Asymmetrie: Ein bestimmter Typ von ,guter' Handlung kann diese Qualifikation verlieren, denn kein Handlungstyp ist in der Weise gut, dass ihn Motive und Umstände des konkreten Handlungsvollzugs zum Schlechteren verwandeln können. Bei dem Typ von Handlung, der als schlecht eingestuft wird, vermöge kein Motiv und kein Umstand des konkreten Handlungsvollzugs ein gutes Handeln herbeizufuhren. Obwohl der Aquinate bei der Beurteilung konkreter Handlungsvollzüge nicht nur die Motive des Handelnden, sondern auch die situativen Umstände, in denen seine Handlung erfolgt, als Faktoren für das Urteil kennt,142 beeinflussen die Umstände und die Absichten allein den Grad der Sündhaftigkeit (qualitas peccatorum) - dabei gilt die Lüge als solche nur als lässliche Sünde (peccatum venalia).143 Doch erfahrt das Lügen durch sie keine wesenhafte Veränderung.144 Denn Jeder Wille, der von der Vernunft abweicht, sei diese eine rechte oder eine irrige, [ist] immer schlecht [,..]."145 Wenn Α nach der ratio den Wissensanspruch Α{(Ψι) annimmt, aber aufgrund seines Willens Ä(W2) äußert, dann ist das immer schlecht - zwischen innerem Denken und äußerer Rede muss immer Übereinstimmung (aequilitas) herrschen.

Das Lügen vom debitum morale zum debitum legale Doch was geschieht, wenn die ratio sagt, dass man zum Vorteil des Nächsten zu lügen habe? Die Antwort ist zweifach: Handelt es sich um ein Wissen von der Lüge, dann bleibt es eine Lüge, wie gut auch immer der Wille sein mag; ist man 142 vgl. Thomas von Aquin (1925). I-II, q 7, vor allem a 2 (S. 45 f.): „Uttum circumstantiae humanorum actuum sint consideranda a theologo." Die circumstantiae werden von Thomas als Akzidentien aufgefasst, und alles hängt davon ab, wie sich ein Unterscheidungskriterium zwischen dem, was bei einer konkreten Handlung akzidentiell ist und was nicht, angeben lässt - also zwischen Wesensbestimmtheit und akzidentieller Bestimmtheit, worin denn auch ein Kernstück der vom Aquinaten adaptierten aristotelischen Philosophie zu sehen ist. 143 vgl. Thomas von Aquin: Scriptum super libros Sententiarum [1252-56]. In: ders.: Opera omnia [...]. Bd. IX. Paris 1880. III, d 38, q 1, a 4, ad 4, S. 630. Nur dann, wenn sie Tugenden wie der Liebe (Gottes- oder Nächstenliebe) oder der Gerechtigkeit widerstreite, sei sie ex genere suo eine schwere Sünde. Thomas ist der Ansicht, dass nur wenige angesichts des eigenen Todes auf eine Lüge zur Hilfe verzichten würden; vgl. ders.: Thomas von Aquin (1925). Π-Π, q 69,a3, ad 1, S. 347; ebd., q 119, a 1, ad 3, S. 555 undq 89, a 1, resp. S. 439: „[...] plurimi in mendacium labuntur [...]." 144

Vgl. Thomas von Aquin (1925). Π-ΙΙ, q 110, a 3, resp. S. 528:,Mendacium [...] est malum ex genere: [...]." Auch ζ. B. II-II, q 55, a 3, S. 279. Nach Augustinus (1887b). 42, Sp. 516, könne kein Umstand die wesentliche Schlechtigkeit einer Lüge auflieben: „[...] per seipsum, qua mendacium est, utique turpe est." Vgl. auch ders.: Contra mendacium [422], In: Thomas von Aquin (1925). 18, Sp. 528. i « Vgl. Thomas von Aquin (2001). I-II, q 19, a 5, S. 107.

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aber des guten Glaubens (bona fides), dass man zur Lüge verpflichtet sei, dann habe man seinem Gewissen als regula proximo moralitatis uneingeschränkt zu folgen.146 Der Erfolg des Lügens hängt vom Wissen des Adressaten der Äußerung ab, das Lügen selber aber allein vom Wissen desjenigen, der sich äußert. Wie bereits erwähnt, bietet sich die Aufrichtigkeit gegenüber anderen immer auch als eine Frage der Klugheit dar:147 So bedeutet die Forderung nach Wahrhaftigkeit nie die nach (unaufgeforderter) Selbstoffenbarung oder die Antwortpflicht auf indiskrete Fragen, sondern es geht immer um das Balancieren des richtigen Maßes von Zuviel oder Zuwenig beim legitimen Anspruch des Einzelnen an Geheimhaltung. Die veracitas besteht dann in der uneingeschränkten Pflicht, nicht zu lügen. Der Unterschied zwischen praecepta affirmativa und negativa macht das Lügeverbot erst universell:148 Das Gebot des Sagens der Wahrheit gilt nur .immer, aber nicht für immer' (semper sed non ad semper)·,149 gebrochen wird es durch Unterlassung (omissio). Doch diese Unterlassung ist partikulär zulässig, da es keine Offenbarungspflicht gibt und mithin nicht immer auch ein Tun gefordert ist. So ist denn auch - wie gesehen - die dissimulatio als Unterlassung nicht verboten. Das Lügeverbot gilt demgegenüber ,immer und fur immer' {semper et ad semper)lso - und im Dekalog findet es sich als praecepta negativa: „Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten" (Ex 20, 16; Dtn 5, 20). Gebrochen wird es durch Übertretung (transgress io), die sich in den Gegensatz zu einer Tugend setzt; denn das Lügeverbot ist zugleich ein Unterlassungsgebot. Mit dem Übertreten eines Unterlassungsgebotes überschreitet man - wie bei der simulatio - eine Grenze {terminus).151 Aus dem generellen Verbot der Lüge folgt denn auch nicht das generelle Wahrheitsgebot. Nach christlicher Vorstellung können (in der Regel und in der Zeit) nur solche Gebote uneingeschränkte Geltung beanspruchen, deren Begründung sich wie beim Lügeverbot direkt auf Gott bezieht und nur indirekt auf die Mitmenschen. Das genau ist der Anknüpfungspunkt des wohl einzigen Versuchs im 17. Jahrhundert, die Probleme des strikten Lügeverbots auf eine veränderte Grundlage zu stellen. Die Aufrichtigkeit gilt als debitum morale und ist damit noch nicht ein Problem der Gerechtigkeit, also kein debitum legale (etwa der

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Thomas von Aquin (2001), S. 112 f. Thomas von Aquin unterscheidet zwei Arten von Klugheit: Auf der anderen Seite steht die .Klugheit des Fleisches' (prudentia carnis), die ,List' (dolus), der ,Betrug' (fraus), die ,Verschlagenheit' (astutia), die nur scheinbar mit der eigentlichen Klugheit verwandt seien; denn diese widerstreite nicht der .Gerechtigkeit' gegenüber dem Nächsten, bei jenen sei das der Fall; vgl. Thomas von Aquin (1925). Π-ΙΙ, q 55, q 3, S. 278 f. Vgl. Thomas von Aquin (1925). I-II, q 100, a 7, ad 3, S. 473. Thomas von Aquin (1925). Π-ΙΙ, q 140, a 2, ad 2, S. 621: „[...] praecepta affirmativa, etsi semper obligent, non tarnen ogligant ad semper, sed pro loco et tempore." Vgl. Thomas von Aquin (1925). q 33, a 2, resp. S. 191: „[...] praecepta negativa obligant semper ad semper." Vgl. Thomas von Aquin (1925). Π-Π, q 79, a 3, ad 3, S. 383: „[...] sicut peccatum transgressionis opponitur praeceptis negativis, quae pertinent ad declinationem a malo, ita peccatum omissionis opponitur praeceptis affirmativis, quae pertinent ad faciendum bonum."

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rechtlich-gesetzlichen Bindung). Zwar besitzt die Zunahme an Komplexität bei der Analyse des Lügens Auswirkungen auf ihren Status, und nicht zuletzt die reservatio mentalis ist als ein komplexes Mittel zu sehen, den Konflikt zwischen uneingeschränktem Lügeverbot und Situationen unberechtigten oder sogar ungerechten Wissensbegehrens zu mildern. Doch erst von nichtkatholischer Seite kommt es explizit zu einem Vorschlag, das Lügeverbot (allein) als ein debitum legale aufzufassen, das dann aus bestimmten Rechten, die Menschen gegeneinander besitzen, resultiert - Rechte freilich, die zuvörderst an bestimmte Eigenschaften des Menschen gebunden sind und die der Mensch, so die Pointe, durch sein eigenes Verhalten verwirken kann, so dass Aufrichtigkeit ihm gegenüber keine Pflicht mehr ist. Grotius' Argumentation in dem 1625 zuerst erschienen Werk De jure Belli ac pacis Libri Tres, das zahlreiche (kommentierende) Auflagen erlebt, lässt sich zwar knapp und bündig zusammenfassen, wie das nicht selten geschehen ist, doch bietet sie eine Reihe von Details, die erst vor dem hier nachgezeichneten Hintergrund aufschlussreich werden. Entscheidend sind zwei Fragen: Wie gelingt es Grotius, ohne Rückgriff auf bestimmte theologische Lehrstücke, die das Lügen als debitum morale ausweisen, das Lügeverbot zu begründen? Die zweite Frage zielt auf das Problem, mit dem die Tradition der weniger strengen Auffassung des Lügeverbots immer zu kämpfen hatte und das sich anhand von drei Optionen charakterisieren lässt. (a) Die immer präsente Option besteht darin, anhand von Kriterien - zum Beispiel mit Konzepten wie .objektiv begründete Zwecke' oder ,gute subjektive Absichten' - die ,Ausnahmen' in der Weise zu umgrenzen, dass die .willkürliche' Ausweitung solcher Ausnahmen verhindert wird. Aber es ist nicht allein eine Frage der Kriterien; erforderlich sind Maßstäbe zur Gewichtung und zum Abwägen von Unrecht und Nutzen der Täuschung. (b) Die zweite Option besteht in fallweise ausgerichteten, sich an konkreten Konfliktsituationen (moralische Konflikte, collisio officorum) orientierenden allgemeinen Entscheidungshilfen in (moralisch) ebenso komplexen wie undurchsichtigen Situationen. Genau das geschieht in so exzeptioneller Weise im 17. Jahrhundert, dem ,goldenen Zeitalters der Moraltheologie', im Rahmen der blühenden und vornehmlich von Jesuiten beherrschten Kasuistiken (casus conscientiae), die freilich als summae confessorem sive de casibus conscientiae schon lange zuvor von den Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner im Rahmen ihres Interesses am forum internum gepflegt wurden.152 152

Hierzu die bis an den Beginn des 16. Jahrhunderts reichenden, allerdings sich auf den .Ablass' beschränkenden Studien von Johannes Dietterle: Die Summae confessorum (sive de casibus conscientiae). In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 24 (1903), S. 353-374, S. 520548; Zeitschrift für Kirchengeschichte 25 (1904), S. 248-272; Zeitschrift für Kirchengeschichte 26 (1905), S. 59-81; Zeitschrift für Kirchengeschichte 27 (1906), S. 70-83, S. 166188, S. 296-310, S. 431^(42; sowie Zeitschrift für Kirchengeschichte 28 (1907), S.401431; Pierre Michaud-Quantin: Sommes de casuistique et manuels de confession en moyen äge (ΧΙΓ - XVF siecles). Louvain, Lille u. Montreal 1962, fiir die Zeit bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Zur späteren Entwicklung bei den Jesuiten Johann Heiner: Die Entwicklung der Moraltheologie zur eigenständigen Disziplin. Regensburg 1970; ferner übergrei-

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(c) Die dritte Option besteht in der Veränderung der Definition der Lüge, und zwar so, dass die .Ausnahmen' - also die Fälle, bei denen lügenartige Sprechakte in Konfliktsituationen gerechtfertigt sein sollen - überhaupt nicht mehr als ,Lügen' erscheinen. Diese Option besteht lange Zeit nur theoretisch, und erst im 17. Jahrhundert findet sich eine in dieser Hinsicht grundlegend veränderte Bestimmung der Lüge - gelegentliche Äußerungen, die das Lügen als eine Art Liebespflicht auffassen ( o f f i c i u m caritatis), bleiben Ausnahmen. 153 Die zweite Frage lautet mithin: Auf der Grundlage welcher Annahme gelingt es Grotius, eine solche veränderte Bestimmung der Lüge zu entwickeln? Der holländische Gelehrte erörtert zwar die Lüge im Rahmen der Frage nach der Zulässigkeit der Täuschung im Handeln zwischen Kriegsparteien, doch seine Ausführungen stehen unter allgemeinerer Absicht, nämlich unter der Erörterung der angesichts des Naturrechts erlaubten Täuschung. 154 Im Anschluss an die vorangegangenen Ausführungen zur Unterscheidung zwischen dissimulatio als ,Nichthandeln' und simulatio als ,wirkliches Handeln' überrascht es nicht, dass Grotius die entscheidenden Paragraphen just mit dieser Unterscheidung beginnt, da er den Ausdruck ,List' {dolus) ohne durchgängige pejorative Bedeutung verwenden will und die dissimulatio als dolus bonus ausdrücklich als erlaubt ansieht.155 Auch überrascht nicht, dass er hierfür als Autorität nicht allein auf Augustinus zurückgreift, sondern ebenso auf das erwähnte Beispiel von Abrahams Verleugnung der eigenen Frau und dabei, gelehrt wie er ist, ebenfalls auf den Kirchenvater hinweist (weder Thomas von Aquin noch andere scholas-

fend Edouardo Moore: La Moral en el siglo XVI y primera mitad del XVII. Ensayo de sintesis historica y estudio de algunos autores. Granada 1956. - Inwieweit der ,Nominalismus' wegbereitend für die kasuistische Traktierung moralischer Fragen gewesen ist, bleibt eher spekulativ und braucht hier nicht erörtert zu werden; in diese Richtung argumentiert Louis Vereecke: Les editions des ceuvres morales de Pierre de la Palu (t 1342) ä Paris au debut du XVF siecle. In: Studia Moralia 17 (1979), S. 267-282; auch Ricardo Villoslada: La Universidad de Paris durante los estudios de Francisco de Vitoria, O.P. Roma 1938, S. 127-164; zum Hintergrund u. a. Servais Pinckaers: Autonomie et heteronomie en moral selon S. Thomas de Aquin. In: Autonomie: Dimensions ethiques de la liberte. Hg. von Carlos Josphat Pinto de Oliveira u. Dietmar Mieth. Fribourg 1978, S. 104-123; ders.: La theologie morale ä la periode de la grande scholastique. In: Nova et Vetera 52 (1977), S. 118131; sowie ders.: La theologie morale au declin di Moyen-age: le nominalisme. In: Nova et Vetera 52 (1977), S. 209-221. 153 Vgl. Martin Luther: [Vorlesungen über 1. Mose von 1535-45]. In: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 43. Weimar 1912, S. 456. Luther hat sich recht ungleichmäßig mit diesem Problem, nicht zuletzt auch in seinen Bibelexegesen, auseinander gesetzt; gelegentlich konnte so bei ihm der Eindruck eines,Laxismus' entstehen. 154 Vgl. Grotius: De jure Belli ac pacis Libri Tres [1625], Amstelaedami 1712. Lib. ΠΙ, cap. I, § I, S. 638. - Ich habe die Ausgabe mit zahlreichen annotationes des aus Hamburg stammenden, seit 1642 in den Niederlanden lehrenden in der Zeit ebenso berühmten wie gelehrten Johann Fridrich Gonovius (1611-1671). Die Ausgabe erschien postum 1680 und fand zahlreiche Auflagen noch bis Ende des 18. Jahrhunderts. 155 Grotius (1712). § VE, S. 646, spricht zwar von „actu negativo" und „actu positivo"; aber das, was gemeint ist, spricht er dann deutlich aus, wenn er darauf hinweist, dass es keine Pflicht der Selbstpreisgabe gibt: „Nam cum nec quae scias, nec quae velis omnia aperire aliis teneris, sequitur ut dissimulare quaedam apud quodam."

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tische Theologen oder Philosophen, auch nicht solche des 16. Jahrhunderts, erwähnt Grotius direkt). Dolus malus ist dann die simulatio als aktives Handeln. Wenn dabei .Sprache' eine wesentliche Rolle spielt, dann heißt die List bzw. der Betrug (zunächst) mendacium}56 .Sprache' fasst Grotius zwar so weit, dass nicht nur wortsprachliche Zeichen gemeint sind.157 Obwohl sich die Ausweitung auf nichtsprachliche Handlungen oft findet,158 ist gleichwohl strittig gewesen, inwiefern sich .aufrichtig' (oder .verstellt') auf (nichtsprachliche) Handlungen beziehen lässt, inwiefern man also nicht nur von simluatio sermonis, sondern auch von simulatio operis, von ,Tatlüge', sprechen könne (contra mentem ire verbo vel facto). Das erste der zwei entscheidenden Lehrstücke bei Grotius bildet die Charakterisierung deijenigen Zeichen, bei deren Verwendung der Tatbestand des Lügens überhaupt gegeben sein kann. Diese Zeichen sind gebildet worden im Blick auf die .gegenseitige Verbindlichkeit' (die ein Kommunizieren mit ihnen charakterisiert), und Grotius greift zur Bestimmung dessen, was er damit meint, auf die traditionelle aristotelische Formel zurück: „Voces ergo, & nutus, & notae quas diximus, reperta sunt ad significandum cum mutua obligatione, quod Aristoteles dixit κατά συνθηκην."159 Für alle anderen Handlungen und Zeichen gilt das nach Grotius nicht, und das ist gleichbedeutend damit, dass man solche Handlungen und Zeichen verwenden kann, auch wenn man der (sicheren) Ansicht ist, dass sie missverstanden werden.160 Sie dürfen gegen die .Gewohnheit' („consuetudo") gebraucht werden, denn diese liege im Belieben der Verwender („singulorum arbitrio"). Es gebe hierfür keine gemeinsame Übereinkunft' („consensu communi"). Eine solche .Gewohnheit' sei daher auch nicht verpflichtend („qualis consuetudo neminem obligat").161 Freilich sei das nur unter zwei Bedingungen erlaubt, wenn dabei kein ,äußerer Schaden' entstehe oder ein solcher, der - unabhängig von der Art seines Entstehens durch List - nicht verboten sei.162 Für seine Unterscheidung der Zeichen nach ihrem Grad der Verbindlichkeit der Kommunikation argumentiert Grotius nicht direkt, sondern nur 156 vgl. ebd., § V m , 1 (S. 646): „Dolus qui in acta positivo consistit, si in rebus simulatio; sei in sermone, menadcium vocatur." 157

Vgl. Grotius (1712). § VIII,1, S. 647 mit Hinweis auf die Stummen: „[...]; sed addendum est, non solis vocibus tale fieri indicium, sed & nutibus, ut apud mutos, sive illi nutus aliquid habent cum re significata commune ipsa batura, sive tantum ex instituto significata: [...]." Ich brauche hier nicht auf die Sprachauffassung des Grotius einzugehen, dass die Wörter ohne menschliche Zutat nichts bedeuten („citra huminum voluntatetem nihil significare"). 158 Vgl. Thomas von Aquin (1925). Π-ΙΙ, q 111, a 1, resp. S. 532: „Signa autem exteriora [seil, bei der Lüge] non solum sunt verba, sed etiam facta." Fidelitas heißt die Übereinstimmung zwischen den Worten (eines Versprechens) und den Handlungen; ebd., q 110, a 3, ad 5, S. 529. 159 Grotius (1712). § VHI.2, S. 647 f. Gronovius trägt „Ex constitute signo omnibus communi" nach. 160 vgl. Grotius (1712), S. 648: „Hinc sit" - wobei er sich erneut auf Augustinus beruft - „ut rebus aliis uti üceat, etiamsi praevideamus futurm ut alter inde falsam concipiat opinionem." 161 Grotius (1712). Vm.5, S. 649. 162 Vgl. Grotius (1712). VIII.2, S. 648: „Loquor de eo quod intrinsecum est, non de eo quod accidit. Itaque exemplum ponendum est, ubi nullum sequitur inde nocumentum, aut ubi nocumentum ipsum, seposita doli consideratione, licitum est."

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indirekt durch die Illustration der beiden Formen zulässiger Verstellung mit nichtverbindlichen Zeichen anhand von Beispielen aus der Heiligen Schrift. Es sind genau solche Beispiele, bei denen immer wieder aufgetragen war, sie mittels Exegese vom Odium verwerflicher Täuschung zu befreien. Bei der Art der Kommunikation, bei der kein Schaden entstehe, tritt noch ein gesondertes Argument hinzu. Es ist der Hinweis auf ein altes Lehrstück der Kirchenväter - οίκονομιαν. Der Gedanke der klugen Haushaltung bietet in der griechischen Antike keine ungewöhnliche Umschreibung für die göttliche Einrichtung des Universums (οικονομία τοϋ θεοΰ). Zugleich findet sich οικονομία als ein rhetorischer Ausdruck, der so viel wie dispositio bedeutet, der also die (zielgerechte) Auswahl und Anordnung der Gedanken meint.163 Auch das ließ sich auf die Heiligen Schrift übertragen: Die οικονομία bietet dann „un modele d'intelligibilite" zur Integration der einzelnen Texte der Heiligen Schrift in ein bedeutungsvolles Ganzes.164 Später ist dieser Gedanke bei allen patres ecclesiae präsent - Grotius nennt Clemens von Alexandria (bis ca. 215)165 und Chrysostomus (334/54-407)'66 als Belege - , allerdings bei unterschiedlicher Terminologie und nicht immer in derselben Bedeutung. Bei dieser Form der Herablassung, nicht zuletzt dann, wenn sie sich bei den Jüngern oder Jesus Christus findet, haben die Kirchenväter auch den Verdacht unzulässiger Täuschung erörtert (was Grotius nicht anspricht). Doch Furore macht der Gedanke der Akkommodation just in der Zeit des Grotius, und zwar vor allem im Zusammenhang mit der Schlichtung eines der bedeutendsten zeitgenössischen Wissenskonflikte zwischen der kosmologischen Naturerkenntnis in Gestalt des kopernikanischen Systems und der Heiligen Schrift. Es handelt sich um den Versuch, bei bestimmten Dingen, vor allem bei solchen, die nicht direkt Fragen des Glaubens betreffen, durch die Annahme ihrer Anpassung an die Verstandeskraft der gewöhnlichen Menschen - etwa als accommodatio

ad captum auditorum oder ad captum vulgi oder ad errores

vul-

163 Vgl. ζ. B. Quintilian: Institutio oratoria. III, 3, 9 u. I, 8, 9. 164 Robert Waelkens: L'economie, theme apologetique et principe hermeneutique dans l'Apocriticos de Macarios Magnes. Louvain 1974, S. 82. 165 Clemens von Alexandrien verwendet neben οικονομία auch den ebenso üblichen Ausdruck συνκατάβασις, vgl. ders.: Stromata. In: ders.: Opera Omnia. Paris 1890. VII, 9, Sp. 473 u. S. 476. 166 Zu Chrysostomus in dieser Hinsicht u. a. Fabio Fabbri: La „condiscendenza" divina nell' ispirazione biblica secondo S. Giovanni Crisostomo. In: Biblica 14 (1933), S. 330-347; Pietro Moro: La „condiscendenza" divina in S. Giovanni Crisostomo. In: Eunte docete 11 (1958), S. 109-123; Bertrand de Margerie: Introduction ä l'histoire de l'exigese. I: Les Peres grecs et orientaux. Paris 1980, S. 214-239; R. Hill: On Looking Again on Synkatabasis. In: Prudentia 13 (1981), S. 3-11; Mel Lawrenz: The Christology of John Chrysostomos. Milwaukee 1987, S. 164-176; Duane A. Garrett: An Analysis of the Hermeneutics of John Chrysostom's Commentary on Isaiah 1-8 With An English Translation. Lewiston 1992, S. 176-179; Rudolf Brändle: Synkatabasis als hermeneutisches und ethisches Prinzip in der Paulusauslegung des Johannes Chrysostomus. In: Stimuli. Exegese und ihre Hermeneutik in Antike und Christentum. Hg. von Georg Schöllgen u. Clemens Schölten. Münster 1996, S. 297-307. Zum Hintergrund auch Frances Μ. Young: God. An Essay in Patristic Theology. In: The Modern Churchman 29 (1981), S. 149-165.

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gares - ihre Autoriät und Dignität nicht durch die Zuweisung einer falschen Aussage zu untergraben. Denn im Fall der Heiligen Schrift wäre eine falsche Aussage ihres Charakters wegen immer eine Lüge.167 Erörtert wird das noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, und zwar nicht zuletzt auch hinsichtlich der ethischen Verträglichkeit der in dieser Weise aufgefassten ,Lehrart' von Jesus Christus und seinen Jüngern (die bei den strikten ethischen Konzeptionen der Ablehnung anheimfallt).168 Die besondere Pointe dieses ersten Lehrstücks liegt gleichwohl an anderer Stelle. Es ist die gegenseitige Verbindlichkeit („cum mutua obligatione") des Gebrauchs der Zeichen, die sich im ,Verkehr der Menschen' finden („in commercio hominem versatur").169 Zwar erscheint eine solche Verbindlichkeit alles andere als selbstverständlich, aber Grotius geht darauf nicht ein. Stattdessen präsentiert er eine Auswahl (scheinbar) widerstreitender Bekundungen zur Striktheit des Lügeverbots, die er mit seiner Lügebestimmung zu harmonisieren („dissidentium sententiarum concilliatio") verspricht, und zwar mit der Unterscheidung zwischen einem weiten und einem engeren Lügebegriff. Bei der Festlegung des weiten Begriffs schließt er zunächst - wie es durchweg geschieht die falsche Aussage als Irrtum aus, so dass deijenige nicht lügt, der etwas Falsches sagt, wenn er es fur wahr hält.170 Doch hier entsteht ein Problem, nämlich das der Mehrdeutigkeit. Die Übereinstimmung von sermo interior und sermo exterior hinsichtlich der Wahrheit bedeute nicht, dass der sermo exterior nicht mehrere Bedeutungen besitzt, die nicht alle hinsichtlich der Wahrheit mit dem sermo interior übereinstimmen. Diese Vieldeutigkeit nun ist nach der Bestimmung von Grotius kein Lügen. Der bislang umrissene Sprechakt des Lügens wird mithin bei der Äußerung differenziert und lässt sich genauer fassen: Ä(W) = (A, B, S, W) - Α und Β werden in bisheriger Weise gedeutet. Der Wissensanspruch W wird mittels eines 167

168

Das ist ein gängiger Schluss - nur ein einziges Beispiel: John Wyclif (ca. 1326-1384): De veritate sacrae scripturae [ca. 1377/78]. Now First edited from the manuscript with critical and historical notes by Rudolf Buddensieg. Bd. I. London 1905 (ND New York u. London 1966). II, 17, S. 49, wo es darum geht, dass sich Christus auf Johannes als Elias bezieht (Matth 11, 14/15): „[...] ad tercium dico manifestum est fide scripture, baptistam negantem, se esse prophetam, non in hoc, commisisse mendacium. Quia per idem tolleretur equivocacio in Helia et de quocunque, quod scripturae exprimit ad sensum equivocum. Et sie autor scripture Cristas foret mendacissimus, sicut maior pars scripture sue foret blasfemum mendacium. Nam coloracius foret confessio Joannis vera, qua confessus est, se non fuisse Heliam, et ascercio Cristi falsa et impossibilis, qua dixit: [...]." Oder ebd., Π, 18, S. 67: „[...] si enim scriptura sacra falsificata quamquam falleret, cum hoc non üposset, nisi ex preordinacione divina, deus ordinasset scripturam non sacram, sed mendacem ad fallendum filios suos karissimos, que mendacitas redundaret indubie in autorem."

Zum gesamten Komplex vgl. Lutz Danneberg: Schleiermacher und das Ende des Akkommodationsgedankens in der hermeneutica sacra des 17. und 18. Jahrhunderts. In: 200 Jahre Reden über die Religion. Hg. von Ulrich Barth u. Claus-Dieter Osthövener. Berlin u. New York 2000, S. 194-246. 169 Grotius (1712). Lib. IV, cap. I, IX. 1, S. 649. 170 Ygi Grotius (1712). Lib. IV, cap. I, X.l, S. 651: „[...] ideoque non mentitur qui dicit rem falsam quam veram existimat, sed qui dicit rem veram quidem, sed quam falsam putat, mentitur." Gronvius trägt ein: „Dissensus cum mente."

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semantischen Gebildes S geäußert. Das ist, wenn man so will, das semantische Problem des richtigen Verstehens des Sprechaktes. S kann verschiedene semantische Eigenschaften haben. Für die Frage nach der Aufrichtigkeit gehört zu den aufschlussreicheren die Ambiguität. Vereinfacht lässt sich die Ambiguität als Disjunktion auffassen, so dass sich die semantische Präsentation eines Wissensanspruchs W\ prinzipiell sowohl durch Si, als auch durch S2, der sich durch W] ν W2, aber auch durch alle ähnlich gebauten Disjunktionen wiedergegeben lässt. In moderner Deutung verstößt die Wahl von S2 anstelle von als semantische Präsentation von fV, gegen ein in Anlehnung an H. Paul Grice formulierbares Kommunikationspostulat, das eine situativ maximale Information fordert: „Solange es nicht überwiegend gute [...] Gründe für das Gegenteil gibt, sollte man [...] nicht eine schwächere Behauptung statt einer stärkeren machen, wenn der Hörer an der zusätzlichen Information interessiert ist, die durch die stärkere Behauptung mitgeteilt würde."171 Zwar kennt das 17. Jahrhundert auch diese Maxime. Doch an solchen ambiguinen (äquivoken) semantischen Präsentationen hängt sich eine Umgehung des strikten Lügeverbots: die aequivocatio, auch amphiblogia oder locutio ambigua. Die aequivocatio kennen, anders als mitunter angenommen wird, im 17. Jahrhundert nicht nur katholische Theoretiker, und so ist es denn auch Grotius. Vermag die Wahl einer semantisch ambiguinen Repräsentation des Wissensanspruchs Unaufrichtigkeit in Aufrichtigkeit zu verwandeln? Man sagt die Wahrheit, aber verborgen durch einen ambiguinen Satz, und erst im Zuge der Bedeutungszuweisung von B, also seinem Verstehen des Sprechakts, wird daraus eine ,Lüge': also \j(A, W,), A S (A, W, ν W2) und Aj(B, W2). Genau diese Frage hat das ausgehende 16. und das ganze 17. Jahrhundert im Blick auf die Aufrichtigkeit gefesselt. Diese Art des Kommunizierens lässt sich auch so deuten, dass dem Adressaten ein Trugschluss nahe gelegt wird, verstanden als ein Schluss, der nicht logisch korrekt ist, aber als richtig zu erscheinen vermag. Gelingt die Lüge mit einer Äußerung Ä( W] \ W2), wobei Vj(A, Wi) und A{(B, W2) gelten soll, so vollzieht Β den logisch nicht korrekten Schluss von Ä( W] ν W2) auf Aj (A, Wi). Der Schluss ist deshalb nicht korrekt, weil logisch nicht (( tV, ν W2) —> W ^ gilt. Als korrekt mag der Schluss unter anderem deshalb erscheinen, weil er nicht logisch ausgeschlossen ist und weil ν W2) in der Situation nur unvollständig bekannt ist. Für die Erörterung des Themas im 17. Jahrhundert ist die Forderung entscheidend, dass derjenige, der Ä(S; Wx ν W2) gesagt bekommt, die Chance besitzen muss, den verborgenen Wissensanspruch fV, zu erkennen. Der äquivoke Sinn muss zugänglich sein, so dass Β aufgrund seines Wissens über A, Ä(W) und über W, grundsätzlich das verstehen kann, was mit einer ambiguinen semantischen Präsentation S2 gemeint ist. Bei der aequivocatio eröffnet sich diese Zugänglichkeit mittels der Forderung, dass die Willkür der Mehrdeutigkeit nicht dem Sprechenden unterliegt, sondern sie im (allgemein zugänglichen) Sprach-

171

S. G. O'Hair: Implikation und Bedeutung. In: Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Hg. von Georg Meggle. Frankfurt a. M. 1979, S. 354-369, hier S. 367.

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gebrauch (usus loquendi) verankert ist. Es erscheint dann nicht so, als würde A mit Ä(S; Wi ν W2) täuschen, sondern es handelt sich um eine Selbsttäuschung oder einen Irrtum von Β aufgrund mangelnden Wissens. Die aequivocatio erscheint daher nicht als simulatio, sondern als dissimulatio. Die reservatio (restrictio) mentalis im engeren Sinn unterscheidet sich von der aequivocatio darin, dass bei ihr ein Satz gesagt wird, den erst eine mitgedachte Restriktion - oftmals eine raum-zeitliche oder eine auf den Fragenden bezogene Spezifizierung - wahr macht. Die aequivocatio erscheint dann als besonderer Fall der reservatio mentalis, die sich anhand einer Differenzierung des schematischen Modells des Sprechakts des Lügens charakterisieren lässt. Zum bisherigen inneren Akzeptieren A-,(A, W{) und zur Äußerung Ä (A, W2) tritt als eine Komponente des inneren Akzeptierens W3) hinzu, deren einzige Funktion darin besteht, At(A, Wt) und Ä(A, W2) miteinander kompatibel zu machen. Die Pointe ist, dass RAt(A, W3) und Ä ( A , W2) eine Einheit bilden, deren Komponenten unterschiedlichen Status haben: Die eine folgt dem sermo interior, die andere dem sermo exterior. Für Α bedeutet das, dass er unter der Bedingung von ΚΑ|(Λ, W}) seine Äußerung Ä(A, W2) innerlich akzeptieren kann, also W}) Λ Ä(A, W2)) —* Aj(A, W2). Damit lügt nur noch deijenige, der in der Situation der Äußerung Ä (A, t„ W2) nicht auch R(/f, tl W}) gedacht hat. Für Β stellt sich beim richtigen Verstehen von Ä(A, W2) dann das Problem, auch R Aj(/i, W3) zu erkennen. Abgesehen davon, dass die reservatio mentalis mehr oder weniger streng an bestimmte Situationen der Rede gebunden wird, in denen sie erlaubt ist, und an solche, in denen sie verboten bleibt, und abgesehen davon, dass man mit einem solchen Sprechakt zwar nicht mehr lügt, aber man mit ihm andere Pflichten verletzen und deshalb moralisch inakzeptabel handeln kann, erscheint das Konzept der reservatio mentalis als eine Fortentwicklung der Bestimmung der Lüge ohne Täuschungsabsicht; denn nimmt man das Lügen vor jeder Kommunikation im sermo interior, dann stellt sich das Problem der Zugänglichkeit grundsätzlich nicht mehr, und auch die Mittel zur Vermeidung des Lügens sind nicht mehr an die Verstehbarkeit gebunden. Doch dieser Eindruck täuscht, und er ist nur fur den (problematischen) Fall der Selbsttäuschung, wenn überhaupt, gegeben. Denn die Beispiele für die reservatio mentalis setzen immer die Kommunikation im sermo exterior voraus; dann aber greift das thomistische Konzept der vollendeten Lüge mit expliziter intentio fallendi. Beim Konzept der reservatio mentalis löst sich die Täuschungsabsicht TA des Sprechers in das Problem des richtigen Verstehens (eines Sprechakts) auf. Bei fehlender Diskrepanz von innerem Akzeptieren und Äußerung handelt es sich aufgrund des Vorbehalts nicht mehr um eine Lüge: Welche Absichten A auch immer verfolgen mag, es ist keine Täuschungsabsicht im Sinn des Lügens. Das Konzept der mentalen Restriktion ähnelt sich so ebenfalls der dissimulatio an: Man verschweigt nur, äußert aber aufgrund von ΚΑ,(Λ, W3) nichts, was mit der Wahrheit, also A-,(A, Wt), inkompatibel ist. Das, worum es auch hierbei geht, ist die Zugänglichkeit von R(A, tx W3). Erst sie erlaubt das richtige Verstehen der Äußerung Ä(A, W2), und das ist letztlich nichts anders als das allgemeine

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Problem des Verstehens fremder Rede. Dieses Problem kann zwar mehr oder weniger subtil sein, aber immer stellt es sich dar als eine Funktion des (erreichbaren) Wissens von B. Unabhängig vom konkreten Praxisfeld, also dem der Kasuistik im weiteren und engeren Sinn mit den wiederkehrenden, zum Teil situativen und wenig attraktiven Beispielen, finden ebenso wie bei der aequivocatio die Überlegungen zur reservatio mentalis ihren Rückhalt in der Kompetenz einer seit langem eingeübten exegetischen Praxis: Die Theoretiker haben denn auch immer wieder zur Stützung des Konzepts der reservatio mentalis auf die Beispiele in der Heiligen Schrift hingewiesen, die ohne die Zuweisung einer versteckten oder verborgenen Bedeutung als falsch, als ,Lüge', erscheinen würden - das, was bei der aequivocatio die distinctio (die divisio textus) ist, ist für den mentalen Vorbehalt der sensus mysticus als verborgener Sinn, der freilich zugänglich ist, aber nur mit erhöhter Anstrengung. Das Problem, das sich vor allem bei der reservatio mentalis einstellt, ist das des Sichtbarmachens oder Sichtbarhaltens. Das Verborgene muss Spuren im Unverborgenen der Rede hinterlassen, die seine prinzipielle ,Entbergung' bei entsprechendem Wissen erlauben. Bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts hält sich eine der Entwicklung in der hermeneutica generalis auf den ersten Blick so heftig widerstreitende Auffassung, dass im Unterschied zur menschlichen Rede, deren Verstehen niemals über die probabilitas hermeneutica hinauskommt, die göttliche Rede in der Gestalt der Heiligen Schrift mit Gewissheit verstanden werden kann.172 Doch der Grund für diese behauptete Möglichkeit ist schlicht. Im Fall der Heiligen Schrift ist es der (mittel)kluge und weise (bonus et sapiens) Autor, nämlich Gott, der in direkter Rede an den Menschen, also in der Heiligen Schrift, seine Adressaten weder täuscht noch belügt.173 In diesem Fall heißt das, dass seine Rede grundsätzlich fur alle zugänglich ist und dass man bei dem, was, wenn auch nicht ohne Anstrengung, bei der Heiligen Schrift erkannt wird, nicht 172 vgl. Lutz Danneberg: Probabilitas hermeneutica. Zu einem Aspekt der InterpretationsMethodologie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Aufklärung 8 (1994), S. 2 7 ^ 8 ; sowie ders.: Siegmund Jacob Baumgartens biblische Hermeneutik. In: Unzeitgemäße Hermeneutik. Interpretationstheorien im Denken der Aufklärung. Hg. von Axel Bühler Frankfurt a.M. 1994, S. 88-157. 173

Nur erwähnt sei, dass es im 17. Jh. zu der bekannten Imagination eines täuschenden Gottes oder mächtigen Geistes {genius malignum) kommt, die einen fundamentalen Charakter für die Entfaltung des begründenden Denkens bei Descartes spielt, hierzu auch Tullio Gregory: Dio ingannatore e genio maligno. Nota in margine alle Meditationes di Descartes. In: Giornale Critico della Filosofia Italiana 5 (1974), S. 477-515. Freilich sind solche Imaginationen schon älter und gehören in den Kreis der in den scholastischen Summen angestellten Überlegungen zum Ausloten der Grenzen der potentia absoluta Der, in der Sicht zumindest einiger Theologen hätte Gott auch lügen können; vgl. α a. Tullio Gregory : La promperie divine. In: Logique, ontologie et theologie au XHVe siecle. Hg. von Zenon Kaluza u. Paul Vignaux. Paris 1984, S. 187-195; Jean-Francis Genest: Pierre de CefFons et l'hypothese du Dieu trompeur. In: Logique, ontologie et theologie au XHVe siecle. Hg. von Ζέηοη Kaluza u. Paul Vignaux. Paris 1984, S. 197-214; Katherine H. Tachau: Robert Holcot On Contingency and Divine Deception. In: Filosofia et teologia nel trecento. Hg. von Luca Bianchi. Louvain-LaNeuve 1994, S. 157-196, insbes. S. 180£f.; zudem die Hinweise bei Hester G. Gelber: It Could Have Been Otherwise. Contingency and Necessity in Dominican Theology of Oxford, 1200-1350. Leiden 2004.

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fürchten muss, dass es dem weiterhin in der Schrift verborgenen Sinn widerspricht. Beim Erkennen der Heiligen Schrift bleibt zwar immer noch etwas finden Menschen Verborgenes. Das ist, konfessionell unabhängig, gleichsam in das göttliche Autorkonstrukt eingeschrieben. Aber die göttliche reservatio mentalis als sensus mysticus kann niemals aus dem offenbaren Sinn eine Lüge machen, selbst wenn sie für den Menschen immer unzugänglich bleibt. Ein Satz oder ein Wort kann nach Grotius ,vieldeutig' sein, „id est, plures uno significatus admittit", und zwar aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauch („ex vulgi usu"), aus dem Umstand spezieller Wissenschaftssprachen („ex artis consuetudine") oder aufgrund eines figürlichen Gebrauchs („ex figura aliqua intelligibili").174 Es reicht, wenn der Gedanke im sermo interior mit einer der Bedeutungen einer .vieldeutigen' Rede übereinstimmt, selbst wenn man sicher ist, dass diejenigen, die die Rede aufnehmen, diese gerade nicht in dieser Bedeutung, mithin in intendierter Weise falsch verstehen. Wie die anderen Theoretiker ist auch Grotius bemüht, diese aequivocatio - diesen Ausdruck wählt er vermutlich wohlweislich nicht - an bestimmte Voraussetzungen zu binden, die sie erst als zulässig ausweisen.175 Zwar verwendet Grotius zunächst noch den Ausdruck mendacium für den weiten Begriff dieser Täuschung, doch handelt es sich nicht um einen Lügebegriff, der einen moralisch unzulässigen Sprechakt benennt - später heißt diese Form dann einfach Falschsagen (falsiloquium). Hiervon grenzt Grotius das Lügen im engeren Sinn ab, und hier findet sich denn auch das zweite entscheidende Lehrstück. Der enge Begriff des Lügens umgreift alle Sprechakte, die von ,Natur aus nicht erlaubt' seien („naturaliter illicitum est"). Das, was den Unterschied ausmacht („significatio differentiam"), ist ein ,Recht' desjenigen, an den sich die Rede richtet: Es ist das Recht auf die ,Freiheit des Urteils' (Judicandi liberats"), das man dem anderen aufgrund eines stillschweigenden Vertrages („quasi pacto quodam tacito") schulde. An dieser Stelle wird deutlich, dass auch die Verbindlichkeit der Übereinkunft der Zeichen auf einem solchen Vertrag beruhen soll. Die Einrichtung der Sprache ist ohne eine solche gegenseitige Verbindlichkeit ,nutzlos'. Das ,Recht auf Freiheit des Urteils' setzt die Verbindlichkeit des Sprachgebrauchs voraus,176 und dieses Recht schließt das ,Recht auf Wahrheit' ein. 174

Grotius (1712). Lib. IV, cap. I, X.l, S. 651. Vgl. Grotius (1712). Lib. IV, cap. I, X.2, S. 651: „Verum quidem edst talem locutionem usurpatam temere non probandam. Sed potest ex accedentibus causis honestari: [...]." Es folgt eine Aufzählung fast ausschließlich biblischer Beispiele zur Illustration. Unzulässig sind Täuschungen mit Vieldeutigkeiten dann, wenn sie der Ehre Gottes, der Nächstenliebe, der Ehrerbietung gegenüber Vorgesetzten, aber auch der Sache, um die es geht und die die Eindeutigkeit des Verstehens verlangt, widerstreiten. - Erst an späterer Stelle setzt sich Grotius knapp mit Beispielen auseinander, die im Rahmen auch der zeitgenössischen Theorie der aequivocatio und der reservatio mentalis erörtert werden, ohne sich allerdings auf die Gegenwart zu beziehen, vielmehr spricht er nur von den .Schulen' (also den Scholastikern) der vergangenen Jahrhunderte; vgl. Grotius (1712). Lib. IV, cap. I, XV.3 u. 4, S. 658 f. 176 Vgl. Grotius (1712). Lib. IV, cap. I, XI. 1, S. 653: „Id autem nihil est aliud quam judicandi libertas, quam homines colloquentes his quibus colloquuntur debere, quasi pacto quodam 175

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Hier ist nun die Stelle erreicht, wo sich der gravierende Unterschied zwischen der Bestimmung der Lüge in der Tradition als debitum morale und der des Grotius auf den Punkt bringen lässt: Die Lügedefinition im engeren Sinn kommt bei Thomas von Aquin ohne die intentio fallendi aus, also ohne den Bezug auf den Adressaten; die des Grotius ist ohne sie überhaupt nicht möglich. Grotius versichert sich dann auch in dieser Hinsicht der Autoritäten: Nach Simonides zähle Piaton die Pflicht der Wahrheit zur Gerechtigkeit, die Heilige Schrift sehe die Lüge als falsche Rede gegen den Nächsten, Augustinus bestimme sie mit der Absicht des Betrügens.111 Die Einschränkungen des strikten Lügeverbots ergeben sich nun aus der Bestimmung der Lüge selbst; denn ein Recht, das jemandem zugestanden wird, muss nicht immer gegeben sein - Grotius spricht von , jure existente ac manente", also ,vorhandenes und noch dazu bleibendes Recht': 178 Es muss zur Zeit der Rede bestehen. 179 Mithin ist es von bestimmten zu erfüllenden Bedingungen abhängig. Sie sind nicht erfüllt etwa aufgrund mangelnder Urteilsfähigkeit, die die Ausübung des Rechts der .Freiheit des Urteils' voraussetzt, oder wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, sich das Recht selbst verwirken lässt, oder indem darauf freiwillig verzichtet wird, oder indem der Sprechakt so gedeutet wird, dass die Freiheit des Urteils unberührt bleibt (etwa als Scherzrede). In diesem Fall sind es denn auch keine Lügen (sensu structu), also keine unzulässig täuschenden Sprechakte. Ein und derselbe Sprechakt des Lügens kann (in derselben Situation) im Blick auf den einen Adressaten eine Lüge, im Blick auf einen anderen keine sein. Das Herzstück dieser Theorie der Lüge bildet der Gedanke eines .stillschweigenden Vertrages', der sowohl die gegenseitige Verbindlichkeit' des Sprachgebrauchs als auch das ,Recht auf Wahrheit' stiftet. Auf dieses Konstrukt geht Grotius zwar nicht näher ein, aber es ist wohl auch in seinen Augen nicht mehr als eine kontrafaktische Imagination. Sie ist denn auch schnell auf Kritik gestoßen, freilich nicht bei allen - nicht bei Samuel Pufendorf (1632-1694) trotz gelegentlicher Kritikpunkte und stellenweise größerer Ausführlichkeit 180 - , und mitunter hat die Forschung gerätselt, weshalb Grotius zu einem solchen Konstrukt des stillschweigenden Vertrages' greift. Vor dem Hintergrund der Lügebestimmung des Thomas von Aquin, die bis zu Grotius und auch noch über ihn hinaus die mehr oder weniger traditionelle Bestimmung bleibt, ist das freilich nicht sonderlich schwer zu erklären, vor allem wenn man wahrnimmt, dass als Argument für das Lügeverbot immer gegenwärtig war, dass das Lügen im Miss-

tacito, intelliguntur. Haec enim nec alia est mutua illa obligatio quam homines introduci voluerant, simul atque sermone notisque similibus uti instuerunt. [N]am sine tali obligatione inane fuisset tale repertum." 177 Vgl. Grotius (1712). Lib. IV, cap. I, XI.2, S. 654. 178 Vgl. Grotius (1712). Lib. rv, cap. I, XI. 1, S. 653. 179 Vgl. Grotius (1712). Lib. IV, cap. I, XI.2, S. 653: „Desideramus autem ut quo tempore sermo sit, [...]." 180 Vgl. Pufendorf: De Ivre Natvrae et Gentivm, Libri Octo [1672]. Tomvs Primvs. Francofviti et Lipsiae 1759. Lib. IV, cap. I, § 1 ff., S. 434 ff.

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brauch der Sprache bestehe. Zudem wird in der Regel in diesem Zusammenhang auf die nachteiligen Folgen für den zwischenmenschlichen Verkehr hingewiesen, nämlich das so entstehende Misstrauen. Das findet sich bei Augustinus,181 beim Lombarden,182 bei Bonaventura (1217-1274), 183 bei Thomas von Aquin184 oder kurz vor Grotius bei Francisco de Suärez (1548-1617). 185 181

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Vgl. ζ. B. Augustinus (1887c). § 22, S. 243, wo es heißt, dass die Worte nicht dazu bestimmt seien, dass sich die Menschen gegenseitigen betrügen, sondern dass jeder dem anderen seine Gedanken mitteile. Vgl. Lombardus (1981), III, d 38, c 5, S. 216, freilich Augustinus zitierend: „Verba enim ideo sunt instituta: non ut per ea homines invicem fallant, sed per ea in alterius notitiam suas cogitationes ferant. Verbis ergo uti ad fallaciam, non ad quod sunt instituta, peccatum est." Vgl. Bonaventura: In Tertium Librum Sententiarum Petri Lombardi [um 1250], In: ders.: Opera Omnia [...]. Bd. III. Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1887. d 38, a 1, q 2, concl., ad 3, S. 844: „Praeterea [...] [s]ermo [...] ad hoc institutus est, ut sit ,nuntius inteipres ipsius mentis', et ut homo significet alten quod est apud se, et ut constituatur Veritas apud audientem, quae est apud loquentem; et ideo qui ad aliud utitur ipso sermone abutitur et incurrit peccatum mendacii. Non sic autem est semper ex parte facti." Auch ebd., q 2, ratio 6, S. 842: Die Sprache sei dazu da, damit der Mensch das, was er im Inneren hat, ausdrücke. Derjenige, der lüge, gebrauche die Sprache nicht in dieser Weise, sondern zu etwas, wofür sie nicht bestimmt sei; er missbrauche sie und jeder, der eine Sache ihrem Zweck zuwider verwende, der sündige: „Item, verba instituta sunt ad hoc, quod homo exprimat per illa illud quod mente gerit; sed quicumque mentitur, utitur verbis ad contrarium eius, quod mente gerit; ergo quicumque mentitur, utitur verbis ad contrarium eius, ad quod instituta sunt; et omnis qui utitur re ad contrarium eius, ad quod instituta est, necessario illa abutitur; et omnis qui abutitur, peccat: ergo omnis qui dicit menadeiumn, peccat." Bei Thomas von Aquin (1925). II-II, q 110, a 3, S. 528 f. heißt es: Da die Worte von der Natur her Zeichen der Gedanken, sei es gegen die Natur und Unrecht, wenn jemand mit Worten etwas ausdrückt, was er nicht denkt: „Cum enim voces naturaliter sint signa intellectum, innaturale est et indebitum quod aliquis voce significet id quod non habet in mente." Keinen Missbrauch stellt freilich der übertragene Sprachgebrauch dar: „Omne autem figurate aut factum aut dictum hoc enuntiat quod significat eius quibus intelligendum prolatum est." Zu seinem Argument auch Thomas von Aquin (1880). ΠΙ, d 38, a 3, solutio, S. 628: „Cum autem locutio inventa sit ad exeperimendam conceptionem cordis, quandocunque aliquis loquitur quod in corde non habet, loquitur quod non debet. Hoc autem contingit in omni mendacio; unde omne mendacium est peccatum, quantumeunque, aliquis propter bonum mentiatur." Sowie Thomas von Aquin (1956). VIII, q 6, a 4, S. 171 f.: „Utrum mendacium semper sit peccatum." Wenn Thomas zu erklären versucht, worin die Gründe liegen können, warum etwas dem Menschen nicht durchsichtig ist („non sit apparens"), dann kommt er auch zu dem Grund, dass die Unzulänglichkeiten in den Gegenständen unseres Erkennens angelegt sein können („ex defectu ipsarum rerum cognoscibilium"). Es seien vornehmlich Einzeldinge („singularibus et contingentibus") wie Taten, Worte oder Gedanken der Menschen („facta hominum, et dicta et cogitata"), die unsere Sinne nicht erreichen. Dem einen können sie bekannt sein, dem anderen nicht. Im menschlichen Zusammenleben seien die Menschen aufeinander angewiesen. Bei jenen Dingen, fiir deren Erkenntnis ein Mensch zu schwach ist, ist er auf das Wissen der anderen angewiesen, auf das er sich verlassen kann, und zwar so, wie auf das, was er selbst weiß. Die Menschen müssten daher in ihrem Zusammenleben darauf setzen, dass man den Worten des anderen Vertrauen schenken kann. Deshalb nun sei auch jede Lüge ein Sünde, da jede Lüge dem erforderlichen Glauben Schaden zufüge. Vgl. ζ. Β. Suärez: De fide theologica. In: ders.: Opera Omnia [...]. Bd. XII. Paris 1858. Tr. 1, disp. 3, sect. 5, § 8, S. 58 f., wo es zur Sündhaftigkeit der Lüge aufgrund des Missbrauchs

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Doch immer, wenn man zu diesem (Hilfs-)Argument greift, geht es um einen Verstoß gegen die .Natur' der Sprache. Sie gilt dabei als ein Werk Gottes, der sie nicht dafür geschaffen habe, damit man seinen Mitmenschen belüge. Diese Theorie des göttlichen Sprachursprungs und der mit ihm verknüpften Zweckbestimmung findet sich bei Grotius gerade nicht. Die ganze Begründungslast trägt die Annahme eines .stillschweigenden Vertrags'. Das ist der zu entrichtende Preis, um das Lügeverbot allein als debitum legale aufzufassen. Denn ohne die Verbindlichkeit sind die Zeichen nutzlos. Zwar findet sich dieses Argument auch bei den theologisch argumentierenden Begründungen, doch erschließen sie es (mehr oder weniger explizit) aus der sinnvollen Einrichtung der Sprache durch den Allmächtigen. Grotius hingegen schließt hieraus auf einen vorgängigen stillschweigenden Vertrag' als kontrafaktische Imagination. Damit sind die Pointen von Grotius' Bestimmung des Lügens noch nicht erschöpft. Grenzt das erste Lehrstück das Lügen vom Bereich der täuschenden Handlungen ab und löst es die Geltung des Verbots aus der theologischen Begründung, so grenzt das zweite Lehrstück aus dem verbliebenen Bereich erneut etwas aus. Das, was zuvor als Lüge sensu latu bestimmt wurde, lässt sich als Falschrede (falsiloquium) auffassen: Noch immer ist zwar jede Lüge eine Falschrede mit intentio fallendi, aber nicht umgekehrt. Die als Falschrede intendierte Äußerung ist ihrer Bestimmung nach zunächst moralisch wie rechtlich indifferent. Erst in Konstellationen bestimmter Art, in denen das ,Recht auf Wahrheit' verletzt wird, verwandelt sich die Falschrede in eine ablehnungswürdige Lüge. Das Problem ist nicht - wie zuvor - , dass es sich um eine Lüge handelt, bei denen bestimmte Situationen .Ausnahmen' darstellen. Wie gesehen, gibt es keine Pflicht, die Wahrheit zu sagen. An die Stelle der theologischen Begründung für das strikte Verbot des Lügens tritt bei Grotius das Recht des Menschen auf die Freiheit des Urteils und das Recht auf Wahrheit (im Sinn von veracitas). Erst dieses Recht macht das Lügen überhaupt zu einer unzulässigen Täuschung, und das wiederum basiert auf der (kontrafaktischen) Annahme eines stillschweigenden Vertrags. Lediglich als nur debitum legale kann das Lügeverbot an bestimmte Bedingungen geknüpft sein, bei denen das ,Recht auf Wahrheit' verwirkt wird und dann das intendierte Falschreden keine moralisch verwerfliche Lüge darstellt. Dass das Recht an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist, bringt das auf den Begriff, was bislang als .Ausnahme' die Striktheit des Lügeverbots mildern sollte. Es sind bei Grotius keine Ausnahmen, bei denen der Charakter der Lüge

der Sprache und der daraufhin drohenden Gefahr des Misstrauens heißt: „[...] ad hoc institutum est a natura verbum externum, ut per illud significemus internum, et ita possit esse inter rationales naturas societas et fidelitas seu fiducia; totum autem hoc detsruitur, si verba non consonant menti [...]." Dieser Umstand macht die Lüge so wesenhaft schlecht, dass sie nicht einmal Gott erlauben könnte: „Secundo [mendacium] est valde dissonum naturae rationali, quia evertit ordinem ejus, et est contra finem, et neccessitatem verborum seu" - es folgt die oben angeführte Passage - „ulterius concluditur numquam posse honestari propter bonum finem, si retineat rationem falsi signi, seu mendacii, quia ab illo est inseperabilis malitia [...]; ea quae sunt intrinsece malam, non recipere dispensationem etiam divinam."

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bleibt und nur hinsichtlich der Schwere der Sünde variiert. Sondern es sind keine Lügen mehr. Zumindest theoretisch ist dann auch eine Lösung dafür gefunden, wie man in bestimmten Situationen nicht allein mit dissimulatio auskommt, sondern auch zur simulatio greifen kann. Praktisch freilich bleiben die Probleme bestehen, in jedem einzelnen Fall zu erkennen, dass man vom Lügeverbot befreit ist, weil jemand das ,Recht auf Wahrheit' nicht zukommt. Das, was mit Grotius' theologieabstinenter Begründimg aufbricht, ist etwas, das er nur mittels einer kontrafaktischen Imagination heilen kann. Es ist nicht allein die Unplausibilität der Begründung des Lügeverbots über ein Konzept des Missbrauchs der Sprache, das einen stillschweigenden Vertrag verletzt - mehr noch: Die Zukunft lässt zweifeln, inwiefern es bei den Werken (allein) des Menschen überhaupt so etwas wie eine „natürliche Zweckmäßigkeit" gibt - wie die Formulierung noch bei Kant lautet, wenn er von der Lüge als „Mittheilung" von „Gedanken an jemanden durch Worte, die doch das Gegentheil von dem (absichtlich) enthalten, was der Sprechende dabei denkt", sagt, dass das „der natürlichen Zweckmäßigkeit seines [d. i., des Menschen; L. D.] Vermögens der Mittheilung seiner Gedanken gerade entgegengesetzter Zweck [ist], mithin Verzichtthuung auf seine Persönlichkeit und eine blos täuschende Erscheinung vom Menschen, nicht der Mensch selbst."186 Doch zwischen Grotius und Kant geschieht noch viel, auch wenn sich der Kreis mit Kant zu schließen scheint. Denn bei ihm gewinnt das strikte Lügeverbot erneut seinen zentralen Platz - nicht weniger als bei den an der theologischen Tradition orientierten Bestimmungen, doch ohne dass Kant (zumindest explizit) auf theologische Argumente zurückgreift. Bei seiner Begründung tritt an die Stelle des Gottesbezugs in der theologischen und an die Stelle der kontrafaktischen Imagination in der juristischen Tradition weder eine Verletzung dessen, was Gott vom Menschen will, noch eines Rechts des Mitmenschen, sondern die Verletzung einer „Pflicht gegen sich selbst", der „Würde der Menschheit in seiner eigenen Person". Doch diese Ersetzung lässt sich in diesem Rahmen nicht mehr erkunden.

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Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. In: ders.: Werkausgabe. Bd. 8. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfort a. M. 1997. II. Teil, § 9, A 85.

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Hypertrophie als Demut Paradoxien der Codierung von Aufrichtigkeit in der Barockmystik1

Die Affekte werden in der Literatur- und Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts bekanntlich ambivalent bewertet.2 Insbesondere die affektive Überwältigung, das haltlose Unterworfensein unter Leidenschaften und Emotionen wird verurteilt - was sich paradigmatisch bei den negativen Figuren der schlesischen Trauerspiele zeigt, die systematisch durch ihre passionierten Affekte zugrunde gehen. Gilt es für den weltlichen Bereich als Tugend und prudentia, seiner Gefühle Herr zu sein, so gibt es einen Bereich, wo nachgerade das Gegenteil, der affektive Exzess, gefragt ist: der des Glaubens. Bei der Gottesliebe und dem leidenschaftlichen Nachvollzug der Passion Christi gilt es genau umgekehrt, ein Höchstmaß an Affektivität nicht nur zu empfinden, sondern es überdies auch ausdrücken zu können. Ziel ist es, die Echtheit des Gefühls und die Authentizität der Gotteserfahrung zu vermitteln, um die Aufrichtigkeit des Glaubens zu codieren, aber auch (und damit einher gehend), um andere in ihrer Glaubensgewissheit zu festigen. Es ist insbesondere die Mystik, für die die Aufrichtigkeit und Tiefe des Glaubens an die Problematik ihrer Vermittlung gekoppelt sind. Alois Haas hat dies treffend beschrieben: „Wohl in keinem anderen Bereich des menschlichen Lebens lässt sich so zentral ein Sprachproblem feststellen wie in der mystischen Theologie. Wie lässt sich die Seins- und Liebesgemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen sprachlich ausdrücken? Welche Aussagen sind möglich über Gott und dessen Beziehung zum Geschöpf? Ist diesem Verhältnis überhaupt sprachlich beizukommen! Wenn Gott als der ganz andere definiert wird, wie soll er im Medium der doch bloß menschlichen Sprache genannt werden können? Der Mystiker setzt sich über diese Vorbehalte unter Berufung auf die Gnadenerfahrung hinweg: er weiß, wovon er spricht, wenn er in beredten Worten von der Unaussprechlichkeit, seiner Erfahrung des Einswerdens mit Gott Kunde gibt. Aber ist diese Kundgabe damit schon kommunikabel? Kommt sie beim Angesprochenen an dadurch, daß sie ausgesprochen 1

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Der vorliegende Aufsatz greift auf Ausführungen meiner Berliner Habilitationsschrift zurück: Claudia Benthien: Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert. München 2006. Kap. V.l und V.2. Vgl. Reinhart Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik. Göttingen 1986; Jean-Daniel Krebs (Hg.): Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit Bern 1996; Claus-Michael Ort: Affektenlehre. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. von Albert Meier. München 1999, S. 124-39; Johann Anselm Steiger u. a. (Hgg.): Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 2005.

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wird? Man wird - um die Kommunikationsmöglichkeit im Bereich der mystischen Theologie zu begründen - Rekurs nehmen müssen auf den Glauben. [...] Das Mystische ist im Bereich des Glaubens als dessen Ziel und Horizont aussprechbar. Außerhalb dieses Bereichs aber ist es das Unaussprechliche."3 Haas charakterisiert hier die Situation, der sich mystisches Sprechen ausgesetzt sieht. Als Ausweg aus dem fundamentalen Kommunikationsproblem benennt er den Aufbau einer religiösen Sonderwelt, die vom Versprechen getragen ist, dass dort eine Vermittlung des Erlebens möglich ist. Entsprechend schreibt etwa Quirinus Kuhlmann in der Vorrede zu seinem prophetischen Hauptwerk, dem Kühlpsalter, diese Schriften „werden nimals mit blossem lesen oder betrachten, sondern alleine in dem stände völlig verstanden werden, darinnen si geschriben".4 Der Leser soll sich dem Autor mimetisch annähern, dessen Zustand nachfühlen, um so den mystischen Sinn des Werks aufnehmen zu können. Unter Mystik verstehe ich mit Hans-Georg Kemper „die von persönlichem Bekenntnis und von Begründung begleitete Suche nach und Erfahrung von dem Einswerden des Menschen mit dem Numinosen (,unio')", was „die Übung der Gottesliebe im Dienst an der Welt" beinhaltet „(,contemplatio et actio')." 5 Der Begriff Mystik kommt etymologisch von dem griechischen Wortstamm ,myo', was .schließen' und .verschweigen' bedeutet.6 Der Entzug der Sprache ist also eng mit dem Konzept des Mystischen verbunden. Die poetische Rede ist daher oft an die Figur der ineffabilitas gebunden, mittels derer der oder die Gläubige die Unsagbarkeit in Worte zu fassen sucht. In der geistlichen Lyrik findet sich immer wieder die Pathosformel des Verstummens. Oft geht mit ihr eine poetologische Selbstreflexion einher. Dabei wird das Schreiben über die mystische Liebe durchweg als ,Sprechen' verstanden, als ein mündlicher Ausdruck, der sich in einer präsentischen Jetztzeit vollzieht. Leitender Begriff fur das Problem der Darstellung ist daher nicht ,Unbeschreiblichkeit', sondern ,Unaussprechlichkeit', welche vor den Akt der lautlichen Verbalisierung des Gefühls eine Art affektive Schwelle setzt, die inhaltlich mit dem Bereich des Tabus, formal mit dem Problem der Überfülle zu kämpfen hat. Die Barockmystik nimmt dabei Topoi auf, die sich bereits in der mittelalterlichen Mystik finden.7 Die Spezifika dieser sogenannten „Neumystik"8 3

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Alois Maria Haas: Nim din selbes war. Studien zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse. Fribourg 1971, S. 115. Quirinus Kuhlmann: Der Kühlpsalter. Bd. 1. Neudruck. Hg. von Robert L. Beare. Tübingen 1971, S. 3. Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der Frühen Neuzeit. Bd. 3: Barock-Mystik. Tübingen 1988, S. 4. Vgl. Peter Dinzelbacher (Hg.): Wörterbuch der Mystik. Stuttgart 1998, S. 367. Vgl. Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert: Zur Mystik-Rezeption bei Andreas Giyphius und in seinem Freundeskreis. In: ders.: Belehrung und Verkündigung. Schriften zur deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Hg. von Manfred Dick u. Gerhard Kaiser. Berlin u. New York 1975, S. 152-164; Alois Haas: Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik. Fribourg 1979, S. 330-391; Bettina Gruber: Das ,Ich' und Gott in der Mystik des Barock. Zur literaturhistorischen Verortung vormoderner Individualisierungsstrategien. In: Text und Kritik 154: Barock (2002), S. 66-82; zur mittelalterlichen Mystik vgl. Ingrid Kasten: Jenseits der Sprache. Aspekte einer historischen Seman-

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liegen in ihren (zumindest teilweise) überkonfessionellen Zügen und in der Synthese des Menschenbildes der Renaissance mit dem der christlichen Tradition, was zu Annäherungen zwischen mystischer und weltlich-humanistischer Dichtung fuhrt - zum Beispiel in der Rezeption und intertextuellen Bezugnahme auf das hermetische Schrifttum oder in der ähnlichen Verwendung literarischer Stilmittel wie Negationen, Übersteigerungen, Reihungen, Hyperbeln, Antithesen. 9 „Mit ihrem Insistieren auf persönlicher Erfahrung und Subjektivität opponieren die Barock-Mystiker - ohnehin zumeist theologische Laien - gegen die scholastischen Systembildungen sowohl orthodox-theologischer wie frühmodern-philosophischer Provenienz"10, wie Kemper schreibt. Seines Erachtens findet in der Frühen Neuzeit eine auffällige Ästhetisierung der Frömmigkeit statt, und damit einhergehend eine .Heiligung' der Poesie, was einen „wichtigen Schritt auf ihrem Wege zur Autonomie"11 darstellt. Der sprachkritische Impuls der Barockmystik besteht nicht allein in der Problematisierung adäquater Redeformen, sondern kreist zudem um die prekäre verbale Annäherung an ein Tabu, an dasjenige, was mit menschlichen Mitteln nicht nur nicht zu erfassen ist, sondern auch nicht erfassbar sein darf. Aufrichtigkeit' wird zu einer Darstellungsproblematik, die sich selbst zum Thema hat. Dabei lassen sich drei leitende Strategien ausmachen, sich dem Höchsten mimetisch anzunähern, die im Folgenden untersucht werden sollen: Erstens gibt es die Tendenz zur Verausgabung und sprachlichen Hypertrophie, zweitens zur Verknappung, d. h. zur arguten oder hermetischen Andeutung, und drittens den paradoxen Hinweis auf das aptum des Schweigens im Medium des Redens selbst.

Rhetorik der Überfülle und Hypertrophie Es folgen zunächst einige Beispiele, in denen das Problem der Darstellung poetologisch reflektiert und durch eine Rhetorik der Fülle (amplificatio) zu kompensieren versucht wird. In dem Gedicht Morgen=Gedanken bezeichnet Catharina Regina von Greiffenberg ihre schriftstellerische Aufgabe als „Opffer=Gab" und beschreibt sie als eine mühselige Tätigkeit des Preisens, die sie trotz größter Anstrengung niemals zufriedenstellend erfüllen kann. Die ungewöhnlich langen

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tik des Schweigens. In: Paragrana 7.2 (1998), S. 61-80, hier S. 66-73; Haas (1971); Gösta Wrede: Unio mystica. Probleme der Erfahrung bei Johannes Tauler. Uppsala 1974. Vgl. Wentzlaff-Eggebert (1975), S. 152-164. Zu den Charakteristika der Neumystik vgl. Kemper (1988), S. 10 ff. Zur These der Überkonfessionalität siehe auch: Dirk Niefanger: Barock. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart 2000, S. 115. Kemper (1988), S . X f. Kemper (1988), S. XI. „So hat die Barock-Mystik zentrale Tendenzen der Lyrik des 18. Jahrhunderts. - von der Naturpoesie der Frühaufklärung [...] bis zur ästhetisierten Religiosität Klopstocks und der mythopoeitschen Feier der Selbsteimächtigung des Subjekts beim jungen Goethe [...] - mit vorbereitet." Ebd.

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Verse dieses Gedichts - es handelt sich um achthebige Trochäen mit einer Zäsur, w i e beim Alexandriner - lassen sich als Versuch der Überbietung beschreiben: Auf / auf! heb dich aus den Pflaumen: Nimm die Feder in die Hand. Schwing dich von der Eitelkeit / GOTT dein' Opffer=Gab zu bringen. GOtt preiß=loben / ehren / danken / ist ja dein Beruff und Stand. Laß die lebend' Haipf / dein Herz / schön von GOttes Wundern klingen / GOtt / mein Schöffer / Heiland / Tröster / höchste Drey und Einigkeit! sey gepreist vor alle Gnaden / mir erzeiget Lebens=Zeit. Könt' ich allen Meeres=Sand / alle Stein / zu Zungen machen / aller Wälder Haar das Laub / alle Zahl befreyte Sachen; wann mir Mensch=und Engel hülffen: könt ich deines Lobes Preiß nicht den ringsten Theil aussprechen. Dieses nur allein ich weiß / daß die Vnaussprechlichkeit / dessen Allgröß etwas zeiget. Dieses lobt dich auf das höchst / das in Lieb verzuckt still schweiget.12 Das sprechende Ich benennt das poetische Gotteslob als seinen „Beruff und Stand", den es als heiligste Pflicht tagtäglich zu erfüllen habe. In den ersten vier Versen wird diese Tätigkeit ganz konkret als Beruf und Berufung beschrieben. Die Verse fünf und sechs, in denen ein Adressatenwechsel - vom Selbst zu Gott - vollzogen wird, stellen dann eine kleine textuelle Probe dieses poetischen Preises vor. Doch schon der kritische siebte Vers und dann die gesamte zweite Hälfte des Gedichts zeigen das notwendige Scheitern des Versuchs auf: Selbst unter Aufbietung aller erdenklicher, auch nur hypothetischer Mittel - dem Sprechendmachen aller Reiche der Natur, der verbalen Unterstützung durch Menschen und sogar durch die Engel - könnte das Ich „nicht den ringsten Theil" des erforderlichen Lobes „aussprechen". 13 Das Gedicht kulminiert, nach einem durch ein finales Satzzeichen im zehnten Vers angedeuteten Innehalten, im Wissen um die verweisende Figur der ineffabilitas, die Gottes „Allgröß" zumindest „etwas zeiget", d.h. indirekt andeutet. Der abschließende epigrammatische Vers „Dieses lobt dich auf das höchst / das in Lieb verzuckt still schweiget" postu-

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Catharina Regina von Greiffenberg: Geistliche Sonette / Lieder und Gedichte / zu Gottseligem Zeitvertreib / erfungen und gesetzet durch Fräulein Catharina Regina / Fräulein von Greiffenberg / geb. Freyherrin von Seyßenegg: Nunmehr Ihr zu Ehren und Gedächtniß / zwar ohne ihr Wissen / zum Druck gefordert / durch ihren Vettern Hanns Rudolf von Greiffenberg / Freyherm zu Seyßenegg. In: dies.: Sämtliche Werke in 10 Bänden. Bd. 1. Nachdruck der Ausgabe von 1662. Hg. von Martin Bircher u. Friedhelm Kemp. New York 1983, S. 380. Dieses Motiv findet sich in Greiffenbergs Passionsbetrachtungen erneut, wo es heißt: „O ewiges Gnaden=wort! wer kan dir genugsam / vor dieses über dich ergangene Wort danken? Wann man die dankwörter aus allen Sprachen und Bibliothecken zusammenbrächte / ja alle laub= und gräßlein / alle stäublein und tröpflein zu preis=wörtern machte / würde es doch alles nicht erklecken / nur den kleinesten teil deines lob=verdienstes auszusprechen." Catharina Regina von Greiffenberg: Des Allerheiligst- und Allerheilsamsten Leidens und Sterbens Jesu Christi. Zwölf andächtige Betrachtungen: Durch Dessen innigste Liebhaberin und eifrigste Vereherin Catharina Regina / Freifrau von Greiffenberg / Freyherrin auf Seysenegg / Zu Vermehrung der Ehre GOttes und Erweckung wahrer Andacht / mit ΧΠ. Sinnbild-Kupfern verfasset und ausgefertigt. In: Dies.: Sämtliche Werke in 10 Bänden. Bd. 9. Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1672. Hg. von Martin Bircher u. Friedhelm Kemp. New York 1983, S. 510.

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liert paradoxerweise sowohl das Scheitern als auch das Gelingen des Gedichts. Durch das Demonstrativpronomen wird der Text selbstreferenziell, es verweist auf seine Mangelhaftigkeit als paradoxe Form des Gelingens. Und das letzte Wort hat das verzückte Stillschweigen. In Greiffenbergs Sonett Demütige Dienstaufopferung /zu Gottes Ehren richtet das sprechende Ich einen Appell an Jesu, er möge ihm bei der unendlich schweren Aufgabe des Dichtens zur Seite stehen: Ach allerfüller! füll die Wunder=Ehr=Begier! dein' Herrschungs Krön alsdann erlangt mehr Strahlen Zier / wann durch der Stummen Mund du machst die Redner schweigen.14

Das Ich spiegelt sich hier in dem Taubstummen, von dessen Heilung das Markusevangelium berichtet (Mk 7,31-36).15 Es deutet so an, dass es erst aufgrund göttlicher Intervention in die Lage versetzt wird, zu sprechen, seinem „Dienst" nachzugehen. Der vormals stumme Mund ist noch nicht durch Reden verunreinigt, er kann daher aufrichtig, d. h. unschuldig und rein sprechen. In der hier gewählten Wendung des Schweigen-Machens der Redner durch den Mund der Stummen erlangt die Sprachohnmacht Macht über die Sprache; Schweigen wird zur höchsten Zierde Gottes und Leere zur größten Fülle, die den „allerfuller" am treffendsten trifft - ich bediene mich hier mit Bedacht Pleonasmen und anderer Sprachspiele Greiffenbergscher Manier. Die Paronomasie von .Stille' und .Fülle', die die Dichterin an anderer Stelle auch bewusst einsetzt - „Weißheit=Stille / | bringt die Fülle"16 heißt es dort - , wird hier nur assoziativ genutzt; sie bringt die antonymische Gleichzeitigkeit von plenum und vacuum, von Überfülle und vollständiger Leere zum Ausdruck, um die es in ihren Gedichten geht. Als ultimative Form des stummen Preises müsste Schweigen jeglicher Sprache vorgängig sein, es hätte eine Art archaischer .Stummheit vor der Stummheit' zu sein, ursprünglicher und reiner noch als die von Gott gegebene adamitische Sprache. So heißt es in einem Sonett, die „Wunder" Jesu würden das sprechende Ich affektiv so sehr berühren, „das ich / stummer als der Stumm' / eh du ihm die Sprach gegeben / | steh' im zweiffei / welches ich zu erheben an=soll heben."17 Das Ich konstatiert, es kenne noch keine Sprache (oder keine Sprache mehr), die ihm zur Verfugung stünde, um seine affektive Überwältigung auszudrücken. 14 15

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Greiffenberg (1983). Bd. 1, S. 116. In einem anderen Sonett geht sie selbst auf dieses Wunder, das Christus vollbringt, ein: „höre / was sonst unerhört / die gestorbenen beleben: | Blinden das Gesicht und Liecht / Seelen=Sonn und Wonn darneben / | geben / gleicher weiß den Tauben das Gehör / zu Gottes Ehr" Greiffenberg (1983). Bd. 1, S. 129. Die gesamte Strophe, entnommen dem Gedicht Auf die unglückseelige Tugend, lautet: „Wort entzünden / Wort erhitzen / | sind des Zornes Zunderfleck: | Auf sie folgen Unglücks=Blitzen /1 nehmen doch kein Trübsal wegk. | Weißheit=Stille / | bringt die Fülle | süsser Freud' / erwartt das Ziel /1 das der Himmel helfen will". Greiffenberg (1983). Bd. 1, S. 307. Auf unsere Heilandes Allmachtsdurchstrahlten Wundet=Wandel auf dieser Erden. Greiffenberg (1983). Bd. l.S. 129.

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Kuhlmann sucht demgegenüber die Unbeschreiblichkeit Gottes in Verse zu fassen, die die Übergröße durch Hyperbolik und Negationen evozieren: Gott ist grösser als wir sinnen, Über menschliches Beginnen, Über der Geschöpff verstand; Unbegreifflichst aller wegen, Unerforschbar, ni zuregen, Mehr als etwas noch empfand Ein allmächtigst Allerhand: Über alle seine gaben Weitunendlichst hocherhaben. Ider Adem lobt den Herrn, Oben, unten, nah undfem. Gott ist übermajestätisch, Wahrer Demutt nur anbetisch, Wahrer Nidrikeit entdekkt: Heiligsanfftem Zittern offen, Süsser Libe angetroffen, Reiner warheit recht geschmekkt, Allen andern höchsterschrekkt! Sündern furchtbar, unerträglich, Unanschaubar, ewigkläglich. Ider Brodem preist den Herrn, Oben, unten, nah undfern. Gott ist über zeit und Orte, Denken, reden, schreiben, worte; Höher als ein lob i geht: Über aller hertz und zungen, Unbelobet, unbesungen; Nach den würden ni verhöht, Würdiger als man versteht: Ihm ergriffen, ihm erkennbar, Den Geschöpffen nimals nennbar. Ider hauch der rühmt den Herrn, Oben, unten, nah undfern.18

Wie „übermajestätisch" Gott ist, sei nur durch .wahre Demut' und .wahre Niedrigkeit' erkennbar. Kuhlmann bezeichnet Gott als „ein allmächtigst Allerhand", das über alle Vorstellungskraft hinausgeht. Aus diesem Grund bleibt er - bis auf weiteres und dem vorliegenden Gedicht zum Trotz - gänzlich „Unbelobet, unbesungen", denn die Preisung mit menschlichen Mitteln kann ihn schlichtweg nicht erreichen. Im drittletzten zitierten Vers klingt dann die Unnennbarkeit Gottes als apodiktische Formel der Negativen Theologie an, wenn es heißt, er sei den „Geschöpffen nimals nennbar". Ähnlich heißt es in einem Epigramm Johannes Schefflers (Angelus Silesius):

18

Zitiert wird der „Erste Gegensat/' des 3. (63.) Kühlpsalms. Kuhlmann (1971). Bd. 2, S. 16f.

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Denkstu den Namen GOtts zu sprechen in der Zeit / Man spricht ihn auch nicht auß in einer Ewigkeit.19

Das Epigramm mit dem Titel Daß unaußsprechliche spricht den Namen Gottes aus, um im gleichen Atemzug zu konstatieren, dass eben diese Artikulation unmöglich sei.20 Auch Greiffenbergs Passionssonett Uber das allerheiligste Leiden meines Heilandes setzt mit dieser topischen Bekundung seiner eigenen sprachlichen Verfehlung ein. Die Möglichkeit des .rechten' Aussprechen der „unaussprechlich treu" Christi wird negiert und mittels einer figura etymologica veranschaulicht: Ο JEsu / Gottes Sohn! wie soll ich recht aussprechen die unaussprechlich Treu / so du an mir gethan? vor lauter Lieb' und Gier / und Wunder / ich nicht kan die starken Geistes trieb / den Schall der Wörter / brechen. Die Geistesregungen / die grossen Wallfisch / stechen die Hirnes=Dämme durch / und lassen keine Bahn der Würckung / daß sie sich kan schwingen Himmel an. Doch treue Herz=Andacht sol ihren Mangel rächen. Was darf es auch viel Wort / wo Herz und Thaten reden, ein jeder Striem lehrt mehr / als Piatons ganze Witz. So ist auch nur das Herz der Dank=erkäntnuß Sitz; daß will zwar / wie die Zung / vor überfluß erblöden. Weil deines Leidens Zweck / mich neu und Herrlich machen: gieb neues Herz und Mund / zu preisen deine Sachen! 21

Das Ich kann vor wiederstreitender Affekte den „Schall der Wörter" nicht brechen: es wird sprachlos - eine Inversion der noch heute gängigen Wendung vom .Brechen des Schweigens', die ja ebenfalls eine affektive Übertretung bezeichnet. Greiffenberg stellt „Herz" und „Thaten" dem „Wort" kontrastierend negativ gegenüber. Im zehnten Vers findet sich eine Mystik-Kritik des .Logozentrismus', für die die Figur Piatons exemplarisch steht: Jede der Wunden Christi besitze mehr Weisheit als der „ganze Witz" des hochgerühmten griechischen Philosophen. Der Realität der Wunden steht die Scheinhaftigkeit der Zeichensysteme gegenüber. Das weiterhin anklingende Primat des Gefühls und der Tat gegenüber dem Denken und dem Wort entnimmt Greiffenberg einer Argumentation, wie sie sich immer wieder im Neuen Testament finden lässt.22 Trotz dieser Ab19

20

21 22

Johannes Scheffler: Johannis Angeli Silesi Geistreicher Sinn= und Schlussrime. Wien 1657. (II, 51), S. 64. Wobei hinzuzufügen ist, dass es ein zweites Epigramm mit dem Titel Daß unaußsprechliche gibt, welches auf den ersten Blick genau das Gegenteil aussagt: „Daß Unaußsprechliche daß man pflegt Gott zunennen /1 Giebt sich in einem Wort zusprechen und zukennen". Allerdings liegt die entscheidende Differenz in der Unterscheidung von „Wort" und „Name" Gottes. Scheffler (1657). (V, 9), S. 121. Greiffenberg (1983). Bd. 1, S. 132. So heißt es etwa im ersten Brief des Johannes: „Daran haben wir die Liebe erkannt, dass er sein Leben für uns gelassen hat; und wir sollen auch das Leben für die Brüder lassen. [...] Meine Kinder, lasset uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit. Daran erkennen wir, dass wir aus der Wahrheit sind, und können unser Herz vor ihm damit zum Schweigen bringen, dass, wenn uns unser Herz verdammt, Gott

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Wertung der Sprache aber wird das Herz ex negativo mit deren Parametern der Affektivität gemessen, wenn sich im zwölften Vers die hyperbolische Wendung findet, das Herz wolle „vor überfluß erblöden". - Obwohl es als Organ der Aufrichtigkeit dem Mund vorzuziehen sei, muss auch das Herz vor Liebe verstummen'. Daher bittet das Ich am Schluss Christus nicht nur um einen neuen Mund, um ihn besser preisen zu können, sondern gleichfalls um ein neues Herz, um besser fühlen zu können. Auch in ihren andächtigen Betrachtungen über Des Allerheiligst- und Allerheilsamsten Leidens und Sterbens Jesu Christi sucht Greiffenberg mit affektiver Sprachnot nach Worten, um ihr Mitgefühl zu artikulieren: Es thun sich mir ganze Bestürzung= und Preis=abgründe auf / daß ich nicht weiß / zu welchem ich schreiten / an welchem ich anheben / oder welchen ich zum höchsten und äussersten treiben soll. Ich werde arm vor Reichthum / stumm vor Preiß=begier / und matt vor überflüßigen Gedanken=schwall / sie auszusinnen. Wie kan ich die Bestürzung aussprechen / die ich fiihle über das Leiden des mit göttlicher Majestät vereinigten / über die Erniedrigung der Allerhöchsten / über das würm=elend der selbsten Himmels=Herrlichkeit?23

In dieser Passage wird deutlich, was der vorliegende Beitrag unter dem Schlagwort von .Hypertrophie als Demut' zu fassen versucht: die Tendenz, eine pathisch empfundene sprachliche Leere und eigene Nichtigkeit mittels einer semantischen Fülle und insbesondere durch die Verwendung von Hyperbolik, Komposita, Oxymora und Paradoxien zu füllen.

Mystische Sprachkritik: Pathos und prudentia des Verstummens Im Unterschied zu den bisher behandelten Aspekten der metaphorischen Anhäufung und überbietenden Fülle lässt sich in der geistlichen Barocklyrik auch die gegenteilige Tendenz zu rhetorischer Verknappung feststellen. Andreas Gryphius etwa hat das Dilemma der Wortwahl in Anbetracht des unermesslichen unschuldigen Leidens durch eine Bescheidenheitsformel zu lösen versucht: „Vor disen offnen Wunden | Verfallt der Worte Pracht"24 heißt es knapp in einem seiner Sonn- und Feiertagssonette. Und eine Odenstrophe lautet: Wo find' ich wortt? ach Gott! wo fang' ich an / Zu zehlen was die allzuwachen sinnen / Ja keine zeit gantz werden zehlen können?

23 24

größer ist als unser Herz und erkennt alle Dinge." Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Wortkonkordanz. Hg. von der evangelischen Kirche in Deutschland. Stuttgart 2000. l.Joh 3,16-20. Greiffenberg (1983). Bd. 10, S. 556 f. Andreas Gryphius: XXIX. Auff den Sontag der bewehreten Aufferstehung des ΗΕιτη / oder Quasimodogeniti. Joh. 20. In: ders.: Sonette. In: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Bd. 1. Hg. von Marian Szyrocki. Tübingen 1963, S. 203.

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Wie Sprech' ich aus was du an mir gethan? Kein Mensch versteht die wunder deiner wercke: Den weißen raht / der grossen armen stärcke. 25

Das Leiden des Dichters an der Unfähigkeit zur Artikulation korrespondiert, verringert auf ein menschliches Maß, dem Leiden Christi. Gryphius fasst das Mysterium der Passion mittels einer Pathosformel der Wertlosigkeit, die der Dichter damit begründet, dass die Liebe Gottes nicht zu „zehlen", also zu .erzählen', ist. Kein Mensch sei in der Lage, die „wunder" seiner „werke" zu begreifen. Scheffler verweist in einem Epigramm seiner Geistreiche[n] Sinn= und Schlussrime ebenfalls auf dieses gewissermaßen anthropologische Argument': Was du von Gott veqahst / dasselb ist mehr erlogen / Als wahr: weil du Ihn nur nach dem geschöpff erwogen. 26

Pointiert wird formuliert, dass Gott zu beschreiben unmöglich sei, da als tertium comparationis immer nur der Mensch diene und dies ein vollends unangemessener Vergleich sei. In einem anderen Epigramm fuhrt Scheffler als Grund nicht die Unvergleichlichkeit Gottes an, sondern die mangelnde Ausstattung der menschlichen Kommunikationsorgane. Er intendiert dies als indirekte Aufforderung zu schweigen: Meinstu Ο armer Mensch / daß deines Munds geschrey Der rechte Lobgesang der stillen Gottheit sey? 27

Das Epigramm verspottet die Kläglichkeit menschlicher Rede, die als unschönes „Geschrei" der stillen (und darin heiligen) „Gottheit" keineswegs gemäß sein könne. Einzig der Gesang der Engel - so das Argument eines weiteren Epigramms - köiine sich die Beschreibung des „Höchsten" anmaßen: Die Engel singen schön: Ich weiß, daß dein Gesinge / So du nur gäntzlich Schwigst / dem höchsten besser klinge. 28

Das Schweigen wird hier nicht als Affektausdruck interpretiert, sondern als bescheidene Selbstrücknahme. Erst das vollendete Stillschweigen aber sei das klangvollste „Gesinge", noch schöner als der Gesang der Engel. Anders argumentiert Kuhlmann, wenn er sagt, der Mensch solle trotzdem nicht aufhören, Gott zu loben, denn dieser habe größtes Verständnis fur das menschliche Ungenügen, das er als eine Art sprachliche Unreife fasst: Doch last Gott ein Kindlich lallen Väterlich ihm Wohlgefallen:

25

26 27 28

Andreas Gryphius: AUff meine Seell! auff / reis mit macht entzwey. In: ders.: Oden und Epigramme. In: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Bd. 2. Hg. von Marian Szyrocki. Tübingen 1964, S. 23. Scheffler (1657). (V/124), S. 163. Scheffler (1657). (1/239), S. 50. Scheffler (1657). (11/32), S. 61.

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Unsre Schwachheit heist er stärk, Weil wir seiner Hände werk29

Wie Johann Anselm Steiger ausgeführt hat, ist es der barocken rhetorica sacra eigen, „daß sie nicht trotz, sondern gerade wegen der Unaussprechbarkeit [...] Gottes und der göttlichen Dinge eine kunstvolle und beredte Wohlredenheit"30 ausbildet. Steiger greift für diese These einen Gedanken Luthers auf, wonach Gott sich erniedrigt habe, indem er sich „der stammelnden und stotternden Sprache des Menschen"31 bediene, um sein Wort zu verbreiten. Demnach ist jedes Reden über Gott unzulänglich, da es nur mit menschlichen, also begrenzten, mangelhaften Mitteln geschehen kann. Mit Bezug auf Johann Matthäus Meyfarths Rhetorikbücher erläutert Steiger, inwiefern sich dieses Argument auch umkehren lässt: Gerade die „rhetorische Defizitarität"32 der menschlichen Rede sei angemessen, insofern selbst Gott sich ihrer bedient habe. Überdies sei sie nicht nur gottgewollt, ihr komme überdies eine prophetische Funktion zu, künde diese erlittene Unaussprechlichkeit doch die himmlische ,Aussprechlichkeit' am Jüngsten Tag an. Peter Fuchs zufolge lebt die Rhetorik der Mystik gerade davon, dass sie den Glauben an die Möglichkeit sprachlicher Erfassung nicht aufgibt. Im Gegenteil, die Erfahrung des Ungenügens ist movens des unausgesetzten Diskurses. Der „Sonderfall der Mystik" besteht nach Fuchs lediglich darin, dass sie „so verfährt, als käme es auf die richtige Repräsentation ihrer Erfahrungsbestände an. Sie wird [...] in einem fort enttäuscht durch das Erwartbare. Fasziniert durch Dauerenttäuschung, die ihrerseits als Dauerkriterium für die Tatsächlichkeit, für die Echtheit mystischer Erfahrungen dient, spricht sie unentwegt, füttert seit Jahrtausenden Kommunikation und schweigt gerade nicht."33 Diese Beobachtung ist nicht sonderlich originell, insofern sie von den Mystikern selbst artikuliert wird, die sich ja unter der Prämisse ihres göttlichen Auftrags und des affektiven Nicht-Schweigen-Könnens als Dichter oft erst legitimieren. Interessant ist allein die These von der „Dauerenttäuschung", die sich in der Tat immer wieder finden lässt, ja die sogar integraler Bestandteil der Gotteserfahrung ist.34 Dabei ist grundlegend, dass die Rede über Gott, ebenso wie die Wiedergabe seiner Worte, zwar immer eine verfehlende ist, dass dieser Verfehlung aber die Vision einer utopischen Sprache inhärent ist, die paradoxerweise fortwährend im modus Irrealis verbleibt. Oder, wie Greiffenberg es ausdrückt: „Was die selbste Wahrheit saget / und die wesend macht ausspricht | kan ja änderst nicht 29 30

31 32 33

34

Kuhlmann (1971), S. 17. Johann Anselm Steiger: Rhetorica sacra seu biblica. Johann Matthäus Meyfart (1590-1642) und die Defizite der heutigen rhetorischen Homiletik. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 92.4 (1995), S. 517-558, hier S. 543. Steiger (1995), S. 527. Steiger (1995), S. 544. Peter Fuchs: Von der Beobachtung des Unbeobachtbaren: Ist Mystik ein Fall von Inkommunikabilität? In: ders. u. Niklas Luhmann: Reden und Schweigen. Frankfurt a. M. 1989, S. 70-100, hier S. 93. Roland Krusche: Die Übung des Schweigens in der Mystik. Überlegungen zur Hermeneutik des Schweigens. Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 109.

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als werden / sonst wär Warheit Warheit nicht."35 Die Erkenntnis des dichterischen Ungenügens fuhrt zu unablässiger Rede, zum kontinuierlichen Neuansetzen, mit dem Ziel, die Redeweise zu optimieren. Darüber hinaus hat sie auch Auswirkungen auf die Art des Sprechens, etwa in der Kreation hyperbolischer Wortschöpfungen, im Entstehen von ,Paradoxieeffekten' und im Suchen nach formalen Experimenten, mit den Mitteln der Sprache zu .schweigen'.

Paradoxe Aufrichtigkeit „Still ist der beste Stylus"36, lautet der Registereintrag zu einer langen Passage über das christliche Stillschweigen im Geistlichen Kramer-Laden Abraham a Santa Claras. Diese Formel soll als Einstieg dienen, um nun die pointierte Verknappung als Stilmittel zu diskutieren. Die heiige Majestät (willtu ihr Ehr erzeigen) / Wird allermeist geehrt mit heiigem stilleschweigen. 37

Mit diesem Epigramm deutet Scheffler an, dass das beste Gotteslob der Verzicht auf dasselbe sei. Auch sein Distichon über das heilige Schweigen ist somit lediglich Verweis auf eine Praktik, die ihren Ort im Jenseits der Sprache hat. Das Verhältnis von Sprechen und Schweigen bedarf der konstanten literarischen Reflexion. Die Entscheidung für das Sprechen erfordert nicht nur eine bewusste und artikulierte Legitimierung, sondern immer wieder auch den Verweis auf sein anderes: Mensch so du wilt daß seyn der Ewigkeit außsprechen / So mußtu dich zuvor deß Redens gantz entbrechen. 38

Scheffler erfasst mit diesem Epigramm mit dem Titel Mit Schweigen wirds gesprochen die Paradoxie, der alles Sprechen über Gott zu unterworfen ist. Das eigentliche Aussprechen ist ein ,Entsagen'. Mit diesem Begriff beziehe ich mich auf Martin Heidegger, der ihn im Sinne eines sprachlichen Verzichts deutet, welcher aber auch ein Gewinn darstellt, da er dem Dichter eine intensive „Erfahrung mit der Sprache schenkte".39

35 36

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Greiffenberg (1983). Bd. 1, S. 72. Abraham a Santa Clara: Geistlicher Kramer-Laden Voller Apostolischen Wahren, Und Wahrheiten. Das ist: ein reicher Vorrath allerley Predigten, Welche an vielen Orten, istens aber zu Wienn in Oesterreich gehalten worden [...]. Bd. 2. Würzburg 1725, S. 619 f. Scheffler (1657). (V/11), S. 121. Scheffler (1657). (II/68), S. 65. „Das Wort .Verzicht' gehört zum Zeitwort verzeihen; eine alte Wendung lautet: ,sich eines Dinges verzeihen', etwas aufgeben, darauf verzichten. Zeihen ist das selbe Wort wie das lateinische dicere, sagen [...]. Der Verzicht ist ein Entsagen." / „Der Dichter [gemeint ist Hölderlin, C. B.] schweigt über das Kleinod, das nicht zum Schatz seines Landes werden konnte, ihm aber gleichwohl eine Erfahrung mit der Sprache schenkte, die Gelegenheit, jenen Ver-

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Auch Daniel Czepko verweist in seiner Lyrik auf die christliche prudentia des Stillseins. Schon in den sich reimenden Überschriften finden sich bündige W e i s h e i t e n . So lautet sein E p i g r a m m „RECHT SCHWEIGEN, | ΚΑΝ VIEL ZEIGEN": Bedenckt doch, was mein Reden sey, Ich schweig und werd erhört dabey.40

Czepko weist auf das Ungesagte im Reden hin, was dem im Schweigen Gesagten gleichkommt. Ähnlich beschreibt Scheffler die rezeptive Situation der Aufnahme des göttlichen Wortes in einem Epigramm mit dem Titel Mit schweigen höret man: Daß Wort schallt mehr in dir / als in deß andern Munde. So du jhm schweigen kannst / so hörstu es zur Stunde.41

In der Mystik findet sich die leitende Vorstellung, dass die Kommunikation zwischen Gott und Mensch „nicht mit den Mitteln der Sprache, sondern im Schweigen stattfindet. Dabei schweigt nicht nur einer (in diesem Fall der Mensch), während der andere (Gott) redet, sondern beide schweigen und vereinen sich darin. Schweigen ist also nicht nur Voraussetzung für die Kommunikation oder ein Aspekt davon, sondern es ist die Form, in der diese Kommunikation geschieht."42 Es gibt also noch einen weiteren Grund, weswegen das Schweigen als herausragendes Mittel der Aufrichtigkeit gilt: Es ermöglicht den Kontakt mit Gott und es gilt daher zugleich als besonders adäquates Mittel, ihn darzustellen. In dem Epigramm Das seelige Stilleschweigen bedient sich Scheffler entsprechend folgender verweisender Manier: Wie seelig ist der Mensch / der weder wil noch weiß! * Der GOtt (versteh mich recht) nicht gibet Lob noch Preiß. * Denotatur hic Oratio silentij, de qua vide Maximil. Sandae Theol. mystic, lib. 2. comment.3.43

In der Klammer richtet der Sprecher einen Appell an den Leser, die argute Pointe richtig zu verstehen. Die Aussage ist mehrdeutig. Erstens decouvriert sich sein Autor im Hinblick auf die Überschrift als nicht ,seelig', da er ja nicht still ist, sondern Verse dichtet. Zweitens aber artikuliert er in dem als ,Stillschweigen' betitelten Epigramm faktisch weder „Lob noch Preiß" Gottes, das heißt, er ist letztlich doch konform mit seiner programmatischen Forderung. Durch die Fußnote, einen Hinweis auf die in der Theologia mystica des Jesuiten Maximiiianus

zieht zu erfahren, in dessen Entsagung sich ihm das Verhältnis von Wort und Ding zusagt." Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 8 1959, S. 168 u. 172. 40 Daniel Czepko: Lyrik in Zyklen. In: Sämtliche Werke. Bd. Li. Hg. von Hans-Gert Roloff u. Marian Szyrocki. Berlin u. New York 1989, S. 132. "1 Scheffler (1657). (1/299), S. 57. 42 Krusche (1996), S. 83. 43 Scheffler (1657). (1/19), S. 25. Übersetzung der Anmerkung: ,Dies wurde im Stillegebet angedeutet; dazu siehe die Theologica mystica des Maximilian Sandaeus, Buch 2, Kommentar 3'.

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Sandaeus44 beschriebene Stille-Meditation, gibt es drittens eine weitere Ebene der Verweisung, die indirekt bezeichnet, worüber man nicht sprechen kann. Greiffenberg hingegen setzt noch ein weiteres formales Mittel ein, um sprechend zu schweigen. So lautet das Schlusscouplet eines ihrer Sonette: „Guter GOtt und Gottes Güte! meine Schrifft erreicht dich nicht: | mit von lieb verzuckten schweigen deinen Ruhm man mehr ausspricht."45 Durch die im Titel formulierte Adressierung An die allübertreffende / von keinem Lob nie erreichete Gottes Güte wird das tendenzielle Misslingen bereits antizipiert. Das im Schweigen endende Couplet bestätigt nur, was das sprechende Ich bereits zu Beginn attestiert hat. Somit ist zu fragen, ob das mystische Schweigen in der Leere und Stille nach dem Gedicht seinen eigentlichen Ort hat, was dadurch impliziert würde, dass die zitierten Verse den Schluss des Sonetts bilden. Eine solche syntaktische Randstellung des Schweigens - entweder ganz am Anfang oder Ende eines Gedichts - ist bei Greiffenberg häufig zu finden.46 Sie ist Geste ihrer humilitas, die ihre Berufung als Dichterin betrifft und als solche auch tendenziell zum textuellen Außerhalb gehört, als eine selbstbescheidende auktoriale Vor- oder Nachrede. Aber auch auf formaler Ebene ist es signifikant, wenn Schweigen und Anfang bzw. Ende eines Gedichts konvergieren. Denn das Nicht-Reden, die schattenhafte Stille, bildet unweigerlich den Hintergrund dichterischer Rede. 47 Sie ist das Element woraus sie kommt und wohinein sie immer wieder versinkt, ihr „Grund und Abgrund"48. Diese Formulierung umschreibt die im Schweigen liegende Ambivalenz zwischen .festem Grund' und ,Bodenlosigkeit'. Greiffenbergs Lied Auf GOttes Wunder=Beglückung endet in den letzten beiden Versen mit einem selbstgewählten, erwartungsvollen, antizipierten Still44

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Scheffler griff häufig auf dieses Werk zurück. Vgl. Gies Hildburgis. Eine lateinische Quelle zum .Cherubinischen Wandersmann' des Angelus Silesius. Untersuchung der Beziehungen zwischen der mystischen Dichtung Schefflers und dem .Clavis pro theologia mystica' des Maximilian Sandäus. Breslau 1929. Er erschien laut Martin Lipenius' Bibliotheca realis theologica (1685) erstmals in Köln 1623. Greiffenberg (1983). Bd. 1, S. 130. Um weitere Belege für die These der häufigen Randstellung summarisch anzuführen: Greiffenbergs Sonett Gemüts= Stillung beginnt mit dem Vers „SEy still / gib GOtt die Ehr! Er weiß die zeit zu finden" und das daran anschließende Sonett Auf Gottes seltsame Geist= Regirung setzt mit den folgenden stoizistischen Versen ein: „Still und stark im hohen hoffen / heimlich und verborgen seyn; | sich nit rühren / wann der grund aller Erden wird beweget". Greiffenberg (1983). Bd. 1, S. 64 f. Hier ist hinzuzufügen, dass die greiffenbergsche Variante des .Stoizismus', ähnlich wie die des Gryphius, stark christlich gefärbt ist: „An Stelle der Selbsterhaltung tritt die völlige Selbsthingabe an eine von Gott auferlegte Sendung" - wie Xaver Stalder α a. an diesem Sonett darstellt. Xaver Stalder: Formen des barocken Stoizismus. Der Einfluss der Stoa auf die deutsche Barockdichtung - Martin Opitz, Andreas Gryphius und Catharina Regina von Greiffenberg. Bonn 1976, S. 126 f. Die Formulierung von Schweigen als .Schatten der Rede' entstammt Christiaan L. Hart Nibbrig: Rhetorik des Schweigens. Versuch über den Schatten literarischer Rede. Frankfurt a. M. 1981. Klaus Reichert: Geschriebene Sprachlosigkeit. Von Augustinus bis Beckett. Nur wer etwas zu sagen hat, darf schweigen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 39: Bilder und Zeiten (15.2.1997), o. S.

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sein: „Biß die Glaubens= Früchte reiffen /1 bin ich frölich hoffend=still" 49 . Oder ein andächtiges Lied über das H. Leiden Christi schließt mit der Strophe: Nun komm / mein Schatz! du hast schon Platz: mein Herz gehört dir eigen. In mir muß jetzund die Welt / dich zu hören / schweigen. 50

Christus wird im Sinne der Brautmystik als „mein Schatz" angesprochen, und aufgefordert, mit dem Ich nach dem Verklingen der Worte in stumme Kommunikation zu treten. Die Randstellung des Schweigens hat hier eine zweifache Aufgabe: Einerseits verweist sie, akzentuiert durch die liminale Positionierung, im Medium der Schrift auf das ihr Jenseitige; andererseits ist diese Rede über Schweigen performativ, insofern sie, betont durch das Präsens und Formeln wie Jetzund", Schweigen faktisch herstellt. Nicht zufallig sind „still" und „schweigen" die je letzten Worte. Greiffenbergs Aufwertung des Schweigens als Demutsgebärde steht in engem Bezug zu zwei konkreten Szenen des Neuen Testaments: zu Christi Schweigen vor dem Hohen Rat und vor Pontius Pilatus. In ihren Passionsbetrachtungen meditiert sie extensiv über diese Anklageszenen und bindet sie zurück an die Darstellungsproblematik: Das Schweigen Christi führt zu einem empathischen, mimetischen Verstummen. Dass Christus vor seinen Anklägern stumm bleibt, ist Teil seines von Gott erhaltenen Auftrags, der von ihm verlangt, sich nicht zu verteidigen und seine Identität als Messias nicht Preis zu geben - ein Schweigegebot, das in den Evangelien mehrfach Erwähnung findet.51 Die Stummheit vor den Richtern ist Teil des von Gott entwickelten ,antipropagandistischen' Programms.52 Greiffenberg zitiert und kommentiert die Evangelienverse: „Und der Hohepriester stund auf unter sie / und fraget JESUM / und sprach: antwortest du nichts zu dem / daß diese wider dich zeugen? Jesus aber schwieg stille und antwortete nichts."53 Sie schreibt dazu: Die bosheit will / unter dem billigkeits=hütlein / die ärgste Unbilligkeit spielen. Sie will / die geglaubte einfalt / mit schlangen=hafter gut=meinung teuschen / und sie in den apfel der verredung beissen machen. Aber diese Eva / Mutter aller lebendigen / das ewige / wort war viel zu klug dazu / daß es sich durch seine worte solte verfänglich machen. Er wolte / nicht durch unachtsame verredung / sondern durch Himmel=heroische freymütigkeit / sich heraus lassen. Es solte / nicht durch unachtsames red=verstossen / sondern durch vorsetzliche bekentnus geschehen: darum schwiege er hierzu stille / und schätzte die verleumbdung nicht würdig / sein heiliges wort dargegen zu setzen. Die lügen / werden oftmals am bästen mit stillschweigen verantwortet: dann worte sind überflüssig / wo die werke mit der zeit reden werden. 54

49 50 51

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Greiffenberg (1983). Bd. 1, S. 369. Greiffenberg (1983). Bd. 1, S. 267. Vgl. zum Schweigegebot in den Evangelien: Michael Welker: Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes. Neukirchen-Vluyn 21993, S. 191-195. Vgl. Welker (1993), S. 195. Greiffenberg (1983). Bd. 9, S. 215 f. Vgl. Mt 26, 62-63 bzw. Mk 14, 60-61. Greiffenberg (1983). Bd. 9, S.216f.

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Dem Stillschweigen Christi vor dem Hohen Rat wird das sündhafte Wort gegenüber gestellt. Die Weisheit besteht darin, sich eben nicht durch „unachtsame verredung" verfuhren zu lassen, sondern zu Schweigen und die falsche Anklage widerspruchslos auf sich zu nehmen - und dies, obwohl Gott doch selbst das „ewige wort" ist. Die von Greiffenberg kreierten Substantive „verredung" und „red=verstossen" machen jegliche Artikulation vor den Richtern zur unaufrichtigen Rede. Das Stillschweigen ist demgegenüber ein .Verantworten'. Es wird als klügste, aufrichtigste, aber auch die schwierigste Form einer passiven Antwort begriffen: Er ist wie ein stummer / der seinen mund nicht aufthut / u. der keine Widerrede in seinen munde hat. Hier sihet man / was gar welt=seltsam ist / nämlich die herz=gründlichste unschuld u. aufrichtigkeit / mit der klügsten Verschwiegenheit / versieglet / die bescheidenheit mit lauterkeit wett=streiten / die Gerechtigkeit mit dem mantel der frömkeit verhüllet / und die unschuld mit den mandeln der gedult sich abspeisen. 53

Die widerspruchslose Annahme des Martyriums ist Ausdruck von tiefer Demut. In Greiffenbergs Worten „versieglet" die Verschwiegenheit die Wahrheit - ein Faktum, das sie als „welt=seltsam" bezeichnet, wohl weil Aufrichtigkeit eigentlich eine spezifische Art der Rede ist. Hier aber ist das Schweigen aufrichtig, denn es spricht von der Unschuld des Gepeinigten - doch diese indirekte Artikulation ist allein den Gläubigen verständlich.56 Valentin Ernst Löscher geht in einer Predigt ebenfalls auf das Stillschweigen Christi ein; er deutet es als Postfiguration des vom Propheten Jesaja (Jes 53,7) beschriebenen Opfers: Wenn dieses geschehen / so opffere und bringe GOTT das Verdienst seines allerliebsten Sohnes / Sprich: mein Gott / damit ich mit etwas schliessen möge / daß dir angenehm seyn muß / so bringe ich dir in kindlichem Vertrauen das allerheiligste Stillschweigen deines geliebten Sohnes / der für uns verstummet ist / und seinen Mund nicht aufthat / wie ein Lamm / das zur Schlachtbank geführet wird / Es. 53/7. Kan ich bey meiner Andacht nicht allerdings so stille für den HErrn seyn / wie er es verlanget; so habe ich hier den Mittler zwischen GOtt und denen Menschen / JEsum / an dessen stille seyn niemand etwa auszusetzen hat. 57

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Greiffenberg (1983). Bd. 9, S. 349f. Es handelt sich hier nicht um ein erneutes Zitat aus den Evangelien, sondern um eine Paraphrase der bereits zitierten Verse. Das unschuldige Lamm, das den Mund bei seiner Tötung nicht auftut, ist im Alten Testament ein bedeutendes, das Martyrium präfigurierendes christologisches Bild. Greiffenberg entnimmt es den so genannten prophetischen Gottesknechttexten des Deuterojesaja. „Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsere Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn. Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf." Bibel 2000. Jes. 53, 4-7. Valentin Ernst Löscher: Edle Andachts=Früchte oder 68 auserlesene Oerter der Heil. Schlifft / so von der Andacht handeln / zur Ermunterung des Geistes [...]. Coburg 1719, S. 97. Löscher (1719), S. 97.

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Claudia Benthien

Jesus wird in seiner Stummheit als Mittler zwischen Gott und den Menschen verstanden. Das „allerheiligste Stillschweigen", dessen vollendeter Form zwar nur er mächtig ist, sollen die Gläubigen mimetisch nachvollziehen. Auch Greiffenberg kommentiert das Mysterium von Christi Verharrens im Schweigen. Leitthese dabei ist, dass der „himlische Redner" den Gläubigen „das wort / durch schweigen / reden [muß]".58 Ihrer Argumentation zufolge löst sein Stillschweigen die Lobrede der Gläubigen aus. Es heißt in der entsprechenden Passage, dass die Gläubigen über sein Schweigen „reden und rühmen können"59. Insofern handelt es sich dabei nicht um eine Pflicht des Preisens, sondern erneut um eine ihnen gewährte Gnade: Das ,ewige Wort' tritt demütig und bescheiden hinter die Menschenrede zurück. Diese nun hat sich im Bewusstsein ihrer konstanten Unzulänglichkeit zu bewähren. ,JVas sich aussprechen lässt / ist zu wenig vor dich. Unaussprechlich / ja unausdenklich muß es seyn / was deine Gnaden rühmen soll"60, hält Greiffenberg fest und legitimiert so das Versagen der Sprache - und zugleich die fortwährende Thematisierung derselben - als einzig angemessene Ausdrucksform des Undarstellbaren. Jede Thematisierung von religiöser Inkommunikabilität bleibt Kommunikation, ja selbst ein vollständiges Verstummen des Mystikers wäre, wie Jacques Derrida betont hat, „eine Modalität des Sprechens",61 da die Möglichkeit zu schweigen sich erst sekundär aus der Existenz der Sprache ergibt: „In dem Moment, wo die Frage ,wie nicht sprechen?' [...] sich stellt [...], ist es bereits, wenn man das sagen kann, zu spät. Es stellt sich gar nicht mehr die Frage, nicht zu sagen. Selbst wenn man spricht, um nichts zu sagen, selbst wenn eine apophatische Rede sich des Sinns oder des Gegenstands benimmt, findet sie Statt."62 In dem vorliegenden Beitrag ging es um diese spezifische Nachträglichkeit der mystischen Rede, die nicht wirklich vor die Alternative von Sprechen oder Schweigen gestellt ist, sondern stattdessen Mittel und Wege sucht, beide zu synthetisieren: im Reden zu Schweigen, aufrichtig zu sein, indem sich das Sprechen als ein Nichtsprechen inszeniert oder indem es temporale, rhetorische oder deiktische Mittel einsetzt, um auf sein anderes zu verweisen.

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Greiffenberg (1983). Bd. 9, S. 350. Greiffenberg (1983). Bd. 9, S. 351. Greiffenberg (1983). Bd. 9, S. 356 f. Jacques Derrida: Wie nicht sprechen. Verneinungen. Übs. von Hans-Dieter Gondek. Wien 1989, S. 29. Derrida 1989, S. 52. „Apophasis ist im griechischen der Terminus für die Verneinung [...]. Apophasis heißt ein sprachliches Konstrukt, das wahr oder falsch sein kann". Anm. d. Übs., S. 112.

Stephanie

Wodianka

Der Silberblick der Selbstbetrachtung Perspektiven der Aufrichtigkeit in der meditativen Literatur

In Molieres Komödie Les precieuses ridicules (1659) ruft die Dienerin Marotte mit den Worten „Par ma foi, [...] II faut parier Chretien, si vous voulez que je vous entende!" ihre Herrin Magdelon zu einer christlichen Redeweise auf. Damit reagiert sie auf die Bitte der Preziösen Magdelon,1 ihr einen „conseiller des graces" zu bringen.2 Unmissverständlich fordert Marotte hier Aufrichtigkeit im Sinne von Klarheit, Deutlichkeit und Unverstelltheit, die - gesprochen aus dem Munde einer einfachen, aber integren und ihren Herrschaften an Sympathie und gesundem Menschenverstand überlegenen Dienerin - in der Komödie eindeutig positiv besetzt ist. Die von ihr vorausgeschickte Wendung „Par ma foi" unterstreicht die binäre Gegenüberstellung von religiöser und weltlicher Redeweise, und dass es sich bei dem umständlich als „conseiller des graces" umschriebenen Objekt um einen Spiegel handelt, kann als zusätzliche Anspielung auf die Polarität mondäner Eitelkeit und religiöser ,Selbstbespiegelung' im Sinne der Gewissenserforschung gedeutet werden. Die Perspektive auf ,christliche Aufrichtigkeit' ist aber - wie im Folgenden gezeigt weden soll - außerhalb komödiantischer Überzeichnungen nicht in jedem Kontext der Zeit derart ungebrochen: Im späten 16. und 17. Jahrhundert wird Aufrichtigkeit zwar im Hinblick auf religiöse Selbsterforschung einerseits zur Pflicht jedes einzelnen Gläubigen, andererseits aber auch zu einer ambivalent beurteilten Tugend, der durchaus Grenzen zu setzen sind. .Richtige' Aufrichtigkeit geht mit dem Bewusstsein einher, dass diese kein absoluter, sondern ein relativer Wert ist. Die meditative Literatur des 17. Jahrhunderts, so soll dieser Beitrag zeigen, verfolgt deshalb zwei wichtige Ziele. Erstens will sie den Lesenden dazu anleiten, unter Vermeidung von Gefahren aufrichtig zu sein und eine .richtig aufrichtige Meditation' zu üben. Zweitens wird in meditativen Texten aber auch Aufrichtigkeit inszeniert - ein in doppelter Hinsicht paradoxes Unternehmen, scheint doch zwischen aufrichtiger Rede und Inszenierung sowie zwischen a u thentischem' Sprechen und barocker Exempelhaftigkeit ein grundsätzlicher Widerspruch zu bestehen. Zudem kommen im Falle meditativer Literatur mehrere 1

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Die angeblich typisch preziöse Sprache umständlicher Umschreibungen ist eine Erfindung der parodistischen Werke Molieres und Somaizes. Jean-Michel Pelous: Amour Pricieux Amour Galant (1654-1675). Essai sur la representation de l'amour dans la littirature et la societe mondaines. Paris 1980, S. 414. Moliere: Les precieuses ridicules (1659). In: Moliere: Oeuvres completes. Bd. 1. Hg. von Robert Jouanny. Paris 1969, S. 189-220, hier S. 201.

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Stephanie Wodianka

,Adressaten' in Frage, die die Aufrichtigkeit bzw. Aufrichtigkeitsversicherung jeweils in ganz unterschiedliches Licht stellen: der intendierte Rezipientenkreis, der heilige Gottvater, oder aber das meditierende Ich selbst. Im Folgenden soll untersucht werden, mit welchen Strategien, Signalen und Absichten in der Andachtsliteratur der Frühen Neuzeit Aufrichtigkeit konstruiert und kontrolliert, markiert und ausgedrückt oder auch hervorgebracht werden kann.

Meditation als Methode der Aufrichtigkeit Zu den prominentesten Aufrichtigkeitsverfechtern der Frühen Neuzeit gehören sicherlich die Protestanten. Sie fordern - in polemischer Abgrenzung vom k a tholischen Außenwerk'- wahre Buße, temoignage ä soy und echte Selbstzerknirschung im Zuge der Gewissenserforschung Aufrichtigkeit vor sich selbst und vor Gott ist Voraussetzung für die Rechtfertigung durch die Erlösungstat Christi. Entgegen den zeitgenössischen und sich bis heute in der Forschungsliteratur spiegelnden Vorurteilen3 werden jedoch nicht nur Lutheraner und Reformierte mit dem Maß der Aufrichtigkeit gemessen, sondern auch die Katholiken sehen sich im 16. und 17. Jahrhundert gesteigerten Aufrichtigkeitsforderungen ausgesetzt. Die Beibehaltung der Absolution und des Sakraments der Beichte bedeutete keineswegs die Entlassung in oberflächliche Selbstbetrachtung für die katholischen Gläubigen: Die mittelalterliche attritiolcontritio-Debatte, bei der es um die Unterscheidung einer durch Angst vor Bestrafung (attritio) bzw. einer durch Gottesliebe (contritio) motivierten Sündenreue als Voraussetzung für die Wirksamkeit der Absolution ging, konnte auch durch das Konzil von Trient (1551) nicht beigelegt werden.4 Das Konzil verschärfte die Ansprüche an die Gewissenserforschung der katholischen Gläubigen sogar zusätzlich, indem

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Auffallend ist, dass sich - vor allem in der deutschsprachigen Forschung - die kulturgeschichtliche Untersuchung des Gewissens und der religiös motivierten (biografischen) Selbsterforschung meist auf protestantische oder reformierte Gläubige bezieht. Vgl. α a. Heinz Dieter Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a. M. 1991; Walther Spam (Hg.): Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge. Gütersloh 1990; Markus Schär: Seelennöte der Untertanen. Selbstmord, Melancholie und Religion im Alten Zürich, 1500-1800. Zürich 1985. Vgl. hingegen die französischen Untersuchungen von Jean Delumeau: Le Peche et la Peur. La culpabilisation en Occident (XüF-XVIIF siecles). Paris 1983; und ders.: L'aveu et le pardon. Les difficultis de la confession (ΧΠΓ-ΧνίΙΓ siecles). Paris 1990. Delumeau bemerkt zur attritio/contritio-Oiskussion der katholischen Gläubigen: „Les catholiques de l'6poque classique - et encore du XDCe si£cle - itaient invitis έ se demander si, en se confessant, ils eprouvaient des sentiments de .contrition' ou seulement ,d'attrition'. [...] Leur coeur etait-il ,broyee' par la contrition ou ,bris6' par Pattrition? Telle n'etait pas vraiment la question. En revanche, ils devaient s'interroger sur le motif de leur repentir: etait-ce Pamour de Dieu (la contrition)? Ou, plus prosaiquement, la laideur du peche et la peur de l'enfer (l'attrition)? Cette derniere suffisait-elle pour obtenir le pardon de Dieu dans le sacrement de penitence?" Jean Delumeau: L'aveu et le pardon. Les difficultes de la confession (ΧΠΓ-ΧνίΙΓ siecles). Paris 1990, S. 54.

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es die Notwendigkeit der Beichte aller Sünden betonte: Das absichtliche Verschweigen von Sünden gegenüber dem Beichtvater galt nunmehr als Hindernis für die Wirkmächtigkeit der Absolution.5 Die Beichte war damit an die Bewältigung des Aufrichtigkeitsanspruchs der drei Instanzen Gott, Beichtvater und eigenes Gewissen gebunden. Auch die im Zuge der Gegenreformation aufkommende Idee der Generalbeichte, bei der alle Sünden, auch die bereits im Laufe des Lebens gebeichteten, noch einmal rekapituliert werden, stellte als verordnete Sündenbiographie neue Anforderungen an die Gläubigen. Ebenso wird in der katholischen Andachtsliteratur immer wieder klargestellt, dass es bei Gewissenserforschung und Beichte nicht mit der bloßen Nennung der sündigen Taten getan ist: Ne faites pas seulement ces accusations superflues que plusieurs font par routine: je n'ay pas ayme Dieu tant que je devois; je n'ay pas ριίέ avec tant de devotion que je devois; je n'ay pas cheri le prochain comme je devois; je n'ay pas receu les Sacrements avec la reverence que je devois, et telles semblables: la rayson est parce qu'en disant cela vous ne dites rien de particulier qui puisse faire entendre au confesseur Testat de vostre conscience, d'autant que tous les Saintz de Paradis et tous les hommes de la terre pourroyent dire les mesmes choses s'ilz se confessoyent. Regardes donq quel sujet particulier vous aves de faire de ces accusations la [...]. Π faut donq dire le fait, le motif et la duree de nos peches [...].6

Die hinter der Sünde stehende Motivation sowie die Dauer der Verfehlung, so hier der Katholik Franfois de Sales, müssen vom Einzelnen er- und bekannt werden. Nur unter Vermeidung oberflächlicher Bekenntnis-Routine und gegenüber einem sich selbst als „sujet particulier" erkennenden Gläubigen kann die priesterliche Absolution ihre reinigende göttliche Wirkung entfalten. Als Weg und Mittel zu diesem geforderten Maß an Aufrichtigkeit gilt im späten 16. und 17. Jahrhundert - über Konfessions- und Sprachgrenzen hinweg - die Meditation. Sie wurde im Zeitraum zwischen dem letzten Drittel des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts in England, Frankreich und Deutschland in unterschiedlichen Ausprägungen und Akzentuierungen, aus unterschiedlichen Motivationen und Traditionen hervorgehend, fester Bestandteil der Frömmigkeitspraxis. Die Meditation kann deshalb als eine Methode der Aufrichtigkeit gelten, weil sie als Weg zu verinnerlichter Gotteserkenntnis stets über die Selbsterkenntnis des Meditierenden verläuft. Aufrichtige, tiefgründige Selbsterkenntnis und verinnerlichte Gotteserkenntnis verweisen in der Meditation aufeinander. Unabhängig vom Meditationsobjekt strebt die Betrachtung die Überwindung oberflächlich-scheinbarer und die Erreichung ganzheitlich-wahrer Erkenntnis an. Aufrichtigkeit wird in der Meditation nicht vorausgesetzt, sondern 5

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Zur Bedeutung des Beichtvaters als Kontrolleur der Aufrichtigkeit vgl. auch die Anweisung Friedrich Spees an seine geistliche Tochter: JDrumb lese täglich diese woch diß Capitel wie gesagt ist, damit du mir endlich auff die vorgehaltene Frag [die Bereitschaft zum Sterben] recht antworten könnest. Doch hüte dich vor allen dingen, so du villeicht etwas schließen wöltest, dass du ie nichts gelobest, noch dich verbindest, biß du zuvorn dich mit deinem Beicht-Vatter besprochen habest." Friedrich von Spee: Güldenes Tugend-Buch (1649). Hg. von Theo G. M. van Oorschot. München 1968, S. 346. Francis de Sales: Introduction ä la Vie devote. Hg. von Ch. Florisoone. 2 Bde. Bd. 1. Paris 21961, S. 110-112.

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performativ .erarbeitet' und entsprechend der bildlichen Umschreibung der Betrachtung als ruminatio zu eigen gemacht. Sie ereignet sich in der individuellen Betrachtung und wird durch die überindividuelle Progression und Struktur der Meditation (compositio, analysis, colloquium) zugleich als authentisch verbürgt. Die Meditation ermöglicht unter Einbeziehung der Seelenkräfte Gedächtnis, Verstand und Willen sowie der Einbildungskraft die Erarbeitung und Aneignung, aber auch die Selbstüberprüfiing aufrichtiger (Selbst-)Erkenntnis und Buße.7 So empfiehlt Daniel Dyke in seinem Betrachtungswerk mit dem bezeichnenden Titel The Mystery of Selfe-Deceiving. Or a Discourse and Discovery of the Deceitfulnesse of Mans Heart die Selbstprüfung im Hinblick auf Anzeichen für ein aufrichtiges Herz: „After this discovery by the meanes, wee must lay our hearts to the rule of the word, and examine them by those notes which there are given of an upright und sincere heart."8 Die Selbsterkenntnis spielt sich dabei auf zwei Ebenen ab, die in einer Zirkelbewegung aufeinander verweisen: die Selbsterforschung und die Überprüfung der dabei notwendigen Selbstaufrichtigkeit. Das eigene Innere wird somit als letztlich unergründlich erfahren, und dieses Bewusstsein soll die Meditation auch begleiten: „Man knoweth his inward thoughts, purposes, and desires, but the frame and disposition of his heart he knoweth not, noryet alwaies the qualities of those thoughts, where they tend, what secret deceit lies, and lurkes in them." 9 Aufrichtigkeit wird in der Meditation im Hinblick auf Selbstund Gotteserkenntnis angestrebt, aber dabei auch auf der Metaebene der Betrachtung thematisiert und problematisiert. In der ,Meditation über die Meditation' strebt der Betrachtende eine meditative Selbsterkenntnis an, in der er seiner bewussten Unergründlichkeit Rechnung trägt und ihr zugleich entgegenzuwirken versucht. Auch der bereits oben zitierte französische Katholik Francois de Sales, dessen Meditationswerk im 17. Jahrhundert in ganz Europa rezipiert wurde, gibt in seiner Introduction ä la vie devote seiner geistlichen Schülerin Philothee und allen anderen Gottliebenden gleichsam einen Inventurkatalog an die Hand, mit dessen Hilfe der eigene Seelenzustand und das Verhältnis zu Gott, aber auch das Verhältnis zu sich selbst regelmäßig vom Meditierenden auf doppelter Ebene zu überprüfen ist. Jede innere Bewegung im Verlauf der geistlichen Übung soll registriert und auf ihre Ursachen hin untersucht werden, jede Unaufrichtigkeit soll damit nicht nur ausgemerzt, sondern auch in ihren Ursachen erkannt werden. Unter der Kapitelüberschrift „Examen de Testat de nostre ame envers Dieu" heißt es: 7

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Klara Erdei: Auf dem Wege zu sich selbst. Die Meditation im 16. Jahrhundert. Eine funktionsanalytische Gattungsbeschreibung. Wiesbaden 1990; Udo Sträter: Sonthom, Bayly, Dyke und Hall. Studien zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert. Tübingen 1987; s. dazu auch Gerhard Kurz (Hg.): Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2000 und Stephanie Wodianka: Betrachtungen des Todes. Formen und Funktionen der meditatio mortis in der europäischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2004. Daniel Dyke: The Mystery of Selfe-Deceiving. Or a Discourse and Discovery of the Deceitfulnesse of Mans Heart. London 1615, S. 332 f. Dyke (1615), S. 312.

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Quel est vostre coeur a l'endroit des exercices spirituelz? Les aymez-vous? les estimezvous? vous faschent-ilz point? en estes-vous point desgoustee? auquel vous sentes-vous moins ou plus inclinee? Ouir la parolle de Dieu, se confesser, prendre les advis spirituelz, s'apprester a la Communion, se communier, restreindre ses affections: qu'y a-t-il en cela qui repugne a vostre coeur? Et si vous treuves quelque chose a quoy ce coeur aye moins d'inclination, examines d'ou vient ce desgoust, qu'est-ce qui en est la cause.

Die Betrachtung soll nicht nur stattfinden, sie soll auch als angenehm empfunden werden und mit positiver Befindlichkeit verbunden sein - sollte sich bei aufrichtiger Selbstüberprüfung Widerwillen feststellen lassen, ist mit ebenso großer Selbstaufrichtigkeit nach den Ursachen des Übels zu forschen. Dabei wird auch die Sprache der Meditation, und der Selbstbetrachtung einer Metabetrachtung unterzogen, auch hier könnte sich eine unaufrichtige Haltung verbergen: Quant a vostre langue, comme parles-vous de Dieu? Vous plaises-vous d'en dire du bien selon vostre condition et suffisance? aymes-vous a chanter les cantiques? [...] Quant a la langue, vous vantes-vous point ou d'un biais ou d'un autre? vous flattes-vous point en parlant de vous?10

Das meditative Verfahren ist demnach auf mehreren Ebenen an Aufrichtigkeit gebunden: Erstens auf der Ebene seines Anspruches an den aufrichtig Meditierenden. Zweitens auf der Ebene des Vollzugs der Betrachtung im Sinne performativ sich ereignender Aufrichtigkeit. Drittens erscheint Aufrichtigkeit im Zusammenhang mit der notwendigen Erkenntnis eigener Unergründlichkeit als Betrachtungsobjekt - sie steht hier im paradoxalen Spannungsverhältnis zwischen Erfullungsanspruch und Unmöglichkeitsbewusstsein. Viertens ist Aufrichtigkeit Ziel der Betrachtung im Sinne nicht oberflächlich-scheinbarer, sondern wahrer Selbst- und Gotteserkenntnis. Und schließlich kann das meditative Verfahren - wie im Folgenden gezeigt werden soll - als Aufrichtigkeit signalisierende und Aufrichtigkeit versichernde Textstruktur wirksam werden, die metonymisch auf die beschriebenen Dimensionen der meditativen Aufrichtigkeit verweist.

Meditation als Poetik der Aufrichtigkeit Inhaltliche und strukturelle Bezugnahmen auf die Meditation werden in der geistlichen Lyrik genutzt, um die Aufrichtigkeit des lyrischen Ich zu inszenieren. Die Betrachtung wird als diskursiver Verweis bzw. konventionelle Struktur dem lyrischen Text unterlegt, um das Paradox inszenierter Aufrichtigkeit zugleich zu thematisieren und zu überwinden. Dass es im 16. und 17. Jahrhundert ein Bewusstsein für dieses Paradox gab, zeigt nicht zuletzt die Diskussion über die Verwendung rhetorischen Schmucks in religiöser Dichtung. Sie spiegelt sich vor allem in Vorworten zu Gedichtsammlungen, die die Verwendung von oder 10

De Sales (1961). Bd. 2, S. 180-183.

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den Verzicht auf rhetorische Instrumentarien zu rechtfertigen suchen. Während Martin Opitz, Daniel von Czepko, Johann Heermann und Johann von Rist rhetorischem Redeschmuck in der geistlichen Lyrik kritisch gegenüberstehen und die „künstliche Tichterey" als eventuelles Hindernis der „Warheit" sehen, spricht für Andreas Gryphius, Sigmund von Birken, Georg Philipp Harsdörffer, Catharina Regina von Greiffenberg und Friedrich von Spee nichts dagegen, „Blumen der Wolredenheit" und „Poetische und Figürliche Redzierden" in die geistliche Lyrik einzubinden.11 Ein wichtiges Argument der Befürworter war oftmals die Bibel selbst, insbesondere die Psalmen, die geradezu als Exempel künstlerischschmuckvoller geistlicher Lyrik galten. Der Anglikaner John Donne lobt die Schönheit und Eleganz des Bibelstils und sieht in ihm eine angemessene, d. h. stilistisch hoch stehende geistliche Dichtung begründet, die sich rhetorischen Schmucks bedient, „to make [...] accesses to thee [God] in such a kind a language, as thou was pleased to speake [...], in a figurative, in a metaphoricall language."12 Der französische Katholik Jean de la Ceppede formuliert in seinen Theoremes das Bestreben, der „verlogenen" und mondänen Dichtung in der Tradition der Pleiade „ses anciennes beautez" zurückzugeben, ist sie doch , jadis fille du Ciel". Er will die „Payenne Israelite" zur „fille du ciel" bekehren, „pour luy raire ses cheveux idolatres, menteurs et lascifs". Interessant und im Sinne unserer Argumentation sehr aufschlussreich ist, mit welchen Mitteln er diesen Zweck zu erreichen sucht: „[...] j'advisay qu'on ne pouvoit mettre en oeuvre un outil plus utile que le rasoir ä double tranchant de la profonde meditation de la Passion et mort de nostre Sauveur Jesus-Christ."13 Die Meditation erscheint dem Autor geeignet, der „verlogenen, anmaßenden und mondänen" Poesie Aufrichtigkeit und Wahrheit zurückzugeben. Ebenso beteuert der französische Benedik11

Vgl. Andreas Gryphius: Vorrede an den „Großgünstigen Leser" zu den „Thränen über das Leiden Jesu Christi". In: ders.: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hg. von Marian Szyrocki und Hugh Powell. Bd. 2. Tübingen 1963-1983, S. 98; sowie Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst / oder Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy / mit Geistlichen Exempeln: verfasset durch ein Mitglied der höchstlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft / Den Erwachsenen. Nürnberg 1679, S. 190 f. Opitz sieht „Andacht und Danckbarkeit" und „Beredsamkeit und Zierliche Wort" als Antagonismus - man solle „Ehrerbietung an statt der Geschickligkeit / die Gottesfürchtige Betrachtung an statt künstlichen Worte zu dem Leiden unsers Heylandes bringen". Martin Opitz: Erzehlung Des Leidens und Sterbens unsers Heylandes. Beneben ΧΠ. Geistlichen Betrachtungen des allerheiligsten Todes JESU Christi [...] auffgesetzet Von Thomas Stegern / Prediger zu Leipzig. Leipzig 1659, S. 2. Czepko stellt seinen Gedichten den Hinweis voran, dass diese „Reime, welche wir Deutschen itzo schreiben lernen, Reime, sage ich, mehr nach dem Winckel Maaß der Warheit als der künstlichen Tichterey zusammen gesetzet" seien. Seine „Reime" sind damit ausdrücklich der Aufrichtigkeit und Wahrheit insofern verpflichtet, als sie diese über künstlerisch-rhetorische Ansprüche stellen - Rhetorik, die „künstliche Tichterey", steht nach Czepkos Auffassung der „Warheit" entgegen, die Form kann den Inhalt verdecken oder verfalschen. Daniel von Czepko: Werke. Hg. von Werner Milch. Bd. 1: Geistliche Schriften. Darmstadt 1963, S. 2.

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John Donne: Devotions Upon Emergent Occasions. Salzburg 1975, S. 486 f. Jean de La Ceppede: Theoremes (1613/1621). Hg. von Yvette Quenot. 2 Bde. Paris 19881989, Avant-propos, S. 6; s. dazu auch Jean Rousset: L'interieur et l'exterieur. Essais sur la poesie et sur le theatre au XVIT siecle. Paris 1968, S. 26 fif.

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tinermönch Dom Simplicien Gody (etwa 1600-1660) in der Elegie neufviesme seine Absicht, in seinen Honestes poesies (1632) die Wahrheit auszudrücken (wörtlich: aus sich „herauszumelken"), indem er sie unter das Vorzeichen der Betrachtung stellt. „Or, ie m'en vay conter la verite, / Et me pourtraire avec severite" (V. 1 f.). Was immer man ihm nachsagen möge, seine „Muse sans pompe" sei nicht von „menteuse humeur" (V. 6 und 11), und den Klingen seiner „douleurs, & soucis" werde oft an Schärfe genommen, „Quand ie les vois dedans une Elegie". Er finde Trost „ruminant le mal qui me possede, / Parfois cela me passe pour remede." 14 Die sich beim Verfassen und Rezipieren der Lyrik vollziehende Meditation, auf die hier mit dem Begriff der ruminatio angespielt wird („ruminant le mal qui me possede") wird zum Aufrichtigkeitsbeleg erklärt: Seine Poesie („muse sans pompe") lügt nicht, sondern spiegelt eine der „verite" und „severite" verpflichtete meditierende Auseinandersetzung mit „mes ennuis, mes douleurs, & soucis". Neben solchen inhaltlich-expliziten Verweisen auf meditative Verfahren werden auch strukturelle Bezüge zur Meditation in der Lyrik als Aufrichtigkeitssignal eingesetzt bzw. werden mit diesen verknüpft. So etwa in den ausdrücklich als „andächtige und mit Creutz belegte Sylvien" bezeichneten Gedichten der Margarethe Susanne von Kuntsch (1651-1717). Ihre Gedichte werden schon durch den Titel der Gedichtsammlung unter das Vorzeichen der Meditation gestellt und sind Lebenslauf begleitend Zeugnisse ihrer Frömmigkeitspraxis und ihrer religiösen Auseinandersetzung mit Schicksalsschlägen - gleichsam ein geistliches Tagebuch, in dem viele der Gedichte mit dem Datum und Anlass ihres Entstehens versehen sind und somit Autorin und lyrisches Ich in eine enge Beziehung setzen. Zudem bezieht sie einige ihrer Gedichte im Titel explizit auf die Lektüre von Meditationsliteratur und gibt Aufschluss über ihren Bibliotheksbestand und ihre Lektüregewohnheiten. So ist den Gedichtüberschriften bzw. dem Inhaltsverzeichnis zu entnehmen, dass ihre Lektüre viele „Klassiker" der Meditationsliteratur umfasste: neben Bibel und Katechismus werden z.B. Werke von Johann Arndt, 15 Johann Gerhard, 16 Joachim Lütkemann, 17 Georg Lintzner, 18 Justus Georg Schottelius, 19 Heinrich Müller20 und Erasmus Francisci 21 genannt. 14

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Dom Simplicien Gody: Les honestes poesies de Placidas Philemon Gody. Divisies en cinq Livres. Paris 1632, S. 101 f., V. 11 ff. Johann Arndt: Vier Bücher vom Wahren Christenthum. Magdeburg 1605-1615. Johann Gerhard: Schola Pietatis. Das ist: Christliche und Heilsame Unterrichtung / Was für Ursachen einen jeden wahren Christen zur Gottseligkeit bewegen sollen / auch welcher Gestalt er sich an derselben üben soll [...]. Nürnberg 1709 ('1622), von Kuntsch als ,.Anfuhrung zum gottseligen Leben" bezeichnet. Joachim Lütkemann: Der Vorschmack göttlicher Güte. Wolfenbüttel 1653. Georg Lintzner: Memento mori. Das ist: Heilsame Todes-Gedancken Wie nemlich ein wahrer Christ seinen Tod stets betrachten und sich durch ein christlich Leben zu demselben bereiten: Sonderlich aber mit kräfftigen Trost-Sprüchen wider seine letzten Feinde ausrüsten soll; Auf dass er Christ-ritterlich überwinden und endlich die Crone des Ewigen Lebens überkommen möge. Samt einem Anhange von der Seligen und Unseligen Ewigkeit zum Trost und Warnung. Nürnberg 1675. Justus Georg Schottelius: Sonderbare Vorstellung / Wie es mit Leib und Seel des Menschen werde kurtz vor dem Tode, / in dem Tode / und nach dem Tode werde bewandt seyn (1675);

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Stephanie Wodianka

Titelerläuterungen wie Als sie es zum erstenmal durchlesen, Als sie es zum andernmahl durchlesen oder Uber eben dieselben verweisen auf die wiederholend-ruminierende Lesart, die der Meditation eigen ist, die offensichtlich auch die Lektüre Margarethe Susanne Kuntschs geprägt hat und durch die das lyrische Ich der Gedichte charakterisiert wird. In einzelnen Gedichten wie z.B. in Über Erasmus Francisci Rechenschafft - Als sie solches zum andern mahl durchlesen /Sonett lässt sich das meditative Verfahren als unterlegte Textstruktur nachweisen, das die behauptete Auseinandersetzung mit dem entsprechenden, 1214 Seiten umfassenden Meditationswerk von Francisci als aufrichtig im Sinne von ,authentisch' unterstreicht: compositio, analysis und colloquium sowie der meditative Zusammenhang von Selbst- und Gotteserkenntnis und das ruminierend-wiederholende Aneignen strukturieren das Gedicht. Das „Bedencken" des Jüngsten Tages wird im Sinne einer meditativen compositio in den beiden Quartetten auf der inneren Bühne der Meditation vergegenwärtigt, als „DonnerWort", das „in meinen Ohren schallt" (V. 1). Mit Hilfe der Einbildungskraft werden Szenen und Bilder aus Franciscis Rechenschafft aus dem Inventar des Gedächtnisses abgerufen und dienen als Schauplatz der Meditation: Ο Donner=Wort das stets in meinen Ohren schallt: Steht Menschen=Kinder auf und kommet vor Gerichte Ο strenges Recht! Für dem wird all mein Thun zunichte Ο Urtheil das noch mehr als stärckster Donner knallt; Wie will ich Sünder stehn für dieses Spruchs Gewalt Der alles was ich thu/auch rede/oder dichte Ins lichte stellen wird vors Richters Angesichte Ich fühle dass mein Geist in mir zurücke prallt. (V. 1-8)

Akustisches Hauptrequisit dieser meditativen Inszenierung ist der Schall des „Donner=Wortes", der zu „Gerichte" ruft, und das „Knallen" des göttlichen Urteils. Dabei treten wörtliche Übereinstimmungen zur Gewittermetaphorik im „Vorbericht" und im sechsunddreißigsten „Bedencken" von Franciscis „Rechenschafft" zutage.22 Der „wertheste Leser" soll sich den Jüngsten Tag und das Jüngste Gericht als „Gemähl" vor Augen fuhren und sich mit Gottes Hilfe dabei auch „ins Herz setzen", und zwar mit Hilfe der gegebenen „Beschreibung". Ge-

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ders.: Eigentliche und Sonderbare Vorstellung Des Jüngsten Tages und darin künfftig verhandenen Grossen und Letzten Wunder=Gerichts Gottes [...]. Braunschweig 1668; ders.: Sonderbare Vorstellung Von der Ewigen Seeligkeit [...]. Braunschweig 1673; ders.: Grausame Beschreibung und Vorstellung von der Hölle und der Höllischen Qwaal / Oder Des andern und ewigen Todes [...]. Wolfenbüttel 1676. Heinrich Müller: Himmlischer Liebes=Kuß / Oder Vbung deß wahren Christenthumbs / fließend auß der Erfahrung Göttlicher Liebe. Erfurt 1742 ('1659). Erasmus Francisci: Die Letzte Rechenschaft! Jeglicher und aller Menschen abzulegen / Zu den Füssen der Ewigen Majestet: In vier und sechzig Bedenckungen Deß Sonderbaren Seelen=Gerichts / und Allmenschlichen End=Gerichts abgehandelt: [...] Denen Unbußfertigen heilsam=schrecklich / den Bußfertigen Trost=erfreulich furgestellet / auch mit vielen neuen Liedern und Sinnbildern geziert [...]. Nürnberg 1681. Francisci (1681). Vorbericht, o. pag.

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nau dieser Aufforderung kommt das lyrische meditierende Ich nach - es vergegenwärtigt sich in seiner Betrachtung des Jüngsten Gerichtes als Schauplatz den „Gerichts=Donner" und das „donnernde Urtheil" als akustisches Requisit auf einer inneren Bühne der Meditation (V. 1 , 4 und 5). Die individuelle Sündhaftigkeit wird durch meditative Selbsterkenntnis bewusst bzw. als aufrichtiger Affekt spürbar: „Ich fühle dass mein Geist in mir zurücke prallt" (V. 8). Das erste Terzett steht fur die analysis, das auf den Intellekt abzielende Strukturelement der Meditation und geht in das die Betrachtung schließende Gebet im zweiten Terzett über: Wenn ich es recht erweg/der Satan klagt mich an und mein Gewissen zeugt dass ich nicht recht gethan Ich fiel verzweifelt hin/wenn mich nicht dieß könnt laben Herr Jesu/dein Verdienst/dasselbe bleibet mein Du bist das Lebens=Buch/ach zeichne mich darein So werd ich meinen Fund zu meinem Richter haben. (V. 9-14)

Das lyrische Ich „erwägt" die eigene Sündhaftigkeit, es versucht diese verstandesmäßig zu erfassen. Das meditierende lyrische, aber auch meditierend schreibende Ich erkennt, dass über „alles was ich thu / auch rede / oder dichte" das Urteil Gottes ergehen wird. Es erkennt auch, dass es der Verdammung und Verzweiflung anheim gegeben wäre, wenn es nicht auf die Erlösungstat Christi vertrauen dürfte (V. 11: „Ich fiel verzweiffeit hin"). Das meditativ erarbeitete aufrichtige Schuldbewusstsein kann nur durch die verinnerlichende Vergegenwärtigung des Kreuzestodes Christi „gelabt" (V. 11) und aufgefangen werden - die Selbsterkenntnis verweist auf die Erlösungshoffnung. Das Gedicht Kuntschs spiegelt somit den Verlauf des meditativen Erkenntnisweges über die aufrichtigaffektive Selbstbetrachtung, die aber stets auf die Gotteserkenntnis hin perspektiviert ist. Die aus ihr hervorgehende Erlösungshoffnung leitet zum gebetsähnlichen colloquium des letzten Terzetts hin, in dem das meditierende Ich durch sein Glaubensbekenntnis die willentliche Vertiefung der Betrachtung formuliert und seinen Blick auf die Gotteserkenntnis richtet. Das Verdienst Christi, „dein Verdienst" (V. 12), wie es im gebetsähnlichen Schluss des meditativen Gedichtes heißt, wird und „bleibet mein" (V. 12), nachdem es in der Betrachtung verinnerlicht und angeeignet wurde. Das meditative Aneignen und Verinnerlichen der Gotteserkenntnis im Sinne einer Erlösungshoffnung wird im Gedicht unterstrichen durch die Akkumulation des Possessivpronomens „mein" (V. 1, 3, 8, 10, 12, 14), des Subjektpronomens „ich" (5, 6, 8, 9, 10, 11, 14), des Personalpronomens im Dativ „mir" (V. 8) und des Reflexivpronomens „mich" ( 9 , 11, 13). Zudem wird die erste Person Singular auch klanglich evoziert: „Gerichte" (V. 2). „zunichte" (V. 3), „dichte" (V. 6), „lichte" (V. 7), „Richters Angesichte" (V. 7), „nicht" (V. 10, 11), „zeichne" (V. 13), „Richter" (V. 14). Im letzten Terzett wird durch den Umlaut „ei" das Possessivpronomen hervorgehoben: „dein", „bleibet", „mein", „zeichne", „darein", „meinem" (alle V. 12-14). Das meditative Ruminieren und wiederholende Einverleiben wird klanglich gespiegelt.

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Die aufgezeigte meditative Textstruktur wird hier zum Aufrichtigkeitsbeleg eines im Gedicht durch inhaltliche Verweise behaupteten Bezuges zum Betrachtungswerk Franciscis. Dieser Bezug wird nicht nur als ein dem Gedicht vorgängiger, sondern auch als ein sich im Gedicht vollziehender, performativ ereignender diesem eingeschrieben. Auch die in der Meditation erreichte Selbsterkenntnis wird durch das strukturell unterlegte meditative Verfahren als aufrichtig ausgewiesen: Nicht etwa eine ,oberflächlich-unauthentische', routinierte Aufzählung von Einzelsünden (s. o. das Zitat von Francois de Sales), sondern die Betrachtung als aufrichtige Haltung signalisiert die Authentizität der lyrischen Rede. Das Sonett ist zugleich sich vollziehende Meditation, zum Nachvollzug auffordernde Meditationsanleitung und - für Leser und Autorin gleichermaßen Meditationsobjekt. Dadurch scheinen auf den verschiedenen poetologischen Ebenen - je nach Betrachtungsperspektive - mehrere Subjekte und Adressaten der meditativen Aufrichtigkeit auf: Sowohl die sich immer wieder explizit als solche ins Spiel bringende Autorin 23 als auch das meditierende Ich des Gedichts sowie die intendierten Rezipienten sind potentielle ,Sender' bzw. ,Empfänger' (selbst-)aufrichtiger Betrachtung. Hinzu kommt der in Vers 12 apostrophisch angerufene „Herr Jesu", an den die Worte des meditierenden Ich explizit gerichtet sind. Diese multiperspektivische Verschränkung und Verschachtelung von Selbstaufrichtigkeit und Aufrichtigkeit gegenüber anderen, die sich im meditativen Gedicht vollzieht, vermag das vordergründige Paradox einer Inszenierung von Aufrichtigkeit aufzuheben.

Grenzen der Aufrichtigkeit Aufrichtigkeit hat in der Meditation aber auch ihre Grenzen, wie im 16. und 17. Jahrhundert immer wieder betont wird: Sie ist erstens nicht ohne Selbstbeschränkung und Bewusstsein der Beschränktheit zu betreiben - vor allzu selbstkritischer Vertiefung in sich selbst ist nach Ansicht de Sales' nur zu warnen: [...]examinons donq nostre conscience si nous remarquerons en nous quelques [...] defautz. Mais notes, Philothee, qu'il ne faut pas faire cet examen avec inquietude et trop de curiositi; ains apres avoir fidelement considere nos deportemens pour ce regard, si nous treuvons la cause du mal en nous, il en faut remercier Dieu, car le mal est a moitii gueri quand on a descouvert sa cause. Si, au contraire, vous ne voyes rien en particulier qui vous semble avoir cause cette secheresse, ne vous amuses point a une plus curieuse recherche, mais avec toute simplicite, sans plus examiner aucune particularite. 24

Die den Philothees zugeschriebene Einfalt soll durchaus bewahrt bleiben, und so ist alle „plus curieuse recherche" zu vermeiden und stattdessen „avec toute simplicite, sans plus examiner aucune particularite" vorzugehen. Frauen schei23

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Ζ. B. durch den vorangestellten Lebenslauf und die Gedichttitel, die das Ich der Gedichte immer wieder in biographische Nähe zur Autorin rücken. De Sales (1961). Bd. 2, S. 163.

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nen nach Ansicht Franfois de Sales' in besonderem Maße für Selbstkritik disponiert zu sein. „Notamment les femmes" neigen dazu, allzu hohe Ansprüche an die Aufrichtigkeit ihres Gottesdienstes zu stellen und sich darüber zu betrüben, dass sich Sinn, Gefühl und innige Zärtlichkeit des Herzens nicht in zufrieden stellendem Maße an der Meditation beteiligen wollen.25 Maßhalten und (Selbst-) Beschränkung in jeder Hinsicht gehört zu den Regeln der ,guten' Meditation jegliche Übertreibimg birgt Gefahren, wie auch Joseph Hall zu bedenken gibt: „[...] it is with meditations as with medecines, which, with over-ordinary use lose their sovereignty and fill instead of purging."26 Zweitens kann gerade die der Meditation eigene Wiederholungsstruktur die Aufrichtigkeit von einer Tugend zum Übel geraten lassen, wie der Fall einer ,allzu aufrichtigen' französischen Katholikin zeigt: Quand eile croit que la plüpart des confessions qu'elle a faites sont nulles et sacrileges, ses scrupules et ses peines s'augmentent d'autant plus qu'elle voit par une fausse persuasion, que ce qui lui devoit servir de remede, la rend plus malade que jamais [...]. C'est ce qui arrive presque toujours; eile apporte un temps non seulement süffisant, mais encore beaucoup plus long qu'il n'est besoin, pour examiner ses peches qu'elle ecrit avec une exactitude extraordinaire, et pour s'exciter avec la grace ä une veritable et sincere douleur de les avoir commis: et nianmoins, lorsqu'elle s'est entierement confessöe, non seulement elle relit son papier oü ses pechis itoient ecrits, mais fait encore un second examen de conscience, plus long que le premier, pour scavoir si elle n'a rien oublie, si elle s'est expliquee sur toutes les circonstances; et comme elle est dans les secheresses, elle s'imagine qu'elle n'a pas la contrition nicessaire, parce que la contrition n'a pas έίέ sensible. 27

Überprüfung des Gewissens und Überprüfung der dabei notwendigen Selbstaufrichtigkeit sollen ineinander greifen, aber das wiederkäuende Insistieren auf bereits betrachteten und bekannten Sünden, Erinnerungen und Gewissenslagen ist zu vermeiden. Diese der Meditation eigene Schwierigkeit, so Delumeau, bringt in der Frühen Neuzeit eine ganze Welle von Literatur hervor, die vor der lähmenden Wirkung ,aufrichtigkeitsübertreibender Skrupuliererei' warnt. Sie rät dazu, „[...] ne pas ressasser le passe, ne pas recommencer des confessions faites d'un coeur sincere, ne pas repeter des prieres oü des distractions se sont glissees [...].28 Aufrichtigkeit ist einmalig, sie verliert in der Wiederholung ihren Wert. Drittens ist die .aufrichtige' religiöse Selbstbetrachtung insofern wörtlich zu nehmen,29 als sie ein In-sich-hinein-Krümmen ohne die Aufrichtung des Blicks 25 26

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De Sales (1961). Bd. 2, S. 166. Joseph Hall: Arte of Divine Meditation (1606). In: ders.: Α Meditation of Death: According to the Former Rules. In: Frank Livingstone Huntley: Bishop Joseph Hall and Protestant Meditation in Seventeenth-Century England: A Study With the texts of The Art of Divine Meditation (1606) and Occasional Meditations (1633). Binghampton u. New York 1981, S. 74. Colomban Gillotte: Le directeur des consciences scrupuleuses, examinant tous leurs scrupules et enseignant la maniere de les guerir selon la doctrine de Gerson, des theologiens et des Peres de la vie spirituelle. Paris 1697, S. 198 f. Jean Delumeau: Le Pechö et la Peur. La culpabilisation en Occident (ΧΠΓ -XVIir siecles). Paris 1983, S. 356. Am Anfang des 17. Jahrhunderts hat aufrichtig neben .offenherzig' auch noch die Bedeutung .aufrecht'. Das Deutsche Wörterbuch 1, Sp. 711 belegt es fur Georg Rollenhagens (1542-1609) „Froschmeuseler" (Magdeburg 1595 u. ö.).

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zu Gott zu vermeiden hat. Aufrichtige Selbstbetrachtung ist immer nur eine notwendige Etappe auf dem Weg zur Gotteserkenntnis, wer die Perspektive auf sie verliert, meditiert nicht,aufrecht' - deshalb ist nicht nur eine Innenperspektive auf sich selbst, sondern auch eine betrachtende Außenperspektive anzustreben, die die Übersicht über das meditative Verfahren wahrt und den Blick auf Gott hebt.30 Deshalb warnt Christian Scriver in seinem Seelen=Schatz: Wir müssen so unsere Sünde betrachten / und uns darüber betrüben / dass wir den Sünden Büsser Christum Jesum nicht auß den Augen und Herzen verlieren; Man kann sich auch in der Traurigkeit über die Sünde versündigen / wenn man nemlich der Sachen zuviel thut / die Sünde grösser achtet als Gottes grosse Gnade / dem Betrübniß allzu sehr nachhänget / und darüber das Vertrauen zu Gott in Christo Jesu verlieret [...].31

Im übertriebenen „Nachhängen" hinter der eigenen Selbsterkenntnis, das das Heil „auß den Augen und Herzen" verliert, verwirklicht sich das Gefahrenpotential der Aufrichtigkeit: Die Selbstbetrachtung soll begleitet werden von einer Meta-Meditation, in der der Meditierende sich im Hinblick auf Selbstaufrichtigkeit und Gelingen der Selbstbetrachtung überprüft und durch das Einnehmen einer zu sich selbst in Distanz tretenden Außenperspektive seiner bewussten Unergründlichkeit Rechnung trägt. Diese beständige, ruminierende Selbstbetrachtung der Selbstbetrachtung als Mittel gegen die Selbsttäuschung des meditierenden Subjekts impliziert aber ihrerseits die Gefahr der durch perspektivische Selbstbeschränkung gekennzeichneten ,unaufrichtigen' Haltung, die bei Spener im Bild des Labyrinths zum Ausdruck kommt: „Dann jemehr man den Gedancken nach henget / je weniger man sich derselben entschlagen kan / sondern ist wie in einen Labyrinth und verworren Gebäu verschlossen."32 30

Die Erkenntnis der Lady Elizabeth Delaval, immer wieder die gleichen Sünden zu bekennen, ist insofern nicht der ,falschen', sondern der .richtigen' Aufrichtigkeit im Rahmen einer Meta-Meditation geschuldet: „I am amaized now I sit downe and consider how often I confess the same offences, and I do now find tis not enough every evening to bewayle the evill's of the past day, for that may be done negligently, merely because custome (our second nature) invites us to it, but tis most nesesary also strictly to examine our heart's. Whence comes it then, Ο my deceitful heart, that I so often repeat the same crimes. Is it possible for me to do thus wickedly, except I some way or other flater and deceive my selfe. Am not I apt to say my sin's are sin's of infirmity which cannot be avoided and will easely bee pardon'd. Ah me, I find tis too true that I selldome consider God allmighty's judgements, and that I very contentedly pass on my way from day to day in sin, without offering to him the sacrifice of a broken heart." Elizabeth Delaval: The Meditations of Lady Elizabeth Delaval, S. 99 f.

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Christian Scriver: Seelen=Schatz / Darinn von der menschlichen Seelen hohen Würde / tieffen und kläglichen Sündenfall / Busse und Erneuerung durch Christum / Göttlichen Heiligen Leben / vielfältigen Creutz / und Trost im Creutz / seligen Abschied auß dem Leibe / Triumphirlichen und frölichen Einzug in den Himmel / und ewiger Freude und Seligkeit / erbaulich und tröstlich gehandelt wird [...]. 5 Teile. Der Ander Theil: Von der Büß und Bekehrung der sündhafflen Seele. Leipzig 1675-1694, S. 403. Philipp Jacob Spener: Drey Christliche Predigten von Versuchungen / sonderlich von der Anfechtung böser / gottloser und lästerlicher Gedancken / mit welchen Glaubige Kinder Gottes offters zu kämpffen haben [...]. Frankfurt a. M. 1673, S. 364 f. Vgl. auch Robert Burton: The Anatomy of Melancholy. Hg. von Thomas Faulkner, Nicolas K. Kiessling u. Rhonda L. Blair. 3 Bde. Oxford 1989, S. 244: „[...] this labyrinth of anxious and solicitous me-

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Aufrechtes und aufrichtiges Betrachten Das meditierende Ich in einem Gedicht der englischen Protestantin Anne Vaughan Lock mit dem Titel Α Meditation of a Penitent Sinner Written in Manner of a Paraphrase Upon the 51st Psalm ο David. The Preface, Expressing the Passioned Mind of the Penitent Sinner33 klagt in einer lyrischen Meta-Betrachtung über seine erkannte unaufrichtige Betrachtungsperspektive - dadurch vollzieht sich zugleich deren meditative Überwindung. Es betrachtet sich distanziert von außen, um zu erkennen, dass es „niedergedrückt" („oppressed") und „fixiert" („fixed") ist auf die in sich erkannte Schuld, sich nicht am Licht der Gotteserkenntnis erfreuen und den Weg der Meditation nicht aufrecht bzw. richtig gehen („to walk aright") kann: The heinous guilt of my forsaken ghost So threats, alas, unto my feebled sprite Deserved death, and (that me grieveth most) Still stand so fixed before my dazzled sight The loathsome filth of my distained life, The mighty wrath of mine offended Lord My Lord whose wrath is sharper than the knife And deeper wounds than double-edged sword That, as the dimmed and fordulled eyn Full fraught with tears and more and more oppressed With growing streams of the distilled brine Sent from the furnace of a grief-full breast Can not enjoy the comfort of the light Nor find the way wherein to walk aright. (Strophe I).

In der zweiten Strophe wird der Verlust der über sich selbst hinausblickende Perspektive auf Gott verdeutlicht durch das mehrfach genannte Kriechen des lyrischen Ich (II., V. 3, 11 und 12), das sich zu Boden geworfen sieht (II., V. 2) und im Schlamm der eigenen Sünde auf allen Vieren mit nach unten gerichtetem Blick qualvoll um ein Vorankommen bemüht ist: So I, blind wretch - whom God's enflamed ire with piercing stroke hath thrown unto the ground Amid my sins - still groveling in the mire Find not the way that other oft have found Whom cheerful glimpse of God's abounding grace Hath oft relieved and oft with shining light Hath brought to joy out of the ugly place Where I in dark of everlasting night Bewail my woeful and unhappy case

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lancholy meditations" und Dyke, der das „self-deceiving" als Methode zu Erforschung von „les entortillements et detours infinis de ce labyrinthe obscur qu'est le coeur de l'homme" bezeichnet. Dyke (1615). Vorwort, o. pag. Das Gedicht wurde im Anhang zu ihrer Übersetzung der „Sermons of John Calvin upon the Song that Ezechias Made" (1560) publiziert. Im Folgenden zit. n. Betty S. Travitsky u. Anne Lake Prescott (Hgg.): Female & Male Voices in Early Modern England. An Anthology of Renaissance Writing. New York 2000, S. 115 ff., s. Gedichtanhang.

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And fret my dying soul with gnawing pain. Yet blind, alas, I grope about for grace While blind for grace I grope about in vain. My fainting breath I gather up and strain ,Mercy, mercy', to cry and cry again. (Strophe II)

Erst am Ende des insgesamt fünf Strophen umfassenden Gedichts gelangt das lyrische meditierende Ich zu einer zwar noch nicht ganz aufrechten, aber doch immerhin insofern aufrichtigen Haltung, als sich die Perspektive der Meditation vorsichtig suchend nach oben zum Erlösung verheißenden Gott richtet: And then not daring with presuming eye Once to behold the angry heaven's face From troubled sprite I send confused cry To crave the crumbs of all-sufficing grace. With faltering knee I falling to the ground, Bending my yielding hands to heaven's throne, Pour forth my piteous plaint with woeful sound, With smoking sighs ond oft repeated groan Before the Lord, the Lord, whom sinner I I cursed wretch, I have offended so That dreading in his wreakfall wrath to die And damned, down to depth of Hell to go, Thus tossed with pangs and passions of despair Thus crave I mercy with repentant cheer. (Strophe V)

Zwar wagt es das Subjekt des Gedichtes kaum, die „anmaßenden" Augen aufzuschlagen (V., 1), und es kann nur einen „confused cry" (V., 3) nach oben richten, um die gleichsam nach unten fallenden Krumen der Gnade zu erflehen („the crumbs of all-sufficing grace", V., 4). Schwankend und mit ruminierendwiederholendem Seufzen („repeated groan", V., 8) fallt das lyrische Ich zu Boden, richtet sich aber vorsichtig zu Gott auf (V., 6), um - geschlagen mit an die Passion Christi erinnernden Wunden und Verzweiflung („tossed with pangs and passions of despair", V., 13) - ,aufrichtig' büßend Gnade zu erlangen. Die Perspektive nach oben ist Ergebnis einer sich im und durch das Gedicht vollziehenden Meta-Betrachtung der eigenen Meditationshaltung. Un-aufrichtiges Meditieren .übersieht' durch die auf sich selbst beschränkte Perspektive die über allem stehende Gnade Gottes. Das meditierende Ich des Gedichtes betrachtet sich aus der Außenperspektive, um - sich selbst prüfend und zur aufrechten Körperhaltung korrigierend - zu einer aufrichtigen und damit richtigen Andachtshaltung zu gelangen.

Resümee: der Silberblick der Meditation Die Meditation stellt als kulturelle Praxis, aber auch als poetologisches Modell ein Repertoire an Strategien und Signalen zur Konstruktion, Markierung und Hervorbringung, aber auch zur Kontrolle von Aufrichtigkeit zur Verfügung. Sie ist als diskursives Muster zu verstehen, auf das literarische Aufrichtigkeits-

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Inszenierungen rekurrieren können. 34 Ziel des Beitrages war es, dieses Zusammenspiel von kultureller Übereinkunft und originärer Auskunft und die damit zusammenhängenden Diskussionen über das Paradox der Inszenierung von Aufrichtigkeit exemplarisch vorzufuhren. Weil die referentielle Wahrheit für das meditierende Ich nicht verbindlich ergründet werden kann, verfolgt meditative Literatur der Frühen Neuzeit das Ziel, Aufrichtigkeit als einen relativen Wert zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig zu inszenieren. Die in der Betrachtungsliteratur immer wieder geforderte lind in literarischen bzw. lyrischen Texten poetologisch umgesetzte Multiperspektivität in Bezug auf Aufblick und Einblick, Innen- und Außensicht sowie auf Subjekte und Adressaten der aufrichtigen Rede ist der die Konfessionen verbindenden Überzeugung geschuldet, dass .richtige' Aufrichtigkeit bei der Selbstbetrachtung nur mit einem Silberblick auf sich selbst glaubhaft zu machen und zu erreichen ist.

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S. dazu auch den Beitrag von Ursula Kundert in diesem Band.

Sozialverhalten und Unverstelltheit

Heidrun Kugeler

„Ehrenhafte Spione" Geheimnis, Verstellung und Offenheit in der Diplomatie des 17. Jahrhunderts

„All seine Absichten, all seine Maximen, alle Feinheiten seiner Politik richten sich auf ein Ziel: selbst nicht getäuscht zu werden, sondern andere zu täuschen".1 Das Urteil des Philosophen Jean de la Bruyere über den Gesandten spiegelt eine in der Frühen Neuzeit weit verbreitete Vorstellung wider: Im Rahmen der Hofkritik wurde Diplomatie als ein Hort der Unaufrichtigkeit, der Täuschung, des Verbergens und der Verstellung gesehen - in den Worten der französischen Aufklärung als „ecole du mensonge et du secret".2 Die Aufklärung prägte die bis heute bestehende negative Konnotation diplomatischer Praktiken, die im Gegensatz zur friedensschaffenden Funktion der Diplomatie zu stehen scheint.3 Dabei war die Verbindung von Diplomatie, Verheimlichung und Unaufrichtigkeit keineswegs neu: Seit dem 15. Jahrhundert gehörten Geheimnis und Staatsräson zu den definierenden Merkmalen der Diplomatie.4 Die Publizisten der Aufklärung erkannten in der Diplomatie des 17. Jahrhunderts den Höhepunkt von Staatsräson und machiavellistischen Praktiken, angeführt von der französischen Diplomatie.5 In den Augen der Philosophes waren die Praktiken der Diplomatie, die sich im Lauf des 17. Jahrhunderts herausgebildet hatten, ein Abbild der moralisch degenerierten Hofgesellschaft und ein Gegenbild aufklärerischer Grundsätze wie Öffentlichkeit, Aufrichtigkeit und Rationalität. Aus diesem Grund galt ihnen nicht die Diplomatie als geeignetes Instrument zur Förderung der internationalen Gemeinschaft und des Friedens,

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„Toutes ses vues, toutes ses maximes, tous les raffinements de sa politique tendent ä une seule fin, qui est de n'etre point trompe, et de tromper les autres". Jean de la Bruyere: Les Caracteres (1688), zitiert nach: Marc Belissa: La diplomatie et les traites dans la pensee des Lumieres: ,Negotiation universelle' ou ,ecole du mensonge'? In: Revue d'Histoire Diplomatique 113 (1999), S. 291-317, S. 301. Belissa: La diplomatie et les traites, S. 300. Vgl. auch Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992, S. 2 und 21f. Vgl. die Aphorismensammlung im Internet zu .Diplomatie', ζ. B. http://www.20six.de/ Aurisa/archive /2004/04/16/yg01k0m2kc2m.htm [31.05.2005], Vgl. Melissa Bullard: Secrecy, Diplomacy and Language in the Renaissance. In: Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit Bd. 6). Hg. von Gisela Engel u. a. Frankfurt a. M. 2002, S. 77-97. Gabriel B. de Mably: Des principes des negotiations pour servir d'introduction au droit public de l'Europe fonde sur les traites. Amsterdam 1757, S. 273. Belissa: La diplomatie et les traites, S. 302.

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sondern internationale Verträge, Völkerrecht und Handel.6 Aufrichtigkeit und Diplomatie schienen zwei unvereinbare Sphären zu bilden. Konnte Aufrichtigkeit überhaupt einen Platz haben in einer Tätigkeit, die so sehr von Praktiken der Geheimniswahrung und -entdeckung bestimmt war? Der vorliegende Aufsatz behandelt die Rolle der Aufrichtigkeit im Denken und Selbstbild der Diplomaten, das sich in Traktaten über den .idealen Gesandten', den Parfait Ambassadeur niederschlägt. In dieser Literatur entwarfen die diplomatischen Akteure ein anderes Bild von sich und ihrer Tätigkeit, das mit der Sicht der aufklärerischen Publizisten nicht übereinstimmt. Der Begriff der Aufrichtigkeit und seine Konnotationen bildeten einen festen Bestandteil in dieser Spezialliteratur, die innerhalb der europäischen Gelehrtenrepublik kursierte. Im Gegensatz zur aufklärerischen Publizistik wurde Diplomatie hier keineswegs als Gegenpol zu Aufrichtigkeit, Offenheit, Öffentlichkeit und Natürlichkeit konzipiert, sondern zwischen den Polen .Aufrichtigkeit' und .Geheimnis' vermessen. Beide Aspekte bildeten notwendige Bestandteile der diplomatischen Tätigkeit. Im folgenden geht es dabei nicht um die Frage, inwieweit die theoretischen Reflexionen über Aufrichtigkeit und Geheimnis von Belang waren fur das konkrete Handeln in der diplomatischen Praxis. Vielmehr liegt die Bedeutung dieser Traktate in der normativen Fixierung eines verbindlichen Selbstund Gruppenbildes der Diplomaten in der Entstehungsphase des europäischen Staatensystems. Im 17. Jahrhundert unterlag das Verhältnis von Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit, von Geheimnis und Offenheit, einem fundamentalen Wandel, der sich in der Literatur über die Tätigkeit des Diplomaten niederschlug und um 1730 einen ersten Abschluss fand. Die Traktatliteratur im .langen' 17. Jahrhundert ist Gegenstand des ersten Abschnitts. Das dort verhandelte Idealbild des Diplomaten veränderte sich im Gefolge der strukturellen Veränderungen des Gesandtschaftswesens, die im zweiten Teil beschrieben werden, ehe abschließend das Verhältnis zwischen Aufrichtigkeit und Geheimnis beleuchtet wird.

Traktate über den .idealen Gesandten' - eine Orthodoxie diplomatischen Verhaltens Diplomaten waren Träger des Geheimen und spielten in der Frühen Neuzeit eine zentrale Rolle in der Beschaffung und Übermittlung politischer Informationen zwischen den europäischen Höfen.7 Sie hatten eine Doppelrolle zu erfüllen, die 6

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Belissa: La diplomatie et les traites, S. 291 und 316f. Auch Belissa stellt die Theoretiker der Diplomatie, die er .Publicistes' nennt, der Gruppe der ,Philosophes' gegenüber (S. 291). Doch waren Diplomaten keineswegs die einzigen Beschaffer geheimer Informationen, wie die Forschung zur politischen Kommunikation hervorhebt, die sich mit den dynastischen Verbindungen der Höfe, der Gelehrtenrepublik, den religiösen Netzwerken, dem internationalen Handel und privaten Netzwerken beschäftigt. Neben den Gesandten waren darüber hinaus Agenten, Korrespondenten und Spione im Ausland tätig. Einen guten Überblick liefert Lucien Bely: Espions et ambassadeurs au temps de Louis XIV. Paris 1991.

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darin bestand, zum einen geheime Informationen zu enthüllen und zu übermitteln, zum anderen die arcana ihrer Fürsten vor Entdeckung zu schützen. Mit dem Aufkommen ständiger Gesandtschaften erschienen seit dem späten 15. Jahrhundert auch Abhandlungen über den .idealen Gesandten' als Untergattung politischer Theorie.8 Während sie stets anderen Gattungen der Herrschaftsund Rechtslehre - wie Fürstenspiegeln, Traktaten über den Minister und den Höfling, Regierungslehren und Völkerrechtstraktaten - verwandt blieben,9 bildeten sie eine eigenständige Literaturgattung, die sich sowohl durch ihre Konzentration auf den Gesandten, durch ihre Autorenschaft als auch durch gattungsspezifische semantische Traditionen von anderen Genres unterschied. In diesen Traktaten entwarf eine Gruppe von Autoren, die man als .gelehrte Diplomaten' bezeichnen kann, ein Porträt des Gesandten, in dem sie praktische diplomatische Erfahrung mit den Traditionen der Respublica litteraria verbanden.10 Das gemeinsame Ziel der Autoren war es, die diplomatische Tätigkeit in ein System von Regeln zu überfuhren, um zukünftigen Diplomaten in den immer komplexer werdenden internationalen Beziehungen eine Veihaltensgrundlage bereitzustellen. Gleichzeitig war es ihr Anliegen, der gelehrten europäischen Öffentlichkeit ein Selbstbild und Porträt ihrer Tätigkeit zu präsentieren. Unter Titeln wie De legatis, Le parfait ambassadeur, Der Gesandte oder L 'art de negocier beschrieben sie idealtypisch den Ablauf einer Gesandtschaft, die Tugenden des Diplomaten, seine Funktionen und Verhaltensweisen sowie die ihm eigenen zeremoniellen und völkerrechtlichen Privilegien.11 Traktate über den .idealen Gesandten' wurden in verschiedenen Ländern veröffentlicht und waren Teil eines transnationalen Diskurses. Bis 1600 in Latein und danach immer häufiger in Französisch geschrieben, konnten sie in weiten 8

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Der erste bekannte Traktat ist: Bernard(us) de Rosier(gio): Ambaxiator brevilogus. 1436. Hg. von Vladimir E. Hrabar: De Legatis et Legationibus Tractatus varii. Dorpat 1905, S. 328. Hrabar listet die Inhaltsverzeichnisse mehrerer Traktate und juristischer Dissertationen bis 1700 auf, vgl. Id.: De legatorum jure tractatum catalogue completus ab anno 1625 usque ad annum 1700. Dorpat 1918. Das Verhältnis von diplomatischer Theorie und anderen Gattungen politischer Theorie ist bisher noch nicht untersucht worden. Ein Ansatz hierzu könnte sein: Wolfgang Weber: Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992. Einen Überblick über die Gattung geben: Jean Jusserand: The School for Ambassadors. In: American Historical Review 27 (1922), S. 426-64. Maurizio Bazzoli: Ragion di Stato e Interesse degli Stati. La Trattatistica sull'Ambasciatore dal XV al XVm secolo. In: Nuovo Rivista Storica 86 (2002), S. 283-328. Daniela Frigo: Virtu politiche e .pratica delle corti': L'Immagine dell' Ambasciatore tra Cinque e Seicento. In: Repubblica e virtu. Pensiero politico e Monarchia Cattolica fra XVI e XVII secolo. Hg. von C. Continisio, C. Mozzarelli. Rom 1995, S. 355-76. Siehe auch: Geoff Berridge u. a. (Hg.): Diplomatie Theory from Machiavelli to Kissinger. Basingstoke 2001. Dem Begriff .Diplomat', der erst im späten 18. Jahrhundert aufkommt, entsprachen .Legatus', .Ambassadeur', ,Nigociant' oder .Gesandter'. Dabei bezogen sich die Traktate vor allem auf die obere Rangklasse der Diplomatie (Ambassadeurs bzw. Bothschaffler), im 17. Jahrhunderts aber auch zunehmend auf die mittleren und unteren Ränge (Ertvoyes bzw. Abgesandte und Residents bzw. Residenten). Eine Auflistung der Ränge findet sich ζ. B. bei Francois de Callieres: De la maniere de negocier avec des souverains. Paris 1713, Kapitel VI

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Teilen Europas rezipiert werden; 12 daneben existierten Traktate in den Landessprachen, vor allem deutsch, italienisch, spanisch und englisch, sowie Übersetzungen der bekanntesten Traktate.13 Durch ihre diplomatische Tätigkeit und ihre Teilnahme am Austausch der Gelehrtenrepublik bildeten die Autoren eine internationale Gruppe, die sich vor allem aus west-, süd- und mitteleuropäischen Diplomaten rekrutierte. In der deutschen Publizistik des 17. Jahrhunderts, die sich mit auswärtigen Beziehungen befasste, war es nicht unüblich, ,Unaufrichtigkeit' und dazugehörige Prackticken14 ausländischen Einflüssen zuzuschreiben. Dabei wurde Diplomatie ebenso wie die negative Seite der höfischen Verhaltenskunst - Verstellung, Heuchelei und Lüge - dem französischen Einfluss zugeschrieben. 15 Im Unterschied dazu behandelte der Diskurs über den ,idealen Gesandten' die Problematik von Aufrichtigkeit, Verstellung und Verheimlichung als universelles Problem unter einem .professionellen' Blickwinkel. Auch der deutschsprachige Raum nahm, jenseits von Reichsrecht und Reichspublizistik, 16 an diesem Diskurs teil, in erhöhtem Maße nach dem Westfälischen Frieden (1648). 17

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Über die Rezeption der Traktate können u. a. Inventare adeliger Bibliotheken Aufschluss geben. So finden sich ζ. B. in der Bibliothek der österreichischen Adelsfamilie Harrach Exemplare und Kopien fast aller Traktate des 17. Jahrhunderts, vgl. Allgemeines Österreichisches Verwaltungsarchiv Wien, Nachlass und Familienarchiv Harrach, Hs. 206: Catalogus librorum bibliothecae Harrachianae. Ζ. B. Abraham de Wicquefort: L'Ambassadeur, oder Staats-Bothschaffier [...] übersetzet von Johann Leonhardt Sautern [...]. Frankfurt a. M. 1682. Franfois de Callieres: Der staatserfahrene Abgesandte: oder Unterricht, wie man mit hohen Potentaten in Staats-Sachen klug tractiren soll. Leipzig 1716. Zu den Begriffen .Practica' und ,Prackticken' vgl. Valentin Groebner: Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption am Beginn der Neuzeit, Konstanz 2000, S. 25Iff. Vgl. allgemein Martin Wrede: Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg. Mainz 2004. Vgl. hierzu allgemein Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800. München 1988. An den Universitäten erschien darüber hinaus eine große Anzahl von Dissertationen über De legatis, die sich jedoch auf völkerrechtliche Aspekte der Diplomatie konzentrierten, ζ. B. Heinrich Hahn (praes.), Melchior Juncker (resp.): De Legationibus sive legatorum auctoritate, privilegiis. Dissertatiojuridica [...]. Helmstedt 1654. In Auswahl: Hermann Kirchner: Legatus [...]. Lichae 1604. Conrad von Hoevelen: Candorins Vollkommener Teutsche Gesandte, nach allen dessen genauesten Eigenschaften [...] vorgestellt. Frankfurt a. M. 1679. [Franz Caspar von Schmid]: Mundus christiano bavaro politicus. Bd. IV: Der Gesandte [1711], Ms. Bayerische Staatsbibliothek Cod.Germ. 3009, 4006 a-c. Für den Hinweis auf diesen Traktat danke ich Herrn Professor Ferdinand Kramer. Für das 18. Jahrhundert sind v. a. die Publikationen Johann Jakob Mosers und seines Sohnes Friedrich Carl von Moser zu nennen, z. B. J. J. Moser: Beyträge zu dem neuesten Europäischen Gesandtschaffis-Recht. Frankfurt a. M. 1781. F. C. Moser: Kleine Schriften, zur Erläuterung des Staats- und Völker-Rechts, wie auch des Hof- und Canzley-Ceremoniels. 12 Bde. Frankfurt a. M. 1751-67. Von den staatswissenschaftlichen Abhandlungen des späten 18. Jahrhunderts sei genannt: Jacob von Bielefeld: Institutions politiques. 2 Bde. Den Haag 1760.

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Auf den ersten Blick erweckt die Traktatliteratur vom 15. bis zum 18. Jahrhundert den Eindruck einer beträchtlichen Kontinuität. Wie in anderen Genres politischer Theorie hatten sich formale und sprachliche Traditionen herausgebildet, die den Autoren einen bestimmten Rahmen vorgaben, in dem die Tätigkeit eines Gesandten behandelt werden konnte. Diese Kontinuität wird vor allem deutlich im Tugendkatalog des .idealen Gesandten', der das Zentrum eines jeden Traktats bildete.18 Doch vollzogen sich unterhalb der sprachlichen und formalen Kontinuitätsebene Veränderungen in der ,Orthodoxie' diplomatischen Verhaltens, indem die sprachlichen Traditionen in unterschiedlicher Weise in die Argumentation eingebaut und mit verschiedenen Inhalten gefüllt wurden. Veränderungen in der Theorie der Diplomatie weisen sowohl auf Entwicklungen der diplomatischen Praxis als auch auf den Wandel normativer Konzepte hin. Anhand der Konzepte von Aufrichtigkeit, Unaufrichtigkeit und Geheimnis lässt sich die sprachliche Kontinuität und ihr Wandel im Spannungsfeld von diplomatischer Praxis und politischer Theorie veranschaulichen. Wie die politische Theorie allgemein standen auch die Theoretiker der Diplomatie vor der Herausforderung, die Verfahrensweisen und Practica ihrer Tätigkeit in eine Klugheitsund Verhaltenslehre einzubinden, die gleichzeitig eine Tugendlehre ethisch korrekter Lebensführung darstellte. Diese Tugend- und Klugheitslehre bildete ein Element der Kontinuität in der Theorie der Diplomatie und ihrer Sprache. Darüber hinaus beinhaltete die Problematik der (Un)Aufrichtigkeit in der Diplomatie eine weitere Dimension, indem die Theorie im Verlauf des 17. Jahrhunderts mit neuen Herausforderungen diplomatischer Praxis konfrontiert wurde, nämlich der Entstehung des europäischen Staatensystems und eines zunehmend professionellen corps diplomatique. Dieser Strukturwandel19 in den internationalen Beziehungen bedingte einen Wandel in der .Sprache' der Diplomatie.

Strukturwandel der Diplomatie im 16. und 17. Jahrhundert Bis zum späten 15. Jahrhundert blieb Diplomatie hauptsächlich auf ad-hoc Gesandtschaften beschränkt. Innerhalb der respublica christiana, deren Häupter Papst und Kaiser waren, wurden nuntii nur zu bestimmten Gelegenheiten - wie Bündnis- und Friedensschlüsse, Gratulationen oder Geschenkübergaben - ausgesandt und hielten sich nur kurz im Ausland auf.20 Ab der Mitte des 15. Jahr18

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Aus diesem Grund haben Diplomatiehistoriker die Traktatliteratur lange Zeit als moralische Kasuistik abgetan, die die Veränderungen der diplomatischen Praxis nicht aufiiehmen konnte. Jusserand: The School for Ambassadors, S. 463. Karl Schweizer: F r a n c i s de Callieres. Men of Letters and Diplomat. New York 1995, S. 90 und 102. Zu diesem Begriff vgl. Jens Siegelberg, Klaus Schlichte (Hg.): Strukturwandel internationaler Beziehungen. Zum Verhältnis von Staat und internationalem System seit dem Westfälischen Frieden. Wiesbaden 2000. Zum mittelalterlichen Gesandtschaftswesen vgl. Donald E. Queller: The Office of Ambassador in the Middle Ages. Princeton 1967. Dieter Berg u. a. (Hg.): Auswärtige Politik und internationale Beziehungen im Mittelalter (13. bis 16. Jahrhundert). Bochum 2002.

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hunderte traten, zunächst vor allem in Italien, ständige Gesandtschaften auf, die oft mehrere Jahre dauerten und eine mehr oder weniger kontinuierliche Vertretung ermöglichten.21 Um 1600 verwendete schon die Mehrheit der westeuropäischen Staaten Residierende' Gesandte für einige wichtige Auslandsposten.22 Mit der Verbreitung der ständigen Gesandtschaften stand der Diplomat vor neuen Herausforderungen in allen drei Hauptfunktionen der Diplomatie - Repräsentation, Verhandlung und Information. Vor allem die Informationstätigkeit kann als Motiv fur die Einrichtung ständiger Missionen angesehen werden, um die entstehenden Staaten mit einem kontinuierlichen Nachrichtenfluss zu versorgen.23 Parallel zu den ständigen Gesandtschaften expandierten im 16. und dann verstärkt im 17. Jahrhundert Informations- und Nachrichtennetzwerke in ganz Europa - nicht nur aufgrund verbesserter Post- und Kurierdienste, sondern auch angesichts einer wachsenden Anzahl von geheimen Agenten und Korrespondenten. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts wurde der internationale Austausch von Informationen durch Zeitungen und Gazetten auch nördlich der Alpen intensiviert.24 Mit der ansteigenden Menge von Informationen, die international transportiert werden musste, entwickelten sich Geheimhaltung und Geheimnisaufdeckung zu entscheidenden Faktoren internationaler Politik. Briefe, diplomatische Korrespondenz und Postrouten wurden zu ambivalenten Instrumenten des intensivierten Nachrichtenflusses, denn sie konnten dem .Geheimen' sowohl zuträglich als auch gefährlich sein.25 Nicht nur die fürstlichen Regierungen waren Auftraggeber und Rezipienten geheimer Informationen, sondern auch die im Ausland piazierten Gesandtschaften wurden in ihrem Auftrag zu Sammelpunkten und Koordinationszentren von Informationsnetzwerken.26 Durch geschickt piazierte Korrespondenten und Spione sowie durch Pensionen und Bestechungsgelder hatte der Gesandte geheime Informationsquellen zu erschließen, gleichzeitig musste er seine eigene Korrespondenz und seine Geheimnisse vor Entdeckung schützen, zum Beispiel durch Chiffrierung.27 In der Völkerrechtstheorie des 17. Jahr-

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Vgl. hieizu Garrett Mattingly: Renaissance Diplomacy. Boston 1955. Matthew Anderson: The rise of modern diplomacy, 1450-1919. London, New York 1993, S. 4Iff. Charles Carter: The Ambassadors of early modem Europe: patterns of diplomatic representation in the early seventeenth century. In: From the Renaissance to the Counterreformation. Essays in honour of Garrett Mattingly. Hg. von Charles Carter. London 1966, S. 269-295. Anderson: Rise of Modern Diplomacy, S. 6 und 42. Siehe hierzu Bely: Espions et Ambassadeurs, S. 235-61. Zum Kurier- und Postwesen vgl. John E. Allen: Post and Courier Service in the Diplomacy of Early Modern Europe. Den Haag 1972. Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2003. Einen Überblick zur Spionage gibt Bely: Espions et Ambassadeurs, S. 55-288. Eckhard Opitz: Diplomacy and secret communications in the seventeenth century. Some remarks on the methods of gaining news in the age of Absolutism. In: Clio goes Spying. Eight Essays on the History of Intelligence. Hg. von Bo Huldt, Wilhelm Agrell. Solna 1983, S. 64-84, S. 72. Vgl. Bullard: Secrecy, S. 82ff. Callidres: De la manidre de negocier. 1713, S. 206: „Comme le secret est l'äme de la negociation, on a invente Part d'ecrire avec des caracteres inconnus pour dirober la conoissance de ce qu'on icrit a ceux qui interceptent des lettres". Zu Beste-

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hunderte wurde der Schutz diplomatischer secreta als ein Grundsatz internationalen Rechts aufgestellt, der allerdings in der Praxis häufig missachtet wurde.28 Der Strukturwandel internationaler Beziehungen, der sich in den intensivierten Informations- und Nachrichtennetzwerken und vor allem in der Einrichtung ständiger Gesandtschaften zeigt, erhielt in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einen weiteren Schub. In den Jahrzehnten nach dem Westfälischen Frieden (1648) verbreiteten sich ständige Gesandtschaften so weit, dass sie um die Wende zum 18. Jahrhundert fast ganz Europa mit einem Netz kontinuierlicher diplomatischer Vertretungen überzogen. Frankreich zum Beispiel, das um 1600 nur eine Handvoll residierender Gesandter besaß, zählte 1685 bereits 20 ständige Gesandten, 1705 schon 32.29 Auch die deutschen Reichsfursten konnten nun ihr offiziell anerkanntes Ius legationis nutzen, um ständige diplomatische Beziehungen auch außerhalb des Reichs aufzubauen.30 Die Kontakte zwischen den Staaten Europas waren im späten 17. Jahrhundert so intensiv geworden, dass diese ein .System' bildeten, in dem jede Modifikation des politischen Gleichgewichts alle Akteure betraf. Noch mehr als bisher waren Regierungen auf einen kontinuierlichen Informationsfluss aus dem Ausland angewiesen. Sie mussten nun über die Situation und Interessen aller europäischer Staaten, ja sogar Russlands und des Ottomanischen Reichs, informiert sein. Die ständige Präsenz diplomatischer Vertreter an fast allen Höfen Europas demonstrierte die verdichtete Kommunikation innerhalb des Staatensystems.31 Mit der Verstetigung der internationalen Beziehungen nach dem Westfälischen Frieden war die Herausbildung staatlicher Bürokratien eng verknüpft. Ständige, europaweite Diplomatie bedurfte eines Apparates von professionellen Staatsdienern. Diplomatie wurde zu einem institutionalisierten und bürokratisierten Bereich der staatlichen Verwaltung. Daneben gab es eigene Abteilungen, die geheime Informationen verwalteten, ebenso wie Ziffernkanzleien und Cabinets noirs, um fremde diplomatische Korrespondenz abzufangen und zu entschlüsseln.32

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chungen, Pensionen und Geschenken vgl. auch Valentin Groebner: Invisible Gifts. Secrecy, Corruption and the Politics of Information at the Beginning of the 16th Century. In: Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne. Hg. von G. Engel u. a. Frankfurt a. M. 2002, S. 98-110. So konnten ζ Β. Gesandtschaftshäuser nicht durchsucht, Gesandtschaftspersonal nicht verhört, und Briefe nicht geöffnet werden. In der Praxis wurde aber diplomatische Korrespondenz häufig abgefangen und geöffnet. Zur den Immunitäten des Diplomaten im Völkerrecht existieren zwei Standardwerke: E. R. Adair: The exterritoriality of ambassadors in the sixteenth and seventeenth centuries. London 1929. Linda Frey, Marsha Frey: The history of diplomatic immunity. Columbus 1998. Vgl. Heinz Duchhardt: Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen, 1700-1785. Paderborn, München 1997, S. 21-23. Zum kaiserlichen Gesandtschaftswesen vgl. Klaus Müller: Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648-1740). Bonn 1976. Der diplomatische Dienst der Reichsstände im 17. Jahrhundert ist bisher noch unzureichend erforscht. So auch Duchhardt: Balance of Power, S. 24. Vgl. Duchhardt: Balance of Power, S. 38. Bely: Espions et Ambassadeurs, S. 87-95 und S. 140-42. Einen Überblick zur Kryptografie geben James Thompson, Saul Padener: Secret diplomacy. Espionage and Cryptography, 1500-1815. New York 2 1963 (1937).

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Auf der anderen Seite verlagerte sich die Entscheidungsfindung und Ausführung der Außenpolitik unter dem Fürsten in kleine Kabinette und spezialisierte Ministerien - nicht zuletzt deswegen, um die secreta der Außenpolitik vor Entdeckung zu schützen.33 Während so die Praktiken des .Geheimen' in der zentralen Verwaltung von Außenpolitik institutionalisiert und professionalisiert wurden, stiegen auch die Anforderungen an die Professionalität der Diplomaten.34 Der Strukturwandel in den intentionalen Beziehungen hatte folgende Auswirkungen auf die Tätigkeit des Gesandten: Erstens mussten Diplomaten eine größere Menge und Vielfalt an Informationen übermitteln, die von politischen und Hof-Nachrichten über militärische und wirtschaftliche Berichterstattung reichten.35 Gleichzeitig hatten sie Veränderungen in der Natur der Information selbst zu berücksichtigen: Ab dem späten 17. Jahrhundert vervielfachten sich Zeitungen, Gazetten und publizierte Memoiren, die aktuelle außenpolitische Informationen beinhalteten.36 Während Information so öffentlicher' wurde, erhielt die Notwendigkeit des Geheimhaltens eine neue Dringlichkeit. Zweitens musste der Diplomat, um Geheimnisse zu entdecken, in verstärktem Maße den Hof und die Hofgesellschaft frequentieren. Die Verstetigung der Gesandtschaften zwang ihn dazu, am Hofleben teilzunehmen, dort Netzwerke aufzubauen „und einen jeden nach seinem Ambt und Stande vergnügen", um an relevante Informationen zu gelangen.37 Zugleich verlangten sowohl die höfische Repräsentation als auch die Länge des Aufenthalts im Ausland eine größere Entourage, mehr Gesandtschaftspersonal und eine eigene Kanzlei.38 Die Gesandtschaft war dabei sowohl ein Zentrum als auch ein Zielpunkt von Spionage.39 Drittens bedeutete ständige Diplomatie im späten 17. Jahrhundert, dass mehrere Diplomaten nun längere Zeit zusammen an einem Hof residierten oder sich bei den häufig stattfindenden Kongressen und Friedensschlüssen sowie bei ständigen Versammlungen wie dem Reichstag aufhielten.40 Dem Verhalten der Diplomaten kam dabei eine noch größere Verantwortung zu, da ihre Handlungen 33

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Einen Überblick zu den enstehenden .Außenministerien' bietet Anderson: Rise of Modern Diplomacy, S. 73-80. Allerdings konnten die Diplomaten in der ,Geheimdiplomatie' auch übergangen werden, wie es ζ. B. unter Prinz Eugen oder Ludwig XV. geschah, vgl. Duchhardt: Balance of Power, S. 35f. Zu den Techniken der Informationsbeschaffiing vgl. Opitz: Diplomacy and secret communications. Hierzu allgemein: Behringer: Im Zeichen des Merkur. Siehe auch Harm Klueting: Die Lehre von der Macht der Staaten. Das außenpolitische Machtproblem in der .politischen Wissenschaft' und in der praktischen Politik im 18. Jahrhundert. Berlin 1986. Carl Melchior Grottnitz von Grodnow: Teutsch gekleideter Regiments-Rath. Stettin 1647, S. 370. So brachten diplomatische Traktate ab 1600 immer ausführlichere Abschnitte über das Gesandtschaftsgefolge. Daneben erschienen eigenständige Abhandlungen, wie ζ. B. Jean Menudier: Le Modele du Parfait Secretaire [...] avec un recueil d'instructions necessaires pour les Gentilshommes a la suite d'un Ambassadeur [...]. Jena 1690. Carl Friedrich Moser: L'Ambassadrice et ses droits. Berlin 1754. Callieres: De la maniere de negocier. 1713, S. 180.

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einen symbolischen Wert besaßen: ihr Zusammenkommen, ihr Verhalten untereinander ebenso wie ihr Auseinandergehen gaben Aufschluss über den Stand der Beziehungen und die Rangverhältnisse zwischen ihren Fürsten.41 Indem die Gemeinschaft der Diplomaten (corps diplomatique) die Verbindungen der societe des princes repräsentierte, wurde sie zu einem Grundstein des Staatensystems und bildete eine eigene, kosmopolitische Gesellschaft im Ausland. Dadurch ergaben sich auch Veränderungen im Verhalten der Diplomaten zueinander, wie zum Beispiel der Ausprägung einer corps-Mentalität.42 Um diese Veränderungen der diplomatischen Praxis zu reflektieren, stand den Autoren eine .Sprache der Diplomatie' zur Verfügung, in der Aufrichtigkeit und Geheimnis bestimmte Begriffs- und Bedeutungsebenen besaßen.

Die Problematik der Aufrichtigkeit' in der diplomatischen Theorie In der diplomatischen Theorie des 15. bis 18. Jahrhunderts bildete .Aufrichtigkeit' (sinceritas, sincerite) mit verwandten Termini ein Begriffsfeld, dessen Bedeutungsebenen .Wahrhaftigkeit' (Veritas, verite), .Ehrlichkeit' (honestas, sincerite) und .Redlichkeit' (probitas, probite, honnetete) umfassten. Gleichzeitig war Aufrichtigkeit auch konnotiert mit den Begriffen .Natürlichkeit' und .Einfachheit' (simplicitas, simplicite) sowie .Treuherzigkeit' (candor, candeur) und .Deutlichkeit' (perspicuitas, clarte). Schließlich wurde Aufrichtigkeit im Sinne von .Offenheit' (Veritas, franchise), .Öffentlichkeit' {publicum, publicite) und .Vertrauen' (fides, confiance, bonne foi) verwendet. Diese Begriffsgruppe um .Aufrichtigkeit' findet sich zum einen im Tugendkatalog des .idealen Gesandten', dessen Charaktereigenschaften seit dem ersten Traktat immer auch probitas, sinceritas und honestas beinhalteten. Sowohl um seiner moralischen Integrität als honnete homme als auch um seiner Reputation willen musste der Diplomat ehrlich, aufrichtig und tugendhaft sein.43 Zum anderen spielte Aufrichtigkeit eine Rolle in der von der Theorie vorgestellten Verhandlungskunst, in der sie in zweierlei Funktion auftrat: Einerseits wurde sie als Grundlage diplomatischer Verhandlung eingefordert, in der mit Hilfe von Ehr-

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Zur Kongressdiplomatie vgl. Heinz Duchhardt: Friedenskongresse im Zeitalter des Absolutismus - Gestaltung und Strukturen. In: Forschungen und Quellen zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Hg. von Konrad Repgen. München 1981, S. 226-39. Rudolf Reiser: Adliges Stadtleben im Barockzeitalter. Internationales Gesandtenleben auf dem Immerwährenden Reichstag zu Regensburg. München 1969. Zur ,societe des princes' vgl. Luden Bely: La societe des princes: XVIe - ΧνΠΙέ siecle. Paris 1999. Duchhardt: Balance of Power, S. 28. Rosier: Ambaxiator Brevilogus. 1436, S. 5. Diese Eigenschaften werden in allen Traktaten genannt, ζ. B. bei Hoevelen: Der Teutsche Gesandte. 1679, S. 45: „gottes-flirchtig, treue, verschwiegen, hochvernünfflig, vielerfahren, auffrichtig, redlich, ehrlich, standhaffi, ansehenlich, ernsthafft, gerecht, wahrhaffi, nachdenckend, sittsam, höfflich".

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lichkeit, Vertrauen und logischer Argumentation das gemeinsame Interesse der Parteien befördert werden sollte.44 Aufrichtigkeit war aus Sicht der Theoretiker ein konstituierendes Element der Vertrauens- und friedensschaffenden Funktion der Diplomatie. Im Idealtyp der ,offenen' Verhandlung wurde aufgrund gemeinsamer Interessen oder um höherer Ziele wie des Friedens willen auf Strategien wie Verbergen oder Verstellen verzichtet. Allerdings konnte die ,Kunst der Aufrichtigkeit' auch ein Bestandteil der Verhandlungsstrategie sein: Aufrichtigkeit wurde, als ein Mittel der Rhetorik, instrumentalisiert oder sogar vorgetäuscht, um die Verhandlungspartner zur Preisgabe ihrer Geheimnisse zu verleiten.45 Die Verhaltens- und Verhandlungskunst des .idealen Gesandten' war auch immer durch die entgegengesetzte Sphäre der Aufrichtigkeit gekennzeichnet den Bereich des .Geheimen'. Dieses Begriffsfeld gruppierte sich in der diplomatischen Theorie um die Termini secretum bzw. secret oder arcanum und occultum, die sowohl .Geheimnis' als auch .Geheimhaltung' und .Heimlichkeit' bedeuteten.46 Secretum bezeichnete in der diplomatischen Theorie erstens die Mysterien diplomatischen Verhandeins selbst. Diese waren neben den Herrschafts- und Entscheidungsträgern nur den diplomatischen Eliten bekannt und konstituierten somit das Metier des Diplomaten. Zweitens wird mit diesen Begriffen der geheime Inhalt von (politischen) Informationen angesprochen, die Diplomaten verhandelten, aufdeckten und verbargen.47 Drittens bezeichnete secretum die Handhabung von Geheimnissen - die Kunst und Praktiken des Verbergens wie auch des Enthüllens. Zu den Unterbegriffen des .Geheimen' zählten in der diplomatischen Theorie hierbei Herstellung' (simulatio, dissimulatiof8,

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Ζ. B. Johann Rudolph Sattler: Werbungsbüchlein, darinnen zu finden, ein underricht für den Redner, [...], und wasgestalten sich eines Fürsten, Herren [etc.] Legat, Bottschaft, oder Gesandter in Außrichtung seines Befelchs, verhalten, wie er werben, handien und reden soll. Basel 2 1633 (1611), S. 194f. Juan Antonio de Vera y Zuniga: Le parfait ambassadeur. Leiden 4 1709 (,E1 embaxador'. Sevilla 1620), S. 29: „un conciliateur des affaires des Princes, [...] non avec des ruses ou finesses de guerre, mais avec Γ eloquence et la force de l'esprit". [Anonym.]: Embajada espanola [1680]. Hg. von H. J. Chaytor. In: Royal Historical Society Camden Miscellany 14 (1926), S. 1-43, S. 33. Die Aufrichtigkeit als Strategie und Code war damit Teil der Rhetorik. Doch bedeutet dies das Ende der Aufrichtigkeit im eigentlichen Sinne, vgl. Kent Bach: Speech acts (1998). in: Routledge Encyclopedia of Philosophy. Hg. von Ε. Craig, http://www.rep.routledge.com/article/U043SECT3. [31.5.2005]. Zur Definition des ,Geheimen' vgl. Brigitta Nedelmann: Geheimhaltung, Verheimlichung, Geheimnis - einige soziologische Vorüberlegungen. In: Secrecy and Concealment. Studies in the History of Mediterranean and Near Eastern Religions. Hg. von Hans Kippenberg, Guy Stroumsa. Leiden u. a. 1995, S. 1-16. Lucien Bely: Espions et Ambassadeurs, S. 51, unterscheidet hierbei drei Arten der Information: »Information ordinaire' (zirkulierte Nachrichten),,information discrete' (in kleinen Kreisen zirkulierte Informationen) und .information secrete' (Geheimnisse, die durch Spionage aufgedeckt werden). Vgl. Robert Bireley: The Counter-Reformation Prince. Anti-Machiavellianism or Catholic Statecraft in Early Modem Europe. Chapel Hill, London 1990, S. 85f. Allgemein zum Begriff der Dissimulation: Perez Zagorin: Ways of Lying. Dissimulation, Persecution, and Conformity in Early Modern Europe. London 1990.

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.Verheimlichung' (dissimulation), ,Verschweigen' und ,Verschwiegenheit' (taciturnitas, silence, discretion). Weiterhin umfasste der Bereich des Geheimen ,Täuschung' und ,Vortäuschung' (simulation, tromperie, duperie, feinte), auch im Sinne von .Verkleidung' (deguisement), .Verbergen' (occulatio, deguisement) und .Verschlüsselung' (nota, chijfrage, codage), bis hin zu Formen der Unaufrichtigkeit wie .Lüge' (mendacium, mensonge) und .Betrug' (fraus, fourberie). Diese Begriffe beschreiben sowohl die Techniken der Geheimhaltung, wie zum Beispiel Verschlüsseln, Verbergen oder Verstellen, als auch die Praktiken der Geheimnisaufdeckung und Spionage. So verkleideten sich Agenten, Spione oder auch Diplomaten, um eine andere Identität vorzutäuschen oder verbargen ihren öffentlichen Charakter. Verstellung und Korruption waren Mittel der Unaufrichtigkeit, um die geheime Informationen aufdecken. Die Begriffe des .Geheimen' konnten sowohl negativ als auch neutral oder sogar positiv konnotiert verwendet werden: in zu großem Maße als Intrigen und tromperie gebraucht, bezeichneten sie Praktiken schlechter Diplomatie, die durch Zerstörung des Vertrauens und der Reputation die Basis der Verhandlung gefährdeten;49 dagegen wurden bestimmte Praktiken als grundsätzlich notwendig für Diplomatie beschrieben; schließlich konnte eine gewisse Geheimhaltung und Verschwiegenheit (discretion) als Tugend des Gesandten und als dem Vertrauen förderlich wahrgenommen werden.50 Beide Bereiche - Aufrichtigkeit und Geheimnis - wurden in der diplomatischen Theorie stets als notwendig für das Verhalten des Diplomaten erachtet. Der Ambasciatore sincere und der Ambasciatore segreto waren, wie in Carlo-Maria Carafas Traktat von 1692,5' zwei Seiten einer Medaille, die sich in der Diplomatie nicht gegenseitig ausschlossen. In den Traktaten wurden Aufrichtigkeit und Verheimlichung als zwei grundlegende Aspekte diplomatischen Verhaltens verstanden. Wenn Praktiken und Verhaltensweisen des .Geheimen' dabei, vor allem im 17. Jahrhundert, immer stärker dominierten, so standen beide Bereiche im unauflösbaren Bedingungsverhältnis einer Dichotomie. Grundsätzlich wurden alle Reflexionen über Diplomatie von der Problematik bestimmt, wie die Notwendigkeit von Geheimhaltung und Geheimnispraktiken mit moralisch korrektem Verhalten verbunden werden konnte. Andererseits stellte sich für die Diplomaten die Frage, wie die Notwendigkeit des .Geheimen' mit einer Atmosphäre des Vertrauens auf internationaler Ebene zusammengeführt werden konnte.

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Z . B . Jean Hotman de Villier: L'Ambassadeur. Paris 1603, S. 47. [Schmid]: Mundus christiano bavaro politicus, fol. lv. Wicquefort: L'Ambassadeur. 1680/81 (hier Ausg. 1730). Bd. 1, S. 63f. Vgl. auch Bullard: Secrecy, S. 81. Hoevelen: Der Teutsche Gesandte (1679), S. 108. James Howell: A Discourse on the precedency of kings [...] whereunto is also adjoynd A distinct Treatise of Ambassadors. London 1664, S. 196. Antoine de Pecquet: Discours sur Part de negocier. Paris 1737, S. 28 und 33. Carlos Maria Carafa: L'Ambasciatore politico-cristano. In: Carafa: Opere politiche-christinae. Mazzarino 21692 (1690), S. 41 und 45.

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138 Konzepte von Aufrichtigkeit, Geheimnis und Verstellung im 17. Jahrhundert

Die semantischen Bereiche um ,Geheimnis, Verstellung, Unaufrichtigkeit' und .Öffentlichkeit, Offenheit und Aufrichtigkeit' stellten Elemente der Kontinuität dar, in deren Rahmen Diplomatie seit dem Mittelalter theoretisiert und diskutiert wurde. Doch lassen sich innerhalb dieser Dichotomie Modifikationen in der Gewichtung der Bereiche ausmachen, die auf Veränderungen in der diplomatischen Praxis und den Normen der Diplomatie hinweisen. In der humanistisch-scholastischen Tradition des 15. und 16. Jahrhunderts hatte der Gesandte als Friedensbringer firmiert. Die etwa um die Wende zum 17. Jahrhundert einsetzende Auseinandersetzung mit Staatsräson, dem lipsianischen Neostoizismus und der Cortegiano-Literatur reflektierte eine stärkere Gewichtung des ,Geheimen', die schließlich zu einer Neudefinition des Verhältnisses von Geheimnis, Offenheit und Vertrauen an der Wende zum 18. Jahrhundert führte.

Der Gesandte als Friedensbotschafter

in der respublica Christiana

Im Rahmen der spätmittelalterlichen Herrschaftslehre hatten die ersten Traktate den ,idealen Gesandten' nach dem Vorbild des ,idealen Fürsten' konzipiert. Aufbauend auf dem antiken Erbe des römischen Rechts und der aristotelischen politischen Ethik waren theoretische Reflexionen über Diplomatie im 15. Jahrhundert von der spätscholastischen Methode und Kasuistik beeinflusst.52 Diplomatie wurde als Vertrauens- und harmoniestiftende Funktion dargestellt. Im 15. Jahrhundert als Friedensbote {pacis nuntius), Vermittler (conciliator) und als Abbild des messagiero celeste gezeichnet, verband der ideale Gesandte aristotelische Klugheit (prudentia) und christliche Tugenden (virtus).53 Mit dem Einfluss des Humanismus betonten Theoretiker stärker die rhetorischen Aspekte der Diplomatie und beschrieben den Gesandten als Orator, der in antiker Geschichte und klassischer Rhetorik bewandert war.54 Mittels Eloquenz und Rhetorik sollte der Gesandte seine Botschaft vorbringen, wobei diplomatische Rhetorik und Prudentia weiterhin der Förderung der respublica christiana dienten. Zwar gestanden einige Theoretiker dem Gesandten im Verlauf des 16. Jahrhundert die Notwendigkeit von Geheimhaltung, Spionage und simulatio

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Olivier Chaline: L'Ambassadeur selon les casuistes. In: L'invention de la diplomatie. Moyen Age - Temps Modernes. Hg. von Lucien Bely. Paris 1998, S. 59-70. Betty Behrens: Treatises on the Ambassador written in the fifteenth and early sixteenth centuries. In: English Historical Review 2 (1936), S. 616-627. Vgl. Daniel Menager: Diplomatie et Theologie ä la Renaissance. Paris 2001, S. 1-7. Ζ. B. Carolus Paschal: Legatus. Paris 2 1612 (Rouen 1598), S. 6. Fredericus de Marselaer: Equitis legatus. Antwerpen 2 1626 (Khpykeion, sive legationum insigne [...]. Antwerpen 1618), S.3.

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zu, doch wurde auf diese Mittel nicht näher eingegangen.55 Die Hauptaufgabe des Gesandten blieb, mit Hilfe von Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit am Erhalt der respublica Christiana und des Friedens mitzuwirken.

Ständige Gesandtschaften und Staatsräson - Diplomatie als , Kunst des Geheimen' Mit der Etablierung ständiger Gesandtschaften wandelte sich im späten 16. Jahrhundert das Porträt des Diplomaten. Der ,Bote des Friedens' wurde auch in der Theorie vermehrt mit dem Etikett des .ehrenhaften Spions' (espion honorable) bedacht,56 und die Diplomatie zusehends mit machiavellistischen Praktiken konnotiert: Der Diplomat wurde ein Instrument der Staatsräson, in deren Interesse er kontinuierlich spionieren, verheimlichen, vortäuschen, verstellen, ja sogar lügen und bestechen musste.57 Indem Geheimhaltung und Geheimnisaufdeckung sich zu festen Bestandteilen der diplomatischen Funktion entwickelten, nahmen sie auch in der diplomatischen Theorie einen größeren Stellenwert ein. Zwischen 1600 und 1680 beschrieben die Traktate immer ausführlicher die in der ständigen Diplomatie verwendeten Techniken des ,Geheimen'.58 Doch wie sollte das Ethos des ,idealen Diplomaten' mit den neuen diplomatischen Methoden und Verhaltensweisen in Einklang gebracht werden? Auf die Herausforderungen der ständigen Diplomatie und die Lehre der Staatsräson reagierten die Theoretiker nach der Jahrhundertwende in zweierlei Hinsicht: Erstens und erstmalig kritisierten sie das Idealbild ihrer Vorgänger als zu realitätsfem, um den Diplomaten in der neuen Praxis ständiger Diplomatie zu leiten. Der französische Theoretiker Jean Hotman urteilte 1603, dass der parfait ambassadeur nicht mehr der Realität diplomatischer Beziehungen entspräche.59 Ebenso stellte der hessische Rat Hermann Kirchner 1604 fest, dass „ex perfectis 55

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Rosier: Ambaxiator brevilogus. 1436, S. 14, spricht nur von den „arcana negotiae". Etienne Dolet nennt Spionage ein notwendiges Mittel, ohne nähere Angaben zu machen, vgl. Jesse Reeves, James Dunlap: Etienne Dolet on the Functions of the Ambassador, 1541. In: American Journal of International Law 27 (1933), S. 80-95, S. 86. Dieser Begriff kam im 16. Jahrhundert auf, vgl. Mattingly: Renaissance Diplomacy, S. 206. Mattingly verweist auf das Epigramm Henry Wottons von 1604 („Legatus est vir bonus peregre missus ad mentiendum Reipublicae causa"). Wicquefort nennt dagegen Philipp de Commynes als Erfinder des Begriffes: L'Ambassadeur et ses fonctions. 1680/81 (hier Ausg. 1730). Bd. 1, S. 6. De Vera: Le parfait ambassadeur. 1620 (hier Ausg. 1709), S. 193f. Christoval Benavente y Benavides: Advertencias para Reyes, Principes, y Embaxadores. Madrid 1643, S. 474f. Vgl. auch J. R. Woodhouse: Honourable Dissimulation: Some Italian Advice for the Renaissance Diplomat. In: Proceedings of the British Academy 1993. Oxford 1994, S. 25-50, S. 32. So finden sich eigene Kapitel über ,segretezza' (Gasparo Bragaccia, L'Ambasciatore, Padua 1626), ,De las inteligencias, i avisos' (Benavente: Advertencias. 1643) und den ,Ambasciadore segreto' (Carafa: L'Ambasciatore. 1692). Hotman: L'Ambassadeur. 1603, S. 12.

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legatus non potest haben". 60 Das Eingeständnis, dass internationale Politik durch potentia, ambitio und necessitas bestimmt wurde, führte zu einer realistischeren Sicht auf die Tätigkeit des ,idealen Gesandten'. 61 So stellte zum Beispiel der Italiener Gasparo Bragaccia fest, dass aufgrund der verschiedenen Interessen der Fürsten die „Aufrichtigkeit früherer Jahrhunderte" nicht mehr bewahrt werden könne.62 Dadurch wurde aber zweitens ein neuer Kompromiss zwischen .Geheimnis' und,Offenheit' notwendig. Vereinzelt schon im späten 16. Jahrhundert und dann verstärkt ab 1600 trat in der diplomatischen Theorie eine neue Argumentation auf, welche die diplomatische prudentia und die Sphäre des .Geheimen' mit der Diskussion um die ragion di stato verband, wie sie in der Nachfolge Machiavellis in der politischen Theorie diskutiert wurde 63 Die Begriffsgruppe des ,Geheimen' bildete nun einen zentralen Bestandteil der prudentia. Zwei Begriffe traten dabei heraus: Die segretezza oder Verschwiegenheit', die zum Beispiel Bragaccia in seinem L'Ambasciatore entwickelte,64 war in der diplomatischen Theorie durchaus positiv konnotiert: Geheimhaltung und Schweigen waren vertrauensschaffende Maßnahmen - sowohl zwischen dem Diplomaten und seinen Verhandlungspartnern, als auch zwischen dem Diplomaten und seinen Informationsquellen.65 Daneben gewann eine Form der Verheimlichung mehr Raum in der diplomatischen Theorie, die an Verstellung und Täuschung heranreichte: Der Begriff der dissimulatio erhielt nun einen zentralen Platz in der diplomatischen Theorie. Hier zeigte sich auch der Einfluss des Neostoizismus: In der Nachfolge von Lipsius unterteilte zum Beispiel der spanische Theoretiker Antonio de Vera dissimulatio in drei Arten, um ein bestimmtes Maß an Verstellung und Täuschung im Interesse des Staates zuzulassen.66 Dies entsprach auch der dissimulazione onesta, wie sie Accetto in der Rezeption von Tacitus entworfen hatte.67 Wie Antonio de Vera argumentierten die folgenden Theoretiker, dass der Gebrauch der prudentia politico als abgemilderte Form der machiavellistischen ragion di stato zugelassen sei. Selbst die Lüge konnte, im Interesse des Staates und der necessitas, als officiosum mendacium verwendet

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Kirchner: Legatus. 1604, S. 12. Ebenso De Vera: Le parfait Ambassadeur. 1620 (hier Ausg. 1709), S. 29. Dies auch bei Bazzoli: Ragion di Stato, S. 304. „Los intereses de los Principes son tan diversos, la malicia de los tiempos ä venido a tal estado, pervirtiendose la sinceridad de los primeros siglos, que si se ä de profesar la veridad, i tratarla en su pureza, el Principe que lo hiziere, i sus Ministros, serän reputados en la tierra por una deidad soberana". Benavente: Advertencias. 1643, S. 475f. Vgl. Frigo: Virtu politiche. S. 355ff. Bazzoli: Ragion di Stato, S. 303ff. Bragaccia: L'Ambasciatore. 1626, S. 169ff. Hoevelen: Der Teutsche Gesandte. 1679, S. 108. Grottnitz: Teutsch gekleideter RegimentsRath. 1647, S. 373. Vgl. auch Bazzoli: Ragion di Stato, S. 309. Vera: Le parfait ambassadeur. 1620 (hier Ausg. 1709), S. 202ff. Vgl. G. A. Davies: The influence of Justus Lipsius in Juan Antonio de Vera y Figueroa's ,Embaxador'. In: Bulletin of Hispanic Studies 42 (1965), S. 160-173. Torquato Accetto: Deila dissimulazione onesta. 1621. Hg. von Salvatore Nigro. Genua 1983. Vgl. hierzu auch Zagorin: Ways of Lying, S. 6.

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werden.68 Dadurch war es den Theoretikern möglich, ein realitätsnäheres Porträt des Diplomaten zu zeichnen, das die Praktiken des .Geheimen' im Interesse des Staates zuließ. Der Teutsche Gesandte von Conrad von Hoevelen (1679) schlug vor: „Fürnemlich sende man einen Schlauverschlagenen zum Gesandten, welcher nach Bedarffe entweder durch ränckische Fundgriffe, oder auß vieler Händel Erfahrung der Feinde listige Anschläge und deß Widersachers fürhabenden Betrug absehen und auch ablehnen kann".69 Der Begriff .ehrenwerter Spion' wurde nun in jedem diplomatischen Traktat verwendet, um den Zusammenhang zwischen Diplomatie und .Geheimen' zu bezeichnen. Doch gleichzeitig konnten die notwendigen Praktiken des .Geheimen' nur im Verborgenen angewendet werden, um die Reputation des Diplomaten nicht zu gefährden, die für die anderen Funktionen seiner Tätigkeit - Repräsentation und Verhandlung - notwendig waren. Ein Diplomat, der seine Glaubwürdigkeit verspielt hatte, konnte nicht in der feinen Kunst des Verhandeins reüssieren. Conrad von Hoevelen betonte, dass „die Stelle- und Verstelle-Kunst (simuliren und dissimuliren) wiewol nicht zur Boßheit, sondern nach Bedarffe, zur Noht" angewendet werden dürfe.70 Das Interesse des Staates verlangte so einen gefährlichen Balanceakt zwischen geheimen Praktiken und dem Anschein von Ehrbarkeit. Aus dem ständigen ,Residieren' bei Hofe zogen die Theoretiker die Konsequenz, dass der Gesandte ein Abbild des Hofmanns (cortegiano bzw. aulicus) sein müsse, der die Kunst der Verstellung beherrschte.71 Wie der Hofmann hatte der Diplomat seine Passionen ebenso wie seine Gedanken und Geheimnisse hinter einer Maske von Gleichmut und Höflichkeit zu verbergen.72 Allerdings diente die höfische Verhaltenskunst in der Diplomatie nicht nur der art de plaire und Gunstgewinnung, sondern sie musste auch instrumentalisiert werden, um sowohl geheime Informationen aufzudecken als auch die Geheimnisse seines eigenen Fürsten zu verbergen.73 Daneben war höfisches Verhalten - bei Castiglione im Begriff der sprezzatura - eine Kunst, natürliches Auftreten zu generieren, eine Gratwanderung zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit.74 Dieser Aspekt spielte auch in der diplomatischen Theorie des 17. Jahrhunderts eine besondere Rolle, indem Aufrichtigkeit und Offenheit in eine Verhaltenskunst eingebunden wur-

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Vera: Le parfait ambassadeur. 1620 (hier Ausg. 1709), S. 254f. Bragaccia: L'Ambasciatore. 1626, S. 431. Hoevelen: Der Teutsche Gesandte. 1679, S.75. sie! Hoevelen: Der Teutsche Gesandte. 1679, S. 105. Zur Cortegiano-Literatur vgl. Emmanuel Buiy: Litterature et politesse. L'invention de l'honnete homme (1580-1750). Paris 1996. Rolf Reichhardt: Der Honnete Homme zwischen höfischer und bürgerlicher Gesellschaft. In: Archiv fur Kulturgeschichte 69 (1987), S. 341-370. Sydney Anglo: The Courtier's Art: Systematic Immorality in the Renaissance. Inaug. Lecture. University College of Swansea 1983. Ζ. Β. Wicquefort: L'Ambassadeur. 1680/81 (hier Ausg. 1730). Bd. 1, S. 5. Hoevelen: Der Teutsche Gesandte. 1679, S. 110. Die ,Kunst der Verstellung' wird auch in Traktaten des 18. Jahrhunderts betont, vgl. Callieres: De la maniere de negocier. 1713, S. 21 und 42. Ζ. B. Hoevelen: Der Teutsche Gesandte. 1679, S.76. Vgl. Anglo: Courtier's Art, S. 2.

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den, deren Ziel es war, den Anschein der Aufrichtigkeit und die Reputation des Diplomaten als honnete homme zu bewahren. So drohte, unter dem Einfluss von Staatsräson und Hofliteratur, der Anschein von Aufrichtigkeit wichtiger zu werden als die Aufrichtigkeit selbst. Der Vergleich des Diplomaten mit dem Schauspieler, wie ihn Wicquefort häufig gebrauchte, machte dies deutlich: Diplomatie war Theater und Kunst, diplomatisches Benehmen war .gekünstelt' ,75 Gleichwohl betonten sämtliche Traktatautoren, dass ,echte' Aufrichtigkeit weiterhin ein notwendiges Element diplomatischer Verhandlung bilden musste, da ohne einen bestimmten Grad an Vertrauen die Zusammenfuhrung der verschiedenen Interessen der Staaten nicht möglich war. Die .Sprache der Aufrichtigkeit' wurde in der diplomatischen Theorie weiterhin verwendet und setzte der Verstellung und Verheimlichung Grenzen. Nur aus der Notwendigkeit heraus, nicht als Regelfall, waren die Praktiken des .Geheimen' zu benutzen.76 Trotz der erheblich gestiegenen Bedeutung des .Geheimen' in der diplomatischen Theorie des 17. Jahrhunderts blieb so die Dichotomie zwischen Geheimnis und Aufrichtigkeit bestehen: „Diplomatie ist ebenso erfüllt von Geheimnis und Dunkelheit als von Glauben und Vertrauen".77 Der Wandel der diplomatischen .Sprache', der sich mit der Ausbreitung ständiger Gesandtschaften im 17. Jahrhundert ergab, erscheint gebündelt im Traktat L 'Ambassadeur et ses fonctions des gebürtigen Niederländers Abraham de Wicquefort (1680/81).78 Noch mehr als seine Vorgänger bemühte er sich um eine realitätsnahe Darstellung aktueller diplomatischer Praxis, die möglichst wenig von moralischer Kasuistik geprägt sein sollte. Diplomatische Prudentia gipfelte bei ihm in einer funktionalen Verhaltensweise, dessen Ziel es war, die Falschheit seiner Gegenspieler abzuwenden.79 Auch hier bildete Aufrichtigkeit jedoch weiterhin ein unabdingbares Element diplomatischen Verhaltens: zwar wurde sie nicht mehr aus einem moralischen Anspruch heraus postuliert, doch hielt Wicquefort an der Verbindung von Aufrichtigkeit, Vertrauen und erfolgreicher Verhandlung fest.80 Vor allem aber erteilte Wicquefort dem Versuch seiner Vorgänger, die Dichotomie zwischen Geheimnis und Aufrichtigkeit mit

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Wicquefort: L'Ambassadeur. 1680/81 (Ausg. 1730). Bd. 1. S. 5 und Bd. 2, S. 3. Den .Schauspieler' verwenden u. a. auch Jean Hotman: Ambassadeur. 1603, S. 61. Vera: Le parfait ambassadeur. 1620 (Ausg. 1709), S. 276. Callieres: De la maniere de negocier. 1713, S. 23. Vera: Le parfait ambassadeur. 1620 (hier Ausg. 1709), S. 59. Grottnitz: Teutsch gekleideter Regiments-Rath. 1647, S. 373. Hoevelen: Der Teutsche Gesandte. 1679, S. 106. Wicquefort: L'Ambassadeur. 1680/81 (hier Ausg. 1730). Bd. 2, S. 7. "[Diplomacy] is full of secrecie and darkness, as it is of faith and trust". Howell: A Discourse. 1664, S. 196. Als Entwurf für diesen Traktat sind die 1676 publizierten .Memoires touchant les ambassadeurs et les ministres publics' anzusehen. Wicqueforts Traktat wurde vielfach nachgedruckt und auch übersetzt, ζ. B.: L'Ambassadeur, oder Staats-Bothschaffter [...] übersetzet von Johann Leonhardt Sautern [...]. Frankfurt a. M. 1682. Bazzoli: Ragion di Stato, S. 303f. Η. M. Keens-Soper: Wicquefort. In: Diplomatie Theory from Machiavelli to Kissinger. Hg. von G. Berridge u. a., S. 88-105, S. 92. Wicquefort: L'Ambassadeur. 1680/81 (hier Ausg. 1730). Bd. 2, S. 7f.

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Hilfe von Konzepten der politischen Theorie zu beschreiben, eine Absage.81 In seinen Augen stellte das sich seit dem Westfälischen Frieden von 1648 herausbildende Staatensystem neue Anforderungen an die Diplomatie, die nicht mehr mit den allgemeinen Kriterien der politischen Theorie beschrieben werden konnten.

Geheimnis und Confiance — Diplomatie als Profession im Staatensystem Um die Wende zum 18. Jahrhundert wird deutlich, wie sehr die Konzepte von Aufrichtigkeit und Verheimlichung mit der Entwicklung eines kollektiven diplomatischen Ethos verbunden sind, das von der Herausbildung des Staatensystems und der Diskussion um ein professionelles diplomatisches Corps bestimmt war. Die neuen Bedingungen von Außenpolitik im europäischen Staatensystem wurden nicht nur von der Gleichgewichtslehre und der ,Lehre von den Interessen der Staaten' erkundet,82 sondern veränderten auch den Diskurs über den ,idealen Gesandten'. Wicquefort, der als Resident und Agent mehrere Jahrzehnte im Dienst deutscher Fürsten in Frankreich und den Niederlanden tätig gewesen war,83 sah den Idealentwurf des Gesandten nicht mehr als ausreichend an, um die neuen Herausforderungen der ständigen, europaweiten Diplomatie aufzunehmen: „Die Idee des perfekten Gesandten liefert uns nur Gemeinplätze und Platitüden. Anstatt den vollendeten Diplomaten auszubilden, konzentrieren [die Autoren] sich auf Qualitäten, die ihm nicht eigen oder spezifisch sind, sondern ohne die man weder ein guter Bürger noch ein honnete homme sein kann".84 Wicquefort forderte dagegen, über das Ideal des höfischen aulicus hinauszugehen und Diplomatie als eigene und gesonderte Profession darzustellen. Für die Dichotomie von Aufrichtigkeit und Geheimnis bedeutete dies zum einen, dass die Praktiken des .Geheimen', bis hin zur Spionage, noch umfangreicher beschrieben und endgültig als feste Bestandteile der diplomatischen Funktion anerkannt wurden.85 In der Nachfolge Wicqueforts bezeichnete der 8

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Ibid. Bd. 1, S. lf. Vgl. hierzu Klueting: Die Lehre von der Macht der Staaten. Heinz Duchhardt: Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, Europäisches Konzert. Friedenskongresse und Friedensschlüsse vom Zeitalter Ludwigs XIV. bis zum Wiener Kongress. Darmstadt 1976. Zur Biographie Wicqueforts vgl. den Überblick bei Keens-Soper: Wicquefort. „L'idee d'un parfait ambassadeur ne nous donnent que des lieux communs (locos communes); de sorte qu'au lieu de former un Ministre accomply, ils s'estendent sur des qualites, qui ne luy sont pas propres ny particulieres, mais sans lesquelles on nescauroit estre ny bon citoyen ny honneste homme ". Wicquefort: L'Ambassadeur. 1680/81 (hier Ausg. 1730). Bd. 1, S. 2. Ähnliche Kritik findet sich schon bei: Howell: A Discourse. 1664, Vorwort fol. 4. So wurden auch die Kapitel über Spionage und Chiflrierung ausfuhrlicher, ζ. B. im Traktat von Louis Rousseau de Chamoy: L'idee du parfait ambassadeur [...]. 1697. Hg. von Louis Delavaud, Paris 1912, S. 33fF. Oder auch bei Callieres: De la maniere de necogier. 1713, S. 206ff.

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Franzose Francois de Callieres die Funktion des Diplomaten als „die Angelegenheiten seines Fürsten zu verhandeln und die der anderen zu entdecken."86 Zum anderen entwickelten die Theoretiker des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts das höfische Verhalten des Diplomaten weiter. Politesse, art de plaire und die aristokratischen Umgangsformen nach französischem Vorbild wurden in ihren Traktaten mit professionellen Charakteristiken verbunden - wie spezifischer Ausbildung, Fachkenntnissen, Karrieredenken und kollektiv-professioneller Identität.87 Zwar stimmten die Autoren mit ihren Vorgängern überein, dass die Kunst der Verstellung und des Schauspielens bei Hofe weiterhin notwendig blieb. Doch wurde der Konflikt zwischen höfischem Benehmen und Vertrauen zunehmend durch die Betonung der politesse überlagert. In dieser Beziehung nahm das Begriffsfeld der Offenheit und Aufrichtigkeit eine neue Rolle ein, die mit der Konzeption des Staatensystems und des diplomatischen corps zusammenhing. Mit der Ausweitung ständiger Gesandtschaften an allen europäischen Höfen bildete die Gemeinschaft der Diplomaten eine eigene, kosmopolitische societe im Ausland. Dem corps diplomatique war mit den diplomatischen Verfahrensweisen, der französischen Sprache und den aristokratisch-höfischen Verhaltensweisen eine eigene .Sprache' eigen, ebenso wie es in der Aufrechterhaltung seiner völkerrechtlichen Immunitäten und in der Entdeckung geheimer Informationen ein gemeinsames Interesse besaß.88 Für den Diplomaten bedeutete dies nach Meinung der Theoretiker, dass er zwar weiter zum Gehorsam gegenüber seinem Fürsten verpflichtet war und, in der Verfolgung seiner Interessen und der Behandlung des .Geheimen', ein Diener der Staatsräson blieb. Doch betonten die Autoren seit Wicquefort, dass die Arbeit des Diplomaten nicht nur für den bilateralen Verkehr zwischen einzelnen Staaten notwendig sei, sondern das Fundament des gesamten Systems bilde. Die wachsenden Interdependenz der Staaten und die Balance des Systems erforderten es, diplomatische Kommunikation um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Aus diesem Grund argumentierten Theoretiker, dass Gesandte auch dem größeren Ganzen - dem Staatensystem und dem corps diplomatique - verpflichtet seien. In ihren Augen verlangte die neue Epoche der

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Callieres: De la maniere de necogier. 1713, S. 85. So schon Wicquefort: L'Ambassadeur. 1680/81 (hier Ausg. 1730), Bd. 2, S. 9. Zu den Forderungen nach einer diplomatischen Profession vgl. Chamoy: L'idee du parfait ambassadeur. 1697, S. 17 und 21. Callieres: De la maniere de negocier. 1713, S. 3 und 48. Francquesnay: Minisire public. 1731, S. 10 und 83. Pecquet: Discours sur l'art de negocier. 1737, S.v.xxii und S. 140. Die Herausbildung einer gemeinsamen, europäischen .Sprache' als Summe diplomatischer Verhaltens- und Verfahrensweisen betont auch Lucien Bely: Espions et ambassadeurs, S. 620f., 743, 748. Pecquet beschreibt das diplomatische corps folgendermaßen: „Le coips des ministres etrangeres dans uns pais, forme une espece de societe independante dont les membres vivent entre eux proportionnement pour l'intimite ä la maniere dont leurs souverains sont ensemble; mais toujours avec politesse et honnetete, meme quand les maitr« sont en guerre [...], ils ont cependant un objet commun qui consiste ä connaitre le pais, ou ils sont." (Pecquet: Discours sur l'art de negocier. 1737, S. 134).

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Diplomatie, die um die Mitte des 17. Jahrhunderts angebrochen war,89 einen Balanceakt zwischen den Interessen der Staaten und der Kooperation der Diplomaten untereinander. In diesem Zusammenhang nahm der Begriff der confiance in der diplomatischen Theorie um 1700 eine außerordentliche Stellung ein und wurde zum Oberbegriff der Wortgruppe um Offenheit und Aufrichtigkeit.90 Neben der traditionellen Verwendung, die das grundsätzlich vertrauensvolle Verhältnis zwischen Diplomat und Gastland beschrieb, wurde der Begriff nun jedoch auch für die Beziehungen der Gesandten untereinander angewendet. Die Theoretiker argumentierten, dass die Pflege der confiance zwischen Diplomaten auch im Interesse der Staatsräson lag, die auf die Aufrechterhaltung diplomatischer Kommunikation und das Gleichgewicht des Systems angewiesen war. Zum einen beinhaltete confiance dabei einen bestimmten Grad an Offenheit zwischen Diplomaten verschiedener Staaten. Innerhalb des diplomatischen Corps sollte die Kunst des Geheimen anderen Regeln unterworfen sein. Dies bedeutete eine ständige, höfliche Kommunikation und den Austausch von Informationen, sofern es nicht die Staatsinteressen verletzte oder zwischen Gesandte verfeindeter Mächte geschah: „Alle Diplomaten, die sich an einem Hof aufhalten, etablieren untereinander eine Gesellschaft, dessen vorrangiges Ziel der gegenseitige Austausch von Neuigkeiten ist".91 Selbst in letzterem Fall sollten die Diplomaten auf jeden Fall die Formen diplomatischer Höflichkeit aufrechterhalten und sich privat oder heimlich treffen, wie es der Mundus christiano bavaro politicus empfahl.92 Daneben beinhaltete confiance auch die Sphäre des .Geheimen' im Sinne von Diskretion und segretezza. Während innerhalb des corps grösstmögliche Offenheit herrschen sollte, waren die arcana internationaler Politik vor der europäischen Öffentlichkeit geheim zu halten.93 Diplomatische Verhandlung wurde von den Theoretikern weiterhin als Bereich des .Geheimen' konzipiert, der in den Händen einer zunehmend professionellen Elite liegen sollte, die das allgemeine Interesse wahren würde. 89

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Callieres: De la maniere de negocier. 1713, S. 12f. Vgl. auch Mably: Des principes des negociations, S. 14. Chamoy: L'idee du parfait ambassadeur. 1697, S. 23 und 33f. Callieres: De la maniere de negocier. 1713, S. 46 und 176. Francquesnay: Ministre public.1731, S. 9, 113, 136, 225-27 und 241. Pecquet: Discours sur l'art de negocier. 1737, S. 7, 15, 33, 81, 85, 136, 155. Der Begriff übernimmt dabei teilweise die Funktion der älteren Begriffe bonum publicum und bonne intelligence. Damit spielt der Vertrauensbegriff in der diplomatischen Sprache' eine andere Rolle als in den von Ute Frevert beschriebenen Bereichen, vgl. Ute Frevert (Hg.): Vertrauen. Historische Annäherungen. Göttingen 2003, S. 24. Jacob von Bielefeld: Institutions politiques. 1760. Bd. 2, S. 225. Ebenso: Chamoy: L'idee du parfait ambassadeur. 1697, S. 33f. Callieres: De la maniere de negocier. 1713, S. 93. Francquesnay: Ministre public. 1731, S. 206f. [Franz Caspar von Schmid]: Mundus christiano bavaro politicus. Bd. 4: Der Gesandte. [1711], fol. 22lv. Ζ. B. Pecquet: Discours sur l'art de negocier. 1737, S. 33. Doch waren Extreme in jeder Hinsicht zu vermeiden: zu viel Vertrauen konnte sich ein Diplomat niemandem gegenüber leisten - Vertrauen und Misstrauen mussten sich die Waage halten. Vgl. ζ. B. Pecquet: Discours sur l'art de negocier. 1737, S. 80. Francquesnay: Ministre public. 1731, S. 226.

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Schließlich erfuhren im Rahmen der confiance auch die Begriffe der Aufrichtigkeit und Redlichkeit (probite, sincerite) eine stärkere Aufmerksamkeit in der diplomatischen Theorie. Jean de Francquesnay fasste zusammen, dass seit der Herausbildung des Staatensystems im späten 17. Jahrhundert „die Rechtschaffenheit [probite] höchst notwendig für die Diplomaten sei, nicht nur für die Sicherheit ihrer Reputation, sondern auch für die Interessen ihrer Herren".94 Der französische Theoretiker Antoine Pecquet wiederholte in seinem 1737 verfassten Traktat über die art de negocier: „Der Erfolg des Diplomaten hängt vollkommen vom Vertrauen ab, das er einflößt; es ist für ihn unabdingbar, Gefühle der Arglosigkeit, Wahrhaftigkeit und der Redlichkeit zu besitzen".95 Die verstärkte Betonung von Vertrauen, Offenheit und Aufrichtigkeit allgemein und im besonderen im Rahmen des diplomatischen corps war eine Reaktion auf die gestiegene Bedeutung des .Geheimen' in der Diplomatie des 17. Jahrhunderts. Gleichzeitig wurde sie von den Theoretikern dadurch begründet, dass Diplomatie einen zivilisierenden Einfluss auf die internationalen Beziehungen ausüben könne. Die Zusammenarbeit der Diplomaten im Bereich der Information und des Geheimen sollte dazu beitragen, die Harmonie und Balance des Staatensystems und der societe internationale aufrechtzuerhalten. Nicht mehr der christlich-moralische Anspruch, sondern das Konzept der confiance kontrollierte die .unaufrichtigen' Praktiken der Staatsräson - im Interesse der Staaten selbst.96

Ausblick Traktate über den idealen Gesandten hatten zum Ziel, die Entwicklungen diplomatischer Praxis in einer Theorie einzufangen, die sowohl die Tugenden des Diplomaten als auch die Grundregeln einer Verhaltens- und Verhandlungskunst festlegte. Dabei ergab sich aus der höheren Gewichtung des .Geheimen' in der konkreten Tätigkeit der Gesandten ein Konflikt in der Theorie der Diplomatie: Wie konnte die Kunst und die Praktiken der Diplomatie mit einer ethisch kor94

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„On peut donce conclure de ce qui vient d'etre dit, que la probite est souverainement necessaire aux Ministres publics, non-seulement pour la sürete de leur reputation, mais encore pour les interets de leurs Maitres". Francquesnay: Ministre public. 1731, S. 227. „Le succes du Negociateur dependant absolument de la confiance qu'il inspire, il lui est indispensable d'avoir des sentimens de candeur, de verite et de probite". Pecquet: Discours sur l'art de negocier. 1737, S. 7. Ζ. B. Francquesnay: Ministre public. 1731, S. 226. Lescalopier de Nourar: Le Ministere du Negociateur. Amsterdam 1763, S. 71 f. In der jüngeren Verhandlungstheorie wird häufig Callieres als erster Theoretiker des .civilizing influence' der Diplomatie beschrieben. Vgl. Alain Lempereur: Aux Sources des Theories de la Negociation: L'Oeuvre fondatrice de F r a n c i s de Callieres. In: Franfois de Callieres. De la maniere de negocier avec les souverains. Hg. von Id. Paris 2002, S. 7-50. Willem Mastenbroek: Negotiating as a civilizing process. 1997. http://www.hollandconsultinggroup.com/publications_negotiating.htm [31.5. 2005],

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rekten Tugendlehre verbunden werden, deren Kennzeichen Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Redlichkeit waren? Diplomatie war in erster Linie eine Kunst, bei der Eigenschaften und Verhaltensweisen situationsbedingt eingesetzt wurden, um die Interessen des eigenen Herrn zu fordern. Der häufig gebrauchte Vergleich des Diplomaten mit dem Schauspieler zeigt, dass sein Verhalten nie ,natürlich' im eigentlichen Sinne sein konnte, sondern dass er als Repräsentant eines Fürsten eine Rolle zu spielen hatte, in der alles Verhalten ,Kunst' war. Diplomatie, so wird aus der Theorie ersichtlich, war sowohl die simulierende und dissimulierende Kunst des Hofmanns, der seine wahren Gefühle und Gedanken hinter eine Maske verstecken musste, als auch die Kunst einer Rhetorik, die sich an der Beeinflussbarkeit ihrer Adressaten orientierte. Konsequenterweise konnten Aufrichtigkeit und Natürlichkeit nie die bestimmenden Elemente einer Diplomatie werden, deren Grundlage und Hauptgegenstand das Geheimnis war. Als Bereich der Politik waren Außenbeziehungen und Diplomatie arcana, die nur einem kleinen Kreis von Entscheidungsträgern bekannt sein durften. Die ,Kunst des Geheimen' musste die Basis diplomatischer Tätigkeit bilden. Gleichzeitig aber war für den Diplomaten die Aufrechterhaltung seiner Reputation und die Gewinnung von Vertrauen im Ausland in einem stärkeren Maß notwendig als für den Hofmann - sowohl für die würdige Repräsentation seines Fürsten und für eine erfolgreiche Verhandlungsfiihrung, als auch für das Entlocken geheimer Information. Im Zusammenhang mit den Begriffen reputatio und fides bzw. confiance wurde eine .Sprache der Aufrichtigkeit' ebenso wie die .Sprache der Verstellung' in der diplomatischen Theorie kontinuierlich verwendet. Das Anliegen der Traktatautoren an der Wende zum 18. Jahrhundert war es, ein Bild ihrer Tätigkeit zu präsentieren, das Diplomatie als professionelle Tätigkeit und als zivilisierendes und forderliches Mittel fur die internationale Gemeinschaft und den Frieden darstellte. Diplomatie wurde von ihnen als mäßigender Einfluss auf die divergierenden Interessen und die Konflikte der Staaten angesehen, indem sie eine grundlegende Vertrauensatmosphäre schuf. Dadurch, dass sie Elemente eines kollektiven diplomatischen Ethos und einer corpsMentalität vorzeichnete, sollte die Theorie das Denken ihrer Akteure - der europäischen Diplomaten - prägen und so die Praxis internationaler Beziehungen beeinflussen. Im professionellen Diskurs standen sich dabei die ,Kunst der Aufrichtigkeit' und die ,Kunst des Geheimen' nicht unvereinbar gegenüber, sondern bildeten eine Dichotomie, die Grenzen für das Ausmaß an Verstellung wie an Offenheit zog. Die verstärkte Orientierung an confiance und Aufrichtigkeit um die Jahrhundertwende war dabei eine Reaktion auf die Entwicklung der diplomatischen Praxis des 17. Jahrhunderts, in der das .Geheime' zu einem zentralen Aspekt geworden war. Indem .gelehrte Diplomaten' die Dichotomie zwischen Aufrichtigkeit und Geheimnis mit dem europäischen Staatensystem und der societe internationale verbanden, standen sie den Publizisten der Aufklärung durchaus nahe. Doch erreichte ihr positiver Entwurf jenseits der diplomatischen Sphäre keine Breitenwirkung. Von den Vertretern der Aufklärung wurde die ständige Diplomatie nicht als das geeignete Instrument zur Förderung der inter-

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nationalen Gemeinschaft und des Friedens gesehen, da sie es nicht vermochte, die ,bellizistische Disposition' der europäischen Staaten zu befrieden.97 Wenn man das ,bellizistische Zeitalter' betrachtet, in dem der Strukturwandel der Diplomatie und des Staatensystems sich vollzogen, erscheint die Diskrepanz zwischen praktischer Tätigkeit und Wirkung der Diplomatie auf der einen Seite und ihrem theoretischem Ideal auf der anderen Seite augenfällig. Wie ist in diesem Zusammenhang der Versuch der diplomatischen Theorie zu bewerten, Vertrauen und Geheimnis, Aufrichtigkeit und Verstellung, Staatsräson und Staatensystem zu vereinbaren? Die Verbindung von Aufrichtigkeit, Vertrauen und Geheimnis war die Weiterführung einer Problematik, die in der respublica christiana des späten Mittelalters ihren Anfang genommen hatte. Die Dichotomie zwischen Aufrichtigkeit und Geheimnis, zwischen ,Friedensbringer' und espion honorable konnte, trotz Veränderungen in der .Sprache der Diplomatie', nicht aufgelöst werden, da sie in den Funktionsbedingungen der Diplomatie verankert war. Durch die Auf- und Verdeckung von geheimen Informationen, durch Spionage und Intrigen im Interesse des Staates - später des Nationalstaates schürten Diplomaten Misstrauen zwischen Staaten und bereiteten sogar Kriege vor. Gleichzeitig blieben sie aber die wesentlichen Akteure der Friedensfindimg, indem sie den internationalen Kontakt aufrecht erhielten, Friedensverhandlungen führten und durch Höflichkeit und cor/w-Geist die bellizistische Disposition der Staaten abzugleichen suchten. So liegt die Rolle der Dichotomie von Aufrichtigkeit und Geheimnis in der diplomatischen Theorie an der Wende zum 18. Jahrhundert weniger darin, die Praxis der Diplomatie zu verbessern, als zur Herausbildung einer kollektiven diplomatischen Mentalität beizutragen, die das corps diplomatique noch bis weit über das Jahrhundert der Aufklärung' hinaus bestimmen sollte. Bis ins 20. Jahrhundert wurde Diplomatie als Kunst einer professionellen Elite verstanden, die von aristokratischen Verhaltensweisen und einer transnationalen Identität geprägt war. Ihre Aufgabe bestand sowohl darin, die ,Kunst des Geheimen' ebenso wie die ,Kunst der Aufrichtigkeit' situationsgemäss einzusetzen, gleichzeitig aber auch darin, durch .professionelle' und .höfliche' Umgangsweise eine vertrauensstiftende Basis für internationale Beziehungen zu schaffen. Im Begriff des .ehrenhaften Spions' blieb die Dichotomie zwischen Aufrichtigkeit und Geheimnis über das 17. Jahrhundert hinaus erhalten.

97

Zum Begriff der .bellizistischen Disposition' vgl. Johannes Burkhardt: Die Friedlosigkeit der frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas. In: Zeitschrift fur historische Forschung 24 (1997), S. 510-74.

Ursula

Kundert

Ironie der Aufrichtigkeit Disputation und Narration einer kommunikativen N o r m

D i e dialogische Erzählung Lust und Unlust des Ehelichen

Lebens

in Leipzig. S i e stellt eine Übersetzung v o n Les Agremens

et les chagrins

riage

erschien 1693 du ma-

von Jacques D u b o i s d e Chastenay dar, die ein Jahr z u v o r in Paris publi-

ziert worden waren und v i e l e A u f l a g e n erfuhren. 1 Sie wird hier exemplarisch herausgegriffen, w e i l sie nicht nur verschiedene Kulturbereiche, sondern auch verschiedene darstellerische Mittel verbindet, die für die Darstellung v o n A u f richtigkeit

in der Erzählliteratur d e s 17. Jahrhunderts relevant sind.

D i e N o r m der Aufrichtigkeit wird - w i e andere Verhaltensnormen auch erst in ihrem Bruch prägnant u n d damit attraktiv für die Thematisierung in Erzählungen und Romanen. 2 Aufrichtigkeit macht deshalb in der weltlichen Literatur weit über das 17. Jahrhundert hinaus vor allem in der Darstellungsform des Liebesverrats Karriere. 3 Verbunden sind Aufrichtigkeit und Liebesverrat ( b e z i e h u n g s w e i s e sein Gegenstück, die Treue) durch ein K o n z e p t v o n Liebe, das als Dienstverhältnis in einer v o n Gott geordneten Welt gefasst wird: A u f richtigkeit

sind Herrschende w i e Untergebene einander schuldig. 4 D i e konzep-

1

Dt. Zitate gemäß Jacques Dubois de Chastenay: Lust und Unlust Des Ehelichen Lebens, In einer galanten Nouvelle Denen jenigen, So den Ehestand lediger Weise fuhren, Zu weitern [sie] Nachsinnen ausgefertiget. Übs. von Immanuel Weber. Leipzig 1693. [VD17 3:600305Z, benutztes Exemplar: Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke: 4 an Np 15 992a R]. In Antiqua Gesetztes kennzeichne ich durch Kursivierung. Außer dieser gibt es eine weitere deutsche Übersetzung: Jacques Dubois de Chastenay: Philogamus und Antigamus. Oder Die Vergnügungen und Verdrießlichkeiten des Ehestandes / Aus dem Französischen ins Teutsche übersetzet von R. T. Cölln [Dresden] 1696. [VD17 23:241231]. - Frz. Zitate gemäß: Jacques Dubois de Chastenay: Les Agremens et Les Chagrins Du Manage. Dediee aux Dames. Augmentee D'une troisieme et quatrieme partie. Dediee aux Marys. Nouvelle Galante. Den Haag 1693. [Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg: A/300989:5], Mindestens in den Jahren 1692, 1693, 1695 und 1706 werden die ,Agremens' in Den Haag aufgelegt, 1694 erscheinen sie in Köln. Eine erweiterte Version erscheint 1693 und 1694 in Den Haag, ein Folgeband 1694.

2

Vgl. zur normenvermittelnden Wirkung von Konflikten: Ursula Kundert: Konfliktverläufe. Normen der Geschlechterbeziehungen in Texten des 17. Jahrhunderts. Berlin 2004. Die weite Beliebtheit des Themas zeigt Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. München u. Wien 1989 - erstaunlicherweise ohne auf das Thema der Aufrichtigkeit näher einzugehen. Die Hausväterliteratur formuliert dies für den Haushalt: „Nun diesen edlen und nützlichen Bau, den Gott der allerhöchste Künstler und Werckmeister selbst verfertiget hat, nemlich sein wolformirtes und nahrhafftiges [in der Beschaffung des Unterhalts behilfliches] Weib,

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Ursula Kundert

tuelle Nähe von Aufrichtigkeit und Treue wird in der deutschen Übersetzung von Les Agremens besonders deutlich: sincerite (8) und fidelite (10) werden beide mit „Ehrligkeit" (22 und 27) übersetzt. Auch wenn die Darstellung des Liebesverrats in der Erzählliteratur keine Besonderheit des 17. Jahrhunderts darstellt, so ist die Verschränkung von universitärer und anthropologischer Folie in der Konzeption und Darstellung von Aufrichtigkeit dafür charakteristisch. In der Dialektik von sogar mentalem TreueAnspruch 5 und Unmöglichkeit der Einsicht in den anderen formuliert sich ein Aufrichtigkeits- und Wahrhaftigkeitsanspruch an die Liebenden in weit gehend aus dem Mittelalter ererbten Formen der Textgestaltung und der sozialen Sinngebung von Liebesbeziehungen lange vor der Konzeption einer romantischen .echten' Liebe. Konzepte wie Treue und personale Herrschaft, Formen wie Disputation, Buße und Meditation konturieren und ermöglichen eine Darstellung von Aufrichtigkeit. Die Rahmenerzählung entwirft die folgende Situation: Antigamus hat erfahren, dass Philogamus heiraten möchte und eilt zu ihm, um ihm davon abzuraten (11). Nach einer ersten Diskussion greift der Abt Sophin ein und schlägt vor, diese Frage gründlich zu erwägen (33 f.). Die beiden wählen ihn „zum Richter ihres Streit-Handels" (34 f.). Auf der ersten Binnenebene stehen verschiedene Streitgespräche, welche die Figuren über verschiedene Aspekte der Ehe fuhren. Durchgängig ist die Auseinandersetzung Ehe versus Konkubinat zwischen Philogamus und Antigamus, die Diskussionen der anderen Figuren sind nur lokal eingefugt. Die Figuren verwenden als Argumente unter anderem Fallbeispiele, die hauptsächlich auf der zweiten Binnenebene angesiedelt sind. Aufrichtigkeit ist das wichtigste Thema der Erzählung. Die verschachtelte Erzählstruktur - das wird noch vorzufuhren sein - trägt erheblich dazu bei, dass Aufrichtigkeit nicht nur thematisiert wird, sondern dass die Lesenden in ihre Konstitution performativ miteinbezogen werden. Zur Darstellung von Aufrichtigkeit ist grundsätzlich zweierlei nötig: einerseits die Etablierung einer äußeren Wirklichkeit, die allgemeine Geltung beanspruchen kann (Außenperspektive), andererseits die Darstellung einer unver-

sol ein Christlich Ehemann mit aller Treu meinen [lieben]. Traun ein frommer, auffrichtiger, ehrlicher Hauswirth läst sich an seinem Hause vergnügen, ihm ist nirgends besser als bey seinem Bau und Wohnung, er nimmt einem andern nicht das Seine." Heermann, Johann: Nuptialia, Oder Hundert fünff und vierzig Christliche Treuungs Sermones. Nürnberg 1657, S. 84. „Vors dritte, soll sie die anweisen, die daheim in irem Hause arbeiten, was sie thun sollen: sie soll stets fleis anwenden, das sie die albem unverstendigen Megde unterrichte: Sie soll solche Dienstmagd mieten, die gegen ihren Herrn wol gesinnet sein: die da auffiichtig handeln: und die da die Hauszhaltung begehren zu vermehren und nicht in grundt zu verderben." Johann Sommer: Rathgeber zum Freyen. Magdeburg 1609, 12. Frage, 9. Anforderung für die Ehefrau. Luther legt in seinen Katechismuspredigten Wert darauf, dass das männlich konnotierte Du weder im Werk, noch mit dem Mund, Herzen oder auf andere Weise Ehebruch begehe, sondern aktiv verhindern solle, dass schlechte Beispiele andere demoralisieren. Martin Luther: Katechismuspredigten. 2. Predigtreihe. In: ders.: Werke. Bd. 30, 1. Weimar 1910, S. 37, Bl. 19b, 20-30.

Ironie der Aufrichtigkeit

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stellten Innensicht der Motivationen und Gedanken anderer Figuren (Innenperspektive), die mit der Wirklichkeit verglichen werden kann. Im Gegensatz zur Literatur, in der diese Perspektiven einfach gesetzt werden können, ist im wirklichen Leben die zweite Perspektive (ja vielleicht auch die erste) nicht gegeben, sondern muss aufgrund von Zeichen (re-)konstruiert werden. Das wird in Lust und Unlust simuliert, indem auf der ersten Binnenebene vorgeführt wird, wie die beiden Dialogpartner Philogamus und Antigamus von äußeren Anzeichen auf Motivationen und Gedanken ihrer Liebsten (mit den sprechenden Namen Fraudelise und Lesbie6) schließen.7

Eindeutige Aulrichtigkeitszeichen Am einfachsten ist das mit Zeichen, die nur eine Interpretation zulassen. Wenn das Barockzeitalter in der Verstellungskunst ein Faszinosum entdeckt, dann zugleich auch in denjenigen Äußerungen von Menschen, die nicht willensgesteuert scheinen und deshalb Verstellung ausschließen. Hierzu gehört das Erröten: Ab dem 16. Jahrhundert findet es sich in der weltlichen Erzählliteratur als Schamröte zuhauf und wird gerne als bescheidene Zustimmung im Allgemeinen und indirektes Liebesgeständnis im Besonderen eingesetzt.8 Es wird zum kommunikativen Zeichen gemacht, der Errötende schweigt aufrichtig beredt. Die äußerlichen körperlichen Signale scheinen bloß genaue Beobachtung zu fordern, im Übrigen sind es aber - modern gesprochen - indexikalische Zeichen, die ursächlich mit dem Gefühlszustand verbunden sind und deshalb keinen Interpretationsspielraum gewähren. Die wenigen Stellen in der mittelalterlichen Literatur, in denen jemand in einer Liebessituation errötet, fassen das Erröten als generelles Liebessymptom, jedoch eher in medizinischer als in kommunikativer Perspektive. Eine Ausnahme stellt eine Stelle im Eneasroman Heinrichs von Veldeke dar: Als Lavinia Eneas erblickt, wird sie so beschrieben: „si wart unmäzen heiz | unde dar nach schiere sal. | wände sie unsanfte qual, | si switzete unde bebete, | unsanfte sie lebete, | sie wart bleich unde röt." (267, 40-268, 5).9 Lavinia macht sich darüber in einem anschließenden Monolog Gedanken: „min müter is ein listich wfb | und weiz von solhen dingen vil. [...] swenne sö si mich gesiht, | son hilfet mich min 6

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Defrauder bedeutet .betrügen*. Mit Lesbie soll wohl nicht deren homoerotische Ausrichtung betont werden, sondern ganz allgemein ihr geringer moralischer Skrupel in Liebesdingen. Dass hier zwei männliche Figuren zwei weibliche zu interpretieren versuchen und daran scheitern, steht ganz in der Tradition des weiblichen Körpers als Rätsel für den Mann (vgl. Rüdiger Schnell: Sexualität und Emotionalität in der vormodernen Ehe. Köln u. Wien 2002, S. 475) und entspricht damit einem Darstellungsmuster, das fur die Lesenden bereits Erwartungen weckt, die sie dann auch zur Bildung von Vermutungen anwenden. Ζ. B. in Georg Wickram: Gabriotto und Reinhart. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2. Hg. von Hans-Gert Roloff. Berlin 1967 (Erstausgabe Strassburg 1551), S. 56-61. Ich zitiere nach der Ausgabe: Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Hg. von Ludwig Ettmüller u. Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986, S. 563: „Ihr wurde unerträglich heiß, und gleich

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Ursula

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lougen niht, | wan si kan ez wol ersehen. | ichn getar es aber niht gejehen." (270, 4—12)10 Braucht Lavinias Mutter besondere Kenntnisse (liste), um die Zeichen zu entschlüsseln, so erhalten die Zeichen in der frühneuzeitlichen Literatur Evidenzcharakter: Die Interpretation ist fur alle Figuren (und auch die Lesenden) so eindeutig, dass das erzählte sichtbare Phänomen (Außenperspektive) mit der erzählten gedanklichen Wirklichkeit (Innenperspektive) zusammenfallt. Die Erzählung Lust und Unlust scheut denn auch davor zurück, diese Interpretationsgleichung zu zerstören: Antigamus leitet nicht aus Lesbiens Erröten fälschlicherweise die Keuschheit ihrer Gedanken ab, sondern aus ihrem Bericht über ihr eigenes Erröten: „Das arme Kind klagte mir [Antigamus] ohnlängst, daß er [Philabel] sie in einem Tage über die zwantzig mal schamroth gemachet hätte" (25). Sein Interpretationsfehler (den er allerdings erst am Schluss des Dialogs bemerkt) bezieht sich demnach nicht auf ihr Erröten, sondern auf ihre Erzählung.

Zweideutig oder unaufrichtig? Entsprechend der Selbstverständlichkeit, mit der Gedanken aus dem Erröten erschlossen werden, wird diese Übereinstimmung von Außen- und Innenperspektive in den Texten des 17. Jahrhunderts weder als besonderes Verdienst gewertet noch mit Begriffen versehen, welche die Bedeutung .aufrichtig' enthielten. Aufrichtigkeit wird dann erst als Konzept greifbar, wenn Kollisionen entstehen: Kaum interessiert die Kollision zwischen Taten und Äußerungen, also zwei verschiedenen Außenperspektiven, mehr hingegen diejenige zwischen Taten oder Äußerungen und Gedanken, das heißt zwischen Außen- und Innenperspektive.11 Hier nun kommt der besondere Vorzug der literarischen Darstellung zum Tragen: Während im richtigen Leben die wahre Absicht stets verborgen bleibt, kann ein Text Tat und Motivation auf gleicher Verlässlichkeitsebene darstellen. Überhaupt kein Interesse weckt es allerdings wohl, wenn ein Fall von Unaufrichtigkeit mit zwei Behauptungen der Erzählinstanz gezeigt wird. Denn eine solche Situation hat keinerlei Ähnlichkeit mit den alltäglichen Interpretationsproblemen, sondern legt einfach definitorisch fest. Anderen dabei zuzuschauen, wie sie sich abmühen, aus ihren Mitmenschen schlau zu werden, scheint weit interessanter zu sein. Eine besonders bequeme

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danach (wurde sie) matt, weil sie sich sehr quälte. Sie schwitzte, zitterte, litt sehr, wurde blass und rot." Den Hinweis auf diese Passage bei Veldeke verdanke ich Joachim Hamm. „Meine Mutter ist eine kluge Frau und weiß viel von solchen Dingen. [...] Wenn sie mich erblickt, hilft mir mein Leugnen nicht; denn sie sieht es mir sicher an. Ich wage es aber auch nicht zu gestehen." Heinrich von Veldeke (1986), S. 567. Dass eine Übereinstimmung dieser beiden Perspektiven fiir die Liebe auch normativ gefordert ist, macht Philogamus gleich zu Anfang der Diskussion klar: „Wo nur die eusserlichen Sinnen und fleischlichen Begierden ihre Belustigung antreffen, ohne daß die Seele Antheil mit davon nehme, da seynd nur eitele debauchen" (27).

Ironie der Aufrichtigkeit

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Zuschauerposition bietet dabei die dramatische Ironie, gewährt sie dem Publikum doch einen privilegierten Einblick in die Absichten der Figuren, die den anderen Figuren verborgen bleiben. Dramatische Ironie wird im Gegensatz zur (verbalen) Ironie in den theoretischen Schriften des 17. Jahrhunderts nicht abgehandelt. Gemäß Manfred Pfister tritt dramatische Ironie „immer dann auf, wenn die sprachliche Äußerung oder das außersprachliche Verhalten einer Figur fur den Rezipienten aufgrund seiner überlegenen Informiertheit eine der Intention der Figur widersprechende Zusatzbedeutung erhält."12 Wenn eine Figur nicht isoliert, sondern - wie hier - in der Umgebung anderer Figuren betrachtet wird, ist es sinnvoll, den Begriff der dramatischen Ironie dadurch zu erweitern, dass nicht nur Zusatzbedeutungen, die der Absicht der Figur widersprechen, betrachtet werden, sondern auch solche, welche dadurch entstehen, dass die eigentliche Intention der Figur dem Publikum transparent gemacht wird, während die anderen Figuren nur die vorgegebene Intention wahrnehmen. Im ersten Fall besteht das Wissensgefalle zwischen Rezipierenden und sprechender Figur, im zweiten zwischen Rezipierenden und zuhörenden oder zuschauenden Figuren. In Christian Weises Drama Der keusche Joseph (169013) wird die zweite Variante der dramatischen Ironie dazu benutzt zu zeigen, dass es durchaus Divergenzen zwischen Äußerungen und Gedanken geben kann, die deswegen noch nicht als Unaufrichtigkeit gelten müssen, weil sie konventionell zur Liebessprache gehören.14 Joseph wird in trauter Zweisamkeit von der Frau seines Dienstherrn Potiphar bedrängt: Seres. Nun so rückt mir doch das Band zurechte. Joseph. Das ist ein Commando, welches mir von dem Herrn nicht befohlen ist. Seres. (Ad spectatores.) Einfaltiger Joseph, das ist ein Commando, welches dir von der Frauen befohlen wird. Nun was hilffis, auffrichtige Liebe muß mit einfaltigen Liebhabern Geduld tragen. (Gehet ab.) Joseph. Ach wohin ziehlet die vielfältige Versuchung, weßwegen nimmt sie alle Gelegenheit so in acht, daß sie mich anreitzen wil? (S. 50)

Die dramatische Ironie besteht hier darin, dass sowohl Seres als auch Joseph dem Publikum im Beiseite-Sprechen beziehungsweise im Monolog zu verstehen geben, dass sie gegenüber der anderen Figur nicht Klartext gesprochen haben.15 Der Vorwurf der Einfalt, der diejenigen trifft, die kein Verständnis fur das Spiel mit Zweideutigkeiten haben, trifft auf Joseph an dieser Stelle - wie die Rezipierenden im Gegensatz zu Seres leicht erkennen können - gerade nicht zu.

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Manfred Pfister: Das Drama. München 6 1988, S. 88. Christian Weise: Der keusche Joseph. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 8: Biblische Dramen 5. Hg. von John D. Lindberg. Berlin u. New York 1976, S. 1-253. Dies gilt insbesondere für das werbende Kompliment. Vgl. Ursula Kundert: Kompliment. In: Kundert (2004), S. 81-106. Josephs Verhalten wird dadurch dem Publikum zusätzlich als sokratische Ironie bewusst, die Quintilian wie folgt definiert: „deshalb hieß er [Sokrates] ,der Ironiker', weil er den Unwissenden spielte und Bewunderer anderer vermeintlich Weiser". Quintiiianus, Marcus Fabius: Ausbildung des Redners. Hg. und übs. von Helmut Rahn. 2. Teil. Darmstadt 1975, IX, 2,46, Übs. S. 289.

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Ursula Kundert

Trotz ihres Namens ist die dramatische Ironie nicht auf Dramen beschränkt; ja im Erzähltext ist sie sogar leichter zu bewerkstelligen, kann doch BeiseiteSprechen oder Monolog durch einen schlichten Bericht der Erzählinstanz ersetzt werden. Eine entscheidende Rolle kommt dann natürlich dem genauen Verlauf der Informationsvergabe aus den verschiedenen Perspektiven zu. Ein literarischer Fall von geradezu skandalöser Aufrichtigkeit bewegte das französische Lesepublikum von 1678 zu heftigen Debatten: Die Princesse de Cleves gesteht im gleichnamigen Roman von Madame de Lafayette16 ihrem Ehemann auf Knien und mit Tränen in den Augen, dass sie gute Gründe hat, sich vom Hof fernhalten zu wollen, obwohl sie sich bislang noch nichts vorzuwerfen hat, und bittet ihn, ihr beizustehen: Eh bien, Monsieur, lui repondit-elle en se jetant ä ses genoux, je vais vous faire un aveu que Ton n'a jamais fait ä son man; mais l'innocence de ma conduite et de mes intentions m'en donne la force. Π est vrai que j 'ai des raisons de mEloigner de la Cour et que je veux eviter les perils oü se trouvent quelquefois les personnes de mon äge. Je n'ai jamais donne nulle marque de faiblesse et je ne craindrais pas d'en laisser paraitre si vous me laissiez la liberte de me retirer de la Cour [...] Quelque dangereux que soit le parti que je prends, je le prends avec joie pour me conserver digne d'etre ä vous. Je vous demande mille pardons, si j'ai des sentiments qui vous deplaisent, du moins je ne vous deplairai jamais par mes actions. Songez que pour faire ce que je fais , il faut avoir plus d'amitiö et plus d'estime pour un mari que Ton a jamais eu; conduisez-moi, ayez pitie de moi, et aimez-moi encore, si vous pouvez. (166).

Das debattierende Lesepublikum erörterte, inwiefern eine solche ehrliche Auskunft wünschbar, ja überhaupt wahrscheinlich und glaubhaft sei. Die Zweifel an der richtigen Interpretation der aufrichtigen Worte der Princesse werden durch den Roman durchaus provoziert, denn sogar der Ehemann der Princesse, der sie weiterhin lieben wird, geht davon aus, dass sie mit einem solchen Verhalten Zweifel und Verdacht auf sich zieht (167). Indem der Roman eine Figur als aufrichtig definiert, deren Äußerungen im wirklichen Leben kaum Glauben fänden, verliert er selbst an Wahrscheinlichkeit. Die Wahrscheinlichkeitsüberlegungen in der avew-Debatte lassen sich dadurch erklären, dass die Szene auf ein Publikum traf, das durch den Streit der Anciens und Modernes gewohnt war, sich mit poetologischen Fragen auseinander zu setzen, insbesondere mit deijenigen nach dem zulässigen Grad an dichterischer Erfindung. Eine zweite Auseinandersetzung verbindet diese poetologische Dimension des intertextuellen Verweises auf den /Vi«ce.?,se-Roman mit dem Hauptthema von Lust und Unlust, der Ehe. Sie fand zeitgleich in Kreisen statt, deren Mitglieder als precieux und precieuses bezeichnet wurden und ein Freundschaftsideal für das Verhältnis zwischen Frauen und Männern hochhielten, in dem sincerite, eine ehrenhafte Aufrichtigkeit, einen der Zentralbegriffe darstellte.17 Die Tatsache, dass die Romanautorin als Preziöse galt, stellt die Szene auch in den

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Madame de Lafayette: La Princesse de Cleves. Hg. von Bernard Pingaud. Paris 2000. Renate Kroll: Femme poete. Madeleine de Scudery und die ,poesie precieuse'. Tübingen 1996, S. 48.

Ironie der Aufrichtigkeit

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Zusammenhang dieser Diskussion um traditionelle honnetete (Ehrenhaftigkeit) oder courtoisie (Höflichkeit) versus preziöse sincerite. In Mathilde d'Aguilar von 1667 widmet sich die vielleicht berühmteste Preziöse, Madeleine de Scudery, in Auseinandersetzung mit dem Werk Petrarcas ausführlich dem Problem der Aufrichtigkeit in Liebesdingen und ihrer poetischen Umsetzung: Sincerite fordert sie nicht nur für die ideale Liebesbeziehung, sondern bezeichnet damit auch eine Übereinstimmung von Gefühl und Aussage im poetischen Text, die es erlauben soll, dass zwischen Schreibenden und Lesenden eine reziproke Beziehung entsteht.18 Wenn Lust und Unlust die Geständnis-Szene der Princesse de Cleves zitiert, schafft sie gleichsam eine dramatische Ironie, welche für die eingeweihten Lesenden die Diskussionen um die Aufrichtigkeit auf der Figurenebene ins Poetologische wendet. Damit ist die Frage nach der Aufrichtigkeit und ,Dialogfahigkeit' des Textes selbst aufgeworfen. Die dramatische Ironie scheint ein Mittel darzustellen, diese, wenn nicht zu erfüllen, so doch wenigstens zu problematisieren, indem sie die Lesenden zu einem Wir-Gefühl einlädt. Die in ironische Strukturen eingebettete Auseinandersetzung zwischen Philogamus und Antigamus hilft, das Aufrichtigkeitsthema auf Figurenebene mit der poetologischen Frage der Aufrichtigkeit des Textes zu verknüpfen: Für die Figurenebene werden dem Lesepublikum zum Beispiel in Lust und Unlust vorab erhebliche Zweifel mitgegeben, dass die Figuren ihre Mit- und Gegenspieler richtig einschätzen, und diese Zweifel werden anschließend von der Erzählinstanz bestätigt. Dadurch entsteht eine leichte dramatische Ironie, die nicht auf zusätzlichem Wissen, sondern auf zusätzlichen Verdachtsmomenten gründet: Antigamus, der später die ausschließliche Liebe seiner Lesbie über alles loben wird (29), zeigt sich am Anfang sehr skeptisch, was die Möglichkeit betrifft, die wahren Absichten von Frauen zu erkennen. Zusammen mit der Vorrede, welche die Warnung vor der Undurchschaubarkeit der Frauen zum Hauptthema des ganzen Textes erklärt, versetzt Antigamus die Lesenden mit der folgenden Aussage in Zweifel: Wie kan man einer Frauen humeur erkennen, bevor man sie geheyrathet, und eine zeitlang mit ihr gelebet hat? Ey sie seynd unergründlich, voller List und Schalckheit, und haben offi die allerklügsten schändlich berücket. Ihre Reden und [ihr] Thun seynd anders, als ihr Hertz und Gedancken, sie können sich allemahl betrüglich verstellen, und wissen tausend Kunst-Stückchen, die armen Männer hinters Licht zu führen. (16 f.)

Diese Position wird durch den Schluss der Erzählung bestätigt werden. Philogamus hingegen vertritt mit der ehefreundlichen Position auch gleich die Überzeugung, dass es auch ehrliche Frauen gebe, und implizit, dass Mann sie erkennen könne: „Ja, ja meine liebste Fraudelise ist die Ehrligkeit [sincerite] und Tugend selbsten" (22). Den Philabel, obwohl „galant" (22), habe sie „durchaus nicht leiden können, weil er etwas zu freye Minen und zweydeutige Reden" ihr gegenüber zeigte (25). Die Antithese zwischen „sincerite" und „galant" führt nun die

18 Madeleine de Scudery: Mathilde d'Aguilar. Genf 1979 (Erstausgabe Paris 1667), v. a. S. 156-176 u. 287-311. Vgl. Kroll (1996), S. 290-294.

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Ursula Kundert

poetologische Dimension auch in die Figurenhandlung ein. Schlecht sind gemäß Philogamus - der dies nun aus der Interpretationsperspektive der Frauenfigur beschreibt - Liebesbezeugungen, die nicht eindeutig als solche erkennbar sind, das heißt nicht eindeutig auf die Motivationen des Liebhabers schließen lassen. Ex negativo ergibt sich aus diesem Kritikpunkt von Philogamus, dass die Liebe so zum Ausdruck gebracht werden muss, dass sie eindeutig interpretiert werden kann, also eine Verpflichtung zur Performanz der Aufrichtigkeit, welche gemäß Philogamus die Grundlage der Liebe darstellt: „der Grund rechtschaffener aestim ist Tugend und Ehrligkeit, wo diese bey einem FrauenZimmer nicht seynd, so kan man ohnmöglich eine rechte Liebe gegen sie gewinnen."(27) Die Tugend der Frau zeigt sich also in ihrer Durchschaubarkeit, in der Übereinstimmung ihrer Taten (Außenperspektive) und Gedanken (Innenperspektive) mit der Interpretation des Mannes. Das doppeldeutige „Ehrligkeit" vereint diese Anforderung mit der moralischen Wünschbarkeit, indem es sowohl .Aufrichtigkeit' als auch .Ehrenhaftigkeit' bedeutet. 19 Worte und Taten (Außenperspektive) sollen in einer Weise gestaltet werden, die gemäß den üblichen Interpretationsgleichungen auf eine damit übereinstimmende und moralisch vertretbare Motivation (Innenperspektive) schließen lassen. Dieser Zweideutigkeits-Vorwurf, den Fraudelise gegenüber ihrem Verehrer erhoben haben soll, trifft ins Zentrum der antihöfischen Kritik an galanten Umgangsformen. 20 Ungebrochen aufrichtig zu sein und - womöglich zum Nachteil der eigenen aufrichtigen Reputation - genau das zu sagen, was man denkt, entspricht nicht dem (adligen) Kommunikationsideal 21 und gehört deshalb zum Personal niedereren Standes der Komödie. In Lust und Unlust vergleicht denn auch die Financiere die aufrichtige Princesse de Cleves mit Molieres Agnes. 22 Diese Diskussion um die zulässige Unaufrichtigkeit beschränkt sich jedoch keineswegs auf Fürstenspiegel und Schriften der Hofkritik, die zweideutigen Reden werden vielmehr in jeder Schulrhetorik behandelt: Erasmus nennt sie als Mittel, Gelächter hervorzurufen, jemandem etwas vorzuwerfen oder etwas zu widerlegen, und nennt die gängige Definition der „Permutatio" oder „ironia" (118, 302), die nach Schoentjes 23 verbale Ironie genannt werden kann: „aliud dicimus quam sentimus" (118, 304).24 Scaliger behandelt unter dem Stichwort

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Jakob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 3, Sp. 69-71. Manfred Beetz: Frühmodeme Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990, S. 135. Giovanni della Casa rät, den andern weder im Äußeren noch in ihren Absichten noch in ihrer Vorstellung Verdruss zu bereiten. Giovanni della Casa u. Nathan Chytraeus: Galatevs. Das ist, Das Büchlein Von erbarn, höflichen vnd holdseligen Sitten. Übs. von Nathan Chytraeus. Frankfurt a. M. 1597, S. 119; vgl. Beetz (1990), S. 197. Das junge unschuldige Mädchen Agnes gesteht ihrem Erzieher Arnolphe, der sie heiraten möchte, dass sie einen anderen liebt. Moliere: L'Ecole des Femmes. Comedie. In: ders.: (Euvres completes. Bd. 1. Paris 1979, S. 408-472, hier 2. Akt, 5. Szene. Pierre Schoentjes: Poetique de l'ironie. Paris 2001. „Wir sagen etwas anderes, als wir fühlen." Erasmus von Rotterdam: Ecclesiastes sive de ratione concionandi. 3. u. 4. Buch. Hg. von Jacques Chomarat. Amsterdam u. a. 1994. Er folgt mit dieser Definition der Rhetorica ad Herertnium: „Permutatio est oratio aliud verbis

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ironia alle diejenigen Figuren, „quarum verbis sensus contrarius est" (3, 84).25 Von der Allegorie unterscheidet er sie dadurch, dass die zweite Bedeutung bei der Allegorie etwas Ähnliches sei, bei der Ironie hingegen genau das Gegenteil (3, 84). Scaliger macht deutlich, dass zur Entschlüsselung der Ironie entweder Vorwissen oder ein Wink, der einen auf die Bedeutung leite, nötig sei (3, 84). 26

Interpretationsanleitungen Dieser ,Wink' kann auf zwei verschiedenen Ebenen angesiedelt sein: Scaligers rhetorischer Definition der (verbalen) Ironie entspricht die Anwendung auf der Figurenebene: Eine Figur spricht ironisch zu einer anderen und gibt ihr einen Wink, welches die wahre Bedeutung ihrer Worte ist. Eine solche Ironie findet sich gegen Ende der Erzählung: Philogamus hatte bisher seine Verlobte Fraudelise und Antigamus seine Lebensgefährtin Lesbie als löbliches Beispiel den schlechten Frauen gegenübergestellt, und die beiden Männerfiguren hatten sich lediglich darum gestritten, welche von beiden vorzüglicher sei. Nun erfahren sie über Lesbiens Lakaien beziehungsweise durch einen abgefangenen Brief, dass sie beide belogen und hintergangen worden sind. Lesbie verkauft Antigamus' Ring und verschenkt sein Geld, Fraudelise bekennt im Brief einem anderen ihre treue Liebe. Philogamus reagiert auf die Enttarnung der Konkubine seines Freundes mit spöttischem Lob ihrer Qualitäten: Ist diß, sagte er, eure liebe Lesbie? Das arme Kind, das sich über den Verlust euers Rubins schier zu todte gehärmet? Ja, ja, dieser Zufall machte sie schwanen, daß ihr sie nicht mehr so beständig lieben würdet. Ach das arme Kind! Kein Trost, keine Rettung war zu finden, sie wolte, sie muste sterben, und da nichts anders. Dencket doch, wie sie so ohn-interessiert ist, wie ehrlich, wie treulich sie euch die zwey tausend Louisen auffhebet! Das ehrliche Mädgen, Sie [sie] ist gantz zu keiner andern Liebe zu bewegen, nachdem sie sich euch vollkommentlich aufgeopffert; Sie hasset alles andere Manns-Volck, ihr alleine ruhet in ihren Hertzen und Augen. An der kan man sehen, wie künstlich [= geschickt] ihr seyd, ein

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aliud sententia demonstrans". Theodor Nüßlein (Hg.): Rhetorica ad Herennium. Zürich 1994. 4,38, 46 f. „Die Vertauschung ist eine Ausdrucksweise, die etwas anderes mit Worten als dem Sinne nach aufzeigt." (S. 267). Sie unterteilt weiter in drei Unterarten, von denen diejenige, die sich des Gegensatzes bedient, in der frühen Neuzeit unter dem Stichwort ironia in Variationen übernommen wird. „Ea dividitur in tres partes: similitudinem, argumentum, contrarium. [...] Ex contrario ducitur sic, ut si quis hominem prodigum et luxuriosum inludens parcum et diligentem appellet." (4,38,46) / „Sie wird in drei Arten eingeteilt: den Vergleich, den geschichtlichen Vergleich, den Gegensatz. [...] Vom Gegensatz wird sie [ζ. B.] so hergeleitet, wenn man einen verschwenderischen und ausschweifenden Mann verspotten und ihn sparsam und gewissenhaft nennt." (S. 267). „[...] deren Bedeutung dem Wortlaut entgegengesetzt ist" (Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. 2. Bd. Hg. und übs. von Luc Deitz. Stuttgart/Bad Cannstatt 1994, S. 543. Er folgt darin Quintilian, der allerdings den Wink etwas enger fasst: „die Ironie [...] erkennt man entweder am Ton, in dem sie gesprochen wird, oder an der betreffenden Person oder am Wesen der Sache". Quintiiianus (1975), 8, 6, 54.

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Hertz, das in stetigen Furchten seyn muß, seinen Liebhaber wieder zu verlieren, in der hitzigsten Liebe zu unterhalten. Mit einem Worte, kein Ehe-Mann, er sey, wer er wolle, wird sich rühmen können, daß er dergleichen Anmuth, Treue und Vergnügung bey seiner Frauen empfinde. (156 f.)

Durch diesen ironischen Spott wird das Auseinanderklaffen von Antigamus' guter Meinung von Lesbie und den Aussagen des Lakaien verstärkt. Sowohl der Figur Antigamus als auch den Lesenden fallt es leicht, das Gemeinte hinter dem Gesagten herauszufinden, wurde es doch vorher gerade erzählt. Es liegt also eine zweideutige Rede mit eindeutiger Interpretationsanleitung vor. Der Widerspruch, dass ausgerechnet Philogamus, dem Kritiker der Zweideutigkeit, ironische Worte in den Mund gelegt werden, löst sich damit weit gehend auf. Die verbale Ironie verstärkt gerade die Außenperspektive (dass Fraudelise Philogamus hintergangen hat), indem die Lesenden sie selbst aktiv nochmals ins Gedächtnis rufen müssen, da sie sonst den Witz der Passage gar nicht genießen können. Die Unterstellung, welche die Lesenden hier aufgrund der ironischen Rede machen müssen, verstärkt den in der Vorrede verkündeten Lehrsatz, dass Misstrauen in Bezug auf die wahren Absichten der Mitmenschen, insbesondere der Frauen, empfehlenswert ist. Mit diesem Lehrsatz ist eine allgemeine Interpretationsgleichung eingeführt, wie die Innenperspektive aus der Außenperspektive zu erschließen ist.

Disputation als diskursives Muster Die von Philogamus für die Figurenäußerungen dezidiert geforderte Sicherheit der Interpretation lässt sich als Norm auch an den Text Lust und Unlust selbst anlegen. Diese Übertragung verdeutlicht, dass es auch auf der Figurenebene nicht darum geht, dass einzelne Figuren aufrichtig sind, sondern dass sie als aufrichtige zur Geltung kommen. Nicht die Übereinstimmung von Außen- und Innenperspektive steht an oberster Stelle, sondern die Übereinstimmung von Außenperspektive und einer Innenperspektive, die aufgrund einer Interpretationsgleichung konstruiert wurde. Aufrichtig in diesem Sinne kann auch ein Text sein, jedoch nur unter ganz bestimmten Rezeptionsbedingungen. Wie die Liebste von bestimmten Interpretationsgleichungen ausgehen muss, um ihr Verhalten so einzurichten, dass sie von ihrem Liebhaber als aufrichtig und tugendhaft eingeschätzt wird, so setzt auch der Text Lust und Unlust Interpretationsgleichungen in Form von diskursiven Mustern voraus, welche ihm erst eine Eindeutigkeit verleihen, den Lesenden den entscheidenden ,Wink' geben. Ein wichtiger Unterschied zwischen der Widmungsvorrede an alle Frauen und der Vor-Rede an den Leser besteht darin, dass in der zweiten auf die sprechenden Namen von Philogamus und Antigamus hingewiesen wird. Zwar werden die anderen Namen nicht erläutert, aber der Leser ist nun auf eine Fährte gestoßen, die er weiter verfolgen kann. Falls der Leser dies tut, setzt er sich in die Position eines wissenden Zuschauers, ahnt er doch lange vor der genannten

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Enthüllungsszene, dass Fraudelise Philogamus hintergehen wird (defrauder), Lesbie in Liebesdingen frei denkt und der Scortine Monogamie kein Bedürfnis ist (scortum = Hure). Obwohl natürlich auch weibliche reale Leserinnen diese dramatische Ironie erkennen können, entwirft der Text seinen impliziten Leser als männlich und gibt nur ihm den Schlüssel der Namenssymbolik in die Hand, das heißt er positioniert nur die männlichen Lesenden im Rang der wissenden Zuschauer. Diese Anordnung erinnert an die Form der Disputation, die sowohl formal als auch inhaltlich den diskursiven Hintergrund bildet, weil sie als Lehrund Lernform Wahrheits- und Wirklichkeitsseite in einem geschlechtsasymmetrischen Szenario festlegt und dadurch die Grundlage fur solche geschlechtsasymmetrischen dramatischen Ironien bildet. Dass die Disputationsform fur Lust und Unlust inhaltlich relevant ist, wird bereits durch das im Titel als Kontroverse angekündigte Hauptthema deutlich. Das Streitgespräch ist ein wesentliches Element der Disputation und Fragen über das Verhältnis zwischen Frauen und Männern sind in der Disputation äußerst beliebt.27 Diese inhaltliche Entsprechung sowie die Tatsache, dass Christian Weise empfiehlt, einen satirischen Roman wie eine Disputation einzurichten,28 legitimieren die Betrachtung von Lust und Unlust im Lichte der Disputation. Entscheidend für die Frage, wie die Ironie-Situation in diesem Text konstruiert wird und wirkt, ist jedoch die Qualität der Disputation als AufEührungsform. Die Universitätsdisputation ist eine der hauptsächlichen Lehr-, Lern- und Repräsentationsformen der Universität des 17. Jahrhunderts.29 Sie bildet ein Konfessionen und Sprachen übergreifendes diskursives Muster. Die universitäre Disputationsordnung entwirft einen oft feierlichen und immer sozial definierten Rahmen:30 Der Präses verfasst Thesen aus seinem Lehrgebiet, gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit dem Respondenten aus der Reihe der fortgeschrittenen Studierenden. Der Präses nimmt im festlich geschmückten Auditorium auf dem obersten Katheder Platz, auf dem unteren stehen Respondent und einer oder mehrere Opponenten. Als Publikum zugelassen oder zur Teilnahme verpflichtet sind alle graduierten Mitglieder der Fakultät sowie solche anderer Fakultäten oder Universitäten. Der Präses stellt das Thema vor. Die Opponenten fechten 27 28

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Ausfuhrlicher: Ursula Kundert: Disputation. In: dies. (2004), S. 107-142. Christian Weise: Kurzer Bericht vom Politischen Näscher, wie nehmlich Dergleichen Bücher sollen gelesen, und Von andern aus gewissen Kunst-Regeln nachgemachet werden. Leipzig 1680. Andere Frage, 18. Absatz. Jeder Angehörige der Universität kommt fast täglich aktiv oder als Zuhörer „mit dem Disputationswesen in Berührung". Vgl. Wilhelm Bamer: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 407; und: J e d e öffentliche Disputation war ein akademisches Schaugericht, ein Fest, das unter lebendiger Teilnahme der ganzen akademischen Bürgerschaft begangen wurde." Ewald Horn: Die Disputationen und Promotionen an den deutschen Universitäten vornehmlich seit dem 16. Jahrhundert. Leipzig 1893, S. 87. Nach Horn (1893); Manfred Beetz: Disputatorik und Argumentation in Andreas Gryphius' Trauerspiel Leo Armenius. In: Literatur und Linguistik 10 (1980), S. 178-203; August Thorbecke (Hg.): Statuten und Reformationen der Universität Heidelberg vom 16. bis 18. Jahrhundert. Leipzig 1891; Friedrich Zamcke (Hg.): Die Statutenbücher der Universität Leipzig aus den ersten 150 Jahren ihres Bestehens. Leipzig 1861.

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nun These für These an, der Respondent verteidigt sie, falls nötig mithilfe des Präses. Dieses mündliche Szenarium, welches die Universitätsstatuten entwerfen, spielt sich auf Latein im streng definierten Kreis der graduierten Universitätsangehörigen ab. Die Teilnahme ist Nicht-Graduierten, das heißt auch allen Frauen, verwehrt. Auffallig ist, dass der Schluss sehr unspektakulär beschrieben wird: Er ergibt sich nicht aus der Sache, sondern wird von außen, etwa durch eine zeitliche Beschränkung, gesetzt. Eine abschließende Zusammenfassung durch den Präses ist möglich, aber nicht zwingend. Mit dieser Folie gewinnt die im Übrigen symmetrisch angelegte Diskussionssituation zwischen Philogamus und Antigamus eine Schieflage zugunsten der Position, die für Ehe und „Ehrligkeit" wirbt, geben doch Vorrede und Abt Sophin schon zu Anfang gleichsam die Thesen bekannt, die an Beispielen differenziert und mit konkreten Fällen belegt werden sollen.31 Dadurch wird ein disputatorischer Rahmen gebildet, der den Lesenden einen Wissensvorsprung gewährt und dadurch eine dramatische Ironie konstruiert. Eine der Diskussionsparteien wird so jeweils zum Vornherein bevorzugt wie zum Beispiel im Gespräch zwischen Antigamus und der Frau des Financiers, in dem diese sich über den Roman La Princesse de Cleves äußert: Ο was für eine Einfalt! [...] Soll es eine Frau ihrem Mann auf die Nase binden, wenn sie einen andern liebet? Es ist nur des Molliere seine Agnese, die so offenhertzig handelt, und kan ich nicht begreiffen, wo der Autor [M. de Segrais = Ps. von Mme de Lafayette] dazumahl seinen Verstand müssen gelassen haben, der sich in übrigen noch so ziemlich soüteniret. (36)

Diese Stelle spielt mit mehreren Ironien, hauptsächlich zur unfreiwilligen Selbstbloßstellung der Financiere: Sie fallt als Frauenfigur aus dem Disputationsrahmen, indem sie als Frau die Gelehrtenmeinung vertritt, die das Hauptargument in der Debatte um die Geständnis-Szene darstellte. M. de Valincour hatte nämlich in der anonym erschienenen Kritik Lettres Α Madame La Marquise *** Sur Le Sujet De La Princesse De Cleves (Paris 1678) die Titelheldin ebenfalls mit Molieres Agnes verglichen.32 Dadurch bestätigt sie den später von

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„Die Conversation des Philogami und Antigami giebet Unterricht, wie man ein klügliches Mißtrauen gegen die menschlichen, sonderlich zu tausenderley List abgerichteten FrauenHertzen tragen und sich nicht bloß fleischlicher Lüste und Ergötzlichkeit halber in den Ehestand begeben solle. In der [Binnen-] Geschichte von Syngamis und Agamis entdecket die Sophronie die Manieren, wodurch eine ehrliche und vernünffiige Frau ihren Mann vom liederlichen Leben geschicklich abziehen, und sich hingegen bey ihm desto mehr engagiren solle. Das Exempel der Scortine lehret, daß einem Frauenzimmer, das einmahl in Liederligkeit und Unordnung verfallen, niemahls zu trauen stehe." (9 f.) „Sachte, sachte, fiel der Apt Sophin dem Antigamo in die Rede; Es ist gleichwohl kein Vergleich zwischen der ehelichen und der buhlerischen Liebe zu machen. Mr. Antigame, er muß ihr billich ihre gebührende Ehre lassen." (31 f.) „Der Apt Sophin stellte vor, [...] daß man die Sache aus sothanem [solchem] Unvergnügen und wiedersinnigen Meinungen nicht decidiren, sondern, wenn man rechtschaffen davon urtheilen wolte, die Lust und Unlust des ehelichen Lebens genau gegen einander halten, und beydes aus dem Grunde untersuchen müsse." (33 f.)

32

Jean-Baptiste-Henry du Trousset de Valincour: Lettres Α Madame La Marquise *** Sur Le Sujet De La Princesse De Cleves. Tours 1972 (Erstausgabe Paris 1678), S. 126 f.

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ihrem Mann formulierten Vorwurf, sie lese zuviel (40 f.). Philogamus und Antigamus haben zuvor ganz andere Normen für das Verhalten einer Ehefrau aufgestellt, als sie die Financiere nun vorfuhrt. Dadurch ist der Leser durch die ,Disputationsthesen' und die bereits vorausgegangenen Diskussionen der beiden Hauptkontrahenten mit einer moralischen Position ausgerüstet, die ihn die Financiere verachten lässt. Diese Wertung wird danach bestätigt, wenn Philogamus und Antigamus das Gespräch zwischen Antigamus und der Financiere kommentierend diskutieren. Besonders stark ist die dramatische Ironie für diejenigen Lesenden von Lust und Unlust, welche die intertextuellen Verweise auf den C/evei-Streit, auf die Komödienkonvention und Molieres Drama erkennen. Mit einigem Verlust an Ironie und Facettenreichtum der Aufrichtigkeitsdiskussion muss vermutlich für das deutschsprachige Publikum gerechnet werden, wenn es auch nicht unwahrscheinlich ist, dass sich die Lesenden der deutschen Übersetzung auch auf Französisch über die literarischen Werke und Diskussionen aus Frankreich unterrichteten. Die dramatischen Ironien, die jeweils den Leser in die Position des wissenden Publikums stellen, werden durch die verschachtelte Erzählstruktur mit mehrfachen Kommentarmöglichkeiten erleichtert und verbinden sich mit der Disputation, indem die Dialoge im Dialog als Exempla, als aus dem Leben gegriffene Argumente fungieren. Sie erhalten deshalb auch von der großen ordnenden Form der Disputation her ihre Eindeutigkeit. So wird im Zusammenspiel zwischen Disputationsmuster und ironischen Konstruktionen in dreifacher Hinsicht Referenz geschaffen, die einen festen Ausgangspunkt bildet, von der her im Text Aufrichtigkeit bestimmt werden kann: Verbale Ironie lässt die Lesenden selbst eine Außenperspektive schaffen, einen Bereich der Äußerungen und Taten also, die (in der Erzählung) tatsächlich stattgefunden haben, indem sie sie über entgegengesetzte Formulierungen durch einen (meist von der Erzählinstanz geleisteten) Wink zum eigentlichen Sinn führt. Die in der Vorrede formulierte (Disputations-) These, dass den anderen (und vor allem den Frauen) grundsätzlich nicht zu trauen sei, gibt eine Regel vor, wie vom äußeren Verhalten auf die Motivation geschlossen werden soll. Diese Regel wurde bereits Interpretationsgleichung genannt. Sie wird mit anderem Hintergrundwissen über das Disputationsmuster verbunden und zur Bildung von dramatischen Ironien benutzt, welche den Lesenden einen privilegierten Einblick in die eigentlichen Absichten der Figuren verschaffen und durch Kontrastierung dieser Absichten mit dem für die anderen Figuren wahrnehmbaren Sinn Aufrichtigkeit in ihrem Bruch vorführen.

Mise-en-abime Ohne diese Folie der Disputation gelesen entbehrt der Text Lust und Unlust jedoch umso mehr eines festen Ausgangspunktes als er seine sorgsam von der Definitionsinstanz etablierte Wirklichkeit selbst wieder untergräbt. Denn die verbale Ironie kann eine Wahrheit oder Wirklichkeit kritisieren, ohne eine neue

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behaupten zu müssen, da die Kritik ja nur in einer winzigen Interpretationsanleitung steckt. Erasmus ermahnt im Ecclesiastes denn auch den Prediger, von dieser Figur spärlichsten Gebrauch zu machen (120, 340). Die Bibel und die Kirchenväter verwendeten diese Figur häufig, aber vor allem deshalb, weil es sinnvoller sei, so Absurdes wie Götzen und heidnische Kulte lächerlich zu machen als ernsthaft zu verbieten (120, 342-346). Auch Meyfart rät in seiner Teutschen Rhetorica von der Ironie ab: „ist ein grosse Schande, wenn Prediger die Ironey auff die Cantzel bringen" (120).33 Außerdem kann die dramatische Ironie, wenn sie in mehrfacher Verschachtelung auftritt wie hier, den Lesenden Zweifel nahe legen, ob sie denn nicht auch selbst sozusagen auf einer Binnenebene angesiedelt sind und über ihren Unverstand von einem Publikum belächelt werden. Denn im Innersten der dialogischen Erzählung, von dem sie sich um mehrere Erzählebenen, die jeweils besserwisserisch auf die inneren herunterschauen, entfernt wähnen, wird etwas über ihre Wirklichkeit oder zumindest über den realen, in ihrer Gegenwart sich abspielenden literarischen avew-Streit erzählt. Für sich genommen, das heißt wenn sie nicht durch das Disputationsmuster gewichtet, gewertet und ausgerichtet werden, können die ironischen Konstruktionen bei den Lesenden ernsthafte Zweifel darüber aufkommen lassen, wo sie denn nun aufhören sollen, ironisches Sprechen in eigentlichen Sinn zu übersetzen, den Figuren aus besser unterrichteter Position Unaufrichtigkeit vorzuwerfen. Sie müssen sich fragen, wo denn nun die aufrichtige Meinung des Textes verborgen liegt. Ein Epimythion, wie es Christian Weise in seiner Anleitung zum Verfassen satirischer Romane empfiehlt34 und in Lust und Unlust im Schiedsspruch des Abtes gegen Ende der Erzählung umgesetzt wird, hilft hier nur bedingt, denn welcher beherzte Interpret sähe nicht auch darin einen ironischen Kniff? Denn die performative Einbeziehung der Lesenden in die Konstruktion von Aufrichtigkeit durch ironische Konstruktionen droht sein Publikum zu chronisch misstrauischen Exegeten zu erziehen - was im Falle von Lust und Unlust in einem gewissen Sinne durchaus der Hauptthese entspräche. Sogar das Disputationsmuster hilft den Lesenden hier nur bedingt, denn es leitet sie zur immer weiter gehenden Differenzierung der einmal formulierten These an. Dieser jede Aussage zermahlende kritische Streit, der für diese Form konstitutiv ist, findet entsprechend auch hier nur einen vorläufigen Abschluss: „Antigamus würde hierauff nicht geschwiegen haben; allein der Kutscher that nochmahls Erinnerung wegen des bevorstehenden Ungewitters, und nöthigte also die drey Herren auff die Kutsche zu steigen, und nach Hause zu eilen. ENDE" (168). Dieser disputationstypische Abbruch findet also gleich doppelt statt: Auf der Figurenebene verhindert das Wetter weitere Diskussionen, die Erzählung wird performativ durch das Wort in Großbuchstaben beendet.

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Johann Matthäus Meyfart: Teutsche Rhetorica oder Redekunst. Hg. von Erich Trunz. Tübingen 1977 (Erstausgabe Coburg 1634). Weise (1680). Andere Frage, 35. Absatz.

Miroslawa Czarnecka

Listen der (Un)Aufrichtigkeit Der geschminkte weibliche Körper in der Literatur des Barock

Einführung Mein Referat gilt der Kosmetik, wie sie im Barock verstanden und angewendet wurde, und setzt sich zum Ziel, an ausgewählten Texten aus dem 17. Jahrhundert den anthropologischen Diskurs über den verstellten Leib oder, mit Lohenstein ausgedrückt, über die „selbsteigene Verfälschung", zu verfolgen. Dabei wird das natürliche Bedürfiiis des Menschen, sich anders und immer auch schön zu zeigen, als anthropologische Konstante begriffen, die fur das 17. Jahrhundert noch primär als geschlechtsneutral angesehen werden muss. Kosmetik war damals ein Zeichensystem, das beide Geschlechter kennzeichnete und in dem der weibliche wie der männliche Körper zum Artefakt wurde. In meinen Ausführungen versuche ich aufzuzeigen, dass die literarischen Bilder diesen Sachverhalt eigentlich nicht vermitteln. In der deutschen Literatur des Barock wird die Kosmetik - und das ist ganz deutlich sichtbar ζ. B. im Vergleich mit der altpolnischen Literatur - , fast ausschließlich mit dem weiblichen Körper konnotiert und dazu als geschlechtstypisches Laster der Frau allgemein beurteilt. Meine Untersuchung ist von der Frage geleitet, welche Körpermodelle die Literatur des 17. Jahrhunderts im Kontext der Kosmetik entwirft und welche anthropologischen Konzeptionen und Wirkungsabsichten diese vermitteln, d. h. konkret, wie Schminke funktionalisiert wurde, wann sie erlaubt war und zudem, wie sich der Schminkdiskurs mit der barocken Anthropologie der Angst vor dem Altern verschränkte. Gerade in diesem Kontext kann, wie zu zeigen sein wird, eine genderspezifische Analyse besonders aufschlussreich sein.

Zum Begriff der barocken Kosmetik Das Zedlersche Universallexikon aller Wissenschaften und Künste unterscheidet zwischen „Schminck-Arzneyen" und „Schminck-Kunst". Es heißt dort: Cosmetica Medicamenta - Schminck-Arzneyen, sind solche Mittel, mit welchen man sich eine weisse, reine und weiche Haut machen, und die Blattern-Flecken, Sommer-Sprossen

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und andere Unreinigkeiten der Haut an Händen und vornehmlich an Gesichte wegbringen und dieselben rein halten kan, solche sind Aqua album., Camphor, Tinctura Bezoes.1

Und an einer anderen Stelle ist die „Ars Comptoria furatrix" als „die SchminckKunst" definiert, deren sich einige schön seyn wollende Weibs-Personen zu gebrauchen pflegen, um ihre natürlichen Mängel zu verbergen. Sie wird von der Cosmetica, dem natürlichen Schmuck und Schönheit darin unterschieden, daß jene geborget, diese aber eigenthümlich ist.2

Die Kosmetik - vor allem Parfüms und Puder - war im medizinischen Diskurs der Frühen Neuzeit, dieser Epoche des Schmutzes und der wissenschaftlich begründeten Wasserscheu, zur Prophylaxe und alltäglichen Körperhygiene anempfohlen und, wie Viragello für Frankreich ausführlich darstellte, bei der damals vorherrschenden und lebenswichtigen Kunst der Trugbilder im allgemeinen Gebrauch, nicht nur in höfischen Kreisen, sondern auch im Mittelstand und selbst in den Randgruppen der Gesellschaft.3 Parfüms fanden also nicht nur wegen des Dufts, sondern v.a. zur Luftdesinfektion sowie als therapeutisches Mittel zur Reinigung der Haut und zur Belebung des Gemüts Verwendung. Mit dem Puder pflegte man allgemein den Haarschmutz zu maskieren.4 Und in diesem Sinne konkludiert auch Ulrike Sippel, die die Reinheitskultur in Göttingen der vergangenen Jahrhunderte untersuchte: Im 17. und 18. Jh. ändert sich die Körperpflege radikal, das Baden wurde vielerorts abgelehnt, in den gehobenen Kreisen wurde viel Puder und Parfüm verwendet, und man schminkte sich übermäßig. Am häufigsten stellten diese Gewohnheiten jedoch keinesfalls Maßnahmen zur Reinigung des Körpers vor, sondern hatten vielmehr die Aufgabe, die Unsauberkeit von Haut und Haar zu kaschieren, um körperliche Reinheit und Schönheit zu suggerieren.5

Die Verwendung der Verschönerungsmittel im Sinne der Comptoria Ars, die eine lange Tradition von etwa 8 000 Jahren besitzt,6 stieß dagegen, besonders bei Theologen, und zwar beider Konfessionen, auf harte Kritik. Dessen ungeachtet erfasst seit der Renaissance ganz Europa ein wachsendes Kosmetik-Fieber, was zur raschen Entwicklung der Kosmetikproduktion und deren internationalem

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Johann Heinrich Zedier: Grosses Vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste. Bd. 6. Halle 1733, Sp. 1415. Vgl. auch: Gesa Dane: „Die heilsame Toilette". Kosmetik und Bildung in Goethes „Der Mann von fünfzig Jahren". Göttingen 1994, S. 50 ff. Zedier (1733). Bd. 5, Sp. 855. Georges Viragello: Le propre et le sale. L'hygiene du corps depuis le Moyen Age. Paris 1985, polnische Ausg.: Czystosc i brud. Higiena ciala od Sredniowiecza do XX wieku. Warszawa 1996. Siehe auch Regina Löneke u. Ira Speker (Hgg.): Reinliche Leiber - schmutzige Geschäfte. Körperhygiene und Reinlichkeitsvorstellungen in zwei Jahrhunderten. Göttingen 1996. Viragello: Czystoic i brud (1996), S. 142. Ulrike Sippel: Von Kardätschen, Puderquasten und Papilloten. Das Göttinger Perückenmacherhandwerk im Dienst von Mode, Schönheit und Standesbewußtsein. In: Löneke u. Speker (1996), S. 141-159, S. 145. Charles Panati: Universallexikon der ganz gewöhnlichen Dinge. Frankfurt a. M. 1994, S. 155.

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Austausch beitrug. Frankreich etwa zur Zeit Ludwig XIV. machte daraus eine Vorform der modernen Nationalindustrie.7 Die Entwicklung der höfischen Pariser Mode wurde sehr schnell in den reichen Urbanen Kreisen Europas nachgeahmt, wie es die polnische Historikerin Maria Bogucka fur Danzig nachweisen konnte. Die wirtschaftliche Prosperität und breite Handelskontakte der Stadt Danzig im 17. Jahrhundert begünstigten eine ungewöhnlich rasche Vermittlung modischer Neuigkeiten aus Paris. Die französische Mode ersetzte hier sehr bald das spanische Kleider-, Frisur- und Schminkdiktat. Die Danziger modebewussten Frauen trugen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts allgemein Dekolletes und französische Locken.8 Die Männer standen ihnen in keiner Weise nach - die Danziger Gemälde aus jener Zeit zeigen Kaufmänner in neumodischen Mantelröcken just au corps, mit kokett gespanntem, hellem oder buntem Unterteil und Kniehosen mit bunten Bänden, Klammern oder Falbanen. Genauso wie die Damenkleider wurden selbstverständlich auch die Männermäntel und Röcke reich mit Gold- oder Silberverzierungen ausgeschmückt.9 Zeitgleich zur Kosmetikproduktion erschienen Handbücher und Gebrauchsanweisungen. Die Autoren dieser Gebrauchstexte waren vor allem Ärzte, die sich mit der Herstellung von Schminken, Balsamen, Duftwässern u.d.g. beschäftigten. Ein Beispiel dafür ist das populäre Compendium Oder Auszug der Secreten/ Gehaymnissen und verborgenen Künsten des italienischen Medicus Leonhardii Fioravanti, der sich im Vorwort zu seinem Buch als Frauenfreund vorstellt.10

Der Schminkdiskurs Der Schminkdiskurs wird seit der Antike überliefert und setzt mit der Einführung der ersten kosmetischen Körpertechniken ein. Die archäologischen Ausgrabungen im Nahen Osten brachten Funde von Gesichtspuder und Farben für Augenbrauen aus der Zeit vor 6 000 v. Chr. an die Öffentlichkeit sowie ähnliche vom Nagellack aus China und Ägypten um 3 000 v. Chr. Aus dem antiken Rom und Griechenland sind Parfüms, Rouge und Puder bekannt. Und die im 17. Jahrhundert so hoch geschätzte Perücke wurde in Ägypten schon um 3 000 v. Chr. getragen.11

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Vgl. Francoise Bluche: La vie quotidienne au temps de Louis XIV. Hachette 1984, polnische Ausg.: Warszawa 1990. Maria Bogucka: Zyc w dawnym Gdahsku Wiek XVI-XVII. Warszawa 1997, S. 165. Bogucka (1997). Leonhardii Fioravanti: Compendium Oder Auszug der Secreten/Gehaymnissen und verborgenen Künsten. Gedruckt zu Francfurt am Mayn durch Matthias Becker in Verlegung Johann Theobald Schönwetters, Im Jahre 1604, ich benutze das Exemplar der Universitätsbibliothek Wroclaw: UBWr. 334977. Dane (1994), S. 68; vgl. auch Panati (1994), S. 155 f.

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Der schminkkritische Topos beginnt wahrscheinlich mit Piatons „Gorgias", wo Schminke als unehrenhaft bezeichnet wird, da sie Gesundheit und Schönheit nur äußerlich vortäusche. Für Ovid dagegen galt die Schminke als begehrtes Mittel der ars amandi.12 Die Leibfeindlichkeit der frühen und mittelalterlichen Lehre des Christentums fand in den Texten der Kirchenväter und in der populären moraldidaktischen Literatur besonderen Widerhall. Die misogyne theologische Argumentation gegen die Schminke benutzte von Anfang an den Topos der weiblichen Laster, vor allem der Geilheit, der natürlichen Neigung zur Sünde wie Hoffart, Maßlosigkeit, Zügellosigkeit und Verschwendung. Den Frauen wurde in diesem Diskurs traditionell die böse Absicht der Verfuhrung von Männern unterstellt. Georg Philipp Harsdörffer schließt sich dieser Diskussion im 7. Teil seiner Frauenzimmer Gesprechspiele von 1647 an, dem er die deutsche Version de la Bibliotheque des Dames von Chatunieres de Grenaille anhängt. In seiner Vorrede, die an erster Stelle das Buch von der Weiber Schmuck des Kirchenvaters Tertullian anfuhrt, hebt der Spielende die Bedeutung der weiblichen Erziehung zur Tugendhaftigkeit und ehelichen Diszipliniertheit hervor. In diesem Kontext ist die Tugend mit der Aufrichtigkeit gleichzusetzen und bedeutet - etwa in der etymologischen Tradition des lateinischen Wortes sincerus - so viel wie reine, echte, unverfälschte, also gottgegebene natürliche Schönheit des äußeren und inneren Selbst.13 Das Ideal der weiblichen Tugend schließt Tertullian in dem Satz ein: „Die Einfalt ziere eure Stirn, die Schamhaftigkeit schminke eure Wangen, die Keuschheit bekleidet euch mit dem schönsten Purpur".14 Nur eine unverstellte Selbstdarstellung gilt als Gebot der christlichen Frau und jeder Verstoß dagegen wird von ihm als Gotteslästerung und Sünde beurteilt: Was hierinnen die Natur ertheilet sol mit allerhand Beschminkung nicht beschmutzet werden, dann man den Willen Gottes zu verändern noch vermag noch die Gabe zu verbessern erkühnen soll. [...] Welche ihre Wangen schminken, sündigen wider die Göttliche Majestät, indem sie für andre wollen angesehen seyn, die sie doch in der Wahrheit nicht sind, oder ihnen ein höheres Ansehen zu machen bemüht sind. Dergleichen Sünden begehen auch die, so Arzney gebrauchen, sich zu verstellen. Die roten Wangen zeigen, daß sie die Hoffarbe des Satans und des ewigen Höllenbrandes an sich genommen. Es mißfällt ihnen, was Gott an ihnen gethan hat. 15

Schminke und jede Form von aufwendiger Pracht wie kostbarer Schmuck, überreiche Kleider und allerlei Preziositäten, die den Frauen nur dazu dienen, „die Männer trüglich zu verfuhren"16, sollen als Erfindungen des Teufels abgelehnt

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Vgl. Panati (1994), S. 159. Zur Geschichte der Aufrichtigkeit im Sinne des kulturellen Konstrukts siehe: Lionel Trilling: Das Ende der Aufrichtigkeit. Frankfurt a. M. 1983; Wolfgang Engler: Die Konstruktion von Aufrichtigkeit. Zur Geschichte einer verschollenen diskursiven Formation. Wien 1989. Tertullian: Das Buch von der Weiber Schmuck. In: Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprechspiele [...]. Theil 7 [...]. Nürnberg 1647, S. 562. Tertullian (1647), S. 542-545. Tertullian (1647), S. 523.

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werden, da sie nur „zur Beförderung der Sünden und Unterdrückung der Tugend dienen".17 Mit dem Blick sub specie aeternitatis ruft Tertullian die stolzen, geschminkten Frauen zum eifrigen Bußwandel auf: Also tragen sie an dem Halse gehänge von Edelsteinen, als Zeiger ihres und auch unseres Verderbens. Sie tragen güldene Ketten als Fessel ihrer und unserer Dienstbarkeit. Sie gehen bunt bekleidet, weil auch in ihrem Sinn keine Beständigkeit. Sie bestreuen sich mit Pulver, indem sie nicht gedenken, daß sie zu Staub und Pulver werden müssen. Sie mahlen ihre Wangen mit Schmink, welchen die Jammerthrenen wieder abieschen werden. 18

Mit ähnlichen rhetorischen Topoi sind die barocken Traktate und Predigttexte gefüllt, in denen der Sittlichkeitsverfall und ä la mode aus der „ethisch-sozialen Stoßrichtung"19 stark angegriffen wurden, ohne jedoch einen wirkenden oder bleibenden Effekt zu erzielen. Genauso wie Schminken wurde die neue weibliche Haarpracht, die so genannte Fontagne, kritisiert und ausgelacht.20 Die neue Frisur wird als Gotteslästerung bezeichnet, weil sie die natürlichen Proportionen der Gliedmaßen optisch verändert, den weiblichen Körper übermäßig erhöht und so die festgeschriebenen Geschlechterverhältnisse - und alles, was damit zusammenhängt - im Sinne der göttlichen Ordnung gefährdet: Ihr bauet den Baum eures Leibes höher als ihn die Natur hat haben wollen. [...] Ihr gebet damit zu verstehen, daß ihr euren zukünftigen, so gegenwärtigen Männern die Krone und Herrschaft vom Haupt reisset, und dadurch euch einer botmässigen Regierungssüchtigkeit anmasset. 21

Über das französische Dekollete, das die Brüste fast ganz enthüllte, waren die Theologen und Moralisten, wie etwa der protestantische Prediger in Schlesien Adam Gdacjusz, richtiggehend entsetzt und nannten es „eine Huren-Tracht"22 und den Busen „den Sitz des Übels und Ort der Versuchung".23 Doch wie JeanClaude Bologne in seiner Geschichte des Schamgefühls betonte, „wettert man das ganze 17. Jahrhundert über gegen den entblößten Busen, aber mit ein paar zerknirschten Vaterunser hatte man diese lässliche Sünde abgebüßt."24 Auch die beiden Bullen des Papstes Urban II. von 1636 konnten das Voranschreiten dieser „obszönen" Mode nicht verhindern. Erst die anwachsende Prüderie der Preziösen und die Entwicklung des Peinlichkeitsempfindens25 trugen zur Veränderung einer solchen Form des Geschmacks bei. 17 18 19 20

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Tertullian (1647). Tertullian (1647), S. 523-524. Helga Möbius: Die Frau im Barock. Leipzig 1982, S. 180. Dazu der anonyme Traktat: Die mit lebendigen Farben Abgemahlte Und mit der verführerischen Blossen Brust vergesellschaftete Eitele Fontange Des heutigen Frauen-Zimmers. Samit angehengter kurzer Vorstellung deroselben neuen Hoffart. Dresden(?) 1699 (ich benutzte das Exemplar der SLUB Dresden: Philos.c/27). Anonymus (1699), S. 11. Anonymus (1699), S. 38. Vgl. Jean-Claude Bologne: Nacktheit und Prüderie. Eine Geschichte des Schamgefühls. Weimar 2001, S. 77. Bologne (2001), S. 73. Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1997, S. 377.

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In den Ausführungen von Zedlers Universallexikon wurde die Antwort auf die Frage, „ob Schminken eine erlaubte Sache ist", zwar relativiert, aber auch er bedient sich des Topos der lasterhaften Weiblichkeit und fuhrt letztlich alles auf die Absicht zurück. Der Artikelschreiber erklärt: Es ist eine Frage, die so schlechterdings weder mit ja noch mit nein beantwortet werden kan. Nachdem die Absicht bey dem Gebrauche entweder gut oder böse ist, nachdem kan auch das Schmincken als erlaubt oder unerlaubt angesehen werden. Dahero denn vor sich klar, daß das Schmincken, welches von geilen Frauen-Personen in der Absicht unternommen wird, damit sie die Manns-Personen desto mehr an sich locken mögten, schlechterdings unerlaubt sey. 26

In den barocken Traktaten und Predigten werden zwar auch Männer kritisiert, aber es geht nicht primär darum, dass auch sie Kosmetik verwenden und so der neuen Mode huldigen, sondern fast ausschließlich darum, dass sie in ihrer Rolle als pater familias nicht bestehen, indem sie zulassen, dass sich die Frauen der Hoffart ergeben. So urteilt ein anonymer Kritiker: Solttet ihr Christliche Ehe-Männer nur euch nicht vor sie ins Herz und Blut hinein schämen? Keiner unter euch wil ja eine Hure zum Weibe haben. Allein, warum lasset ihr den euren Weibern zu, dass sie den Huren gleichen, und im Huren-Schmuck aufziehen dürffen? [...] Keine rechtschaffene authoritätliche Männer, sondern rechte Männern- und Weibernarren, rechte Gäuche und Mosis-Ebenbilder sind die, welche ihren Weibern solchen Huren Schmuck verstatten. 27

Der Körper als Artefakt Die Historiker und Kulturhistoriker betonen einstimmig, dass Frauen und Männer im Barock Kosmetik gebrauchten, ihre Gesichter schminkten, sich Mouches aufklebten, sich übermäßig puderten und ihre Haare färbten.28 Bereits Tertullian sagte „ungescheut" in dem oben zitierten Traktat, dass die Männer Thorheit nicht geringer ist als die der Weiber. Sie machen es nicht besser und verstellen theils ihre Gestalt mit gleich so viel Ungebühr. Wie viel sind Hofleute die den halben Tag für dem Spiegel zubringen, mit weiblichen Beschmukkung sich auskleiden und des Leibes warten, daß die Würmer so viel mehr zu zehren haben und bestreuen das Haubt mit wolriechendem Staub, ohne Erinnerung, daß sie Erd und Asche sind. Viel vergessen auch nicht ihr Angesicht, wie das Frauenvolk zärtlich zu schminken. 29

Durch den Gebrauch der Kosmetik wird im 17. Jahrhundert nicht nur der weibliche Körper, sondern auch der Männerleib zum Artefakt. Wie es Carsten-Peter Warncke in seiner Studie über Kleidung, Schmuck und Verschönerung in der 26 27 28

29

Zedier (1733). Bd. 5, S. 451. Anonymus (1699), S. 66. Vgl. Ursula Fehling u. Horst Brost: Kostümkunde. Mode im Wandel der Zeiten. Wiesbaden 1983; Max von Boehm: Die Mode. Eine Kulturgeschichte vom Mittelalter bis zum Barock. Bearbeitet von Ingrid Loschek. 2 Bde. München 41989. Tertullian (1647), S. 551 f.

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Frühen Neuzeit am Beispiel der Bildenden Kunst zeigen konnte, gab es in dieser Hinsicht „keinen fundamentalen, als prinzipielle Differenz zu bewertenden Unterschied zwischen den Geschlechtern": In allen Zeitabschnitten der Epoche waren zwar die Frauen aufwendiger geschmückt als die Männer [...]. Doch war es keineswegs für Männer grundsätzlich verpönt, reichen Schmuck zu tragen und sich in dessen Glanz auch darstellen zu lassen, was wiederum logische Folge der Verbindung individueller Bedürfnisse und der überpersönlichen Rolle des Zierates als gesellschaftliches Distinktionsmedium ist. Selbst Konfessionsunterschiede wirkten nicht immer als prinzipielles Hemmnis [...]. Tatsächlich bestanden in der frühen Neuzeit generell keine fundamentalen Differenzen zwischen weiblicher und männlicher Kleidung. Bis ins späte 17. Jahrhundert hinein hatte Kleidung bei beiden Geschlechtern die Aufgabe, von der Person abzulenken. Die Kostümierung war in sich beweglich, Teile davon gepufft, schleppten nach, schwangen von einer Seite zur anderen, oder es gab reiche Verzierungen, um das Augenmerk von der wirklichen Körperform abzulenken. Der Unterschied lag v. a. darin, daß männliche Kleidung den Körper als solchen betonte [...], während die Formen des weiblichen Kleides dies nicht taten und die Struktur des Körpers eher verschleierten als hervorhoben. Aber trotz dieser Differenzen bestand über Hunderte von Jahren eine harmonische visuelle Balance in der Bekleidung beider Geschlechter. Farben, Stoffe und Zierat waren für beide gleich und unterschieden sich nach Status und Gelegenheit, manchmal auch nach der Region, aber eben nicht nach dem Geschlecht. Sich durch den Aufwand an Kostümierung und Preziosen zu schmücken, hatte eben die Bedeutung eines sozialen Signifikants, das Zierat nach seinem Zeichencharakter begriff. 30

Zur Garderobe gehörten als genuiner Teil auch Perücke und Schminke31, die so verwendet werden musste, dass „das geschminkte Gesicht den Charakter eines Gemäldes nicht zu verleugen hatte".32 In der Verwendung des Externum Corporis Decorum33 richteten sich beide Geschlechter gleichermaßen nach dem Prinzip der Einheit von Zier und Zeichen, in der sich symbolisch der soziale Status des Einzelnen und seine Gruppenzugehörigkeit ausdrückten. Galt also der geschminkte Körper durchaus für beide Geschlechter, so lässt eine Übersicht der deutschen barocken Literatur hierin ein auffallendes Ungleichgewicht feststellen - bei der Vielfalt von Beschreibungen der geschminkten weiblichen Körper fällt die Dürftigkeit, ja eigentlich die Nichtexistenz der Beschreibung des männlichen geschminkten Körpers auf. Nur die Figur des alten Greises, der verschiedene Veijüngungstechniken gebraucht, um sexuell attraktiv zu erscheinen, ist immer wieder aufzufinden, worauf ich noch eingehen werde. Den berühmtesten literarischen Schminkdiskurs des deutschen Barock präsentierte Daniel Casper von Lohenstein in seinem höfisch-historischen ArminiusRoman. Die erstaunlichen Kenntnisse der kosmetischen Techniken, die Fürst Rhementalces detailliert beschreibt, sind ein Indiz dafür, wie stark und geschlechtsneutral das Interesse an kosmetischen Möglichkeiten und Neuigkeiten 30

31

32 33

Carsten-Peter Warncke: Rationalisierung des Dekors. Über Kleidung, Schmuck und Verschönerung in der Frühen Neuzeit. In: Die Erfindung des Menschen. Hg. von Richard van Dülmen. Köln 2002, S. 159-173, S. 164-167. Vgl. auch Renate Lohse: Die Farben der Schönheit. Eine Kulturgeschichte der Schminkkunst. Berlin 2001, S. 59. Möbius (1982), S. 195. Vgl. Erasmus von Rotterdam: De civilitate morum puerilium. o. O. 1530.

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war. Lohenstein hebt das eindeutig hervor, wenn er die Fürstin Adelmunde ironisch feststellen lässt: Inzwischen wäre kein geringes merckmal einer grossen Fähigkeit - daß ein so schöner Fürst, als Rhementalces wäre, und welcher zu seiner Vollkommenheit keines Aufputzes bedörffte, in einer ihm verhassten Kunst so viel Geheimnisse begriffen und behalten hätte. 34

Lohenstein ist einer der - wenigen - Autoren des deutschen Barock, der in der Diskussion über das Wesen der Frau, ihre Tugenden und Laster und über die Geschlechterbeziehungen keine misogyne Haltung vertrat.35 Er relativiert auch die Schminkdiskussion, fuhrt kulturhistorische Pro-Argumente an, die die traditionellen theologischen schminkkritischen Topoi entschärfen. Die Königin Erato verteidigt hier den Gebrauch der Kosmetik sowohl im Sinne der Gesundheitsprophylaxe, der cosmetica medicamenta, als auch der Comptoria und argumentiert mit der Rhetorik der traditionellen Geschlechtermodelle, was nur ihre Fähigkeit der Prudentia hervorheben lässt: Das weibliche Geschlechte ins gemein zarter Glieder, schwachen Verstandes, veränderlichen Gemüthes und furchtsamen Hertzens, die Männer aber starck, klug, gesetzt, herzhaft und thätig wären [...]. Am wenigsten aber wäre die Tugend mehr eines als des anderen Geschlechtes Eigenthum. Denn diese wäre ein Schatz der Seele, welche als ein Geist von Unterschiede des Geschlechts nichts wüste. [...] Allein ich bin auch der Meynung, daß Frauenzimmer durch Balsame und andere Schminken ihre Schönheit zu erhalten oder ihren Abgang zu ersetzen eben so wenig, als den Männern durch stete Übung, aber auch durch Arzneyen dem Abgang der Stärcke zu wehren, weniger für ein Laster zu rechnen sey. Sintemal die Gestalt unserem Geschlechte diß, was den Männern die Stärcke ist. [...] Ist die gemachte Gestalt aber auch gleich keine Wahrheit, so ist sie zum minsten ein schönes Gerichte.36

Die von Rhementalces verhasste Stiefmutter Ada wird in seiner Darstellung zur Inkarnation der selbsteigenen Verfälschung und dadurch zum vollkommenen Artefakt, zum lebendigen Kunstgegenstand, zugleich auch zum Schreckbild der weiblichen Laster, vor allem der Eitelkeit, Verschwendung, Hoffart, Wollust und Maßlosigkeit. In der Kunst der Verstellung ist sie Meisterin geworden, da sie als Emporkömmling mit „Schwachheiten des Pöbels in der Geburt"37 die natürlichen Defizite bedecken musste - so vor allem das der ungenügend hellen Hautfarbe, die das weibliche Schönheitsideal war und gleichzeitig „ein Erkennungszeichen in sozialer Hinsicht" 38 Die Mängel ihrer Körperform verdeckte sie unter prächtigen Kleidern und die fehlende Schönheit mit wohlriechenden Schminken und Balsamen, die die Geheimnisse ihres Schönheitsschreines waren.

34

Daniel Casper von Lohenstein: Großmüthiger Feldherr Arminius [...]. Nachdruck der Ausgabe von 1690. Mit einer Einfuhrung von Elida Maria Szarota. Hildesheim u. New York 1973, S. 86. 35 Vgl. dazu Cornelia Plume: Heroinen in der Geschlechterordnung. Wirklichkeitsprojektionen bei Daniel Casper von Lohenstein und die Querelle des Femmes. Stuttgart 1996. 36 Lohenstein (1973), S. 80 u. 87. 37 Lohenstein (1973), S. 83. 3 « Vgl. Dane (1994), S. 70.

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Jedes Glied hatte seine absonderlich ihm zugeeignete. Mit der Egyptischen Salbe aus dem Kraute der so genannten Frauen-Handschuch balsamte sie die Füsse und Schienbeine, mit der Cyprischen aus wilden Wein-Trauben die Schuh, mit der Lydischen aus Quendel die Knie, mit Sidonischer aus Brunn-Kresse die Armen, mit der Cyzikischen aus blauen Lilgen den Bauch, mit der Phaselischen aus Cyrenischen Rosen die Brüste, mit der Cilicischen aus Saffian den Rücken, mit der Rhodischen aus Narden den Hals, mit der Phönicischen aus Myrrhen den Mund, mit der Coischen aus Quitten-Blüte die Wangen, mit der Adramytischen aus Amaranthen die Haare und Augenbraunen, mit der Sardinischen aus Haupt-stärckenden Gewürzen die Stime und Schläfe ein, wenn sie vorher sich mit gepresstem Saffie aus dem Bären-Klau-Kraute über den ganzen Leib eingeschmieret, und selbten darmit weiß gemacht hatte. Hernach machte sie ihre Zähne durch ein gewisses mit Scheide-wasser geträncktes Wachs weiß, röthete ihre Lippen allererst mit der Syrischen Räthe-Wurze, oder mit einer aus der rothen Wurzel der stinckenden Hunds-Zunge gemachten Schmincke, gleich als wenn eines so gemalthen Weibes Athem darmit vergiftet werden müsste, die Wangen aber färbte sie aus einer von rothem Meer-Schilffe und Egyptischen Dornen bereiteten Salbe, zuweilen auch mit dem Blutte gewisser aus Indien gebrachter und zerquetschten Würme, und das Wachsthum der Augenbraunen zwang sie mit einem aus Spitz-Glase geraucheten Risse rund herumb in die Höhle, und die unnützten haare beitzte sie mit Salamander-Speichel weg. Sie ließ sich täglich etliche male mit zerkäuerten Indischen Nelken anhauchen, um ihre graue Augen zu schwärzen, und wormit sie nicht wässrich wurden, aaß sie, wie die Albanischen Weiber, welche die schönsten Augen in der Welt haben, in den Speisen kein Körnlein und also weniger salz als die Prister der Isis, sondern brauchte an dessen Stelle zerstossene Kohlen. [...] Besonders da die Runzeln sich zwar mit dem Schnee der Schminck baisam ausgleichen, trieffende Augen aber nicht ausklären lassen, ein frisches Antlitz aber mit todten Augen sich übel paaren läst. Die schmalen Hüften vergrösserte sie mit unterbundenen Kissen, die rothen Augen-Wimpern bräunte sie, die warzen an brüsten überpuderte, die Nägel vergüldete, die Haare bedträubte sie, Ja es würde jemanden schwer gefallen seyn, irgendswo eine Nadel-Spitze anzusetzen, wo sie nicht gemahlet war. Also machte sie Erde und Meer, ja schier alle Länder der Welt zu Abgöttern, ihren leib aber zum Götzen, welchen sie täglich salben und mahlen mussten. 39 A d a realisiert mit ihrer Schminkkunst politische Ziele, ist also ein geschminkter politischer Körper. Sie versucht erfolgreich ihre Position als Herrscherin im Lande z u stärken, indem sie sich ihren Ehemann durch sexuelle Hörigkeit unterstellt. Sie hatte ihre aus der Fremde verschriebene Schönheit in Büchsen verschlossen, und den Früling mit seinen Rosen und Lilgen bey allen jahres-zeiten in ihrem Schrancken, und gelichwohl niemals ihr eigenes Antlitz, so daß obwohl der gleichsambezauberte Rhascuporis nur seine Ada anbetete und nicht mehr Wittiber ward, er dennoch täglich ein ander Weib heyrathete und ein neues Weib küsste. 40 A d a verschreibt sich raffiniert und klug d e m h ö f i s c h e n Zeremoniell, in d e m der menschliche Körper z u m Zeichen der sozialen Distinktion und des Status, „ z u m Element eines ausdifferenzierten Kommunikationssystems" 4 1

wird. In ihrer

Selbstinszenierung, die der „möglichst vorteilhaften Präsentation" 4 2 dient, ist ihre Kleiderpracht Signifikat der höchsten Prestigeform. Sie besteht dementsprechend nur aus d e m schönsten, vollkommensten, teuersten und exotischsten Schmuck und ebensolchen Stoffen, aus Gold, Silber und Edelsteinen. Ihre auf39 40 41 42

Lohenstein (1973), S. 85 f. Lohenstein (1973), S. 86. Dane (1994), S. 71. Warncke (2002), S. 160.

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fallige Erscheinung ist ein genuiner Teil des höfischen Rituals und in diesem Sinne institutionell zu betrachten, gleichzeitig aber auch als Ausdruck ihrer persönlichen Machtansprüche. Durch den aufwendigen Gebrauch der Schminke und dem Überreichtum an Kleidern grenzt sich Ada ganz bewusst nicht nur von anderen sozialen Gruppen, sondern auch von anderen Menschen ihrer nächsten Umgebung ab.43 Sie wird zu einer raffinierten, klugen und sehr gefahrlichen politischen Spielerin. Diese Intextuation der höfischen Norm auf den Leib wurde vom Urbanen Mittelstand, wie wir es bereits am Beispiel Danzigs gesehen haben, weitgehend nachgeahmt. Modische Kleider, Schminke und Schmuck waren ständig Inhaltsträger und vermittelten Signale des Reichtums und einer hohen sozialen Position, so Friedrich von Logau in seinem Epigramm Oberstelle Unter Bürger und Edelleuten: Bürger wollen obenan für den Edelleuten sitzen; Geld und Perlen, Seid und Samt kann sie billig drüber schützen. Gold und Perlen, Seid und Samt zeucht sie für sich selbst empor; Dann es deutet immer dran, daß es war des Adels vor. 44

In der lyrischen Frauensatyre des deutschen Barock werden primär bürgerliche Frauen kritisiert, die der Mode huldigen. Andreas Gryphius stellt in seinem Sonnet „An Jolinden" die Geschminkte als Figur der entlehnten Schönheit dar, indem er fragt: Was habt ihr das ihr mögt an euch ewr eigen nennen! Die schminck ist die euch so bluttrotte lippen macht: Die zähne sind durch kunst in leeren mund gebracht. Man weis das meisterstück / wordurch die wangen brennen. Ewr eingekauftes haar kan auch ein kind' erkennen. Der schlimme schweis entdeckt des halses falsche pracht Und die polierte stirn wird wolverdint verlacht Wen sich der salben eys will bey den runtzeln trennen. Gemahlte! Sag mir doch wer seidt ihr / und wie alt? Ihr mein ich / sechzehn jähr / drey stunden die gestalt. Ihr seidt von haus' und sie ist über See ankommen. 45

Durch den Vergleich der modischen Frau mit dem Pfau, dem traditionellen emblematischen Attribut der Frau-Welt-Allegorie, dessen Symbolik auf Eitelkeit und Hoffart verweist, konzipiert Joachim Rachel sein Poetisches-FrauenZimmer oder Böse Sieben. Der weibliche Körper wird hier zum vollkommenen Gebilde, vom dem es heißt: Was die natur versäumt wird durch die Kunst ersetzt [...] Bis das sie von ihr selbst das Urteil endlich spricht Auf dieser gantzen Welt sey ihres gleichen nicht. 46 43 44 45 46

Zur Abgrenzungstaktik vgl. Dane (1994), S. 73. Friedrich von Logau: Sinngedichte. Eine Auswahl. Berlin 1967, S. 127. Andreas Gryphius: Sonette. Hg. von Marian Szyrocki. Tübingen 1963, S. 49. Joachim Rachel: Erste Satyra. Das Poetische-Frauen-Zimmer oder Böse Sieben. In: Albrecht Schöne (Hg.): Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse. München 1988, S. 1003 ff.

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So wie der weibliche Körper in der galanten Dichtung, in den Liebesromanen und Schäfereien dem Manne und seiner Phantasie völlig gehört und unter seinem erotischen Blick zerstückelt wird, um sozusagen in Einzelteilen betrachtet und geliebt zu werden, so wird in der satirischen, antipetrarkistischen Literatur auch der geschminkte Körper der Frau in seiner Inkohärenz beschrieben. Das gleiche Verfahren des „Anatomierens", wie er sagt, verwendet Johann Michael Moscherosch, um ä-la-Mode-Damen als „mit Stolz bekleidete und mit falschheit gefilterte Thiere" zu definieren, „deren meiste gedancken dahin gehen, wie sie der Männer Einfalt und Aufrichtigkeit verlachen und stumpffiren mögen, und das die jenige, so man für die beste haltet, den Männern die meiste sorge machen."47 Der weibliche Betrug wird mit Hilfe der Schminke und raffinierter Techniken bewerkstelligt, die helfen, die wahre Körperform zu verdecken. Moscherosch schreibt: Gestern abend ist sie ein heßlich ungestaltet Mensch gewesen, heut frühe hat sie sich mit aller dieser entlehnten Schönheit, welche du also lobest, gezieret und geschmüncket, [...] wann du sie aber in ihrem Wesen recht anschauen und betrachten soltest, wirstu nichts als Pflaster und Lumpen an ihr finden. [...] So sind erstlich die Haar, nicht ihre eigene Haar, sondern sie kommen auß dem Kram-Laden, vielleicht von einer deren der Schädel abgeschlagen worden, und dieser elenden mit Eisen und Zangen gemarterter haare gebrauchet sie sich, weil die ihrige entweders durch einen bösen Französischen Luffi außgefallen, oder doch wann sie noch etliche deren hat, auß forcht ihr alter dadurch verrathen wirde, dieselbige nicht darff sehen lassen. Wann keine schwärtze were, so hette sie auch keine Augenbrawen [...]. Wann das Geschmünck nicht were, so hette sie weniger färb als ein Jud oder hermaphrodit. Sie ist ein alter Götze, mit distillirter mercurialischen Wasseren und spiritibus veqüngert [...]. Und wann das Geschmünck alles als Zibeth, Bisam, baisam, Haarpulffer poudre de cypre, hurenpulffer (dann Venus eine Hure gewesen) bisamirte handschuh, Strimpff und anderes nicht weren, wirderstu die nase bald mit einem Schnuptuch wegen deß gestancks und übelen geruchs verbollwercken müssen. Solltestu sie einmahl küssen, du wirdest die Lefftzen und Wangen mit feißte und Schmutz dermassen besudeln als ein Kuttelfeger am Bubeneck. Soltestu sie umbfangen und begreiffen, du wirdest nichts als carten-papier und groben canafas oder Zwilch und Lumpen finden, mit wlechen allem ihre Schnürbrust, leib und Röcke gefüllet seind, damit sie dem verstellten leib irgend ein ansehen und gestalt geben möge. [...] die leider geben ihr solche gestalt, nicht der leib. Gehet sie dann schlafen, so lasset sie auff dem Tisch den besten theil ihres leibs, nemblichen die Kleider liegen. 48

In der satirischen Literatur des Barock, vor allem, wenngleich nicht ausschließlich, in der Prosasatire, werden auch Männer angegriffen, die der Mode huldigen. Für Johann Michael Moscherosch ζ. B. sind sie unaufrichtig und das heißt unehrlich. Er lacht in diesem Sinne alle Bemühungen der eleganten deutschen Höflinge aus, die nun ihre Haare modisch abschneiden und ihre Bärte „alle Monat, alle Wochen [...] betropffen und bescheeren! Ja alle Tage und Morgen mit Eysen und Fewr peinigen, foltern und marteln, ziehen und zerren lassen"49 und neue Hüte aufsetzen: 47

48 49

Johann Michael Moscherosch: Wunderliche und wahrhaffiige Gesichte Philanders von Sitten wait. Hg. von Wolfgang Harms. Stuttgart 1986, S. 42. Moscherosch (1986), S. 42. Moscherosch (1986), S. 117.

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Wann ich einen Auffiichtigen, redlichen, Gott-Ehr-und das Vaterland liebenden Teutschen beschreiben wolte? Und sagen: Er seye ein einem Monatwendischen Käßformigen Hut aufgezogen, [...] habe einen Wälschen Kopff, einen Spanischen Bart, ein Grichisch Hertz, eine Niderländische Seele, hebräische Hände, Engländische Fusse und einen Französischen Bauch gehabt. [...] Ist zuerbarmen vieler teutschen Thorheit, ich glaube, wann man eines newsuchtigen Teutschlings [...] hertz öffnen und sehen solte, man wirde augenscheinlich befinden das S/8 desselben Französisch, 1/8 Spanisch, 1/8 Italienisch und 1/8 doch nicht wohl deutsch daran solte gefunden werden. 50

Das neuzeitliche Ideal der männlichen Schönheit konzentrierte sich vor allem auf die Stärke des Körpers, auf seine physiche Kraft und die Ausstrahlung heroischer Tugenden. Als schön galt ein breitschultriger, großer und starker Mann, dessen Gliedmaßen die richtigen Proportionen und eine gut entwickelte Muskulatur zeigten. Die barocken Kleider betonten den männlichen Körper, v. a. den Rumpf, den Hals, die Haare, die Beine und die Genitalien.51 Um diesem Ideal zu entsprechen, setzten die Männer verschiedene Techniken ein, die die Defizite ihrer Körper maskierten oder künstlich ausgleichen halfen. So haben sie nicht nur enge Röcke, sog. Just au corps, angezogen und gepuderte Perücken getragen, sondern auch Schuhe mit hohen Absätzen und falsche Waden. So wie Frauen ihre Taille durch Schnürbrüste modellierten, so verhalfen sich Männer mit zylindrischem Wadenersatz in hellen Farben, um optisch die vollkommene Wadenform vorzutäuschen.52 Während jedoch im ästhetischen Diskurs des Barock der weibliche Körper total atomisiert und nach den Prinzipien der anatomischen Dekomposition zerlegt wird, um dessen Verfälschung zu präsentieren und auszulachen, wird der männliche Körper in diesem Prozedere der Demaskierung von Verstellung - soweit ich es übersehen konnte - weitgehend tabuisiert. Moscherosch erwähnt zwar deutsche Männer, die hohe Absätze tragen, um fehlende Körpergröße vorzutäuschen: sie „seyen auff Wannenbreiten Kühefussigen Absatz-Schuhen und Stiffeln einhergerattet"53, belässt es aber nur bei einer kritischen Bemerkung der lasterhaften Fremdennachahmung. Mir ist kein satirischer Text bekannt, in dem z.B. falsche Waden thematisiert wurden. Es gibt auch keine „männliche" Entsprechung zu der Darstellung des weiblichen negativen Artefakts, wie es Johann Beer beschrieben hatte: Abends wie sie sich niederlegte so sähe ihr Bräutigam, daß sie einen Buckel hatte, wie 2. Klopelküssen. An einen bein hinckte sie und das andere war eine hätzerne Stelzen, damit griff sie mit beyden Händen in die Gosche und langte alle beyde reihen Zähne heraus, auff solches bückte sie sich mit dem Kopff auff ein Tischlein, und der bräutigam, welcher dort im bette zwischen dem Vorhang gantz erblast hervor guckte und immer ein Creutz auffs andere machte, vermeinte, sie würde eine abgefangene Lauß todt tiücken, aber an statt dessen sah er, daß sie ein Auge aus dem Kopffe langte, welches nach venetianischer Art gar artig und künstlich aus Glaß (115) geschmetzet worden. Nach diesem zog sie die Mütze vom Kopffund als sie die auffgesetzten faklschen Haare herunter hatte, sehe der Bräutigam mit schröcken, daß sie den Grund hatte. Sie schraubte über dieses ein Ohr vom Kopffe, welches ihr aus Helffenbein hinan gedeschelt worden. Auff solches nehme sie auch die halbe Nase 50 51 52 53

Moscherosch (1986), S. 62. Vgl. Wamcke (2002), S. 166. Vgl. Dane (1994), S. 69 u. 75. Moscherosch (1986), S. 62.

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vom Gesicht hinweg, die von einem künstlichen Wachs-pousirer so naturel zugerichtet ware, daß mans vor einen wahrhaftigen Schmecker gehalten. Als dieses geschehen, ruffle sie die Cammer-Magd Cicipe, die muste ihr den lincken Arm, so ingleichem vom Wachs gemacht war, vom Leibe runter nehmen. Ο Monstrum ingens, horres deforme cui lunen ademptzum, gedachte der bräutigam, spränge dem (116) nach gähling aus dem Bette, nähme seine Schlaff-Hosen über die Achsel und eilte was er konnte zu seinem Nachbar. 54

Der Zweck dieser totalen „selbsteigenen Verfälschung" der Braut ist die - wie wir schon eingangs gesehen haben, traditionell den Frauen unterstellte - böse Absicht der Anlockung eines Ehekandidaten. Das weibliche Laster der Unaufrichtigkeit gilt dabei, nach dem klassischen Prinzip anima et corpus, nicht nur dem Leib, sondern auch der Seele und disqualifiziert die Braut als böses Weib. Zugleich wird hier aber gerade diese traditionelle Weiblichkeitsprojektion (böses Weib) dekonstruiert, die seit dem Mittelalter als Frau-Welt-Allegorie, als dämonische Figur, eine Verführerin mit männervernichtender sexueller Potenz, literarisiert wurde.55 Die Braut bei Beer verliert gerade in der Schlafkammer ihre ganze sexuelle Attraktivität.

Der alte Körper und die Schminke Zwar mussten am Hof alle Menschen wegen des stark geschminkten Gesichts und gepuderten Haars eigentlich gleichaltrig und grau aussehen, doch dieser gewisse Egalitarismus darf nicht über die anthropologische Tatsache hinwegtäuschen, dass sie eine große Angst vor dem Altwerden verspürten.56 In diesen Sinne ist auch wohl das Sonett Klag einer Jungfraw über nahendes Alter von Martin Opitz zu lesen, wo es heißt: Ach wo ist jetzt die zeit, da jedermann thet gleichen Der Rosen schöne Zier, mein edele Gestallt Ja wol ich bin wie sie, nun ich bin worden alt, Eh sie der Sonnen glantz des Morgens kan ereichen, Muß sie durch kühle Luffi der kalten nacht verbleichen, Und hat nur von dem Taw noch ihren underhalt, So netzen mich jetzt auch die Thränen manigfalt, Weil ich die junge zeit fast habe lassen schleichen, Kompt dann die Morgenröth, so wird die Rose roth, Ich werde schamroth auch wann ich denck an die Noth,

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So in Johannes Beer: Der neu ausgefertigte Jungfer-Hobel (gedruckt 1681). In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Ferdinand van Ingen u. Hans-Gert Roloff. Bd. 5. Bern α a. 1991, S. 95 f. Zur literarischen Tradition der Frau-Welt-Allegorie vgl. Barbara Becker-Cantarino: Frau Welt und femme fatal. Die Geburt eines Frauenbildes aus dem Geiste des Mittelalters. In: Das Weiterleben des Mittelalters in der deutschen Literatur. Hg. von James F. Poag u. Gerhild Scholz-Williams. Königstein/Ts. 1983, S. 61-74. Vgl. Jean-Pierre Bois: Les vieux de Montaigne aux premieres retraites (1989). Ich benutze die polnische Ausgabe: Historia starosci. Od Montaigne'a do pierwszych emerytur. Warszawa 1996, S. 67. Zur egalisierenden Funktion der Schminke vgl. auch Dane (1994), S. 74.

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Doch hab ich diesen Trost, daß gleich wie von den Winden Die Rose, wann der tag sich neigt, wirdt abgemeht, So werdt ich auch, weil nun mein Abendt nicht ist weit, Wanns hie ja nicht kan sein, doch Ruh im Grabe finden.57

Der Altersdiskurs zeigt eindeutig eine geschlechtsspezifische Differenzierung auf: Wie die Historikerin Heide Wunder beschreibt, wurden in der Frühen Neuzeit Frauen von 50 Jahren „anders als ihre Ehemänner - als alt angesehen. Männer standen im Zenit ihres Lebens, erreichten erst in diesem Alter ihren vollen sozialen Status, den Gipfel ihrer beruflichen Karriere."58 Während der alte Greis trotz seiner Körperschwäche immer mit dem Nimbus des alten Weisen umgeben war und so vor der endgültigen Segregation gerettet werden konnte, wurde die alte Frau seit dem 15. Jahrhundert eigentlich nur negativ wahrgenommen:59 Sie galt nicht nur allgemein als hässlich, sondern wurde zugleich als moralisch suspekt angesehen. Grimmelshausen porträtiert die „angenommene Mutter" der Courasche mit traditionellen Attributen der bösen, hässlichen Kupplerin, die als literarischer Topos seit der Renaissance bekannt war.60 Courasche erzählt: Diese war viel listiger als eine Füchsin, viel geiziger als eine Wölfin, und ich kann nicht sagen, ob sie in der Kunst, geld zu gewinnen oder zu kuppeln, am vortefflichsten gewesen sei. [...] dann ihr gewissen war weiter als des Rhodiser Colossi Schnekel auseinandergespannet, zwischen welchen die größte Schiff ohne Segelstreichung durchpassieren koennen. 61

Im ausgehenden 17. Jahrhundert wurde das semantische Feld dieses Topos, v. a. dank Moliere, um die literarischen Figuren der alten devoten Frau und - was wichtig ist - des alten Geizigen und Hypochondrikers erweitert. Der ideale schöne Körper musste selbstverständlich vor allem jung sein oder so scheinen. Alle Attribute des jugendlichen Aussehens, wie glatte, helle, fleckenlose Haut, üppiges und natürlich blondes oder schwarzes Haar ohne Farbe und gesunde Zähne, mussten deshalb immer deutlich herorgehoben werden. So hatte die Kosmetik die Aufgabe, die voranschreitende Veralterung des Körpers zu kaschieren, die Verwelkungsymptome zu verdecken und eine blühende Jugendlichkeit, wenn auch nur für kurze Dauer, zu betonen. Die Figur des alternden Mannes ist in der barocken Satire primär im Kontext seiner erotischen Inattraktivität allgemein präsent. Das populärste Bild ist - so in vielen Hochzeitsgedich57

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Martin Opitz: Teutsche Poemata. Abdruck der Ausgabe von 1624. Hg. von Georg Witkowski. Halle a. d. Saale 1967, S. 88 f. Heide Wunder: Er ist die Sonn, sie ist der Mond. Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992, S. 51. Mir ist nur das Gedicht von Benjamin Neukirch „Als sie graue haare bekam, und doch noch schön" bekannt, in dem eine alternde Frau als schön beschrieben wurde. In: Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesene und bißher ungedruckte Gedichte. Bd. 5. Leipzig 1710, S. 263 (ich benutzte das Exemplar der UB Wroclaw 319067 ΠΙ). Eingeführt durch den Renaissanceautor Fernando de Rojas und fortgesetzt durch den Meister der picaresken Prosaliteratur Francisco de Quevedo (1580-1645). Vgl. dazu Matthias Bauer: Der Schelmenroman. Stuttgart 1994. Johann Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Trux Simplex oder ausfuhrliche und wunderseltsame Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstöizerin Courasche. Nachdruck der Ausgabe von 1670. Berlin 1980, S. 101.

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ten62 - wohl das des ungleichen Brautpaares, wo der Bräutigam wesentlich älter ist als die Braut,63 genauso wie das des alten Bon Vivants, der seine körperliche Schwäche mit Schminke und Puder abzudecken versucht. Bei Paul Fleming deklariert diese Figur „Bin ich - als ich muß gestehn / Greiß an Haaren / Gleichwohl kan ich buhlen gehen".64 In diesem Sinne beschreibt auch Moscherosch den alten Greis, der pillffert sein haar, will das eckelnde Frauenzimmer dabey überreden, seine haare wären nicht Alters halben grau, sondern er hätte sie mit dem Cyper-Pulffer also geruchs wegen gepüffel. [...] das aber thut er zu dem end, damit er noch für einen Hürunin-Seyfrid möchte angesehen werden, der die Jungfrau könnte von dem feurigen Drachen, so in ihrer Schoß rastet, erlösen. Deßgleichen thut auch Eine Alte Närrin, die noch gern einen Jungen Mann hätte. 65

Die alternde Courasche ironisiert dagegen die sexuelle Blindheit ihres späten Liebhabers, den sie ohne weiteres mit Schminke irreführen kann: Er sagte, ichs seie glatthärig gewesen, da muß er aber wissen, daß ich damals den siebzehnten teil meiner vorigen Schönheit bei weitem nicht mehr hatte, sonderlich behalfe mich allbereit mit allerhand Anstrich und Schminke, deren er mir nicht wenig, sondern einer großen menge abgeleckt. Aber genug hiervor - Narren solle man mit Kolben lausen. 66

Wie Franz Brietzmann nachweisen konnte, taucht im 15. Jahrhundert als neues Motiv das der ungeratenen Ehe zwischen einer alten Frau und einem Jüngling auf, „wobei sie ihm das Leben mit ihrer boshafen Eifersucht verbittert".67 In der barocken67 Frauen- und Liebessatire kommt dieser Topos sehr oft vor,68 obwohl die Lebensumstände der Frauen in der Frühen Neuzeit, v. a. ihre hohe Sterblichkeitsrate bei Geburten oder im Kindesbett, der realen Häufigkeit dieses Schemas eindeutig widersprechen. Der Altersdiskurs der Frühen Neuzeit, verbunden, wie ich es gezeigt habe, mit dem aktuellen Schminkdiskurs, präsentiert den menschlichen Körper, insbesondere aber den Körper der Frau, als Ort der sozialen Ausgrenzung. Sowohl 62

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Vgl. Jörg-Ulrich Fechner: Der Antipetraikismus. Studien zur Liebessatire in barocker Lyrik. Heidelberg 1966; sowie Miroslawa Czarnecka u. Jolanta Szafarz (Hgg.): Hochzeit als ritus und casus. Zu interkulturellen und multimedialen Präsentationsformen im Barock. Wroclaw 2001. Vgl. das Gedicht des Andreas Gryphius „An einen seiner bekannten, welcher sich in unzeitige Ehe eingelassen". In: Victor Mannheimer: Die Lyrik des Andreas Gryphius. Studien und Materialien. Berlin 1904, S. 291; oder das von Paul Flemming „An eine Jungfraw die einen Alten heyrathet". In: Barocklyrik. Hg. von Herbert Cysaiz. Bd. 1. Leipzig 1937, S. 199; sowie das Gedicht „Auf einen alten Gärtner, so ein junges Mägdgen geheyratet hatte". In: Herrn von Hoffmanns Waldau und andrer Deutschen auserlesene und bißher ungedruckte Gedichte. Bd. 5. Leipzig 1710, S. 211. Paul Fleming: Der Alte verredet sich. Zit. n. Fechner (1966), S. 78. Moscherosch (1986), S. 163. Vgl. auch ausgewählte Gedichte von Opitz, Gryphius, Fleming u. a. zitiert bei Fechner (1966), S. 63 ff. Grimmelshausen (1980), S. 154. Franz Brietzmann: Die böse Frau in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 1912, S. 191. Vgl. Fechner (1966), S. 50 ff.

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Miroslawa Czarnecka

fur den kranken als auch für den alten Menschen bedeutete es bis etwa ins 18. Jahrhundert hinein eine rücksichtslose Isolierung und Verdrängung an den Rand der Gesellschaft. Erst in der Aufklärung, wie Jean-Pierre Bois untersuchte, erlebt der alte Mensch seine gesellschaftliche Aufwertung. Das betrifft in ganz besonderer Weise die alte Frau, die ab jetzt in der Rolle der Betreuerin und Erzieherin der Enkelkinder noch eine Weile akzeptiert werden kann.69

6» Vgl. Bois (1996), S. 164.

Wilfried Barner

Aufrichtigkeit und ,Lebendigkeit' bei Christian Weise, pragmalinguistisch betrachtet

Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland hat zu Beginn seiner Afrika-Reise im Januar 2004 angekündigt, er werde den von ihm besuchten afrikanischen Völkern respective Regierungen „aufrichtige Partnerschaft" anbieten. Das setzt voraus, dass .Aufrichtigkeit' des politischen Handelns, Verhaltens besonders diesen Völkern gegenüber jedenfalls nicht die selbstverständliche Regel ist: nicht von Seiten der mächtigen Staaten wie ehemals der Sowjetunion, ehemals wie heute der Vereinigten Staaten, Frankreichs, Englands, Deutschlands und anderer. Es geht dabei, wohlgemerkt, nicht um bloße Gesinnung, sondern um in politisches, ökonomisches Handeln umgesetzte Gesinnung. Christian Weise1 gehört im Deutschland des 17. Jahrhunderts zu den Hauptrepräsentanten einer europaweit seit dem 16. Jahrhundert im Zeichen des Frühabsolutismus sich bildenden sogenannten .politischen' Bewegung, 2 an die hier nur stichwortartig erinnert werden kann: gekennzeichnet durch dezidierte Diesseitigkeit, die auf,kluge' Einschätzung und Nutzung der circumstantiae aus ist, auf den individuellen, ganz persönlichen Erfolg, ja auf ,Glück'. Man kann sie als eine Variante von ,Lebensphilosophie' fassen (so schon Dilthey),3 die das Ganze der kulturellen Existenz bestimmt, mit dem Sinngehalt einer umfassenden, insbesondere das weite Feld der Sprache und Literatur einschließenden Lebenserziehung. Sie aktualisiert einerseits ein Stück Erbe der antiken enzyklopädischen Rhetorik-Ideale (griechische, dann auch römische). Andererseits steht sie als Verhaltens- und Handelnslehre in der Linie schon der aristotelischen rhetorike techne (und Ethik), die ja auf sprachliches Handeln mit bestimmten Mitteln zu bestimmten Zwecken und Wirkungen gerichtet ist; oder analytisch ge1

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Zur Orientierung über Biographie und Hauptwerke werden im Folgenden zugrunde gelegt: Hans Arno Horn: Christian Weise als Erneuerer des deutschen Gymnasiums. Der „Politicus" als Bildungsideal. Weinheim 1966 (dort auch die umfangreiche ältere, ζ. T. pädagogisch interessierte Literatur); Wilfried Barner: Christian Weise. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. von Harald Steinhagen u. Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 690-725; Peter Behnke u. Hans-Gert Roloff(Hgg.): Christian Weise. Dichter - Gelehrter - Pädagoge. Beiträge zum ersten Christian-Weise-Symposium aus Anlaß des 350. Geburtstages, Zittau 1992. Bern u. a. 1994. Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 22002, S. 135-149; weiter zu Christian Weise: S. 167-189 u. S. 190-220; Gotthart Frühsorge: Der politische Körper. Zum Begriff der Politik im 17. Jahrhundert und in den Romanen Christian Weises. Stuttgart 1974. Wilhelm Dilthey: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Leipzig u. Berlin31923 (Gesammelte Schriften. Bd. 2).

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sprachen: Hier bietet sich ein pragmalinguistischer Ansatz an.4 Eine der Techniken, die der politicus unbedingt zu beherrschen lernen muss, ist die der dissimulatio, der Verstellung.5 Über die entsprechenden Fähigkeiten hat etwa der Advokat zu verfugen (wenn er im Interesse seines Mandanten ein bestimmtes Wissen zurückhalten muss, als besäße er es nicht). Und das prinzipiell Gleiche ist auch Voraussetzung für den Erfolg bei Hof, wo gnadenlos jeder vor jedem in seinem eigenen Interesse Theater spielt (fur das Europa der Frühen Neuzeit hat das etwa Ursula Geitner6 in ihrer Monographie von 1992 entwickelt, auch mit den spezifischen Vernetzungen in Rhetorik und Anthropologie bis hin zur neu entdeckten eloquentia corporis). Christian Weise verfasst das Schlüsselwerk seiner literarisch-pädagogischen Riesenproduktion, den Politischen Redner von 1677, auf dem Gipfel seiner durchaus ungewöhnlichen beruflichen Karriere, die ihm eine willkommene Breite und Vielfalt sozialer „Experienz" verschaffte und die er wiederholt auch mit Stolz herauskehrte (auf diesen Weiseschen Lieblingsbegriff - der sich zuletzt auf das Novum Organum Francis Bacons von 1621 zurückleitete - komme ich noch). Karriere, das heißt in diesem Fall, nur ganz abbreviativ angedeutet:7 Sprössling eines Lateinschullehrers aus einfachen Verhältnissen, breite antikhumanistische Privat- und Gymnasial-Erziehung, erste rhetorisch-disputatorische Brillierversuche an der renommierten Leipziger Universität, wo der .besonnene' Philosoph Jacob Thomasius (der Vater des berühmteren Christian) einer seiner wichtigsten Lehrer wurde (und Leibniz vermutlich sein Studiengenosse). Dann außerhalb der Universität: Aufstieg bis zum Sekretär des ersten Ministers des Herzogs August von Sachsen-Weißenfels, politische' Hofpraxis, die zum Beispiel auch Kabinettssitzungen einschloss, viel Diplomatisches - da konnten wenige von Weises Späthumanistengenossen mithalten. Nach erfolgreicher Tätigkeit als Hofmeister zweier junger Adliger aus einer angesehen Familie, mit dem Konzept eines modernen, ,Realien'-bestimmten Unterrichts in der .Historie';8 schließlich 1670 die Berufung als Professor der Politik, Rhetorik und Poesie an die renommierte Ritterakademie des kunst- und musiksinnigen Weißenfelser Hofs. Dort konzipierte er Stufe für Stufe, auf der Basis seiner Universitätserfahrungen, seiner Hofpraxis und seines Hofmeisterunterrichts den schon erwähnten 4

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Zentrale Stelle: Rhetorik, p. 1355b. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Bogen bis zur Rhetorik und Linguistik der letzten Jahrzehnte Wilfried Barner: Rhetorik. In: Literaturwissenschaft und Linguistik von 1960 bis heute. Hg. von Ulrike Haß u. Christoph König. Göttingen 2003, S. 212-222. Knapper Überblick bei Fanny Nepote-Desmarres u. Thilo Tröger: Art. .Dissimulatio'. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Mitbegründet von Walter Jens. Bd. 2. Tübingen 1994, Sp. 886-888. Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992. Das Folgende stützt sich auf die in Anm. 1 genannten Arbeiten. Er spiegelt sich in: Der Kluge Hoff-Meister [...]. Franckfurt u. Leipzig 1676 ('1675). Für adligen Nachwuchs und künftige Diplomaten sind ζ. B. die dabei behandelten Verfassungen und die Genealogien von Herrscherhäusern von Belang.

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Politischen Redner, dessen einzelne Teile wiederum nucleushafit die späteren großen Lehrbücher und anderes schon enthalten. Nach dem Erscheinen des Hauptwerks 1677: Rückkehr in die Vaterstadt Zittau, nun als Rektor seines alten Gymnasiums (1678) - fast 30 Jahre amtierte er und baute sein rhetorischpädagogisches Imperium über große Teile Mittel- und Ostdeutschlands aus. Und seine recht spektakuläre und resonanzreiche Schultheaterreform, mit über 50 selbst verfassten Stücken - auch von adligen Schülern gespielt - wurde das Fundament seines späteren Ruhms, freilich auch Zielscheibe von Invektiven Gottscheds und der Gottschedianer, denen die Prosastücke nur noch den ^eichten', .wässrigen', prosaischen' Weise repräsentierten. Die hier mehr als holzschnittartig skizzierte Karriere Christian Weises gehört insofern zum Kernbereich meines Themas, weil sie spezifisch seinen Anspruch fundiert, die gestufte Fülle der politischen .Realien' zu kennen und den ,klugen' Umgang mit ihnen vermitteln zu können. Und: weil er nach dem Ende des Großen Kriegs den aufsteigenden Schichten eine erfolgsorientierte Eloquenz versprach, die mehr als andere rhetorisch-pädagogische Konzepte der Zeit das ,Gezwungene' der .Schuloratorie' (wie er sie nannte) zu sprengen geeignet war. Sein ständiges Reden von den .Realien' - schon im frühen Lehrbuch Der Kluge Hoffmeister (1675) 9 - , von der .Freyheit der Invention' und vom sich regenden .Naturell' der Schüler10 hat sehr wesentlich hier seinen Ursprung. Fast beiläufig, aber höchst charakteristisch für diesen Grundzug ist seine späte Äußerung (gedruckt 1708) in der Vorrede zur Liebes-Alliance, er diktiere seinem Amanuensis die Theatertexte, um „die lebendige PRONUNCIATION" zu erhalten.11 Dieses Detail gehört zugleich in den größeren Zusammenhang seiner viel erörterten besonderen Wendung der theatrum-mundi-Konzeption: Da die Welt ein theatrum darstelle, die Menschen voreinander und miteinander Theater spielten,12 bereite das Schultheater auf eben dieses Spielen vor, oder spezifischer, wie es 1693 heißt: Es präpariere die Schüler, die „später im Politischen theatro",13 also in der säkularen Welt spielen werden. Wie andere Schulleute greift Weise gerne auf die von Luther wiederholt verwendete Spruchweisheit comoedia est vitae humanae speculum zurück. Aber bezeichnend ist, wie er den Satz instrumentalisiert, um seine Wahl der Prosa auch im Schauspiel (einschließlich Trauerspiel) zu begründen, in Absetzung etwa von den Stücken Lohensteins, die ja ebenfalls dem Schultheater zugehören. Die Begründung für den Verzicht auf den Vers ist gewiss später auch belächelt wor-

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Vgl. Weise (1676). Es ist eines der frühesten deutschen .Geschichtsbücher'. Vor allem in den Vorreden zu seinen zahlreichen Stücke-Sammlungen, etwa in: Christian Weise: Lust und Nutz der Spielenden Jugend. Dreßden u. Leipzig 1690. Sämtliche Werke. Hg. von John D. Lindberg. Bd. 15. Berlin u. New York 1986, S. 319. Für die Poetik Weises arbeitet diese Tendenzen heraus: Karla Elise McBride: Vom .Natürlichen' und .Ungezwungenen'. Christian Weises poetische Theorie. Ann Arbor, MI 1978. Dass an diese Zentralaussage soziologische Rollentheorie explizit anknüpfte (Erving Goffman, Ralf Dahrendorf u. a.), sei nur gerade erwähnt. Vorrede zu Christian Weise: Curieuser Körbelmacher. Görlitz 1705, fol. A 4 ' .

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den: „Ich finde keinen Casum im Menschlichen Leben, da die Leute miteinander Verse machen." 14 Also ein ,ungekünsteltes' Theater, jedenfalls der Tendenz nach? Das Problem stellt sich schärfer noch - und näher an das ,Aufrichtigkeits'-Thema heranführend - bei der rednerischen Ausbildung der Schüler. Es ergibt sich dort, wo ja genormte Redesituationen eingeübt werden, Sprechhandlungen, deren Ausformung an sozialen Erfahrungen .realistisch' gemessen werden können, so schon im Politischen Redner von 1677. Das Besondere dieses rasch erfolgreichen, von Weise später wiederholt aktualisierten Lehrbuchs lag - über den wichtigen Vorläufer, Balthasar Kindermanns Der Deutsche Redner von 1660 hinausgehend - in der durchgängigen .politischen' Erfolgs-Zweckbestimmung, in der auf Konkretheit, Anschaulichkeit und Abwechslung zielenden Darstellungsart (Teilelemente der viel gerühmten methodus Weisianä), und nicht zuletzt in der auf eigener Karriere-„Experienz" beruhenden Machart der Rede-Beispiele. Die vier Hauptteile des Politischen Redners werden eröffnet durch die „Schul-Reden" mit ausgeprägt humanistisch-lateinischem Fundament. Es folgen - ich überspringe für einen Moment den zweiten Teil - die „Bürgerlichen Reden", überwiegend aus dem städtischen Alltag, auch etwa Hochzeitsreden einschließend und in überdimensional großer Zahl die besonders hoch gewerteten (es sei an Andreas Gryphius erinnert) „Leich-Abdanckungen". Den Schluss bilden, ständisch .korrekt', die „Hof-Reden", bei deren Präsentation ein Anteil an Weiseschem Stolz auf die eigene Erfahrung spürbar wird. An zweiter Stelle aber stehen, deutlich eine gewisse Sonderposition einnehmend, die „Complimente".15 Sie sind für unsere Fragestellung von herausgehobenem Interesse. Historisch betrachtet, entstammen die Complimente und die sogenannten Complimentierbücher - hier stütze ich mich vor allem auf die Untersuchungen von Manfred Beetz16 - dem höfischen Bereich des frühneuzeitlichen Absolutismus, also konzeptionell ungefähr dem politicus-Oerken analog, ja zum Teil ihm selbst zugehörig. Es sind schriftliche oder mündliche, nach den Regeln des aptum und decorum ausgerichtete „Höflichkeitsbezeugungen"17 wie Gratulationen, Empfehlungen, Reverenzen, Beglückwünschungen, Beileidsbezeugungen etc. Für Christian Weise ist die Komplimentierkunst als sprachliche Kunst sozialen Handelns so essentiell, dass er, entsprechend seiner instrumentellen Einschätzung des Theaterspielens, seinem Politischen Redner als Übungsstoff eine fast

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Weise (1690), fol. 5'. Natürlich gilt die Aussage nicht für den Bereich der auch von Weise schon früh (in Leipzig) gepflegten Kasualpoesie. Aber selbst in der Poesie verfolgt er die so genannte ,Prosakonstruktions-RegeP (die ebenfalls von Gottsched und den Seinen verspottet wurde): „Welche Construction in prosä nicht gelitten wird / die sol man auch in Versen darvon lassen". Christian Weise: Curieuse Gedancken Von Deutschen Versen. Leipzig M702 ['1696], S. 141. Der Nominativ Plural schwankt zwischen „die Complimente" und „die Complimenten". Manfred Beetz: Frühmoderne Höflichkeit. .Komplimentierkunst' und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990; vgl. auch Dietmar Till: Art. .Komplimentier'kunst. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 4. Tübingen 1998, Sp. 1211-1232. So Till (1998), Sp. 1211.

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140 Seiten umfassende „Complimentir-Comoedie" einfügt. Was sind bei ihm Complimente? „Complimenten sind dergleichen Reden, damit in der Conversation, der Mangel würcklicher Auffwartung gleichsam versetzet und vollgefullet wird. Und dannenhero ein zukünfftiger Politicus Ursache hat / bey guter Zeit solcher Übung nachzudencken."18 Den „Mangel würcklicher Auffwartung gleichsam ersetze[n]" - damit befinden wir uns klar im Bereich der dissimulatio - oder: Pragmalinguistisch gesprochen ist hier die sogenannte .Aufrichtigkeitsregel' (rule of sincerity) berührt, die zusammen mit anderen Regeln wie zum Beispiel der der ,Irrtumsfreiheit' zu den Voraussetzungen eines so genannten .gelingenden' oder .glückenden' Sprechakts gehören. Auf die inzwischen fein gesponnenen Varietäten der Sprechakttheorie kann ich mich hier nicht einlassen (vorsichtige Annäherungen an diesen .Ansatz' haben für Weise unter anderem Manfred Beetz und Andreas Gardt unternommen).19 Ich überspringe die essentiell sprachphilosophischer ausgerichtete ursprüngliche Konzeption von John L. Austin (How to Do Things with Words, 1962)20 und konzentriere mich auf John R. Searle (Speech Acts, 1969).21 Dabei ist von Belang, dass Searle in Anlehnung an John Rawls zwischen regulativen und konstitutiven Regeln unterscheidet.22 Die regulative rules kontrollieren die dem Sprechakt selbst vorausgehenden Aktivitäten (also zugleich die Redekontexte), während die constitutive rules die Aktivitäten selbst .schaffen', sie synchron steuern, so wie die Regeln eines Spiels (game)P Zurück zu Christian Weise. Die regulativen Regeln und die situativen Kontexte werden von ihm durchgehend klar und explizit formuliert. Ein Beispiel: „Gesetzt / ich wolte auff einer vornehmen Zusammenkunfft bey der Mahlzeit / einem Bräutigam die Gesundheit seiner Liebsten zutrincken" etc.24 (auf die hier nahe liegenden Kategorien illokutiv, prepositional und dergleichen gehe ich nicht ein, sie sind für unsere Fragestellung nicht einschlägig). Nach solchen Expositionen bietet Weise zumeist zwei oder drei akzeptable Fortsetzungs-Versionen an, und häufig auch eine missglückte; etwa: „Mein Herr / in Betrachtung dessen ungefärbter Affection gegen meine Wenigkeit / habe ich Gelegenheit genommen/ durch diesen Trunck einen Gegen-Blick meiner Dienst-Verbundenheit zu erweisen" usw. also eines der Negativ-Exempla, wie sie auch andere Redelehrbücher und Briefsteller verwenden, die aber Weise besonders beliebt gemacht haben, weil sie effizient „Lust und Nutz" verknüpfen, um eine Weisesche Lieblingsformel zu verwenden.25 18 19

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Christian Weise: Politischer Redner [...]. Leipzig 1683, S. 161. Beetz (1990); Andreas Gardt: Vom „rechten teutschen Wort" zur „galanten Rede". Der Sprachbegriff Christian Weises. In: Behnke u. Roloff(1994), S. 79-101. John L. Austin: How to Do Things with Words. Oxford 1962. John R. Searle: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge 1969. Dazu instruktiv Stephen C. Lenssen: Pragmatik. Tübingen 3 2000, S. 111-121 u. 260-265. Zu beachten ist, dass dies nicht im Sinne eines Wittgensteinschen ,Sprachspiels' zu verstehen ist. Weise (1683), S. 162. Programmatisch im Titel der Sammlung: Christian Weise: Lust und Nutz der Spielenden Jugend. Dreßden α Leipzig 1690. Zu diesem Topos bei Weise: Frühsorge (1974), S. 124-141.

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Hier ist nicht .Aufrichtigkeit' oder Nichtaufrichtigkeit von Belang, sondern Erfolg oder Misserfolg. Der Misserfolg resultiert in diesem Fall aus der Verletzung des aptum bzw. decorum durch Plumpheit und Hyperbolik. Weise fuhrt innerhalb des Complimenten-Teils einen altehrwürdigen Terminus ein, der griechische Vorläufer besitzt, aber erst in lateinischer Fixierung (bei Cicero, Quintilian und anderen) sich durchgesetzt hat: insinuatio26 (Gewinnung von benevolentia, Sympathiegewinnung), eine auch in der antiken Rhetorik durchaus zulässige Technik. Weises Definition in Kapitel II 4 des Politischen Redners die insinuatio wird also eigens eingeführt - lautet: „das rechte Leben und die volle Annehmligkeit in Complimenten bestehet in der Insinuation, das ist / in der artigen Schmeicheley / darmit die Sache recommandirt, und der anderen Person ihre Gewogenheit gewonnen wird".27 Die Differenz ist bemerkenswert: Den „Mangel an würcklicher Auffwartung gleichsam zu ersetzen" ist klare dissimulatio, über deren Legitimität allein der Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Aufrichtigkeit oder Nichtaufrichtigkeit mag im Einzelfall vom Gegenüber wahrgenommen werden, wird aber nicht bewertet. Schmeichelei hingegen lässt sich, auch im Sinne Weises, in ihrer psychologischen Dimension am ehesten mit dem so genannten Implikatur-Ansatz des britischen Philosophen H. Paul Grice fassen (Studies in the Way of Words, 1989), in dem die Sprechakte zwischen Psychologie und Semantik gestellt werden,28 mit starker Betonung der Sprecherintention - und sie lässt Weise bei seinen Beispielen fast immer außer Zweifel. Der Zittauer Schulrektor hat vor allem in seinen späteren Jahren, wie Friedrich Vollhardt gezeigt hat,29 eine eigene Tugendlehre entwickelt, sogar in gesonderten Monographien (interessant ist dabei unter anderem die Anlehnung an das Naturrechtsdenken). In den großen Rhetoriklehrbüchern wie dem Politischen Redner bis hin zu den späten Oratorischen Fragen (1706) und dem Oratorischen Systema (1707) gibt es Beobachtungen zur dissimulatio, ja ihr technisches Durchspielen, und wohl auch Wahrnehmungen von Unaufrichtigkeit, doch ohne dass sie so benannt und als solche verworfen würde. Weises eigentümliche Aufmerksamkeit für Nuancen sprachlicher Handlungen, nicht nur für ihre soziale und situative Angemessenheit, ja geradezu eine Lust an der Vielfalt, aber die Abwehr alles Gekünstelten hat noch andere Gründe. Sie zeigen sich am deutlichsten in den Briefstellern, von denen Weise gleich mehrere herausgebracht hat (der Politische Redner schon enthält ein Briefkapitel). Sie haben aufgrund ähnlicher Qualitäten wie die ,oratorischen' Bücher (solche der methodus Weisiana: Konkretheit, Vielfalt, lockere Präsentation) 26

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Thomas Zinsmayer: Art. ,Insinuatio'. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 4. Tübingen 1998, Sp. 418-423; zur .insinuatio' in Weises Dramaturgie (und Rhetorik) Konradin Zeller: Pädagogik und Drama. Untersuchungen zur Schulcomödie Christian Weises. Tübingen 1980, S. 136-209. Weise (1683), S. 182 f. (im Original Druckfehler S. 182 f.: „in den artigen Schmeicheley"). H. Paul Grice: Studies in the Way of Words. New York 1989; Vorstudie: Η. Paul Grice: Logic and conversation. In: Syntax and semantics. Hg. von P. Cole & J. L. Morgan. New York 1975, S. 41-58. Friedrich Vollhardt: Die Tugendlehren Christian Weises. In: Behnke u. Roloff (1994), S. 331-349.

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starke Wirkungen ausgeübt. Sie traten erst durch das Erscheinen des Briefstellers von Benjamin Neukirch (1709), des neuen Repräsentanten der „galanten Natürlichkeit", in den Schatten.30 Ich brauche kaum daran zu erinnern, dass die ars epistolaris schon seit dem Hellenismus ein klassisches Gebiet der Rhetorik ist. Im Hinblick auf Weise ist die bis zu Cicero zurück reichende Grundvorstellung von Belang, der Brief sei eine kurze Rede eines Abwesenden an einen Abwesenden, und ein freundschaftlicher Briefwechsel sei ein colloquium amicorum absentium: der einzelne Brief also Teil eines solchen colloquium, oder auch Dialogs.31 Die Quasi-Mündlichkeit, die Gesprächshaftigkeit bestimmt denn auch von Weise bis hin zu Geliert (1751, mit dem Kurzentwurf von 1742)32 die Regeln über Gegenstände, Aufbau, Stilformen u. dgl. Aber die Briefgeschichte, auch die Briefstellergeschichte hat im 17. Jahrhundert noch eine besondere Vorgeschichte: nämlich in den Sekretariatskünsten, ,Formularen' und Kanzleihandbüchern, deren erste Titel bis ins ausgehende 15. Jahrhundert, in die Frühzeit des Buchdrucks, zurückreichen. Deren Schemata, Stilarten usw. sind von außerordentlicher Zähigkeit wegen ihrer institutionellen Verankerung, weil sie einen erheblichen Teil der Rechtsverhältnisse und des Rechtsverkehrs bestimmen. Der Kampf gegen den Kanzleistil ist bekanntermaßen ein - sich sukzessiv veränderndes - Dauerthema des 17. Jahrhunderts. Reinhard M. G. Nickisch hat das in seiner Monographie von 1969 im Detail vorgeführt. 33 Die Spanne von 1600 bis 1655 überschreibt er mit dem „Ideal der formvoll-zierlichen Missive", 1655 bis 1709 mit „Von der devotionalen zur insinuativen Zierlichkeit"; und das WeiseKapitel trägt zu Recht den Titel „Die Zurückdrängung des Kanzlistisch-Rhetorischen". Dabei kommt freilich das Produktive, Reformerische, ja die Neugier Weises nicht recht zum Vorschein. Seine breite auch praktische Erfahrung auch auf diesem Feld habe ich schon angesprochen. Zum Problem der .Aufrichtigkeit' und ihren Gegenbegriffen im Bereich des Rednerischen gibt es vielsagende Analogien. Das kann hier nur angedeutet werden. Außer den das Kanzleihafte bezeichnenden Tendenzen ist - nicht nur bei Weise - vor allem das „Gezwungene" ein negativ bewerteter Haupt-Terminus (auch in der Poetik)34; und in der Critischen Dichtkunst ringt sich Gottsched so-

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Benjamin Neukirch: Anweisung zu Teutschen Briefen. Leipzig 1709 (Neuauflagen bis 1760). Zum allmählichen Vordringen des .Galanten' und .Natürlichen' in Weises Lehrbüchern: Agnes Roseno: Die Entwicklung der Brieftheorie von 1655-1709. (Dargestellt an Hand der Briefsteller von Georg Philipp Harsdörffer, Kaspar Stieler, Christian Weise und Benjamin Neukirch.). Würzburg 1933. Zentralstelle bei Cicero: Philippica in M. Antonium II, 4, 7: „amicorum conloquia absentium". Beides in: Christian Fürchtegott Geliert: Die epistolographischen Schriften. Faksimiledruck [...] Mit einem Nachwort von Reinhard M. G. Nickisch. Stuttgart 1971. Reinhard M. G. Nickisch: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Göttingen 1969; Kirsten Erwentraut: Briefkultur und Briefsteller - Briefsteller und Briefkultur. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. von Albert Meier. München 1999, S. 266-285. Stellen bei McBride (1978), S. 76, 129 u. ö.

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gar dazu durch, bestimmte Züge der Verskunst Weises und Günthers (besonders die Verwendung der Daktylen) als „ganz ungezwungen" anzuerkennen.35 Diese axiologische Semantik reicht also bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts (auch zu Geliert) und darüber hinaus. Bei Weise nimmt, wie man beobachtet hat,36 seit den 1680er Jahren die normative Verwendung von „galant" und „das Galante" zu (hier übernimmt dann für den Bereich der Briefsteller Neukirch die Führung). Es ist eine ganze Synonymenkette, die der Sprach- und Stilreformer aus Zittau auf der Seite der .Aufrichtigkeit' dem .Gezwungenen' gegenüberstellt: außer ,galant' auch .natürlich' und das schon genannte .lebendig'; in seiner Poetik vertritt er sogar eine „lebhafte Manier".37 Welche prinzipielle Bedeutung Weise dieser Neuorientierung beimisst, wie viel Selbstbewusstsein das Verhalten gegenüber dem Überholten bestimmt und wie sehr die Propagierung des .Lebendigen' auf seiner .politischen' Experienz aufruht, demonstriert eindrücklich die Vorrede zu seinem schon erwähnten ersten Briefsteller (Curieuse Gedancken Von Deutschen Briefferi), der 1691 erscheint, als er schon mehr als ein Jahrzehnt als Zittauer Gymnasiarch und GroßReformer tätig ist: „ich bin kein Sclave von fremden Gedancken / und in diesen Menschlichen Dingen / die von unserer Vernunfft dependiren / gilt der Locus Autoritatis bey mir so viel / als ich in der Praxi und in der nützlichen Probe selbst fortkommen kann."38 Das ist ein persönlich getöntes, wenn auch gewiss nicht .originelles' Programm, dessen Spuren sich leicht bis etwa zu Francis Bacon zurückverfolgen lassen. Wie weit das spannungsreiche Begriffspaar ratio und auctoritas historisch zurückreicht,39 weiß der Zittauer Verfasser von Logik- und Ethik-Lehrbüchern40 mit Selbstverständlichkeit. Aber alle Beobachtung ist auf die Vielfalt des säkularen Jetzt gerichtet, auf Praxis und aufs Ausprobieren bzw. lernorientierte Experimentieren, und aufs „Fortkommen", den Erfolg. Wenn Weise in der sprachlichen Praxis Handlungen propagiert, die man pragmalinguistisch als .Aufrichtigkeit' fassen kann, dann bleibt das möglicherweise Tugendhafte daran, gar Christliches, außerhalb des Horizonts. Die Lust am .Lebendigen' ist die Lust an der beobachteten und üb-baren Vielfalt, auch die an der Überwindung des ,Gezwungenen', aber vor allem die Orientierung am politischen ,Glück', am Erfolg - und alles dies durch Sprachhandeln beförderbar. Phänomene der Aufrichtigkeit und besonders der Unaufrichtigkeit (die noch nicht so benannt sind) werden - etwa im Umkreis der Complimente - als dissimulatio oder insinuatio wahrgenommen. Eine pragmalinguistische Ausleuch-

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Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst [...]. Leipzig 41751 (Reprint Darmstadt 1961), S. 388. Roseno (1933); McBride (1978). Weise (1702), Teil II, S. 18. Christian Weise: Curieuse Gedancken von Deutschen Brieffen. Dreßden 1691, S. 275. Für die Frühaufklärung: Manfred Beetz: Transparent gemachte Vorurteile. Zur Analyse der „praejudicia auctoritatis et praecipitantiae" in der Frühaufklärung. In: Rhetorik 3 (1983), S. 7-33. Die Titel (auch die lateinisch verfassten) finden sich etwa bei Horn (1966), S. 297-306.

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tung des Terrains hilft erkennen, dass für Weise nicht das Gelingen eines Sprechakts im Zentrum des Interesses steht, sondern der .politische' Erfolg. Die psychologischen Aspekte, die bei dieser Strategie durchaus von Belang sind, lassen sich am ehesten mit dem Implikatur-Ansatz von Grice fassen, vor allem in der Berücksichtigung der Intention. Programmatische Tendenzen zur .Lebendigkeit', .Natürlichkeit', .Aufrichtigkeit' dürfen nicht verdecken, dass die weiter dauernde Bindung an regulative Systeme wie Complimentierkunst oder .galanten' Stil unter pragmalinguistischer Perspektive Widersprüche schafft, oder genauer: Abstufungen von .Aufrichtigkeit'. Noch Geliert vertritt in seinem epochalen Briefsteller von 1751 „das Lebhafte", einen Sprachduktus „ohne Zwang", „das Volle und das Muntre in der Schreibart". 41 Seine kultivierte ,Natürlichkeit' hat jenes Dilemma der A u f richtigkeit' immer noch nicht überwunden, das Weise für das letzte Drittel des 17. Jahrhunderts erkennbar werden ließ. Resonanz aber verschaffte ihm, dass er die Vielfalt seiner aktuellen „Experienz" dem Erfolg des ,Politicus' dienstbar machen konnte. Aufrichtigkeit? Die Frage lässt sich für Christian Weise nur eingeschränkt beantworten.

41

Geliert: Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Stuttgart 1971, S. 33 u. 39, S. 10, S. 74.

,Teutsche' Redlichkeit und wahres Sprechen

Klaus Garber

Pastorale Aufrichtigkeit Ein Blick in Georg Philipp Harsdörffers und Johann Klajs Pegnesisches Schäfergedicht

Aufrichtigkeit steht in der pastoralen Welt im Kontext einer Trias zusammen mit Bescheidenheit und Redlichkeit. Umfangen wird sie - weniger in der pastoralen Poesie als in der pastoralen Poetik - durch einen auf andere Weise ausgezeichneten Begriff, den der Niedrigkeit. Humilitas lautet das Fach- und Kernwort, über das auch simplicitas, modestas und sinceritas im Gefolge der lateinischen Tradition anschlussfahig werden. Dieser theoretische Horizont muss daher zunächst ganz knapp erinnert werden, bevor wir uns nach gutem philologischem Brauch einem einzigen Text zuwenden wollen, um die Trias nun mit der Aufrichtigkeit in der Mitten als geheimes Kraftzentrum pastoraler Poesie des 17. Jahrhunderts zu entfalten.1

Pastorale humilitas Zunächst zum theoretischen Horizont, ohne den die Praxis unverständlich bliebe. Humilitas mit einem Hof weiterer Begriffe um sich regiert die Gattung seit ihren ersten reflexiven Verlautbarungen, wie sie in den Eklogen Vergils selbst und sodann in den Vergil-Viten und -Kommentaren des Donatus und Servius vorliegen. Über sie formt sich das Bild der Gattung, das sich in beispiellosen Modulierungen bis ins späte 18. Jahrhundert hinein unentwegt erneuert und ausdifferenziert. Eine Geschichte der europäischen Literatur und der jeweiligen zeitgenössischen Verlautbarungen über sie ließe sich sehr wohl in perspektivischer pastoraler Verkürzung entwerfen. Denn es ist das Wesen dieser Gattung,

Dem Beitrag liegt ein größeres Manuskript zugrunde, das deutschsprachig noch unpubliziert ist, jedoch einging in: Klaus Garber: Nuremberg, Arcadia on the Pegnitz. The SelfStylization of an Urban Sodality. In: Imperiled Heritage: Tradition, History, and Utopia in Early Modern German Literature. Selected Essays by Klaus Garber. Hg. u. eingel. von Max Reinhart. Aldershot u. a. 2000, S. 117-208. Die die Abhandlung beschließenden 13 Thesen sind in deutscher Fassung erschienen: Klaus Garber: Pastorales Dichten des Pegnesischen Blumenordens in der Sozietätsbewegung des 17. Jahrhunderts. Ein Konspekt in 13 Thesen. In: „der Franken Rom". Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. von John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 146-154. Die englischsprachige Fassung ist mit weiterfuhrenden Literaturangaben ausgestattet, so dass sich Wiederholungen - von Ausnahmen abgesehen - erübrigen.

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dass sie sich in Beziehung zu den anderen, und das heißt: den ganz andersgearteten, selbst setzt und entsprechend von den Theoretikern ihrerseits gerückt wird. Nur im Kosmos der europäischen Literatur - um nicht zu sagen: des alteuropäischen Literatursystems - ist ihre Einzigartigkeit und Unvertretbarkeit zu fassen: Sicelides Musae, paulo maiora canamus! non omnis arbusta iuvant humilesque myricae. si canimus silvas, silvae suit consule dignae. Musen Siziliens, auf! Laßt höhere Weisen ertönen! Reben und Myrtengehölz, das bescheidene, fruchtet nicht jedem; Singen wir Wälder, so sein'n des Konduls würdig die Wälder.2

So der Eingang zu dem berühmtesten Stück, das in der gut zweitausendjährigen Geschichte der Gattung zustande gekommen ist, Vergils vierter Ekloge, von der Ernst Robert Curtius vermutlich zu Recht sagen konnte, dass sie der meistgelesene Text der europäischen Literatur nach der Bibel sei - zumindest, so fügen wir hinzu, bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts, solange das humanistische Gymnasium intakt war.3 „Paulo maiora canamus!" - „ein wenig Größeres wollen wir singen." Ein erhabenerer Vorwurf indes hätte nicht gewählt werden können, nicht nur in den silvae, den Eklogen, sondern in der Literatur überhaupt. Geweissagt wird nicht weniger als die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters und mit ihr die Geburt eines Kindes, mit dem im Kontext der Eklogen nur Oktavian gemeint sein konnte. Der Dichter der Hirtenlieder ist nichts anderes als ein vates, der seinem Volk unter Zuhilfenahme antiker aetas-aurea- und sibyllinischer Weissagungsformeln in verschlüsselten Bildern seine große Zukunft prophezeit, also das kardinale epische Thema der Aeneis bukolisch präludiert. „Paulo maiora canamus!" - „ein wenig Größeres wollen wir singen." Was ist es „Größeres", das mit dieser vierten Ekloge ins Spiel kommt? Der Verzicht auf die pastorale Rahmung und die dezidierte Rollensprache der Prophetie. Nicht weniger, aber auch nicht 2 3

Vergil. Eklogen. Übs. von Rudolf Alexander Schröder. Frankfurt a. Μ. 1952, S. 35. Die Zeugnisse des Donatus und Servius zusammen mit anderen zweisprachig am leichtesten greifbar in: Vergil: Landleben. Bucolica, Georgica, Catalepton. Hg. von Johannes u. Maria Götte. Vergil-Viten. Lateinisch und deutsch. Hg. von Karl Bayer. München41981. Dazu die beiden maßgeblichen älteren Editionen: Scholia Bemensia ad Vergili Bucolica atque Georgica. Hg. von Hermannus Hagen. Leipzig 1861 (Nachdruck: Hildesheim 1967); Servii grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii recensuerunt Georgius Thilo et Hermannus Hagen. Vol. I.: Aeneis I-V (1881). Vol. II: Aeneis VI-ΧΠ (1884). Vol. ΠΙ/1: Bucolica et Georgica (1887). Vol. ΙΠ/2: Appendix Serviana. Leipzig 1881-1887 (Nachdruck: Hildesheim 1961, 2. Nachdruck: 1986). Dazu - mit Rückgriff auf die antiken Kommentatoren - die klassische Abhandlung von Werner Krauss: Über die Stellung der Bukolik in der ästhetischen Theorie des Humanismus. In: Archiv fur das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen 174 (1938), S. 180-198, wiederabgedruckt in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Literatur- und Sprachwissenschaft. Frankfurt a. M. 1949, S. 68-93, sowie in: Europäische Bukolik und Georgik. Hg. von Klaus Garber. Darmstadt 1976, S. 140-164, sowie in: ders.: Cervantes und seine Zeit. Hg. von Werner Bahner. Berlin 1990, S. 235-254, mit der ,editorischen Anmerkung' des Herausgebers S. 483 f.

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mehr. Entscheidend ist, dass das Gedicht dem bukolischen Zyklus integriert bleiben kann. Es fallt aus ihm nicht heraus. Es radikalisiert in Anspruch und Ton, was auf andere Weise auch in anderen Eklogen zu lesen war. Die der vierten an Berühmtheit fast ebenbürtige erste, aber auch die neunte Ekloge hatten auf die künftige Friedensherrschaft Oktavians gezielt, in die fünfte Ekloge war die politische Wende Roms eingeschrieben worden. Das epische Sujet imperialer Friedensherrschaft des genus grande war dem genus humile der Bukolik also nicht fremd, es war ihm eingewoben, und deshalb konnte auch die vierte Ekloge dem Kranz zugesellt werden. Es blieb nicht das einzige große Thema der niederen Gattung. Die sechste Ekloge sang in der Manier des Lukrez von der Entstehung der Welt, die achte versuchte sich an der Deutung Amors etc. Der thematische Radius der Pastorale ist seit dem Archegeten der Gattung unbegrenzt. Noch die Tragik als Ingredienz der späteren Großformen des Schäferdramas wie des Schäferromans, selbstverständlich aber auch der pastoral-petrarkistischen Liebeslyrik, ist ihr dezent von den antiken Gründervätern eingezeichnet.4 Nicht also über die Themen, sondern über die Form konstituiert sich die von den Pastoraldichtern und ihren Theoretikern reklamierte humilitas. Es sind Hirten, die von den höchsten Dingen singen. Deshalb das „paulo" im ersten Vers der vierten Ekloge. Nur um ein weniges verrückt der Dichter die Verhältnisse. Er verzichtet auf die pastorale Szenerie, bleibt im Übrigen aber bei seinem Sujet. Es ist nicht gattungsfremd, sondern gattungseigen. Die Konstruktion der Gattung beruht seit Vergil darauf, dass niederstem Personal - Schafhirten höchste Gegenstände in den Mund gelegt werden können. An dieser Paradoxie haben sich die Poetologen zwei Jahrtausende lang abgearbeitet und die Poeten die Lizenz fur eine allegorische Praxis gefunden, die in der europäischen Literatur keine Parallele hat. Das genus humile mit dem Hang zu Sujets des genus grande lebt mit anderen Worten aus der Paradoxie dessen, was gemäß strenger Gattungslehre als hierarchisch gefügter nicht sein darf. Die Bukolik - oder wie wir in terminologischer Überblendung auch sagen: die Pastorale - oszilliert zwischen niederster und höchster Rangstufe, und eben aus diesem ständigen Changieren zieht sie wenn nicht poetologisch, so doch in der poetischen Praxis ihre besten Kräfte. In ihr kann das Höchste uneigentlich gesagt und das Niederste unversehens als das Höchste in Erscheinung treten. In der immer wiederkehrenden Rede vom Hirten als geheimem König hat diese Vertauschung der Hierarchien ihre prägnante Formel gefunden.5 4

5

Aus der unermesslichen Vergil-Literatur seien hier mit Blick auf die obigen Andeutungen drei gezielte Hinweise auf die ältere deutschsprachige Literatur gestattet: Friedrich Klingner: Römische Geisteswelt. Hamburg u. München 41961, hier S. 239 ff.; die vier einschlägigen Beiträge: Vergil: Wiederentdeckung eines Dichters; Die Einheit des Vergilschen Lebenswerkes; Vergil und die geschichtliche Welt; Das erste Hirtengedicht Vergils. Sodann (insgesamt zu wenig gewürdigt) Vinzenz Buchheit: Vergil über die Sendung Roms. Heidelberg 1963; ders.: Der Anspruch des Dichters in Vergils Georgica, Dichtertum und Heilsweg. Darmstadt 1972. Schließlich mit Blick auf die epischen Anschlüsse Viktor Pöschl: Die Dichtkunst Virgils. Bild und Symbol in der Äneis. Darmstadt 21964. Dieser .Kunstgriff scharf gesehen von Helmut J. Schneider (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Mit einer Einführung und Erläuterungen. Tübingen 1988, S. 16 ff.: Imi-

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Um noch einmal einen nun direkt zu unserem Thema führenden Einsatz zu nehmen: Es sind Vertreter des niedersten Standes, denen das Höchste zu artikulieren gegeben, wo nicht sogar vorbehalten ist. Ihre Reden sind beglaubigt durch die Würde des Ursprungs. Schäfer, so Bibel und antike Mythologie, betreiben ein erstes und ursprüngliches Geschäft des Menschen. Sie sind biblisch gesprochen schöpfungsnah und also paradiesisch angehaucht - und antik gesprochen naturnah und also den Kräften des Kosmos affin. Im Gesang liegt in beiden Fällen ihre Prädestination zur Wahrnehmung des dichterischen Geschäfts. Was aus ihrem Mund verlautet, mag der Unwissende als Verlautbarung eines sozial niederen Wesens verkennen. Der Wissende weiß die pastoralen Worte geadelt durch den Nimbus des Ersten und Uranfanglichen, und der Dichter als Hirtendichter zehrt von diesem Nimbus. Der Schäfer ist mit anderen Worten eine Kreuzung aus seiner weltlichen und also geschichtlichen und transitorischen Eigenschaft als Angehöriger eines niederen Standes und seiner ontologischen bzw. theologischen und also transtemporalen Eigenschaft als Repräsentant des Menschen schlechthin. Seine soziale humilitas ist in poetischer Metamorphose seine humanitas, und seine simplicitas nicht anders als seine modestas oder integritas rühren in poeticis daher, dass der Schäfer sich aufgerufen weiß zu Höchstem und zugleich doch im Niedersten verharrt, ist jenes doch nur um den Preis von diesem zu haben.6 In diesem Sinn ist der sermo humilis von niemandem mit mehr Recht artikuliert worden als von dem Schäfer, der einmal als Tityrus christianus biblische Weihen auf sich zieht, ein anderes Mal als Tityrus Vergilianus Träger der antiken Verheißungen auf der Schwelle der Zeiten bleibt. Letztlich ist es nur den dem Ursprung und dem Schöpfungsstand Verhafteten eigen, das Ethos des Menschlichen zu erfüllen. Daher die Affinität der Bukolik zur Satire, wie sie alle Theoretiker herausgestellt haben. Als der im Status von Natur Verharrende ist der Schäfer prädestiniert zur Kritik an allem, was durch den Terminus ,zweite Natur' umschrieben ist. Er ist Garant der Würde und Unverbrüchlichkeit der ersteren. Dass wir hier aber nicht in Ursprungs-Mythologica oder -Theologumena verfallen, sondern nur die Gattungskonstruktion umreißen, die sich in jedem gelungenen Stück mit geschichtlichem Leben erfüllt, soll nun, wie angekündigt, an einem Beispiel demonstriert werden.7

tatio und goldenes Zeitalter. Die antik-humanistischen Voraussetzungen der Hirtendichtung; Exemplifkation an dem Gattungsmodell bei Klaus Garber: Arkadien und Gesellschaft. Skizze zur Sozialgeschichte der Schäferdichtung als utopischer Literaturfoim Europas. In: Utopieforschung. Interdisdiziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 2. Hg. von Wilhelm Voßkamp. Stuttgart 1982, S. 37-81 (Zweitausgabe: Frankfurt a. M. 1985). Zum Kontext bekanntlich Erich Auerbach: Sermo humilis. In: ders.: Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter. Bern 1958, S. 25-63; ders.: Sacrae scipturae sermo humilis. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Romanischen Philologie. Bern u. München 1967, S. 21-26. Dieser Zusammenhang mit der Satire wird gern gerade bei den Nürnbergem, insbesondere bei Birken, herausgestellt.

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Adaptation im pastoralen Archetypus des ,Pegnesischen Blumenordens' Das Beispiel ist der Kulmination der Gattung in Deutschland um die Mitte des 17. Jahrhunderts entnommen, einem ihrer großen und in gewisser Hinsicht nach Martin Opitz nochmals musterbildenden Stücke: Georg Philipp Harsdörffers und Johann Klajs Pegnesischem Schäfergedicht, 1644 bei Endter in Nürnberg erschienen. Weit mehr als hundert Nachfolger wird es allein in Nürnberg hervorrufen, gleich ein Jahr später Birkens weit anspruchsvollere, in der Kunst der Überbietung sich übende Fortsetzung zeitigen. Abgesehen vielleicht von Helwigs wenig späterer Nymphe Noris bleibt der Norische Archetypus doch wohl das gelungenste Stück. Ein entsprechender Erweis jedoch würde in eine andere Richtung fuhren. Wir lesen den Text im Blick auf Aufrichtigkeit und verwandte Tugenden und werden, so darf vorausgeschickt werden, nicht enttäuscht werden. Befähigung zu genauem Lesen wird uns freilich ebenso abverlangt werden wie Mut zur Spekulation im unverächtlichen Hegeischen Sinn. Denn die niedere Gattung als allegorische hat es nun einmal in sich.8 Was bei Vergil als Vierzeiler der vierten Ekloge vorausgeschickt war, kann in der selbständigen und geräumigen Prosaekloge mit eingelegten Versen in einer Adresse an den Leser eigens in einem Prosa-Passus wenn nicht entwickelt, so doch angedeutet werden. Seit Theokrit und Vergil hätten „die Poeten ihre liebreichste Kunstgedanken durch lustige Schäfergedichte an= und ausgebildet", (f. A2V) Das ist eine Opitz in der Tradition Scaligers noch fremde Bestimmung. Eine Verlagerung auf die angenehme, wohllautende, lusterregende Machart des Schäfergedichts scheint sich anzubahnen. Aber das ist eher aus der Kenntnis der Texte der Nürnberger heraus gedacht. Harsdörffer, den wir als Verfasser der Anrede an den Leser vermuten dürfen, verbleibt im angedeuteten Rahmen, wenn er noch im gleichen Satz feststellt, das Schäferleben habe den Dichtern „vielleicht darum beliebet / weil das Sorgenlose Hirtenleben ein uhralter / nohtwendiger / unschuldiger / und dem höchsten GOTT wolgefalliger Stand ist: Massen mit Im Folgenden im Haupttext mit Seitenangabe zitiert nach: Georg Philipp Harsdörffer, Sigmund von Birken u. Johann Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht 1644-1645. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 1966. Aus der jüngsten Literatur: Michael Schilling: Gesellschaft und Geselligkeit im „Pegnesischen Schäfergedicht" und seiner „Fortsetzung". In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Hg. von Wolfgang Adam. Band I-II. Wiesbaden 1997, S. 473-482; Ernst Rohmer: Friedenssehnsucht und Landschaftsbeschreibung. Der Realismus des ,locus amoenus' in der Dichtung der Pegnitz-Schäfer um 1650. In: Morgen-Glantz 9 (1999), S. 53-79; Michael Schilling: Wildnis, Liebe, Sprache. Zur befriedeten Natur in der deutschen Schäferdichtung des 17. Jahrhunderts. In: Der Frieden - Rekonstruktion einer europäischen Vision. Bd. 1: Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion - Geschlechter - Natur und Kultur. Hg. von Klaus Garber, Jutta Held α a München 2001, S. 715-724. Zur Gattung zuletzt erhellend Christiane Caemmerer: Drei in einem? Schäferdichtung als Prosatextsorte. In: Textsorten deutscher Prosa vom 12./13. bis 18. Jahrhundert und ihre Merkmale. Hg. von Franz Simmler. Bern u. a 2002, S. 53-64; Martin Disselkamp: „Der Pegnitz-Hirten Freuden-Klang". Zu Funktion und Ideologie bukolischer Lieder in ,pegnesischen' Hochzeitsdichtungen. In: Morgen-Glantz 14 (2004), S. 105-138. Wichtige Beiträge zur Gattung finden sich auch in der neugegründeten komparatistischen Zeitschrift: Comparison 3.2 (1993).

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selbem der Geist= und Weltliche verglichen wird" (f. A2V). Schäfertum ist mit Donatus und Servius, Scaliger und Vossius und wie sie heißen der älteste Stand, so wie bukolische Poesie die älteste Gattung - vetustissimum genus. Als solcher ist er ein von Gott verordneter („nohtwendiger") und integrer („unschuldiger" und Gott „wohlgefälliger") Stand - eben eine flgura des gottesebenbildlichen Geschöpfes. Dieser Ingredienzien einer uralten Tradition sich versichernd, erhebt der Dichter jeweils in bestimmter geschichtlicher Stunde das Wort. Die Bevorzugung des Schäfergedichts hat also mit der Auszeichnung des Standes zu tun, der als uranfanglicher schöpfungstheologisch privilegiert und zugleich als Emblem weltlicher wie geistlicher Regentschaft allegorisch prominent besetzt ist. Die Attraktion des literarisch distinguierten Schäfers veranlasst die Dichter - Opitz, Paul Fleming und Philip Zesen werden von Harsdörffer aus Deutschland erwähnt, alle drei Schöpfer von Prosaeklogen - immer wieder, ihre „liebreichsten", sprich ausgezeichnetsten „Kunstgedanken" gerade dieser Gattung anzuvertrauen.9 Man vernimmt den Schöpfer der Gesprächspiele und des Poetischen Trichters, der es in wenigen Sätzen vermag, das Besondere der Gattung zu umreißen und zugleich neue Rätsel aufzugeben. Diejenigen seien auf dem Irrweg, die vermeinten, „daß die Schäfer dergleichen Vnterredungen nicht führen / ja solche zu verstehen nicht fehig weren" (f. A2V), Szenen aus dem realen schäferlichen Leben würden nur Verdruss statt „Belustigung" hervorrufen. Das literarische Schäfertum führt ein eigenes Leben, und das Vehikel der Transposition realer schäferlicher Obliegenheiten in literarisch qualifizierte ist die Allegorie, denn „diese Schäfer durch die Schafe ihre Bücher / durch derselben Wolle ihre Gedichte/ durch die Hunde ihre von wichtigen Studieren müssige Stunden bemerket haben. Welche sie dem Leser Eingangs anzumelden nicht ümgehen sollen." (f. A2V) Die Schäfer also sind umstandslos gleichzusetzen mit den Poeten. Zu dieser simplen Operation ermächtigt uns auch diese Vorrede. Was dann aber über ihre Schafe, deren Wolle und die zu ihnen gehörenden Hunde verlautet, dürfte kaum jemals in der dichterischen Praxis in diesen Bedeutungen anzutreffen sein. Es ist nicht sicher, aber doch denkbar, dass Harsdörffer selbst der Erfinder dieser Allegorien ist, ja womöglich die allegorische pastorale Praxis nochmals allegorisch überbietet, ihr tiefsinniges geheimnisvolles Wesen in grelles Licht rückend und in gleichem Atemzug kaschierend und ins Uneindeutige zurücknehmend. Die pastorale literarische Praxis ist mit anderen Worten ihrerseits ein concetto, wie ihn niemand im 17. Jahrhundert souveräner handhabte als eben dieser Nürnberger. Doch genug der Prolegomena. Wir sind auch durch den Schäfer-Dichter gerüstet und ermächtigt zum allegorischen Lesen. Und diese Lizenz wollen wir uns nicht nehmen lassen. Das Gedicht selbst wird bekanntlich eröffnet durch die Begegnung des Emigranten Klaj alias Clajus mit dem Patriziersohn Harsdörffer

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Eine Geschichte der bukolischen Vorreden-Poetik fehlt. Neben Garber (2000) vgl. etwa auch mit Gewinn Jane O. Newman: Pastoral Conventions, Poetry, Language, and Thought in Seventeenth-Century Nuremberg. Baltimore u. London 1990.

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alias Strefon vor den Toren Nürnbergs an den Ufern der Pegnitz. Der aus Meißen Verschlagene hat einige Kostproben seiner Kunst geliefert, den Pegnitzstrom und Nürnberg besungen, wehmütig seiner Heimat gedacht, bevor er — ein zweiter Meliboeus - auf den sorgenlos im Schatten weidenden und singenden Strefon trifft, dem die gleiche Muße beschieden ist wie dem Vergilschen schäferlichen Archetypus Tityrus. Wir müssen es uns versagen, diesen großartigen Eingang hier zu betrachten - eine der Perlen der pastoralen Poesie in Deutschland - , und gleich zu den beiden Freunden kommen. Das erste, was aus Strefons Mund vernehmbar wird, ist ein daktylischer Lobpreis auf die Freuden des schäferlichen Lebens. Jeder Liebhaber der Lyrik des 17. Jahrhunderts kennt diese Zeilen, so etwa die aus der zweiten Strophe: Ich lebe mit Ruh in kleebaren Auen / Vergnüget in meinem niedrigen Stand / Die / welche zu Hof auf Hoffnungen bauen / Befesten den Grund auf weichenden Sand (f. B2 r )

Da ist er neuerlich, der niedere Stand, spielerisch in Antithese gesetzt zum Hof und jenes Vergnügen auf Dauer begründend, das an der Spitze bei Hofe nicht gegeben ist. Wir werden uns hüten, an dieser Stelle bereits weiterzugehen. Phänomenologische Geduld scheint uns auch eine philologische Tugend. Der Kreis der Beobachtungen will weiter ausgeschritten sein, bevor Umrisse einer Deutung erkennbar werden. Gewiss nur, so der Gang des Gedichts, dass schäferliches Leben begabt ist mit Freiheit zum Gesang, und dieser Gesang ein solcher ist, der am Spiel von Klängen und am Erfinden von Bildern sein Genügen findet. Wenn diese Schäfer, wie es in den beiden letzten Zeilen heißt, fortziehen „mit unseren Hürden / Vnd weiden in Freuden unsere Schaf', so wissen wir, dass dieses Weiden ein poetisches ist. Und wenn dann, wie in der vorletzten Strophe, „reichlich bereiffte Früchte gefallen [sind] Vnd lieget in Wochen das heurige Jahr", so war und ist die poetische Ernte dieser Hirten an der Pegnitz eine ergiebige. „Der unwürdig Spielende", wie es in einer subscriptio heißt (f. B2V), hat diese poetischen Spiele ersonnen. Der Ruhm des Mitglieds der Fruchtbringenden Gesellschaft, dessen Gesellschaftsname hier Erwähnung findet, ist weit über Nürnberg hinausgedrungen. Und so vermeint auch der mittel- und fast noch namenlose Clajus, ihn in erlesener höfischer Rede ansprechen zu sollen: „Lobwürdigster Strefon / der gütige Himmel / der ihn sonst mit hohen Glükseligkeiten beschenket / der bereichere ihn ferner mit behäglicher Zufriedenheit / kan ich bittselig seyn / seiner Vnterredung auf eine kleines zu gemessen." (f. B2V) Doch diese unterwürfige Rede passt nicht in die pastorale Landschaft, in der gleich und gleich sich zu begegnen bestimmt sind. Klajus - so Strefon müsse hiesiger Orten ein willkommener Gast seyn / so hohe Begrüssungen und Hofworte / wie er führet / wohnen nicht in unseren niedrigen Hütten / sondern die liebe Einfalt / und offenhertzige Teutsche Redlichkeit: Beliebe demnach meinem Schäfer mit der Heerde zu folgen / hab ich mich seiner Gegenwart zu erfreuen/ weilen seine Geistreiche Hirtengedichte von der Elbe bis an die Pegnitz bereit erschollen, (f. B2V)

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Das Kompliment also will erwidert sein. Für den Insider der literarischen Szene ist auch Klajus kein Unbekannter mehr. „Hofworte", die Ränge zuweisen, Abstände markieren, mit dem Verdacht der unschäferlichen Unaufrichtigkeit behaftet sind, haben an „hiesigen Orten", in „niederen Hütten" keinen Platz. Hier werden „die liebe Einfalt", die „offenhertzige Teutsche Redlichkeit" gepflegt. Sollte es gelingen, diese aus anderen Kontexten wohlvertrauten Formeln mit geschichtlichem Leben zu erfüllen, wäre der pastorale Code gewiss zu einem Gutteil dechiffriert, und damit auch dem Thema des vorliegenden Bandes aus der Optik der Pastorale Genüge getan. An lieblichem Ort, umspült von der Pegnitz, begegnen sich die beiden Dichter. Ihr Tun und poetisches Treiben ist umfangen von Natur. Gesellschaftliche Hierarchien und Zwänge der Realität, indiziert im Hof, der stets den allegorischen Gegenpol zur schäferlichen Welt markiert und selbstverständlich nicht als Topos von Hofkritik misszuverstehen ist, sind abwesend. In der heiteren Landschaft erneuern sich die Züge der paradiesischen Frühe. Und so liegt auf den Worten und den Liedern der Hirten immer auch ein Abglanz jener ersten Zeit. Der Schäfer als Dichter darf für sich in Anspruch nehmen, dass für ihn und seinesgleichen die „liebe Einfalt" und „offenhertzige Teutsche Redlichkeit" verbindliche Werte sind - geblieben sind, wie wir hinzufügen. Er ist ihr prädestinierter Sachwalter und Dolmetscher, schlägt er doch eine Brücke zwischen dem Einst und dem Jetzt, zu der sein Stand ihn in einzigartiger und unvertretbarer Weise ermächtigt. Er ist Bürge und Garant von Kontinuität, und damit von Tradition. Was so durch die Zeit geadelt ist, als Neues im Alten und Verbürgten sich zu erkennen gibt, im Dichter-Schäfer inmitten der lieblichen Schöpfung seine Verkörperung und damit seine Beglaubigung findet, hat Anrecht darauf, ernst, nicht aber beim Wort genommen zu werden. Die Tugenden, die da im Pegnesischen Schäfergedicht aufgerufen werden, sind genau jene, die überall in den Gründungszeugnissen der Dichtergesellschaften, als welches ja auch das Pegnesische Schäfergedicht gelesen werden darf, bemüht werden - bis hinauf zu den Verlautbarungen im Umkreis der Fruchtbringenden Gesellschaft. Es handelt sich um programmatische Archetypen der Sozietäten, zu denen der rechte Schlüssel offensichtlich bislang immer noch fehlt. Verharren wir bei unserem Text, so ist als Erstes festzuhalten, dass sie von der Aura des Althergebrachten, immer schon Gültigen, den Menschen Auszeichnenden umgeben sind. In der Gegenwart freilich scheinen sie bedroht, stehen in Gefahr, durch andere Verhaltens- und Redeweisen ersetzt oder doch überformt zu werden, modernen, im Hof bedeuteten Maximen und Strategien weichen zu müssen. So gesehen empfangt der schäferliche Raum der Gegenwart den Status eines Reservats. Hier ist wie selbstverständlich die Regel, was anderwärts, außerhalb der Enklave, seine einstige Kraft eingebüßt hat. Das aber ist deshalb erschreckend und gefahrlich, weil die Tugenden ja ein gewichtiges Epitheton mit sich fuhren. Sie sind national spezifiziert. Die offenherzige Redlichkeit, von der Strefon, Klaj begrüßend, behauptet, dass sie unter den Pegnitzhirten zuhause sei, hier also im Reservat ungebrochen fortlebe, ist eine „teutsche", und so gewiss nicht anders die „liebe Einfalt". Auch das ist bekannt-

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lieh keine Erfindimg d e s Nürnbergers oder der Nürnberger, sondern bei den Straßburgern, den Hamburgern, den Leipzigern, selbst den Fruchtbringern überall bis in den Wortlaut hinein in gleichen W e n d u n g e n z u lesen. Es m u s s sich also u m Essentials des pastoral-sozietären Selbstverständnisses handeln. Wir w o l l e n gleichwohl der Versuchung widerstehen, bereits spekulativ im angedeuteten Sinn tätig z u werden, und uns i m Text zunächst weiter umtun. 1 0 Eben hat Strefon n o c h eine weitere Probe seiner Sangeskunst vorgetragen, das Wasserrad an der Pegnitz b e s u n g e n und der H o f f n u n g Ausdruck g e g e b e n , dass d e m Silberbache gleich auch die Tinte aus der Feder rinnen m ö g e „in die Felder Teutscher Sprach", da ist auch schon „die M e l a n c h o l i s c h e Schäferin Pamela" zur Stelle, „die ihr sicherlich einbildete / sie were das arme und in letzten Z ü g e n liegende Teutschland." (f. B3 r s.) Sie ist v o m Wahnsinn s o gezeichnet w i e alle Frauengestalten seit Dantes Comedia

und Petrarcas Episteln,

in denen der

Schmerz über das daniederliegende und verwüstete Mutterland sich in Physiog n o m i e und Verfassung düster und geistesentrückt ausgeprägt hat. Sie alle verdienten einmal ein vergleichendes, groß angelegtes europäisches Porträt, denn Prophetinnen und Schicksalsgöttinnen gleich stehen sie vor den Portalen am Eingang z u den werdenden und kriegerisch sich zerfleischenden N a t i o n e n d e s frühmodernen Europa. Rasend vor Schmerz bricht auch Pamela in „Schwarmreden" aus, denen j e d o c h nur allzu offensichtlich nichts anderes als die schiere Wahrheit eignet. U n d w i e z u m Siegel dafür verlauten sie in einer Sprache, die

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Die einschlägige Literatur zu den Sozietäten zuletzt zusammengeführt bei Klaus Garber: Gelehrte Gesellschaften Europas in der Perspektive der longue duree. In: Das Haus Salomon und seine Nachbarn. Institution und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Hg. von Martin Gierl [im Druck]. Die Zeichen mehren sich, dass die politische und kulturpolitische Funktion der sog. .Sprachgesellschaften' allmählich in das Blickfeld rückt. Vgl. Dieter Merzbacher: Der Abendmahlstreit zwischen dem Vielgekörnten und dem Spielenden, geschlichtet vom Unveränderlichen. Georg Philipp Harsdörffers Lehrgedicht ,Vom Abendmahl Christi' in einer Anhalter Akte aus dem Jahr 1651. In: Daphnis 22 (1993), S. 347-392; Manfred Beetz: Wirklichkeit und Wirkung von Geschichte für die Idee einer deutschen Nationalsprache in den Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Diss. phil. Heidelberg 1995; Max Reinhart: Battle of the tapestries, a war-time debate in Anhalt-Kothen, Georg Philipp Harsdörffer's ,Peristromata Turcica' and ,Aulaea Romana'. In: Daphnis 27 (1998), S. 291-333; Wilhelm Kühlmann: Sprachgesellschaften und nationale Utopien. In: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Dieter Langewiesche u. Georg Schmidt. München 2000, S. 245-264; Klaus Manger (Hg.): Die Fruchtbringer - eine Teutschhertzige Gesellschaft. Heidelberg 2001, hier vor allem die die weiteren Zusammenhänge ins Auge fassenden Beiträge von Georg Schmidt und Klaus Manger. Zum Kontext jetzt beachtenswert Markus Hundt: ,Spracharbeit' im 17. Jahrhundert, Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz. Berlin u. New York 2000. Vgl. auch Andreas Gardt: Das Konzept der ,Eigentlichkeit' im Zentrum barocker Sprachtheorie. In: Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen, Gegenstände, Methoden, Theorien. Hg. von Andreas Gardt. Tübingen 1995, S. 145-167, sowie die einschlägigen Beiträge in dem Sammelband: Nation und Sprache, die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Hg. von Andreas Gardt. Berlin u. New York 2000 (insbes. Joachim Knape: Humanismus, Reformation, .deutsche Sprache' und .Nation', S. 103-138, sowie Thorsten Roelcke: Der Patriotismus der barocken Sprachgesellschaften, S. 139-168, jeweils mit reicher Literatur).

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eben mit diesen und anderen Versen im gleichen Gedicht ein erstes Mal in der deutschen Sprache vernehmbar wird.1' Der Krieg hat das Land ergriffen. Er ist nicht von außen hereingebrochen. Er wütet unter den „Teutschen Stämmen". Es herrscht Bürgerkrieg, so wie wenig vorher in Frankreich oder in den Niederlanden, den Opitz ein gutes Jahrzehnt früher besungen hatte. Niemals sind die Deutschen von auswärtigen Mächten besiegt worden, die Tapferkeit „von alter Zeit", von „der Teutschen Adelheit" hat sie vor dieser Schmach bewahrt. Doch nun verrichtet der Hass im Innern, was der Feind von außen nicht vermochte: Wie kan dann die Drachengallen Vnter Nahgesipten wallen? Wie hat doch der Haß forthin Ganz durchbittert ihren Sinn? Meine Söhne / jhr seyd Brüder / Leget eure Degen nieder! Schauet doch mein Mutterherz Threnen / ob dem Heldenscherz! (f. B3V s.)

Gäbe es eine Kultur des literarischen Gedächtnisses in Deutschland - und nicht stattdessen prominente Vertreter innerhalb unserer Zunft, die sich ihrer Unterminierung medienwirksam mittels kurzatmiger Erzählungen befleißigen - , auch Stücke wie dieses hätten wohl ein Anrecht darauf, erinnernd bewahrt zu werden. Die Diversifikation der Nation, im 16. Jahrhundert im Schmalkaldischen Krieg erstmals offenbar und sogleich von den neulateinischen Bukolikern thematisiert, vollendet sich im Dreißigjährigen Krieg, und immer noch waltet im Gefolge des römischen Bürgerkriegsdichters der ersten wie der neunten Ekloge der Hirtendichter seines satirischen, die Greuel schonungslos beim Namen nennenden, wie zugleich seines prophetischen, Rettung darbietenden Geschäfts.12

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Es fehlt hier der Raum, um sie Zeile für Zeile durchzugehen und dem kunstvollen Bau der Verse nicht anders als dem Gang des Gedankens zu folgen und dabei Acht zu haben auf die Inszenierung der Klangspiele, die eben auch mit diesem Gedicht im Jahre 1644 eröffnet werden. Wir müssen uns neuerlich themengebunden bescheiden. Die Gelegenheit sei hier aber ergriffen, erneut auf diejenige Arbeit hinzuweisen, in der die europäischen Perspektiven dieses Vorstellungskreises umrisshaft vergegenwärtigt und auf die Ursprünge der Renaissance zurückdatiert wurden: Konrad Burdach: Rienzo und die geistige Wandlung seiner Zeit. Band 1-2. Berlin 1913-1928 (Briefwechsel des Cola di Rienzo, erster Teil; Vom Mittelalter zur Reformation, Band Π/l), hier insbesondere, S. 94ff.; S. 104ff.; S. 170 ff; S. 324 ff.; S. 337 ff.; S. 501 ff. Es gibt keine zweite Untersuchung, in der der Ursprung des nationalen Gedankens und dessen Verschlingung mit dem universal-imperialen gleich prägnant herausgearbeitet und geistesgeschichtlich hergeleitet worden wäre. Jetzt mit weiterer Literatur (und leider falschem bibliographischem Burdach-Eintrag): Herfried Münkler, Hans Grünberger u. Kathrin Mayer (Hgg.): Nationenbildung, Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller, Italien und Deutschland. Berlin 1998, S. 75 ff.: Die Erfindung der italienischen Nation in den Schriften der Humanisten. - Dass Harsdörffer die Schäferin Pamela aus Sidneys ,Arcadia' eine nationale Wehklage anstimmen lässt, bedürfte der Untersuchung. Wie nur der Zeitgenosse und Weggefahrte Edmund Spenser hat Philipp Sidney der Pastorale einen nationalen Impetus eingeschrieben, der zugleich dem europäischen Protestantismus verpflichtet blieb.

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Sol dann mich / mich Mutterland / meiner Söhne Schand befleken? Vnd als eine Mördergrub mit vernichten Greul bedekken? Muß ich dann zum Raube werden / als des Krieges Jammerbeute / Vnd zwar nicht durch fremde Waffen / sondern meiner Landesleute, (f. B41)

Nein, das letzte Wort hat die ohnmächtige Klage nicht. Es gibt ein Zeichen der Hoffnung: Die seit Opitz manifeste Erneuerung der deutschen Sprache, wie sie inzwischen „ruchbar und am Tag [ist] auß vieler Teutschen Mund", (f. B4 r ) Und so ist es dem Schäfer vorbehalten, in einer allegorisch umspielten poetischen Weissagung wie der große römische Vorgänger vom zukünftigen Frieden in ahndungsvollen Wendungen und zeichendeutend zu künden, endend mit dem Trost: „Ich hoff / als ein frommer Christ /1 Da auch nichts zu hoffen ist". Pamela indes ist nicht zu überzeugen: „Euer Trost / sagte die Schäferin / fruchtet nichts bey mir / dann ich bin das bejochte Teutschland / und ist ja ein Friede in mir zu hoffen / so dürffte er doch / wie ehmals / bald wider zu Wasser werden." (f. Cl r ) Also bleibt es den Schäferdichtern aufgetragen, ihr nationales Werk poetisch - aber eben keinesfalls poetisch allein - zu verfolgen. Schauen wir noch einen Moment lang weiter.13 Ihr Spaziergang führt die Hirten über die Hallerwiese zu den fruchtbaren Gärten um den Johannis-Friedhof, von denen aus der Blick sich auf die Nürnberger Burg richtet. Ihr sagenumwobenes, womöglich auf Kaiser Nero zurückgeleitendes Alter bietet Anlass zu einer neuerlichen und wiederum gleichermaßen elegischen wie hoffnungsgestimmten Betrachtung, die wir noch einmal im Wortlaut vernehmen müssen, um einen stabilen Grund für unsere Betrachtung zu gewinnen: Hätten / fienge Klajus an / unsere edle / unverzagte / und von allen Völkern hochgefürchte Teutsche Biederleute mit solchem Fleiß ihre löbliche Heldenthaten aufgeschrieben / als sie selbe verrichtet / oder die blutigen Kriege vor etlich hundert Jahren / mit den Leuten / nicht auch zugleich derselben Gedächtnis ausgerottet / so könten wir von dero tapfern Mannheit /

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Zu dieser tief in die Gattungsgeschichte hineinführenden Linie vgl. etwa Harry Vredefeld: Pastoral Inverted, Baptista Mantuanus' Satiric Eclogues and Their Influence on the ,Bucolico' and ,Bucolicorum Idyllia' of Eobanus Hessus. In: Daphnis 14 (1985), S. 461-496; ders.: A Neo-Latin Satire on Love-Madness. The Third Eclogue of Eobanus Hessus' ,Bucolicon' of 1509. In: Satire in der Frühen Neuzeit. Hg. ν. Barbara Becker-Cantarino. Daphnis 14.4 (1985), S. 673-719; ders: The ,Bucolicon' of Eobanus Hessus. Three Versions of Pastoral. In: Acta Conventus Neo-Latini Guelpherbytani. Proceedings of the Sixth International Congress of Neo-Latin Studies. Wolfenbüttel 1985. Hg. von Stella P. Revard, Fidel Rädle u. Mario A. di Cesare. Binghamton, NY 1988, S. 375-382; Eckart Schäfer: Bukolik und Bauernkrieg. Joachim Camerarius als Dichter. In: Joachim Camerarius (1500-1574). Beiträge zur Geschichte des Humanismus im Zeitalter der Reformation. Hg. von Frank Baron. München 1978, S. 121-151; ders.: Euricius Cordus, Vergil in Hessen. In: Candide iudex. Beiträge zur augusteischen Dichtung. FS Walter Wimmel. Hg. von Anna Elissa Radke. Stuttgart 1998, S. 283-313; ders.: Camerarius: Anonymität und Engagement. Von den Reformationseklogenpaaren zu .Luthers Klage - ein Traum'. In: Joachim Camerarius. Hg. von Rainer Kößling u. Günther Wartenberg. Tübingen 2003, S. 133-173.

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Zu diesem hier nur angerissenen Problem vgl. jetzt mit kritischer Diskussion der vorliegenden Deutungsentwürfe Nicola Kaminski: Ex bello ars oder Ursprung der „Deutschen Poeterey". Heidelberg 2004.

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männlichen Waffen / buntbemahlten Schilden / stürmst-schrekkenden und wekkenden Lermenschlagen / rühmlichen Siegen mehr als so / Nachricht haben. Freylich wol / sagte Strefon / ist es zu betrauren / aber doch stehe ich im Zweiffei / ob jenes mehr zu beklagen / oder aber über dem sich mehr zu verwundern / daß seyther die Teutschen einander selbst in die Haar gerahten / viel hocherwekte Geister sich dahin bemühet und annoch bemühen / daß / was das Feuer aufgefressen / die Regen und Vngewitter von den Steinen ausgewaschen / die Zeit aus den Metallen gekratzet / in das Register der Ewigkeit einzutragen / und dahin zuschreiben / da es keine Glut noch Flut belangen kan / daß es die Nachwelt (so änderst eine zu hoffen ist) bis zur letzten Posaunen lesen wird. (f. C3 r s.)

Erneut tut sich, wie in allen Germanen-Rekursen der Humanisten, eine zwischen Geschichte und Mythologie oszillierende Perspektive auf. Den tapferen und einigen, eben deshalb unbesiegbaren Vorvätern stehen die nichtswürdig seither sich in die Haare geratenen Deutschen der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit gegenüber. Die alten teutschen Tugenden, die da zugleich in heldischen Taten sich bewähren, sind untergegangen in einer von Leidenschaften aufgepeitschten Nation, deren Kennzeichen Zerwürfnis, Entzweiung und Diversifikation sind. Grell steht das politische Geschehen in Kontrast zum pastoralen Raum, in den die alten deutschen Tugenden sich geflüchtet haben. Gibt es eine die Gegenwart und jüngste Vergangenheit auszeichnende Aktion in Permanenz, so die gedächtnisstiftende über die Schrift, welche dauern wird - so die erst im 20. Jahrhundert zuschanden gewordene Hoffnung, in dem schriftbewahrende Häuser gleich massenweise im Feuersturm vergingen - bis an den jüngsten Tag. Wie aber ist die Kluft zu schließen, die sich da auftut zwischen der Erinnerung an die Taten der alten „Teutschen Biderleute" und der gegenwärtigen Zwietracht, da doch „hocherweckte Geister" in Scharen wie nie zuvor bereitstehen, erinnerungswürdige Taten im Medium der Schrift zu verewigen?14 Ein letzter Schritt ist zu vollziehen. In jeder Prosaekloge tut sich in deren Mitte ein Tempel oder ein ähnlich würdiges Bauwerk auf - nur Fleming, der Große, macht hier eine Ausnahme in seiner Revaler Schäferei - , in dem das Huldigungs-Szenario sich vollzieht, das uns hier gleichfalls nicht beschäftigen kann. Die Haller, die Schlüsselfelder und die Tetzel werden anlässlich einer Doppelhochzeit von den beiden Hirtendichtern besungen. Dazu müssen sie eingewiesen werden von der Fama (wobei man sehen wird, dass diese dieselben Sorgen hat, wie wir): Als nun das Gerücht vermerkte / wie die zween Schäfer ob so unverhoffter Begegnis stillschweigend erstarret / Ach / sprach es / lasset euch die Bildnis dieser Helden nicht erschrek-

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Zu den hier anklingenden Motivkreisen vgl. jetzt die langerwarteten großen Werke über Conrad Celtis aus der Feder von Gernot Michael Müller u. Jörg Robert: Die .Germania generalis' des Conrad Celtis. Studien mit Edition, Übs. und Kommentar. Tübingen 2001; Jörg Robert: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich. Tübingen 2003, mit der gesamten einschlägigen Literatur auch zum Problem der Germanen-und Germania-Renaissance im deutschen Frühhumanismus, die eben tief in das 17. Jahrhundert hineinreicht. Vgl. auch die Kapitel ,Enea Silvio Piccolominis Anstösse zur Entdeckung der nationalen Identität der ,Deutschen" und ,Origo et Vetustas, Herkunft und Alter als Topoi nationaler Identität'. In: Münkler, Grünberger u. Mayer (1998), S. 163 ff., S. 235 ff.

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ken/ sondern betrachtet vielmehr/ wie die Warheit/ welche mit mir dieses Orts verschwestert / diesen Tempel der Gedächtnis / zu stetsbleibender Nachfolge so ansehnlicher / redlicher / wolverdienter alten Teutschen aufgeführet / und allen Titteltand / den die Heucheley vielmal anzuschmitzen pflegt / an seinen Ort verbleiben lassen. Einmal ist die Tugend in ihren Erben unsterblich / und könte ich auch dieser Altadelichen Ahnen von vielen hundert Jahren hero vorweisen/ wann die geschwinde Zeit uns aufzuhalten vergönnete. (f. C4V)15

Humanistischer Patriotismus im pastoralen Gewand Sind wir damit gerüstet für eine hinlänglich fiuidamentierte Exegese, auch ohne die Porträts der Geehrten noch im einzelnen in Augenschein zu nehmen? Teutsche Redlichkeit, Biederkeit, Tapferkeit, Ehrbarkeit und wie die Begriffe sonst lauten mögen reichen - „Titteltand" und „Heuchelei" hinwegfegend - aus der Vergangenheit bis in die jüngste Zeit hinein, wie die zwölf Tugend-Tafeln bezeugen, die da im „Tempel der Gedächtnis" für zwölf Angehörige der drei Geschlechter aufgerichtet sind. Noch unter den Hochzeitern, also Patriziern der Gegenwart, haben sie ihre Wohnstatt. Sie sind also erneuerbar auch außerhalb des Schäferstandes. Teutscher Treue Tugendhaab Sind der Jahre heller Schein / Solche reiche Himmelsgab' Hallet nach dem Leichenstein, (f. D2 r )

So der Vierzeiler, noch nicht auf einer Säule postiert, für Hans Albrecht Haller von Hallerstein mit der neuerlichen und uns inzwischen wohlvertrauten Reminiszenz an „Teutsche Treue" und Tugend. Und entsprechend ganz ähnlich der Fünfzeiler für Johann Jakob Tetzel von Kirchensittenbach, der die Einheit von Mund und Hand, von Wort und Tat im Zeichen von Tugend als Aufrichtigkeit umkreist: 15

Dieses Huldigungs-Szenario ist unter den Nürnbergern am tiefgründigsten von dem Nürnberger Arzt Johann Helwig ausgebaut worden, dessen editorische und bibliographische Wiederentdeckung Max Reinhart zu danken ist. Vgl. Max Reinhart (Hg.): Johann Hellwig's „Die Nymphe Noris" (1650). A Critical Edition. Columbia, SC 1994; ders.: Johann Hellwig. A Descriptive Bibliography, compiled and with an Introduction and Notes. Columbia, SC 1993. Zur Interpretation: Max Reinhart: The Privileging of the Poet in Johann Hellwig's „Die Nymphe Noris". In: Sprachgesellschaften - Galante Poetinnen. Hg. von Erika A. Metzger, Richard E. Schade. Daphnis 17 (1988), S. 229-243; ders.: Historical, Poetical and Ideal Representation in Hellwig's Prose Eclogue „Die Nymphe Noris". In: Konstruktion. Untersuchungen zum deutschen Roman der frühen Neuzeit. Hg. v. Lynne Tatlock. Daphnis 19 (1990), S. 41-66. Zur Interpretation der Nymphe Noris vgl. Klaus Garber: Return to the Urban Community: Johann Hellwig's „Die Nymphe Noris". In: Garber (2000), S. 165-204. Birken verewigt in seiner Fortsetzung der Pegnitz-Schäferei bekanntlich die Helden des Dreißigjährigen Krieges, überschreitet also den kommunalen Verband und bahnt den Weg der Pastorale zur großen Politik, der später zum pastoralen Fürstenspiegel führt. Vgl. das Kapitel .Surpassing the Prototype: Birken's „Fortsetzung der Pegnitz-Schäferey" bei Garber (2000), S. 142-165.

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204 Sein Verstand und Ehrenpfand Ist der wahren Tugend Pfand. Statt und Land bekennet /

Daß er beyder MVND und Hand werde recht genennet, (f. D2r)

Der Text fingiert, dass die Schäfer, geleitet von Fama, lesend und staunend durch den Tempel schreiten. In Wahrheit sind sie natürlich die Schöpfer der huldigenden Verse, und damit der Gedächtnis stiftenden Schrift. Diesen Angehörigen des ersten Standes ist in der Fafon, die ihnen die Schäfer verleihen, bei aller sonstigen individuellen Verschiedenheit eines gemein: Sie haben in der Stadt oder aber für die Stadt als Angehörige des Patriziats ihr Bestes gegeben und mehr als einmal noch darüber hinausgreifend so oder so zugleich zum Wohl ihres Vaterlandes gewirkt. Und dies stets derart, dass ihr ihrem adeligen Stand geschuldetes Tun Ausfluss war von ihrer Tugend, die nicht immer, wie bei Carl Schlüsselfelder, explizit nochmals als „Aufrichtigkeit und alte Teutsche Treu" spezifiziert werden muss, so oder ähnlich aber stets gemeint ist. Das Pegnesische Schäfergedicht arbeitet wie ungezählte andere Stücke und nicht zufälligerweise bevorzugt aus dem pastoralen Genre, wie deutlich geworden sein dürfte, an der Statuierung einer öffentlichen, einer politischen, einer nationalen Ethik, die sich im Ursprung ihrer Dignität und in ihrer Repristination unter ausgezeichneten Repräsentanten der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit ihrer Dauer und damit ihrer Wahrheit versichert. Huldigende lind Gehuldigte sind vereint in einem gemeinsamen Wertekanon, wie er von den der Schrift kundigen Schäferdichtern im gleichen Atemzug tradiert und erzeugt wird. Dieser Normen-Kodex ist so geartet, dass ihm größtmögliche integrative Kraft eignet. Er scheint individuelle, nur den Einzelnen als moralisches Subjekt betreffende Eigenschaften zu umfassen. Tatsächlich ist er so strukturiert, dass in und mit ihrer Praktizierung einem nationalen Anliegen Genüge getan wird. Entsprechend ist er offen für Vertreter aller Stände, wie der Schäfer als ständeübergreifende Figur am sinnfälligsten demonstriert. Und er ist als explizit moralischer sehr wohl weiterhin anschlussfähig an Religion und damit Gottesfurchtigkeit. So gut wie alle Porträts beweisen das. Nicht länger jedoch ist er zu verpflichten und rückzuprojizieren auf eine bestimmte Konfession. Diese schäferlichen Tugenden sind konfessionsneutral. Sie sind weiterhin theologisch über den Schäferstand als gottwohlgefälligen unterfangen, aber sie versagen sich jedweder konfessionellen Zuschreibung. Eingang in den Ehrentempel kann nur finden, wer den von den Schäfern statuierten moralischen Ingredienzien gehorcht. Das ist ihre Tat als Sachwalter der Schrift, die sie zu ebenbürtigen Partnern der auf andere Weise dem öffentlichen Wohl verpflichteten Geschlechter erhebt. In diesem Sinn sind in der Pastorale, wie in der Theorie so gerne bezeugt, die ständischen Unterschiede nicht aufgehoben, sehr wohl ist jedoch das Aufeinanderangewiesensein der Stände und damit die Wechselseitigkeit der Verdienste bedeutet. Steht aber der Schäferdichter als Repräsentant des der Schrift Kundigen und der Nation ihren Weg Weisenden, so scheint damit nur die alte Formel des Zu-

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sammenspiels von arma et litterae oder, noch weiter gefasst, die Kontamination von res gestae und res eruditae auf andere Weise bekräftigt. Wir aber würden beidem gerne exakteres geschichtliches Relief verleihen. In der Pegnitzlandschaft des Jahres 1644 werden Reminiszenzen aus einer in den Mythos sich verlierenden Vergangenheit den Deutschen erinnernd gegenwärtig gehalten, die so geartet sind, dass die Schäferdichter sie immer noch als die ihren erkennen und den von ihnen Porträtierten vorbildhaft zusprechen können. Sobald das Wüten der Waffen enden wird, soll ihnen jene allgemeine Geltung zukommen, die jetzt inmitten der Zwietracht Einzelne über die Zeiten hinwegretten. Diese alte teutsche Redlichkeit, Treue und Aufrichtigkeit, von dem niederen Schäferstand zitiert, in die Urvergangenheit zurückreichend, in der Gegenwart immer noch verbindlich, tragen ungeachtet ihrer altdeutschen Färbung die Signatur des eben sich formierenden postkonfessionellen Zeitalters. Einung aller Glieder der Nation über die konfessionellen Entzweiungen hinweg war das Fazit, das die politischen Theoretiker und Parlamentsjuristen Frankreichs noch inmitten des Wütens der Bürgerkriege gezogen hatten. Es war der Generation Opitzens vertraut und wirkte bereits in ihre Dichtung hinein, wie am Trostgedichte und anderen Zeugnissen leicht zu zeigen. Harsdörffer und die Nürnberger eine Generation später hatten, wie die Exponenten der so genannten Sprachgesellschaften auch anderwärts, an der Ausformung der Idee auf deutschem Boden teilgenommen.16 Die Zitation der alten deutschen Tugenden, am glaubwürdigsten von den durch Tradition geadelten Schäfern in den Mund genommen, erfolgt - wie die Pamela-Szene lehrt - in einem nationalen Raum, der zerrissen ist und deshalb einheitstiftender Parolen bedarf. Die zitierten Tugenden sind also nicht zufallig mit dem Titel „teutsch" versehen. Sie führen eine politische Konnotation in appellativer Funktion mit sich, gleichen einem Code, über die eine humanistische Elite sich - nochmals: konfessionsneutral! - verständigt und dem nationalen Anliegen, wie es mit dem Humanismus in die Welt getreten war, unter den Bedingungen des entfesselten Bürgerkriegs Genüge zu tun sucht. In der dialektologisch gereinigten deutschen Sprache ist diese Einheit linguistisch seit der Opitz-Reform vollzogen. Das ist allen am literarischen Spiel Teilnehmenden bewusst und wird in guter humanistischer Manier bezeugt. Das Schäfergedicht Harsdörffers und Klajs beweist, welch ein Fortschritt binnen weniger Jahre sich vollzogen hatte. Diese Virtuosität in der Handhabung der Sprache kommt einer poetisch-linguistischen Revolution gleich, nur vergleichbar den Umbrüchen zwischen Klopstock und Mörike und dann nochmals um 1900 im Zeichen Hofmannsthals, auch das sollte nicht vergessen werden. Praktiziert aber wurde sie bei aller unverkennbaren Freude am kunstvollen Spiel und dem Herausstellen der Potenzen auch der deutschen Sprache von allen bewussten Geistern im Gefolge der ersten großen Generation um Weckherlin, Zincgref, Opitz derart, dass dem die deutsche Sprache pflegenden Dichter 16

Dazu die drei Beiträge unter dem Obertitel .Kulturnation Deutschland?' mit jeweils reichhaltigen Literaturangaben bei Klaus Garber: Nation - Literatur - Politische Mentalität. Beiträge zur Erinnerungskultur in Deutschland. Essays - Reden - Interventionen. München 2004, S. 77 ff.

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ein humanistischer und deshalb unverächtlicher nationaler Auftrag beigesellt blieb. Er wird auch in den Formeln manifest, die da im Umkreis von Redlichkeit und Aufrichtigkeit, Ehrbarkeit und Biederkeit und wie sie heißen sich ausdifferenzieren und - wie beispielhaft gezeigt - auch das Pegnesische Schäfergedicht durchwirken. Die schäferliche Gemeinschaft, abseits von der großen Welt, daher nicht affiziert von ihren Gebrechen, bewahrt ein nationales Versprechen aus der Frühe, das seine Einlösung erfahren wird in der Zukunft, in der die Nation in ihrem Geist zueinander findet und sich geeint weiß. In diesem Sinn sind moralische Integrität, poetische Kompetenz und nationale Autarkie ineinander verschränkt, ist das pastorale Gedicht in guter alter Vergilscher Manier als genus humile immer noch Träger großer und also nach dem Epos verlangender Verheißungen. Wird derart aber nicht auch über ein Gedicht wie die Pegnitz-Pastorale, eingeführte epochale Nomenklaturen Lügen strafend, der Blick hinüber in das 18. Jahrhundert gelenkt, in dem eine gebildete Elite neuerlich - oder vielleicht immer noch? - der weiterhin auf dem Wege zu sich selbst befindlichen Nation die Stichworte und Codes an die Hand gibt, in denen ihre Zukunft, umspielt von einem Schimmer der Hoffnung, neuerlich aufscheint?

Ingo

Stöckmann

Die Gemeinschaft der Aufrichtigen Die Sprache der Nation und der redliche Grund des Sozialen im 17. Jahrhundert

I. In den Wirren der Befreiungskriege veröffentlicht Ernst Moritz Arndt 1814 eine Broschüre, die unter dem Titel Ueber Sitte, Mode und Kleidertracht ein vermeintlich überlebtes semantisches Material aufruft. ,,[T]eutsche Sprache" und „teutsche Kleidertracht", so Arndt, seien die „für die Tugend des teutschen Geschlechts zunächst wichtigsten Dinge".1 Arndts Aufmerksamkeit für signifikante Äußerlichkeiten resultiert aus einer im 17. Jahrhundert ebenso breit wie obsessiv geführten Debatte, in deren Mittelpunkt all jene Bedrohungen stehen, die die alamodische Kultur Frankreichs den deutschen Hoffnungen auf eine ,reine' nationale Identität bereitet hatte. Das diskursive Wiedergängertum, das Arndt anstrengt, zieht hieraus lediglich die zeitaktuellen Konsequenzen: Auch in napoleonischer Zeit kreist die Sorge um bedeutsame Oberflächlichkeiten, weil an ihnen der Zustand eines nationalen Eigensinns abgelesen werden kann, der sich - wie rund 200 Jahre zuvor - an die „Buhlerei mit dem fremden Götzen" (4) verschenkt hat. Bemerkenswert in diesem erneuten Waffengang gegen das welsche „Unwesen" ist allein der Umstand, dass sich Arndts Schrift eines Rückhalts versichert, der unmittelbar dem 17. Jahrhundert entnommen ist. Geltung verschafft dem nationalen Appell die Solidarität jener „Biederleute", „die vor zweihundert und vor einhundertfunfzig Jahren lebten" (4) und deren Charakteristik den Deutschen metonymisch erfasst: als Biedermann, der sich wesenhaft durch Aufrichtigkeit und Redlichkeit bestimmt sieht. Aufrichtigkeit zählt, zumindest auf den ersten Blick, nicht zu den Begriffen, die ins Zentrum des 17. Jahrhunderts führen. Gegenüber dem Nachdruck, mit dem das barocke 17. Jahrhundert Anthropologien der Verstellung kultiviert und zum Maßstab des Erlebens und Handelns von Personen erklärt hat, scheint Aufrichtigkeit viel eher ein begrifflicher Moment innerhalb einer bereits tiefgreifend gewandelten Affekt- und Gefühlskultur zu sein, die unter empfindsamen und aufklärerischen Vorzeichen in die viel berufene kulturelle Moderne um 1800 mündet. Zumindest die Aufklärungsepoche investiert ihre zivilisierenden

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Emst Moritz Arndt: Ueber Sitte, Mode und Kleidertracht. Ein Wort aus der Zeit. Frankfurt a. M. 1814, S. 49.

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Energien zu einem beträchtlichen Teil in die regulative Idee eines transparenten und unverstellten Verhaltens, dem Aufrichtigkeit unbedingter Maßstab und Zweck ist. Entsprechend hatte schon Daniel Jenisch in einem groß angelegten Rückblick auf „Geist und Charakter" des 18. Jahrhunderts eben jenes Saeculum „auf allen Vieren [kriechen]"2 sehen und insofern eine Selbstnobilitierung der aufgeklärten Epoche betrieben, die sich im semantischen Anspielungshorizont der Aufrichtigkeit geradezu sprichwörtlich über alles Vorhergegangene erhoben hat. Damit wäre auch Aufrichtigkeit Beleg für ein epochales Geschehen, das die vermeintlich ,alteuropäischen' Verhältnisse von entsprechend irreversiblen Modernisierungsprozessen abtrennt. Dass die moderne Wahrnehmung Aufrichtigkeit ausschließlich auf ihre eigene Affektgegenwart zu beziehen gewohnt ist, hängt freilich nicht nur mit den historischen Entwertungen vormoderner Selbstverständlichkeiten zusammen, sondern rührt in dem Maße an eine politische Irritation, wie Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert auf eine nationale Codierung ,des Deutschen' und seiner in der ,Geschichte' einer germanisch-altdeutschen Überlieferung verborgenen Gemeinschaft gerichtet ist.3 In einem schwer zu entwirrenden Geflecht aus ,alamodischer' Zeitkritik, .sentimentalisch'-topischer Geschichtsdeutung und spekulativer Zukunftsprojektion schreibt die ,deutsche Aufrichtigkeit' an einer Mythologie der Deutschen, deren nationales Pathos und unversöhnliche Schärfe heutigen Beobachtern lediglich als Teil einer anachronistisch gewordenen Geschichte politischer Mythenbildung erscheinen muss. Vor diesem Hintergrund mag es als Ausdruck einer gewissen Weitsicht gewertet werden, dass Hans Pyritz bereits 1933 den Gedanken äußerte, die „Wege der Barockforschung" könnten in naher Zukunft ein aufschlussreiches Thema fur eine „allgemeinere Wissenschaftsgeschichte"4 sein. Pyritz hatte diese Vermutung im Angesicht einer gleich doppelten geistesgeschichtlichen Zäsur vorgetragen: Zum einen sind Pyritz' Ausführungen erkennbar von einem Elan getragen, der über das Barock geradezu eine ethnologische Verfremdung breitet, um den - wie es heißt - „von fremdartigen Spannungen" bestimmten „Eigencharakter" (444) des 17. Jahrhunderts zur Geltung zu bringen. Das war im Bemühen um historische ,Adäquation' ersichtlich gegen langwährende goethezeit2

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Daniel Jenisch: Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts, politisch, moralisch, ästhetisch und wissenschaftlich betrachtet. Theil 1. Berlin 1800, S. 321. Eine systematische Wortgeschichte der Aufrichtigkeit liegt bislang nicht vor, so dass weiterhin auf die verstreuten, ζ. T. allerdings reichhaltigen Belege der älteren geistesgeschichtlichen Forschung zurückgegriffen werden muss. Für den französischen Sprachzusammenhang empfiehlt sich die Studie von Roland Galle: Honetete und sincerite. In: Französische Klassik. Theorie, Literatur, Malerei. Hg. von Fritz Nies und Karlheinz Stierle. München 1985, S. 33-60. Galles an Luhmanns Kategorie der „Übergangssemantik" (35) orientierte Untersuchung macht allerdings deutlich, dass ,Aufrichtigkeit' und sincerite systematisch anders gelagert sind. Während sincerite in „Auseinandersetzung mit dem gesellschaftsbildenden Ideal der honetete zu verstehen ist" (36 f.) und, gewissermaßen als Spaltprodukt, regulierend auf den Diskurs der honetete bezogen bleibt, errichtet sich Aufrichtigkeit' als explizite Gegennorm gegen alle politischen Sprachhandlungen. Hans Pyritz: Rezension von Erika Vogt: Die gegenhöfische Strömung in der deutschen Barockliteratur (1932). In: Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. Hg. von Richard Alewyn. Köln, Berlin 21966, S. 444-448, S. 444.

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liehe Vorverständnisse gerichtet. Zum anderen, und (iarauf kommt es im Folgenden an, hatte die geistesgeschichtliche Barockforschung der 1930er Jahre erstmals einen Blick für die „gegenhöfischen" Tendenzen des 17. Jahrhunderts entwickelt, die dem bislang ausschließlich ,höfisch' orientierten Barock programmatisch die „Ganzheit" seiner „Erscheinungen" (444) und .Lebensanschauungen' zurückgab - Erika Vogts initiale Arbeit aus der Schule Karl Vietors ist für diese geistesgeschichtliche Begriffsbildung ein zentraler Beleg.5 Als ,gegenhöfisch' verschafft sich im 17. Jahrhundert jedenfalls Geltung, was im Zeichen der .deutschen Aufrichtigkeit' und ihrer komplementären Sozialfigur des redlichen .Biedermanns' auf der Kehrseite höfischer Rationalität und alamodischer Zeitnähe operiert, um deren .unaufrichtige' Praktiken mit rigorosen korrektiven Energien zu bedenken. Autoren wie Johann Michael Moscherosch, Rompier von Löwenhalt, Johann Lauremberg, Johann Balthasar Schupp, Justus Georg Schottel, Johann Rist oder Philipp Zesen, überhaupt die weitgehend im biographischen Dunkel verharrenden Akteure der Straßburger Aufrichtigen Tannengesellschaft6 oder der Hamburger Deutschgesinneten Genossenschaft7 sind in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit einer Rhetorik der .deutschen Aufrichtigkeit' befasst, in die weit mehr als die Nationalstereotype der Alamodedebatte eingeht. Allerdings wird man kaum in eine allgemeine Wissenschaftsgeschichte ausgreifen müssen, um in der ,deutschen Aufrichtigkeit', zumindest was ihre politische Dimension anbelangt, einen abgerissenen Faden der Forschung sehen zu können. Aus der Perspektive heutiger Beobachter bildet das Schrifttum der Zeit ein wenig bekömmliches Material, das seine Lektüre wenn nicht - wie Wilhelm Kühlmann vermutet hat - „stigmatisiert"8, so doch Rezeptionsimpulse freisetzt, die in einer ganz unironischen Weise politischen Empfindsamkeiten folgen. Es scheint allerdings, dass die derart inkriminierte .deutsche Aufrichtigkeit' mit einer politischen Imagination befasst ist, die - jenseits bloß chauvinistischer Motivlagen - eine .Gemeinschaft der Deutschen' entwirft, die für den frühneuzeitlichen Prozess der Nationenbildung signifikant und damit auf noch genauer zu bestimmende Weise modern ist. - Zur Plausibilisierung gehe ich in zwei 5

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Erika Vogt: Die gegenhöfische Strömung in der deutschen Barockliteratur. Leipzig 1932. Vgl. auch Wilhelm Frenzen: Germanienbild und Patriotismus im Zeitalter des deutschen Barock. In: DVjs 15 (1937), S. 203-219. Vgl. die bei Kühlmann u. Schäfer versammelten Informationen zu Rompier von Löwenhalt, Andreas Hecht, Peter Samuel Thiederich und Johann Matthias Schneuber: Wilhelm Kühlmann u. Walter Ernst Schäfer: Literatur im Elsaß von Fischart bis Moscherosch. Gesammelte Studien. Tübingen 2001. Eine detaillierte Rekonstruktion auf der Basis des bislang zugänglichen Quellenmaterials liefert Monika Bopp: Die .Tannengesellschaft'. Studien zu einer Straßburger Sprachgesellschaft von 1633 bis um 1670. Frankfurt a. M., Berlin u.a. 1998. Vgl. Karl F. Otto: Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1972, S. 33 ff. und Christoph Stoll: Sprachgesellschaften im Deutschland des 17. Jahrhunderts. München 1973. Wilhelm Kühlmann: Alamode-Satire, Kultursemiotik und jesuitischer Reichspatriotismus. Zu einem Gedichtzyklus in den .Sylvae' (1643) des Elsässers Jacob Balde. In: Kühlmann u. Schäfer (2001), S. 77-96, S. 82, Anm. 15.

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Schritten vor: Zunächst soll ein diskurshistorisches Interesse verfolgt werden, indem das Material hinsichtlich der Produktionsmodalitäten der .Aufrichtigkeit' innerhalb eines weitgehend gleichförmigen Redezusammenhangs rekonstruiert wird. Von der Struktur dieses Redezusammenhangs her wird schließlich nachzufragen sein, worin der politische Einsatz einer nationalen Codierung der Aufrichtigkeit besteht, die sich in vermeintlich unzeitgemäßer Weise im Rücken der territorialabsolutistischen Verfassungswirklichkeit des 17. Jahrhunderts bewegt. Offenbar rührt die .deutsche Aufrichtigkeit' an eine verschwiegen moderne Antwort, die sie auf die traditionsreiche Frage gibt, wie überhaupt politische Inklusion hergestellt werden kann.

II. Vermutlich wird man die Genese, aber auch die Struktur der .deutschen Aufrichtigkeit' mitsamt ihrer agonalen Dynamik nur näherungsweise erfassen, wenn man übersieht, dass und in welchem Maße Aufrichtigkeit - zumindest in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts - ein parasitäres Konzept ist. Aufrichtigkeit gewinnt ihre Kontur auf weiten Strecken allein dadurch, dass sie sich geradezu apotropäisch auf die rationalisierten Sozialbeziehungen der Territorialhöfe und ihrer alamodischen Lebensführung richtet. Entfaltet wird dieser Diskurs in einer bemerkenswert ökonomischen Weise, in der dichotomische Tiefenstrukturen weitgehend ähnliche Oberflächen-Symptome produzieren; Aufrichtigkeit schreibt auf der Kehrseite ihrer positiven Konnotationen eigentlich die Symptomatologie einer metaphorischen Infektion aus, die den nationalen Körper heimsucht. „Germannin", so heißt es bei Rompier von Löwenhalt 1647, „du bringst dich selber in das grab / und machst dir kein gewissen. / beschau dich doch / ο tolles weib! wie ist dein elend-krancker leib durch dich selbs-selbs verrissen und verschmissen."9 Gewissermaßen unterhalb solcher todesnahen Verlaufskurven und komplementär zu alldem, was die ,altdeutschen Opponenten' (Manfred Windfuhr) und andere Apologeten der ,deutschen Redligkeit' als alamodisch, unaufrichtig, zeitverhaftet, depraviert oder trügerisch entlarven, wirken die immer gleichen, mindestens aber ähnlichen Differenzen: Authentizität und Schein, Wahrheit und Trug, Natürlichkeit und Künstlichkeit. Noch die für das alamodische Schrifttum so dominante Entgegensetzung deutscher und französischer Nationalstereotype - in den Worten Moscheroschs: „Welsche Untrew gegen Teutsche Redlichkeit"10 - ruht auf diesen konzeptuellen Unterscheidungen. Für die Analyse scheint es daher ergiebig zu sein, weniger den genannten Leit9

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Rompier von Löwenhalt: Teütschlands Tob-sucht. In: Des Jesaias Rompiers von Löwenhalt erstes gebüsch seiner Reim-getichte. Strasburg 1647. Neudruck. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. Walter Emst Schäfer. Tübingen 1988, S. 162-177, S. 164. Johann Michael Moscherosch: Visiones de Don Quevedo. Wunderliche und Wahrhaftige Gesichte Philanders von Sittewalt. Nachdruck der Ausgabe Straßburg 1642. Hildesheim u. New York 1974. Teil I, S. 479.

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Oppositionen, als den symbolischen und semantischen Transformationen nachzuspüren, die die Oberfläche des Diskurses strukturieren. Auffällig ist zunächst eine Anthropologie der Aufrichtigkeit, die zwei Sozialfiguren - den Klugen und den Aufrichtigen - produziert und hinsichtlich ihres Verhaltens voneinander abspaltet: Der höfische Politicus wird vollständig als persona und als politischer Akteur gedacht, ist also von einer Anthropologie offensiver Verstellung und dissimulierender Selbstversicherung festgelegt, die sich über dem schwankenden Grund ihres immer gefährdeten Erfolgs zu behaupten hat. In einem ebenso topischen wie topologischen Sinn ist der Politicus ,bei Hof' unmittelbar ,bei Holl' 11 , und nur derjenige, der sich zu „stellen" weiß, „als ob er es nicht mercke noch verstünde" ist, wie Moscherosch beklagt, „den Fürsten angenehm".12 Entsprechend zählt es Johann Wolfgang Christstein zum „politischen Habit" des „Welt=Mannes", jederzeit „politisch dissimulieren" zu können; wer sich dagegen eines „aufrichtigen Wandels" befleißige, habe in den höfischen Konkurrenzzonen das Nachsehen und werde von der Gunst eines „amptes"13 ausgeschlossen. Dennoch markiert Aufrichtigkeit nicht nur eine politische Schwäche. Aufrichtigkeit zählt, wird sie strategisch und mit Geschick zum Einsatz gebracht, geradezu zu jenem Repertoire an situationsbezogenen, in einem taktischen Sinn .angemessenen' (decorum) Selbstpräsentationen, mit denen sich das politische Subjekt durch die Begegnungsketten von Hof und Kabinett manövriert. Wer sich an rechter Stelle und im passenden Moment aufrichtig ,stellt', kann immerhin darauf hoffen, dass Aufrichtigkeit zum eigenen Vorteil als Unbesonnenheit und damit als unbedenkliches Verhalten (missverstanden wird. Noch die Moralischen Wochenschriften des 18. Jahrhunderts halten für diesen Zusammenhang der aufrichtigen .Stellung' ein weitgehend gleichförmiges Bildarsenal bereit: Kluge Schlangen müssen sich, so heißt es, mitunter der Arglosigkeit von Tauben bedienen, oder auch: „Der Wolf verbirgt sich unter der Gestalt eines Schafes, damit ihm der Raub umso leichter werde."14 Anders als der verstellte Aufrichtige hat der (aufrichtig) Aufrichtige jederzeit „Mund vnnd Hertz bey einander".15 Er begegnet seinem Gegenüber mit je11

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Vgl. zu dieser traditionsreichen Topik Helmuth Kiesel: ,Bei Hof, bei Holl'. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979. Moscherosch (1642). Teil I, S. 436. Zur politischen' Anthropologie des 17. Jahrhunderts vgl. Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992, S. 51 ff. Johann Wolfgang Christstein: Der heutige Welt=Mann in seinem politischen Habit / [...]. o. O. 1675, S. 46 f. Vgl. Der Redliche. Eine Wochenschrift. Nürnberg 1751. 14. Stück, S. 215. Der Aufrichtige verdankt sich insofern einer Spaltung, die die beiden Aspekte des politischen Menschen Klugheit und Aufrichtigkeit - in eine binäre Charaktertopik ,des' Menschen zerteilt und sich selbst ausschließlich auf der Seite der Redlichkeit anordnet. Die daran anschließende Anthropologie der Frühaufklärung kennt, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, lediglich ,reine' Charaktere - entweder Tugendhafte oder Verschlagene. Moscherosch (1642). Teil II, S. 95. Die Nähe bzw. Identität von „Mund" und „Herz" bezieht sich kritisch auf das discidium linguae atque cordis des politischen Menschen. Dass dem .vollen Herzen' der ,Mund übergeht', verweist zudem auf biblische Traditionen (Lukas 6,43-45).

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nem „offenen Gemüth" (437), an dem der Höfling Schaden nehmen müsste, weil jede Offenherzigkeit strategische Vorteile auf Seiten der Beobachter erzeugte. Aufrichtigkeit umreißt insofern eine selbstidentische, im Wortsinn auf-rechte und gewissermaßen halsstarrige Charakterologie, die jederzeit ihre Motive sehen lässt und der die flexible Mentalität der höfischen persona ebenso fremd ist wie Philander, dem weltreisenden Helden der Wunderlichen und Wahrhafftigen Gesichte Moscheroschs. Wer sich, wie Philander, als „ein einfaltiger" nicht in die Verschlagenheit der „Welt [...] wol richten"16 kann, verfugt über eine Aufrichtigkeit, die sich, genau besehen, in eine zweifache Identität spaltet: zum einen in eine temporale Charakteridentität, in der Aufrichtigkeit als situationsübergreifende Beständigkeit und Standhaftigkeit interpretiert werden kann, zum anderen in eine Identität .redlicher' Transparenz, in der Innen und Außen, Meinen und Sagen von keiner Differenz getroffen sind. Überhaupt zählt es zur metaphorischen Leistungskraft der Alamode- und Hofkritik, dass sie die Differenz zwischen verschlagener persona und aufrichtigem Charakter zusätzlich in ein ökonomisches Register einträgt, in dem geradezu die Aufwendungen berechnet werden, mit denen die höfischen Subjekte unablässig wechselnde Schauseiten produzieren. „Der Küttel alter Treu und deutscher Redligkeit", so Hans Aßmann von Abschatz, „Ist unser Mode=Welt ein viel zu schlechtes Kleid [...]. Mit Auffgeld tauschet man die alten Münzen ein".17 Wenn „Des mantels stündlich= neues wenden", wie Enoch Gläser 1633 formuliert, die Verhaltensmaxime des Politicus bestimmt, dann zeichnet sich der Aufrichtige durch eine Kontinuität des Verhaltens und des Selbstverhältnisses aus, die tief in die Disposition des nationalen Charakters hineinreicht: „Ein deutscher hat voraus zum ziel / Dass er durch redligkeit gefalle. / Es ist solch lob ihm angebohrn / Von ersten Kindesbeinen an / Und dis hat er auch nie verlohren / So lange man nur denken kan."18 Von Versen dieser Art fallt unweigerlich ein Licht auf die erheblichen Vergemeinschaftungsenergien, mit denen der aufrichtige Charakter seinen Weg in den sozialen Raum antritt. Denn Aufrichtigkeit darf nicht allein als individueller Kennwert beobachtbar sein, sondern soll, um die Kehrseite der rhetorischen Verstellung nachhaltig auszutragen, darüber hinaus eine Soziologie der solidarisch Gleichgesinnten anstoßen. Sie findet bezeichnenderweise auch in den korporativen Sozialzusammenhängen der Sprachgesellschaften Resonanz. So legt die Satzung der Deutschgesinneten Genossenschaft ihren Mitgliedern 1643 „eine unterliche aufrichtige und recht brüderliche unzerbrüchliche freund-

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Moscherosch (1642). Teil I, S. 4. Hans Aßmann von Abschatz: Aus den vermischten Gedichten. Zit. n.: Barocklyrik. Hg. von Herbert Cysarz. Teil II: Hoch- und Spätbarock. Hildesheim 21964, S. 236. Enoch Gläser: Deutsche Redligkeit. Zit. n.: Barocklyrik. Hg. von Herbert Cysarz. Teil I: Vor- und Frühbarock. Hildesheim 21964, S. 202. - Die ,deutsche Aufrichtigkeit' steht damit am Beginn einer anthropologischen Umwertung, die gegen 1750 im Namen des redlichen Charakters zum Abschluss kommt. Auch der Redliche zeichnet sich durch innere Kontinuität aus, muss aber die „wahre Offenherzigkeit" bemerkenswerterweise noch immer durch ein „vernünftiges Ansichhalten" kontrollieren - offenbar ein geradezu widerständiges (privat)politisches Erbe. Vgl. Der Charakter des Redlichen. In: Der Redliche. Eine Wochenschrift. Nürnberg 1751. 1. Stück, S. 9-16, S. 14 bzw. 12.

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schafit"19 nahe, während Johann Matthias Schneuber, Mitbegründer der Aufrichtigen Tannengesellschaft, 1633 unter dem Titel „Aufrecht-Teutsch" die Maxime ausgibt, dass „BIder-männer [...] recht [zusammenhalten." 20 Entsprechend gilt Carl Gustav von Hille als vornehmliches Ziel der Fruchtbringenden Gesellschaft 1647 die „Aufrichtung und Vermehrung Teutschen wohlgemeinten Vertrauens".21 Damit operiert Aufrichtigkeit offenbar nicht nur auf der Seite individueller Verhaltensweisen, sondern leistet darüber hinaus deren Synthese in einer Gesinnungsgemeinschaft - einem „Freundschaftsbund" 22 - der Gleichfühlenden und Gleichhandelnden. Aufrichtigkeit meint in diesem, noch nicht psychologischen Sinne zunächst Distanzlosigkeit und Nähe. Ihr gegenüber müssen alle höfischen Sprachhandlungen unter dem Verdacht eines Formalisierungszwangs erscheinen, der die ehemals vertrauliche soziale Nahwelt affektiv auskühlt, in dem er die Subjekte zu intransparenten Schauspielern werden lässt: „Solch Gaucklen mit Händ vnd füssen ist keim Teutschen angebohren [...]; diese Geberden vnnd Grammanzen nehmen alle Vertraulichkeit hienweg."23 Selbstverständlich ist in dieser Kritik des alamodischen Komplimentierwesens und seiner Gespreiztheiten eine generelle Rhetorikkritik ausgesprochen; Aufrichtigkeit scheint mit ihr geradezu synonym zu sein. Eigentlich aber handelt es sich um einen Vorbehalt, der sich an einer bestimmten Rhetorik - einer Rhetorik der Uneindeutigkeit von Zeichen - entzündet.24 Weil insbesondere das Kompliment neben den immer trügerischen verbalen Zeichen auch einen beredten Körper ins Feld führt, hinter dessen verbindlichen Gesten und konzilianten Äußerlichkeiten der Aufrichtige absichtsvolle Interessen vermuten muss, beginnt das Drama jener Auslegungen und Interpretationen, die dem ,eigentlichen' Sinn aller Äußerungen nachstellen, ohne seiner habhaft zu werden: „Spricht", so lautet die schmerzvolle Erfahrung eines „Vnartig Teutschen Sprach-Verderbers" 1643, „einer einen Teutschen Frantzosen vmnb etwas an / er macht jhm so viel complement, das der bittende nicht weiß / ob jhme die Bitte abgeschlagen oder zugesagt worden." 25 19

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Philipp von Zesen: Helikonisches Rosenthal. Das ist der höchstpreiswürdigen Deutschgesinneten Genossenschaft [...] Ertzschrein. In: Sämtliche Werke. Bd. 12. Hg. von Ferdinand van Ingen. Berlin u. New York 1985, S. 183-216, S. 209. Johann Matthias Schneuber: Aufrecht-Teutsch. Zit. n.: Bopp (1998), S. 324. Carl Gustav von Hille: Der teutsche Palmbaum. Nürnberg 1647 (Nachdruck: München 1970), S. 10. Damit sollen die bis in die Symbolpolitik - deutsche Tanne vs. exotische Palme - reichenden Unterschiede zwischen beiden Sozietäten, vor allem aber im Blick auf ihre Gründungsmilieus, nicht übersehen werden. Vgl. Wilhelm Kühlmann: Rompier, Hecht und Thiederich. Neues zu den Mitbegründern der Straßburger Tannengesellschaft. In: Kühlmann u. Schäfer (2001), S. 111-132, S. 111 f.; sowie zu den zeittypischen etymologischen Spekulationen um den .aufrechten' Symbolgehalt der Tanne Bopp (1998), S. 316 ff. Hille (1647), S. 10*. Moscherosch: Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte. Zit. nach Vogt (1932), S. 16. Unter .Zeichen' soll an dieser Stelle noch keine moderne Kategorie im Sinne de Saussures verstanden werden. .Zeichen' im hier verwendeten Sinn werden als Indikatoren für eine Stellvertretungsrelation - aliquid statpro aliquo - gefasst, ohne dass unmittelbar, etwa aus der .Natur' des Zeichens, deutlich wäre, fur welche Instanz die Zeichen .eigentlich' stehen. Dies erklärt ihre interpretationsanfällige Uneindeutigkeit. [Christoph Schorer]: Vnartig Teutscher Sprach-Verderber. Beschrieben Durch Einen Liebhaber der redlichen alten teutschen Sprach. Zit. n.: Sprachhelden und Sprachverderber. Do-

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Gegenwärtigkeiten dieser Art ruhen im 17. Jahrhundert auf einer spezifis c h e n Zeitlichkeit, die alle Gegenwart nur als Verfall und Ab-Fall z u begreifen vermag. H o f - und Alamodekritik gründen auf breiter B a s i s in e i n e m retrospektiv e n Zeit- und ,Geschichts'-Schema, das den aufrichtigen Nationalcharakter aus einer genuin germanisch-altdeutschen Tradition herleitet. Sie ist d e m impliziten Kulturschema der Aufrichtigkeit g e m ä ß n o c h v o n keiner fizieller

Kultur im Sinne arti-

Verstellung und höfischer Unnatur getroffen. Bekanntlich reichen diese

retrograden Konstruktionen - m a n denke an die Chroniken des Johannes A v e n tinus 2 6 oder Jakob Wimpfelings 2 7 - auf die B e m ü h u n g e n deutscher Humanisten zurück, im A n s c h l u s s an die Germania

des Tacitus eine w e n i g s t e n s ideelle na-

tionale Identifikationsofferte zu konstruieren, w e n n schon das H e i l i g e R ö m i s c h e R e i c h deutscher Nation keine politische Homogenität versprach. 2 8 Allerdings ist die Tacitus-Exegese im 17. Jahrhundert - j e nachdem, w e r sie zu w e l c h e m Z w e c k betreibt - keine h o m o g e n e exegetische Technik. D e r politischen TacitusInterpretation kam es vornehmlich auf eine Kasuistik kluger, d.h. politisch relevanter Verhaltensmomente und lehrreicher exempla

an, die sie im Durchgang

durch die ,historiographischen' Texte inventorisch auf-findet, u m sie nach d e m Kriterium der Nützlichkeit (utile)

,praxeologisch' z u re-interpretieren und auf

i m m e r w e c h s e l n d e Machtkonstellationen anzuwenden. 2 9 Wer demgegenüber an

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kumente zur Erforschung des Fremdwortpurismus im Deutschen (1478 - 1750). Ausgew. und komment. von Jervis William Jones. Berlin u. New York 1995, S. 290 f. - Zum Kompliment und ähnlichen verbal-körpersprachlichen Kompaktzeichen vgl. Manfred Beetz: Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990, S. 129; und Georg Braungart: Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen Territorialabsolutismus. Tübingen 1988, S. 223 ff. Exakt an der Scharnierstelle zwischen mündlicher Rede und eioquentia corporis wird sich die spätere prudentia cardiognostica errichten. Sie geht - als Versuch, Eigentlichkeiten zu verstehen - davon aus, „daß ein kluger Mann auf die Geberden fast noch mehr als auff die Worte regardiret / indem öffiers das / was einer in Discursen verberget / durch Geberden hervorbricht [...]." Vgl. Christian Thomasius: Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit, sich selbst und andern in allen Menschlichen Gesellschaften wohl zu rathen und zu einer gescheiten Conduite zu gelangen. Frankfurt u. Leipzig 1710. Nachdruck: Frankfurt a. M. 1971, S. 135. Vgl. Johannes Aventinus: Baierische Chronik. Neuausgabe. Hg. von Georg Leidinger. München 1988. Wimpfeling verengt den Fokus der Germania allerdings auf eine oberrheinische Lokalgenealogie, um den Nachweis zu fuhren, dass das Elsaß - so wie dem „Römischen rieh" kein „Frantzoß [...] vorgewesen ist" - zu keinem Zeitpunkt unter französischer Herrschaft gestanden habe. Auf diesem Wege wird aus einer .reinen' Reichstradition ein ebenso .reiner' territorialer Besitztitel abgeleitet. Vgl. Tutschland Jacob Wympfflingers von Slettstadt Zu Ere der Statt Straßburg und des Rhinstroms. Jetzo [...] zum Truck gegeben durch HanßMichel Moscherosch. Straßburg 1647, fol A i. Vgl. Ludwig Krapf: Germanenmythos und Reichsideologie. Frühhumanistische Rezeptionsweisen der taciteischen .Germania'. Tübingen 1979. Vgl. Wilhelm Kühlmann: Geschichte als Gegenwart: Formen politischer Reflexion im deutschen .Tacitismus' des 17. Jahrhunderts. In: Kühlmann u. Schäfer (2001), S. 41-60, S. 46 ff. Die deutsche Tacitus-Rezeption bot vor allem die Möglichkeit, den seit dem Tridentiner Konzil tabuisierten Namen Machiavellis auf implizite Weise in die politische Verhaltenslehre zu reintegrieren - eine Form exegetischer dissimulatio.

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einer ideellen translatio germanisch-altdeutscher Tugenden interessiert war, musste vor dem Hintergrund der Germania und ihren moralistischen Intentionen ein reMovaho-Schema ausfalten, das die ,deutsche Aufrichtigkeit' in einer doppelten Zeitperspektive als verloren und zugleich als wiederherstellbar imaginiert. Dass sich die ersehnte Wiedergewinnung der .reinen' deutschen Tradition einer geradezu .hybriden' mytho-poetischen Spekulation verdankt, in der sich das taciteische Germanentum mit den etwa von Aventinus überlieferten germanischen Ursprungsgottheiten ,Tuitscho' oder ,Ascenas' verbindet,30 hat das 17. Jahrhundert nicht den Blick dafür verlieren lassen, worin die eigentliche Offerte fur die eigenen Zeitzusammenhänge besteht. Bereits Tacitus hatte an den germanischen Stämmen, an der Sittlichkeit und Unaufwendigkeit ihrer Lebensführung, der Prunklosigkeit ihrer religiösen Praktiken, vor allem aber an den Unmittelbarkeiten ihrer ökonomischen, rechtlichen und politischen Verfassung eine simplicitas entdeckt,31 die gleichermaßen den aufrichtigen ,Volkscharakter' wie einen geradezu naturhaften sozialen Raum prägt, der durch kein Gesetz und keine Verfassungsgebung diszipliniert werden muss, weil, wie Tacitus polemisch gegen die römischen Verhältnisse betont, in ihm „gute Sitten" mores - „mehr vermögen [...] als anderswo gute Gesetze \leges]." (31; I, 19) Es scheint, als habe das 17. Jahrhundert vor diesem Hintergrund sehr präzise wahrgenommen, dass die taciteische Germanenmythologie, die als „gegenwärtige Vergangenheit"32 lediglich auf die eigenen Zeitverhältnisse zu applizieren war, vor allem eine soziale und rechtlich-politische Verfasstheit in den Mittelpunkt rückt, die gerade durch die Abwesenheit jeglicher Verfasstheit geprägt ist. Noch Opitz' Aristarchus imaginiert in einer rhetorischen Amplifikation der Germania ein altdeutsches Gemeinwesen, in dem keine vertragsförmigen Sozialkonstruktionen wirken, sondern eine intrinsisch verankerte Rechtlichkeit, die auf die Sorge um das Gemeinwesen zielt und dem aufrichtigen Deutschen auf dem Weg einer traditionsreichen Inskriptionsmetaphorik geradezu ,ins Herz' geschrieben 30

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Vgl. Aventinus (1988), S. 67 f. Der „erste Vater und Erzkönig" (68) der Deutschen, Tuitscho, ist ein Nachkomme Noahs; .bezeugt' hat ihn nach zeitgenössischer Auffassung der Chaldäer Berosus (Berossos), der seinerseits über einen lateinischen Kommentar des Giovanni Nanni (1498) an das 16. und 17. Jahrhundert vermittelt wurde. Ein „erdentsprossener Gott" Tuisto ist allerdings bereits bei Tacitus überliefert. Vgl. Publius Cornelius Tacitus: Germania. Lateinisch/Deutsch. Übs., erläutert und mit einem Nachwort hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1972, S. 5 f. (I, 2). - Ascenas, der Stammvater der keltischen Völker, gilt als Enkel Japhets und damit als unmittelbarer Nachfahre Adams. Vgl. zu den entsprechenden Mythenklitterungen Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin u. New York 1994, S. 350 ff. So herrsche bei den Germanen „noch einfacher und altertümlicher [simplicius et antiquius] Tauschhandel" (Tacitus (1972), S. 11; I, 5), sei ihnen das „Prunken mit Waffenschmuck [...] fremd [nulla cultus iactatio]" (11; I, 6), sei das „Verfahren beim Losen [...] einfach [sortium consuetude simplex]" (17; I, 10), wie es ihnen bei der Kleidung an jedem „Putz [cultus]" (27; I, 17) fehle. Vor allem aber sei das ganze Volk „ohne Falsch und Trug [non astuta nec callidä]" und offenbare „noch stets bei zwanglosem Anlaß die Geheimnisse des Herzens [secreta pectoris]", so dass sich seine „Gesinnung unverhüllt und offen [detecta et nuda]" (35; I, 22) zeige. Niklas Luhmann: Weltzeit und Systemgeschichte. In: ders.: Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Opladen 1975, S. 103-131, S. 111.

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ist.33 Offenbar ist die politisch-soziale Imaginationskraft der Aufrichtigkeit im frühen 17. Jahrhundert auf eine Naturform des Sozialen gerichtet, deren Gemeinwesen allen Rechtsschöpfungsakten substantiell und uranfanglich voraus liegt: Sooft ich mir unsere Vorfahren, die tapferen und nie besiegten Germanen, im Geiste vorstelle, ergreift mich eine stille Ehrfurcht und ein mächtiger Schauer. [...] Tugend und Sittenreinheit pflegten sie in dem Maße, dass ihnen das, was andern Völkern erst lange, mühsame Unterweisung verleiht, von Natur angebohren und eingepflanzt erschien. Recht und Gesetz aber trug ein jeder in seinem Heizen, nicht auf Erztafeln, eingegraben, und Scham und Sittlichkeit bewirkten bei Ihnen dasselbe wie bei den übrigen die Angst und die drohenden Strafen. Nicht Eide bürgten bei ihnen fiir Verträge und Versprechen, sondern ihr unverdorbenes Herz. 34

In all dem ist, wie angedeutet, auf wenigstens implizite Weise ein Kulturschema verborgen, das die .deutsche Aufrichtigkeit' im Gegenzug zum höfischen Alamodewesen in einer temporal wie qualitativ aller Kultur vorausliegenden NichtKultur aufsucht. Aufrichtigkeit markiert damit zunächst lediglich die ideelle Kehrseite einer materialen Kultur der Sachen und Dinge, die die alamodische Gegenwart unablässig produziert: in Kleidung und Haartracht, in Bartschnitt und Speisen, in Verhaltensweisen und Einrichtungsgegenständen.35 „Heut zu Tage", so konstatiert es ein interessierter Beobachter des „gemeinen Lebens und Wandels" noch 1687, „muß alles bey uns Frantzösisch seyn. Frantzösische Kleider, Frantzösische Speisen, Frantzösischer Haußrath, Frantzösische Sprachen, Frantzösische Sitten, Frantzösische Sünden ja gar Frantzösische Kranckheiten sind durchgehende im Schwange."36 Die Literatur ist an der Produktion dieser Sachkultur in dem Maße beteiligt, wie sie sie satirisch oder polemisch zu diskreditieren sucht. In Moscheroschs Wunderlichen und Wahrhafftigen Gesichten wird Philander, nachdem er auf der im Wortsinn sagen-haften altdeutschen Burg Geroldseck eingetroffen ist, Gegenstand einer geradezu grobianisch exekutierten Gerichtsverhandlung, in deren Verlauf - ungeachtet aller Beteuerungen, ein „Teutscher"37 zu sein - alle alamodischen Äußerlichkeiten seiner Person einer rigorosen Kritik unterzogen werden. Der Urteilsspruch sieht eine Zwangs-

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Der paulinische Gründungstopos der Herzensschrift beruht bekanntlich auf einer metaphorischen Transformation, nach der die Gemeinde von Korinth ein , 3 r i e f ' Christi sei, „geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht in steinerne Tafeln, sondern in die fleischernen Tafeln des Herzens" (2. Kor. 3, 2). Vgl. Walter Kranz: Das Gesetz des Herzens. In: Rheinisches Museum fiir Philologie NF 94 (1951), S. 222-241. Martin Opitz: Aristarch oder wider die Verachtung der deutschen Sprache. In: Buch von der deutschen Poeterey. Studienausgabe. Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, S. 7794, S. 77 f. Wilhelm Kühlmann: Alamode-Satire, Kultursemiotik und jesuitischer Reichspatriotismus. Zu einem Gedichtzyklus in den ,Sylvae' (1643) des Elsässers Jacob Balde. In: Kühlmann u. Schäfer (2001), S. 84. Christian Thomasius / eröffnet / der Studirenden Jugend / zu Leipzig / in einem Discours / Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nach- / ahmen solle? / ein COLLEGIUM / über des GRATIANS / Grundreguln, / Vernünftig, klug und artig zu leben. Halle 1687. Kleine deutsche Schriften. Mit einer Einleitung vers, und hg. von Julius O. Opel. Unveränd. Nachdr. der Ausg. Halle 1894. Frankfort a. Μ. 1983, S. 79122, S. 79.

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erziehung vor, die die kultivierten Verfeinerungen seines Äußeren zurechtstutzt, um ihm programmatisch den Anstrich einer rauen, unkultivierten Ursprünglichkeit zu geben: [Z]u billigmäßiger Abstrafung vnd Zäumung solcher [...] unverantwortlichen Thorheiten / [ist] für gut eracht worden / dz Er / Philander / damit künftiger zeit vnser geliebtes Vatterland nicht gar in Wälschen Vntugenden zu gründe gehe / [ . . . ] sich in eine gelegene Teutsche Statt begeben: alda die wälschen Trachten abschaffen: den Baart auff Teutsch wachsen lassen; die wälsche Alamode-Kleydung einstellen / sich Erbar vn vntadelich tragen; an statt der Feldhüner / Wilprets / Geflügels / Schnecken vn anderer schleckbißlein / sich mit Rindfleisch begnügen: die Muttersprach rein vnd vnverfälscht reden / mit keinen fremden Wörtern beschmitzen noch vervnehren soll. (133 f.)

In solchen symbolischen Verhandlungen (und Exilierungen) alamodischer Äußerlichkeiten und Dinge wird deutlich, dass die vordergründig so repräsentationsfeindliche .deutsche Aufrichtigkeit' in den symbolischen Verkehrungen kultureller bzw. .materialer' Zeichen nicht nur ihrerseits auf eine zeichenhafte Repräsentation bezogen ist. Sie besitzt darüber hinaus eine regressive Tendenz, die in zwei komplementäre Richtungen wirkt: zum einen in die Richtung einer gewissermaßen dinghaften Regression, insofern die „alte Teutsche Redlichkeit" (94) auf eine sachliche Vereinfachung und Reduktion kulturierter Zusammenhänge zielt; zum anderen in die Richtung einer temporalen Regression, insofern Aufrichtigkeit die Rückkehr zu einfacheren, ursprünglicheren und gröberen Formen vor allem als zeitliche Rückkehr in einen germanisch-altdeutschen Ursprung imaginiert, der im Text schließlich zum Objekt einer ebenso obsessiven wie hoch rhetorischen Anrufung wird: „Ihr Teütschlinge! Ihr ungerathene Nachkömmlinge! [...] Altes Wesen her! Alte Geberden her! [...] Alte Hertzen her! Alt Gelt her!" (92)

III. Man mag solche Anrufungen und Restitutionswünsche, die auf der imaginären Bühne einer altdeutschen Burg ausgesprochen werden, für einen barocken Folklorismus halten, der ebenso farbenfroh und äußerlich ist, wie die inkriminierte alamodische Kultur. Im allgemeinen operieren die in Frage stehenden Texte aber mit gewissermaßen ,tieferliegenden' symbolischen Topographien, die den Möglichkeiten, aufrichtig zu sprechen, forderlich oder entsprechend hinderlich sind; Aufrichtigkeit ist jedenfalls auf Orte verwiesen, an denen sie - im Gegensatz zu den höfischen Verhältnissen - bedenkenlos gewagt werden kann. Auf immer gleiche Weise bildet der Hof daher einen Raum rivalisierender Interessen, in dem weniger Subjekte, als jederzeit beherrschte Träger verstellter Motive und .Inklinationen' anwesend sind. „Wir waren", so klagt Moscheroschs vielgelesene Hoff-Schule, 37

Moscherosch (1642). Teil II, S. 56.

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alle vntereinander vnd wider einander wie die Teuffel: Herrschaft vnd Diener / Hoch vnd Niedrige: da ewiger Streit / ewiger Haßs / ewiger Zanck / ewiger Groll / ewiger Neid / ewige Missgunst [ . . . ] / ewiges Grießgrammen: dergestalt / dass je einer den andern ansahe als seinen Feind / als seinen Hencker / als einen Teuffel (414).

Der Hof bildet eine soziale Kampfzone, in der sich der Politicus unablässig in Statuskonflikte verstrickt sieht und in der persönliche Loyalitäten nur so lange bedeutsam sind, wie sie den eigenen Erfolgsinteressen zugute kommen. Demgegenüber hat Moscherosch in der Insomnis cura Parentum, einem weitgehend vergessenen Manual der Kindererziehung, den Gedanken ausgesprochen, dass Daß gantze Land [...] Aula & Aulica vita [ist]. Ein Rechtes Hoffleben. Ursach: dass gantze Land ist der Fürsten, Graven, Herren vnd Edelen. Diese all sind Hoffleute, richten sich nach dem Oberhaupt, alß nach der Sonnen. Vnd ehe sie den König vmb der Ehre Gottes Willen verliessen; ehe verliessen sie Gott vmb des Königs willen. Darumb sind alle Hoffleute, was ausserhalb den grossen Freyen-Reichs-Stätten wohnet. [...] Die Stätte aber sind Rein und Redlich. [...] So sehet zu [...) dass ihr in grossen Reichs=Freyen=Stätten euch häußlichen niderlasset, da die Evangelische Religion Rein und klar seye. 38

Diese zu späteren, etwa rousseauistischen Sehgewohnheiten eigentümlich inverse Schematisierung, in der die Redlichkeit städtischer Verhältnisse gegen das höfisch korrumpierte Land aufgeboten wird, ist nicht ohne weiteres verständlich. Sie gründet - hat man die politischen Ambivalenzen der deutschen Territorien im Blick - in einer oberrheinischen Verfassungstradition, in der Reichsstädte wie Straßburg noch auf altständische Verfassungsgegebenheiten zurückblicken. Der besondere Rechtsstatus, der den Reichs- und Freistädten mit der Ausbildung des frühneuzeitlichen Reichsprinzips zuwächst und erst ab 1650 in eine .modernisierte', vor allem vom Territorialsystem und seiner kleinformatigen Staatenbildung geprägte Verfassungskonstellation gerückt wird,39 hat allerdings bereits im 16. Jahrhundert den Weg vorgezeichnet, den auch die von Moscherosch und anderen betriebene Idealisierung geht. Denn offenbar wird der faktischen Rechtsstellung der Reichsstädte eine Schicht an ideellen Ableitungen hinzugefugt, die es im Rückblick erheblich erschweren, Rechtswirklichkeit und eine gewissermaßen sekundäre urbane Ideologie säuberlich von einander zu trennen.40 Als Freie Reichsstädte gelten seit dem 13. Jahrhundert jedenfalls all jene städtischen Gebilde im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, die 38

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Hans Michel Moscherosch: Insomnis cura parentum. Abdruck der ersten Ausgabe 1643. Hg. von Ludwig Pariser. Halle 1893, S. 123. Vgl. zu den Ergebnissen der jüngeren Stadtforschung, insbesondere zu den Relativierungen der reichsstädtischen Autonomie: Heinz Schilling: Die Stadt in der frühen Neuzeit. München 1993, S. 38 ff.; und Herbert Knittler: Die europäische Stadt in der frühen Neuzeit. Wien u. München 2000, S. 136 ff. - Der hier vornehmlich interessierende oberrheinische Kulturzusammenhang ist in den vergangenen Jahren in philologisch wie sozialhistorisch vorbildlicher Weise von Kühlmann und Schäfer aufgearbeitet worden. Vgl. neben der bereits genannten die ältere Gemeinschaftsstudie: Wilhelm Kühlmann u. Walter Ernst Schäfer: Frühbarocke Stadtkultur am Oberrhein. Studien zum literarischen Werdegang Johann Michael Moscheroschs. Berlin 1983. Vgl. Erich Kleinschmidt: Stadt und Literatur in der Frühen Neuzeit. Voraussetzungen und Entfaltung im südwestdeutschen, elsässischen und schweizerischen Städteraum. Köln u. Wien 1982.

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sich wie Straßburg, Köln, Mainz oder Basel in z.T. konfliktreichen Auseinandersetzungen aus der Stadtherrschaft ihres Bischofs befreit haben und im Gefolge ,reichsunmittelbar' sind, d.h. im Gegensatz zur Abhängigkeit der Territorialstädte von einem der zahlreichen Landesherren unmittelbar Kaiser und König bzw. dem oberhoheitlichen Schutz des Reiches unterstehen. Straßburg ist aus diesen Konflikten 1263 mit dem Erwerb stadtrechtlicher Befugnisse hervorgegangen. Der seit 1452 nachweisbare Titel einer Freien Reichstadt hat Straßburg schließlich eine Reihe zeittypischer Privilegien vermittelt: Freie Reichsstädte sind weder verpfandbar noch zur Reichssteuer oder Heerfahrt zu verpflichten, wie der obligatorische Treueeid gegenüber Kaiser und Reich keinen untertänigen Huldigungseid darstellt, sondern einer auf Wechselseitigkeit basierenden Bundes- und Beistandsverpflichtung entspricht. Für die ideellen und propagandistischen Interessen der altdeutschen Opposition ist diese äußere Rechtsstellung der Freien Reichsstädte allerdings weniger zentral als ihre innere korporative Verfassung, mit der sich ein ganzes Bündel an genossenschaftlichen Vorstellungen und gemeinnützigen Wohlfahrtsidealen verbinden ließ. Zum Kern der 1482 erlassenen Ratsverfassung („Schwörbrief') zählt vor allem eine wohlausgewogene Balance der innerstädtischen Machtverhältnisse, in der sich das traditionell aristokratische Stadtpatriziat und die zünftischen Gruppen gegenüberstehen, die im Verlauf des 14. Jahrhunderts (,Zunftkämpfe') allmählich eine Beteiligung an den städtischen Regimentern erwirkten. Neben dieses paritätische Prinzip traten turnusgemäße Neuwahlen hinsichtlich der zentralen Regimentsfunktionen und -ämter; dies gilt mit Blick auf die oberrheinischen Verhältnisse fur den adligen Stettmeister wie für den bürgerlichen Ammeister, der die Interessen der Zünfte und der sonstigen Stadtbürger, deren Rechtsstellung an den Erwerb des Bürgerrechts (Zensus) gebunden war, vertrat.41 Zudem ist Straßburg hinsichtlich dieser leicht ausdeutbaren Partizipationsverhältnisse zunächst noch von jenen verfassungsrechtlichen Entwicklungen unberührt geblieben, die im 16. Jahrhundert in zahlreichen protestantischen Reichsstädten die Rückkehr zu einer aristokratisch-oligarchischen Geschlechterherrschaft erzwangen. Dieser Sonderstatus mag erklären, warum sich über Teile der Freien Reichsstädte das Ideal einer städtischen Genossenschaftlichkeit, eines „unum corpus"42 errichtete, der die Einzelnen - wie ein Konstanzer Ratsaufruf des Jahres 1540 formuliert - als „glider ains lebens, bürgere ainer statt und inwoner aines huses"43 zusammenfugt. Formulierungen dieser Art, deren ideeller Kontext weit zurückreicht, gleichwohl noch die Wahrnehmungen des frühen 17. Jahrhunderts bestimmt, müssen selbstverständlich weniger bei ihrer unterstellten Rechts- und Verfas-

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Zu den Details der Straßburger Ratsverfassung vgl. Peter Hertner: Stadtwirtschaft zwischen Reich und Frankreich. Wirtschaft und Gesellschaft Straßburgs 1650-1714. Köln u. Wien 1973, S. 37ff.; und Gerhard Wunder: Das Straßburger Gebiet. Ein Beitrag zur rechtlichen und politischen Geschichte des gesamten städtischen Territoriums vom 10. bis zum 20. Jahrhundert. Berlin 1965, S. 92 ff. Philipp Knipschilt: Tractatus politico-historico juridicus de juribus et privilegiis civitatum imperialium. Ulm 21687, S. 357. Zit. n. Bernd Moeller: Reichsstadt und Reformation. Gütersloh 1962, S. 31.

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sungsnähe als bei ihrem imaginären Funktionswert genommen werden. Wenn die innere Organisation der Reichsstädte den „glidern" eines „lebens" und „inwonern" eines „huses" entspricht, dann sind nicht nur die familialen Solidarstrukturen des alten oikos berufen, den der Stadtstaat in gewissermaßen vergrößerten Maßstab reproduziert und in dem Selbst- und Fremdsorge zugunsten einer allgemeinen Wohlfahrt (salus communis) tendenziell ineinander verschlossen sind. Darüber hinaus ist eine organologische Semantik angestoßen, die den Verfassungscharakter der Reichsstädte imaginär gewissermaßen überspringt und als Einheit eines städtischen Körpers naturalisiert, in dem sich alle Glieder im gemeinsamen Nutzen (bonum commune) verbinden und wechselseitig erhalten: Ein gemeiner nutz sey der Rhat / vnd gemeine versamlung der menschen / mit recht zusammen gesellet / vnd auß viel nachbarschafften vollendet / recht vnd saeliglich zu laben verordnet [...] es Stadt eben vmb einen gemeinen nutz / wie vmb ein leib eines lebendigen thiers / da kein glied jhm selbs allein dienet [...] zu gleicher weiß / kann auch kein burger komlich leben / noch sein ampt volstrecken / außerhalb dem gemeinen nutz. 44

Eine derartige Gliederlehre des städtischen Körpers ruht, blickt man auf die Verhältnisse zu Beginn des 30jährigen Kriegs, auf einem ganzen Komplex an Idealisierungen, in die die an sich wenig idealisierungsfahigen regionalen Entwicklungen der oberrheinischen Territorien erkennbar keinen Eingang gefunden haben. Denn spätestens mit dem ersten Drittel des 17. Jahrhunderts ist auch in den oberrheinischen Reichsstädten der beschriebene Ausschluss weiter Teile der Bürgerschaft vom städtischen Regiment abgeschlossen, so dass es auch im Straßburger Rat, unterstützt durch die verbreitete Praxis, politische Führungsstellen durch Kooptation zu besetzen, zu einer deutlichen Verengung der politischen Beteiligungsbasis kommt. Schmerzhafter aber musste das schwelende, durch den Krieg beschleunigte Zerwürfnis der protestantischen Reichsstädte mit ihrem Kaiser wiegen, wie der oberrheinische Stadtverbund ohnehin zunehmend unter den politischen und kulturellen Einfluss Frankreichs geriet und sich einer wachsenden Verstaatlichung auf territorialer Ebene gegenübersah. Mochte Straßburg in den melancholisch getrübten Augen seiner altdeutschen Propagandisten „Rein vnd Redlich" sein - seine ,redliche' Idealität konnte nur noch gegen die Wirklichkeit der Territorialstaaten behauptet werden.

IV. Kehrt man von diesen sozialhistorischen Problemen zur Struktur des Diskurses zurück, fallt es nicht schwer, die bis hier entwickelten semantischen Dispositive auf eine strukturelle Gemeinsamkeit und damit auf eine gewissermaßen letztbegründende Unterscheidung zu beziehen. Sie hängt in einer für das 17. Jahrhundert zunächst nicht sonderlich überraschenden Weise mit dem Status der Rheto44

Andrzej Frycz [Fritius]: Von Verbesserung des Gemeinen Nutz Fünff Bücher. Jetzt newlich verteutscht vnd in Truck geben. Basel 1557. 1. Buch, S. 3 f.

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rik, genauer: mit dem prekären Status ihrer arbiträren Zeichenhaftigkeit zusammen. Denn letztlich verbergen sich in den diskursorganisierenden Differenzen die immer gleichen antirhetorischen Phantasien: Während der alamodische Politicus, vor allem in der zweifachen Semiotik seiner verbalen und körperhaften Beredsamkeit, auslegungsbedürftige Zeichen produziert, ist die Sprache der ,altTeutschen Auffrichtigkeit' ein Medium der Eigentlichkeit und der offenen, unverstellten Kommunikation, in der die Absichten der Sprecher keiner Decodierung bedürfen. Der immer wieder inkriminierte Hof einerseits und die ideellen bzw. metaphorischen .Räume' andererseits, in denen das Band einer solidarischen Gemeinschaftlichkeit wirkt, stellen dieser Unterscheidungslogik lediglich eine topographische Semantik an die Seite - dies gilt für die korporativen Zusammenschlüsse der Sprachgesellschaften, für das idealisierte Gemeinwesen der Reichsstädte, vor allem aber für die satirische Zeichnung der Burg Geroldseck, auf der Moscherosch die altdeutschen Helden Ariovest, Saro, Herman, Witichund, Kallofelss, Fridmeyr und Teutschmeyr in einer eigentümlich unwirklichen Gemeinschaftsmythologie residieren lässt. Nicht zuletzt bildet auch das genealogische Schema des Urgermanentums insofern nur eine temporalisierte Form dieses antirhetorischen Affekts, als es als Anfang auf einer alamodisch korrumpierten Zeitachse mit abfallender Verlaufskurve eingetragen ist. Mit all dem scheint die .deutsche Aufrichtigkeit' letztlich um eine zentrale Opposition organisiert zu sein, in der Sprache gegen Rhetorik gesetzt wird. In gewisser Hinsicht ist Aufrichtigkeit auf eine geradezu ,phantasmatische' Tilgung des Zeichencharakters rhetorischer Rede und ihres arbiträren Status gerichtet. Aufrichtigkeit ist, anders formuliert, programmatischer Rhetorikverzicht und damit insbesondere Kritik und Verwerfung tropischer Rede, so weit Tropen auf der Ambivalenz von Gesagtem und Gemeinten, Uneigentlichem und Eigentlichen beruhen. Moscherosch etwa beklagt, dass am Hof „vorwerts geredet vnd hinterwerts anders gemeinet wird" dass „hertz" und „zunge" nur vordergründig zusammenstimmen, während es das Kennzeichen des „guten teütschen" sei, dass das, „was der Mündt redete" das „Hertz [meinte]".45 Nur satirisch, genauer: ironisch und damit auf bemerkenswerte Weise selbst tropisch empfiehlt der ORATOR INEPTUS Johann Balthasar Schupps, die „Rede allezeit Metaphorisch" zu halten und „alle Sachen mit neuen Bildern" zu „verhüllen".46 Neben ihrer ubiquitären moralischen Verdächtigung ist die „Rede mit krummen Tungen" 47 Auslöser für ein ambivalentes und täuschungsanfälliges Spiel der Zeichen, dem nur die ,teutsche' Sprache und ihr „Teutscher bund-spruch"48 Einhalt gebietet: 45

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Die Patientia von Η. M. Moscherosch. Nach der Handschrift der Stadtbibliothek Hamburg zum erstenmal hg. von Ludwig Pariser. Hildesheim 1976, S. 25. Johann Balthasar Schupp: ORATOR INEPTUS. Zit. nach Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1966, S. 355. Vgl. zur rhetorischen Anti-Rhetorik Schupps Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982, S. 395. Johann von Lauremberg: Niederdeutsche Scherzgedichte. Mit Einleitung, Anmerkungen und Glossar von Wilhelm Braune. Halle 1879, S. 51. Rompier (1647), VorTede (unpag.).

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„Teutsch Teutsch / Mann ein Mann / Wort ein Wort", so Karl Gustav von Hille und Rompler von Löwenhalt.49 In solchen Tautologien verbirgt sich eine absichtsvolle sprachliche Einfalt, die als nicht-arbiträre Ein-faltigkeit des Sinns gegen die arbiträre Vielsinnigkeit alamodischer Redeweisen zu Felde zieht. „Einfältige Auffrichtigkeit", 50 wie sie etwa Johann Rist im Friedewünschenden Deutschland propagieren lässt, ist auf die Vorstellung eines deutschen Sprachwesens bezogen, in der die „Stammwörter", wie Justus Georg Schottel spekuliert, „ihr Ding eigentlich ausdrükken"51 bzw., wie Zesen entsprechend vermutet, von „der natur und eigenschaft des benennten dinges selbst"52 herrühren. Insbesondere die hier anklingende Stammwortlehre lokalisiert unter dem Ehrentitel der „Teutschen HaubtSprache" eine - einmal mehr aus einem germanischen „Uraltertum"53 abgeleitete - „Grundrichtigkeit"54: Grundrichtigkeit bezeichnet weniger eine grammatische, als eine lexikalische bzw. referentielle Qualität und hängt damit der sprachmystischen Überzeugung nach, dass die Wörter „eigentliche", motivierte, wenn man so will: wesenhafte Abbilder der in ihnen bezeichneten Dinge sind.55 An dieser Relation haben Sprecher allerdings keinen Sinnschöpfungsanteil; sie stellen keine individuellen Transformationsgrößen dar, die in der Sprache sinnstiftend tätig wären, sondern bilden als ,aufrichtige Sprecher' eine zu der ihnen vorausliegenden .Grundrichtigkeit' kongruente Disposition, die zur ,Eigentlichkeit' der deutschen Sprache hinzutritt und jeder Sprachverwendung die Auswahl der ,eigentlichen' Bezeichnungen zugrundelegt. Damit greifen in einer beinahe systematisch zu nennenden Weise Spracheigenschaft und Sprechercharakteristik ineinander: So wie die „grundrichtige" deutsche Sprache eine wesenhafte Nähe zu den Dingen unterhält, so entspricht dieser Grundrichtigkeit eine charakterologische Disposition, die im Raum der deutschen Sprache nur aufrichtige Sprecher zu Wort kommen lässt. Wollte man vor diesem Hintergrund das zeitgenössische Trauma der alamodischen Sprachverwirrung ausmessen, es müsste von jener abgründig verkehrten Welt herrühren, in der, wie Rompler beklagt, „die Sachen gantz andere namen bekommen" haben: „waß man vor disem fur eine schand gehalten / ist nunmehr eine ehr: waß ein übelstand gewäsen / steht jetztund am bästen."56

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Hille (1647), S. 77; Rompler (1647), Vorrede (unpag.). Johann Rist: Das Friedewünschende Deutschland. Zit. n. Vogt (1932), S. 28. Justus Georg Schottel: Ausfuhrliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache. Neudruck. Hg. von Wolfgang Hecht. Tübingen 1967. Teil I, S. 50 f. Philipp von Zesen: Rosen=mänd. In: Sämtliche Werke. Bd. 11. Hg. von Ferdinand van Ingen. Berlin u. New York 1974, S. 79-245, S. 107, vgl. S. 111. Schottel (1967), Titelblatt. Schottel (1967), S. 175. Vgl. auch Christian Pudor: Der Teutschen Sprache Grundrichtigkeit / Und Zierlichkeit [...]. Cölln a. d. Spree 1672. Nachdruck Hildesheim u. New York 1975, S. 108, wo Grundrichtigkeit als .Rechtmäßigkeit' gefasst und als „von der Natur gleichsam den Teutschen Worten eingepflanzete" Qualität verstanden wird. Vgl. zu dieser sprachontologischen .Eigentlichkeit' mit zahlreichen weiteren Belegen Gardt (1994), S. 132 ff. Rompler (1647), Vorrede (unpag.).

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V.

Selbstverständlich gibt es in dieser vordergründig so .unterscheidungsreinen' Konstruktion der Aufrichtigkeit eine Kehrseite, auf der sich Widersprüche und konzeptuelle Schwächen zeigen - Schwächen allerdings, die einen paradigmatischen Charakter besitzen und die die .deutsche Aufrichtigkeit' insofern sekundär mitkonturieren. Zu denken wäre vor allem an die Frage, ob sich Aufrichtigkeit nicht eigentlich aus einer Reihe von - im 17. Jahrhundert allerdings erfolgreich invisibilisierten - rhetorischen Quellen speist, zu denen man gewisse Uminterpretationen der perspicuitas-Norm und der Theorie des rednerischen ethos zählen müsste. Zumindest in einer genetischen Perspektive handelt es sich um eine ,kulturierte' Fassung der Stiltugend der perspicuitas, die traditionell die Durchsichtigkeit der Dinge in den ihnen eigentlich zukommenden Worten (proprietas) fordert, so dass alle Dunkelheiten (obscuritas) und Verstellungen des Sinns wirkungsvoll ausgeschlossen werden können.57 Dem steht in der Theorie des rednerischen ethos eine analoge Vorstellung gegenüber, nach der die „sittliche Haltung des Redners" ungehindert durch „seine Worte hindurchleuchten und sich so bemerkbar machen" soll (703). Aufrichtigkeit speist sich aus einer rhetorischen Imagination der Sichtbarkeit und der Transparenz, in der sich der redliche Charakter im hellen Licht unverstellter, gewissermaßen luzider Rede zur .hörbaren Anschauung' bringt. Gleichwohl hat die Theorie des ethos die „Lauterkeit" (703) des Sprechers zu keinem Zeitpunkt als eine substantielle Charaktereigenschaft verstanden; vielmehr nimmt die rhetorische Theorie eine Sprechergemeinschaft in Anspruch, die dem Redner Aufrichtigkeit allein durch die Modalität seiner (gelingenden) sprachlich-rhetorischen Präsentation hindurch zuzurechnen bereit ist.58 Offenbar hat die .deutsche Aufrichtigkeit' diesen Beobachteraspekt in dem Maße abgetrennt, wie sie Aufrichtigkeit als selbst-

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Vgl. Marcus Fabius Quintiiianus: Institutio oratoria/Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hg. und übs. von Helmut Rahn. 2 Teile. Darmstadt 1972 bzw. 1975. 2. Teil, S. 139 ff. (VIII, 2, 1 ff.). Nach Aristoteles bildet das ethos neben pathos (Affekt) und logos (Argument, Beweisen) eines der drei entechnischen (.artifziellen') Überzeugungsmittel der Rede. Das ethos (Charakter) macht den Redner in dem Maße „glaubhaft" (axiopistos), wie dem „Tugendhaften" (epiekeis) im allgemeinen Glauben geschenkt wird; Glaubhaftigkeit „aber muß durch die Rede [selbst, I. S.] gelingen", d. h. durch eine Selbstpräsentation des Redners erwirkt werden, die die Zuhörer zur Übernahme des in der Rede ausgestellten Charakters motiviert. Vgl. Aristoteles: Rhetorik. Übs., mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachw. von Franz G. Sieveke. München s 1995, S. 13 (1355b 35 ff.). Entsprechend trifft Quintilian keine Unterscheidung zwischen der Charaktersubstanz der Redlichkeit und dem bloßen Ruf in dem der Redner steht, wenn er bestimmt, dass der Redner die Tugend der Rechtschaffenheit entweder „unter allen Umständen [...] selbst [...] besitzen oder [wenigstens, I.S.] in diesem Ruf stehen [muß]." Quintilian (1975). 2. Teil, S. 705 (VI, 2, 18). Insofern ist das ethos auf einen sozialen Geltungsraum bezogen, der allein das in der sprachlichen Darstellung .Glaubenerweckende' qualifiziert. Vgl. Markus H. Wörner: Selbstpräsentation im ,Ethos des Redners'. Ein Beitrag der aristotelischen Rhetorik zur Untersuchung der Grundlagen sprachlichen Handelns. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 3 (1984), S. 4264, S. 46 f.

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gewisse Charakteridentität versteht, die ihre moralische Substanz nicht von kontingenten Zurechnungen abhängig machen möchte. Nicht reflektiert ist zudem die immer denkbare, vor allem ja politisch instrumentalisierbare Möglichkeit, dass auch Aufrichtigkeit Gegenstand einer rhetorischen Simulation werden kann, so dass jeder aufrichtigen Versicherung, aufrichtig zu sprechen, zwingend der Verdacht der Unaufrichtigkeit folgen muss. Immerhin lässt die Korrespondenz der Fruchtbringenden Gesellschaft erkennen, dass Mitgliedschaften nicht selten auf dem Weg .aufrichtiger' Selbstpräsentationen und entsprechend ,recommandierender' Schreibweisen .angebahnt' und schließlich ermöglicht wurden.59 Dass sich die deutsche Aufrichtigkeit so standhaft gegen ihre rhetorische Selbstverdächtigung immunisiert hat, wird man allerdings nicht als kognitive Schwäche, sondern als paradigmatische Strategie werten müssen: Wer aufrichtig fühlt, denkt und spricht, wird auf den Gedanken nicht verfallen, genauer: verfallen dürfen, dass es eine unaufrichtige Simulation von Aufrichtigkeit geben könnte. Wie tief rhetorische Organisationsgewohnheiten in den aufrichtigen Diskurs hineinreichen, ist auch dort sichtbar, wo sich die .aufrichtigen' Germanen-, National- und Sprachapologien, im weitesten Sinn also genealogisch-legitimatorische Narrative, zu epideiktischen „Argumentationssystemen" verdichten.60 Auch hier werden, wie auf anderen Feldern genealogischer, d.h. auf ein prätendiertes ,Alter' gestützter Argumentation, Legitimationszwänge nach den typologischen Vorgaben des genus demonstrativum an einer apologetischen Wahrscheinlichkeit ausgerichtet, die auf die Faktizität des Behaupteten nur wenig Rücksicht nehmen muss. Nicht zuletzt ist der Umstand spannungsträchtig, dass die .aufrichtigen' Verwerfungen tropischer Redeweisen auffallig oft in satirischen Textgattungen artikuliert werden; Textgattungen also, die ein eigentlich Gemeintes häufig mit uneigentlichem Mitteln zum Ausdruck bringen und daher Unterbestimmtheiten erzeugen, die Laurembergs Niederdeutsche Scherzgedichte geradezu in eine indignierte Wut der Auslegungen geraten lassen.61

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So empfiehlt sich Erasmus von Starhemberg 1648 als ein „altteutsch" und „aufrecht wohl gesinntes mitglied". Vgl. Gottlieb Krause (Hg.): Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Ertzschrein. Briefe, Devisen und anderweitige Schriftstücke. Leipzig 1855 (Neudruck: Hildesheim u. New York 1973), S. 104 (Erasmus von Starhemberg an den Nährenden, 19. Februar 1648). Andererseits scheint die programmatische Berufung auf Aufrichtigkeit, zumindest in der von ständischer Liberalität geprägten Phase unter dem Vorsitz Ludwigs, zu einer Absenkung ständischer und zeremonialer Schwellen geführt zu haben; die Praxis der Gesellschafter, ihren Sprachgebrauch untereinander zu korrigieren, legt dies immerhin nahe. 1638 etwa muss sich Ludwig mahnen lassen, dass Fremdwort „Scribent" künftig zu vermeiden. Zum Begriff und seinen rhetorisch-topischen Implikationen vgl. Joachim Dyck: TichtKunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Tübingen 31991, S. 114; sowie ders.: Rhetorische Argumentation und poetische Legitimation. Zur Genese und Funktion zweier Argumente in der Literaturtheorie des 17. Jahrhunderts. In: Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.-20. Jahrhundert. Hg. von Helmuth Schanze. Frankfurt a. M. 1974, S. 69-86, S. 69 f. Lauremberg (1879), S. 60. Vgl. zu dieser ,Wut' aus Anlass von tropisch bedingten Auslegungsspielräumen Gunter E. Grimm: Letternkultur. Wissenschaftskritik und antigelehrtes Dichten in Deutschland von der Renaissance bis zum Sturm und Drang. Tübingen 1998,

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VI. Man muss die Perspektive freilich nur ein wenig verschieben, um in den angedeuteten Reflexionsschwächen der Aufrichtigkeit ein signifikantes Symptom sehen zu können. Denn über sie hinaus kennzeichnet Aufrichtigkeit das Problem, lediglich eine kommunikative Norm zu umreißen, ohne einen Blick für die Prozessualität von Kommunikation zu gewinnen. Wie Kommunikation begonnen und, gerade in heterogenen Situationen, fortgeführt werden kann, wie Sprecher Konfliktzonen umgehen, wie Reden und Schweigen, Selbstdarstellung und Selbstverzicht auszubalancieren sind, um Gesprächspartner auf möglichst diskrete Weise den eigenen Interessen gefugig zu machen,62 wie überhaupt dem allgegenwärtigen Verdacht zu begegnen ist, ein „Mann von Verstellung"63 zu sein - all dies zählt offenbar nicht zum Leistungshorizont der .deutschen Aufrichtigkeit'. In diesem Sinne umfasst Aufrichtigkeit eine nur stationäre Voraussetzung für Kommunikation, ohne der situationssensiblen Kasuistik politischer Verhaltenslehren Gleichgewichtiges entgegenhalten zu können. Gleichwohl verbirgt sich in ihrer Umstellung eines tieferliegenden Vergemeinschaftungsgrundes eine politische Modernität, von der die Einschätzung des gesamten Dispositivs abzuhängen scheint. Die ältere Geistesgeschichte hatte, wie bereits angedeutet, in der .deutschen Aufrichtigkeit' eine protestantisch grundierte, ,gegenhöfische Strömung' ausgemacht hatte, die allerdings spätestens im Zuge der Territorialisierung des deutschen Reichs und seiner Staatsbildung „auf unterer Ebene"64 eigentümlich anachronistisch erscheinen musste. Legt man die nach 1648 durchgreifende territorialabsolutistische Verfassungsrealität mitsamt ihrer wachsenden Schwächung der im Namen des Reichs einklagbaren Verfassungsgewalt zugrunde, so scheinen sich die altständischen Ideale in der Tat hoffnungslos im Rücken jener politischen Entwicklungen zu bewegen, die den bekannten Verfassungsdualismus des 17. Jahrhunderts allererst ausprägten.65 Die sozialgeschichtliche Forschung hat die vermeintlich gegenhöfischen Energien daher auf den Maß-

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S. 49. Zu den satirischen Traditionen des 17. Jahrhunderts vgl. Stefan Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire. Eine Studie zu den historischen Voraussetzungen der Prosasatire im Barock. Tübingen 1994, S. 189-201. Vgl. aus der Masse ähnlichlautender, allerdings bereits privatpolitisch gewendeter Maximen nur Christian Weise: Politischer Redner, das ist kurtze und eigentliche Nachricht, wie ein sorgfaltiger Hofmeister zu der Wolredenheit anfiihren soll. Leipzig 1683 ('1677; Nachdruck: Kronberg/Ts. 1974), S. 166. Vgl. die entsprechende Mahnung bei Baltasar Graciän: Handorakel oder die Kunst der Weltklugheit. Deutsch von Arthur Schopenhauer, mit einer Einleitung von Karl Voßler. Stuttgart 1967, S. 93. Michael Maurer: Geschichte und gesellschaftliche Strukturen des 17. Jahrhunderts. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. von Albert Meier. München 1999, S. 18-99, S. 24. Vgl. die inzwischen .klassischen' Studien von Gerhard Oestreich: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze. Berlin 1969, darin bes.: Die verfassungspolitische Situation der Monarchie in Deutschland vom 16. bis 18. Jahrhundert, S. 253-276; sowie Otto Kimminich: Deutsche Verfassungsgeschichte. Frankfurt a. M. 1970, S. 221 ff.; Martin Maurer: Geschichte und gesellschaftliche Strukturen des 17. Jahrhunderts. In: Meier (1999), S. 18 ff.

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stab einer „bürgerlich-moralistischen Hofkritik" 66 reduziert, die sich - jenseits einer erkennbaren Verfassungsalternative zum Territorialabsolutismus - in regulativen Ideen erschöpft: .Gegenhöfisch' ist die ,deutsche Aufrichtigkeit' allein in der Funktion eines am höfischen Geschehen parasitär beteiligten Reflexionshorizonts, der sich korrektiv auf die rationalisierte Sondermoral des Hofes und ihre ,klugen' Verhaltensmaximen richtet. Träger dieser Kritik sind - wie etwa im Falle Moscheroschs oder Rompiers - Personen, die, zumindest phasenweise, in landesherrschaftlichen Loyalitäten beheimatet sind und sich, so weit fürstliche Landesherrschaft als territoriale Fürsorge und religiös eingehegte Rechtspflege im Sinne des jus divinum auftritt, den Konfliktpotentialen offener antiabsolutistischer Kritik bewusst entziehen 67 Auch den Sprachgesellschaften wird man gegenhöfische Interessen kaum unterstellen können; zumindest das Muster aller Sprachgesellschaften, die Fruchtbringende Gesellschaft, ist von ständischen Akkomodierungsbewegungen getragen, in denen .bürgerliche' Gelehrte gleich, welche korporative Identität sie im einzelnen besitzen - dezidiert einen Anschluss an die höfisch-adlige Sphäre gesucht haben. Mir scheint nun, dass biographisch gestützte Zurechnungen der .deutschen Aufrichtigkeit' auf ihre Trägerschichten bzw. die Frage nach ihrer verfassungsförmigen Affinität - bei aller Präzisierung der Verhältnisse im 17. Jahrhundert einen unverrechneten Rest hinterlassen. Es gibt in den .aufrichtigen' Vorbehalten gegen die repräsentativen Zeichenverwendungen des Hofes und in der Anrufung altdeutsch-naturhafter Sozialformen mehr als eine Fortpflanzung rhetorikkritischer Topoi und germanischer Ursprungsmythologien; zumindest besitzen sie einen systematischen Eigensinn, der über die genannten Traditionen konzeptuell hinausreicht. Fraglos ist es zutreffend, dass die Apologeten der ,deutschen Aufrichtigkeit' zu keinem Zeitpunkt an einer Erosion der territorialstaatlichen Verfassung interessiert gewesen sind; schon aus Gründen, die mit der Inkohärenz territorialer, landständischer und reichischer Herrschaftsinteressen und Rechtskreise zusammenhängen, hat eine konkretisierbare reichsnationale Verfassungsalternative wohl nicht im Sichtfeld der entsprechenden Autoren gelegen. Gleichwohl isoliert die .deutsche Aufrichtigkeit' an der territorialhöfischen Verfassung kritisch einen Doppelaspekt, der einerseits die Art und Weise der Beteiligung und Inklusion von Personen, andererseits den formalen Charakter der Legitimierung und Ausübung von Herrschaft betrifft. In alldem, was die .deutsche Aufrichtigkeit' an den höfischen Verhältnissen inkriminiert, ist eine alternative politische Gemeinschaftsbildung mitgedacht, die dem Konstruktionscharakter der territorialen Verfassungen - und man darf vermuten: jedes Verfassungsprin66

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KUhlmann (1982), S. 363, Anm. 143. Ähnlich Grimm (1998), S. 47, Anm. 211: „Moscherosch fördert eine höfisch orientierte Kultur, bekämpft jedoch ihre Auswüchse." Vgl. darüber hinaus Marianne Kaiser: Mitternacht, Zeidler, Weise. Das protestantische Schultheater nach 1648 im Kampf gegen höfische Kultur und absolutistisches Regiment. Göttingen 1975, S. 95; sowie, im Anschluss an Kaiser, Kiesel (1979), S. 158 f. Vgl. zu Moscherosch die kurze biographische Skizze bei Grimm (1998), S. 43 f. Umfassend zu Moscherosch Walter Ernst Schäfer: Johann Michael Moscherosch. Staatsmann, Satiriker und Pädagoge im Barockzeitalter. München 1982. Zu Rompier vgl. das Nachwort von Kühlmann u. Schäfer in Rompier (1647), S. 51*-96*.

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zips - im Namen einer Gemeinschaft der Aufrichtigen eine naturhafte Sozialität entgegenhält. Ihr gegenüber erscheinen formale, etwa territorialabsolutistische Verfassungsgebungen auf zweifache Weise insuffizient: Zum einen, hinsichtlich der Modalität von Inklusion, wie die Beteiligung von Personen auf keine naturhafte Zugehörigkeit zurückgreift, sondern rationalisierte und zudem immer .unredlich' simulierbare Qualifikationsgesichtspunkte zugrunde legen muss, zum anderen, hinsichtlich der Legitimation von Herrschaft, wie es sich um arbiträre Repräsentatiwerhältnisse handelt, die, wenn nicht auf einer vertragsförmigen Konstruktion, so doch auf formaler Anerkennung und Rechtsschöpfung beruhen - auf Akten mithin, die sich, wie bei Opitz, der „mühsamen Unterweisung" 68 einer Normensetzung verdanken, denen die Unmittelbarkeit einer ,ins Herz geschriebenen' Rechtlichkeit entgegengehalten wird. In diesem Vorbehalt gegenüber einer formalen Logik der Beteiligung artikuliert die ,deutsche Aufrichtigkeit' einen Inklusionsgesichtspunkt, der, gewissermaßen unterhalb von Verfassungsgebungen, einen motivationalen d.h. formal nicht ausschreitbaren Code aufrichtiger .Gesinnung' aufbietet und einer möglichen Vergemeinschaftung zugrunde legt. Auch die Rede vom barocken „Kulturpatriotismus" mitsamt seiner zu Recht vermerkten „ethisch-kulturellen Erneuerung der deutschen Nation"69 wäre in diesem Kontext gewinnbringend zu modifizieren: als Teil einer .aufrichtigen' Codierung von .Nationalität', mit der „Vergemeinschaftung sozial konstruiert wird".70 Komplex gelagerte Diskurstypen wie die .deutsche Aufrichtigkeit' gehen jedenfalls nicht restlos im Aristotelismus politischer Verfassungskategorien und konstitutioneller Rechtsordnungen auf; sie sind der konzeptuellen Logik und affektiven Energie der Aufrichtigkeit nachgerade sekundäre Probleme, zumindest aber Begriffe für immer nachträgliche Verfassungskonstruktionen, die an den Grund der im Namen der Aufrichtigkeit ergehenden Gemeinschaftsbildung nicht heranreichen. Aufrichtigkeit rührt im 17. Jahrhundert vielmehr an die .tieferliegende' und genuin moderne Antwort auf die Frage, wie politische Inklusion organisiert werden kann - und dies unter Bezug auf eine jeder konstitutionellen Logik vorausliegende affektive Ressource, die den .aufrichtigen Deutschen' in dem Maße unbefragt inkludieren kann, wie einer Inklusion im Namen der Aufrichtigkeit nicht eigens zugestimmt werden muss.71 Was 68 69

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Opitz (2002), S. 77. Ferdinand van Ingen: Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Zwischen Kulturpatriotismus und Kulturvermittlung. In: Muttersprache 3/4 (1986), S. 137-146, S. 145. Bernhard Giesen u. Kay Junge: Vom Patriotismus zum Nationalismus. Zur Evolution der .Deutschen Kulturnation'. In: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit. Hg. von Bernhard Giesen. Frankfurt a. M. 1996, S. 255-303, S. 256. Dies ist Wilhelm Kühlmann gegenüber zu betonen, der die „Widersprüche zwischen konservativer Retrospektive auf die Normen der altständischen Gesellschaft einerseits und dem kultuipatriotisch ausgedrückten Verlangen nach dem machtvollen Einheitsstaat" zu recht zu bedenken gibt. Vgl. Kühlmann (1982), S. 363, Anm. 143. Das Dispositiv bleibt allerdings nur so lange widersprüchlich, wie man in ihm reale Verfassungsoptionen sieht. In der hier zugrunde gelegten Perspektive verhalten sich altständische und zentralstaatliche Verfasstheiten vielmehr komplementär zu einander, weil sie, im Gegensatz zu den höfischen Verhaltensweisen, gleichermaßen auf einer .aufrichtigen' Vergemeinschaftungsgrundlage

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den Aufrichtigen inkludiert, ist die Summe jener Gemeinsamkeiten des Erlebens, der Anschauungen, der Überzeugungen und der Wertbesetzungen, die im Konzept der Aufrichtigkeit ihr semantisches Zentrum finden. Es wäre - auch vor dem Hintergrund einer alles in allem noch offenen Forschungslage - eine eigene Untersuchung wert, wie die zahllosen Vorreden an den .aufrichtigen' oder ,deutschgesinnten' Leser über die Exposition einer entsprechenden Adresse' eine homogene Gesinnungs- und Erlebnisgemeinschaft herstellen.72 Sicher ist, dass zu ihrer Konstruktion die Markierung einer Grenze zählt, von der aus die alamodische Unaufrichtigkeit als Nicht-Zugehöriges und Fremdes exkludiert werden kann. Aufrichtigkeit sucht im 17. Jahrhundert jedenfalls jenen ideellen Schauplatz auf, auf dem sich Einzelne zugunsten einer politischen Gemeinschaft versammeln, die unverkennbar eine Gesinnungsgemeinschaft von Gleichfiihlenden und Gleichhandelnden ist. Wenn Rompier von Löwenhalt 1647 emphatisch bestimmt, dass „unser Teutschland [...] der kaiserliche Sitz / die grundfaste des Römischen Reichs [...] eine wohnung der Tugend / und aigendliche haimat aufrichtiger Redlichkeit"73 bildet, dann ist eine Reichsromantik berufen, die das Reich - übrigens in großer Nähe zu entsprechenden historischen Befunden 7 4 -um den Preis einer konkreten, etwa zentralstaatlichen Verfassungsgewalt ausschließlich von der Imagination eines vorkonstitutionellen Gesinnungsraums her konstruiert. In ihm inkludieren sich die Gleichfiihlenden zwangund formlos zugunsten einer ideellen Reichsnation, deren Gemeinschaftlichkeit - mit den Worten Leopold von Rankes - „aller Verfassung vorhergeht]". 75 Diese vergemeinschaftenden Energien der aufrichtigen Nation scheinen ihre Virulenz weit über das Barock hinaus bis in die patriotischen Phantasien des späten Pietismus76 und die konstitutionellen Stiftungsakte des frühen 19. Jahrhunderts bewahrt zu haben: als jenen unverzichtbaren und realitätsmächtigen Rückhalt

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ruhen. Es geht um den primären Grund der Vergemeinschaftung, nicht (oder eben nur nachgeordnet) um die korporative Form, die für sie zu finden ist. Vgl. zu den noch immer wenig erforschten Texttypen Vorrede und Dedikation die älteren Hinweise bei Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 227, Anm. 35; sowie neuerdings Jutta Breyl: Dedikationen in Text und Bild. In: Meier (1999), S. 255-265, S. 257. Rompier (1647), Vorrede (unpag.). Gschnitzer, Fritz u. a.: Vgl. Art. Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck. Bd. 7. Stuttgart 1992, S. 141-431, S. 282ff.u. 302 ff. Leopold von Ranke: Politisches Gespräch. In: Die großen Mächte/Politisches Gespräch. Hg., komment. und mit einem Nachw. versehen von Ulrich Muhlack. Frankfurt a. M. u. Leipzig 1995, S. 73-111, S. 91. Vgl. nur Friedrich Carl von Moser: Von dem Deutschen Nationalgeist. Nachdruck der Ausgabe von 1766. Selb 1976. Auch Moser spielt noch die „mächtige Triebfeder" (12) der einigenden „Liebe des Vaterlands" gegen die „todten Buchstaben der Gesetze" (13) aus. Vgl. Gerhard Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation. Wiesbaden 1961; sowie ders.: Nationale Erweckung. Nachwirkungen des Pietismus in der Frühgeschichte des Patriotismus. In: Wirkendes Wort 17 (1967), S. 73-92, S. 77 ff.

Die Gemeinschaft der Aufrichtigen

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für den Prozess der Nationenbildung ab 1806;77 und - um den äußersten Punkt einer möglichen Affinität zu markieren - als diskursgeschichtliche Präfiguration einer Politischen Romantik, die sich auf der Kehrseite des „ganzen Konstitutionswesens" und seines „Repräsentativsystems"78 lokalisiert hatte, um in der „geheimen Wirksamkeit zusammenhaltender Ideen" der Entstehung der „großen Gemeinschaften"79 beizuwohnen. Man gelangt von hier aus, wenn auch auf einer noch vorläufigen Basis, 80 zu Ansatzpunkten für eine Reihe von Umwertungen traditioneller geistes- und kulturgeschichtlicher Schematisierungen. Zum einen wird der Exklusivität, mit der das 17. Jahrhundert gewöhnlich als Jahrhundert der Verstellung gewertet wird,81 eine Spurensuche aufrichtiger Sprech- und Kommunikationsideale an die Seite zu stellen sein. Offenbar hält Aufrichtigkeit, in dem sie nach zwei Richtungen wirkt, bereits im 17. Jahrhundert nicht nur Motivationsrückhalte für moderne Konzepte von Individualität bereit, sondern auch Offerten für nicht minder moderne Formen kollektiver oder nationaler Identitätsstiftung. Die patriotischen Diskurse des 19. Jahrhundert, die unter veränderten Bedingungen die semantischen Abwehrmechanismen der Alamodekritik wieder aufnehmen, sind jedenfalls ohne die Rezeption barocker bzw. .altdeutscher' Aufrichtigkeitskonzepte nicht denkbar.82 Zum anderen wird die noch immer nachwirkende geistesgeschichtliche Epochenzäsur zwischen Barock und Aufklärung stärker an der Beobachtung eines semantischen Feldes orientiert werden müssen, dessen kon77

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Vgl. Kimminich (1970), S. 273 ff.; Georg Schmidt: Geschichte des alten Reichs. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495-1806. München 1999, S. 319ff. Friedrich Schlegel: Signatur des Zeitalters. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Bd. 7: Studien zur Geschichte und Politik. München, Paderborn u. Wien 1966, S. 483-596, S. 535. Ranke (1995), S. 94. Man wird an dieser Stelle genau zu differenzieren haben; im Blick auf Ranke betrifft dies das Problem seiner Zugehörigkeit zur Politischen Romantik, vor allem aber die Frage, auf welche Vergemeinschaftungsresiowcen die Politische Romantik zurückgreift. So weit es sich um affektive Ressourcen handelt, wird man wohl insbesondere an Novalis' Konzept der „Liebe" als „synthetischer Kraft" denken müssen. Vgl. Friedrich von Hardenberg/Novalis: Fichte-Studien. In: Schriften. Bd. 2. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mühl u. Gerhard Schulz. Stuttgart 2 1960, S. 292 (Nr. 651). So müsste die Frage der unterschiedlichen Texttypen und (intertextuellen) Textstrategien genauer verfolgt werden; Alamode- und Hofkritik artikulieren sich in keineswegs gleichsinnigen satirischen, traktatförmigen und literarischen Textgattungen. Im Übrigen scheint ein Zusammenhang zwischen Aufrichtigkeitsidealen und sozialethischen Verfassungskonzepten zu bestehen, wie sie im Kontext der konservativen Reichspublizistik (Johannes Limnaeus, Dietrich Reinkingk) und ihrer Lehre vom Jus publicum ausgearbeitet wurden. Vgl. für einen ersten Überblick: Christoph Link: Dietrich Reinkingk. In: Staatsdenker in der Frühen Neuzeit. Hg. von Michael Stolleis. München 3 1995, S. 78-99. Vgl. stellvertretend Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992; und vor dem Hintergrund einer Sondersemantik, mit der im gleichen Zeitraum die Defekte der Verstellungskunst bilanziert werden, Georg Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert. Tübingen 1989. Vgl. jetzt Dieter Martin: Vom Beistand altdeutscher .Biederleute' bei der romantischen Suche nach nationaler Identität. In: Romantische Identitätskonstruktionen: Nation, Geschichte und (Auto-)Biographie. Hg. von Sheila Dickson u. Walter Pape. Tübingen 2003, S. 3-11.

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zeptuelle Kontaktzonen und Austauschprozesse es nahe legen, traditionelle epochale Zäsuren abzusenken und weiträumigere, gewissermaßen .diskrete' Transformationen in den Blick zu rücken.83 Und schließlich wird man auch für das 17. Jahrhundert eine politische Einbildungskraft in Rechnung stellen müssen eine Einbildungskraft, die kein bloß imaginäres Gegenüber realer politischer Verfassungswirklichkeiten bildet, sondern auf der Ebene ihrer Inklusions- und Vergemeinschaftungsphantasien damit befasst ist, Voraussetzungen für realitätsmächtige Institutionalisierungen zu schaffen.

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Vgl. fur das Feld poetologischer Innovation Ingo Stöckmann: Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas. Tübingen 2001.

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„vnd wann wir vns begossen, da ist die zunge loß"' Die Aufrichtigkeit des Weins im 17. Jahrhundert

Dem Wein wurde seit der Antike so gut wie alles zugetraut. In den Künsten, in der Politik, in der Moralphilosophie oder in der Diätetik und Medizin - der Wein stimuliert die jeweils geforderten Fähigkeiten, aber er zerrüttet auch den Geist wie den Körper, und zwar durch seine materiellen Anteile wie durch ein Höchstmaß an Spiritualität.2 Er kann gleichermaßen die fundamentalen Ordnungsmuster einer Kultur stabilisieren wie destabilisieren. Konsequenterweise geht die Tragödie des Abendlandes nicht nur aus dem Wein hervor, weil Dionysos der Gott dieser Gattung ist. Die Tragödie des Abendlandes nimmt auch insofern vom Wein ihren Ausgang, als der Wein in der Orestie Katalysator eines prinzipiellen Ordnungsverlustes ist und in Oedipus Rex die katastrophale Aufdeckung des Verbrechens in Gang bringt. Bei Aischylos muss Apollon sich in den 1

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Maitin Opitz: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von George Schulz-Behrend. Bd. II: Die Werke von 1621 bis 1626. 1. Teil. Stuttgart 1978, S. 21. Zur Physiologie des Weins s. unten. Zur antiken Weintheorie vgl. ζ. B. Horaz (Epist. I, 5, 16 ff.): „quid non ebrietas dissignat? operta recludit, / spes iubet esse ratas, ad proelia trudit inertem, / sollicitis animis onus eximit, addocet artis". - „Was fördert Trunkenheit nicht alles zutage? Sie öffnet die verschlossene Brust, lässt Hoffnungen als erfüllt erscheinen, treibt Schlafiniizen zu Schlägereien, nimmt bekümmerten Herzen ihre Last und lehrt überraschende Künste". Horaz: Satiren und Episteln. Lateinisch und deutsch von Otto Schönberger. Berlin 21991, S. 162 ff. Die Enthemmung durch Alkohol kann aber, so der Alkoholkritiker Seneca, auch schlicht in den Wahnsinn führen: „Die, quam tope sit plus sibi ingerere quam capiat et stomachi sui non nosse mensuram, quam multa ebrii faciant, quibus sobrii erubescant, nihil aliud esse ebrietatem quam uoluntariam insaniam". - „Sag einfach, wie schändlich es ist, mehr in sich hineinzufüllen, als man vertragen kann, und seines Magens Fassungsvermögen nicht zu kennen, wie Trunkene viele Dinge tun, über die Nüchterne erröten; dass nichts anderes die Trunkenheit sei als freiwilliger Wahnsinn". L. Annaeus Seneca: Ad Lucilium. Epistulae morales LXX-CXXXIV, [CXXV]. An Lucilius. Briefe über die Ethik 70-124, [125]. Übs., eingel. und mit Anm. versehen von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1995, 83, 18. Dabei legt Seneca im Übrigen zuvor dar, dass Betrunkene sehr wohl Geheimnisse zu bewahren wüssten und sucht daher nach einem anderen Kriterium, um die Verwerflichkeit des Trinkens zu belegen. Die Aufrichtigkeit des Weins bezieht sich bei ihm nur auf „charakterliche Schwäche", auf „vitia" (Ebd., 83, 20), und auf eine Schwächung der Schamgrenzen („pudor"). Am Beginn des 83. Briefs findet sich im Übrigen die Theorie einer ständigen Selbstkontrolle über die Einbildung einer unablässig beobachtenden Instanz „Gott" („nihil deo clusum est"; ebd., 83, 1). Anstatt den Trinker zu ermutigen und zu kräftigen, kann der Wein auch entmutigen und entkräften - für beides finden sich Belege beispielsweise in der Ilias (19, 160 ff.; 6,258 ff. u. 264 ff.). Zur antiken Weinsemantik vgl. Gert Preiser: Wein im Urteil der griechischen Antike. In: Rausch und Realität. Drogen im Kulturvergleich. Hg. von Gisela Völger u. a. Mit einem Vorwort von Rene König. Teil 1. Köln 1981, S. 296-303; ders.: Wein im Urteil der Römer. In: Ebd., S. 304-308.

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Eumeniden von der Chorführerin sagen lassen: „Du bist's, der hochehrwürdige Ordnung umgestürtzt, / Als du die alten Göttinnen betört mit Wein".3 Bei Sophokles konfrontiert ein Weintrunkener den inzestuösen Vatermörder mit der unangenehmen Wahrheit, er sei nicht der Sohn des Polybos - danach erst macht Oedipus sich auf den Weg nach Delphi und hört das unheilvolle Orakel. Zu den Leistungsmerkmalen des Weins gehört, dass er das Innere der Person nach außen kehrt, dass er also eine Minderung der Selbstabschließung bewirkt. Der Wein enthemmt den Trinker, und dies eben wiederum in sozial funktionaler oder dysfunktionaler Weise. 4 Sowohl am Ende als auch am Anfang der Skala einer Aufrichtigkeit des Weins stehen Extreme des unverträglichen Verhaltens. Der Weg von einer sozialen Anregung zum bedrohlichen Kontrollverlust ist kurz. Letztlich bedarf es dazu nur der Verschiebung eines Buchstabens. Während die kanonische Formulierung, wie sie sich bei Alkaios oder in der Historia Naturalis von Plinius d. Ä. findet, „in vino Veritas" lautet5, verkehrt die sentenziöse Tradition dies zu „in vino feritas", also: ,1m Wein liegt Wildheit'.6 Die kulturgeschichtlichen Arbeiten zum Wein akzentuieren diese ,wilde' Seite des Weins und weisen ihm seinen Ort als Teil einer Zivilisationsgeschichte zu, die im 16. und 17. Jahrhundert umbricht und dann mit aller Deutlichkeit jene Strukturen und Disziplinierungsformen hervorbringt, die beispielsweise Max Weber oder Norbert Elias beschrieben haben. Demzufolge verliert der Wein in der Frühen Neuzeit an positiver Ausstrahlungskraft, weil die Gesellschaft 3

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Aischylos: Die Orestie. Agamemnon. Die Totenspende. Die Eumeniden. Deutsch von Emil Staiger. Mit einem Nachwort des Übersetzers. Stuttgart 2002, S. 135 (V. 727 f.). Bereits Heraklit fand es „besser", seine „Dummheit" zu verbergen und bemerkte dazu: „aber es ist schwer im Entspanntsein oder beim Wein". Heraklit: Fragmente. Griechisch und deutsch. Hg. von Bruno Snell. Düsseldorf u. München 122000, S. 31 [B 95]. In Piatons Symposion erklärt Alkibiades, dass „der Wein, dem Sprichwort zufolge, sei's ohne Kinder oder mit Kindern, die Wahrheit sagt[ ]". Piaton: Sämtliche Dialoge. In Verbindung mit Kurt Hildebrandt u. a. hg. und mit Einleitungen, Literaturübersichten, Anm. u. Registern versehen von Otto Apelt. Bd. ΠΙ. Hamburg 1993, 217. Auf der anderen Seite befördert der Wein auch die Sozialtauglichkeit: „fecundi calices quem non fecere disertum [...]?" „Volle Becher - wen hätten sie noch nicht beredt gemacht?", heißt es in den Horazischen Episteln (I, 5, 19; Horaz (1991), S. 164 f.; vgl. auch Sat. I, 4, 89). Diese Anregung von Kommunikabilität spiegelt letztlich nur eine körperinterne Austauschbewegung: „Vina parant animos, faciuntque caloribus aptos: / Cura fugit multo diluiturque mero. / [...] Tunc aperit mentes aevo rarissima nostro / Simplicitas, artes excutiente deo" - „Wein erhöhet den Geist und macht ihn geneigt zur Entflammung, / Und beim vollen Pokal schwinden die Sorgen dahin. / [...] Dann erschließt sich das Herz - so selten in unseren Zeiten - / Aufrichtigkeit; denn List, Ränke, sie hasset der Gott". Publius Ovidius Naso: Liebeskunst. Lateinisch - deutsch. Nach der Übs. von W. Hertzberg bearbeitet von Franz Burger. München 12 1968,1,237 ff. Alkaios. Griechisch und deutsch. Hg. von Max Treu. München 21963, S. 74 f. /104 D; Plinius Secundus d. Ä.: Natokunde. Lateinisch - deutsch. Bücher XIV/XV. Botanik. Fruchtbäume. Hg. und übs. von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler. Darmstadt 1981, 14,141. Carmina medii aevi posterioris latina. Bd. II/8. Proverbis senentiaeque latinitatis medii ac recentioris aevi. Nova series. Lateinische Sprichwörter und Sentenzen des Mittelalters und der frühen Neuzeit in alphabetischer Anordnung. Neue Reihe. Aus dem Nachlaß von Hans Walther hg. von Paul Gerhard Schmidt. Teil 8. Göttingen 1983, 37486cl.

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gleichsam ausgetrocknet und für das bürgerliche Zeitalter präpariert werden muss. Das Getränk des Bürgertums, so Wolfgang Schivelbusch, sei der Kaffee, der „große Ernüchterer".7 Damit unterschätzt man m. E. zweierlei: zum einen die Bedeutung des Weins auch und gerade in der Aufklärung - der Artikel „Wein" in Zedlers Universal-Lexikon etwa umfasst mehr als 100 Spalten, und allein dieser Umfang macht das Interesse deutlich, das man dem Wein entgegengebracht hat (zum Vergleich: Der Artikel „Gott" bringt es gerade auf 70 Spalten).8 Zum anderen unterschätzt die zivilisationsgeschichtliche Perspektive den Anteil an Imaginationen, Fiktionen und Phantasien, auf die auch und gerade eine Kultur angewiesen ist, die auf Verallgemeinerung und Erweiterung der Perspektiven, auf eine Verlängerung von Beziehungsnetzen, auf die Komplizierung von Abhängigkeitsverhältnissen und auf eine entsprechende Verklausulierung des Individuums setzt.9

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Wolfgang Schivelbusch: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel. Frankfurt a. M. 1995, zum Kaffee S. 25 ff.; Aldo Legnaro: Alkoholkonsum und Verhaltenskontrolle - Bedeutungswandel zwischen Mittelalter und Neuzeit in Europa. In: Rausch und Realität. Drogen im Kulturvergleich. Hg. von Gisela Völger u. a. Mit einem Vorwort von Rene König. Teil 1. Köln 1981, S. 86-97; Hasso Spode: Alkohol und Zivilisation. Berauschung, Ernüchterung und Tischsitten in Deutschland bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Berlin 1991, S. 74 ff. Bis heute ist man sich nicht einig darüber, ob man es in der Frühen Neuzeit mit einem tatsächlichen Anstieg des Alkoholverbrauchs oder ob man es hier mit einer disziplinierenden Blickverschiebung zu tun hat, die in neuartiger Weise sensibel und allergisch auf Wein, Brandwein und Bier reagiert. Vgl. dazu Michael Stolleis: Pecunia nervus rerum. Zur Staatsfinanzierung der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1983, S. 23. Während Stolleis das Interpretationsproblem aufwirft, obwohl er einen tatsächlichen Anstieg des Alkoholkonsums für sicher hält, sieht Spode keine Belege für diese Entwicklung. Er votiert fur eine Verschiebung der Diskursmuster: Spode (1991), S. 58 f f , insbes. S. 66 ff. Vgl. auch Michael Stolleis: „Von dem grewlichen Laster der Trunckenheit". Trinkverbote im 16. und 17. Jahrhundert. In: Rausch und Realität. Drogen im Kulturvergleich. Hg. von Gisela Völger u. a. Mit einem Vorwort von Rene König. Teil 1. Köln 1981, S. 98-105, S. 98; ders.: Nachwort. In: Blasius Multibibus: Jus Potandi oder Zechrecht. Nachdruck der deutschen Bearbeitung des „Jus Potandi" von Richard Brathwaite aus dem Jahre 1616. Mit einem Nachwort von Michael Stolleis. Frankfurt a. M. 1982, S. (1)-(18), S. (5); Legnaro (1981), S. 86; Roland Bitsch: Trinken, Getränke, Trunkenheit. In: Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit. Vorträge eines interdisziplinären Symposions vom 10.-13. Juni 1987 an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Hg. von Irmgard Bitsch u.a. Sigmaringen 1987, S. 207-216, S. 210.

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Zwar ist der Artikel „Wolf (Christian)" rund 30 Spalten länger als der Wein-Artikel, und unter Hinzunahme des sich über rund 350 Spalten erstreckenden Artikels „Wolfische Philosophie" nimmt Wolffeine gewichtige Stellung im Universal-Lexikon ein. Zählt man aber die sich an den Wein-Artikel anschließenden, ihr Lemma mit „Wein" und einem Zusatz bildenden Artikel hinzu, ergibt sich ein Umfang von beinahe 700 Spalten. Die Artikel im Anschluss an das Lemma „Gott" bleiben dahinter mit etwas mehr als 100 Spalten weit zurück. Freilich taucht „Gott" in allen möglichen Zusammenhängen wieder auf, wie ζ. B. in Verbindungen wie „Verstand GOttes". Grundlegend dazu: Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt a. M. 21997. Exemplarische Studien und Interpretationsansätze dazu für die Frühe Neuzeit in: Thomas Frank, Albrecht Koschorke u. a.: Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte - Bilder - Lektüren. Frankfurt a. M. 2002. Zur Verbindung dieses Motivs mit der Kunst der Aufrichtigkeit vgl.

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Im Folgenden möchte ich die These entfalten, dass die Weinsemantik aufgrund ihrer strukturellen Ambivalenz ein zentrales kulturelles Paradigma im 17. Jahrhundert bereitstellt und dass der Wein zum Reflexionsmedium einer Umorientierung werden kann, die eine bestimmte Positionierung von „Aufrichtigkeit" in der Aufklärung möglich macht. 10 Ich werde dabei in zwei Schritten vorgehen: Zunächst werde ich die Semantik des Weins im 17. Jahrhundert in den Bereichen von Religion, Politik, Moralphilosophie, Diätetik und Medizin sowie Dichtkunst entfalten, und zwar fokussiert auf das Thema der Aufrichtigkeit, die der Wein induziert. In einem zweiten Schritt deute ich dann zur historischen Profilierung Anschlussstellen der Aufrichtigkeit des Weins im 18. Jahrhundert an. Insgesamt geht es dabei nicht um eine Kulturgeschichte des Weins, sondern um die Darstellung der Weinsemantik und ihrer Anschlussmöglichkeiten.

Die Aufrichtigkeit des Weins im 17. Jahrhundert Im 16. und 17. Jahrhundert wird der Weinkonsum zu einer komplizierten Angelegenheit. Auf der einen Seite werden ihm eine Flut kritischer Schriften und eine Fülle ,policeylicher' Gebote gewidmet", auf der anderen Seite wird die Auswahl an Alkoholika größer, die Wahlmöglichkeiten der Trinker steigen, die Ansprüche und Urteilsverfahren verfeinern sich. Es entsteht eine „systematische Kennerschaft für Wein", die beispielsweise nicht mehr nur nach Regionen, sondern auch nach Lagen differenziert, und das Weintrinken wird zum ästhetisierten Weingenuss 12 (so wie im übrigen Bacchus erst in der Renaissance seine Motivkonjunktur erlebt13). Neue Techniken der Haltbarmachung erweitern die Alterungsfähigkeiten des Weins - die verkorkte Weinflasche und der Korkenzieher bilden zusammen mit dem Wechsel vom Trinkbecher zum Trinkglas die

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Christian Wernickes Schlaue Aufrichtigkeit. „Scheint was ihr seyd, bekennt eur Hertz' im Angesicht, / Die albern-kluge Welt wird diess Verstellung nennen: / Sprecht rund heraus, man glaubt euch nicht; / Geht nackt, und man wird euch nicht kennen". Christian Wernicke: Christian Wernickes Epigramme. Hg. und eingel. von Rudolf Pechel. Berlin 1909, S. 205. S. u. im zweiten Abschnitt. Für eine Literaturgeschichte der „Aufrichtigkeit", die sich in der Frühen Neuzeit auf Frankreich konzentriert und die deutsche Literatur bis ins 19. Jahrhundert ignoriert, vgl. Henri Peyre: Literature and Sincerity. New Haven u.a. 1963 - als „Age of Sincerity" gilt hier das 20. Jahrhundert; ebd., S. 237 ff. S. Roller: Trunkenheit. In: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte. HRG. Hg. von Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann u. Dieter Werkmüller unter philologischer Mitarbeit von Ruth Schmidt-Wiegand. Mitbegründet von Wolfgang Stammler. Bd. V. Berlin 1998, Sp. 377-381, Sp. 377 f. Roderick Phillips: Die große Geschichte des Weins. Frankfurt a. M. u. New York 2001, S. 141 u. 144 f.; Hugh Johnson: Weingeschichte. Von Dionysos bis Rothschild. Bern u. Stuttgart 1990, S. 177 ff. Art. „Dionysos". In: Lexikon der Kunst. Begründet von Gerhard Straus. Hg. von Harald Olbrich u. a. Bd. Π. Leipzig 1989, S. 168 f.; zu bildkünstlerischen Darstellungen des Weins in der Neuzeit vgl. Meinrad Maria Grewenig (Hg.): Mysterium Wein. Die Götter, der Wein und die Kunst. Speyer 1996, S. 212 ff.

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Beiträge des 17. Jahrhunderts zur Geschichte des Weins.14 Im übrigen ist das 16. Jahrhundert aufgrund seiner Klimaerwärmung ein gutes, das 17. Jahrhundert ein eher schlechtes Weinjahrhundert, und dies gilt zumal für Deutschland, wo nicht nur die klimatische Abkühlung, sondern vor allem der 30jährige Krieg die Weinkultur weitgehend zusammenbrechen ließ.15 Immerhin verdankt Deutschland dieser weinhistorischen Katastrophe seine ausgeprägte Rieslingkultur, weil eine ertragreiche, klimafeste Rebsorte gefragt war.16

a) Der Wein und die Aufrichtigkeit des Glaubens Dennoch ist der Wein auch und gerade in Deutschland im 17. Jahrhundert ein kulturelles Paradigma, das heißt er dient als Reflexionsmedium zentraler Problemstellungen, die sich in der Frühen Neuzeit ergeben, weil er für fast alle Bereiche als Vor- oder Gegenbild anschlussfahig ist. Diese Zwiegesichtigkeit wird zum inventionellen und dispositionellen Grundschema von Gedichten wie etwa Abschatz' „Was ist der süsse Saffi der schwancken Reben", das in 36 Strophen die Topoi für und in weiteren 15 Strophen das Argumentationsarsenal gegen den Weingenuss sammelt, um dann abschließend für ein gepflegtes „Räuschgen" zu votieren.17 Um den Wein versammeln sich, wie in Opitz' Übertragung von Heinsius' Lobgesang Bacchi, in allegorischer Gruppierung Gewalt, Tyrannei, Torheit, Gram, Zank, Furcht, üble Nachrede, Gicht und Kopfschmerzen; und zugleich gruppieren sich um ihn Lust, Fröhlichkeit, Trost, Liebe, Schlaf, Ermutigung und Phantasie.18 Dieses Wirkungsspektrum macht den Wein nicht zuletzt aus seelsorgerischer Perspektive zu einem interessanten Objekt. Auch wenn selbst in diesem Fall der Weingenuss gemeinhin nicht per se verboten werden soll, fallt dabei eine gewisse Konkurrenz von .Glauben' und ,Trinken' auf. Der Wein übernimmt Aufgaben, für die - mit entsprechender Voreinstellung - eigentlich die Religion und ihre Institutionen zuständig sind, etwa Sorgen zu mindern oder sogar das Vorgefühl paradiesischer Zustände zu vermitteln. Der Wein kommt einer klaren Unterscheidung von Diesseits und Jenseits in die Quere, auch wenn die positiven und negativen Wirkungen und die entsprechend literalen und allegorischen Sichtweisen19 des Weins ζ. B. in .weltlichen' und in .geistlichen' Gedich14

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Johnson (1990), S. 191 ff.; Phillips (2001), S. 136 f. - diese neue Art der Abfüllung macht dann im Übrigen auch Schaumweine und Portwein möglich. Stolleis (1981), S. 104; Phillips (2001), S. 120. Phillips (2001), S. 140. Hanns Aßmann von Abschatz: Poetische Übersetzungen und Gedichte. Bd. 4. Leipzig u. Breßlau 1704, S. 94. Opitz (1978). Bd. Π/l, S. 36 u. 38. Der Wein ist natürlich zunächst für den religiösen Bereich ein zentrales kulturelles Paradigma in der Diskussion um den Stellenwert und die Konzeption des Abendmahls (vgl. ζ. B. Jochen Hörisch: Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls. Frankfurt a. M. 1992). Vgl. hierzu aus dem Bereich der geistlichen Gedichte etwa bei Angelius Silesius Die geist-

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t e n 2 0 g e n e r i s c h enklaviert w e r d e n k ö n n e n . A u f fatale W e i s e g l e i c h e n s i c h j e d e n falls die Wirkungen des Weingeistes und die Wirkungen des heiligen Geistes, w i e Luther s i e beschreibt: „der macht e y n rein, frey, lustig, frölich, lieblich hertz, das lautter u m b s o n s t f r u m ist, k e i n Ion sucht, k e i n n straff furcht". 2 1 Ents p r e c h e n d b e s t e h t d i e g e f ä h r l i c h s t e W i r k u n g d e s W e i n s darin, Sicherheit z u vermitteln. Er fuhrt z u Gottvergessenheit, u n d z w a r i n d e m er d i e e i g e n t l i c h göttlic h e n F ü r s o r g e p f l i c h t e n erfüllt. 2 2 D i e Konkurrenz v o n , G l a u b e n ' u n d ,Trinken' betrifft dabei a u c h d e n p e r f o r m a t i v e n A s p e k t der Weinkultur, w e i l hier - a u c h in d e u t l i c h säkularen Z u s a m m e n h ä n g e n - rituelle Strukturen auftauchen, e t w a i m Gebetscharakter der Trinkformeln, in der V i k t i m o l o g i e der T r i n k z e r e m o n i e n 2 3 o d e r in der Auratisierung v o n K u l t r ä u m e n u n d - g e g e n s t ä n d e n d e s A l k o h o l k o n s u m s . V o n hier aus g e s e h e n , s c h e i n t e s k o n s e q u e n t z u sein, dass der W e i n i m Literalsinn k e i n e p o s i t i v e R o l l e in d e n t h e o l o g i s c h e n D e b a t t e n spielt.

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liehe Weinrebe, Die geistliche Hochzeit, Die geistliche Trunkenheit oder Den Trunckenpold kan GOtt nicht träncken. Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann. Kritische Ausgabe. Hg. von Louise Gnädinger. Stuttgart 1995, S. 89, 124, 161 u. 269. Zwar gibt es Wein-Dichter wie Andreas Gryphius, die entweder ein allegorisiertes, vergeistlichtes Weinlob singen oder - in den weltlichen Gedichten - den Weingenuss kritisieren, aber man kann eben auch wie Simon Dach auf der einen Seite die carpe-diem-Motivik der Weindichtung entfalten und zugleich in den geistlichen Gedichten den Wein als irdischen Tand verurteilen oder als Allegorie präsentieren, etwa des guten Zwecks leidvoller Erfahrungen (so in Non caret adversis qui pius esse velit. Simon Dach: Gedichte. Hg. von Waither Ziesemer. Bd. 3. Halle a. d. Saale 1938, S. 37). Praktische Wein-Handbücher können ebenfalls ohne religiöse/theologische Diskurselemente auskommen und sehr pragmatische Anweisungen geben. Vgl. ζ. B. das 3. Buch „Von Wein-Gärten" in Daniel Rhagorius: Erneuerter Pflantz-Garten / Oder grundlicher Bericht / Obs-Kraut-vnd Wein-gärten mit Lust und Nutz anzustellen / zu bawen vnd zu erhalten [...], [...]. Basel 4 1669; oder David Kellner: Hochnutzbar und bewährte Edle Bierbrau-Kunst / Lehrend Die rechte Art und Weise gut / wohl-schmeckend / gesund und kräflftig Bier zu brauen [...] Nebst einem Anhang von Wein und Essig / jetzo zum andern mal zum Druck befördert. Leipzig u. Gotha 1690. So im Sermon von dreierlei gutem Leben, das Gewissen zu unterrichten. Martin Luther: Werke. Kritische Gesammtausgabe. Bd. 7. Weimar 1897, S. 801. So zu „Sicherheit unnd Verachtung Gottes" als Folgen der „vollerey" in einer Predigt vom 18. Mai 1539. Luther (1897). Bd. 47, S. 759. Vgl. zu mittelalterlichen Beispielen für den Gedanken, dass Weingenuss himmlische Freuden vermittle bzw. die Erdennot vergessen lasse: Legnaro (1981), S. 89. Vgl. zum Trinkopfer ζ. B. Daniel Czepkos Theure Mahlzeit. Über eine Kloster Freude'. „Nicht wundre dich, dass man zu Tantz und Sprunge schlägt, / Und dass der Väter Schaar, die graue Kutten trägt, / So lustig sich erzeigt und in die Welt wil sehen, / Weil es nicht heute pflegt am ersten zu geschehen. // Der Wein ist hier nicht Wein, die Trachten keine Tracht, / Gedencke, dass du auch ein Theil darzu gebracht: / Als zu dem Opffer sich ein ieder muste finden, / Die Speisen und der Tranck, das sind der Leute Sünden". Daniel von Czepko: Weltliche Dichtungen. Hg. von Wemer Milch. Breslau 1932, S. 387; Martin Opitz' Vielguet: „Noch hab' ich nie gesagt von Epicurus Söhnen, / Der rawen Art / die Gott vnd Menschen pflegt zu höhnen / Vnd schätzet jhren Bauch für Gott und für jhr Gut; / Denselben opffert sie den Wein, der Erden Blut, Vnd lebet so dahin, als dörffie sie nicht sterben / Vnd stirbt, als sey hernach kein Leben mehr zu erben; / Sie denckt nicht eines an dass ihre Schwelgerey / Der blossen Dürffligkeit und Kranckheit Mutter sey". Martin Opitz: Weltliche Poemata. 1644. Erster Teil. Unter Mitwirkung von Christine Eisner. Hg. von Erich Trunz. Tübingen 2 1975, S. 94.

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Im 17. Jahrhundert lässt sich zudem eine Verweltlichung der Weinkritik konstatieren. Zum festen argumentativen Bestand gehört natürlich der Verweis darauf, dass der Trinker das Seelenheit verspiele, aber dieser Verweis ist nicht zwingend. Mit Michael Stolleis kann man sagen, dass sich das argumentative Feld insofern ausdifferenziert, als .weltliche' und ,geistliche' Dimensionen der Weinkritik im Laufe der Frühen Neuzeit entkoppelt werden und dass insofern ökonomische oder moralische Vorbehalte an Autonomie gegenüber religiös unterfutterten Normen gewinnen. 24 Der Wein im Literalsinn übernimmt also lediglich Aufgaben für die Hege der diesseitigen Ordnung. Die Aufrichtigkeit des Weins hat damit - wenn überhaupt - einen innerweltlichen Ort. Man kann diese lokale Fixierung auch an den Problemen sehen, die sich beim Zusammenhang von Weinkonsum, Aufrichtigkeit und Frömmigkeit ergeben. Einig ist man sich darüber, dass der Betrunkene Gott nicht ehrt; einig ist man sich aber auch darüber, dass der Betrunkene sein Herz auf die Zunge legt.25 Aus diesem Grund wird dem Wein oftmals angelastet, gotteslästerliche Reden zu provozieren. Aber: Müsste der wahre Gläubige nicht gerade unter Alkoholeinfluss seine religiöse Gesinnung unter Beweis stellen? Welchen Wert hat eine Frömmigkeit, die Gott vergisst, sobald ihre wahre Einstellung und ihre eigentlichen Interessen zur Geltung kommen? 26 Ganz offensichtlich ist die Aufrichtigkeit des Weins theologisch betrachtet eine unaufrichtige Aufrichtigkeit. Ihr fehlt das für die geistliche Aufrichtigkeit entscheidende Moment: der bewusste Entschluss. Dadurch entsteht freilich auch das kurrente Problem der Scheinfrömmigkeit. Die Aufrichtigkeit des Weins ist demgegenüber - wie man mit Aristoteles sagen könnte - eine Aufrichtigkeit „ohne Wissen".27 Der Trinker verliert nach zeitgenössischen Zeugnissen vor allem eines: seine „vernunffi". 28 Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass der Wein Elemente des Glaubens aufnehmen kann, nämlich die Plausibilisierung höchst unwahrscheinlicher Einstellungen wie etwa bedingungsloses Vertrauen, Zuversicht ohne Augenschein, hoffnungsvolles Ausdauern in Unsicherheit und unkontrollierbarer Abhängigkeit u. a. 24

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Stolleis (1983), S. 36 f., 42, 45 u. 50: Das Luxusproblem kann dabei zunächst im 16. und 17. Jahrhundert unabhängig von theologischen Bedenken als Problem der Ständegesellschaft reflektiert und schließlich ökonomisiert werden. Die Politik wird säkularisiert und entethisiert, an Zweck-Mittel-Kalkülen entfaltet. Kurz gesagt: Luxus fuhrt nicht mehr in die Hölle, sondern zu mehr Arbeitsplätzen. Zum einen gilt: „Es ist Gott umb der Trunckenboltzen Andacht nicht zu thun / wie man solche Affen findet / wenn sie voll seyn / alsdenn wollen sie beten und Psalmen singen / welches denn solchen Bierfliegen und Weinschläuchen anstehet wie der Sau auf der Sackpfeiffen zu spielen". Zum anderen gilt: Wenn man zu viel trinkt, „so muss alles herftir / wäre es auch Mord und Todtschlag / es bricht ohne Peinigen herauß / was im Hertzen verborgen ist / denn im Wein ist Wahrheit". Georg Engelhard von Löhneyß: Hof-Staats- und Regier-Kunst. Bestehend in drey Büchern [...], Franckfurt a. M. 1679, S. 12. Für ein Negativexempel der Gottvergessenheit im Weinrausch vgl. Grimmelshausens Vogelnest. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Werke. Bd. 1/2. Hg. von Dieter Breuer. Frankfurt a. M. 1992, S. 425 ff. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übs. von Eugen Rolfes. Hg. von Günther Bien. Hamburg "1985,1110b. Stolleis (1983), S. 24 f.

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b) Sozialkontrolle der Aufrichtigkeit des Weins Die Weinkritik der weltlichen Obrigkeit lässt sich in vielen Punkten an die geistliche Weinkritik anschließen und ähnlich motivieren, und tatsächlich ergießt sich über die Weintrinker seit dem 16. Jahrhundert eine wahre Flut an kirchlichen Sendbriefen und .policeylichen' Verordnungen, die den Alkoholkonsum in vertretbare Bahnen lenken wollen.29 Die Klagen betreffen im Übrigen auch die Universitäten, und hier nicht allein die Studierenden, sondern gleichermaßen die Professorenschaft, weil viele Professoren zur Verbesserung ihres Einkommens neben ihrem Lehramt den Bier- und Weinschank betrieben. So warnte Herzog Julius von Braunschweig 1597 die Helmstedter Universität, ihm keine „versoffenen" Professoren ins Land zu bringen.30 Ein großes juridisch behandeltes Thema des Weins ist das Problem der Weinfälschung.31 Der Wein selbst muss auf Verstellung geprüft werden. Dies macht das Thema der .Aufrichtigkeit des Weins' auch im Sinn des genitivus subjektivus lesbar. Das recht nonchalante Verhältnis zur Aufrichtigkeit sieht man daran, dass die Weinhandbücher zwar ausgefeilte Ratschläge geben, wie man beim Weinkauf Betrügern auf die Schliche kommt, dass aber gleich daneben die Ratschläge dafür stehen, wie schlechter Wein guten Wein simulieren kann und wie man beim Weinverkauf etwa durch die kulinarische Präparierung des Geschmacksvermögens die mindere Qualität des Weins zu dissimulieren vermag.32 Der zweite Aspekt der juridischen Weinbehandlung betrifft Fragen der Verantwortlichkeit und Zurechnungsfähigkeit.33 Auch hier bewirkt der Wein Gegenteiliges, nämlich sowohl die Strafmilderung als auch die Strafverschärfung, weil der Wein zwar, übermäßig genossen, unzurechnungsfähig macht, diese Unzurechungsfähigkeit jedoch willentlich herbeigeführt wird und damit wiederum zurechnungsfähig ist.34

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Roller (1998), S. 377 f.; Hasso Spode: „Der Sauf bleibt ein allmächtiger Abgott bei uns Deutschen". Trunkenheit als Baustein nationaler Identität. In: Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven. Hg. von Hans Jürgen Teuteberg u. a. Berlin 1997, S. 283299, S. 285. Paul Frauenstädt: Altdeutscher Durst im Spiegel des Auslandes. In: Archiv für KulturGeschichte 7 (1909), S. 257-271, S. 267; Spode (1991), S. 64. F. Theissen: Weinfälschung. In: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte. HRG. Hg. von Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann u. Dieter Werkmüller unter philologischer Mitarbeit von Ruth Schmidt-Wiegand. Mitbegründet von Wolfgang Stammler. Bd. V. Berlin 1998, Sp. 1231-1234. Vgl. ζ. B. Sincerus Philalethes: Der Curiöse und Offenhertzige Wein-Artzt / Das ist: Allerhand bewährte Mittel / wie der Wein von der Kelter an sorgfaltig zu warten / beständig gut zu erhalten / in andere / Kräuter-Würtz- und frembde Weine zu verwandeln / und so er ohngefahr zu Schaden kommen / ihme glücklich wieder zu helffen sey; Allen Hauß-Vätem und Müttern mitgetheilet. Dresden 1700, S. 10ff.u.S. 18ff. Vgl. die „Rechts-Anmerckungen" zum Problem des trinkenden „Hausvaters" bei Franz Philipp Florin: Oeconomus Prudens et Legalis. Oder Allgemeiner Klug- und Rechts-verständiger Haus-Vatter / bestehend in neun Büchern [...] mit Rechtlichen Anmerckungen auf allerhand vorfallende Begebenheiten versehen von Johann Christoph Donauern [...]. Nürnberg, Franckfurtu. Leipzig 1702, S. 10 f.

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Im Fokus der obrigkeitlichen Kontrolle stehen dabei jene Formen des ritualisierten Alkoholkonsums, die mit religiösen Praktiken rivalisieren und sich zugleich insbesondere mit bestimmten kirchlichen Feiertagen verbinden. Es geht vor allem um die Eindämmung des ,Zutrinkens' oder ,Gesundtrinkens',35 die bei sozialen Zentralereignissen wie „Hochzeiten / Kindtauffen / Kirchmessen / Collationes und andere zusammenkunffien" exzessive Formen annehmen. ,,[B]ey uns Teutschen", so hält Johann Colers Oeconomia Ruralis et Domestica diese Konkurrenzsituation fest, würde das Weintrinken bei diesen Gelegenheiten „so gewaltig geübet und getrieben [...] / damit man dann Gottes Zorn und Ungnade verursachet / dass er seinen Segen endlich von einem Haußwirth gantz und gar wegnimbt [...]".36 Die Gefahr der Aufrichtigkeit des Weins liegt für Coler dabei auf der Hand: [...] der Wein [treibt] alles / was inwendig im Hertzen verborgen ist herauß ans Liecht / und last jederman sehen und hören / und wie eine volle Saw letztlich alles von sich gibt / was sie zu sich genommen hat / also schütten sie auß alle Heimligkeiten / die ihnen vertrawt sind.

In Form einer Klimax schildert Coler die Folgen dieser Aufrichtigkeit als einer Beichte am falschen Ort: Man lässt sich zu allem überreden, man verliert seinen guten Namen, man verarmt und landet schließlich in der Hölle.37 Das im Rausch gesprochene Wort - so eine andere Quelle - bringt den Trinker „um Ehr und Gevier / Leib und Leben / Seel und Seligkeit" und vieles mehr.38 Johann Joachim Becher empfiehlt der „Obrigkeit", Säufer wie Selbstmörder zu bestrafen, was wiederum auf die Anmaßung göttlicher Entscheidungsbefugnisse durch den Trinker verweist. Allerdings macht er sich keine Illusionen, denn „[...] dieses Laster oder vielmehr Kranckheit / [hat] heutiges Tages bey Hohen und Niedrigen dergestalt überhand genommen / dass es nicht nur ein Mißbrauch / sondern 34

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Grundlegend: Aristoteles (1985), 1113b: „Selbst die Unwissenheit bestraft das Gesetz, wenn sich herausstellt, dass man an ihr selber schuld ist. So trifft die, die sich in der Trunkenheit vergehen, ein doppeltes Strafmaß, weil die Ursache in dem Betrunkenen selbst liegt. Es stand bei ihm, sich nicht zu betrinken. Die Trunkenheit aber war die Ursache seiner Unwissenheit". Dazu: Roller (1998), Sp. 380. Zum Thema vgl. A. Erler: Trinken / Zutrinken. In: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte. HRG. Hg. von Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann u. Dieter Werkmüller unter philologischer Mitarbeit von Ruth Schmidt-Wiegand. Mitbegründet von Wolfgang Stammler. Bd. V. Berlin 1998, Sp. 361-364. Johann Coler: Oeconomia Ruralis et Domestica. Darin das ganzt Ampt aller trewer HaußVätter / Hauß-Mütter / beständiges und allgemeines Haus-Buch / vom Haußhalten / WeinAcker-Gärten-Blumen und Feld-Bau / begriffen [...] / auff ein Newes in vielen Büchern mercklich corrigirt, vermehret und verbessert / in Zwey Theyl abgetheilet und mit schönen Newen KupiFerstücken gezieret / Sampt vollkommenem Register in Track verfertiget. Mäyntz 1665, S. 43. Coler (1665), S. 42 f. Eberhard Gockel: Eine curiose Beschreibung Deß An. 1694. 95. und 96. durch das Silberglett versüßten sauren Weins / und der davon entstandenen neuen / und vormahls unerhörten Wein-Krankheit / Welche in Stätten / Clöstem und Schlössern / auch hin und wieder auf dem Land viel grausame Symptomata nach sich gezogen / wordurch viel hohe und niedere Stands-Personen entweder eine lange Zeit hefftig angefochten worden / oder gar das Leben eingebüsset haben [...]. Ulm 1697, S. 3 f.

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schier ein ordinari Gebrauch worden / endlich auch gar ein habitum politicum & Physicum degenerirt [...]".39 Motiviert wird die ,policeyliche' Eindämmung der Enthemmung durch Weinkonsum folglich, weil dieser die Ökonomie des gesellschaftlichen Umgangs wie des Seelenheils behindert, und zwar durch unkontrollierte Maßlosigkeit. Zu dieser Enthemmung und Verschwendung von Besitz ohne Achtung der Zukunft gehört auch, dass der Wein aufrichtiges Verhalten stimuliert und dass diese Aufrichtigkeit des Weins soziale Hierarchien gefährdet. Wenn Autoritäten über Arkanwissen stabilisiert werden, dann stellt der Wein sowohl auf Ebene der Staatsführung als auch auf der analog konstruierten Ebene der Hausführung solche Machtverhältnisse in Frage. „Denn wer truncken ist / der fraget / weder nach Gott / weder nach den Menschen / [...] Da wird Vatter vnd Mutter / Herr und Fraw Richter vnd Oberherrn verachtet".40 Wer trinkt, erkennt keine „Autoritet" mehr an, wer betrunken ist, wird nicht mehr als „Autoritet" anerkannt.41 Franz Philipp Florins Oecortomus Prudens et Legalis, der zeitlich in den Zusammenhang der Klugheitslehren und der strategozentrischen Privatpolitik gehört, rät dem Hausvater „allezeit und überall wachtsam / fursichtig / häuslich / sparsam / bescheiden / munter / emsig / und in vielen Fällen verschwiegen" zu sein. „Trunkenheit" ist dann nicht nur ein kostspieliges Vergnügen: Was kan auch wohl ein trunckener Mensch verschwiegen halten? In vino Veritas. Ein trunckener Mensch redet des Herzens Grund. Da erfähret das Gesinde / was ihm verborgen bleiben sollte. Da ist kein Begreifen oder Nachdencken / ob man zu seinen eigenen Nutzen oder Schaden rede. Es mangelt an Exempeln nicht / dass vielen die Zunge in der Trunckenheit gelöst / und das Innerste des Herzens also aufgeschlossen worden ist / dass sie guten Namen / Vermögen / wo nicht gar allerdings den Kopf auf das Spiel gesetzt haben 4 2

Die Aufrichtigkeit des Weins ebnet also soziale Differenzen nach unten. Topisch scheint es den Weinkritikern so, als verliere der Säufer seine Menschlichkeit, als werde er zum Tier.43 Für das sprichwörtlich44 als trinkfreudig und 39

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Johann Joachim Becher: Psychosophia Oder Seelen-Weisheit / Wie nemlich ein jeder Mensch aus Betrachtung seiner Seelen selbst allein alle Wissenschaft und Weißheit gründlich und beständig erlangen könnte. Zweyte Edition, von dem Autore selbsten übersehen corrigiret / und in vielem verbessert / anitzo aber wegen vielfältiger Nachfrage wieder aufgelegt. Hamburg 1705, S. 210. Widder den Sauffieuffel / gebessert / vnd an vielen örtern gemehret. Item / Ein Sendbrieff des Hellischen Sathans / an die zutrincker / vor 45. Jaren zuuor aus gegangen. Item / Ein Sendbrieff Matthaei Friederichs / an die Folien Brüder in Deutschem Lande, o. O. 1590, unpag. So bei Matthäus Friedrich: Wider den Sauffieuffel (ca. 1530). Zit. n. Spode (1991), S. 59. Florin (1702), S. 9. Vgl. etwa die Typologie von Säufern als Tiertypologie bei Aegidius Albertinus in seinem unter dem Namen Antonio de Guevaras veröffentlichen Traktat über „Gastereyen und Zutrincken": Drey schöne Tractätlein / deren Das Eine DE MOLESTIIS A U L E , & Runs Laude. Das ist: Mißbrauch des Hof-lebens / und Lob deß Landt-Lebens. Das Ander: Der rechte wohlgezierte Hoff-Mann / oder Hoff-Schul genannt. Das Dritte: De Conviviis & Compationibus, von Gastereyen und Zutrincken. Dritter Theil. In Hispanischer Sprach beschrieben. Jetzund aber durch ^Egidium Albertinum Fürstl. Durchl. in Bayern Hoffrahts Secretarium in Teutsche Sprach versetzt. Franckfurt am Mäyn 1660, S. 187 ff. Vgl. auch

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entsprechend aufrichtig eingeschätzte Deutschland hat das Folgen.45 „Bachus hat jetzund gar das directorium und summum imperium, bey uns Teutschen übernommen / da das Sauffen so gemein / dass man es für kein Laster / sondern vielmehr für eine grosse Tugend hält f...]",46 heißt es in Löhneyß' Hof-Staatsund Regier-Kunst, und entsprechend wird Deutschland im feudalistischen Bewertungsmodell herabgesetzt: Weil das maßlose Trinken als ein „vergleichsweise stumpfsinniges und niedriges Laster" gilt, so Montaigne, und weil es „völlig leib- und erdgebunden" ist, „hält es unter allen heutigen Völkern allein das grobschlächtige in Ehren: das deutsche".47

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ein entsprechend illustriertes Flugblatt bei Stolleis (1981), S. 99. Zu Albertinus vgl. Helmuth Kiesel: „Bei Hof, bei Holl". Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979, S. 90 u. 94. Vgl. in epigrammatischer Form: „Si latet in vino Veritas, ut proverbia dicunt, / invenit verum Teuto vel inveniet". Carmina medii aevi posterioris latina. Bd. Π/4. Proverbia sententiaeque latinitatis medii aevi. Lateinische Sprichwörter und Sentenzen des Mittelalters in alphabetischer Anordnung. Gesammelt und hg. von Hans Walther. Teil 4. Göttingen 1966, 28566. Zum Thema vgl. Frauenstädt (1909); Heinz-Gert Woschek: Der Wein. Geschichte und Geschichten über Jahrtausende. Bilder und Dokumente. München 1971, S. 97 f. u. 135 f.; Spode (1991), S. 208 ff.; Spode (1997). Vgl. dazu die beiden wesentlichen Bezüge in der Frühen Neuzeit: Auf der einen Seite gibt Luther dem „Saufteufel" in der Auslegung des 101. Psalms eine Heimat: „Es mus aber ein jglich land seinen eigen Teufel haben, Welschland seinen, Franckreich seinen. Unser Deudscher Teufel wird ein guter weinschlauch sein, und mus Sauff heissen, das er so dürftig und hellig ist, der mit so grossem sauffen weins und biers nicht kan gekület werden. Und wird solcher ewiger durst und Deudschlands plage bleiben (hab ich sorge), bis an den Jüngsten tag". Luther (1897). Bd. 51, S. 257. Zu Luther vgl. Fritz Blanke: Reformation und Alkoholismus. In: Zwingliana DC (1949/53), S. 75-89. Auf der anderen Seite steht Tacitus, der in der humanistischen Rekonstruktion einer deutschen Vorgeschichte ermöglichte, germanischen Alkoholkonsum und das Motiv der spezifisch deutschen Redlichkeit zu koalieren (vermutlich verbreitet Tacitus nur einen Topos der antiken Reiseschriftsteller, die alle Völker am Rand der griechisch-römischen Kultur für .Barbaren' und damit für .Säufer' hielten; vgl. Stolleis (1981), S. 101). Der Germania zufolge hält bei den Germanen niemand durchzechte Nächte und Tage für schändlich. Gerade das „convivium" ist zentraler Beratungsort: „tamquam nullo magis tempore aut ad simplices cogitationes pateat animus aut ad magnas incalescat" - Die Germanen benehmen sich so, „als sei der Mensch zu keiner Zeit aufgeschlossener für unverstellte oder stärker entbrannt für erhabene Gedanken"; Tacitus: Germania. Lateinisch und deutsch. Übs., erläutert und mit einem Nachwort hg. von Manfred Fuhrmann. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2000, 22. Dies ist freilich nur Ausdruck eines allgemeinen Charakterzugs eines Volks, das alle Geheimnisse des Herzens („secreta pectoris") offenbart, dies allerdings, ohne auf diese Aufrichtigkeit des Alkohols gänzlich zu vertrauen, denn auf die berauschte Beratung folgt eine nüchterne: „deliberant, dum fingere nesciunt, constituunt, dum errare non possunt" - ,,[S]ie beraten, wenn sie sich nicht zu verstellen wissen; sie beschließen, wenn sie sich nicht irren können"; Tacitus (2000), S. 22. Dass Vellerns Paterculus die Germanen als .durchtriebenes' und „zum Lügen geboren[es]" Volk bezeichnet, war demgegenüber weniger anschlussfahig; so der Hinweis von Manfred Fuhrmann in: Tacitus (2000), S. 80 f. Löhneyß (1679), S. 144. Michel de Montaigne: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Frankfurt a. M. 1998, S. 168.

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c) Sozialstruktur

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Weingenuß

D a s übermäßige Trinken kann ins Spiel der Nationalkonkurrenzen integriert werden 4 8 , nur selten allerdings positiv zugunsten der eigenen Nation, w e n n etwa satirischerweise die „guthertzigen Deutschen" durch „sondern fleiß vnnd beliebung" das „Principat vnd Vorzug" vor allen anderen übernehmen, „ w i e w o l derselben gar vil jhre Schnäbel auch Meisterlich mit Bier vnd W e i n zubegiessen wissen". 4 9 In zivilisations- oder kulturkritischer Perspektive erscheint gerade die unwählerische Trunksucht als ein Zeichen unkorrumpierten Lebens 5 0 , s o w i e der mäßige W e i n g e n u s s in degenerativen Geschichtstheorien zur Ausstattung des g o l d e n e n Zeitalters gehört oder umgekehrt gerade deren N i e d e r g a n g signalisiert. 51 Der W e i n ist Effekt d e s Sitten Verfalls und gleichzeitig der W e g w e i s e r zur Wiederherstellung einstmaliger Moralität. S o fugt Harsdörffer z u du R e f u g e s Klugem

Hofmann

auf die Frage „Warumb kann der Teutsche M a n n nicht dis-

simulieren sagen?" die versifizierte Kritik an der französischen Kulturorientierung hinzu: Weil man nicht wol teutschen kan Wornach falsche Hertzen fragen: Dann die Teutsche Redlichkeit Von dem Rebensafft benetzet War / mit wahrer Treu ergötzet Offenhertzig allezeit: Nun ein jeder simulieret, Weil der König Fra[n]s regieret. 52

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Wolff Helmhard von Hohberg: Georgjca Curiosa Aucta. Das ist: Umständlicher Bericht und klarer Unterricht Von dem Adelichen Land- und Feld-Leben [...]. Erster Theil. Nürnberg 1682, S. 522. Blasius Multibibus: Jus Potandi oder Zechrecht. Nachdruck der deutschen Bearbeitung des „Jus Potandi" von Richard Brathwaite aus dem Jahre 1616. Mit einem Nachwort von Michael Stolleis. Frankfurt a. M. 1982 [1616]. Kap. 2, unpag. So ζ. B. bei Montaigne, der die .deutsche' Art, jeden Wein zu trinken, fur richtig hält, während die Franzosen zu wählerisch seien - bei ihnen sei an die Stelle des auch in der Antike üblichen Alkoholexzesses die sexuelle Unsittlichkeit getreten. Montaigne (1998), S. 170. Ζ. B. Guevara (bzw. Albertinus) (1660), S. 160; Antonius Mizaldus: Artztgarten / Von Kreutern so in den Gärten gemeinlichen wachsen / vnd wie man durch dieselbigen allerhand Kranckheiten vnd Gebrechen eylendts heilen soll. [...] Auch ein schöne weiß und kunst mancherley Wein zu machen [...] Jetzund aber newlich verteutscht / durch Georgen Henisch von Bartfeld / vormals in Teutscher Sprach nit gesehen worden. Basel 1616, unpag. (Vorrede); Tommaso Campanella: Sonnenstaat. In: Der utopische Staat. Morus: Utopia. Campanella: Sonnenstaat. Bacon: Neu-Atlantis. Übs. und mit einem Essay ,Zum Verständnis der Werke', Bibliographie und Kommentar hg. von Klaus J. Heinisch. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 147. Bei Hugo Grotius hingegen gehört der Wein gemeinsam mit der Wollust, Eifersucht, Ehrsucht α a. zu den Zeichen des Abfalls vom unschuldigen Leben. Hugo Grotius: De jure belli ac pacis libri tres. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens. Paris 1625. Nebst einer Vorrede von Christian Thomasius zur ersten deutschen Ausgabe des Grotius vom Jahre 1707. Neuer deutscher Text und Einleitung von Walter Schätzle. Tübingen 1950, S. 146 f. Eustache du Refuge: Kluger Hofmann: Das ist / Nachsinnige Vorstellung deß untadelichen Hoflebens / mit vielen lehrreichen Sprüchen und denckwürdigen Exempeln gezieret; Nicht

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Freilich muss man auch sehen, dass Deutschland damit einen gewissen Vorsprung in der Trainingseinheit ,Trinkfestigkeit' hat, die zum frühneuzeitlichen Herrschaftsrepertoire gehört. Zwar wird gerade den Führungsinstanzen immer wieder Nüchternheit empfohlen, so wie sich umgekehrt ein Fürst dadurch auszeichnen kann, dass er - anders als seine Standesgenossen 53 - hierbei eine Ausnahme macht.54 Aber angesichts der höfischen Weinkultur reagieren diese Positionen nur auf ihr faktisches Gegenbild. Aus diesem Grund kursieren auch Ratschläge, wie man die Trinksitten zumal bei „Fürsten und grossen Herren" übersteht. Bei Hof, beim Militär und in anderen „Aemtern" gehört Trinkfestigkeit zu den erforderlichen Qualifikationen.55 Mit Piaton kann man diese Alkoholerziehung als Kultivierung der Schamgrenzen und damit als „Staatskunst" verstehen: In den Gesetzen gibt er dem Weingelage einen Ort in der Anerziehung derjenigen „Furcht", die „uns zurückhält unserer Keckheit die Zügel schießen zu lassen und jemals irgend etwas Schändliches zu sagen oder zu dulden oder zu tun". Der Wein wird als Test und Ausbildungsmaßnahme dafür verwendet, dem .Tüchtigen' seinen „Rededrang und Freimut" in einem sozial verträglichen Maß auch unter extremen Bedingungen zu zügeln, so dass er nicht „unbedenklich alles nur Mögliche heraussagt und auch tut".56 Der Wein als Herrschaftstechnik gehört jedenfalls zum konzeptionellen Bestand der Aufrichtigkeit des Weins: Will sich iemand bey Hoff- und Herren finden/ Das Meisterstücke muss seyn abgelegt: Ein Becher Ellen hoch muss vor ergründen Was er in seiner Brust verborgen trägt. 57

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nur den Hofleuten zu dienlicher Nachrichtung; sondern allen und jeden / welche bey grossen Herren mit schweren Regiments-Geschäfften beladen / und sich vieler Welthändel unterziehen müssen / Zu sondrem Behuff Gedolmetscht / Und mit vielen Gedichten Anmerckungen und seltnen Betrachtungen beleuchtet. Durch Ein Mitglied der hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft. Franckfurt 1667, S. 197 f. Viele Fürsten der Frühen Neuzeit waren wohl tatsächlich gefurchtete Trinker. Vgl. Stolleis (1983), S. 29; Stolleis (1981), S. 104; Spode (1991), S. 63 f. Fürst Christian Π. von Anhalt-Bernburg hat gelobt, bei Tisch nur noch ein Glas zu trinken (Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen: Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617-1650. Zweiter Bd. 1627-1629. Unter Mitarbeit von Andreas Herz und Dieter Merzbacher hg. von Klaus Conerman. Tübingen 1998, S. 217, dazu S. 219). Hohberg (1682), S. 522 f. Vgl. die Rauschvermeidungsmittel (Pfirsichkern, Baum- oder Mandelöl, Kohlsaft u. a.) ζ. B. bei Johann Christoph Thieme: Haus-Feld-Arzney-KochKunst und Wunder-Buch. Das ist: Ausfuhrliche Beschreib- und Vorstellung / Wie ein kluger Hausvater und sorgfältige Hausmutter / wes Standes und Würden sie auch immermehr seyn mögen / mit votrefflichem Nutzen und ersprießlichem Nahrungs-Aufnehmen / ihr Haus-Wesen fuhren / und / durch GOttes reichen Segen / auf ihre Nachkommen höchstglücklich fortpflanzen mögen [...]. Nürnberg 1682, S. 1829. Piaton (1993). Bd. VD. Gesetze, 649. Zum Fundus an historischen Exempeln gehört der Germanenfürst Bonosus. Von ihm berichtet Flavius Vopiscus, er habe nicht allein außerordentliche Mengen an Wein konsumieren können, sondern dies habe bei ihm zudem weniger zu einer Minderung als vielmehr zu einer Steigerung seines ansonsten eher niedrig veranlagten intellektuellen Vermögens ge-

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Umgekehrt gilt aber aus Perspektive der staatspolitisch motivierten Weinkritik auch: Ein Trunck auff Hofe-Recht kan nicht veijagen Die Feindschafft / deren Grund im Hertzen wohnt. Ein volles Maul wird im Vertrauen sagen / Was nüchtern Strang und Schwerdt mit Angst belohnt. Durch Wein erkauffter Mutt macht schlechte Helden/ Fällt / wenn der dichte Rausch vorbey / in Koth. Wer sich wohl nüchtern darff bey Hofe melden/ Wird truncken abgeweist mit Schimpff und Spott. 58 Tatsächlich sind die Warnungen vor der Erniedrigung durch den W e i n und durch die alkoholisch provozierte Aufrichtigkeit nicht seltener als die Vorstellungen der Erhöhung. In der hierarchischen Gliederung der Welt ist das G o l d im R e i c h der Mineralien, der M e n s c h im Tierreich und eben der W e i n im Pflanzenreich das „edelste" der G e s c h ö p f e - aus diesem Grund schließt die Theorie des W e i n s auch m ü h e l o s an alchemistische und mystische Gedankenfiguren an. 5 9 D i e Elevation gehört z u m Wein. Der W e i n übernimmt dann therapeutische Wirkung, indem unter Alkoholeinfluss b e i s p i e l s w e i s e der Mittellose seine Armut vergisst. A b e r diese alkoholischen Aufstiegsphantasien können eben auch bedenkliche A u s m a ß e annehmen, w e n n ein „Sklave" sich als „König" fühlt 6 0 oder w e n n ein aufrichtiges Wort v o n unten nach o b e n gelangt. S o w i e aus privatpolitischer Vorsicht vermieden werden sollte, dass man „ b e y m Truncke von Reichs- und andern politischen Händeln disputire", s o sollte man generell über den Fürsten kein „freyes Wörtgen" äußern. Z u m einen nämlich sind die Fürsten „GOttes Stadthalter", z u m anderen gilt: „der Verräther schiäfft nicht". 61 U m es mit A b s c h a t z in Versen z u formulieren:

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fuhrt. Daher hatte Bonosus in Diensten Kaiser Aurelians die Aufgabe, angereisten Diplomaten beim exzessiven Weintrinken ihre Geheimnisse zu entlocken: „nam si quando legati barbarorum undecumque gentium venissent, ipsi probinabantur, ut eos inebriaiet atque ab iis per vinum cuncta cognosceret. ipse quantumlibet bibisset, semper securus et sobrius et, ut Onesimus dicit, scriptor vitae Probi, adhuc in vino prudentior". The Scriptores Historiae Augustae. Vol. ΠΙ. With an English Translation by David Magie. Harvard u.a. 1932, S. 410. Abschatz (1704). Bd. 4, S. 101. Ζ. B. Basilius Valentinus: Triumph=Wagen Antimonii, Fratris Basilii Valentini, Benedicter Ordens / Allen / so den Grund suchen der vralten Medicin, Auch zu der Hermetischen Philosophy beliebnis trage / zu gut publiciret / vnd an Tag geben / Durch Johann Thölden, Hessum. Mit einer Vorrede / D. Joachimi Tanckii, Anatomes & Cheirurgiae Professoris in der Universitet Leipzig. Leipzig 1624, S. 363 u. 396. Vgl. zum Thema auch: Helmut Meinhardt: Nikolaus von Kues über das Weintrinken. In: Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit. Vorträge eines interdisziplinären Symposions vom 10.-13. Juni 1987. Hg. von Irmgard Bitsch α a. Sigmaringen 1987, S. 201-206, S. 204 ff. So die Folgen des Weinkonsums in Opitz' Heinsius-Nachdichtung des Lobgesang Bacchi. In: Opitz (1978). Bd. Π/l, S. 22. Curieuser Reise-Hoffineister / oder Kurtze / doch Deutlicher Anweisung / wie Ein junger Mensch / welcher in die Welt gehen / und seinem Vaterlande hernach die Veritable Staats-

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So wird man vor gewiß zur Nachricht hören / Wer Freud und Freunde sucht / wer Höfe liebt / Wer sich erheben will zu Gunst und Ehren / Muss seyn in Bachus Schul und Zucht geübt. 62

Die schichtenspezifische Behandlung des Weinkonsums und eine schichtenspezifische Sanktionierung, die den unteren Schichten das Weintrinken in geringerem Maß als den Oberschichten zugesteht, macht dabei auf die Selbstauflösung der stratifikatorischen Ordnung aufmerksam: In der hierarchischen Orientierung der vormodernen Gesellschaft dient die Gesellschaftsspitze als Leitbild; an ihr orientiert sich das Benehmen; sie summiert die positiven Eigenschaften.63 Die Luxusverbote reagieren dann auf ein Verhalten, das diese Vorgabe beim Wort nimmt, ohne ständische Grenzen dabei ins Kalkül zu ziehen, auf eine Orientierung an der Oberschicht, die auf die Desorientierung oder eben Neuorientierung einer egalisierten Gesellschaft zuläuft 64 und in der Aufrichtigkeit für weniger bedenklich als zuvor gehalten wird - zumindest prima facie. Die Voraussetzung einer Umorientierung, die der Aufrichtigkeit einen neuen Ort gibt, reflektiert Paul Fleming in einem Kasualgedicht. Fleming empfiehlt darin „Vertraulichkeit" und die ,,freie[n] Zungen" eines ,,freie[n] Volk[es]", aber eben nur unter „Bedingung" des Weins („Itzt wolln wir alles das, was uns bedünkt zu kränken, / versenken in den Wein und drinnen ganz ertränken"). Zu dieser Persönlichkeitsveränderung durch Drogenkonsum muss dann noch bei den „großen Leuten" willentliche Taubheit hinzukommen („Wer wol zu herrschen weiß, drückt oft ein Auge zu / und spricht zum Ohre viel: Tu nicht, als hörtest du!").65 Als Bedingung der Möglichkeit einer Aufwertung von Aufrichtigkeit reflektiert Fleming damit Ausblendungsleistungen und gewollte Wahrnehmungsvermeidung, die man später vergisst. Die Öffnung durch Aufrichtigkeit basiert auf Abschließungen, die die Dysfunktionalität von Selbstentblößung im gesellschaftlichen Verkehr mindern.

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Klugheit / sammt einer Wohleingerichteten Conduite weisen will / müsse beschaffen seyn. Leipzig 1702, S. 87 u. 90 f. Abschatz (1704). Bd. 4, S. 95. Niklas Luhmann: Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. u. 18. Jahrhundert. In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1980, S. 72-161, S. 89 f. Stolleis (1983), S. 36 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch zur ordo-auflösenden Tendenz der Privatpolitik, die einen wesentlich stabilen und ontologisch geordneten (Gesellschafts-)Kosmos kontingent setzt und zum Ort von „Karrieren" macht, „wie sie das Individuum in einer primär funktional differenzierten Gesellschaft zu entfalten hat". Georg Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert. Tübingen 1989, S. 61. Auf Herzogen Friedrichs zu Schleswig-Holstein etc. Fürstl. Durchlaucht Hochbetrauten Rates und nach Moskau und Persien Wolfümehmen Abgesandten seinen Namenstag, unter währender Rückreise auf der Wolgen unter Detuscha den vierten Wintermonatstag des 1638. Jahres begangen. In: Paul Fleming: Deutsche Gedichte. Hg. von Johann Martin Lappenberg. Bd. 1. Stuttgart 1865, S. 203 f.

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Um eine kurze Zwischenbilanz zu ziehen: Ich bin von der Überlegung ausgegangen, dass die zentrale Position des Weins als kulturelles Paradigma des 17. Jahrhunderts sich - entgegen den faktischen Schwierigkeiten der Weinkultur in Deutschland - aus dessen struktureller Ambivalenz ergibt: Der Wein kann immer Positives und Negatives zugleich erzeugen. Daran schloss sich die Beobachtung an, dass der Wein seine Funktion im so genannten ,Prozeß der Zivilisation' nicht verliert, sondern dass an seinem Beispiel die phantasmatischen Dimensionen einer Gesellschaft reflektiert werden können, die auf egalisierten Distanzbeziehungen und entsprechenden Vermutungen der Konstanz, der Selbstgleichheit und Identität gründet. Der Wein fungiert als Katalysator, als Medium der Kommunikationsenthemmung, und befreit von den Vorbehalten und Ängsten eines bedrohten Individuums, und sei es nur als Fiktion, nur durch Verdrängung oder vergessenes Vergessen. Zunächst konnte man sehen, dass der Wein eine Verweltlichung der Perspektiven unterstützt, dass gerade die Aufrichtigkeit des Weins fur Belange des Seelenheils nicht brauchbar ist und dass diese geistlichen Vorbehalte aus einer Konkurrenzsituation von ,Glauben' und ,Trinken' heraus nachvollziehbar werden. Der Wein erzeugt im gesellschaftlichen Umgang Formen der Offenheit, des bedingungslosen Vertrauens und der unbegründeten Zuversicht, die der Gläubige eigentlich nur gegenüber Gott zeigen sollte. In einem zweiten Schritt habe ich egalisierende Funktionen der Aufrichtigkeit des Weins gezeigt, die im Rahmen hierarchischer Denk- und Erfolgsmodelle dysfunktional sind, sei es als Form des Autoritätsverlusts nach unten, sei es als Form der Selbsterhöhung und Negierung von Machtverhältnissen oder Entscheidungsbefugnissen. Die ,teutsche' Redlichkeit und die ,teutsche' Neigung zum exzessiven Alkoholkonsum schreiben sich in dieses Raster ein. Dass der Wein als Vorkehrung gegen die negativen Wirkungen von Aufrichtigkeit fungiert und dass dazu noch der entschiedene Wille zur Ausblendung oder zur Abschattung von Kommunikationsblockaden wie Kritik, Meinungsverschiedenheit und gedanklicher Eigenständigkeit gehört, konnte man am Beispiel von Flemings Votum für „Vertraulichkeit" sehen.

d) Die Sozialfunktion des Weins Der Wein wirkt als Katalysator von Sozialbindungen geringer Komplexität, also von Freundschaften, wobei er dieser Annäherung eine Form der Beliebigkeit, Sorglosigkeit und damit Geschwindigkeit gibt, die strukturell höherstufige Sozialbeziehungen charakterisieren. In beiden Fällen stören zu viele Probleme, die verhandelt werden müssten. Man könnte sagen, dass der Wein als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium insofern fungiert, als er an sich unwahrscheinliche Kommunikation wahrscheinlicher macht. Grundlage der unter Alkoholeinfluss zustande gekommenen Verkehrsformen ist die Aufrichtigkeit: Der Trinker wird durch den Wein freundschaftlich gestimmt, d. h. er gibt seine

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Geheimnisse preis, ohne sich um die Folgen zu kümmern. Das wird vor allem deswegen zum Problem, weil zu den offenbarten Geheimnissen auch Fehler und Untugenden gehören. In diesem Fall verhindert die Aufrichtigkeit des Weins gerade eine freundschaftliche Beziehung. Schließlich stellt sich das Problem, wie stabil Freundschaften sind, die unter Drogeneinfluss zustande kommen. Auch dies kann der Wein symbolisieren: Freundschaften müssen ihre Qualität so unter Beweis stellen wie ein alterungsfahiger Wein, ihre Beschaffenheit erweist sich durch Dauer.66 Die Weinkritik bekämpft Formen der Vergemeinschaftung, die auf dem Sozialzwang zum Trinken67 und damit auf einer Kultur der Sichtbarkeit und Re66

So schon Jes. Sir. 9, 10; vgl. auch Jes. Sir. 31, 25 ff. zur Weinprüfung der Frevler. Für das 17. Jahrhundert vgl. Friedrich von Logaus Wein-Freundschafft: „Die Freundschafft, die der Wein gemacht, / Würckt, wie der Wein, nur eine Nacht". Friedrich von Logau: Sämmtliche Sinngedichte. Hg. von Gustav Eitner. Tübingen 1872, S. 77; oder Wein-Freunde: „Die von dem Weine / Sind worden deine, / Sind nur zum schertzen, / Sind nicht von Hertzen, / Sind zum behagen / Nur für den Magen". Ebd., S. 354. Generell ist die Temporalität des Weins ein wichtiger Anlaß, um über seinen Stellenwert nachzudenken. Die Schwierigkeit, dass der Wein positive Effekte und zugleich deren Gegenteil mit sich führt, wird durch Temporalisierung gelöst. Mit wenigen Ausnahmen wirklicher Weinenthusiasten rät man in platonischer Tradition der Jugend vom Weingenuss ab: so in Piatons Gesetzen: Piaton (1993). Bd. VII, 666; für das 17. Jahrhundert vgl. ζ. B. Coler (1665), S. 292; Hohberg (1682), S. 502. Dies wird nicht nur mit der mangelnden Selbstkontrolle von Kindern und Jugendlichen begründet, sondern auch mit den Spätfolgen: Die frühe Gewöhnung an den Alkoholkonsum fuhrt zur Trunksucht im Alter (zur temporalisierten Fassung der Weinkritik vgl. Sprüche 23, 29 ff.; zu den entsprechenden Positionen der Kirchenväter vgl. Weisheit im Wein. Poesie und Prosa von Homer bis Zuckmayer. Gesammelt von Karl Christoffel. Freiburg u. a. 1978, S. 125 f.; fur das 17. Jahrhundert vgl. ζ. B. Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Teil 2 u. 3. Lehre vom Menschen und Bürger. Deutsch hg. von Max Frischeisen-Köhler. Leipzig 1918, S. 41). Umgekehrt wird der Wein gerade zur ,Milch des Alters', wie es immer wieder heißt; ζ. B. Georg Philipp Harsdörffer, Sigmund von Birken u. Johann Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht. 1644-1645. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 1966, S. 40. Wein symbolisiert den Wert des Altems und der Reife und hat daher sein Gegenbild im Most; er signalisiert Zeitbedarf, etwa in Form von Geduld: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne. Taschenausgabe. Stuttgart u. Weimar 1996, Sp. 267, 269 f. Auf der anderen Seite demonstriert der Wein auch die Grenzen einer Qualitätsverbesserung durch Zeit: Er verwandelt sich - bei entsprechender Lagerung - in Essig; vgl. ζ. B. in den Heldenbriefen von Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: „Ich muss ein Spiegel seyn, in dem die Jugend schauet, / Wie des Gelückes Mund nicht Wort und Farbe hält, / Wie alles was die Hand der Liebe hat gebauet, / Gar leichtlich Ritze kriegt und endlich gar zerfallt. / Wie offt der schönste Baum vergiffte Früchte träget, / Wie offi ein Donnerschlag aus lichten Wolcken dringt, / Wie offt auff stiller See sich Wind und Sturm erreget, / Ja dass der beste Wein den schärfsten Essig bringt". Deutsche Nationalliteratur. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Joseph Kürschner. Bd. 36. Zweite schlesische Schule I. Berlin u. Stuttgart o. J., S. 14.

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Frauenstädt (1909), S. 77 f. Hier auch zu Luthers Kritik am ,Luxus', der ständische Unterschiede bedroht (Ebd., S. 79 f.): „Wie yetzt in der weit auch überauß überhand genomen, das nyergent kaine maß mehr ist des Übermacheten kostens mit klaidung, hochzeytten, wirtschaften, pancketieren, bawen etc. darob bayde, herrschaft und land und leüte verderben müssen, weil nymandt mehr inn seiner maß bleibt, sondern schier ain yeder Baur ainem Edelman gleich, darnach der Adel auch den Fürsten zuovor thuon will, das auch dieser tu-

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präsentativität sowie einer Ökonomie der Verschwendung beruhen. Das Gesundtrinken gehört zu einer Gesellschaftsordnung, die sich an Nahverhältnissen orientiert, zu einer Ordnung, die auf dem direkten Austausch von Gunstbezeugungen, auf dem sichtbaren Geben und Nehmen basiert. Bis heute haben sich die Versuche, diesen Sozialzwang zu beseitigen, nicht bewährt.68 Für die Weinkritik kann es daher nur um ein mäßigendes Einwirken gehen, das Grenzen zwischen den Individuen errichtet69 und direkte Reaktionen unnötig macht. Die Weintheoretiker greifen daher zu sublimierten Formen des Austausche. Sie schlagen vor, das Weintrinken so weit als möglich zu verzögern und das Beisammensein mit Nonalkoholica zu beginnen; sie empfehlen, nur in kleinen Schlucken zu trinken oder das Trinken sogar lediglich zu simulieren; und sie raten dazu, die Entgegnung auf einen Trinkgruß auf ein späteres Treffen zu verlagern.70 Der angemessene Umgang mit dem Wein trainiert insofern Verhaltensformen an, die auf Selbstdisziplinierung und Nicht-Repräsentativität hinauslaufen, auf Formen der .eigentlichen', ungezwungenen Vergemeinschaftung. Der Wein und seine Aufrichtigkeit testen diese Geselligkeitsformen nur in einer Art Vorlauf: An einen Gläser Freund. Wahr reden, und gerne trincken steht einem Deutschen wol an Wann uns der kühle Wein die dürren Lippen netzt, Und man die Zunge sieht im goldnen Bade schwimmen, Und jeder seine Wort aus freyem Hertzen setzt, So läst auch deine Treu der FreundschafS Lunten glimmen. Jedoch wann Schlaff und Rausch aus Haubt und Augen gehn, So ist es bey dem Trunck ohn Hertz und Hand geschehen: Laß deine Freundschafft auch bey nüchterm Munde sehn, Sonst steht es übel an: Viel sagen, nichts gestehen.71

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gent (eben so wol als der nüchterkait) schier kain Exempel mehr bey uns zuo sehen ist, so gar ist hie das Regiment, ernst und zucht bey uns gefallen". Luther (1897). Bd. 47, S. 768. Schivelbusch (1995), S. 179 ff. Auch dies ist ein Aspekt der „Trockenlegung der Zwischenräume zwischen den Individuen", die Koschorke als Teil der Hygienegeschichte darstellt. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 43 ff. Erasmus von Roterdam: Liber Aureus de Civilitate Morum Puerilium. Das ist: Erasmi Roterdami Güldenes Büchlein Von Höfligkeit der Sitten und Gebärden der blühenden Jugend / Itzo mit Fleiß ins Teutsche zu Nutz deroselben transvertiret und übersetzet, o. O. 1702, unpag. (Kap. „Von den Gastereyen / Pancketen / oder Mahlzeiten"); Io. Casae Galatevs Das ist / Das Büchlein Von erbarn / höflichen vnd holdseligen Sitten. Inn welchem vnter der Person eines alten wolerfahrnen Hofmanns / ein Edler Jüngling vnterweiset wird, wie er sich in Sitten / Geberden / Kleydung / Reden / Schweigen / Thun / Lassen / vnnd gantzem Leben also fursichtiglich verhalten sollte / dass er bey jedermenniglich möge lieb und werth gehalten werden. Nuwlich auß Italiänischer Sprach verteutscht von Nathane Chitraeo. Franckfurt 1597, S. 138; Hohberg (1682), S. 523; Vincentio Nolfi von Fano: Unterweisung Des Frauenzimmers Oder Lehr-Sätze Der Höflichkeit für eine Adeliche Dam / geschrieben von Vincentio Nolfi von Fano An Frauen Hippolyten Uffteducci seine Gemahlin. Aus dem Italienischen in das Teutsche getreulich übersetzet. Nürnberg 1690, S. 530. Czepko (1932), S. 368.

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Der Wein wird im letzten Vers als Wahrheitstechnik mit der Folter verglichen. Von hier aus lässt sich die Physiologie der Aufrichtigkeit des Weins an deren soziale Funktion anschließen. Dass der Vergleich von Wein und Folter durchaus geläufig ist, sieht man wiederum bei Abschatz: Will man gewissen Grund der Sach erfahren / Man darff der Folter-Banck / des Däumelns / nicht; Ein harter Sinn wird doch nichts offenbaren / Es wird offt mehr durch Glimpff und Wein verricht. 72

Beide, die Folter und der Wein, zielen als Wahrheitstechniken auf den Körper und auf einen potentiell Schuldigen.73 Für die Theorie von der Aufrichtigkeit des Weins scheint es ausgemacht zu sein, dass Trinker immer entweder bedrohte oder bedrohliche Personen sind, die ihr Geheimnis entweder bewahren müssen, um keinen Schaden zu erleiden, oder denen ihr Geheimnis entlockt werden muss, damit sie keinen Schaden anrichten - beides gilt als legitime Form der Unaufrichtigkeit bzw. des taktisch-strategischen Verhaltens, weil es keinen unbegründeten Verdacht gibt.74 Daher haben Wein und Folter auch den Charakter eines Zweikampfes oder einer Schlacht gemeinsam75, denn der Einsatz desjenigen, der durch ein Zechgelage sein Gegenüber zur Aufrichtigkeit bringen will, ist die eigene Aufrichtigkeit. Aus diesem Grund werden Trinkgemeinschaften oftmals mit spezifischen Formen der Aggressivität verkoppelt oder an sich als Aggression gewertet. Das Zutrinken wird dann zu einer Kampfhandlung, das Gelage zur Schlacht und damit zum Sinnbild einer sich selbst im Bild des Kriegs entwerfenden Gesellschaft.76 Eine weitere Analogie zwischen Wein und Folter besteht darin, dass man mit guten Gründen an den Ergebnissen dieser Wahrheitstechniken zweifeln konnte. Friedrich von Spee äußerte bekanntlich die Vermutung, die Folter haben die ,Hexen' eigentlich erst hervorgebracht77, und immerhin einige Theoretiker der Aufrichtigkeit des Weins kommen auf die Idee, die therapeutische und die inquisitorische Funktion des Weins zu kombinieren und daraus zu schließen, dass der Wein beispielsweise Gemütslagen verändere und daher gerade Äußerungen unter Alkoholeinfluss verfälschte, nämlich extern induzierte Äußerungen seien.78 72 73 74

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Abschatz (1704). Bd. 4, S. 97. Zur Konzeption des gefährdeten und bedrohten Individuums vgl. Stanitzek (1989). So auch in der Legitimierung der Folter; vgl. Michel Foucault: Uberwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1994, S. 56 f. Vgl. dazu Foucault (1994), S. 55 f.: Der Richter ,verliert', wenn der Gefolterte ungeständig bleibt. Vgl. ζ. B. Flemings Liefländische Schneegräfin, auf Herrn Andres Rüttings und Jungfrau Annen von Holten Hochzeit. Reval, m. de. XXXVI. (Fleming: Deutsche Gedichte. Bd. 1, S. 94 f.); Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992, S. 36. Alexander Ignor: Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532-1846. Von der Carolina Karls V. bis zu den Reformen im Vormärz. Paderborn u. a. 2002, S. 64 f. Vgl. andere Beispiele bei Foucault (1994), S. 54. Julius Bernhard von Rohr: Unterricht Von der Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen, Darinnen gezeiget, In wie weit man aus eines Reden, Actionen und anderer Leute

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Wie bei der Theorie der Folter ist aber auch bei den Weintheoretikem dieser gleichsam performative Charakter der jeweils inkriminierten und produzierten Wahrheiten eher die Ausnahme. Es bleibt bei der Faszination durch das Geständnis als primäre Form der Wahrheitsfindung. Der Wein verbildlicht in gewisser Weise Natürlichkeit und Kulturalität zugleich; er steht für Formen ursprünglicher Einfachheit und für die Notwendigkeit des Zwangs, wenn von der Pflege der Reben auf die notwendigen Erziehungsleistungen geschlossen wird, die bei Menschen zu erbringen sind. Die entscheidende Differenz zwischen den Untersuchungsformen von Wein und Folter dürfte gleichwohl darin bestehen, dass der Weinkonsum häufig den Eindruck einer scheinbar gewaltlosen, freiwilligen Selbstentäußerung hinterlässt - Seneca hatte vom .freiwilligen Wahnsinn' gesprochen.79 Freiwilligkeit stellt sich beim durch Folter erpressten Geständnis erst nach der körperlichen Gewalt bei der Wiederholung des Geständnisses vor Gericht ein. Dieses Schauspiel gehört zum Strafprozess als Opferritual, das den Eingriff in die göttlich gestiftete Ordnung wieder herstellt. Generalprävention, also der Schutz der Gemeinschaft vor dem Verbrecher, und Spezialprävention, also in diesem Fall die Errettung der Seele des Täters, bilden eine Einheit.80 Die Bewahrung des Seelenheils hatte aber wie bei der geistlichen Aufrichtigkeit durch einen bewussten Akt der Einsicht, Geständigkeit und Reue zu geschehen. Dies wiederum fehlt der .freiwilligen' Aufrichtigkeit des Weins.

e) Geist, Körper und Wein Der Wein traktiert also den Körper und erzeugt dadurch Aufrichtigkeit, aber die Körperbehandlung lässt sich als zwangloser Zwang, als gewaltfreie Gewalt verstehen und damit entkörperlichen. Dem Wein kann Körperlichkeit, wie sie im Foltervergleich zur Geltung kommt, in mehr oder weniger starkem Maß zugeUrtheilen, eines Menschen Neigungen erforschen könne, Und überhaupt untersucht wird, Was bey der gantzen Kunst wahr oder falsch, gewiß oder ungewiß sey. Leipzig 31721, S. 53: Wein entdecke zwar „die wahre Beschaffenheit der menschlichen Gemüther", aber das Problem bestehe darin, dass er diese auch verändere („dass die Lustigen traurig, und die Traurigen lustig werden"). Die zu starke Trunkenheit schließt die Gemüter nicht wirklich auf, sondern nur die „mäßige, da die Vemunffi nicht gäntzlich unterdrücket, und das Hertz nur zur Frölichkeit erreget worden. Denn ein Trunckener hält alle Leute vor ehrlich und aufrichtig, dass er nicht vermeynet Ursache zu haben, sich zu verstellen, und ob es sich einer auch gleich vorgenommen, so verursacht doch die Frölichkeit und Treuhertzigkeit, dass er solchen Vorsatz bald aus den Gedancken lässt. Aber es trifft ebenfalls nicht bey allen ein, denn mancher wird mitten in der Trunckenheit politiqve verbleiben, und im geringsten nichts von seinem vorigen Wesen verändern". Dieser Ansatz weist allerdings deutlich in Richtung des 18. Jahrhunderts und der Aufweichung und Auflösung des temperamententheoretischen Paradigmas; vgl. zu Rohr: Geitner (1992), S. 139 ff. 79 80

Seneca (1995), 83, 18. Ignor (2002), S. 62 ff., insbes. S. 68 ff. Vgl. hier auch zur Personalisierung und Subjektivierung von Schuld, Vergehen und Strafe: Ebd., S. 78.

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schrieben werden. W e i n h e f e und Weinstein sind die Bestandteile, die dies ermöglichen. G l e i c h w o h l liegt die eigentliche Pointe der Weintheorie in den Wirkungen und Effekten d e s Weingeistes. Der Wein, der k a n o n i s c h als Leid- und Sorgentherapeutikum verbucht wird 8 1 , wirfit offenbar in besonderer W e i s e das Problem des Z u s a m m e n h a n g s v o n Seele, Geist und Körper auf, 8 2 j a aufgrund seines Wirkungsspektrums, das j e d e s der Temperamente auf zeitlich begrenzte Art z u erregen vermag, tendiert die Theorie des W e i n s z u einer Art Universaltheorie. 8 3 A b g e s e h e n v o n differenzierteren Positionen bestehen die positiven körperlichen Folgen 8 4 vor allem in der spiritualisierenden Wirkung d e s W e i n s , also in seiner verdauungsbefördernden Funktion auf der einen Seite, seiner Fähigkeit zur geistigen Stimulierung auf der anderen. 8 5 A e g i d i u s Albertinus e t w a

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Vgl. dazu die einschlägigen Stellen beispielsweise in den Oden des Horaz (carm. I, 18 und IV, 12). In der pseudo-aristotelischen Physiognomik heißt es: „Dass eine seelisch-geistige Verfassung an eine körperliche Verfassung gebunden und an sich nicht unbeeinflusst von Bewegungen des Körpers ist, wird sehr deutlich bei Trunkenheit und schwerer Krankheit; denn eine seelische Verfassung verändert sich offenbar sehr durch körperliches Leiden". Der Text der pseudo-aristotelischen „Physiognomonica". Traktat A. Übs. von Andreas Degkwitz. In: Geschichten der Physiognomik. Text. Bild. Wissen. Hg. von Rüdiger Campe u. Manfred Schneider. Freiburg i. Br. 1996, S. 13-21, S. 13 [§1, 805a 1-18]. Fürs 17. Jahrhundert vgl. Coler: „Ja der Wein mässig genossen / ist ein solcher edler Saffi / dass er nicht allein dem Leibe und Gliedern desselben / sondern auch der Seelen zuspringet / dann er macht / dass ein Mensch alle Traurigkeit fahren last / und aller Schmertzen vergisset / schärffet den Verstand / und macht ihn geschickt allerley schwere und subtile Dinge zu erfinden / und macht einen Menschen behertzt und muthig zu allerley Sachen". Coler (1665), S. 291. Zumal im Umkreis der Humorallehren avanciert der Wein zu einem wichtigen Reflexionsmedium. Ein locus classicus der Verbindung von Wein und Temperament über das tertium comparationis „Wärme" und „Lufthaltigkeit" ist Aristoteles' Problem XXX, /.jener fiir die Melancholietheorie so bedeutende Text, der die Verbindung von Genialität und Melancholie herstellt. Der Wein bringt in Reihenfolge verschiedene Charaktereigenschaften zutage. Der Schweigsame wird erst „geschwätzig", dann „übermütig", „frevelhaft und schließlich rasend". Am Ende dieser Kurve kommt der Trinker bei der Melancholie an. Aristoteles: Problem XXX, 1. In: Raymond Klibansky, Erwin Panofsky u. Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und Kunst. Frankfurt a. M. 21994, S. 59-76, S. 61 f. Als Raster von Weinkrankheiten vgl. ζ. B.: „Der Frantzösische Wein verursacht sehr den Stein / der Ungarische macht hitzige Fieber / der Welsche Wein die Colic der Spanische Wein setzt nicht ab / der Oesterreichische macht die Dörrsucht / Stein und Podagra, Francken=Wein schlägt in die Glieder und macht Contracturen / Necker=Wein verderbt den Magen / der See=Wein und der Elsasser ist der Lungen und Brust gefahrlich / Rhein= und Moßler Wein seyn zwar die gesundeste / machen aber das Geblüth zu flüssig und zu dünn / wann man drinnen Exczeß thut". Becher (1705), S. 214. Vgl. beispielsweise Petrus Crescentius: „Wein mässiglich genutzt / macht lebendig / vnd erquickt Natürliche wärme / verdawet die speiß / treibt all vberflüssigkeit zum Stulgang / reiniget die Natur von allen bösen Dünsten vnd Vnreinigkeiten vnd Cholera / Adelt das Blut / sterckt das Hirn / erkleret die Augen / scherpffi die Sinn vnd Vemunffi deß Menschen / macht schön lauter Färb". Petrus Crescentius: New Feldt vnd Ackerbaw / [...] Mehr / wie vnd an welchem ort nach jeder Landschafft art vnd gelegenheit Weinwachs zu zeugen / vnd mit gebürlicher arbeit jeder zeit Jahrs / vernünfftig zu warten. Neben eingeführter vollkommener Kellermeisterey / wie alles vnd jedes Getränck nach notturfft geschicklich zuversehen sey [...]. Straßburg 1602, S. 274. Als Beispiel einer älteren, vor allem medizi-

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zählt in De Conviviis & Compationibus die „Tugenden" des Weins auf: Er verbessere Verdauung und treibe den Harn an, er mache „Mißfarbige / lieblich vnd roth", bringe einen „guten Geruch", stärke „die Natur der Geburt", erfreue „das Gemüth vnd Blut", erquicke die „natürliche Hitz / vnd machet die Stillschweigende redsprächig", erwecke „gute Hoffnung" und lasse den Trinker „keck vnd kühn in der Gefahr" sein, unterstütze die Verdrängung „deß Jammers und Elends etlicher massen", vertreibe den „Geitz von den kargen Leuten und machet sie mildgebig", veijünge „alte Männer und Weiber" - „in Summa" heißt es daher abschließend, „guter Wein ist halbes Leben".86 Wichtig scheint mir daran zu sein, dass physische, psychische und soziale Effekte ineinander übergehen. Eine heitere Gemütslage verbindet sich mit der Entlastung des Körpers, mit der Beförderung der Organtätigkeiten und der Versorgungsleistung durch die Verteilung von Nahrung in feinsten Verästelungen des Leibes sowie mit der Ausbildung sozialverträglicher Umgangsformen. Dies ist im Rahmen der Weintheorie nicht unbedingt Merkmal einer undifferenzierten, bereichsvariablen Semantik, sondern macht die Attraktivität des Weins als kulturelles Paradigma aus. Eine ähnlich aufschlussreiche Verbindung von Weinkonsum, Physiologie, Ökonomie und Policey findet man beispielsweise auch in Hohbergs Georgica Curiosa Äucta, die deutlich in Richtung einer bürgerlichen Arbeitsethik weist. Im Körper übernimmt der Wein im Prinzip die zentrale Funktion der „Mässigkeit" als Leitorientierung. Er „zertheilet" und „löset" körperinterne Blockaden.87 Diese Entblockierung macht nicht nur „gesund / frölich und glückselig", sondern ist auch „zum Reich werden / darnach die meisten Menschen streben / eine grosse Beförderung [...]". Hohbergs Diätetik bahnt die Handelswege körperinternen Austausche durch eine Ernährung, „welche die dicken / zähen Feuchtigkeiten verdünnet / flüssig und flüchtig macht / alle Verstopffungen sanfift aufschliesset / die Strasse / wodurch die Lebens-Geister müssen / ausreinigt / und das alles ohne Schmertzen / ohn Hitz / ohne Schaden / ohne Kranckheit / ohne Verlust der Zeit / ohne Versaumung seins Beruffs".88

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nisch orientierten Weintheorie vgl: [Arnold de Villa Nova]: Dieser Tractat helt yn von bereytung der wein zu gesuntheyt vnd nutzbarkeyt der menschen. Straßburg [1506] - hier werden vor allem verschiedene Kräuterweine abgehandelt. Als Summierung der Weinmedizin im 17. Jahrhundert vgl. beispielsweise Gabriello Falopio: Geheimnisse Der Natur. Aus dem Italienischen ins Teutsche übersetzet. Franckfiirt a. M. 1690, S. 201 ff. Zu den differenzierenden Positionen gehört auch die Unterscheidung zwischen verschiedenen Weinen, die für unterschiedliche Altersstufen oder Sozialgruppen bestimmte Funktionen übernehmen. Weißwein ist demzufolge beispielsweise empfehlenswert für „Leute[ ] / die [...] studiren sollen / oder sonst schwach Gehirn haben"; Rotweine hingegen eignen sich fur einen „Menschen / der ein starck Gehirn hat", vor allem wenn es sich um einen „recht guten gesunden Wein" handelt - „darumb pflegen die Theologen solchte gute Weine zu trincken / wann sie mit hohen Gedancken umgehen [...]". Coler (1665), S. 291. Albertinus veröffentlicht diesen Traktat wie gesagt unter dem Namen Guevaras: Albertinus (1660), S. 173 f. Über die „Mässigkeit" heißt es: Sie „lähret aus was überflüssig", sie „macht dünn was schleimicht ist / eröffnet alle Verstopffungen / erweitert und erhaitert die Gänge der LebensGeistef", sie ,/einiget", „stärcket",,/nässiget". Hohberg (1682), S. 248 f. Hohberg (1682), S. 250.

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Das tertium comparationis, das Physiologie, Seelen- und Gesellschaftslehre verbindet, ist die .Öffnung' bzw. - im Krankheitsfall - die .Verstopfung'.89 Aus diesem Grund kann auch von einer Aufrichtigkeit des Körpers gesprochen werden, zum einen, weil der Wein eine aufrichtige Körpersprache entstehen lässt, zum anderen, weil der Körper unter Alkoholeinfluss gleichsam aufrichtig zu sich selbst ist: Der Wein „eröfnet den Mund der Adern", heißt es bei Johann Coler.90 Die körperlichen Folgen sind wiederum den sozialen vergleichbar, denn die Aufrichtigkeit des Körpers durch den Wein „adelt das Blut".91 Wichtig ist dabei auch, dass die Aufrichtigkeit des Weins temperamententheoretisch nicht fixiert ist und dass die physiologische Wirkung des Weins im Modell einer von unten nach oben aufsteigenden Form der Spiritualisierung sich zwar auf der einen Seite im hierarchischen Denkmuster abbildet, dass sich aber auf der anderen Seite diese Wirkung auch im ganzen Körper gleichmäßig entfaltet. Die durch Entkörperlichung erzielte diffuse Beziehungsordnung im Körper korrespondiert der sozial unspezifischen Beziehungsaufnahme, die die Aufrichtigkeit des Weins stimuliert.92

f ) Die Poesie des Weins Das eigentliche Problem scheint darin zu liegen, dass der Wein enthemmt, innere Blockaden löst und die Person nach außen, oben oder unten öffiiet, dass aber diese Öffnung zugleich eine neue Form der Abschließung provoziert. Dies gilt in einem Höchstmaß für den negativen Fall der Trunkenheit und die dadurch verminderten Wahrnehmungsfähigkeiten.93 Dies gilt aber auch im Positiven für 89

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Trinkt man zu viel, bringt der Wein die „Haushaltung" im Gehirn „aus dem Geschicke". Nach dieser Verwirrung wird man müde, weil der Wein eine Absetzung in den „kleinen Gängen des Gehirns" bewirkt und dadurch den „LaufF der Spirituum animalium" hemmt. Niclas Lemery: Cours de Chymie, Oder: Der vollkommene Chymist, Welcher die in der Medicin gebräuchlichen Chymischen Processe auff die leichteste und heilsamste Art machen lernt / Und mit den scharffsinigsten Anmerckungen und Urtheilen über ieden Proceß die Liebhaber dieser Wissenschafft weiter anführet. Bd. 2. Aus der neuesten Franz. Edition ins Teutsche übersetzet / und bey ietziger andern Aufflage auffs neue und correctese revidiret. Dresden 1705, S. 130. Vgl. hier auch zu den hippokratischen Schriften: Preiser (1981a), S. 301. Coler (1665), S. 291. So die Formulierung bei Crescentius (1602), S. 274. Vgl. dazu aus .mediologischer' Sicht Koschorke (1999), S. 116 ff. Vgl. ζ. Β. M. Gottfried Voigt: „XXIII. Warumb können die trunckenen Leute nicht wohl sehen? [...] Woran liegt nun die Ursache? An nichts anders / als an den Spiritibus, welche nicht recht qvalificiret und in das Auge durch die Nervös opticos gehen können. Denn wenn ein Mensch zu viel trinckt / so steige die vapores über sich / nehmen das Gehirn ein / und pertubiren dasselbe. Wenn nun das Gehirn von den vaporibus oder groben Dünsten angefüllet / so werden die Spiritus animales, welche in dem Gehirn generirt, zugleich obtundirt und verhindert / dass sie nicht ihren freyen Gang zum Augen haben können. Und daher wird das Gesichte stumpff / und kan nicht sehen als sonst / wenn das Gehirn unpertubirt ist"; sowie: „LXVI. Was ist die Ursache der Trunckenheit? [...] es kömmt die Trunckenheit von

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den mäßigen Weingenuss 94 : Der Wein begünstigt die Imaginationsfahigkeit. Er blockiert eine wie auch immer geartete realistische Wahrnehmung der Welt, er blockiert den Gebrauch der Vernunft, und zwar gerade durch die Steigerung der geistigen Vermögen. Nur aus diesem Grund kann er als dichterisches Inspirationsmedium dienen. Die Aufrichtigkeit des Weins gründet auf der Simulation von Freundschaft, sozialer Egalität und Sorglosigkeit. Er regt Außenkontakte an durch Selbstanregung. Der Wein macht die Unwahrscheinlichkeit eines produktiven und erfolgreichen Umgangs aufrichtiger Menschen wahrscheinlicher. Die Dichtkunst kann dies auch deshalb in teils radikaler Weise entfalten, weil sie spezifische .Freiheiten' für sich reklamiert. Die „Poetische gemüter" sind „vnterweilen etwas sicherer vnd freyer [...] / als es eine vnd andere zeit leidet [...]", und der „wein" trägt dazu seinen Teil bei, wie man an Alkaios, Aristophanes, Alkman, Ennius u. a. sehen könne. 95 Als poesiologische Kategorie spielt der Wein hauptsächlich in der Inspirationstheorie eine Rolle. 96 Die Physiologie der Inspiration wird von Johann Klaj in den Redeoratorien genauer beschrieben und signifikanterweise auf den Wein und die Weintheorie bezogen: Wie schwer es sey / etwas lobwürdiges hierinnen zu leisten / wird der erfahren / der sich darunter bemühet. Der Poet muss die Neigungen und Eignungen / welche er seinem Zuhörer beybringen wil erstlich in sich empfinden / und in die Persone / welche er vorstelle will / gleichsam entzükket sich verstelle: Was er ausbilden will / muss er ihm zuvor kunstartig einbilde. Weil aber die BildungsKrafft in einem warmen Gehirn und subtilen Geisterlein bestehet / ist sich nicht zu verwundern / wann die Poeten zuzeiten bey dem Becher der Frölichkeit mit bescheidener Mässigung Belieben suchen. Heinsius wil (in Notis ad Horat. f. 192.) dass von den Wintzern in den Weinbergen die ersten Lieder gesungen worden / und beweiset / dass der Lateiner Carmen, und der Grieche Kerama von den Chaldeer carma das ist / vom Wein herkommen: Wie auch das Wort Tragoedia von Bacchi Bokk / welchen man Jährlich wegen der reichen Weinemde / als ein schädliches Thier in den Weinbergen/ mit dergleichen Gedichten aufgeopffert / wie bekandt.97

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der fermentation, da die innerlichen partes des Gehirns und das föderste an den SpanAdem verstopffet werden / also / dass weder die eusserlichen noch innerlichen Sinne ihr Ampt verrichten können". M. Gottfried Voigt: Physicalischer Zeit-Vertreiber. Mit einem Vorwort von Roman U. Sexl u. Jürgen Teichmann. Braunschweig u. Wiesbaden 1980 [1670], S. 24 u. 53 f. Die Kritik am übermäßigen Weingenuss macht sich auch an der vomitiven Wirkung fest. Die Körperöflhungen sollen also verschlossen werden. Die Beförderung der Verdauung durch den Wein setzt demgegenüber auf die destillatorische Funktion und damit auf die Sublimierung und Spiritualisierung der Körperlichkeit - der Wein verfeinert die Nahrung so, dass sie in die feinsten Verästelungen des Leibes einzudringen vermag; vgl. ζ. B. Mizaldus (1616), S. 50 u. 52. Die Mäßigung als Grenzziehung zwischen den Individuen und der Aufbau eines fest umgrenzten Leibes gehören zusammen; Koschorke (1999), S. 43 ff Der Wein kann auch insofern an kommende therapeutische Paradigmen anschließen (Ebd., S. 54 ff.), als er nicht primär auf Abfuhr als Therapie setzt, sondern die ,Kraft' des Körpers und damit seine Autoreferentialität unterstützt. So Opitz gegen das pindarische Wasser-Lob gewendet im Buch von der Deutschen Poeterey. Opitz (1978). Bd. Π/l, S. 349 u. 352 - damit zitiert Opitz eine Stelle aus Scaligers Poetik. Vgl. zur mittelalterlichen Tradition: Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen u. Basel111993, S. 439 f. Johann Klaj: Redeoratorien und „Lobrede der Teutschen Poetery". Hg. von Conrad Wiedemann. Tübingen 1965, S. 197.

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Die enthusiasmierende und vergeistigende Qualität des Weins hatte etwa Scaliger mit einem anthropologischen Argument formuliert. Neben der göttlichen Inspiration, die dem Poeten autochthon oder durch (Musen-) Anruf zuteil werde, inspiriere der Wein durch die Entfernung des Geistes vom Körper.98 Die Verbindung von Poesie und Wein wird dabei auch - freilich nur als Ausnahme und in einer eher drastischen Weise - über die purgierende Wirkung gestiftet. Erdmann Neumeister rechnet neben dem Universalmittel der Lektüre vorbildlicher Poeten den Wein zu einer Reihe interessanter Stimulanzien wie Tabak, Bier, Tee, Kaffee, der „einsamen Gelassenheit" eines Spaziergangs, dem Aufenthalt an einem „lustigen Orte eines Gartens oder Aue". Allerdings befreit nicht allein der Wein: Mir ist eine gewisse Person bekandt / welche alle ihre Verse / mit Respect zu melden / aussch = = = Denn wenn er sich nicht bey dem geheimden Bürgermeister befindet / wo man mit niedergelassenen Bein=Kleidem Audientz haben muss / so ists ihm nicht möglich / etwas auszusinnen. Zwar ob gleich der Ausfall garstig / so sind dennoch die Einfalle recht gut / und stincken nicht [...]."

Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Poetiken, die den Kontrollverlust durch den Wein befürchten und das iudicium gegen die alkoholische Inspiration ausspielen. Hier folgt dann nach dem ikarischen Aufstieg des Poeten der ebenso ikarische Absturz.100 Dass der Wein wie die Liebe nur als „Wetzstein" des Poeten fungiere101, demonstrieren einige Gedichte performativ, indem sie das Weinlob in ein enthusiastisch-aufgeregtes Stammeln der Affektrede überfuhren, nur um dann am Ende des Gedichts durch die wieder geordnete Syntax ihre geistige Intaktheit zu demonstrieren.102 Der angemessene Gebrauch der rhetorischen

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Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri Septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Bd. I. Buch 1 u. 2. Hg., übs., eingel. und erläutert von Luc Deitz. Stuttgart-Bad Canstatt 1994, S. 84 f. [Erdmann Neumeister]: Die Allerneueste Art / Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen. Allen Edlen und dieser Wissenschafft geneigten Gemühtern / Zum Vollkommenen Unterricht / Mit überaus deutlichen Regeln / und angenehmen Exempeln ans Licht gestellet / Von Menantes. Hamburg 1707, S. 3. Vgl. Abschatz (1704). Bd. 4, S. 100. Vgl. zu Thomasius: Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983, S. 415. Zum Wein vgl. Abschatz (1704). Bd. 4, S. 183; zur Liebe vgl. Opitz' Buch von der Deutschen Poeterey: Opitz (1978). Bd. Π/l, S. 353. So in Opitz' Lobgesang Bacchi: Opitz (1978). Bd. D/1, S. 42; oder in Weckherlins Drunkenheit. Georg Rudolf Weckherlin: Gedichte. Hg. von Karl Goedeke. Leipzig 1873, S. 169 f. Mit einer gewissen Beruhigung konstatieren daher Bodmer und Breitinger auch in ihrem Opitz-Kommentar den Abfall am Ende des Gedichts: „Nachdem der Poet [...] einen so starcken Rausch gewonnen, der in den folgenden Zeilen beständig fordauret, und ihn noch an dem Ende des Gedichtes nicht verlassen hat, so fällt er in den viel letzten Versen allzu hoch herunter, da er sich erst mit der Hoffnung kitzelt, bey dem Hrn. Schreiben einen guten Malvasier zu finden, er verrathet sich, dass der ganze Rausch, von dem er so viel geschwätzt hatte, nur in der Einbildung oder der Metapher bestanden hat, und er noch ganz nüchtern gewesen war". Martin Opitzens Von Boberfeld Gedichte. Von J. J. B. und J. J. B. besorget. Erster Theil. Zürich 1745, S. 462.

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Mittel einer Poesie des Weins markiert die Nüchternheit des Poeten. Daher betont auch Gottlieb Stolle in der Retrospektive auf die Poesie des 17. Jahrhunderts, zwar hätten Poeten wie Marino, Tasso, Homer oder Horaz im Zustand der „raserey" viel gedichtet, aber ebenso hätten Opitz, Lohenstein, Hoffmannswaldau, Gryphius und Neukirch „viel herrliche getichte ohne so seltsame entzückung, und beyhülffe des Bacchi verfertiget".103 Interessant ist, dass sich die Poesie des (literal verstandenen) Weins zwar eindeutig der weltlichen Lyrik zuordnen lässt, der Wein aber im Gattungsspektrum der weltlichen Gedichte sowohl an den Spitzenlagen der enthusiasmierten Dichtung wie am Ende der Skala, bei den Lyrica, seine Wirkung entfaltet.104 Diese egalisierende Funktion einer vom Wein angeregten Dichtkunst gilt weiterhin für die Aufstiegsbemühungen der Gelehrten im 17. Jahrhundert. Dass nämlich der Wein die geistige Einstellung des Poeten .erhöhe', sei es im Sinne der Stimulierung von Einbildungskraft, sei es im Sinne der Stimulierung sublimer Sprachtechniken, schließt die Inspirationstheorie der Poesie des Weins an die sozialen Effekte des Alkoholkonsums an - der Wein simuliert soziale Höhenlagen und sein angemessener Gebrauch ist die Voraussetzung, um sowohl der Höflichkeitskultur als auch der höfischen Ökonomie der Verschwendung angemessen begegnen zu können. Dies bedeutet, wie gezeigt, immer auch den taktisch klugen, gesellschaftlich geforderten Umgang mit Aufrichtigkeit in einem Kontext genereller Aufstiegsbewegungen, die aus Sicht der Zeitgenossen die stabilen ständischen Muster zu untergraben scheinen.105 Die Luxusverbote der Frühen Neuzeit, die sich neben der Kleidung, den Fahrzeugen oder den Modeartikeln insbesondere dem Wein widmen, versuchen eine als Krise diagnostizierte Zeit zu bewältigen. 103

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Gottlieb Stolle: Vorrede. In: Benjamin Neukirchs Anthologie Herrn von Hoflmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte. Sechster Theil. Nach dem Druck vom Jahre 1709 mit einer kritischen Einleitung und Lesarten. Hg. von Erika A. Metzger u. Michael M. Metzger. Tübingen 1988, S. 7-16, S. 10. Die „lyrica" haben ihr thematisches Zentrum in „Liebe, Spiel und Trinken", wie Scaliger erklärt. Scaliger (1994). Bd. I. Buch 1 u. 2, S. 394 f. Wichtig fur diese Bestimmung war das , juvenum curas et libera vina referre" des Horaz (Ars Poetica, V. 83 ff.), das beispielsweise die humanistische Poetik von Opitz bei der Bestimmung der „Lyrica" zitiert. Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey: Opitz (1978) Bd. D/1, S. 369. Aber die Horazische Wein-Verehrung überführt den Wein gleichermaßen von der niederen Stilebene in die hohe, und durch Aristoteles' Problem XXX, 1 war die Verbindung von Wein und Enthusiasmus auch konzeptionell hergestellt worden (s. o.). Dies ist deswegen entscheidend, weil die hohen Gattungen wie die sozialen Höhenlagen eine emste Sache sind, der Zentralaffekt einer Poesie des Weins hingegen die .Freude' ist - zur .Freude' als semantischer Schiene der Modernisierung vgl. Steffen Martus: Friedrich von Hagedorn - Konstellationen der Aufklärung. Berlin u. New York 1999, S. 51 ff. Zudem verbindet sich der Wein zwar hauptsächlich mit dem movere und delectare, aber aufgrund der Dosierungsprobleme und Folgewirkungen ist er auch Gegenstand des docere, zumal in der berühmten Heinsius-Übersetzung von Opitz, die ein Arsenal der Weinmythologie, der Weintheorie, des Weinlobs und der Weinkritik ausbreitet. Vgl. zu ähnlichen Lehren in emblematischer Form: Emblemata (1996), Sp. 273 f., 1826 f. Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982.

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Vor diesem Hintergrand werden die Eingangsstrophen aus Abschatz' großem Weingedicht aufschlussreich: Was ist der süsse Saffi der schwancken Reben / Liäus starcker Tranck / der theure Wein? Wo ein Poet hiervon soll Zeugnis geben/ Muss er die beste Kost der Musen seyn. Diß ist die klare Bach auff Pindus Spitzen Woraus die nasse Schaar der Sänger trinckt; Auff diesem Pegasus muss feste sitzen / Wer von der Erde sich zum Sternen schwingt. Mit dieser Tinte muss die Feder schreiben / Was vor der klugen Welt bestehen soll. Was sonst würd' ungethan beym Wasser bleiben / Giebt sich hernach beym Trunck und Weine wohl. Ein Gärtner muss zuvor das Land begüssen / Eh die gewünschte Frucht sein Aug ergözt: Dem Dichter werden nicht die Reime flüssen / Eh er den dürren Mund mit Weine nezt. Der scharffe Wein erhizt Verstand und Sinnen Nicht minder als den Leib und und das Gesicht / Und lehrt sein treues Volck ein Werck beginnen Das weder Neid noch Zeit noch Tod zubricht. Nicht minder kan ein Krantz von grünen Reben / Den Berezinthius zum Lohne schenckt / Den Preiß der Ewigkeit Poeten geben / Als wenn ein Lorber-Zweig ihr Haar umschränckt.106

Abschatz formuliert diese Verse, wie auch das folgende Weinlob und die anschließende Weinkritik, mit großer Distanz. Er summiert, was die entsprechenden Gruppen, die Dichter, die Trinker, die Weisen etc., topisch zum Wein zu sagen haben, auch wenn er sich am Ende scheinbar für den gepflegten, also mäßigen Alkoholkonsum auszusprechen scheint („Wenn ich den Grund der Warheit will betrachten/ Däucht mich/ dass der und jener unrecht sey. [...] Der rechte Brauch ist drum nicht auffzuheben/ Ob gleich ein Mißbrauch ist geschlichen ein"). Dieses Votum wird allerdings erneut in seiner Funktionalität ausgestellt, denn es dient den Trinkern als Alibi fur ihr „Räuschgen". An dieser Stelle ist entscheidend, dass der Wein die „Tinte" und die „Reime" in jene fluiden Medien verwandelt, die sie für die „kluge Welt" prädestiniert, dass der Wein also jene Verflüssigung, für die er Dank seiner Spiritualität bei den Körpersäften sorgt, auch in der Dichtkunst poesiologisch und poetologisch zur Geltung bringt. „Verstand und Sinnen", „Leib und [...] Gesicht", Versen und Reimen vermittelt der Wein eine Gängigkeit, die den Gelehrten und seine Dichtungen aufsteigen lassen zu gelungenen Werken und sozialen Oberschichten - zwei Strophen später finden sich die bereits zitierten Verse: „Wer 106

Abschatz (1704). Bd. 4, S. 94 f.

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sich erheben will zu Gunst und Ehren / Muss seyn in Bachus Schuld und Zucht geübt". Daraus wiederum erklärt sich, warum Gotthard Heidegger in seiner Mythoscopia Romantica (1698) die Vorkehrungen gegen die Trunkenheit, die insbesondere gegen den Sozialzwang der Trinkkultur im höfischen Kontext (s.o.) entwickelt wurden, auf die Präparierung des Lesers überträgt, um diesen vor „Gifft und Stanck" zu schützen.107 Es gehört daher in den weiten Horizont des kulturellen Paradigmas ,Wein', dass Christian Gryphius in der Vorrede zu Abschatz' Werken noch einmal auf die Kompatibilität von Nebenstundenpoesie und politischer Brauchbarkeit und auf die fürstliche Sanktion der Dichtkunst hinweist.108 Der Wein, um noch einmal zu resümieren, verdiesseitigt die Aufmerksamkeit unter strukturellen Bedingungen, die charakteristisch sind für die Disziplinierungsleistungen einer sich ausprägenden ,Langsicht'109 und ihrer Phantasmen der Gleichheit, des Vertrauens, der Konstanz von Beziehungen über Entfernungen und damit des Umgangs mit Abwesenden. Die Aufrichtigkeit des Weins vertritt auch und gerade in ihrer gemäßigten Form exemplarisch einen Typus von Abschließungen, der eine neue Öffnung des Individuums ermöglicht. Alkohol blendet Störungen und Komplikationen aus, indem er wechselseitige Offenheit unterstellt, und zwar ohne dass dazu langwierige Anbahnungsbemühungen unternommen werden müssen. Die Kritik am Trinkzwang, die Individualisierung des eigenen Alkoholkonsums und der Reaktionsformen auf den Alkoholkonsum anderer zieht der Pflicht zur augenblicklichen Repräsentation von Ehrbezeugungen Grenzen, um dadurch Freiräume für einen ungezwungenen Beziehungsaufbau zu eröffnen.110 107

„Man pflegt [...] bey dem Weingelack den Amethyst zugebrauchen / um dadurch zu verhütten / dass der Kopf nicht doli werde; Also muss man bey dem lesen der Poeten / mit dienlicher Gemilths-Vorbereitung versehen seyn / damit man nicht Gifft und Stank erwische [...]" - Heidegger beruft sich an dieser Stelle auf Plinius. Gotthard Heidegger: Mythoscopia Romantica oder Discours von den so benanten romans. Faksimileausgabe nach dem Originaldruck von 1698. Hg. von Walter Ernst Schäfer. Bad Homburg v. d. H., Berlin u. Zürich 1969, S. 84 f. 108 „Unser Schlesien hat sich billich glücklich zu schätzen / dass es die schon oben beniemte irrige Meynung / mit diesem lobwürdigen Beyspiel / von neuem abweisen und zur Gnüge darthun kann / dass mit Feder und Papier umzugehen / oder einen wohlgesezten Vers zu machen / keine Sache sey / die denen / welchen / wie man ietzt zu reden pflegt / der Degen angebohren / zum Schimpff oder Nachtheil gereiche. Wahrhafftig / wenn Potentaten / die drey- und vielfache Kronen getragen / ihre Ergötzligkeit nicht selten in der Poesie gehabt: Wenn in Purpur und mit Fürsten-Hütten prangende hohe Häubter / wenn streitbare FeldHerren und durchtriebene Staats-Männer die Hand zu Wercke geleget / warum solten sich denn Standes-Personen und Edelleute scheuen in so Majestätische und erlauchte Fußstapffen zu treten?" Abschatz (1704). Bd. 4, unpag. 109 Vgl. zu diesem Konzept Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 2. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt a. M. 15 1990, S. 336 ff. 110 Damit schließe ich an die zivilisationsgeschichtlichen Thesen von Legnaro (1981) an, ohne die alkoholische Enthemmung per se als eine begrenzte Form der Affektbefreiung und Ausnahme vom Normalzustand der Nüchternheit verbuchen zu müssen.

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Dass kommunikative Verhältnisse und anthropologische Modelle in einem konzeptionellen Wechselverhältnis stehen, konnte man an der Physiologie der Aufrichtigkeit des Weins sehen, wobei der Wein - dies sollte der Vergleich mit der Folter als Wahrheitstechnik zeigen - sublimierte Formen der Körperlichkeit ins Spiel bringt und entsprechend zwanglos das entbirgt, was am ,Grund des Herzens' ruht. Die Wirkungen des Weins im Körper sind so vielfaltig und verstreut wie die Beziehungen, die er zwischen den Menschen knüpft. Der Wein öffnet den „Mund" der Körperströme und den „Mund" der Individuen; er sorgt für Formen der internen Hygiene wie der Reinigung des Bluts und für Formen der intern motivierten Sinneswahrnehmungen. Die Inspiration durch den Wein umfasst die Pole des Gattungsspektrums weltlicher Dichtung. Diese Linie läuft quer zur .Erhöhung' des solchermaßen angeregten Poeten. Aber entscheidend dürfte sein, dass der Wein neue Sozialkontakte stiftet, indem er der Dichtkunst eine Fluidität gibt, die sie weit- und damit hoftauglich macht - dass Opitz, also derjenige, dem man die Durchsetzung des .fließenden' Stils einer deutschen Nationalliteratur zuschreibt, in der Aufklärung wieder aktuell wird111, passt ins Bild. Der Wein bringt Körperströme, Sozialbeziehungen und Dichtkunst gleichermaßen in Bewegung.112 Abschließend deute ich von hier aus noch kursorisch die Anschlussmöglichkeiten an, die diese Semantik einer Aufrichtigkeit des Weins bietet.

Die Aufrichtigkeit des Weins im 18. Jahrhundert Die Aufklärung erhebt bekanntlich Aufrichtigkeit zum handlungsleitenden Ideal.113 „Aufrichtig ist der Mensch geschaffen", behauptet Johann Gottfried Herder und verfolgt diese urwüchsige Aufrichtigkeit bis in die „aufrechte Gestalt des Menschen". Zur Durchsetzung einer aufrichtigen Gemeinschaft bedarf es lediglich der Befolgung der goldenen Regel, die sich von selbst fortzupflanzen scheint: „Den ich an meine Brust drücke, drückt auch mich an seine Brust [...]".'14

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Vgl. ζ. B. die beiden Opitz-Ausgaben der rivalisierenden Parteien: Martin Opitzens Von Boberfeld Gedichte (1745); Martin Opitzens von Boberfeld Teutsche Gedichte, in vier Bände abgetheilet, Von neuem sorgfaltig übersehen, allenthalben fleißig ausgebessert, mit nöthigen Anmerckungen erläutert, von Daniel Wilhelm Triller, Und mit Kupfern gezieret durch Martin Tyroff. Erster Band, enthaltend Weltliche Gedichte. Frankfurt am Mayn 1746. Zur neuerlichen, sublimierten .Befeuchtung' der zwischenmenschlichen Räume vgl. Koschorke (1999), S. 212 ff. Stanitzek (1989), z.B. S. 99 f.; Geitner (1992), S. 149 ff.; Günther Sasse: Aufrichtigkeit: Von der empfindsamen Programmatik, ihrem Kommunikationsideal, ihrer apologetischen Abgrenzung und ihrer Aporie, dargestellt an Gellerts Zärtlichen Schwestern. In: Texttyp, Sprechergruppe, Kommunikationsbereich. Studien zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart. FS fur Hugo Steger zum 65. Geburtstag. Hg. von Heinrich Löffler u. a. Berlin u. New York 1994, S. 105-120, S. 108 ff. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Mit einem Vorwort von Gerhart Schmidt. Textausgabe. Darmstadt 1966, S. 127. Zu den theologischen

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In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat man das anders gesehen. Auch hier hält man Aufrichtigkeit durchaus fur eine wertvolle und wichtige Tugend, rät aber angesichts einer Umgebung, die von Schmeichelei und vorgetäuschter Freundlichkeit bestimmt wird, immer auch zur Vorsicht. 115 „Aufrichtigkeit", so informiert Zedlers Universal-Lexikon 1732, endet immer dort, w o man sich selbst schadet. 116 Für ein glückliches und erfolgreiches Leben reicht die Tugend nicht aus, sie bedarf der Ergänzung durch die Klugheit. 117 Diese Ratschläge stehen in der Tradition der frühneuzeitlichen Verhaltenslehren. Auch hier schätzt man in unterschiedlichen Graden die Aufrichtigkeit und warnt zugleich vor ihren Folgen in einem unaufrichtigen Umfeld, wenngleich die Ratschläge zu strategischem Verhalten dominieren. 118 Das Interessante an der Aufklärung ist also nicht, dass sie die Aufrichtigkeit schätzt. Dies hat man, im Anschluss an die antike Moralistik oder an entsprechende biblische Topoi, in verschiedenen Kontexten wie der Hofkritik und der .altdeutschen' Bewegung auch zuvor getan. 119 Bemerkenswert ist vielmehr, dass sie die Aufrichtig-

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Traditionen des .aufrechten' Menschen vgl. den Beitrag von Johann Anselm Steiger in vorliegendem Band. Menantes: Die MANIER Höflich und wohl zu Reden und zu Leben / So wohl Mit hohen / vornehmen Personen / seines gleichen und Frauenzimmer / Als auch / Wie das Frauenzimmer eine geschickte Aufführung gegen uns gebrauchen könne / Ans Licht gestellet Von Menantes. Hamburg 1720, S. 471 f., 475; Johann Christian Barth: Die Galante Ethica, In welcher gezeiget wird, Wie sich Ein junger Mensch bey der Galanten Welt, Sowohl Durch manierliche Wercke, als complaisante Worte recommandiren soll; Allen Liebhabern der heutigen Politesse zu sonderbaren Nutzen und Vergnügen ans Licht gestellet, Und bey dieser Dritten Auflage wiederum übersehen. Dreßden u. Leipzig 1728, S. 92 f. „Es gehöret dahero zu der wahrhaffiigen Aufrichtigkeit 1.) dass wir schuldig sind, dem Nächsten dasjenige, was wir wissen, zu sagen, 2.) dass wir nicht etwan uns selbst, indem wir eines andern Nutzen suchen, in Schaden setzen, 3.) dass wir versichert sind, es werde auch unsere Aufrichtigkeit nicht übel angewendet werden". Johann Heinrich Zedier: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 2. Graz 1962, Sp. 2164. Merio Scattola: .Prudentia se ipsum et statum suum conservandi': Die Klugheit in der praktischen Philosophie der frühen Neuzeit. In: Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. von Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997, S. 333-363, insbes. S. 349; Ingo Stöckmann: Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas. Tübingen 2001, S. 324 f. - zur Topik der Kombination von .Weisheit' und ,Klugheit' und deren Prätentionen. Ζ. B. Hans Adolf Alewein: Kurtze Doch grundrichtige Anleitung zur Höfligkeit: Darinnen gewiesen würd / wie man so Wohl mit Fürsten und Herren / als auch gemeinen Leuten ümgehen / und sich im Frauen-zimmer und anderen Gesellschaften / im Reden und Gebähren / die einen Höfling geziemen / verhalten sol. verabfasset und Herrn Filip von Zesen übereignet / durch Den Schmäkkenden / der Höchstlöbl. Deutschgesinneten Genossenschaft Mitglied. Franckfuhrt am Mayn 1649, ζ. B. S. 5 ff., 11 f., 19; Refuge (1667), ζ. Β. S. 192 f.; Löhneyß (1697), S. 11 f.; Sylvester Kundtmann: Schola Principum Juniorum, Das ist: Gründlicher Vnterricht / wie sich junge Regenten vnd Potentaten gegen sich selbst / gegen Freund vnd Feind / auch jhre Officirer vnd Vnterthanen damit sie in der Regierung allenthalben Christlich / Fürstlich / vnd recht Herrisch erfunden werden / verhalten sollen. Schleusingen 1681, S. 69. Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1966, S. 351 ff.; Kiesel (1979); Wolfgang Martens: Der patriotische Minister. Fürstendiener in der Literatur der Aufklärungs-

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keit nicht mehr als Zumutung begreift, sondern als Herausforderung, nicht mehr als normatives Wunschbild, das faktisch eine Erfolgsblockade darstellt, sondern als normale, natürliche, gängige Umgangsform. Die Funktion von Aufrichtigkeit besteht darin, dass sie mentale Zustände und Kommunikation verbindet. „Wenn man", so erklärt Johann Martin Chladenius 1742, „seine Meynung sagt, so dass der andere nichts anders, als was wir sagen wollen, darbey gedencken kann, so redet man deutlich", und er fügt hinzu: „Wenn man im Emst deutlich redet, so redet man aufrichtig [,..]".120 Da Aufrichtigkeit nicht verbaliter bezeichnet werden kann, weil sich dabei die Frage nach der Aufrichtigkeit der Aufrichtigkeit im infiniten Regress ergeben würde121, bedarf es gleichsam transverbaler Zeichen, die man in unterschiedlichen Formen der Konvergenz findet, etwa in der Konvergenz von Rede und Körpersprache oder in der Konvergenz der aktuellen „Meinungen" mit - ich zitiere wieder Chladenius - „unsern übrigen Gedancken, Vorstellungen, und WillensMeinungen".122 Im Ganzen läuft das Konzept „Aufrichtigkeit" auf eine in sich konsistente, bruchlos sich selbst gleich bleibende und mit sich selbst identische Person zu. Die Aufklärung vergißt dabei allmählich, welcher unwahrscheinlichen Leistungen und Verdrängung es zur Konstruktion einer offenherzigen, psychisch konstanten und im dauerhaften Einklang mit sich selbst handelnden Person bedarf. Oder anders: Sie vergisst, dass ihre Realität auf Fiktionen gründet.123 Der Wein - so lautete meine These - entfaltet eine historische Scharnierfunktion für die Herausbildung dieser Fiktion einer aufrichtigen Person mit ihren Merkmalen z.B. der Stabilität, Identität, Kontinuität. Vergorener Traubensaft nämlich gilt noch in der Aufklärung als legitimer Katalysator von aufrichtigen Sozialbeziehungen.124 Die moralische Wochenschrift Der Jüngling verdeutlicht diesen Zusammenhang von Alkoholisierung und Irrealität als handlungsleitender Fiktion. Im zweiten Stück schreibt die Titelfigur über sich: Ich lebe in der Welt, als ob sie eine aufgeräumte Gesellschaft guter Freunde wäre, die sich zusammen gefunden hätte, um guter Dinge zu seyn [...]. Wenn sich Aufrichtigkeit, Red-

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zeit. Weimar, Köln u. Wien 1996. Vgl. auch zur Abfolge von „Kommunikationsidealen" der Anmut in der Renaissance, der Klugheit im Barock, der Höflichkeit in der französischen Klassik und der Offenheit in der Aufklärung bei: Karl-Heinz Göttert: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988. Johann Martin Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften. Mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer. Düsseldorf 1969, S. 7 f. In diese Richtung vgl. auch Engler, der allerdings den strategischen Aspekt des Sprechens dabei in den Mittelpunkt stellt sowie das Problem des die Aufrichtigkeit des Redenden per se in Frage stellenden Redeakts als solchen. Wolfgang Engler: Die Konstruktion von Aufrichtigkeit. Zur Geschichte einer verschollenen diskursiven Formation, Wien 1989, S. 22 ff. Insofern das „Versagen der Sprache" auf der einen Seite (so Engler zu Diderot) und eine Art krankhafte oder emotional unkontrollierte „sprachliche[ ] Überproduktion" (so Engler zu Rousseau) auf der anderen Seite die Rhetorik der Aufrichtigkeit bestimmen, ließen sich hier auch Bezüge zur Aufrichtigkeit des Weins stiften. Ebd., S. 31. Chladenius (1969), S. 158f. So (ohne historische Perspektivierung) die grundlegende Idee bei Butler, ζ. B.: Judith Butler Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991, S. 8 f., 38,212f. Martus (1999), S. 523 ff.

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Steffen

Marius

lichkeit, und Freundschaft nirgends recht sehen lassen können, so thun sie sich doch noch in einer solchen Gesellschaft bey einem Glase Wein hervor. Der Wein bringt die Menschen ihrem ursprünglichen Zustande wieder näher, und giebt ihnen, wenn er sich ihrer einmal bemächtigt hat, die guten Eigenschaften auf eine Zeitlang zurück [...]. Ich weiß wohl, dass die Welt keine so muntre Gesellschaft ist, deren Mitglieder eins das andre zu vergnügen suchten; ich aber such doch aufrichtig, und mit einem solchen Verlangen alles, was in meinem Vermögen steht, zu dem Vergnügen aller Menschen beyzutragen, und mit einer gleichen Redlichkeit in der Welt zu leben, als ob sie eine solche Gesellschaft wäre. 125 D e r W e i n behält hier seine Stimulierungsfunktion für eine aufrichtige Geselligkeit in e i n e m Kontext, der sich dezidiert v o n der

frühneuzeitlichen,

lichen h ö f i s c h codierten Verhaltenskultur abkehrt. Der Jüngling

im Wesent-

präsentiert sich

als Vertreter einer neuen Generation, die sich g e g e n den Strategozentrismus des Barock wendet, den W e i n aber weiterhin als M e d i u m ihrer Neuorientierung benutzt. Während nämlich sein „Hofmeister" v o n einer prinzipiell betrügeris c h e n Welt ausging und eben d e s w e g e n Betrug provozierte, orientiert sich die „Jugend" an der „Aufrichtigkeit". 1 2 6 U n d während v i e l e „Männer und Greise nicht s o aufrichtig und rechtschaffen sind", lebt die „Jugend" absichtlich im Irrtum eines positiven Menschenbilds, w e i l ein „unschädlicher Irrthum, den man fur eine Wahrheit hält, [...] oft angenehmer, als die Wahrheit selbst" ist. 127 Der Jüngling

legt damit o f f e n , w e l c h e historische Entwicklung die Aufrich-

tigkeit als Regulativ favorisiert und w o z u der W e i n notwendig ist: D i e Orientierung im und am A l l g e m e i n e n - man zielt unterschiedslos auf das „Vergnügen aller M e n s c h e n " - fußt auf Unterstellungen, die nur durch D r o g e n g e n u s s Realität erlangen. Aufrichtigkeit hat ihren Ort in einer egalisierten Gesellschaft, die w e n i g e r auf Sichtbarkeit setzt als aufs Übersehen, auf Unsichtbarkeit und Ima-

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Der Jüngling 1 (1747), 2. St., S. 9 f. Dieses Argument findet sich im Übrigen bereits in Thomasius' Klugheitslehre: „Ein auffrichtiger Mensch wird selten betrogen / weil auch [b]öse Leute von ihm nicht zu Betrug gereitzet werden / und wenn er gleich betrogen wird / thut es ihm doch wenig Schaden". Christian Thomasius: Kurzer Entwurf der politischen Klugheit, sich selbst und andern in allen menschlichen Gesellschaften wohl zu raten und zu einer gescheiten Conduite zu gelangen (1710). Frankfurt a. M. 1971, S. 215. Der Jüngling 1 (1747), 2. St., S. 11, 13. Ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn man Fiktionalität und Faktionalität und Faktualität gleichsetzt, gibt Friedrich Carl Moser: Betrachtungen über die Aufrichtigkeit Nach den Würkungen der Natur und Gnade. Frankfurt u. Leipzig 1753. Moser stellt sich in der Vorrede als jemand vor, der auf dem A b w e g e einer übertriebenen, und in ihren Folgen mehr schädlich-als nützlichen Aufrichtigkeit" war; die „widrige Würkung meiner Offenhertzigkeit, Anfeindung über freymüthige Urtheile [...] haben mich [...] wieder in Zaghaftigkeit, Muthlosigkeit, und eine hyopchondrische Stille über alles, was um, mit und über mir vorgienge, verschlossen". Daher will er jetzt ein Fazit seiner Überlegungen zu „Wesen und Gränzen der Aufrichtigkeit" ziehen (unpag.). Grundsätzlich erklärt er dazu: „Weil wir in einer Welt leben, wo die Unwahrscheinlichkeit die Oberhand hat, weil wir mit Menschen zu thun haben, die die Wahrheit entweder hassen, oder ihrer Stimme doch nicht folgen, weil aller Menschen Herz ein trozig und verzagtes Dinge und so geartet ist, dass sich GOtt selbst zu unsem eingeschränkten, dunklen und verdorbenen Begriffen herunter lässt, und uns nur mit Liebe, Verschonung und Langmuth zu sich ziehet; so muss alle Aufrichtigkeit, aller Wandel in der Wahrheit, aller Gebrauch und Anwendung der Wahrheit von Weisheit begleitet, unterstützt und erhöhet werden" (Ebd., 13 f.). Dabei helfe die Vernunft, aber weiter führe die „Gnade" (Ebd., S. 14).

vnd wann wir vns begossen, da ist die zunge loß "

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gination. Zugleich sieht man an den Grenzen der Aufrichtigkeit, dass Der Jüngling noch deutlich dem interaktionistisch konzipierten Gesellschaftsmodell der Vormoderne zuzurechnen ist. Seine Art der Aufrichtigkeit ist auf Bestätigung, auf prinzipielle Positivität angelegt, also auf das Schmiermittel sozialer Nahbeziehungen. Er schreibt: Es giebt Leute, die so aufrichtig sind, dass sie zu einem Menschen, der ihnen misfallt, hingehen und es ihm unter die Augen sagen würden [...]; allein diese Aufrichtigkeit ist in der That nur eine Eigenliebe [...]. Das beste und sicherste Mittel, der Welt zu gefallen, ist dieses, der Welt zu zeigen, dass sie uns gefalle. 128

Die Gegenprobe einer Aufrichtigkeit, die auf verbale Härte setzt, weil dies im Distanzmedium der Schriftlichkeit Kommunikation antreibt, kann man an den Protagonisten der aufklärerischen Kritikkultur machen.129 Johann Jakob Bodmer etwa votiert in einer Kritik an der Kritik des Hamburgischen Patrioten und der Leipziger Tadlerinnen für eine „Aufrichtigkeit", die mit „Höflichkeit" nichts mehr zu tun habe. Denn diese „verstellt / verkehrt und verkleistert die Wahrheit / so offt es wehe thut sie zu hören".130 Konzepte wie „aufrichtige Freiheit" oder „aufrichtige Grobheit" gestehen offen die Zumutungen der „Aufrichtigkeit" ein und machen diese gleichwohl konsequent zur Leitorientierung.131 In diesem Sinn entfaltet dann beispielsweise auch Klopstock seine Freundschaftstheorie im Zeichen der „offensten Aufrichtigkeit" und spielt diese gegen die Freundschaftskonzeption im Zeichen der Höflichkeit aus.132 Mit dem Wassertrinker Bodmer hat Klopstock sich allerdings nicht lange verstanden. Die Freundschaft zerbricht, weil der Zürcher die biographische Konsistenz eines von Frauen umschwärmten Messias-Dichters nicht sehen konnte. Bodmers Haltung gehört zur aufklärerischen Kultur der Negativität, insofern er damit für eine auch gewalttätige „Aufrichtigkeit" votiert; und sie gehört zum Paradigma der Repräsentativität und Positivität, insofern er auf deutlicher Visibilität beharrt. Klopstock statt dessen, als Teil der ,Jünglings'-Generation, fordert von ihm „Billigkeit", „viel Neigung [...], nachzugeben", sowie „eine gewisse Hoheit [...], die unfähig ist, von Jemand, der etwas wieder mich hat, deßwegen klein zu denken, weil er etwas wieder mich hat".133 Wenig wunderlich also, dass ι « Der Jüngling 1 (1747), 2. St., S. 14. Zu dieser Verschiebung der Verhaltensnormen vgl. Steffen Martus: „Man setzet sich eben derselben Gefahr aus, welcher man andre aussetzet". Autoritative Performanz in der literarischen Kommunikation am Beispiel von Bayle, Bodmer und Schiller. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 120 (2001), S. 481-501, S. 491 ff. 130 [Johann Jacob Bodmer]: Anklagung Des verderbten Geschmackes, Oder Critische Anmerkungen Uber Den Hamburgischen PATRIOTEN, Und Die Hallischen TADLERINNEN. Frankfurt u. Leipzig 1728, unpag. 131 Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften, Zur Verbesserung des Urtheils und des Wizes in den Wercken der Wolredenheit und der Poesie. Zürich 1741, 2. St.,S. 156 f. 132 Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke. Hg. von Karl August Schleiden. Nachwort von Friedrich Georg Jünger. Bd. 2. München 41981, S. 937. 133 So brieflich an Bodmer am 5. Februar 1752. Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Adolf Beck u. a. Hg. von Horst Grone-

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er in seiner großen Freundschaftsode von der Fahrt auf dem Zürchersee Wein ausschenkt, und zwar im „sokratischen Becher": Lieblich winket der Wein, wenn er Empfindungen, Beßre sanftere Lust, wenn er Gedancken winkt, Im sokratischen Becher Von der thauenden Ros' umkränzt; Wenn er dringt bis ans Herz, und zu Entschließungen, Die der Säufer verkennt, jeden Gedanken weckt, Wenn er lehret verachten, Was nicht würdig des Weisen ist. 134

Wo bei Opitz noch die „zunge loß" war, sind nun die „Gedanken" los. Der Wein stimuliert damit eine Aufrichtigkeit, die die anwesenden Freunde vergessen macht und die den abwesenden Freunden gilt. Aufrichtigkeit fußt auf einem großen Sockel unausgesprochener Voraussetzungen. Sie gehört zu einer Geselligkeit, die auf Selbstabschließung, auf Phantasien, auf der Kunst des Übersehens und des kontrafaktischen Vertrauens basiert. Der Wein hilft dabei im 17. wie im 18. Jahrhundert weiter.

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meyer u. a. Abt. Briefe. Bd. Π. Briefe 1751-1752. Hg. von Rainer Schmidt. Berlin u. New York 1985, S. 133. Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden. Hg. von Franz Muncker u. Jaro Pawel. Bd. 1. Stuttgart 1889, S. 84.

Wissenschaften und Künste der Aufrichtigkeit

Dirk Niefanger

Aufrichtige Anlässe Ausgangspunkte der (poetischen) Rede im 17. Jahrhundert

Kaum eine andere Prosagattung des 17. Jahrhunderts erscheint uns heute in ihrer ausladenden Rhetorik fremder und in ihrer Gebundenheit an antike Prätexte festgelegter als die Leichabdankung.1 Die Dispositio wirkt starr, die Elocutio der Leichabdankung außerordentlich formelhaft, selbst dann wenn die argute Bildlichkeit im 17. Jahrhundert bisweilen zur metaphorischen Kühnheit neigt. Das Aptum regiert hier - vermutlich aus Gründen der Pietät - rigider als in anderen Bereichen und auch der Erwartungshorizont der Rezipienten scheint enger auf notwendige Elemente festgelegt. So verweist Zedlers Universal-Lexikon selbstverständlich auf die drei zentralen Funktionen der Abdankung, Förderung des ,,Nachruhm[s]", „Trost" für die „Leidtragenden" und „Dancksagung" an die Leichen-Begleiter,2 die in der Rede repräsentiert sein müssen. Sie sind in den schriftlichen Versionen selbstverständlich noch zu finden. Die Formstrenge der Leichabdankung, das weitestgehend festgelegte Ritual des letzten Ehrengedächtnisses3 als Akt der Schwellenüberschreitung,4 lässt, so könnte man meinen, kaum Raum für Aufrichtigkeit. Dies gilt aber nur im modernen Sinne, denn einer eigenen ,Kunst der Aufrichtigkeit', also der Präsentation von .Aufrichtigkeit' in spezifisch ästhetischen Kontexten, begegnen wir in barocken Leichabdankungen sehr wohl. Verwandt ist diese bewusst inszenierte Aufrichtigkeit mit der Figur der Dissimilatio. Wäre der Begriff durch die Walser-Debatte vor einigen Jahren nicht zu problematisch geworden, könnte man von ,Aufrichtigkeitsroutinen' sprechen, mit denen die Ernsthaftigkeit des Anlasses an die ästhetische Form gebunden wird.

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Zur Gattung vgl. den Sammelband: Rudolf Lenz (Hg.): Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften. Marburg 1979; zu Gryphius: Maria Fürstenwald: Andreas Gryphius, Dissertationes funebres. Studien zur Didaktik der Leichabdankungen. Bonn 1967; HansJürgen Schings: Die patristische und die stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchungen zu den Dissertationes funebres und Trauerspielen. Köln 1966; Nicola Kaminski: Andreas Gryphius. Stuttgart 1998, S. 202-231. Johann Heinrich Zedier: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 1 (1732). Nachdruck: Graz 1961, Sp. 75 f., „Abdanckung". Vgl. etwa Georg Braungart: Der Tod des Körpers des Herrschers: Begräbnisrituale als Zeichenprozesse. In: Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Hg. von Erika FischerLichte. Stuttgart u. Weimar 2001, S. 28-41. Vgl. Kaminski (1998), S. 204 und Braungart (2001), S. 33.

Dirk Niefanger

268 Brunnen-Diskurs

von Andreas Gryphius

Dies sei in einem ersten Schritt anhand der Einleitungspassage des BrunnenDiskurses gezeigt, der ersten Rede aus den Dissertationes funebres (1697) von Andreas Gryphius: Aufrichtigkeit5 teilt sich hier im Kleid einer Affektsprache mit, die - insbesondere wegen ihres empfindsam klingenden Vokabulars - sogar an die Tränenkultur des 18. Jahrhunderts erinnert, aber in erster Linie auf klassische Klage-„Thränen" anspielt, wie jene, mit denen die Perser bei Aischylos ihre Gefallenen betrauerten. Gryphius, ganz Orator doctus, erwähnt dies natürlich. Solche explizit gemachten Intertexte lassen die im Folgenden zitierten ,Zähren' auf den ersten Blick sicher nicht unbedingt glaubhafter erscheinen: Ob nun zwar unlaugbar / dass obgenanter Personen Traurigkeit sehr groß / und schier unermäßlich / kann doch mit Warheit ich wol darthun / dass diese Hertzens=Risse so ich diese Tage über und nun / den Augenblick empfinde / die Ihrigen nicht nur erreichen / sondern noch um ein hohes übertreffen. 6

Gleich doppelt arbeitet der Redner indes mit der Aufrichtigkeitskategorie. Unleugbar sind die historisch (und das schließt hier die Geschichtsdichtung von Aischylos ein) und von den antiken Autoren überlieferten Zeugnisse der Trauer. Ebenso unleugbar, so der Analogieschluss, ist die .subjektiv' und im „Augenblick" der Rede, also für alle sichtbar erlebte Trauer des Sprechers, die - nun als Amplificatio formuliert - sogar die überlieferten Regungen übertreffen würden. Was Gryphius hier „mit Warheit" kund tut, folgt freilich nicht unbedingt einer tatsächlichen psychischen Disposition, sondern der rhetorischen Logik. Doch diese verlangt als Argumentum nicht nur den historischen Beleg der Affekte, sondern auch ihre glaubwürdige Beteuerung. Die Aufrichtigkeit bezieht sich deshalb auf die Autorität der Überlieferung und deren Wiederholung beziehungsweise Übersteigerung. Mit der Aemulatio ist die Glaubwürdigkeit der Trauer aber offenbar noch nicht genügend nachgewiesen. In typisch .barocker' Manier insistiert7 Gryphius: Denn wird schon hier kein solch äusserlich Rasen / und Ungeberde / welches bey vielen [...] nur zum Schein vorläufft / vermercket [...] / so empfinde ich doch wahr. [...] Und wollte ich mich [auch] mit [...] unterwinden / meine Wehmuth [...] mit stillem Jammer zu verbergen / so kann ich doch / ich schicke die von so viel Thränen schier erstarrten Augen wohin ich wollte / nichts als neue Reitzungen mehrer Zähren / grösseren Klagens / heftiger Schmertzen verspüren. 8

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Gryphius lobt die „Aufirichtigkeit" in zwei panegyrischen Sonetten als besondere Charaktereigenschaft; vgl. Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hg. von Marian Szyrocki u. a. Bd. 1. Tübingen 1963, S. 14 u. 16. Andreae Gryphii: Dissertationes Funebres, Oder Leich-Abdanckungen [...]. Leipzig 1667, S. 3, ,3runnen-Diskurs". Vgl. Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962; und Marian Szyrocki: Die deutsche Literatur des Barock. Eine Einfuhrung. Stuttgart 1979, besonders S. 56 f. Gryphius (1667), S. 3 f.

Aufrichtige Anlässe

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Die Allegata wurden im Zitat weggelassen. Sie bekräftigen und legitimieren hier prinzipiell jene Regungen, zu denen sich hier aktuell bekannt wird. Die Rede folgt also auch jetzt dem erläuterten doppelten Bezug auf die Aufrichtigkeit. Und nochmals finden wir eine Amplificatio: Auch wenn die Tränen unterdrückt werden sollten, drängen sie angesichts der trauernden Zuhörer hervor. Dies wird für alle sichtbar: fur die Zuhörer auf der einen Seite und den Redner auf der anderen. Die Tränen steigern sich durch allseits zu hörende Klagen und die heftigen Schmerzen der Trauernden zur Klimax. Vergleichbare .soziale' Funktionen der Tränen kennen wir aus den Sonetten des Redners: aus „Thränen des Vaterlandes", „Thränen in schwerer Krankheit" und - folgt man Kemper - auch aus „Gedencket an Loths Weib".9 Die Tränen erscheinen dort als Symbole gemeinschaftlicher Klage oder, wie bei Lot, der Nächstenliebe. Die Affekte des Einzelnen werden semiotisch über die Tränen sichtbar und so der Gemeinschaft vermittelt.10 Auch dieser rhetorische Einsatz der körperlich sichtbaren Affekte und ihre Begründung auf der Basis des Decorums ist ambivalent zu deuten: Denn die Tränen erscheinen im Brunnen-Diskurs ja ausdrücklich und mit Referenz auf andere Körperreaktionen wie „äusserlich Rasen / und Ungeberde" als ungewollter Ausdruck des Trauer- und Mitleidsaffekts: „So kann ich doch / [...] nichts als neue Reitzungen mehrer Zähren [...] verspüren."11 Zwar wird ein Teil der Barock-Forschung nicht müde, das Fehlen von natürlichen Körperzeichen in theatralen Situationen des 17. Jahrhunderts zu betonen,12 doch trägt die hier vom Redner in selbstreflexiver Absicht inaugurierte Theaterszene - ergriffener Redner vor Publikum - deutlich Merkmale eines Gebrauchs natürlicher Theaterzeichen. Seit der Erforschung der Schauspielkunst des 18. Jahrhunderts (Diderot, Lessing, Engel) wissen wir, dass es bei solchen Inszenierungen unerheblich ist, ob die Körperzeichen .natürlich' sind, oder nur so .gelesen' werden können. Vom Zuschauer ist das eben nicht zu unterscheiden.13 Hinzu kommt, dass in unserem

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Vgl. Andreas Gryphius: Gedichte. Eine Auswahl. Hg. von Adalbert Eischenbroich. Stuttgart 1993, S. 7u. 8; sowie Andreas Gryphius (1963), S. 33. Hierzu vgl. Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Natumachahmung im Säkularisierungsprozess. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung. Bd. 1. Tübingen 1981, S. 278 f.; und Kaminski (1998), S. 47 ff. In einem Epitaph auf Carl Schlüsselfelder, das sich im Pegnesischen Schäfergedicht (1644) von Georg Philipp Harsdörffer und Johann Klaj findet, wird die „Zehrenflut" ausdrücklich mit der „Aufrichtigkeit" zusammengebracht: vgl. Eberhard Mannack (Hg.): Die PegnitzSchäfer. Stuttgart 1988, S. 42. Gryphius (1667), S. 3 f. Deutlich etwa bei: Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einfuhrung. Bd. 2: Vom .künstlichen' zum .natürlichen' Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung. Tübingen 31994. Vgl. auch Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. u. Basel 2000, besonders S. 304 ff.; Erika Fischer-Lichte: Theater im Prozeß der Zivilisation. Tübingen u. Basel 2000, S. 30 ff. Vgl. etwa den Sammelband: Erika Fischer-Lichte u. Jörg Schönert (Hgg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper - Musik Sprache. Göttingen 1999; Alexander KoSenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien

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Dirk Niefanger

Fall der Redner - wie in einer impliziten Regieanweisung - wert darauf legt, wie die Körperzeichen angeblich entstanden sein sollen: nämlich aus einer ungewollten semiotischen Wechselwirkung heraus. Die Tränen der Zuhörer und Zuschauer werden durch die Körpersprache des Redners affiziert und vice versa. Nicht nur Gryphius, sondern auch etwa Franciscus Lang, der wichtigste Theatertheoretiker der Jesuiten um 1700, sieht eine solche Affektübertragung zwischen Redner und Zuschauer; er hat sie sogar zu den Prinzipien der Deklamationskunst erhoben: Altera Pronuntiationis virtus est, ut verbis concordet, & horu sensum Auditoribus imprimat cum motu. Obtineatur, & pronuntiatio conformetur affectibus, hi ipsi in animo Agentis prius debent excitari, ut & in Auditonbus fortiter accendantur. Intus ipse, qui frigit, alios quomodo calefaciet? Das zweite Erfordernis der Deklamation ist, dass sie mit den Worten übereinstimme und deren Bedeutung den Zuhörern nachdrücklich einpräge. Damit das erreicht und die Deklamation den Affekten entsprechend gestaltet wird, sind diese selbst zuerst in der Seele des Schauspielers hervorzurufen, um auch in den Zuhörern mächtig entfacht zu werden. Wer selbst innerlich friert, wie soll der andere erwärmen? 14

Die durch die Tränen hergestellte Gemeinsamkeit mit dem Auditorium ist im Brunnen-Diskurs von Gryphius also alles andere als zufallig, sondern konstitutiv für die Actio. Sie ist darüber hinaus auch eine Spezialität der Redegattung. Diese rechtfertigt wesentlich, warum Gryphius auf seiner Glaubwürdigkeit so stark insistiert oder besser beharrt. Ich denke - und hier komme ich zum Kern meiner Analyse des Brunnen-Diskurses - , dass die Aufrichtigkeitsrhetorik in dieser und vermutlich vergleichbaren Leichabdankungen aus der Redesituation und aus dem Anlass der Rede (der Occasio) resultiert. Beide Aspekte - die literarische Gattung .Leichenrede', in der die Trauernden direkt angesprochen werden, und die konkrete historische Situation, das Ableben von Georg Schönborn - verlangen nämlich nach der epideiktischen Redeform, 15 die hier schulmäßig umgesetzt wird. Diese muss nicht überzeugen, da die Situation, in der geredet wird, nicht verändert werden soll. Rezipienten und Redner haben in dieser Redeform, im Falle der Leichandankung ganz besonders, prinzipiell die gleiche Ansicht. Diese unausgesprochene Redeübereinkunft wird durch die gleichen Körperreaktionen von Redner und Auditorium bekräftigt. Im Spezialfall Nekrolog geht es wesentlich - wir bewegen uns im Genus demonstrativum - um die Performanz gemeinsamer Trauer-Affekte, die am besten analog vorgeführt werden. Allenfalls im Trost (der Consolatio) als einem Redeziel der Leichabdankung könnte man eine Veränderungsintention vermuten, doch bezieht sich diese, wie wir wissen, nicht auf die konkrete Redesituation, sondern auf die späteren Af-

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zur ,eloquentia corporis' im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995; und Wolfgang F. Bender (Hg.): Schauspielkunst im 18. Jahrhundert: Grundlagen, Praxis, Autoren. Stuttgart 1992. Franz Lang: Abhandlung über die Schauspielkunst [Dissertatio de actione scenica, 1727], Übs. u. hg. von Alexander Rudin. Bern u. München 1975, S. 57 f. (lat.) / 206 (dt.). Vgl. Quint., 3,3 / 3,4 u. 3,4, 8; vgl. hierzu: Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. München 1963, § 24-27; und Gert Ueding u. Bemd Steinbrink: Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. Stuttgart 1986, S. 236-239.

Aufrichtige Anlässe

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fekte der Zuhörer und der Trost selbst orientiert sich zudem - bei Gryphius aus den Gedichten und Trauerspielen bekannt - am Jenseits.16 Die Consolatio ist zwar ein Redeziel, dient aber nicht, etwa im Sinne der Parteirede, der Situationsveränderung.

Methodische Zwischenüberlegungen Wenn hier der ,Anlass' zum Gegenstand der Ausführungen gewählt wurde, so hat dies auch eine wissenschaftsstrategische Zielrichtung. Denn in vielen neueren - bewusst oder unbewusst von einer Art Kunstautonomie ausgehenden Analysen wird dieser zentrale Aspekt der Poesie und Rhetorik des 17. Jahrhunderts eher vernachlässigt. Der Anlass markiert - und eben nicht nur in der Leichabdankung - eine Schwellensituation: Er betont den Unterschied von Kunst und Leben; seine Erinnerung in Rede und Poesie leistet aber auch den Transfer vom einen in den anderen Bereich, ja behauptet gleichzeitig dessen Bedingungen. Der in den Texten thematisierte und akzentuierte Anlass schlägt zum Verständnis häufig notwendige Brücken zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Wissenschaft und Empirie, Anleitung und Umsetzung oder auch zwischen Poetologie und Poesie. Natürlich stellt sich bei der Analyse ein Quellenproblem, da Anlass und Situation nur schwer rekonstruiert werden können. Denn auch die Zeugnisse, die wir haben (vor allem Vorreden und andere Paratexte, vielleicht Briefe oder poetische Intertexte), sind selbst zielgerichtet und in komplexen Kommunikationszusammenhängen verfasst worden. Gleichwohl: Die Spuren der Anlässe in den Texten selbst oder in ihren Paratexten sind oft vielleicht die einzigen Momente von .Aufrichtigkeit' in der Poesie und Rhetorik des 17. Jahrhundert. Noch mehr: die Rede- und Schreibsituation erscheint hier als merkwürdig unhintergehbarer Ort im rhetorischen und poetologischen Denken des 17. Jahrhunderts; er steht am Anfang des poetischen Prozesses und rechtfertigt deshalb Stilisierung, Rollenkonstruktionen und parteiische' Darstellungen. Der Anlass selbst wird vielleicht aber gerade deshalb in den Texten des 17. Jahrhunderts mit Merkmalen besonderer Aufrichtigkeit gestaltet. Und um die Gestaltung, nicht die Überprüfung von Aufrichtigkeit geht es ja. Die hier präsentierten Überlegungen zur Aufrichtigkeit setzen also beim Ausgangspunkt der Rede (und wegen der Abhängigkeit der Poesie von der Rhetorik) auch der Dichtung im 17. Jahrhundert an. In Rhetorik und Poetik hat der Anlass, eine Sonderstellung: Er bestimmt, das wurde schon anhand der Leichabdankung gezeigt, die Dispositio und verlangt eine angemessene Elocutio. Er setzt der Inventio Grenzen und verpflichtet die Texte nicht selten einem Mäzen.

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Vgl. etwa Hans-Jürgen Schings: Consolatio tragoediae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels. In: Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland. Hg. von Reinhold Grimm: Frankfurt '1980, S. 1-44.

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Dirk Niefanger

Zweifellos eher aus dem Grenzbereich der Literatur stammt das erste Beispiel; im Folgenden möchte ich mich mit dem zweiten Beispiel, dem Diceteticon von Elsholtz noch ein wenig weiter von der Poesie wegbewegen, um zu zeigen, dass wir es bei dem beschriebenen Phänomen nicht mit einem kulturspezifischen Einzelfall im 17. Jahrhundert zu tun haben. Das dritte Beispiel stammt wieder aus dem Kernbereich der Poesie: Simon Dachs Freundschaftsgedicht an Robert Roberthin. Am Schluss werden die Ergebnisse der drei Analysen in einer abschließenden These zusammengefasst.

Diceteticon von Johann Sigismund Elsholtz Der zweite Belegtext, das Diceteticon aus dem Jahre 1682, stammt von Johann Sigismund Elsholtz (1623-1688). Er war - als Hofmedikus und -botanikus des großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg - ein seinerzeit berühmter und weltgewandter Naturforscher, der 1653 in Padua promoviert und 1674 als 53. Mitglied in die Leopoldina17 aufgenommen wurde. Das hohe Ansehen des Diceteticons kann unter anderem am kaiserlichen Druckprivileg Leopolds I. abgelesen werden, das ihm voran gestellt werden durfte. Das Newe Tisch=Buch - so der deutsche Titel - dient der medizinischen Prophylaxe („Medicina hygiastica"18): Es erklärt in der Muttersprache bestimmte Ernährungs- und Zubereitungsweisen, die verhindern sollen, dass Krankheiten gar nicht erst entstehen. Ziel des Werkes ist eine Bestandsaufnahme des ökotrophologischen Wissens seiner Zeit; insofern ist das Diceteticon mehr als eine Art gelehrtes Kochbuch, es fungiert auch als Systematik verfügbarer Nahrungsmittel und als konkrete, situationsorientierte Ernährungsanweisung, geht also der Frage nach wann und zu welchem Zweck ich was essen oder trinken soll und was dies jeweils für Körperreaktionen bewirkt. Als Ziel der ,,ordentliche[n] Diät"19 erscheint die humorale Ausgewogenheit20, die bewirke, dass man möglichst lange und gesund leben kann. Bedenkt man seinen gelehrten Anspruch gehört das Buch nicht zur Gattung der Haus- und Hauswirtschaftsbücher, sondern gliedert sich - in der Vorrede ausdrücklich21 - in den Bereich der frühneuzeitlichen .Hygiene', etwa gleichbedeutend mit der heutigen Medizin, ein. Neben den konkreten auf den einzelnen Menschen bezogenen Zielen, entfaltet die vorangestellte Huldigung an das Kurprinzenpaar auch eine staatstheoretische Positionierung des Diceteticons.22 Von der Gesundheit des Herrschers 17

18 19 20

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Die spätere Leopoldina firmierte bis 1687 unter der Bezeichnung ,Academia naturae curiosorum'. Zum Leben von Elsholtz vgl. Manfred Lemmer: Nachwort zu: Johann Sigismund Elsholtz: Diaeteticon [1682]. Hg. von Manfred Lemmer. Nachdruck: Leipzig 1984, S. 1-20. Vgl. Elsholtz (1682), Bl.A'. Elsholtz (1984), Titelblatt, unpag. Elsholtz war Anhänger der Humoralphysiologie, der Lehre von den vier Säften (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle), die im Körper des Menschen wirken. Vgl. Elsholtz (1682), Bl.A r .

Aufrichtige Anlässe

273

hänge das Wohl des Staates ab. Deshalb seien die Untertanen verpflichtet diesem „mit Gutt und Blut bey zu springen".23 Um dieser Pflicht beikommen zu können, obliegt es den Untertanen auch für die eigene Gesundheit Rechnung zu tragen. Die Diät erhält so - den Staatskörper24 gewissermaßen wörtlich nehmend - den Status einer staatsrechtlichen Verpflichtung. Das Diceteticon sieht sich deshalb ganz ausdrücklich der Gesundheit der Herrscherfamilie „und mittelst derselben / allen Einwohnern dieses gantzen Landes" verpflichtet. Von den angegebenen medizin-politischen Zielen muss der unmittelbare Schreibanlass unterschieden werden; er hängt aber ganz offensichtlich mit diesen eng zusammen. Niedergelegt ist er in einem eigenen Paratext, der „Vorrede / Von der Ursach und Gelegenheit zu schreiben".25 Der Occasio wird also besonderes Gewicht beigemessen. In der Vorrede heißt es: Dieweil ich wahr genommen / Wehrtester Leser / dass die bisher in teutscher Sprache heraus gegebene LLEBRI DLETETICI theils gar zu kurtz eingezogen / theils hingegen viel überflüssige / und dahin nicht zielende Dinge in sich halten: So bin ich dannenhero bewogen worden / gleichwie vor einigen Jahren über den Garten=baw / also gegenwärtig über diese Materie etwas vollkommenere / dem gemeinen Vaterlande zum besten / in den Druck zugeben.26

.Wahrnehmen' (von mhd. ,war nehmen') hatte im 17. Jahrhundert noch eine andere Bedeutung als heute. Es meint hier nicht den kontingenten Sinneseindruck, sondern ein aktives, .bewahrendes' Hinwenden an einen Sachverhalt. Wenn Elsholtz also die Tatsache .wahrnimmt', dass brauchbare muttersprachliche Bücher über medizinische Diät fehlen, ist darin schon der Wille, dieses Defizit abzugleichen, angedeutet. Dieser Intention wird nun offensichtlich Aufmerksamkeit geschenkt und Elsholtz deshalb offiziell aufgefordert, das Diceteticon zu verfassen. Die staatsrechtliche Bezugnahme in der Widmung an das Prinzenpaar, Elsholtz' Stellung als Hofmedikus und die exklusive Erwähnung des Schreibanlasses in einem eigenen Paratext geben der Abfassung des Buches einen offiziellen, herrschaftlich abgesicherten Status. Der Hinweis auf einen Initiator ist deshalb nicht als fiktive Bescheidenheitsgeste zu deuten, zumal die Notwendigkeit schon vorher aktiv .wahrgenommen' wurde. Sie bekräftigt nur den notwendig gewordenen Anlass. Die funktionale Anbindung an die berufliche Tätigkeit macht zudem die Verbindung von allgemeiner Gesundheitspflege und Muttersprachlichkeit plausibel. Das Buch dient, wie eine Reihe populärwissenschaftlicher Werke in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, einem - mehr oder minder ideal gedachten - vertikalen Wissenstransfer.27 22

23 24 25 26 27

Hierzu ausführlicher: Dirk Niefanger: Gesundheit und Politik. Körperrepräsentationen im Diasteticon (1682) von Johann Sigismund Elsholtz. In: Körperrepräsentationen in der frühen Neuzeit. Hg. von dems. u. Markus Fauser [erscheint 2005 als eigener Doppelband der Wolfenbütteler Barocknachrichten]. Elsholtz (1682), Widmungsvorrede, unpag. [Bl. 2V]. Im Sinne etwa des Leviathans (1651) von Thomas Hobbes. Elsholtz (1682), Vorrede / Von der Ursach und Gelegenheit zu schreiben, unpag. [Bl. 3V]. Elsholtz (1682), Vorrede / Von der Ursach und Gelegenheit zu schreiben, unpag. [Bl. 3V]. Zum Begriff vgl. Gerd Antos u. Sigurd Wichter: Wissenstransfer zwischen Experten und

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Ob das Diceteticon tatsächlich zur Gesundheit des „gemeinen Vaterlande[s]" beigetragen hat, ist für die Aufrichtigkeit des Schreibanlasses, genauer für seine Inszenierung, unerheblich. Dieser wird jedenfalls mehrfach beglaubigt; plausible Gründe für das Abfassen des Buches, sinnvolle Ziele innerhalb des Gemeinwesens und offenbar hochrangige Auftraggeber werden angeführt. Als wesentlich für den Anlass erscheint eine aktuell, an die Person des Naturforschers gebundene Defizitbeobachtung, die von einem Auftraggeber konkret mit der Bitte um Abfassung des Diceteticons aufgegriffen wird. Anders als bei der Leichabdankung von Gryphius liegt der Beglaubigung des Anlasses also keine affektbesetzte, sondern eine rational analysierte Situation zu Grunde, die - mit doppeltem Blick auf das Herrschafts- und Gemeinwohl - verändert werden muss.

Danckbarliche Auffrichtigkeit von Simon Dach Den dritten Beispieltext nehme ich, wie angekündigt, aus dem Bereich der Poesie, genauer der Panegyrik. Erst 1924 wurde Simon Dachs Alexandriner-Epistel Danckbarliche Auffrichtigkeit an Herrn Robert Roberthinen vom späteren Herausgeber der vierbändigen Gedicht-Ausgabe, Walther Ziesemer, in der Zeitschrift Euphorien veröffentlicht.28 Überliefert ist eine für das 17. Jahrhundert eher seltene Handschrift innerhalb eines größeren Konvoluts. Es handelt sich vermutlich aber nicht um die Handschrift des Verfassers, sondern um eine zeitgenössische Abschrift aus dessen unmittelbarem Umfeld. 29 Sie trägt die Angabe „geschrieben 1647. 30. Julij".30 In der Forschungsliteratur findet man - mitunter durch Albrecht Schönes sozialhistorische Entdeckung der Kürbishütte inspiriert31 - ungewöhnlich euphorische Kommentare: So versteht Alfred Kelletat das Gedicht als „unmittelbaren Lebensbericht". Es sei ein „unverhülltes bekenntnishaftes Selbstbild, das natürlich nur in die Hand des Freundes gelegt und nie

28

29 30

31

Laien. Umriss einer Transferwissenschaft. Frankfurt a. M. 2001; zur Verbreitung medizinischen Wissens vgl. jetzt: Florian Steger u. Kay Peter Jankrift (Hgg.): Gesundheit - Krankheit. Kulturtransfer medizinischen Wissens von der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit. Köln u. a. 2004; zum speziellen Transfer zwischen Medizin und Literatur in der frühen Neuzeit vgl.: Sandra Pott: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur. Studien zu Säkularisierungsvorgängen vom frühen 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Berlin u. a. 2002. Walther Ziesemer: Neues zu Simon Dach. In: Euphorion 25 (1924), S. 591-608. Vgl. auch Simon Dach: Gedichte. Hg. von Walther Ziesemer. Bd. 1. Halle 1936, S. 187-193, besonders S. 592 u. 602-607. Vgl. Ziesemer (1936), S. 592. Zit. n.: Alfred Kelletat (Hg.): Simon Dach und der Königsberger Dichterkreis. Stuttgart 1986, S. 79-89, hier S. 79. Vgl. Albrecht Schöne: Kürbishütte und Königsberg. Modellversuch einer sozialgeschichtlichen Entzifferung poetischer Texte. Am Beispiel Simon Dach. München 21982. Schöne beruft sich wesentlich auf ein anderes seither bekanntes Gedicht des von Ziesemer in Erinnerung gerufenen Konvoluts aus dem ehemaligen .geheimen Staatsarchiv zu Königsberg', auf die „Klage über den endlichen Untergang vnd Ruinierung der Musicalischen Kürbs-Hütte vnd Gärtchens" (13. Jan. 1641); vgl. Ziesemer (1936), S. 598-601.

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für eine Veröffentlichung gedacht war." „Selten" finde man in der Barockliteratur „so wahre Herztöne der Freundschaft." 32 Und Barbara Sturzenegger konstatiert in ihrer Monographie „wesentliche Abweichungen von der Tradition" barocker Freundschafts-Gedichte." Hier führe „Auffrichtigkeit [...] eher zu persönlicher Reflexion als zu encomiastischer Huldigung, denn Lob", bemerkt sie, sei „auf Unaufrichtigkeit anfallig."33 Ein Kleinod ,authentischer' Aufrichtigkeit also, gar ein Exempel für .Empfindsamkeit' avant la lettre? Schauen wir uns den Text einmal an: Er handelt erstens von der Dankbarkeit, die der Sprecher seinem Lehrer Robert Roberthin entgegenbringt, weil ihn dieser zum Dichten animiert und poetische Fertigkeiten gelehrt habe. Sol ich indessen dir nicht Danck vnd Ehr erzeigen? [...] Ich wäre, warlich, Herr, kein Ehrenwerter Mann. Ich weiß du kennst mich, ich kann nicht Falschheit leiden, Der vntrew bin ich Feind, die lügen muß ich meiden, Soll ich die Wahrheit auch darumb verheelen? nein, Wie sehr es immer dir zuwider möchte seyn. 34

Die Dankbarkeit wird verbunden mit einem ehrlichen Lob des Freundes und Lehrers, das insbesondere dessen Empathiefähigkeit, Gelehrtheit, Weltgewandtheit und vor allem Bescheidenheit hervorhebt. Insofern passt sich die Aufrichtigkeitsgeste ganz gut in das entworfene Bild des Freundes. Zweitens thematisiert das Gedicht die Lebenssituation, in der Roberthin seinen Freund Dach unterstützt. Der ostentative Selbstbezug, folgt der lateinischen Einleitung, die die Aufrichtigkeit der folgenden Verse von der Stilisierung anderer Panegyrica abhebt.35 Der .autobiographische' Bezug steht also an prominenter Stelle: zu Beginn des deutschsprachigen, weniger gelehrten und deshalb durchaus .intimer' zu deutenden Gedichtteils. Dieses ausführliche Bekenntnis, darüber ist sich die oben genannte Forschung einig, stellt das Überraschende des Textes dar, da das Decorum der Panegyrik eigentlich den Selbstbezug ausblenden sollte. Da das Gedicht nur einem kleinen Rezipientenkreise zugänglich war, konnte ein Verstoß gegen Gattungsnormen vermutlich leichter realisiert werden. Dass die Lebensbeschreibungen Dachs, bedenkt man die Normiertheit poetischer Rede im 17. Jahrhundert, recht .authentisch' klingen, sei anhand weniger Verse über seinen Lehrberuf vorgeführt: Ο Schule, du hast Schuld, dass schier mein Geist erlieget Und keinen rechten Dank des wackren Fleisses krieget. [...] Mein Hertz und Kraffi hast du. Der Tag sambt Stunden Hatt an die Kinderzucht mit Fesseln mich gebunden. 32 33

34 35

Alfred Kelletat: Nachwort. In: Kelletat (1986), S. 331-420, hier S. 351. Barbara Sturzenegger: Kürbishütte und Caspische See. Simon Dach und Paul Fleming. Topoi der Freundschaft im 17. Jahrhundert. Bern u. a. 1996, S. 122. Kelletat (1986), S. 85 f. „Cuncta leves fingant veris majora Poetae, / Et sit carminibus parva, ROBERTE, fides. / Nulle leges nostris, sepero, mendacia rythmis, / Si qva leges, rapido, non moror, ure rogo". Kelletat (1986), S. 79

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Dirk Niefanger

Da Sprüngen vmb mich her Getümmel, Vnmut, Rew, Gram, Vndanck, Klage, Stanck, Staub, Mattigkeit, Geschrey. Die Nacht, die Ruh sonst hegt bey Menschen vnd bey Thieren, Hat mehr als einmahl mich gezwungen zu verlieren Des Schlaffes Süssigkeit, dass klägliche Latein Der Jungend muste da durch mich gebessert seyn. 36

Da werden Affekte formuliert, wo man sie nicht vermutet. Bei dieser Überlastung sollten Nebentätigkeiten wie die Poesie und Musik sie darstellen, eigentlich unterbleiben. Der Lateinunterricht verschafft offenbar auch dem frühneuzeitlichen Lehrer Alpträume. Er bedarf angesichts der Einbindung in den tristen Lehrbetrieb wie sein moderner Kollege der Therapie, die ihm von Robert Roberthin geliefert wird: Dieser schlägt ihm nun vor, gerade die Nebentätigkeit, die Poesie als Ausgleich und Selbstbestätigung zu nehmen. Der Freund „befreyt" so, wie es heißt, den Sprecher „von dieses Kerckers Wust." 37 Den konkreten Anlass der Alexandriner-Epistel kennen wir leider nicht (möglicherweise eine der vielen Reisen, bei denen man nicht wusste, ob Roberthin zurückkam). Das angegebene Datum kann darauf schließen lassen, dass es einen konkreten Bezugspunkt gegeben hat. Der mitgeteilte scheint eher prinzipieller Natur: die eigene Lebenskrise, in der der Freund zur Stelle war. Als ein Anlass kann sicher auch die Versicherung und Bekräftigung der Freundschaft, die mit einem Dank verbunden wird, angesehen werden. Die handschriftliche, nicht öffentliche Verbreitung des Textes, seine Gattungsverstöße und der autobiographische Bezug sprechen also für eine ernst gemeinte Positionierung von Aufrichtigkeit. Wahrhaftigkeit ist durch die ausbleibende Veröffentlichung, das selbstkritisches Bekenntnis und den ,privaten' Ton gleichzeitig bewusst inszeniert worden. Ja, die Text- und Publikationsverfahren passen zur Bescheidenheit des Adressaten und der Intimität der Freundschaft, ja, sind beidem höchst angemessen. Insofern erleben wir auch hier, wie Aufrichtigkeit gebunden an den Anlass intentional eingesetzt und polyvalent stilisiert wird. Dies bestätigt auch ein Blick auf den Werkkontext: Unser handschriftlich überliefertes Poem ist nicht solitär, sondern zusammen mit 110 weiteren Gedichten vermutlich von zwei verschiedenen Schreibern niedergeschrieben worden. Man hat es später zu einem Konvolut zusammengefugt. Nichtgedruckte Gelegenheitsgedichte können im Königsberger Dichterkreis schon deshalb nicht als Ausnahme gelten; im Gegenteil, die handschriftliche Überlieferung erscheint sogar als Spezifikum von Gelegenheitsgedichten, die sich auf das unmittelbare Umfeld der Dichter beziehen: Ein vergleichbarer Fall wäre die ebenfalls dort überlieferte, heute recht bekannte „Klage über den endlichen Vntergang vnd Ruinierung der Musicalischen Kürbs-Hütte vnd Gärtchens". 38 Tatsächlich ist keine einzige Gedichtsammlung von Dach zu Lebzeiten in Buchform veröffentlicht worden. Die Gelegenheitsgedichte sind - wenn überhaupt - verstreut, meist 36

" 38

Kelletat (1986), S. 82. Kelletat (1986), S. 82. Kelletat (1986), S. 54-61; Ziesemer (1936), S. 598-601.

Aufrichtige Anlässe

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als Einblattdrucke zum vorgegebenen Anlass, im Gesangbuch oder der Ariensammlung von Heinrich Albert39 erschienen. Die erste eigenständige Sammlung von Werken Simon Dachs ist Chur-Brandenburgische Rose, Adler, Low und Scepter. Die einschlägigen Panegyrika wurden von der Witwe Dachs posthum 1680 ediert; die Ausgabe war übrigens an einen Anlass gebunden, nämlich an das vierzigste Regierungsjubiläum des Kurfürsten. Die Texte des Königsberger Dichterkreises waren in der Regel nicht für die Ewigkeit bestimmt, sondern poetische Gebrauchstexte, die zu einmaligen Ereignissen abgefasst wurden und ihren besonderen Wert eigentlich nur für den Adressaten hatten. Insofern verwundert es nicht, dass die Freundschafts-Epistel an Roberthin nur in einer nichtöffentlichen Abschrift zugänglich war und im Ton spezifisch auf die Beziehung der beiden Männer bezogen erscheint. Die im Gedicht formulierten Schreib-Anlässe, die Freundschaft, die eigene Lebenskrise, die Hilfe Roberthins, der Dank an den Freund und dessen .gerader' Charakter fordern eine wiederholt thematisierte Aufrichtigkeit, die dem Sprecher so wichtig ist, das sie in den Titel der Alexandriner-Epistel aufgenommen wird. Aufrichtigkeit wird hier nicht als affektgesteuerter Reflex wie bei Gryphius oder als Ergebnis rationaler Überlegung wie bei Elsholtz inszeniert, sondern als dauerndes, rational wie emotional bestimmbares Moment, das die Beziehung zwischen den beiden Männern prägt. 1697 erscheint ein Epigramm von Christian Wernicke, das den schönen Titel „Schlaue Auffrichtigkeit" trägt: Scheint was ihr seyd, bekennt eur Hertz' im Angesicht Die albem-kluge Welt wird diss Verstellung nennen: Sprecht rund heraus, man glaubt euch nicht; Geht nackt, und man wird euch nicht erkennen. 40

Das Epigramm markiert am Ende des Jahrhunderts die Umkehrbarkeit der Aufrichtigkeitsdoktrin. In der galanten Welt der globalen Verstellung bietet die Aufrichtigkeit das vortrefflichste Mittel nicht als man selbst zu erscheinen. Wenn niemand an Aufrichtigkeit glaubt, erlaubt sie die beste Verstellung des galant homme. Aber auch hier regiert natürlich der Anlass den Zugriff auf die Aufrichtigkeit, denn die Galanterie verlangt eine überzeugende Anpassung an die jeweilige Situation und nicht Verstellung per se.41 Wernickes Epigramm richtet sich kritisch gegen die Extreme galanten Verhaltens um 1700 und plädiert implizit - fast möchte man sagen frühaufklärerisch - für eine neue, nämlich ehrlich' gemeinte Aufrichtigkeit. An den Anlässen kann man ablesen - so meine These - wie viel zumindest im 17. Jahrhundert, ,Aufrichtigkeit' mit Inszenierung (wenn man so will: mit 3

'

40 41

In 8 Teilen 1638 bis 1650. Christian Wernicke: ÜberschrifSe Oder Epigrammata [...]. Amsterdam 1697, S. 205. Hierzu vgl. Dirk Niefanger: Galanterie. Grundzüge eines ästhetischen Konzepts um 1700. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hg. von Hartmut Laufhütte u. a. Bd. 1. Wiesbaden 2000, S. 459-472.

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Dirk Niefanger

Dissimilatio) zu tun hat. Denn ohne Publikum wirkt sie unsinnig. Sobald aber ein Adressat mitgedacht wird, bietet er den Zielpunkt der verbalen Ausgestaltung, so dass am Ende nur der Anlass als Spur von Aufrichtigkeit übrig bleibt, der zum Kommunikationsakt aufforderte. In den Texten bleibt von der Aufrichtigkeit nur ein sprachlich vermittelter, rhetorisch überformter Rest erhalten; aber in den Reflexionen zum jeweiligen Anlass kann man seinen Status, seine Semiotik und seine Stellung im literarischen Feld studieren. In meinen drei Beispieltexten unterschiedlicher Gattungen hat sich als Gemeinsames herausgestellt, dass .Aufrichtigkeit' immer dann besonderes Gewicht bekam, wenn die Verantwortung des Sprechers gegenüber seinen Adressaten, seinem Auditorium und seinen Lesern betont werden sollte.

Thomas Borgstedt

Paul Flemings stoizistische Liebesdichtung und die Latenz des Subjekts in der Frühen Neuzeit

Paul Flemings Aufrichtigkeit Für das Thema der Aufrichtigkeit ist Paul Fleming auf dem Gebiet der Lyrik des 17. Jahrhunderts denkbar einschlägig. Bekanntlich hat Hans Pyritz bereits 1932 die Eigenart der Flemingschen Dichtung auf seine Behandlung der Liebestreue zurückgeführt. Diese ist unmittelbar mit der Thematisierung der Aufrichtigkeit in Liebesdingen verknüpft. Unter vielen möglichen Beispielen kann dies etwa die folgende kleine Ode zeigen: An Anemonen. Anemone / meine Wonne / meines Hertzens stete Zier / meine Klarheit / meine Sonne kanst du diß denn gläuben dir / daß / was dir mein Mund verspricht / meyne mein Gemüthe nicht. Nicht so / Liebste. Laß dir sagen / es ist ein betrogner Wahn / der dich heißt üirnn etwas klagen / das dir doch nicht fehlen kan. Was betrübt dich Zeit und Ort. Wahre Liebe hält ihr Wort. Nacht / und Tag / und alle Blicke / gehn auff dein Gedächtnüß hin. Was von Seuffizen ich verschicke / heiß' ich alles zu dir ziehn. Und die Thränen meiner Pein, send' ich / Schatz / zu dir allein. Ach nun / Anemone / glaube / was du dir selb-selbst sagst zu. Der ich eigen bin und bleibe / Anemone / das bist du. Anemone / meine Zier / Du nur bist die Liebste mir.1

1

Paul Fleming: Teütsche Poemata. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Lübeck 1642. Hildesheim 1969, S. 543 f.

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Thomas Borgstedt

Die Übereinstimmung von Wort und Intention, von Gesagtem und Gemeintem, von Innen und Außen wird in besonderer Weise betont. So wird Aufrichtigkeit von Fleming immer wieder ausdrücklich geradezu zum persönlichen Merkmal des lyrischen Sprechers erhoben, wie wiederum sehr markant in den folgenden Versen eines Glückwunschgedichts: Ich sage was ich meyn'; Ich rede / was ich dencke / und leiste was ich kau / behalte was ich schencke / ein mündlichs Hertze stets. Wer hier sucht Kunst und Zier / und Schein und Aussen-werck / für diesem seht euch für. Mein Sin steht an der Stirn' / [...].2

Der damit verbundene „eigene Ton"3 - wie Pyritz es nannte - hat Fleming wie kaum einem anderen Autor seiner Epoche Wertschätzung über die Jahrhunderte hinweg eingetragen. Ob Daniel Georg Morhof, Johann Jakob Bodmer, Johann Christian Gottsched, August Wilhelm Schlegel, Joseph von Eichendorff oder die Germanistik des frühen 20. Jahrhunderts, stets fand man bei Fleming exzeptionelle Züge einer wenig .barocken' Schlichtheit, eines authentischer wirkenden Dichtungsstils, einer engeren Verbindung von Poesie und Leben, einer moderner anmutenden Subjektivität.4 Auch spätere Arbeiten beschäftigt diese Frage nach seinem Individualstil weiter. Während Pyritz das Persönliche noch als Überwindung von Tradition und Konvention zu bestimmen suchte, steht in der Folge die Frage im Vordergrund, wie der individuelle Tonfall sich im Rahmen der Tradition entfalten konnte, wie etwa - so Volker Klotz - artistische Vollkommenheit in den Dienst persönlichen Engagements tritt, und welche „Spielräume" - so Wilfried Barner - die zeitgenössische Poetik sprachlich offen hielt.5 In dieses Spannungsfeld gehört auch die Frage nach der Rolle der Aufrichtigkeit in Flemings Dichtung. Diesbezüglich soll im folgenden einigen Merkmalen sei-

2

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4

5

Fleming (1969), S. 225 („Auff eben desselben seinen Nahmens-Tag: m. de xxxiix.", S. 219227; bezogen auf S. 215: „Auff Hertzogen Friedrichs zu Schleßwig Holstein/ etc. Fürstl: Durchl: Hochbetrauten Rathes / und nach Moschkaw und Persien wohlfiirnehmen Abgesandtens / Seinen Nahmens-Tag. Welcher den iv. Wintermonats-Tag deß m. de. xxxiix. Jahres vor Deutuscha an der Wolgen auff der Rück-reise aus Persien gefallig gewesen."). Hans Pyritz: Paul Flemings Liebeslyrik. Zur Geschichte des Petrarkismus. Göttingen 1963, S. 278 ff. Belege bei Peter Krähe: „Flemming, unsrer Tichter Wonn". Paul Flemings literarischer Nachruhm. In: Archiv für Kulturgeschichte 71 (1989), S. 71-89. Volker Klotz: Spiegel und Echo, Konvention und Individualität im Barock. Zum Beispiel: Paul Flemings Gedicht „An Anna, die spröde". In: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. FS Günther Weydt. Hg. von Wolfdietrich Rasch, Hans Geulen u. Klaus Haberkamm. Bern u. München 1972, S. 93-119, hier: S. 116; Peter Krähe: Persönlicher Ausdruck in der literarischen Konvention: Paul Fleming. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 106 (1987), S. 481-513; Wilfried Bamer: Spielräume. Was Poetik und Rhetorik nicht lehren. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hg. von Hartmut Laufhütte. Bd. 1. Wiesbaden 2000, S. 33-67, zu Fleming: S. 45 f.; von der Konventionalität der stoizistischen Rhetorik Flemings geht dagegen Barbara Bauer in ihrer .dekonstruktiven' Lektüre aus: Barbara Bauer: Naturverständnis und Subjektkonstitution aus der Perspektive der frühneuzeitlichen Rhetorik und Poetik. In: Ebd., S. 69-132, zum vorliegenden Sonett: S. 115120.

Paul Flemings stoizistische

Liebesdichtung

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ner Gedichte nachgegangen werden: 1. dem neustoizistischen Impuls seiner Lyrik, 2. ihrer szenisch-situativen Gestaltung durch Einsatz mündlich-nähesprachlicher Elemente, 3. der Rolle des epigrammatischen Formimpulses und 4. der idealisierenden Verinnerlichungstendenz der Liebeskommunikation. Das Thema der Aufrichtigkeit ist in Flemings Gedichten eng mit der Darstellung kommunikativer Vorgänge verknüpft. Häufig wird dazu dramatische Figurenrede eingesetzt und eine für die Zeit eher ungewöhnliche szenisch-situative Fiktionalität erzeugt. Dabei spielen an mündlicher Rede orientierte, nähesprachliche Merkmale eine auffallende Rolle. Wäre sein Sonett An Sich auch nur annähernd so berühmt, wenn es nicht mit den Worten „Sey dennoch unverzagt" einsetzen würde? An Sich. Sey dennoch unverzagt. Gieb dennoch unverlohren. Weich keinem Glücke nicht. Steh' höher als der Neid. Vergnüge dich an dir / und acht es für kein Leid / hat sich gleich wieder dich Glück' / Ort / und Zeit verschworen. Was dich betrübt und labt / halt alles fur erkohren. Nim dein Verhängnüß an. Laß' alles unbereut. Thu / was gethan muß seyn / und eh man dirs gebeut. Was du noch hoffen kanst / das wird noch stets gebohren. Was klagt / was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke ist ihm ein ieder selbst. Schau alle Sachen an. Diß alles ist in dir / laß deinen eiteln Wahn / und eh du forder gehst / so geh' in dich zu rücke. Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kan / dem ist die weite Welt und alles unterthan.6

Die stoizistische Maxime der Standhaftigkeit wird zunächst in einer unmittelbaren Figurenanrede präsentiert und persönlich zurechenbar gemacht. Noch dazu wird mit dem „dennoch" auf einen ungenannt bleibenden situativen Kontext Bezug genommen. Dies schafft eine sprachliche Dramatik mit ausgesprochen lebendigem Einsatz. Man vergleiche dazu nur einmal folgenden Sonettbeginn aus der Feder von Martin Opitz: Wer recht vernünfftig ist soll allzeit standhafft bleiben / Soll haben unverwandt ein Hertz' und einen Sinn:7

Gemeint ist hier durchaus Ähnliches. Opitz wählt für die constantia-Empfehlung die allgemeine philosophische Maxime, Fleming dagegen formuliert persönlich und situationsnah. Er verbirgt im Dienst dieser Situationsnähe mit dem „dennoch" sogar systematisch die scheinbar wichtigste Information über die Ursache des Leidens. Der Text gewinnt eine deiktische Qualität großer Unmittelbarkeit, weil nicht zuerst zum Leser, sondern zum Selbst als einem individuellen kommunikativen Gegenüber gesprochen wird. 6 7

Fleming (1969), S. 576. Martin Opitz: Weltliche Poemata. 1644. Zweiter Teil. Mit einem Anhang: Florilegium variorum epigrammatum. Unter Mitwirkung von Irmgard Böttcher und Marian Szyrocki hg. von Erich Trunz. Tübingen 1975, S. 368 (Nr. XV: „Der Schäffer Herbanius daselbst", v. 1-2).

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Thomas Borgstedt

Gesprächshafte Elemente wirken in der Lyrik im Sinn einer stilistischen Absenkung. Sie implizieren ein einfaches Vokabular und vertragen sich nicht sehr gut mit Merkmalen des hohen Stils wie einer komplexen Syntax, unkonventioneller Lexik, entlegener Bildlichkeit und allegorisch-mythologischen Referenzen. Auch bei Fleming sind sie deshalb weniger in der geistlichen, der panegyrischen oder auch der Reisepoesie zu finden als in der Liebesdichtung. Vermutlich sind hier auch ihre stilistischen Wurzeln zu suchen. Situative Nähe und Figurenrede war vor allem in der Tradition der lateinischen erotischen Poesie geläufig, man denke etwa an die situative Unmittelbarkeit der Kussdichtung, der Fleming bereits in seinen frühen neulateinischen Gedichten nachgefolgt war.8 Sein Wie er -wolle geküsset sein ist das bis heute bekannteste Beispiel der Tradition in deutscher Sprache.9 Fleming reproduzierte die lebendige Qualität dieser Lyrik allerdings in Gedichten, die nicht primär in der Unmittelbarkeit des erotischen Scherzes aufgingen.

Stoizismus Das zitierte Sonett Art Sich erinnert daran, dass Paul Fleming gerade in seinen berühmtesten Gedichten den auf das Einzelsubjekt bezogenen Autonomieanspruch eines emphatisch verstandenen constantia-Ethos zum Ausdruck bringt hier ebenso wie in seiner auf sich selbst verfassten Grab-Schrifft und in zahllosen anderen Texten. Dies ist Ausdruck einer fundamentalen weltanschaulichen Orientierung,10 und es unterscheidet ihn von den meisten nachfolgenden Dichtern seines Jahrhunderts. Fleming ist hier noch Martin Opitz nahe, während sich jüngere Lyriker wie Andreas Gryphius eher christlich oder entschieden antistoizistisch wie Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau und seine Nachfolger geben werden. Es sind vor allem der späthumanistisch-säkulare Zuschnitt und die rationalistische Affektfeindschaft des Stoizismus, die in die Kritik geraten. Stark neustoizistisch geprägt sind also die frühen Autoren, Opitz, Fleming oder Sibylla Schwarz. Somit könnte die viel beklagte Tatsache, dass Flemings ,Τοη' in seinem Jahrhundert eine so geringe Nachfolge gefunden hat, damit zu tun haben, dass man sich auf breiter Front vom rationalistischen Autonomiekonzept des Stoizismus abgewendet hatte. 8

Vgl. Pyritz(1963), S. 13-85. Wilhelm Kühlmann: Ausgeklammerte Askese. Zur Tradition heiterer erotischer Dichtung in Paul Flemings Kußgedicht. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1. Renaissance und Barock. Hg. von Volker Meid. Stuttgart 1982, S. 177-186. i° Diese Prägung wurde in jüngerer Zeit nochmals unterstrichen: Jochen Schmidt: „Du selbst bist Dir die Welt". Die Reise nach Utopia als Fahrt zum stoisch verfaßten Ich. Paul Flemings Gedicht „In grooß Neugart der Reussen". In: Daphnis 31 (2002), S. 215-233; Barbara Neymeyr: Das autonome Subjekt in der Auseinandersetzung mit Fatum und Fortuna. Zum stoischen Ethos in Paul Flemings Sonett „An sich". In: Daphnis 31 (2002), S. 235254; vgl. zuletzt als Tagungsbeitrag: Jochen Schmidt: Stoizismus vs. Petraikismus bei Paul Fleming. In: Petrarca in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik. Hg. von Achim Aurnhammer [Druck in Vorbereitung].

9

Paul Flemings stoizistische

Liebesdichtung

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Aufschlussreich wird dies auch vor dem Hintergrund, dass Flemings Schlüsselthema der Aufrichtigkeit und Treue in der Liebe genau dieses stoizistische Autonomiekonzept in die Liebesdichtung importiert, wo es keineswegs selbstverständlich zu Hause war. Schon ein weiterer Blick auf Martin Opitz erinnert daran, inwiefern das stoizistische Prinzip der Affektkontrolle die Liebesdichtung generell unter Legitimationszwang setzte. Opitz ist deshalb immer wieder mit widersprüchlichen Strategien der offiziellen Abwertung und der sekundären Legitimation seiner Amatoria beispielsweise als „Wetzstein"11 des Verstandes beschäftigt. Bei Fleming findet sich Ähnliches nicht. Er scheint nicht nur generell unbedenklich zu sein angesichts der Vielzahl seiner Liebesgedichte, er verschafft ihnen mit der constantia-Moii\'\k. um Aufrichtigkeit und Treue eine moralische Aufwertung jenseits von Scherz, Satire und Ironie und auch jenseits der am Petrarkismus orientierten, paradoxal angelegten Leidenskonzeption.12 Dies führt mich zu einer Leitthese: Abgesehen von der starken poetischen Gestaltungskraft des Autors scheinen vor allem zwei Impulse signifikant zu sein für die Ausnahmestellung seiner Lyrik im 17. Jahrhundert und damit zugleich auch für seine überepochale Wirkung: einerseits die stilistische und thematische Prägung durch die neulateinische erotische Dichtungstradition mit ihrer situativen Präsenz und kommunikationsbezogenen Lebendigkeit, andererseits die weltanschauliche Orientierung am stoizistischen constantia-Ethos mit seiner starken Forcierung der Ich-Autonomie. Wie das constantia-Motiv im Kontext der Liebesthematik zu einer systematischen Konstruktion von subjektbezogener Innerlichkeit und zum Konzept der Aufrichtigkeit führt, zeigt etwa Flemings Lied Muß sie gleich sich itzund stellen. Es enthält zudem aufschlussreiche Bezüge zum zeitgenössischen Klugheitsdiskurs, indem es von der .Verstellung' der Geliebten spricht: Muß sie gleich sich itzund stellen / als wer' ich ihr unbekant; meynt drürn nicht / ihr Mittgesellen / daß ihr Sinn sey ümmgewand. Ihre Treu' in unsrem Handel die weiß gantz von keinem Wandel. Amor liebet solche Hertzen / die deß Mundes Meister seyn / die bey trauren können schertzen / und erfreuet seyn in Pein. Wer will Haßfrey seyn im lieben der muß sich im Bergen üben. Also wenig sie sich hassen / und nicht selber sie seyn mag / 11

12

Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002. Abschnitt III, S. 21. Vgl. zur Charakteristik des Petrarkismus bei Fleming: Thomas Borgstedt: Topik des Sonetts. Entwurf einer pragmatischen Gattungskonzeption. Habilitationsschrift Franklurt a. M. 2001. Tübingen [in Vorbereitung].

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also wenig wird sie lassen / den / der sie zu seyn stets pflag. Eins / das sich dem andern giebet / liebt es / wie sichs selten liebet. Dennoch hat sie mich im Sinne / hat sie mich im Auge nicht. Nicht ists aussen / sondern drinne / was mir ihre Gunst verspricht. Müssen schon die Lippen schweigen; Sie denckt doch: der bleibt mein eigen. Recht so / Schwester. Laß nicht mercken / was dich heimlich labt und kränckt. Man verräth sich mit den Wercken / der bleibt sicher / der viel denckt. Laß sie sagen / was sie wollen / wir nur wissen / was wir sollen. Sey dir ähnlich / und verbleibe / die du vor warst / und noch bist. Und denck nicht / weil ich nichts schreibe / daß mein dencken dich vergißt. So gedenck' ich stetigs deiner / daß ich auch vergesse meiner. 13

Das vierhebig-trochäische Lied verteidigt gegenüber einem geselligen Kreis die äußere Verstellung der Geliebten, die ihren Partner offenbar in der Öffentlichkeit verleugnet. Es verweist demgegenüber auf ihren unwandelbaren ,Sinn' und ihre Treue, also ihre constantia in der Liebe. Das Treuethema ist kontrastiv auf das der Verstellung bezogen und erhält seine Bedeutung aus der Unterscheidung zweier sozialer Funktionsbereiche: Außenkommunikation hier und innere Haltung da. Systematisch differenziert der Text zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung, zwischen Worten und Gedanken, zwischen öffentlichem Raum und intimem Einverständnis. Schon in der antiken Dichtung wird des öfteren eine solche Grenze zwischen einem feindseligen öffentlichen Raum und einem verschwiegenen Raum erotischer Intimität gezogen. Dieser erotische Privatraum ist hier ganz im Sinn der constantia als subjektiver Innenraum interpretiert, wie noch die letzte Strophe zeigt: „Sey dir ähnlich / und verbleibe / die du vor warst / und noch bist" (v. 31 f.). Signifikant ist hier die soziale Differenzierung, indem Verstellung dem öffentlichen Raum zugeordnet wird, Aufrichtigkeit qua Beständigkeit aber dem partnerschaftlichen Intimbereich. Diese Übertragung der conitawft'er-Thematik auf den Liebesdiskurs rückt gegenüber dem neustoizistischen Paradigma das intersubjektive Moment der Liebeskommunikation ins Zentrum. Das vorliegende Lied bildet dies mimetisch ab, indem es von der öffentlichen Rede zu den „Mitgesellen" zur immittelbaren Anrede an die Geliebte übergeht: „Recht so, Schwester". Dabei stört offenbar auch der performative Selbstwiderspruch des

13

Fleming (1969), S. 505 f., v. 17 emendiert: sich] sie.

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lyrischen Sprechers kaum, der vom Verschweigen spricht und damit das Geheimnis gerade ausplaudert, das er belobigen will.14 Dies lädt zu einer dekonstruktiven Lektüre geradezu ein, ist aber womöglich nur dem geringeren Anspruch geschuldet, den frühneuzeitliche Texte an die argumentative Konsistenz stellen. Der Wertbereich der constantia bleibt hier gleichwohl dem intersubjektiven Bereich der Liebenden zugeordnet. Es verläuft ein Gegensatz zwischen der täuschenden Rede und den sicheren Gedanken. So schließt Fleming pointenhaft mit einer aufs gedankliche Innere bezogenen, intersubjektiven Liebesbeteuerung, die Ich und Du pronominal aufeinander bezieht, um den aufgetretenen Zweifel an der Aufrichtigkeit auszuräumen: „So gedenck' ich stetigs deiner / daß ich auch vergesse meiner" (v. 35 f.). Aufschlussreich ist es, wie die Thematik der Beständigkeit in der Liebe hier auf den Diskurs der Klugheit und die damit verbundene Leitkategorie der Verstellung - der dissimulatio - bezogen wird. Dieser Zusammenhang ist von grundsätzlicher Bedeutung, denn das Thema der Aufrichtigkeit erhält erst vor dem Hintergrund der politischen Klugheitslehren und der Debatten um Staatsraison und Machiavellismus seine eigentliche Brisanz. Durch diese politischen Legitimationsmodelle erfolgsorientierten staatlichen Handelns sind die Anforderungen an die Aufrichtigkeit des Verhaltens in der Frühen Neuzeit ganz generell auf den Prüfstand geraten. Obwohl man die starken Thesen des Machiavellismus allenthalben ablehnte, wurden im Interesse der Flexibilisierung von Verhaltensmöglichkeiten unter der Überschrift der christlichen oder politischen Klugheit entsprechende Verhaltensmodelle für die verschiedensten Lehrtraditionen entworfen.15 Man arbeitete an graduellen Abstufungen des Aufrichtigkeitsgebotes, an kasuistischen Situationsabwägungen und an Ausnahmebestimmungen, die vor dem Gewissen zu verantworten waren. Die Voraussetzung einer solchen neuen Beweglichkeit des Verhaltens bildet aber die Unterscheidung von Außen und Innen. Insofern sind prudentia und constantia als Außen- und Innenpolitik des frühneuzeitlichen Subjekts eng aufeinander bezogen: Der äußeren Flexibilisierung von Handlungsmöglichkeiten antwortet die innere Selbstvergewisserung, der äußeren Maskerade muss innere Festigkeit korrespondieren.

Nähesprache Welche stilistischen Verfahren werden nun eingesetzt, um das Motiv der Aufrichtigkeit und der Treue in der Liebe darzustellen? Eine besondere Rolle spielt dabei die szenische Unmittelbarkeit der Figurenrede, wie oben bereits im Fall des Sonetts An Sich angedeutet. Einen ausgesprochen mündlichen Eindruck 14 15

Auf diesen Widerspruch hat in der Diskussion Nicola Kaminski hingewiesen. Vgl. jetzt zum Bereich der politico Christiana·. Luise Schorn-Schvltte: Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht. Die politica christiana als Legitimitätsgrundlage. In: Dies. (Hg.): Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts: Politische Theologie, Res Publica-Verständnis, konsensgestützte Herrschaft. München 2004, S. 195-232.

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macht dabei unter anderem der intensive Einsatz von situationsbezogenen deiktischen Verweisen ebenso wie der von Personalpronomina, wie es beispielsweise sehr markant am Beginn des Sonetts Als Sie sich nicht wolte trösten lassen zu sehen ist: Du sagst mir diß / und das / von dir / und mir / und dem / was einst der Zweck soll seyn nach diesen langen Plagen. Itzt hastu dieses da / dort jenes hören sagen / und frag' ich denn darnach / so weist du nicht von wem. 16

Hier wird eine Alltagsrede nachgeahmt, die für die Schriftform ungewöhnlich ist. Die Gesprächspartnerin wird nicht nur angesprochen, ihre Äußerungen werden auch aufgegriffen, charakterisiert und beantwortet. Das Ganze wirkt trotz seiner Monologizität sehr dialognah und damit erneut situationsbezogen. Zugleich ist aufschlussreich, dass der Gesprächscharakter motivisch dem Bereich der Gerüchte und des Zweifels zugeordnet ist, einer in Frage gestellten Aufrichtigkeit also, die sich damit in ähnlicher Position befindet, wie im vorigen Beispiel die Verstellung gegenüber den „Mitgesellen". Solche Dialognähe erscheint noch deutlich gesteigert in einem ausdrücklich dem Thema der illusionären Gegenwart gewidmeten Sonett wie Er bildet ihm ein / als sehe Er Sie vor sich. Hier soll der Leser offenbar an einen Dialog mit der nur scheinbar anwesenden Geliebten glauben. Erst im letzten Terzett wird er seines Irrtums belehrt. Ich zitiere zunächst wieder nur die ersten vier Verse: Willkommen / süßer Gast / du Balsam meiner Wunden. Wo kömmst du itzund her? Mein Schatz / ümbfange mich. Was hältst du mich doch auff? warümb versteckst du dich? Wo bist du? komm doch her / ey komm doch her von Stunden.17

Mit dem „Willkommen", dem „itzund", dem „Mein Schatz" wird dialogische Präsenz suggeriert, erst im dritten Vers tauchen Fragen auf, die die Anwesenheit gebrochen erscheinen lassen. Die Mimesis der Figurenrede des Ich, situative Verweisungen und die Einbeziehung dialogischer Äußerungen eines Gegenübers erzeugen szenische Präsenz, Situativik und sprachliche Lebendigkeit. Die imaginierte Nähe der Liebespartner wird nicht berichtet, sondern dargestellt. Man kann die Merkmale eines einfachen, an mündlicher Rede orientierten Stils mit einem Begriff aus der Linguistik als eine Charakteristik der „Nähesprache" beschreiben. Gemeint ist damit eine „konzeptionelle", das heißt stilistische Mündlichkeit, die unabhängig von der medialen Schriftlichkeit der Gedichte umgesetzt werden kann.18 Nähesprache bezeichnet eine Reihe von Merk16 17 18

Fleming (1969), S. 630(Der Sonnetten Drittes Buch, Nr. XLVII). Fleming (1969), S. 628 (Der Sonnetten Drittes Buch, Nr. XLIV). Für den Begriff: Peter Koch u. Wulf Oesterreicher: Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 16-43; auch: Wolfgang Raible: Orality and Literacy. In: Schrift und Schriftlichkeit. Writing and its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Hg. von Hartmut Günther u. Otto Ludwig. 1. Halbbd. Berlin α a. 1994, S. 1-17, insbes. S. 4 f.

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malen der Redekonstellation19 wie die verstärkte Situationseinbettung, eine Vertrautheit der Partner und größere emotionale Beteiligung, die räumliche und zeitliche Nähe der Gesprächspartner, ihre Kooperativität, Dialogizität und ähnliches. Die Kategorien erlauben eine Differenzierung entsprechender Kommunikationskonstellationen, auf die man gerade auch in stilistischer Perspektive Bezug nehmen kann. Obwohl literarische Texte ihren Ort im distanzierenden Medium des Buches haben, können sie solche Nähesprache mit Hilfe der Simulation gesprächshafter Konstellationen umsetzen. In der Regel setzt Nähesprache in der Literatur deshalb die zitierende, mimetische Darstellung von Figurenrede voraus. Als nähesprachlich erscheint auch der in der Liebesdichtung geläufige Einsatz von Anrede- und Personalpronomina. Diese werden von Fleming nicht selten exzessiv gesteigert und in eine dynamische Wechselbeziehung gebracht, um den Eindruck intersubjektiver Nähe hervorzurufen oder diese in ihrer Gebrochenheit und Gefahrdung zu beschwören. Mit der syntaktischen Kurzschließung der Personalpronomina ,Ich' und ,Du' inszeniert Fleming eine Identifikation der seelischen Innenräume der Liebenden, die einer Nullkommunikation gleichkommen soll, einer gleichsam verlustfreien Verständigung, die zugleich das Ideal absoluter Aufrichtigkeit wäre. Im folgenden Beispiel wird dies kombiniert mit dem aus der Tradition erotischer Dichtung vielfach bekannten Motiv der Seelenwanderung, wobei die eigene Seele ins Innere des Geliebten versetzt wird und sich an dieses verliert.20 Im Sonett An Anemonen enthält im ersten Quartett jeder Vers drei oder gar vier Personalpronomina, insgesamt fünfmal „Ich", siebenmal „mein", „mich" oder „mir", zweimal „dich" oder „dir", um nichts anderes als Aufrichtigkeit zu kommunizieren: Ich meynt' / ich hätte dir mein gantzes Hertz' entdeckt / mein lassen und mein Thun / mein wollen und beginnen / So / daß ich mich mir selbst nicht besser öffnen können. Ich war nun nicht in mir; Ich war in dich versteckt.21

Aufrichtigkeit wird als Akt pronominaler Zuwendung inszeniert. Man kann geradezu von einem Pronominalstil Flemings sprechen. Auch dabei fallt die stilistische Absenkung auf; eine Annäherung an alltägliche Redeweisen, die auf Mythologeme, Allegorien, Bildungsreminiszenzen und lexikalische Poesiesignale weitgehend verzichtet, und sie allenfalls durchschimmern lässt, wie hier im Fall des Motivs der Seelenwanderung. 19

20

21

Zu Typen von Redekonstellationen vgl. Hugo Steger u. a.: Redekonstellation, Redekonstellationstyp, Textexemplar, Textsorte im Rahmen eines Sprachverhaltensmodells. Begründung einer Forschungshypothese. In: Gesprochene Sprache. Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1972. Düsseldorf 1974, S. 39-97. Vgl. zum Motiv der erotischen Seelenwanderung im Kuss: Nicolas James Perella: The Kiss. Sacred and Profane. An Interpretive History of Kiss Symbolism and Related Religio-Erotic Themes. Berkeley u. Los Angeles 1969; Walther Ludwig: Piatons Kuß und seine Folgen. In: Illinois Classical Studies 14 (1989)435-447; Thomas Borgstedt: Kuß, Schoß und Altar. Zur Dialogizität und Geschichtlichkeit erotischer Dichtung (Giovanni Pontano, Joannes Secundus, Giambattista Marino und Christian Hoffmann von Hoffmanns Waldau). In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 44 (1994), S. 288-324, hier: S. 293. Fleming (1969), S. 610 („An Anemonen", v. 1-4, Hervorh. Τ. B.).

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Den zitierten Beispielen sind nun nicht nur die szenische Präsenz und die sprachliche Evokation zwischenmenschlicher Nähe gemeinsam. Inhaltlich sind ihnen zugleich der Zweifel und die Beunruhigung solcher Nähe eingeschrieben, im letzten Fall allein durch das konjunktivische „Ich meynt' / ich hätte", in Als Sie sich nicht wolte trösten lassen durch die kolportierten Gerüchte, in Er bildet ihm ein / als sehe Er Sie vor sich durch die Reihung von Fragesätzen, durch die die scheinbare Anwesenheit der Geliebten in Zweifel gezogen wird. Auch sprachlich zeichnen die Gedichte sich durch eine Unruhe und innere Spannung aus, die nach Auflösung verlangt. In den bisher nur teilweise zitierten Sonetten erfolgt diese jeweils im Rahmen einer epigrammatischen Pointe.

Epigrammform Dem Formprinzip des Epigramms mit seiner abschließenden argut-witzigen Pointe folgt bereits das schon mehrfach erwähnte An SicA-Sonett. Dessen anfanglich dramatische und personale Sprechweise mündet in ein paargereimtes Schlusscouplet, das den inzwischen bekannten Inhalt zusammenfasst und das der oben anhand des Beispiels von Opitz vorgeführten Sentenzenhaftigkeit zum Verwechseln nahe kommt: Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kan / dem ist die weite Welt und alles unterthan.

Flemings Sonett strebt - auf Kürze und Pointierung ausgerichtet - rasch und klar gegliedert diesen Schlussversen zu. Um die für das Epigramm geforderte brevitas zu gewährleisten, ist die rhetorische Struktur der Versstruktur eng angepasst. Ulrich Schulz-Buschhaus hat diese Merkmale als .Erleichterung' der Lektüre beschrieben - im Gegensatz zu Tendenzen einer stilistischen Anhebung durch .Erschwerung' und Verlangsamung, wie sie etwa durch komplexen Satzbau und die Gegenläufigkeit von Syntax und Versstruktur erreicht wird.22 Nun stellt der epigrammatische Stilzug mit seiner arguten Pointierung ein „intellektuellobjektivierendes Moment"23 dar, das das lyrische Ich zurücktreten lässt. Genau das gilt auch für das vorliegende Gedicht. Quartett für Quartett strebt es von der konkreten Selbstansprache des „Sey dennoch unverzagt" zu allgemeineren Aussagen. Im zweiten Quartett heißt es „Was dich betrübt und labt / halt alles für erkohren", im dritten wechselt der Sprecher bereits in die unbestimmte 3. Person „Was klagt / was lobt man doch?", von der auch wieder das Couplet gekennzeichnet ist. Flemings dramatischer Einstieg wird in eine epigrammtypische ab22

23

Ulrich Schulz-Buschhaus: Giovanni della Casa und die Erschwerung des petrarkistischen Sonetts. In: Poetica23 (1991), S. 68-94, hier: S. 75; ders.: Emphase und Geometrie. Notizen zu Opitz' Sonettistik im Kontext des europäischen ,Petrarkismus'. In: Martin Opitz (15971639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Hg. von Thomas Borgstedt u. Walter Schmitz. Tübingen 2001, S. 68-82. Schulz-Buschhaus (1991), S. 76.

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strakte Sentenz überfuhrt. Das subjektive Moment wird zeittypisch objektiviert und aufgehoben. Der epigrammatische Formimpuls ist für Flemings Dichtung über weite Strecken ausgesprochen kennzeichnend. Vor allem die stark petrarkistischen Stilzüge, die Pyritz herausgestellt hat, sind epigrammatisch geprägt und folgen nicht selten entsprechenden neulateinischen Vorbildern. Dies gilt gerade für die besonders preziösen Gedichte Flemings auf bestimmte Schönheitsaccessoires der Dame, die Titel tragen wie Auf die güldne Haarnadel, An ihren Spiegel oder Auf den Sonnenschirm. Sie entsubjektivieren den petrarkistischen Liebesaffekt im Dienst der epigrammatischen Pointierung. Der repräsentative Charakter, den die Epigrammform für die frühneuzeitliche Poetik insgesamt besitzt,24 hat mit ihrer Symbolik des Unverrückbaren zu tun, die von ausgesprochen medialer Natur ist. Die Epigrammrede bringt wie keine andere poetische Form sinnbildlich die Eigenschaften des literarischen Schriftmediums zum Ausdruck. Vor allem verkörpert sie die mit der Schrift assoziierte Dauerhaftigkeit in der Zeit, da sie als steinerne Schrift gedacht ist. Die Dominanz des epigrammatischen Stils geht historisch eng mit der Ausbreitung des Buchdrucks im 16. und 17. Jahrhundert einher, dessen mediale Merkmale sie beispielhaft repräsentiert: Auch der Buchdruck sorgt fur eine erratische Qualität der Schrift und lässt sie in der Vervielfältigung statisch und unverrückbar erscheinen. In der Epigrammschrift huldigen die humanistischen Dichter folglich einem Fetischismus der Schrift, welcher der zeitgenössischen Medienerfahrung entspricht. Den Glauben an eine gleichsam petrifizierte Schrift bringt auch Fleming mehrfach unmittelbar zum Ausdruck, sehr plastisch etwa in einem Gelegenheitsgedicht An Herrn Olearien / Vor Astrachan der Reussen inn Nagaien / m. de. xxxvj.: Thalia / reiche mier ein taurendes Pappier / Denn seine schwäche geht dem starken Marmel für. Mein Denkmal sol ein Brief / ein Blat seyn / vol mit Zeilen / Das trutz beuth / Jupiter / auch deinen Donner-keilen. Das steiffer / als Demant und Gold im Feuer hält / Und endlich mit der welt inn einen Hauifen fält.25

Die Schrift erscheint als ausgesprochen dauerhaft. Diese Qualität wird nun ebenso für die poetische Form des Epigramms und seine sprachliche Pointierung in Anspruch genommen. So nutzt Fleming beispielsweise die schriftartige Epigrammpointe immer wieder, um zuvor evozierte Situationen des kommunikativen Zweifels mit der Autorität der dauerhaften Schrift zu überwinden.

24

25

Vgl. fiir die epochale Bedeutung des epigrammatischen Formimpulses Ulrich SchulzBuschhaus: Gattungsmischung - Gattungskombination - Gattungsnivellierung. Überlegungen zum Gebrauch des literaturhistorischen Epochenbegriffs ,3arock". In: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Hg. von Hans-Ulrich Gumbrecht und Ursula Link-Heer. Frankfurt a. M. 1985, S. 213-233; außerdem Thomas Althaus: Epigrammatisches Barock. Berlin u. New York 1996. Fleming (1969), S. 93-98, hier S. 93, v. 9-14.

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Dafür ist das Strukturmodell des Sonetts An Sich durchaus typisch: Einer lebensweltlichen Verunsicherung, für die die dramatisch inszenierte mündliche Gesprächsform einsteht, antwortet kontrastiv die epigrammatische Beglaubigung der abschließenden Sentenz. Das gesprächshafte und persönliche „Sey dennoch unverzagt" kommt schließlich in der autoritativen Aussage „Wer sein selbst Meister ist" zur Ruhe und zur Festigkeit einer epigrammatischen Wahrheit. Dennoch ist es nicht allein so, dass die nähesprachliche Gesprächsform gleichsam epigrammatisch eingekapselt und in der Schrift überboten und gesichert wird. Es gilt auch umgekehrt, dass die Epigrammform unter die Herrschaft der Subjektivität gerät. Indem nämlich der Pointe die Wahrhaftigkeit des Subjekts überantwortet wird, büßt diese tendenziell sowohl ihre argutia als auch ihre Objektivität ein. Diese Beobachtung gilt für die meisten der bislang herangezogenen Liebesgedichte. An Anemonen Ich meynt' / ich hätte dir mein gantzes Hertz' entdeckt / mein lassen und mein Thun / mein wollen und beginnen / So / daß ich mich mir selbst nicht besser öffnen können. Ich war nun nicht in mir; Ich war in dich versteckt. Was hat denn diesen Haß so bald auff mich erweckt / daß du mir itzund auch ein Auge nicht wilst gönnen? Besinne dich doch / Lieb / wo du was kanst besinnen / wie hoch mich dieses schmertzt / wie sehr mich dieß erschreckt. Gedencke doch an dich / wilst du an mich nicht dencken. Sey mir feind / und nicht dir / dieweil es Zeit ist noch. Wilst du mich richten hin / so schone deiner doch / als die iimm meinen Todt zu tode sich wird kräncken. Nim einmahl dieses dir für allemahl gesagt; Du bist die einige / die ewig mir behagt.26

Die abschließende Pointe wird zur deklarativen Aussage des um die Kommunikation seiner Aufrichtigkeit ringenden Subjekts, sie wird subjektiv, einsinnig und verbindlich, und kann deshalb nicht mehr scharfsinnig sein. Die argutia verweist gewöhnlich durch eine artifizielle und überraschende sprachliche Konstruktion auf eine verborgene, in jedem Fall aber objektive Wahrheit. 27 Sie transportiert deshalb in der Regel ein Moment der Desillusionierung. Man denke dabei etwa nur an die Pointe von Christian Hoffmanns von Hoffmannswaldaus Sonett mit dem später hinzugefügten Titel Vergänglichkeit der Schönheit, dessen Schlussverse lauten „Dein hertze kan allein zu aller zeit bestehen / Dieweil es die natur aus diamant gemacht." 28 Während der Vergleich auf der ersten Ebene 26 27

28

Fleming (1969), S. 610. Vgl. dazu Thomas Borgstedt: Reichsidee und Liebesethik. Eine Rekonstruktion des Lohensteinschen Arminiusromans. Tübingen 1992, S. 66-82, bes. S. 73 f. Benjamin Neukirchs Anthologie. Herrn Hofimannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte erster theil. Nach einem Druck vom Jahre 1697 mit einer kritischen Einleitung und Lesarten. Hrsg. von Angelo George de Capua und Ernst Alfred Philippson. Tübingen 1961, S. 46 f.

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die Unsterblichkeit der Seele der Geliebten bezeichnet, verweist er auf der zweiten Sinnebene argut auf deren widernatürliche Härte.29 Für die Wahrheitsrede des Subjekts in Flemings Sonett wäre ein solcher Desillusionierungseffekt völlig dysfunktional, und so wird die Pointe des Epigramms in den vorliegenden Gedichten systematisch entambiguisiert. Manchmal lebt die argutia dabei als bloße formale Hülse weiter, ist aber semantisch völlig entleert. So schließt das um üble Nachrede kreisende Als Sie sich nicht wolte trösten lassen mit einer im Original durch Fettdruck hervorgehobenen Pointe um die Metapher der Standfestigkeit: Als Sie sich nicht wolte trösten lassen Du sagst mir diß / und das / von dir /und mir /und dem / was einst der Zweck soll seyn nach diesen langen Plagen. Itzt hastu dieses da / dort jenes hören sagen / und frag' ich denn darnach / so weist du nicht von wem. Ο schöne / wer ich dir von Hertzen angenähm' / Ich weiß du würdest nicht nach fremden Mehren fragen / die / wie sie mich bey dir / so dich bey mir verklagen / Ich aber halte mich auffallen fall bequähm. Stell deinen zweifei ab / und laß die Leute lügen; Es wird zu seiner Zeit sich alles müssen fügen. Laß deinen starcken Trost mein festes Hertze seyn / wie meinem deines ist. Und wenn ich bin geschieden / So laß diß einige dich sprechen stets zufrieden: Mein Hertze steht bey Ja! wenn alles schwert auffNein.30

Hier ist die Pointe zugespitzt zu einem Kontrast des standfesten Herzens zum falschen Schwören der Menge, eine antithetische Konstruktion, die dennoch keinerlei argute Kippstruktur aufweist, sondern die deklarativ und einsinnig die Wahrheit des Subjekts zum Ausdruck bringt: „Mein Hertze steht bey Ja." Nicht selten bemüht Fleming dazu ausdrücklich die epigrammatische Schriftform. Selbst wo diese samt einem Verweis auf den steinernen Schriftträger und einem zusätzlich hinzugefügten mythologischen Kontext geradezu plakativ zur Pointe entfaltet wird, kann die Epigrammform im Dienst des Subjekts stehen, wie in der Schluss-Strophe der Ode Eine hab' ich mir erwählet: Ein Gedächtnüß will ich stifften und von Jaspis führen auff / Amor soll mit güldnen Schrifften diese Worte stechen drauff: Basilene du allein / und sonst keine soll es seyn.31

29

30 31

Vgl. zu diesem Gedicht Thomas Borgstedt: Petrarkismus. In: Petrarca. 1304-1374. Werk und Wirkung im Spiegel der Biblioteca petrarchesca Reiner Speck. Hg. von Reiner Speck und Florian Neumann. Köln 2004, S. 127-151, hier: S. 142 f. Fleming (1969), S. 630 f., Hervorhebung im Original. Fleming (1969), S. 515 f., hier: S. 516.

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Der gesamte mediale Apparat des epigrammatischen Inschriftenmonuments beglaubigt hier die geradlinige Wahrheit des Sprechersubjekts.

Verinnerlichung Angesichts der neuzeitlichen Krise der überkommenen Ordnungssysteme und der in Bewegung geratenen Verhaltensoptionen des Einzelnen erweist sich bei Fleming der Liebesdiskurs im Zeichen der constantia als eine Art Verteidigungshaltung. Noch im objektivierendsten Gestus der steinernen Schriftform arbeitet sie der Subjektivierung zu. Dabei liegt in der Beschwörung des unverrückbaren subjektiven Innenraums und im Versuch seiner kommunikativen Stabilisierung im liebenden Gegenüber eine Sprachnot verborgen, die der aufgebrochenen Vereinzelung geschuldet ist. Diese Sprachnot verleiht der forcierten Rhetorik der Aufrichtigkeit auch etwas Verzweifeltes. Womöglich ist dies die Ursache dafür, dass Fleming die erstrebte Nähe der Liebenden und ihre Kommunikation zuweilen ins Außersprachliche zu verlegen sucht, ins rein Gedankliche und ins Gestische der Körper. Im bereits erwähnten Sonett Er bildet ihm ein / als sehe Er Sie vor sich spiegelt eine dichte Abfolge gesprächshafter Wendungen wie gezeigt zunächst einen Dialog und die unmittelbare Anwesenheit der Geliebten vor. Zum Prüfstein der Präsenz wird schließlich aber das Aussetzen der Rede, ein Moment der Stille, den der Text im ersten Terzett mimetisch inszeniert. Er bildet ihm ein / als sehe Er Sie vor sich Willkommen / süßer Gast / du Balsam meiner Wunden. Wo kömmst du itzund her? Mein Schatz / iimbfange mich. Was hältst du mich doch auff? warümb versteckst du dich? Wo bist du? komm doch her / ey komm doch her von Stunden. Ach wie zu rechter Zeit hast du dich her gefunden. Wie? ist sie wieder weg? was täuscht sie mich und sich? Dort ist Sie. Aber was? wie ist mir? Schlummer' ich? Sie war es aber doch. Wie? ist sie den verschwunden? Ach! melde doch ein Wort! Hier bin ich. Wo bist du? St! nein. Ich höre nichts. Wie geht es hier denn zu? Sie stunde ja vor mir. Ich bin ja nicht verrücket. Ach nein! itzt find ich mich. Sie war es leibhafft nicht. Es war ihr Wiederschein in meiner Augen-liecht' / In welche sich ihr Bild / das schöne / hat gedrücket.32

Der Sprecher unterliegt einer Illusion, die Geliebte ist tatsächlich gar nicht anwesend. Wenn die Pointe dies aber enthüllt, steht dennoch nicht oder nur scheinbar der erwartbare Desillusionierungseffekt im Fokus des Interesses. Entscheidend für die Pointe wird vielmehr die imaginäre Gegenwart, die sich wie eine Epigrammschrift ins Auge eingeschrieben hat, wo sie als ,schönes Bild' bewahrt

32 Fleming (1969), S.628f.

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ist. Nicht als ein Zeichen des Vergänglichen erscheint die Schönheit also hier, sondern als dauerhaft Bewahrtes im Auge des Ich eingeprägt. Eine ähnlich idealisierende Umsetzung eines weiteren traditionellen Illusionsmotivs findet sich im schäferlich instrumentierten Sonett Als Er Sie schlafend funde. Auch hier dominiert eine verblüffende sprachliche Gestaltung szenischer Präsenz. Die Perioden sind weitgehend hypotaktisch gefugt, was das Lesetempo verlangsamt: Als Er Sie schlafendfiinde Hier liegt das schöne Kind / in ihrer süssen Ruh / Sie bläst die schöne Luffi / von welcher ich mich quähle biß an die Seele selbst / durch ihre süße Kehle; Hier liegt das schöne Kind / und hat die Augen zu. Streu Rosen ümm Sie her / du sanffier Zefyr du / mit Nelcken untermengt / daß ihr Geruch vermähle mit ihrem Ahtem sich / dieweil ich leise stehle so manchen Kuß von Ihr. Silenus sprich kein Muh! St! Satyr / weg / Sylvan! geht weit von diesem Bache daß meine Seele nicht von eurer Stimm' erwache. Klitzscht in die Hände nicht / ihr schlipfrigen Napeen. Schlaf / Schatz ich hüte dein. Schlaf / biß du selbst erwachest / So wirst du wachend thun / was du im Schlafe machest. Mir auch träumt itzt mit dir / als solt ich vor dir stehn.

Der Kussraub am Ende der Quartette bildet hier keineswegs die Pointe, die man aus anderen Umsetzungen des Themas etwa in der Tradition Marinos kennt, eine scherzhafte Überbietung also durch Affirmation des Erotischen.29 Die Szene kulminiert vielmehr mit den Terzetten in der Inszenierung der Stille, die zugleich eine Inszenierung der Nähe ist. Allein zu ihrer Gestaltung scheint das bukolische Personal aufgeboten zu sein. Reizvoll ist das onomatopoietische „Klitzscht" assonant an die „schlipfrigen Napeen" gerichtet, um eine größtmögliche Simulation der Stille zu erreichen. Diese verkörpert die Präsenz des Ich nicht im Behauptungsgestus, sondern in dem der liebenden Zuwendimg. Dabei wechselt die Anrede im zweiten Terzett zur Geliebten selbst: „Schlaf / Schatz". Auch hier erweist die Pointe das aufgerufene Bild als ein illusionäres Traumbild. Dieses ist hier reziprok auf das Traumbild der Geliebten bezogen und wendet die liebende Präsenz so ins rein Gedankliche. Es depotenziert die Szene letztlich aber gerade nicht, sondern bezieht sie erwartungsvoll auf einen Wachzustand, der als ihre Überbietung und Erfüllung erscheint. Eine solche Inszenierung gedanklicher und parallel geschalteter körperlichgestischer Nähe jenseits von sprachlicher Artikulation gegenüber dem Partner keimzeichnet auch die Ode Aurora schlummre noch an deines Liebsten Brust. Deren Intensität ergibt sich ebenfalls aus einer subtilen Inszenierung von Tempowechseln, hoher Redundanz und einfacher Sprache. Auch hier handelt es sich um eine Situation der Trennung und des nächtlichen Schlafes, die verbunden ist mit dem petrarkistischen Motiv der Liebeskommunikation über Naturobjekte — nach Art etwa der petrarkischen Fluss-Sonette oder des Opitzschen WestwindSonetts, in dem der Wind mit der Übermittlung der Botschaft beauftragt wird.

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Im vorliegenden Gedicht ist es die Morgenröte in Gestalt der Aurora, die den Gruß an die Geliebte entrichten soll. Aurora schlummre noch an deines Liebsten Brust / es ist der tieffer Nacht kein Morgen noch bewust. Diana fuhrt die Sternen noch höher in die Lufft / will weiter von mir lernen / was ich ihr vorgeruffi. Neun Stunden sind nun gleich von nächten durchgebracht / Neun Stunden hab' ich nun an Korilen gedacht, an Korilen / die schöne / von der ich bin so weit / drümm klinget mein Gethöne nach nichts denn Traurigkeit. Nähmt Korilen in acht / ihr Wächter aller Welt / für ihren treuen Sinn / den sie mir vorbehält. Ich will nicht müde werden / in ihrer festen Pflicht / biß daß der Feind der Erden auch mir mein Urtheil spricht. Aurora / lege nun ümm dich den purpur Flor / Der junge Tag thut auff der Eas güldnes Thor. Wirst du mein Lieb ersehen / so gieb ihr einen winck / Als mir von ihr geschehen / in dem ich von ihr gieng. 34

Im motivischen Zentrum steht wieder die gedankliche Zuwendung des lyrischen Ich, diesmal in einer schlaflosen Nacht (v. 7 f.). Die dritte Strophe bringt das mythologische Personal, die Geliebte und das sorgende Sprecher-Ich in reziproker Spiegelung des Treuetopos zusammen. Mit der letzten Strophe wird dann wieder auf die erste zurückgegriffen, indem nun die Morgenröte aufzugehen beginnt. Der Langsamkeit der Veränderung vom Anfang zum Ende der Ode entsprechen nun wieder zäsurenfreie Verse: „Aurora / lege nun ümm dich den purpur Flor /1 Der junge Tag thut auff der Eas güldnes Thor." Mit den Schlussversen wird Aurora fur die bisher ausgebliebene Liebeskommunikation herangezogen. Der ihr aufgetragene Gruß spiegelt jenen früheren, den das Ich bei der Trennung von der Geliebten (in Vers 22 f.) empfangen hat. Das Lied schließt erneut mit einer imaginierten Liebeskommunikation, die ganz ins Gedankliche zurückgenommen ist, und die sich in der erinnerten gestischen Zuwendung der Geliebten sprachlos spiegeln kann. Die Korilen-Ode wird in literaturgeschichtlichen Darstellungen bis heute als ein Höhepunkt im Schaffen des Paul Fleming genannt. Dies verdankt sie offenbar ihrer sprachlichen Einfachheit und szenischen Präsenz. Die mimetische 33 34

Vgl. Borgstedt (1994). Fleming (1969), S. 487 f.

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Umsetzung einer .Aufrichtigkeit' der Liebe, die sich dem trügerischen Bereich der sprachlichen Vermittlung entzogen hat, strahlt eine Geistigkeit aus, die dem Liebesdiskurs des redseligen 17. Jahrhunderts fremd zu sein scheint. Paul Flemings Poesie der Aufrichtigkeit in der Liebe lässt sich aus einem Zusammentreffen des stoizistischen Ethos der individuellen Autonomie mit dem szenisch-präsentischen Sprechduktus der neulateinischen erotischen Dichtungstradition und ihrem Liebesmotiv herleiten. Für die diskutierten Phänomene der situativen Nähesprache, des Pronominalstils, des epigrammatischen Zuschnitts und der gedanklichen Verinnerlichung erweist sich dabei die Tendenz zur Subjektivierung als unmittelbar leitend und dominant. Sie lässt sich als treibender Impuls der vorgestellten unterschiedlichen Phänomene nicht wegdenken und bildet somit ein geradezu irreduzibles Moment. Motiviert sehen kann man diesen subjektivierenden Impuls der Liebesdichtung letztlich aber von jenem Klugheits- und Verhaltensdiskurs, der den frühneuzeitlichen Individualisierungsschub insgesamt anzutreiben scheint und der ihn mit außerästhetischen Motiven der Politik und Ökonomie verknüpft. Indem die .politische' Idealfigur der Verhaltenslehren seit Nicolo Machiavelli und Baldessare Castiglione intensiv als Subjekt kreativer Verstellung und Täuschung ausgelotet wird, ist ein psychischer Innenraum imaginiert, der auch nach positiver Besetzung verlangt. Flemings Diskurs der Aufrichtigkeit und Treue kommt dem im Rahmen einer epigrammatisch und petrarkistisch grundierten Liebesdichtung nach, die nun aber wesentlich neustoizistisch im Sinne des constantia-lAe&Xs konzeptionalisiert ist. Im Kontext der Liebesthematik erweist sich die constantia dabei als ein grundsätzliches Kommunikationsproblem, da die innere Wahrhaftigkeit dem Partner in einer Welt der universellen Täuschungen übermittelt werden muss, sprachlich aber nicht zweifelsfrei übermittelt werden kann. Daraus leitet sich ihr persuasiver Aufwand ab, der nach neuen poetischen Ausdrucksmöglichkeiten sucht. Flemings Dichtung ist dann aber nur scheinbar beziehungsweise nur hinsichtlich ihrer Liebesrhetorik anachronistisch. Die ungewöhnliche Zwittergeburt einer stoizistischen Liebesdichtung bringt vielmehr zutage, welcher Grad an Latenz der Individualisierungs- und Verinnerlichungstendenzen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bereits vorhanden war und poetisch entfaltet werden konnte.

Ernst Osterkamp

Johann Christian Günthers Redlichkeit

Johann Christian Günthers Aufrichtigkeit heißt Redlichkeit. In den rund 40.000 Versen der etwa 600 erhaltenen Gedichte, die Günthers poetische Rastlosigkeit zwischen 1710 und 1723 - dem Todesjahr des noch nicht 28jährigen - hervorgebracht hat, taucht das Wort .aufrichtig' nicht ein einziges Mal auf, dafür aber mit um so größerer Häufigkeit das Wort .redlich'. Dies beweist freilich nur, welch eleganter Metriker Günther war: Sein primäres Ausdrucksmedium war nun einmal der jambische Vers, und in dessen Schema passen die Wörter .aufrichtig' und .Aufrichtigkeit' um so weniger hinein, als die Leichtigkeit und Ungezwungenheit des Versflusses zu Günthers entschieden von der galanten Poetik geprägtem Stilideal gehören. .Redlich' und .Redlichkeit' fugen sich hingegen vorzüglich in den streng alternierenden Vers, ob nun in der von Günther bevorzugten jambischen Form - „Die Redligkeit / Geht allezeit / Bey mir dem Nuzen vor" (I/72)1 - oder im ebenso virtuos gehandhabten Trochäus: „Grab und Stein / Adeln selbst mein Redlichseyn." (1/59) Die Leser seiner wenigen erhaltenen Prosatexte - Briefe zumeist - hat Günther hingegen gern seiner .Aufrichtigkeit' versichert, und dies auf eine Weise, die deutlich zu erkennen gibt, dass Aufrichtigkeit und Redlichkeit fur ihn wie fur die Zeit insgesamt „gleichgültige Wörter"2 waren: „Du kennest mich so gut als Dich selber, und also bin ich der Mühe überhoben, mit vielen Modewüntschen und Versicherungen meiner Aufrichtigkeit Deiner Gedult im Lesen beschwerlich zu fallen. Vor die von Deiner Güte so redlich und reichlich genoßene Wohlthat hastu Dir meine Danckbarkeit von nun an auf ewig zu versprechen" (ΙΠ/149). Redlichkeit ist also nichts anderes als die Aufrichtigkeit des Lyrikers. Als Lyriker aber hat Johann Christian Günther die Redlichkeit so oft und so eindringlich beschworen, wie dies sonst in der Lyrik der ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts ganz ohne Beispiel ist. Er hat seine Gedichte so gezielt mit dem Topos der Redlichkeit verbunden, dass sich dem innovationsfixierten Leser (und wohl nicht nur diesem) der Eindruck aufdrängen kann, er habe mit Günthers Werk die erste große poetische Ausformung der Aufrichtigkeitssemantik

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Günthers Werke werden unter Angabe von Band und Seitenzahl zitiert nach der Ausgabe: Johann Christian Günthers Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. von Wilhelm Krämer. 6 Bde. Leipzig 1930-1937. Krämers Ausgabe erhebt freilich zu Unrecht den Anspruch, historisch-kritisch zu sein. Benutzt wurde des Weiteren die vorzüglich kommentierte Ausgabe von Reiner Bölhoff, die rund zwei Drittel des Gesamtwerks umfasst: Johann Christian Günther: Werke. Hg. von Reiner Bölhoff. Frankfurt a. M. 1998. Vgl. den Artikel „Aufrichtigkeit" in Johann Heinrich Zedier: Grosses vollständiges Universal-Lexicon. Bd. 2. Halle u. Leipzig 1732, Sp. 2164.

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der Aufklärung vor Augen. Jeder Vergleich mit Poesie und Poetik der Galanten, die zu Günthers Schaffenszeit den literarischen Markt noch entschieden dominierten, wird diesen Eindruck verstärken. Denn die Verhaltensnormen der Galanterie und der Höflichkeit und die aus ihnen abgeleiteten Konsequenzen für die Bestimmung des poetischen Stilideals ließen die Entfaltung einer differenzierten Aufrichtigkeitstopik nicht zu: Wer zu frei heraus und so offen redet, wie er es in seinem Herzen meint, also offenherzig, bringt sich damit leicht um seine politischen, ökonomischen oder erotischen Ziele, verstößt so gegen die soziale Vernunft und exponiert sich zugleich als Protagonist des groben Tones. Im Argumentenkatalog der Dichter der Neukirchschen Sammlung nehmen Aufrichtigkeit und Redlichkeit deshalb nur einen sehr geringen Stellenwert ein, und in der galanten Poetik tauchen sie als Tugenden des Poeten oder in einem anderen poetologischen Zusammenhang erst recht nicht auf. Wenn ζ. B. Menantes und Erdmann Neumeister in der Allerneuesten Art / Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen tatsächlich einmal frei und offenherzig reden, dann nur dort, wo ein Sachverhalt ohnehin offensichtlich ist. Also etwa an der Stelle, wo Menantes konstatiert, dass die Autoren von Poetiken nur selten auch gute Dichter seien: „Man lege mir diese freye und offenhertzige Redens-Arten nicht übel aus; ich ehre manchen / der von der Poesie geschrieben / als einen gelehrten und braven Mann / der mir aber in der Poesie gar gleichgültig ist."3 Sonst aber findet seine Offenherzigkeit an dem Verhaltensideal der Galanterie ihre Grenze, das dem bürgerlichen Intellektuellen die größten Realisierungschancen für seine Karrierewünsche eröffnet: also am Gebot der Unpassioniertheit und Unparteilichkeit, das es ihm ermöglicht, bei Bedarf leidenschaftslos die Partei zu wechseln, weil er ohnehin nie offen Partei bezogen hat. Wo immer deshalb Menantes in die Gefahr gerät, dass sein Urteil tatsächlich als aufrichtig verstanden werden könnte, etikettiert er es als „unpassionirt"4 oder als „unpartheyisch".5 Jenseits dieser Grenze aber - insbesondere dort, wo aufrichtig über Personen zu urteilen wäre - regiert das Schweigen der „Höflichkeit": „Dahero rede auch nur insgemein von den meisten / die poetische Regeln heraus gegeben / und nenne aus Höflichkeit diejenige nicht einmahl / die ich nicht vor so gute Poeten als gelehrte Leute achte."6 Von diesem Hintergrund sticht die poetische Redlichkeitsinsistenz Johann Christian Günthers, der es immerhin fertig brachte, sich schon als Zwanzigjähriger in einem Gedicht an seine Geliebte Leonore Jachmann einen „alten Redlich" (1/93) zu nennen, um so markanter ab. Redlichkeit bildet geradezu eine Leitkategorie seiner Lyrik - und zwar in doppelter Perspektive: Günthers Gedichte wollen einerseits von der Redlichkeit des Dichters überzeugen, und sie 3

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Die Allerneueste Art / Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen. Allen Edlen und dieser Wissenschaft geneigten Gemühtem / Zum Vollkommenen Untericht / Mit überaus deutlichen Regeln / und angenehmen Exempeln ans Licht gestellet / Von Menantes. Hamburg 1712 (zuerst 1707), Vorrede, p. C5 v. Menantes (1712), p. C6 v. Menantes (1712), p. C1 v, C2 r usw. Menantes (1712), p. C6 v.

Johann Christian Günthers Redlichkeit

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wollen andererseits ihre Adressaten auf Redlichkeit festlegen, indem sie deren Redlichkeit immer schon voraussetzen. Autor und Publikum bilden damit im poetischen Entwurf Günthers eine Gemeinschaft, die durch Redlichkeit reguliert wird. Pointiert gesagt: Redlichkeit bildet eine Verstehensvoraussetzung vieler seiner Gedichte; sie sind von einem Redlichen für Redliche geschrieben, und nur dem Redlichen erschließt sich die Redlichkeit des Dichters. Trotz der Prominenz der Redlichkeitstopik in seinen Gedichten ist sie von der Güntherforschung bisher noch nicht bemerkt worden - und dies aus einem simplen Grund: Sie wurde gerade deshalb übersehen, weil sie auf so offensichtliche Weise einem Klischee entspricht, das die Güntherforschung bis zum Ende der siebziger Jahre dominiert hat:7 demjenigen von Günther als einem kometengleich aufleuchtenden und rasch verglühenden Frühsubjektivisten und genialen Vorläufer der Goetheschen Erlebnislyrik, als - um es in der erhabenen Unsinnsprosa des Wilhelminismus zu sagen - dem „ersten Versuch des Lebens, Goethe hervorzubringen".8 Wer aber Günthers Gedichte als Ausdruck eines subjektiven Erlebnisses liest, muss deren Redlichkeitstopik übersehen, weil sie dasjenige bestätigt, was im Begriff von Erlebnislyrik immer schon vorausgesetzt ist: dass der Dichter im Gedicht offenherzig, aufrichtig und redlich sei. Denn nur so kann ja so etwas gedacht werden wie eine subjektive Aussprache des sich selbst reflektierenden Gefühls, das in der Poesie sein einzig angemessenes Medium findet. Es liegt zwar auf der Hand, dass eine so verstandene Erlebnislyrik ohne die Günther'sche Abundanz der Redlichkeitsproklamationen, die ohne jede Entsprechung in Goethes Lyrik sind, auskommen müsste. Aber gerade deshalb hat die nachgoethezeitliche Rezeption sie entweder ganz überlesen - als poetische Schwächen eines Dichters, der noch mit einem Bein im barocken Sumpf steckte und deshalb nicht zu der poetischen Dichte Goethes finden konnte - oder sie, da Günthers Werk nun einmal „die erste große Bekenntnisdichtung der deutschen Literatur"9 sein sollte, einfach für bare Münze genommen, weil, wer Erlebnisund Bekenntnisgedichte schreibt und sich darin redlich nennt, auch fraglos redlich sein muss. Zu welchen Verkennungen diese Topoi der älteren Güntherforschung im Blick auf Günthers Aufrichtigkeit führen, möge exemplarisch wenigstens ein Beispiel aus jüngerer Zeit zeigen: Herbert Heckmanns Nachwort zu seiner sonst verdienstvollen Auswahlausgabe Güntherscher Gedichte aus dem Jahre 1981. Für Heckmann besteht nach wie vor kein Zweifel daran, dass Günther „sein Le7

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Zur Forschungsgeschichte vgl. grundsätzlich Reiner Bölhoff: Johann Christian Günther 1695-1975. Kommentierte Bibliographie, Schriftenverzeichnis, Rezeptions- und Forschungsgeschichte. 3 Bde. Köln 1980-1983; Ernst Osterkamp: Perspektiven der Günther-Forschung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 1. Sonderheft (1988), S. 129-159; Reiner Bölhoff: Neue Günther-Literatur 1982-1996. Mit Nachträgen aus früheren Jahren. In: Johann Christian Günther (1695-1723). Oldenburger Symposium zum 300. Geburtstag des Dichters. Hg. von Jens Stüben. München 1997, S. 379-418. So Wilhelm von Scholz im Jahre 1902; die Prägung taucht in abgewandelter Form aber auch andernorts auf. Belege in Bölhoff(1980-1983). Bd. I, S. 302; Bd. ΠΙ, S. 131 f. u. 149. Conrad Wiedemann: Johann Christian Günther. In: Deutsche Schriftsteller im Porträt. Bd. 2. Das Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Jürgen Stenzel. München 1980, S. 75.

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ben in Gedichten" geschrieben und allem „den Hauch lebendiger Empfindung" verliehen habe.10 Und so, wie er den Gedichten Günthers „hemdsärmelige Lebensfreude" attestiert, stellt sich ihm auch dessen poetische Aufrichtigkeit reichlich hemdsärmelig dar: „Günther behielt seinen Stolz. Bei aller Freundschaft: was ihm gegen den Strich ging, wies er zurück."11 Die jüngere Güntherforschung hat sich von diesen unhistorischen Perspektivierungen der Günther'sehen Lyrik auf eine unmittelbare und zweckfreie Selbstaussprache des Gefühls gelöst. Sie sieht in dem Dichter einen Virtuosen aller Formen und Gattungen des rhetorisch-argumentativen Sprechens in der Poesie, der sich als Erbe der gesamten schlesischen Dichtungstradition von Opitz bis Hofmannswaldau verstanden wissen wollte und die von der galanten Poetik einerseits, von den klassizistischen Tendenzen an den Höfen Brandenburgs und Sachsens andererseits angebahnte Abkehr von den Ornatus-Exzessen des Spätbarock und die Hinwendung zu einem .natürlicheren' Sprechen und einer mittleren Stilebene mitvollzogen und vorangetrieben hat.12 Der besondere Ton von Günthers Lyrik und seine Hinwendung zu persönlichen Themen werden nun vor allem auf die komplexe sozialgeschichtliche Situation des mit einem hohen humanistischen Dichterethos ausgestatteten Poeten in einer der Dichtung nicht günstigen historischen Übergangssituation zurückgeführt, in der die humanistische Mäzenatenkonzeption zerbrach und es den entwickelten literarischen Markt der Aufklärung noch nicht gab. Wenn sich Günther deshalb in seiner Dichtung - insbesondere in seinen Liebes- und Klagegedichten - in einem bisher ungekannten Ausmaß der Thematisierung des eigenen Geschicks widmete, so nicht zuletzt deshalb, weil sich die von Günther ersehnten Mäzene nicht fanden, die ihm die Gestaltung großer überpersönlicher Themen ermöglicht hätten. Mit dieser methodischen Neubegründung der Güntherforschung verändert sich der Blick auf Günthers Aufrichtigkeit auf grundlegende Weise. Günther ist nicht mehr redlich, weil es ihn dazu gedrängt hätte, Erlebnis- und Bekenntnisgedichte zu schreiben, und umgekehrt können auch seine Gedichte nicht mehr als Ausweis seiner Redlichkeit verstanden werden. Redlichkeit ist keine Charaktereigenschaft des Dichters, sondern ein Argument seiner Gedichte. Die Gewissheit der vom Tagebuchcharakter seiner Gedichte überzeugten älteren Forschung, dass Günther offenherzig und aufrichtig gewesen sei, ist damit gründlich zerstoben, wie sich auch alle anderen Phantasmen von Günthers Charakterbild aufgelöst haben. Wir wissen also weniger denn je, wie redlich Günther war. Denn der gehäufte Einsatz der Redlichkeitstopik in Günthers Gedichten zeigt im Grunde nur eins: dass es fur Günther von entscheidender, vielleicht sogar lebensentscheidender Bedeutung gewesen ist, von den Adressaten seiner Gedichte - und die große Mehrzahl seiner Gedichte ist adressatenbezogen! - für redlich gehal-

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Johann Christian Günther: Gesammelte Gedichte. Hg. von Herbert Heckmann. München u. Wien 1981, S. 433 u. 425. ünther (1981), S. 429 u. 431. Den Versuch eines Günther-Porträts auf der Grundlage der jüngeren Forschung unternimmt Ernst Osterkamp: Johann Christian Günther. In: Deutsche Dichter. Hg. von Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. Bd. 2. Stuttgart 1988, S. 449-462.

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ten zu werden, und dies ist bekanntlich kein Ausweis besonderer Redlichkeit. Wer jedenfalls so häufig und so nachdrücklich vom Argument seiner Redlichkeit Gebrauch macht wie Günther, der weiß genau, dass diese im Zweifel steht, und er weiß überdies, dass er mit jedem poetischen Einsatz des Arguments der Redlichkeit die Erinnerung an diesen Zweifel wachruft. Wer unzweifelhaft im Ruf der Redlichkeit steht, der wird es möglichst vermeiden, das Argument der Redlichkeit zu verwenden. Es müssen Gründe von existentieller Bedeutung gewesen sein, die Günther dennoch derart extensiv darauf zurückzugreifen gezwungen haben. Dies aber bezeichnet zugleich die Grenze, die Günthers poetische Aufrichtigkeit, die immer ein rhetorisches Argument ist, von der entwickelten Aufrichtigkeitssemantik der Aufklärung trennt: Günther entfaltet in seinen Gedichten, wenn er von Redlichkeit spricht, niemals ein allgemeines Verhaltensideal, eine tugendgesteuerte Handlungsmaxime von allgemeiner Verbindlichkeit, sondern er spricht ausschließlich von seiner eigenen Redlichkeit und zwar im vollen Bewusstsein, dass seine Weise der Lebensführung weit davon entfernt ist, als allgemeines Verhaltensideal akzeptiert zu werden. Um so notwendiger war es für ihn, seine Leser von der eigenen Redlichkeit zu überzeugen. Ich zeige dies im folgenden zunächst am Beispiel seiner Liebeslyrik. Die hochdifferenzierte Liebessemantik der galanten Poesie besitzt keinen systematischen Ort für Offenherzigkeit und Aufrichtigkeit. Im Gegenteil: Sie etabliert einen autonomen Imaginationsraum des Erotischen, der abgekoppelt ist von allen konkreten lebensweltlichen Verweisen und allen Tugendimperativen. Die Grundfigur des erotischen Scherzes ist immer dieselbe: Die imaginäre Geliebte soll unter Einsatz aller rhetorischer Mittel zur Bewilligung ihrer höchsten Gunst überredet werden, wobei die erotische Phantasie mit der Erreichung dieses Ziels erlischt. Diese Poesie kennt kein Jenseits des Scherzes und kein Jenseits der erotischen Erfüllung; das sprechende Ich ist zwar durchaus offenherzig im Hinblick auf sein Ziel, aber es gibt keine Aufrichtigkeit jenseits dieses Ziels. Dies wirft gewaltige Probleme dann auf, wenn es um die lebensweltliche Anbindung der galanten Liebessemantik geht: Deijenige, der sich ihrer bedient, um nicht eine imaginäre Lesbia, sondern eine konkrete Friederike aus Butzbach oder Henriette aus Schmiedeberg von seiner Liebe zu überzeugen, steht damit immer schon im Verdacht besonderer Unaufrichtigkeit, weil die Topoi und Metaphoriken der galanten Liebespoesie auf die scherzhafte Erfüllung der Liebe im Augenblick, nicht aber auf die Verankerung der Liebe in einem bürgerlichen Eheund Treueideal und damit auf ihre Beständigkeit zielen.13 Andere poetische Sprechweisen über die Liebe, die auch nur annähernd die semantische Differenziertheit der galanten erotischen Dichtung aufgewiesen hätten, stehen aber zu Günthers Zeit nicht zur Verfügung. Die Friederike oder Henriette, die sich dennoch auf eine in den galanten Topoi und Metaphern vorgetragene poetische Werbung einlässt, ist deshalb in besonderem Maße auf die Redlichkeit dessen angewiesen, der sie vorträgt. Jedenfalls ist sie angesichts der Disproportion des galan-

Vgl. Emst Osterkamp: Scherz und Tugend. Zum historischen Ort von Johann Christian Günthers erotischer Lyrik. In: Text und Kritik 74/75 (1982), S. 42-60.

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ten Ornatus zu ihren bürgerlichen Lebensrealitäten und der galanten Redeziele zu ihren bürgerlichen Lebenszielen gut beraten, wenn sie erst einmal ein gehöriges Maß an Unaufrichtigkeit bei ihrem potentiellen Liebhaber voraussetzt. Günther erweist sich in seinen „verliebten Gedichten" als ein Virtuose des galanten Dichtens und des Urbanen erotischen Scherzes in der Nachfolge Hoffmannswaldaus. Es entspricht seinem Poetenehrgeiz, dass er in seinen Gedichten auf die Leipziger Rosette, Flavie und Leonore alle modischen Register verliebter Tändelei zieht. Aber auch schon in den Liebesgedichten auf seine Schweidnitzer Jugendgeliebte Leonore Jachmann bringt er das gesamte Spektrum galanter poetischer Redestrategien und damit die avancierteste Liebessemantik seiner Zeit zur Entfaltung. Es muss ihm aber von Anbeginn bewusst gewesen sein, dass er sich mit dieser poetischen Sprechweise zwar als Dichter profilieren, doch zugleich als Liebender um seine Glaubwürdigkeit bringen würde. Die Rhetorik der Redlichkeit bildet deshalb das poetische Medium, mit dem Günther das galante erotische Dichten an die bürgerliche Lebensrealität anzubinden suchte. Er musste sie mit Nachdruck einsetzen, weil anders als bei den „verliebten Gedichten" der Hoffmannswaldau-Schule die seinigen sich an namentlich genannte Adressatinnen wandten. Wer aber statt mit einer synthetischen Dame mit einem klein- oder auch großstädtischen Bürgersmädchen erotisch zu scherzen wünschte, hatte dafür den Preis der Redlichkeit zu entrichten: musste das Mädchen also von der Aufrichtigkeit seiner Absichten überzeugen, die über den Scherz des Augenblicks hinaustrugen im Zeichen einer seelisch-sittlichen Beständigkeit, die sich bis zum Grab und darüber hinaus zu bewähren vermochte. So kommt es in Günthers Gedichten aus argumentativer Notwendigkeit zur poetischen Verbindung zweier Begriffe, die sich in den erotischen Phantasmen der Neukirchschen Sammlung ausgeschlossen hatten: Scherz und Redlichkeit. Die Geister übten sich bey selbst gelaßner Ruh, An Scherz und Redligkeit einander zu besiegen, Die Leiber wüsten auch ihr Theil davon zu kriegen Und sazten durch den Kuß einander feurig zu. (1/218)

So schreibt Günther am 10. Juli 1720 in Erinnerung an die Liebesfreuden, die er in den Schweidnitzer Jugendjahren mit Leonore Jachmann erlebt hat. Während sich die Leiber ad hoc dem Geschäft der Galanterie hingeben, üben sich die Geister in jener Beständigkeit sichernden Gelassenheit, die aus einem redlichen Bewusstsein stammt; so gelangen „Scherz und Redligkeit" im Medium des Gedichts zum Ausgleich. Wie Günther das Repertoire des galanten Dichtens schon in den frühen Schweidnitzer Jahren mit der Redlichkeitstopik verbindet, zeigt exemplarisch das bekannte Leonoren-Gedicht An seine Schöne, das in der ersten Strophe seine Treue- und Beständigkeitsbekundungen in auf Alciati und Vaenius zurückgreifenden Emblemzitaten entwickelt („So wenig eine junge Rebe / Des Ulmbaums Hülfe mißen kan, / So wenig ficht der Neid mich an, / Daß meine Brust dir Abschied gebe."), um von dieser Basis traditionsgesättigt-gelehrten Dichtens aus mit einiger Direktheit in die aktuellen galanten carpe diem-Imperative

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hinüberzuwechseln: „Eröfne mir das Feld der Brüste, / Entschleus die wollustschwangre Schoos, / Gieb mir die schönen Lenden blos, / Bis sich des Monden Neid entrüste!" Nachdem Günther über die beiden Mittelstrophen hinweg den erotischen Phantasien eines hochbegabten Hoffmannswaldau-Schülers freien Auslauf gewährt hat, kehrt er dann in der Schlussstrophe zur Treue- und Beständigkeitstopik zurück, die nun aber nicht mehr durch eine gelehrte Bildlichkeit, sondern durch den Verweis auf die Redlichkeit des Sprecher-Ichs beglaubigt wird. In den Schlussversen entwirft Günther, wie er es gerne tut, seine Grabschrift, die in individueller Brechung das wiederholt, was das Eingangsemblem bereits mit überindividueller Verbindlichkeit formuliert hat: dass wahre Liebe über den Tod hinaus währt: „Hier schläft, mein Kind, dein ander Ich, / Dem wenig, glaub es sicherlich, / Den Preis der Redligkeit entführen." (1/52 f.) Wenn Günther 1720 im Rückblick auf die Schweidnitzer Jahre mit Leonore formuliert, Scherz und Redlichkeit hätten damals einander zu besiegen getrachtet, seien also zu einem vollendeten Ausgleich gekommen, so zeigt dieses 1715 entstandene Gedicht, wie dies poetisch funktioniert hat: Die Redlichkeit - und damit letztlich das Eheversprechen, das freilich nie erfüllt wird - bildet die Bedingung für den erotischen Scherz; das eine ist ohne das andere in der bürgerlichen Lebenswelt nicht zu haben. So bindet Günther die von ihm eindrucksvoll fortgeführte Tradition des galanten erotischen Dichtens an eine Topik der Redlichkeit, die deren eigener Argumentationslogik vom Ursprung her fremd ist. Dies zeigt aber auch, dass Günthers Lyrik den Endpunkt des galanten Liebesdiskurses markiert, dessen Innovationskraft zu seiner Zeit schon längst erschöpft war, ohne dass damit bereits eine neue Form des Sprechens über die Liebe bereitgestanden hätte.14 Günther erreicht durch die argumentative Verknüpfung von Scherz und Redlichkeit so etwas wie eine letzte Revitalisierung der galanten erotischen Imaginationen, die aber nur von kurzer Dauer ist. Endgültig unhaltbar wird die spätbarock-galante Weise des erotischen Sprechens freilich erst dann, wenn die Verbindimg von Scherz und Redlichkeit im Liebesgedicht durch die Verknüpfung von Ernst und Redlichkeit abgelöst wird. Dies geschieht spätestens in den Phillis-Gedichten, den an die oberschlesische Pfarrerstochter Johanna Barbara Littmann gerichteten Werbungsgedichten, die vom Herbst 1720 bis zum Frühjahr 1721 entstanden sind. Erröthe nur nicht erst, du wohlgezognes Kind, Wenn jezo Mund und Kiel aus Liebe kühner sind Und, da dein Wesen mir bereits das Herz genommen, Mit Emst und Redligkeit nach deinem Herzen kommen. (1/244)

Mit diesen Versen beginnt Günthers versbrieflicher Heiratsantrag, der, wie die gesamte Phillis-Lyrik, im Zeichen der Schlüsselbegriffe eines bürgerlichen TuIch habe an anderer Stelle zu zeigen versucht, wie diese neue Art des Sprechens über die Liebe aus dem Trauergedicht der Frühaufklärung entsteht; vgl. Ernst Osterkamp: Liebe und Tod in der deutschen Lyrik der Friihaufklärung. In: Critica Poeticae. Lesarten zur deutschen Literatur. FS Hans Geulen. Hg. von Andreas Gößling u. Stefan Nienhaus. Würzburg 1992, S. 75-100.

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genddenkens und Rationalismus steht, die durch die devisenartige Verknüpfung von „Ernst und Redligkeit" beglaubigt werden. Das gesamte diesem Gedicht zugrundeliegende Spektrum der argumentativen Entfaltung von Liebe, von der Geste des Errötens über die Charakterisierung der Phillis durch deren gute Erziehung und die Verbürgung der Liebe im „Wesen" der Geliebten statt im Schein ihrer Schönheit bis hin zur Verinnerlichung der Liebe als einer Verschmelzung von „Herz" mit „Herzen", grenzt sich ab von den galanten Spielformen des erotischen Scherzes. Das aber heißt: Liebe wird nicht mehr im erotischen Affekt begründet, sondern aus dem Gemütseinklang so ernster wie redlicher Herzen. Was am anderen geliebt wird, ist dessen Redlichkeit - und dass damit eine Enterotisierung der Liebe einhergeht, die freilich erst im Konzept der aufgeklärten Tugendliebe ganz zur Erfüllung gelangt, zeigen immerhin Verse wie die folgenden, mit denen Günther Johanna Barbara Littmann in der Schlussstrophe eines anderen Gedichtes apostrophiert: „Schwester an der Redligkeit, / Du, ο Schwester am Gemüthe" (1/243). Wer die Häufigkeit der Redlichkeitsbeteuerungen in Günthers Liebesgedichten zu erklären versucht, wird jedoch nicht allein auf die Erschöpfung der galanten Liebessemantik und deren grundsätzliche Inkompatibilität zur bürgerlichen Alltagswelt, die Günther in seinen Casualcarmina gelegentlich in hinreißenden Parodien verdeutlicht hat, hinweisen dürfen, sondern er wird notwendig auch die Biographie des Dichters einbeziehen müssen.15 Auch wenn niemand mehr an dem auf ein berühmtes Wort Goethes zurückgehenden Stereotyp vom verlotterten Kraftgenie Günther festhalten will, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass sein kurzes Leben von markanten Normverstößen charakterisiert wird: vom Pasquillantentum schon in Schülerjahren über das Schuldgefangnis und verfehlte Strategien der Berufswahl bis hin zu einer grundsätzlichen persönlichen Instabilität, bei der auch Alkohol gelegentlich eine Rolle gespielt haben mag. Mit anderen Worten: Günther hatte, wo immer er lebte und schrieb, ein massives Glaubwürdigkeitsproblem, und er war bei seiner rastlosen Suche nach Förderern und Mäzenen existenziell darauf angewiesen, dass seine Adressaten an das einzige glaubten, was ihm außer seinem poetischen Talent noch geblieben war: die Aufrichtigkeit seiner Absichten. Dieses Glaubwürdigkeitsproblem erwies sich naturgemäß zuerst in seinem Verhältnis zu Leonore Jachmann und danach immer wieder bei seinen Geliebten. Dies war für Günther besonders unangenehm deswegen, weil er unter den Bedingungen öffentlicher Anfeindungen und ungesicherter beruflicher Perspektiven - , 3 i n ich gedrückt und arm und überall verlaßen, / Sind jezt der Feinde viel, die meine Warheit haßen" (1/69) - allen seinen Geliebten, die er unaufhörlich auf Beständigkeit in der Liebe festzulegen suchte, selbst doch nichts anderes zu bieten hatte als seine Redlichkeit, wie ihm auch genau bewusst war: „Ich sichre dich, / Daß meine Redligkeit dir einen Mahlschatz giebet" (1/69). Das ist als Brautgeschenk nicht eben viel, zumal die Geliebte immer schon auf die Red15

Zur Biographie vgl. Wilhelm Krämer: Das Leben des schlesischen Dichters Johann Christian Günther. 1695-1723. Mit Quellen und Anmerkungen zum Leben und Schaffen des Dichters und seiner Zeitgenossen. Hg. von Reiner Bölhoff. Stuttgart 21980.

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lichkeit des Dichters vertrauen muss, wenn sie dieses Geschenks überhaupt teilhaftig werden will. Welche Instanz aber beglaubigt eigentlich die Redlichkeit des Dichters in einer Situation permanenter öffentlicher Anzweiflung, die sich auch auf die Geliebte überträgt? Die Abundanz der Redlichkeitsbeteuerungen in Günthers Gedichten zeigt deutlich, dass ihm das Problem, wie es sich glaubhaft machen lasse, dass er es wirklich aufrichtig meine, klar vor Augen stand. Der Rekurs auf das Argument, dass er ja auch die Redlichkeit der Geliebten erkenne und ihre Redlichkeit damit die seine beweise, konnte dabei nicht mehr sein als ein rhetorischer Trick: „Mein Kind, was zweifelstu an meiner Redligkeit, / Die ihres gleichen doch in deiner Brust verspüret?" (1/56) Als wichtigstes Medium der Beglaubigung seiner Aufrichtigkeit galt ihm gewiss immer seine Poesie, und doch musste ihm klar sein, dass gerade dieses Medium unter dem Verdacht besonderer Unaufrichtigkeit stand - vor allem die „verliebten Gedichte", deren spätbarock-galante Topik mittlerweile doch selbst intensiver Beglaubigung durch unermüdliche Redlichkeitsversicherungen bedurfte. Wodurch aber sollten diese Redlichkeitsversicherungen Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn der selbstreferenzielle Hinweis auf seine Poesie doch schon deshalb keine Glaubwürdigkeit sichern konnte, weil Günther seiner unbedingten Hingabe an die Dichtung einen erheblichen sozialen Glaubwürdigkeitsverlust zu verdanken hatte? Während Günther in seinen frühen Gedichten weitgehend auf die reine Evidenz des mit rhetorischem Geschick platzierten Redlichkeitsarguments vertraute, hat er sich, je stärker sich in seinen letzten Lebensjahren sein Poetenelend verfestigte, um so häufiger auf überpersönliche, objektive Beglaubigungsinstanzen zu stützen versucht, und dies nicht zuletzt auch in seiner Liebesdichtung. Die wichtigste dieser Beglaubigungsinstanzen ist natürlich die Religion: die Berufung auf Gott, der unmittelbar in das Herz des Sprecher-Ichs sieht und um dessen Redlichkeit weiß. Die Einführung dieser theologischen Plausibilisierung seiner Aufrichtigkeit, die in entschiedenem Widerspruch steht zur galanten Tradition der erotischen Dichtung, bereitet sich 1719 vor in den Gedichten auf die Leipziger Leonore, in denen Günther verschiedentlich einen besonderen Ort der Aufrichtigkeit in Szene setzt: den Kirchhof, auf dem sich Liebender und Geliebte treffen und die Versicherung der Redlichkeit vor den Augen des himmlischen Vaters als der höchsten Wächterinstanz stattfindet. Zur Entfaltung gelangt diese religiöse Absicherung dann in den späten Leonorengedichten der Jahre 1719 und 1720: „Und würd auch dir, mein Kind, mein redlich Herz verdächtig, / So faß ich mich hiermit: Der Himmel ist noch mächtig." (1/208) Gewiss ist eine solche religiöse Redlichkeitsgarantie höchst konventionell, was freilich nichts daran ändert, dass sie gegenüber einer heilsgeschichtlich konditionierten Adressatin gerade deshalb auch besonders effektiv gewesen sein mag. Die Tatsache selbst, dass sich Günther auf derart konventionalisierte Redlichkeitsabsicherungen stützt, zeigt allerdings auch den Grad seiner lebensgeschichtlichen Bedrängnis an. Die Beglaubigung seiner Redlichkeit durch Religion allein hat ihm, der von seinen frühesten Jahren an in engem Kontakt zu den frühaufklärerischen Strö-

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mungen seiner Zeit stand, Leibniz, Wolff und Thomasius gelesen und als Student der Medizin die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit vor Augen hatte, dann aber doch nicht genügt. Je notwendiger die Anerkennung seiner ethischen Integrität fur sein soziales Überleben wurde, um so stärker hat er das Spektrum von Instanzen der Redlichkeitsgarantie in seinen Gedichten ausgebaut. In einem großen Briefgedicht vom 22. Dezember 1719 an Leonore Jachmann wünscht er sich noch, „in allen Sprachen dichten" zu können, weil er ihr in allen Sprachen versichern will, „wie zärtlich meine Treu, / Wie redlich meine Brust, wie rein dein Herze sey." (1/194) Da Redlichkeit immer nur einer Sprache bedarf, verweist gerade ihre Multiplizierung auf das Problem ihrer Beglaubigung. Deshalb schließt Günther das Gedicht ab mit der Anrufung von drei Instanzen der Redlichkeitskontrolle: „Drey Dinge sind mein Trost: Gott, Wißenschaft und du; / Bey diesen seh ich stets den Stürmen ruhig zu." (1/194) Der Dichter versichert seine Adressatin also seiner Redlichkeit durch drei Instanzen: die Wahrheit des Glaubens, die Wahrheit des Wissens und die Wahrheit des Gefühls. Religion, Wissenschaft und die subjektive Empfindung garantieren in gemeinsamer Beglaubigungsanstrengung die Aufrichtigkeit des Sprecher-Ichs. Das zeigt nicht allein, wie groß Günthers Glaubwürdigkeitsproblem ist, sondern vor allem auch, dass er in einer Zeit lebt, in der die Moralität innerweltlichen Handelns nicht mehr allein durch die Orientierung an der Religion gewährleistet werden kann. Wissenschaft, das begründete Wissen über die Welt, wird zur Absicherungsinstanz der Glaubwürdigkeit des Subjekts. Deshalb auch hat Günther in vielen seiner Klagegedichte, die ja oft nichts anderes sind als an seine Studienfreunde oder andere Förderer gerichtete hochstilisierte Bettelbriefe, die Behauptung seiner Redlichkeit argumentativ an seine Teilhabe an der Wissenschaft geknüpft. So in den Schlussversen der großen dichterischen Selbstermahnung „Du wirst noch wohl, verzagtes Herz, / VorUnmuth in die Erde sincken." (11/62) Sie lauten: „Ich aber will nach meiner Kraft / Mit Redligkeit und Wißenschaft / Der Welt zu Gottes Ehren dienen." (11/64) Die argumentative Koppelung von Redlichkeit und Wissenschaft ist im Kontext der an seine humanistisch gebildeten Förderer gerichteten Bittbriefe besonders effektiv deshalb, weil sie die Erinnerung an die gemeinsame Partizipation an einer humanistischen Wertegemeinschaft impliziert, die durch den Anspruch auf Wahrheit zusammengehalten wird. So kommt dem Hinweis auf die Wissenschaft geradezu die Funktion des Redlichkeitsbeweises zu: Wenn unser Feind im Traum erschrickt Und Neid und Spötter schnarchen liegen, Wird unsre Redligkeit durch Wißenschaft entzückt. (Π/80)

So heißt es in einem vermutlich 1720 in der Laubaner Leidenszeit entstandenen Gedicht. Wissenschaft tritt so neben die Kunst und die Religion als dritte gleichgewichtige Beglaubigungsinstanz der Aufrichtigkeit. In den Phillis-Gedichten aus den Jahren 1720 und 1721 verstärkt Günther diese Argumentationsfigur. Natürlich lässt er bei der Pfarrerstochter aus orthodoxem kleinstädtischen Milieu die religiöse Redlichkeitsbeglaubigung voll zur

Johann Christian Günthers Redlichkeit

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Geltung kommen. So versichert er ihr in seinem poetischen Heiratsantrag, dass er durch sein unablässiges „Studiren" „dermahleins" mit seiner „Kunst und Wißenschafit" „ein nüzlich Glied der Republic" zu werden gedenkt, und da dies Bestreben noch nicht so recht sichtbar geworden zu sein scheint, beruft er sich auf Gott als seinen höchsten Zeugen: „Der, so im Himmel wohnt und ins Verborgne sieht, / Mag selber Zeuge seyn, wie starck mein Eifer glüht" (1/244). Aber dieser höchste Redlichkeitsgarant reicht zur lebenspraktischen Absicherung der Zukunftsaussichten seiner prospektiven Braut eben nicht hin, denn diese kann ja nur auf eine Redlichkeit vertrauen, die sich sichtbar im Alltag bewährt, und nicht auf eine, die sich nur dem erschließt, der ins Verborgene schaut. Und so sieht sich denn Günther schon in seinem nächsten Briefgedicht an Phillis dazu veranlasst, das Repertoire der Beglaubigungsinstanzen seiner Redlichkeit mit Nachdruck zu erweitern, weil zwar Gott sie sehen mag, die Umworbene sie aber nicht sehen kann: Ich kan zum wenigsten mit meiner Redligkeit, Die du so schlecht erkennst, dem Himmel Wohlgefallen, Der meine Fehler trägt und mir auch noch bey allen, Die Kunst und Ehrligkeit und Wißenschaft ergözt, Den angenehmsten Lohn der besten Freundschaft sezt. (1/246)

So treten neben den Himmel Kunst, Tugend und Wissenschaft als irdische Aufrichtigkeitsgaranten. Die rhetorische Häufung der Beglaubigungsinstanzen seiner Redlichkeit hat Günther freilich nichts genützt, im Gegenteil: Der Vater der Phillis wusste als Pfarrer genau, dass mit der Berufung auf den Himmel für seine Tochter nichts gewonnen war, während die von Günther beschworenen irdischen Instanzen durchaus überprüfbar waren. Es war Günthers Pech, dass ihn der offenbar mit einiger Lebensklugheit ausgestattete oberschlesische Pfarrer beim Worte nahm: Da dem orthodoxen Lutheraner die „Kunst" eher unheimlich war, hat er sich lieber an „Ehrligkeit und Wißenschaft" als die anderen beiden von Günther aufgelisteten Instanzen der Beglaubigung von dessen Redlichkeit gehalten und die Verbindung seiner Tochter mit Günther von dessen Versöhnung mit dem Vater des Dichters - als der offiziellen Bestätigung seiner Ehrlichkeit und von der Promotion - als der offiziellen Bestätigung seiner Wissenschaft abhängig gemacht. Günthers Vater aber verweigerte diesem die Versöhnung, und auch über den Status eines Kandidaten der Medizin ist Günther nie hinausgelangt. Redlichkeit als poetisches Argument ist eben etwas ganz anderes als eine sich vor einem frühaufklärerischen Normenhorizont lebenspraktisch bewährende Aufrichtigkeit. Dies aber lenkt auf ein Grundproblem der Güntherschen Aufrichtigkeit. Günthers Dichterehrgeiz, der die große schlesische Dichtungstradition des Barock ins 18. Jahrhundert fortzuführen gedachte, rieb sich zumal in seiner schlesischen Heimat auf an einem sich universalisierenden Misstrauen gegen die Poesie, das vom bürgerlichen Utilitarismus einerseits, von der unter dem Druck der pietistischen Subjektivierungstendenzen sich verhärtenden lutherischen Orthodoxie zum anderen genährt wurde. Es hätte ihm unter diesen Bedingungen bewusst sein müssen, dass es kein Medium geben konnte, das weniger dazu geeignet war,

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seine Aufrichtigkeit unter Beweis zu stellen, als die Poesie, die allenthalben mit den Vorwürfen nutzlosen Vergnügens und lügenhafter Unwahrhaftigkeit konfrontiert wurde. Gewiss stellte er diesem Misstrauen gegen die Dichtung immer wieder sein humanistisches Dichterethos entgegen, das sich auf eine bis Petrarca zurückreichende Tradition stützte. Und doch stand ihm auf der anderen Seite klar vor Augen, dass die Wahrheitsansprüche der Poesie gerade zu seiner Zeit systematisch durch eine Dichtungspraxis ausgehöhlt wurden, die im Zeichen des zweckfreien erotischen Scherzes einerseits, der massenhaft produzierten Casuallyrik zum anderen standen. Wie sehr auch Günthers poetischer Wahrheitsanspruch zumal von der Seite der käuflichen Casualpoesie untergraben wurde, zeigen seine zahlreichen eigenen Beiträge zur Gelegenheitsdichtung, die die schmale ökonomische Basis seines Überlebens bildeten. Sie ragen zwar aus der Masse der zeitgenössischen Produktion durch das Raffinement ihrer Beglaubigungsstrategien heraus, mit denen seinen Casualcarmina - nicht zuletzt durch die satirische Abgrenzung von der gängigen Praxis käuflicher Panegyrik - der Anspruch auf Wahrheit zurückgewonnen werden sollte.16 Aber dies waren natürlich rhetorische Vabanquespiele eines virtuosen Poeten, der die Zweifel am Wahrheitsgehalt der Casualdichtung dadurch zu überspielen suchte, dass er sie in sein Argumentationssystem hineinnahm, und bildeten damit Techniken, die den grundsätzlichen Zweifel an der Möglichkeit, im Medium der Poesie aufrichtig sein zu können, bestärken mussten. Einem Dichter, der sein Lob eines Mäzens mit den Versen einleitet: Die Warheit, so jezt kommt, entspringt aus Redlichkeit, Der Neid mag noch so sehr das hohe Gleichnüß schelten: Augustus gab vor dem den Dichtern güldne Zeit [...] (ΠΙ/181)

einem solchen Dichter darf man es wohl nicht allein aus moraltheologischer Perspektive als Beweis besonderer Unredlichkeit unterstellen, dass er sich bei seinem Vergleich eines Landeshutter Handelsherrn - es handelt sich um Günthers Förderer Hans Gottfried von Beuchelt (1697-1727) - mit dem Kaiser Augustus auch noch auf seine Redlichkeit beruft. Es ist in Günthers dichtungsgeschichtlicher Situation das Medium der Poesie selbst, das den Anspruch des Dichters auf Redlichkeit unterläuft; mag er argumentativ auch noch so virtuos vorgetragen sein, er bleibt doch nichts anderes als ein rhetorisches Argument in einem Medium, dem Wahrheit nicht mehr zugetraut wird. Je mehr Günther also aus einem humanistischen Dichterethos heraus, für das es die sozialgeschichtliche Basis nicht mehr gab, in seinen Gedichten auf seiner Redlichkeit insistierte, um so entschiedener stärkte er die Zweifel an der Möglichkeit der Poesie zur Wahrheit, so wie er zugleich auch die Zweifel an seiner Aufrichtigkeit nährte. Aus dieser argumentativen Falle ist Günther zeitlebens nicht mehr herausgekommen. Denn die Konsequenz hätte ja gelautet, dass sich die Wahrheit nicht mehr in Poesie, sondern nur noch in Prosa sagen lasse. Nur an einer Stelle seines Werks hat "

Zu den Argumentationsstrategien in Günthers Casuallyrik vgl. Helga Bütler-Schön: Dichtungsverständnis und Selbstdarstellung bei Johann Christian Günther. Studien zu seinen Auftragsgedichten, Satiren und Klageliedern. Bonn 1981.

Johann Christian Günthers Redlichkeit

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Günther diese Konsequenz gezogen, ohne freilich damit seine dichterische Praxis zu ändern. Aber diese Stelle zeigt doch immerhin, wie schwer es für die Dichter des frühen 18. Jahrhunderts geworden war, innerhalb der traditionellen Grenzen des rhetorisch-argumentativen Dichtens noch redlich sein zu können. Es handelt sich um einen im Winter 1721/22 entstandenen Dankesbrief an Günthers Förderer Beuchelt, den der Dichter in Prosa abgefasst hat; er beginnt so: Monsieur Mon Patron. Meine Muse sezte schon die Feder an, Ihrer mir außerordentlich erwiesenen Höfligkeit und Güte gehorsamsten Danck abzustatten. Und ich glaube, es würden ihr auch die Gedancken noch ziemlich gefloßen seyn, nicht eben wegen ihrer eignen Fähigkeit, sondern vielmehr darum, weil der Werth von der Person, an die ich jezo schreibe, vermögend genug ist, dem kältesten Gemüthe die glücklichsten Einfalle herauszulocken. Ich besann mich aber gleich bey dem ersten Reime, wie wenig man insgemein der in Versen offenbarten Redligkeit zutraue; da ich nun sowohl jezt als allemahl nichts mehr begehre als das Lob der Aufrichtigkeit und Warheit auch von Ihrem Beyfalle davonzutragen, so erkläret sich meine Danckbarkeit in einer ungebundenen Einfalt. (ΠΙ/145)

Man muss freilich wissen, dass dies Bekenntnis zur „ungebundenen Einfalt" der Prosa als Medium der „Aufrichtigkeit und Warheit" aus der Feder eines Dichters stammt, der zuvor schon einige Gedichte und Versbriefe an seinen Gönner Beuchelt gerichtet hatte und danach noch weitere an ihn richten wird; der vorübergehende Wechsel in die Prosa ist also nichts anderes als ein besonders raffiniertes poetisch-rhetorisches Mittel, dem grundsätzlichen Misstrauen gegen die Möglichkeit der Poesie zu „Aufrichtigkeit und Warheit" zu begegnen. Dass er diesem fundamentalen Misstrauen auch durch den vorübergehenden Wechsel in die Prosa nicht würde entgehen können, hat Günther auch genau gewusst, und so fahrt er denn an der zitierten Stelle fort: Von dieser [ungebundenen Einfalt] mögen Sie nun glauben, was Sie wollen, und etwan auf Veranlaßung scheinbarer und listiger Vorstellungen anderer von meiner Auffuhrung bey sich selbst in etwas geringschätziger urtheilen; mein gutes Gewißen versieht sich von Ihnen doch allemahl des Besten [...]. (ΠΙ/145)

Es gibt also für die Poesie - ob in Vers oder in Prosa - keine Möglichkeit, .Aufrichtigkeit und Warheit" unter Beweis zu stellen, und so bleibt dem Dichter, der dennoch - und koste es sein Leben - Dichter bleiben will, nur der Rekurs auf sein gutes Gewissen, also die Introspektion ins nicht mehr Beweisbare. Es hat Günther deshalb nichts genützt, dass er bis an sein frühes Ende in seinen Gedichten die Rhetorik der Redlichkeit zu steigern versuchte, während doch andererseits sein Anspruch auf Redlichkeit durch seine äußeren Lebensumstände, die sich durch seine Entscheidung für eine Poetenexistenz kontinuierlich verschlechterten, immer mehr untergraben wurde. Er mochte noch so oft seine Redlichkeit beteuern, die Faktizität seines Poetenelends bewies ja, dass er sich in den Dienst eines Mediums begeben hatte, das Wahrheit zu transportieren nicht mehr in der Lage war. Die Vorrede zu der im Dezember 1721 entstandenen Glückwunsch-Kantate für Christian Kluge Musicalisches Abendopfer schließt mit einem Satz, der zu erkennen gibt, auf welch katastrophale Weise Günthers Poetenelend nun selbst dazu beitrug, den von ihm zeitlebens nicht zuletzt unter

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massivem Einsatz der Redlichkeitsrhetorik verfochtenen Wahrheitsanspruch der Poesie zu untergraben: Übrigens gehet meiner Redligkeit nichts so nahe, als daß die eußerlichen Umstände meines Glücks so beschafen sind, daß ich mich aus Furcht, in den Verdacht der Schmeicheley oder des Eigennuzes zu verfallen, kaum zu sagen getraue, mit was vor Ergebenheit die Meriten und die Gewogenheit kluger Patronen zu schäzen wiße, hochedler, hochzuehrender Gönner, Ihr gehorsamer Joh. Christian Günther. (IV,258)

Nur vierzehn Monate nach der Niederschrift dieses Satzes fand Günthers unzeitgemäßer Versuch, Wahrheit und Poesie, Redlichkeit und Dichterruhm im Zeichen eines humanistischen Dichterethos noch einmal zusammenzubringen, mit seinem frühen Tod in Jena sein Ende. Mit der im Jahr nach seinem Tod erscheinenden ersten Sammelausgabe seiner Werke aber spaltet sich die Rezeption seiner Gedichte auf eine Weise, die auf einem doppelten Missverständnis des Arguments seiner Redlichkeit beruht: Während Günthers Leben und Werk aus der Perspektive der lutherischen Moraltheologie dazu herangezogen wird, die Unerkannte Sünden der Poeten,17 also ihre besondere Unredlichkeit zu illustrieren, steigt er seit Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730) zugleich zum Musterdichter der Frühaufklärung auf, womit seine Rhetorik der Redlichkeit neuinterpretiert werden kann im Zeichen der sich nun durchsetzenden aufgeklärten Aufrichtigkeitssemantik.

Vgl. Gottfried Ephraim Scheibel: Die Unerkannte Sünden der Poeten Welche man Sowohl in ihren Schriffien als in ihrem Leben wahrnimmt. Leipzig 1734.

Nicola Kaminski

Über die Schwelle der Un/Aufrichtigkeit Die .Wahrhaftigkeit' von Talanders „Liebenswürdiger Europäerin

CONSTANTINE'*

Bereits der Name ist einschlägig: „Constantine, (so nennete sich die fremde Dame,)" (9),1 erfahrt der Leser nach den ersten Seiten des 1698 erschienenen gleichnamigen Romans, und zuvor schon hatte sie selbst programmatisch erklärt: „Wer den Nahmen einer Beständigen führen will / muß aushalten / und nicht einmahl Mine zur Ungedult machen" (6). Auch die nachgerade emblematische Eingangsszene kommt damit aufs genaueste überein: „Die tobenden Wellen des ungestümen Baltischen Meeres", so beginnt die Erzählung, beängstigten das Schiff / die Hoffnung genannt / mit so unbarmhertzigen Anfall / daß niemanden unter allen / die sich darauff befanden / die geringste Hoffiiung des Lebens übrig bliebe / sondern ein ieder sich mit Furcht und Schrecken zum Tode gefast hielte / und mit gröster Gemüths-Verwirrung erwartete/ wenn er von dem Abgrunde der wütenden See verschlungen werden / und darinnen sein trauriges Begräbniß finden würde. [...] Wiewohl nun dieses Schrecken keinen sonst verschonete/ befände sich eine Dame von einer gantz ungemeinen Großmüthigkeit auff dem Schiffe / welche nicht die geringste Veränderung in ihrem Gesichte spühren ließe / sondern mit einer beständigen Ernsthaftigkeit ihren Gedancken nach zu hengen schiene, (lf.)

Eindrücklicher, so hat es das Ansehen, ist die barocke Tugend „gantz ungemeine[r] Großmüthigkeit", magnanimitas oder eben constantia, sinnbildlich kaum zur Darstellung zu bringen. Constantine scheint demnach regelrecht als allegorische Verkörperung ihres sprechend auf ihr Wesen transparenten Namens gelten zu dürfen. Diese Kongruenz zwischen Name und Handeln ist sie auch im Fortgang des Romans bemüht unter Beweis zu stellen. Daß sie „in allen Fällen eine ungemeine Großmüthigkeit wolte von sich spühren lassen" (92), bescheinigt ihr der Erzähler geradezu, und sie selbst schwört sich in rekurrenten Selbstanklagen auf das in ihrem Namen beschlossene Ideal ein: „Du schöne beständige, [...] ja du wanckelmüthige" (170), geht sie mit sich ins Gericht, „du unbeständige Constantine, [...] hast du nicht eine treffliche Großmüthigkeit erwiesen [...]. Pfiiy/ Constantine, schäme dich vor dir selbst / da dein Hertz so wanckelmüthig / daß es den ersten Vorsatz nicht besser behaupten kann" (303f.). Wenig später spricht

1

Der vorliegende Beitrag erscheint auf Wunsch der Autorin in der alten Rechtschreibung. Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Die Liebenswürdige Europäerin Constantine Jn einer wahrhafftigen und anmuthigen Liebes-Geschichte dieser Zeit Der galanten und curieusen Welt zu vergönneter Gemüths-Ergötzung vorgestellet von Talandern. Franckfurth u. Leipzig 1698 (Nachdruck: Frankfurt a. M. 1970); zit. als [Bohse] (1698a). Zitate werden im Text durch in Klammern nachgestellte Seitenzahl nachgewiesen.

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Nicola

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sie sich gar vollends das Recht auf den bedeutsamen N a m e n ab: „Schäme dich / du w e i c h l i c h e Constantine, du bist nicht mehr werth / daß du den N a h m e n einer Beständigen fuhren solst" (348). Unverkennbar auch, w e l c h e n Vorbildern dieser Selbstentwurf entlehnt ist: M o d e l l gestanden haben - das bezeugt das allenthalben v o n Constantine im M u n d e geführte Vokabular der „Marter" 2 - die barocken Märtyrer, die „ b e w e h rete Beständigkeit" einer Catharina v o n Georgien, die .Großmiittigkeit' des sterbenden Rechtsgelehrten Papinianus. 3 Mit d e m signifikanten Unterschied freilich, daß nicht ihr W e s e n und Handeln ihr beispielhaft das Prädikat einer „Beständigen" eintragen, sondern umgekehrt Constantine als Individuum sich über ihren programmatisch verstandenen N a m e n definiert. Unübersehbar soll ihre

constan-

tia sein, j a mehr noch, u m der Ostentation willen - „um seine Großmüthigkeit z u erweisen" - , „nimmt" man, s o Constantines Selbstverständnis, „sich [ . . . ] v o r / das Verhängniß selbst z u trotzen" (388). Entsprechend hatte, sonderbar genug, auch der Erzähler seine Einschätzung jener n o c h n a m e n l o s e n ,Großmüthigen' nur auf den äußeren A u g e n s c h e i n gegründet - darauf, daß sie im Seesturm „nicht die geringste Veränderung in ihrem Gesichte spühren Hesse" - , nicht auf einen auktorialen Blick in ihr Herz.

2

Vgl. etwa: „Die Liebe hauset sehr übel in einem Gemüthe / wo sie ohne Begleitung des Glücks einkehret. Denn ob sich schon dieses ihr wiedersetzet / unterläßt sie dennoch nicht / darinnen Besitz zu nehmen / und ihre Würckungen hervor zu bringen / welche tausend Marter ausbrüten" (10); „er muste [...] einen Feldzug mit thun / darinnen er bey einer Belagerung zwar sein Leben mit grossem Ruhme endigte / dadurch aber Constantinen einen sich täglich mehrenden Kummer und unbeschreibliche Seelen-Marter als zum Erbtheil hinterliesse" (11); „denn sie [war] in der Einbildung / ie weiter sie von Albinien entfernet / ie mehr Erleichterung würde ihr Hertz wegen der bißhero ausgestandenen Marter fühlen" (13); „Sie hat Unglück und Sturm genug in dieser [Liebe] erlebet / solte sie sich noch durch eigene Willkühr / da sie das Glück so nachdrücklich gewarnet / abermahls solche Marter auff den Hals bürden?" (50); „Mein Hertz hat bey dergleichen schon allzu viel ausgestanden und leidet noch deswegen täglich seine Marter" (60); „Eine glückselige Sclavin zu werden / läßt man sich nicht verdriessen; aber so eine geqvälte und nach eigenem Willen gemarterte [...] ist zu beklagen. Ha! verfluchtes Lieben / welches mit tausenderley Marter belohnet!" (260f.); „wie sie numehro eine fast geraume Zeit her mein edles treues Hertze gemartert" (263); „meine überhäuffie Marter" (264); „Jch beklage / daß mein edles Hertz so viel Marter ausgestanden" (277); „Jch sterbe doch nicht ungerochen / und mit meiner Hinrichtung wird auff einen Augenblick alle lange Marter / die mich mehr als der Todt selbsten meine gantze Lebens-Zeit peiniget / mit hinweg geräumet" (427); „Wenn es des Himmels Wille gewesen / hätte ich lieber gesehen / daß er mich zu sich genommen; maßen mein längeres Leben mir wohl eine rechte Last / und mehr Marter als Vergnügung giebet" (429); „Jn solche Kleinmuth verfiele Constantine wieder / als die Nacht und die Einsamkeit ihr Schicksal mit so entsetzlichen Trauer-Farben ihr von neuen abmahleten. Sie brachte damit biß fast gegen Morgen zu / und ihr Bette wurde ihr zu einen Kercker / darinnen der Leib keine Ruhe / der Geist aber ungemeine Marter fände" (451).

3

Vgl. Andreas Gryphius: Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Beständigkeit. TrauerSpiel. Hg. von Alois M. Haas. Stuttgart 1975; Andreas Gryphius: Großmüttiger RechtsGelehrter / Oder Sterbender /Emilius Paulus Papinianus. Trauer-Spil. Text der Erstausgabe. Besorgt von Ilse-Marie Barth. Mit einem Nachwort von Werner Keller. Stuttgart 1965.

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Weiteres muß bei genauerer Musterung irritieren an dieser selbsternannten .Märtyrerin'. Zunächst grundsätzlich, daß sich auf dem Boden des galanten Romans eine unbeirrt auf Einlösung ihres Namens pochende (und darin alles andere als liebenswürdige') Titelheldin Constantine eminent deplaziert ausnimmt. „Die Beständigkeit ist nur eine Sache vor lächerliche Leute", formuliert der 1710 unter dem Pseudonym Sarcander veröffentlichte Roman Amor auf Universitäten bündig,4 und Herbert Singers Bezeichnung des galanten als „Komödienroman" sucht dieser und ähnlichen Verschiebungen im Gattungssystem des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts Rechnung zu tragen.5 Immerhin hatte das Titelblatt der Liebenswürdigen Europäerin Constantine gattungskonform - ja auch eine „wahrhafftige und anmuthige Liebes-Geschichte dieser Zeit Der galanten und curieusen Welt zu vergönneter Gemüths-Ergötzung" annonciert, keine unzeitgemäße Märtyrerhistorie. Irritierend sodann, daß Constantine ihrem ersten Vorsatz, nach dem Tod ihres Verlobten der Liebe hinfort zu entsagen, ja eben nicht treu bleibt (sowenig wie am Ende der treulose ,Tote' seiner Totsagung), daß sie demnach (gemessen am barocken Vorbild) keine „bewehrete", sondern eine scheiternde „Beständigkeit" zur Anschauung bringt. Entsprechend beschreibt sie selbst sich gegenüber Wandeim, dem am nachhaltigsten (und letztlich erfolgreich) durch Liebeswerbung ihre constantia Bestürmenden, in bildlichem Kontrast zum Romaneingang „als ein Mensch [...]/ deren Hertz gleichwie ein Schiff auff allerhand Unglücks-Wellen herum schwebet / und endlich noch durch unglückseligen Schiffbruch zerscheitern wird" (196f.). „Patience par force" (197), lautet die Devise, mit der sie abschließend, indem sie die Havarie ihres brüchigen Selbstverständnisses bereits eingestanden hat, die eigene Verfassung pointiert, und das läßt buchstäblich das Forcierte ihres Versuchs durchblicken, Verlorenes gleichwohl festzuhalten.6 4

5 6

Zit. n. Herbert Singer: Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko. Köln u. Graz 1963, S. 120. Vgl. Singer (1963), S. 27 u.ö. Daß Constantine sich dieses emblematische Motto geradezu zum persönlichen Wahlspruch erkoren hat, zeigen zwei weitere Stellen, an welchen sie sich - einmal brieflich, einmal im Gespräch - gegenüber Wandeim auf diese Maxime beruft: „Verlangen Sie eine höhere Amantin? viel Glücks auff den Weg! Jch erwehle mir gerne einen Amanten a la Francois oder ä la Cour, ob er schon nicht von der bedachtsamen Manier ist / so gläube ich doch / meine Augen sollen schon zusehen / was zu lieben stehet oder nicht. Treffe ich das rechte Ziel / wohl! renne ich vorbey / patience par force" (253) und „Sie bewog auch die euserste Gemüths-Bestürtzung nicht / welche Wandeim über diese Abreise von sich spühren liesse: Vielleicht / sagte sie auf sein vorher geschehenes Ansuchen zum Tröste / führet uns der Himmel bald wieder zusammen / sie nehmen dessen Fügung / sagte Madame, nur mit Gedult an: Jch habe es auch par force lernen müssen / nachdem ich härtere Zufalle erfahren / als unser Scheiden seyn wird" (271). Wie die Devise „Patience par force" um 1700 im Kurs steht, vermögen einige weitere Belege zu dokumentieren: Bereits 1647 präsentiert Carl Gustav von Hille in seinem Teutschen Palmbaum: Das ist / Lobschrift Von der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft Anfang / Satzungen / Vorhaben / Namen / Sprüchen / Gemahlen / Schriften und unverwelklichem Tugendruhm den „Alamodischen Brief' eines gewissen „Mirabolanius von Haashausen", in dem sich folgender Kampfaufruf gegen das besorgniserregende Treiben der „Compagnie fructifiante" findet: „Solte aber / über Verhoffen / ihr inconsiderirtes

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Und knapp zweihundert Seiten später, als die Eheschließung mit Wandeim endgültig in greifbare Nähe gerückt scheint, fallt der Erzähler im selben Bild denn auch folgendes unzweideutig vernichtende Urteil: „Nachdem sie viele neue gefahrliche Liebes-Klippen durch ihre großmüthige Standhafftigkeit vermieden / so scheitert dennoch zuletzt ihre Tugend / da sie die Schmeichelungen eines sonst ernsthafften Cavalliers in neue Syrten führen" (385). Verstörend ist schließlich aber, daß Constantine nicht nur eine gescheiterte, sondern eine unaufrichtige Märtyrerin ist, eine veritable Falschmünzerin. Fragt man sich nämlich, wofür Constantine mit ihrem ein ums andere Mal beschworenen Martyrium einstehen will, wofür sie mit der vielberufenen Beständigkeit zu zeugen sich anschickt, so fallt der Befund verblüffend zirkulär aus: dafür offenbar, daß „ich allemahl La Constante geheissen und auch in der That gewesen" (353), für das Sprechende ihres sprechenden Namens. Eben jene cortstantia aber unterliegt paradoxerweise ihrerseits flottierender Bewegung, mehr noch: einer von Constantine gezielt betriebenen semantischen Verschiebung. Denn mit den zuletzt zitierten Worten beteuert sie gegenüber Wandeim nicht etwa ihre durch kein Werben zu erweichende Unnahbarkeit, sondern umgekehrt die nun unversehens „allemahl" unveränderliche Liebe zu ihm. In einem früheren Brief an denselben Wandeim hingegen beruft sie sich auf den „mit recht" geführten „Nahmen Constantine" (261) noch im vorigen, .barocken' Sinn - jedoch bloß zum Schein, um durch die vorgebliche Unmöglichkeit, sie zu lieben, ihren Liebhaber nur desto fester an sich zu binden. „Sie stellen mich auff die Probe / worinnen sie wollen / und sehen zu / ob ich nicht soll auffrichtig befunden werden" (383), schreibt sie an ihn just in dem Moment, da sie vergeblich versucht hatte, sich anderwärts „einen beständigen Amanten zu[zu]legen" (284), sich auf einen mit constantia weder im einen noch im andern Verständnis zu vereinbarenden Seitensprung einzulassen; und am Schluß dieses absichtlich in die Zeit jener mißglückten Affare zurückdatierten Briefes setzt sie sogar noch

propos fernem succes erhalten; so würde es uns Courtisanen, an der Reputation eine merkliche breche machen auch die hochgebietende Dames von uns wegen Cassirung der vorigen Zierlichkeit abalieniren·, da wir sonsten deswegen von ihnen seynd caressixtX und entreteniret worden. Patience par force." Carl Gustav von Hille: Der Teutsche Palmbaum. Nachdruck: München 1970, S. 124, 128 u. 126f. In etwas anderer Perspektive als unzeitgemäß wird diese Maxime auch bei Leibniz kenntlich, vgl. den 1686 entstandenen Discours de Metaphysique, § 4: „Je tiens done que suivant ces prineipes pour agir conformement ä l'amour de Dieu, il ne suffit pas d'avoir patience par force, mais il faut estre veritablement satisfait de tout ce qui nous est arrive suivant sa volonte", und deutlicher noch in den Prineipes de la Nature et de la Grace fondes en Raison von 1714, § 18: „Car il [l'Amour de Dieu] nous donne une parfaite confiance dans la bonti de nötre Auteur et Maitre, laquelle produit une veritable tranquillite de l'esprit; non pas comme chez les Stoiciens, resolus ä une patience par force [...]." Gottfried Wilhelm Leibniz: Discours de Metaphysique / Metaphysische Abhandlung. Übersetzt und mit Vorwort und Anmerkungen hg. von Herbert Herring. Hamburg 1958, S. 8; ders.: Prineipes de la Nature et de la Grace fondes en Raison. Monadologie / Vemunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie. Auf Grund der kritischen Ausgabe von Andre Robinet und der Übersetzung von Artur Buchenau mit Einführung und Anmerkungen hg. von Herbert Herring. Hamburg 1956, S. 24.

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einen drauf: „Sehen sie / [...] wie auffrichtig daß ich mit ihnen umgehe. Jch schütte mein Hertz ohne Verstellung vor ihnen aus / und wünsche nichts mehr als Lebens-lang zu heissen die Eurige Constantine" (384).7 Das Zeugnis ,auffrichtiger' „Gemüths-Standhafftigkeit" (50) wird man ihr daraufhin schwerlich ausstellen wollen; Singer geht sogar soweit, in Constantine eine „verbürgerlichte Pikara" und „asoziale Abenteurerin" zu erkennen.8 Der Fall ist jedoch, so meine ich, nicht schlicht im Figurenhorizont vor moralischer Gerichtsbarkeit zu verhandeln. Zur Debatte steht vielmehr der Ort, den die ortlos gewordene constantia, Inbegriff einer im höfisch-historischen Roman sowie im Trauerspiel aufrichtig normstiftenden Größe9 und nun verkörpert in der ziellos durch Europa zigeunernden „Europäerin" Constantine, sich im literarischen Feld unter der neuen Signatur galanter .Liebenswürdigkeit' sucht.10 Auf einen solcherart den gleichnamigen Roman als ganzen betreffenden Orientierungsnotstand deutet bereits der merkwürdige Zwiespalt hin, der durch den Erzähler geht. Derselbe Erzähler nämlich, der den schon zitierten pathetischen Abgesang auf Constantines „großmüthige Standhafftigkeit" angestimmt hatte, quittiert gleich eingangs ihr ,standhafftes' Trauern um den verlorenen Geliebten mit folgendem süffisanten Kommentar: Wir Menschen seynd offi allzu sinnreich / uns selbst zu martern / und dencken mit Fleiß auff diß und jenes / daß unsem Kummer ehe vermehret / als mindert. Welche Vorstellungen machete sich nicht Constantine in der Einsamkeit eines Zimmers / die Qvahl ihrer Seelen zu vergrössern; und da sie auff der stürmenden See den nahen Todt vor sich sähe / bliebe sie bey der allgemeinen Unruhe ihrer Geferthen alleine ruhig. (10) 7

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Dieses emphatische Insistieren auf der eigenen Aufrichtigkeit grundiert, ungeachtet des im Verlauf der Bekanntschaft sich vollziehenden Sinneswandels, den Briefwechsel zwischen Constantine und Wandeim von Anfang an, vgl. Constantines zweiten Brief an Wandeim, den sie als „ihre aufrichtige Dienerin Constantine" unterzeichnet, was beim Adressaten zur Folge hat, daß er „hierdurch nicht wenig vergnüget [ward] / daß sie ihr Bekäntniß so aufrichtig that" (191). Singer (1963), S. 178 u. 177. Grundlegend, zumal für das Trauerspiel, herausgearbeitet hat dies Hans-Jürgen Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchungen zu den Dissertationes funebres und Trauerspielen. Köln u. Graz 1966, bes. S. 182-254. Zum Stellenwert der constantia im ,hohen' Roman vgl. Albert Meier: Der heroische Roman. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. von Albert Meier. München u. Wien 1999, S. 300-315, bes. S. 310. Auf Modifizierungen des ,,barocknotorisch[en]" constantia-Ideals bereits in Lohensteins Arminius weist Borgstedt hin. Thomas Borgstedt: Reichsidee und Liebesethik. Eine Rekonstruktion des Lohensteinschen Arminiusromans. Tübingen 1992, S. 41-65 u. S. 231-263, Zitat S. 256. Zur ästhetischen Disposition und Disponibilität des Galanten vgl. Dirk Niefanger: Galanterie. Grundzüge eines ästhetischen Konzepts um 1700. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hg. von Hartmut Laufhütte. Bd. 1. Wiesbaden 2000, S. 459472, sowie ders.: Die Chance einer ungefestigten Nationalliteratur. Traditionsverhalten im galanten Diskurs. In: Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle. Hg. von Thomas Borgstedt u. Andreas Solbach. Dresden 2001, S. 147-163. Zur Figur der Orientierungssuche um 1700 in weiter gestecktem Rahmen vgl. Dirk Niefanger: Konzepte, Verfahren und Medien kultureller Orientierung um 1700. In: Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt. Hg. von Sylvia Heudecker, Dirk Niefanger u. Jörg Wesche. Tübingen 2004, S. 9-30.

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Und nach ähnlichem Muster spielt er wenig später die ihr attestierte „ungemeine Großmüthigkeit" (92), die sie beim Verlust beinahe ihres gesamten Vermögens durch eine betrügerische Dienerin bezeigt habe, in einer spitzen Bemerkung gegen ihre immer noch unverrückte Trauer aus: „Und es wäre gut gewesen / daß sie in ihrem Liebes-Schicksal [...] auch dergleichen Vorstellung sich gemacht hätte. Aber in solchem Zufall ware ihre Liebe Meisterin ihrer Vernunfft / welches man auch zum öfftem bey den edelsten Gemüthern findet." (93) Fatalerweise befindet der Erzähler sich mit dieser Ansicht - die auch die meisten anderen ,vernünfftigen' Romanfiguren teilen11 - aber just in schönstem Einverständnis mit jener diebischen Dienerin.12 Näheren Aufschluß scheint dieser seltsame Sachverhalt in den Paratexten zu finden, die den Roman bei Erscheinen sowie im Folgejahr flankieren. Eröffnet wird die laut Titelblatt „von Talandern" verantwortete „Liebes-Geschichte" nämlich nicht nur durch die erwartbare, von eben jenem „Dienstbegierigste[n] Talander" (fol. a7v) unterschriebene „Vorrede" an den „Hochgeneigtefn] Leser" (fol. a2r); vielmehr folgt - höchst ungewöhnlich - eine nicht weniger als siebzig Seiten umfassende „Andere Vorrede an den Hochgeneigten Leser. Auff gesetzt von einem gewissen Freunde" (fol. ar),13 deren am Ende Unterzeichneter sich nun „W." (fol. e3v) nennt. Um wen es sich bei diesem „W." handelt und in welcher Beziehung er zu „Talander" (alias August Bohse) steht, erhellt aus dem 11

Vgl. etwa ihres Landsmannes Woltorp Kommentar zu Constantines Verhalten, der beinahe wörtlich mit der zuerst zitierten Erzählerbemerkung übereinkommt: „Ein iedes schmiedet sich durch eigene Schuld seine Qvahl und Unruhe / wenn es einer so verdrießlichen Passion nachhenget. Es ist ein Zeit-Vertreib vor müßige Leute / welche sonst nichts zu thun haben" (16). Oder das zwar mildere, gleichwohl in dieselbe Richtung weisende Urteil Alckmars: „Zuletzt aber fügete er den Wundsch an / daß durch eine neue Wahl dieselbe wiederum erfreuet / und die darauff mit bessern Fortgang erfolgte Vermählung möchte vergnüget werden / damit ihr Trauren / so ihr doch nunmehro zu nichts mehr hälff / in den Armen eines andern Liebsten in völlige Zufriedenheit verwandelt würde" (49). Oder das Zureden Cassanders: „Da würden Madame an ihrer schönen und blühenden Jugend unrecht thun / sagte er / wenn sie um einigen wiedrigen Zufalls willen also fort einen so vergnügten Zustand verreden wolten. Die Heyrathen sind nicht alle unglücklich. Gehts in einer nicht nach Wundsche / so muß man bey der andern besser Glücke hoffen; Es pflegen doch nie zwey Winter auff einander zu folgen. Wie denn wenn der Himmel nun beschlossen hätte / ihnen in der andern Ehe desto mehr Vergnügungen zu gönnen" (120).

12

Vgl. den Wortwechsel zwischen Constantine und ihrer Dienerin Dorinde unmittelbar nach dem Seesturm: „Jndessen / daß sich Constantine [...] mit ihrem Mägdchen der Dorinden, alleine befand / hub diese an von ihrer Todes-Angst zu erzehlen / welche sie auff dem Schiffe in wehrenden Sturme ausgestanden / und wie sie tausendmahl bey sich gewündschet / daß sie noch in Albinien wäre. Ο / sagte Constantine, wie möget ihr mir diesen verhaßten Orth nennen / daß ihr nicht meine Feindschafft fürchtet. Was mich betrifft / wolte ich lieber mein mühseliges Leben in eitel solcher tödtlichen See-Gefahr vollends zubringen / als daß ich in Albinien mich solte auffhalten / welches mir meinen kostbahrsten Schatz und mit ihm alle meine Freude und Gemüths-Ruhe geraubet hat. / Es wechselt doch alles in der Welt / (gab Dorinde ihre Meynung zu verstehen ) / und doch will ihre Betrübniß über etwas schon geschehenes sich nicht ändern" (9). Die Bogenzählung beginnt für die (ebensowenig wie die erste paginierte) „Andere Vorrede" noch einmal neu.

13

Über die Schwelle der

Un/Aufrichtigkeit

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Zusammenspiel beider Vorreden. „Jch gebe allhier", so erklärt „Talander" in seiner Vorrede gegenüber dem Leser, zu dessen Vergnügung eine Liebes-Geschichte heraus / die mit desto mehrerer Anmuth sich wird lesen lassen / ie gewisser deren Jnhalt auff eine wahrhafftige Historie dieser Zeit sich gründet / und die verliebten Zufälle / so dabey14 sich ereignet / von denen gemeinen gantz unterschieden sind. Die eine von denen darinnen auffgefuhrten Haupt-Personen / so eine gantz sonderbahre Hochachtung von einer derer Galantesten Damen dieser Zeit / Constantine genannt / heget / hat mir / (ich weiß aber nicht / durch was für ein Schicksal Er in dieser Dame Käntniß gerathen/ noch weniger / mit was für einer Manier Er dero Gunst erworben / und sich darinnen feste gesetzet) durch Überreichung einiger bey dieser Intrigue befindlichen Briefe / welche Er eine geraume Zeit mit der liebenswürdigen Constantinen gewechsel / mit einer ihm wohlanständigen Freymüthigkeit darzu selbsten Anleitung gegeben / und zugleich erlaubet / das gantze Werck / so viel mir davon mit einer geschickten Verstellung von selbigem entdecket worden/ nach Art meiner bisherigen Romainen/ [...] zum Druck zu befördern / doch daß ich nichts erdichtetes / oder frembdes möchte einmischen / sondern die Begebenheit / wie sie an sich vorgegangen / der galanten Welt vor Augen stellete. Diesem nun bin ich auffrichtig nachgekommen und habe keinen Umschweiff von etwan eigenen Erfindungen entlehnet / sondern allein die Nahmen derer darinnen Interessirten / wie auch einiger sonst wohlbekandten Städte in Teutschland und denen benachbarten Ländern geändert / oder ein wenig versetzet / darzu einer / so ein gutes Nachsinnen hat / den Schlüssel leichtlich finden kan / ob er schon kein Oedipus ist. (fol. a 2 '-a/) Dem Entwurf des ,auffrichtigen' Herausgebers einer „wahrhaffiigen Historie" in Briefen, dessen Autorschaft sich auf romanhafte Einkleidung und .Versetzung' der Namen beschränkt, korrespondiert in der „Anderen Vorrede" die Selbstvorstellung des ,,Stiffter[s]" dieser „Liebes-Geschichte": eben jener von Talander als Gewährsmann namhaft gemachten „Haupt-Person", die „leichtlich" - auch wenn man kein Ödipus ist - als Wandeim zu identifizieren ist. Diese Figur der in einen Roman gekleideten wahren Geschichte meldet nun jenseits der Narration ihrerseits einen signifikanten Autorschaftsanspruch an. „Es leget sich hier", so beginnt „W." seine Vorrede, eine Liebes-Geschichte durch den Druck an das Tages-Licht / deren Stiffier mehr den Vorsatz gehabt / der Liebenswürdigen Constantine (welchen Nahmen ich dieser Schönen unbekandten aus bedencklichen Ursachen beylege) zu zeigen / wie bemühet er sey / Jhr öffentlich Proben seiner Hochachtung gegen Sie zu geben / als der galanten Welt einige Ergötzung dadurch zu verschaffen, (fol. ar) Offenbar ist „Constantine" gar nicht der wahre Name der Titelheldin, sondern einer, den Wandeim ihr ,beygelegt' hat. Diese Beobachtung verdient Aufmerksamkeit in wenigstens zweierlei Hinsicht: Zum einen begibt Wandeim (wie Talander, so muß man annehmen, ihn getauft hat) sich mit diesem Akt der Namengebimg als eine Art Ko-Autor konkurrierend auf jenes dem Romanautor ausdrücklich konzedierte Feld fiktionaler Einkleidung - ein Feld, für dessen spezifisch galante Signatur das zwischen Ver- und Enthüllung oszillierende Spiel mit Pseudonymen in und jenseits der Fiktion nachgerade konstitutiv ist. Zum anderen aber trifft die Kundgabe der bloßen ,Beylegung' dieses Namens, 14

Verbessert aus „daber".

318

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worin sich Wandeims Autorschaft manifestiert, das in der Geschichte zum Ausdruck gebrachte Selbstverständnis der Heldin ins Herz. Denn wie ist Constantines Bestreben, ihren Namen wahr zu machen, zu bewerten, wenn „Constantine" gar nicht ihr wahrer Name ist? Als so äußerlich am Ende, wie des Erzählers Blick in der Eingangsszene auf bloßes Lesen in der Physiognomie seiner Figur angewiesen blieb, ohne Einsicht in das ihr Selbst ausmachende Herz gewinnen zu können? Weitere Indizien sind zuerst in Augenschein zu nehmen, ehe ich versuchen möchte, Constantines constantia in den Koordinaten von inszenierter Aufrichtigkeit respektive aufrichtiger Inszenierung auf der Schwelle von barockem zu galantem Diskurs zu verorten. Zunächst kann die Beobachtung jenes durch den Erzähler gehenden Zwiespalts in der Bewertung der Titelfigur präzisiert werden. Sind doch offenbar tatsächlich zwei Autorinstanzen am Werk, deren einer (dem in ein galantes Pseudonym verkleideten Talander) die Geschichte als einem Uneingeweihten zur Herausgabe anvertraut wurde, während die andere (der als „Haupt-Person" für deren Wahrheit bürgende, namentlich gleichwohl bereits von Talander verstellte Wandeim) Hintergründe und „bedenckliche Ursachen" der „wahrhafftigen Historie" aus erster Hand kennt und dennoch, eben aufgrund dieser Kenntnis, der Heldin einen nicht nur fiktiven, sondern auch noch sprechenden, somit explizit poetischen Namen ,beylegt'. Aus dieser doppelten narrativen Buchführung resultiert denn auch folgerichtig die ambivalente Einschätzung von Constantines „Großmüthigkeit": beklagenswertes Scheitern ,,großmüthige[r] Standhafftigkeit" (385) aus der Perspektive dessen, der ,νοη außen' ihr im Namen Constantine besiegeltes Selbstverständnis für wahr genommen hatte, Vorführung einer als barocke Märtyrerin sich inszenierenden Komödiantin 15 von der überlegenen Warte dessen aus, der ihr diesen Namen nachträglich erst ,beylegt', um ihrer Pose theatralisch eine als solche ausgewiesene narrative Bühne zu geben. Skandalös muß freilich erscheinen, daß die Romanfigur Wandeim sich damit über ihren in der ,Wahrhafftigkeit' von Constantine sich täuschenden Autor Talander erhebt. Und: daß dies auch noch im Buchlayout gleichsam .objektiv' Niederschlag findet. Vergleicht man nämlich die Anfange der beiden Vorreden buchgraphisch (Abb. 1 und 2), so sind sie nur auf den ersten Blick einheitlich gestaltet. Bei genauerem Hinsehen wird dagegen kenntlich, daß die beiden Schmuckleisten zwar dasselbe seriell gesetzte, an der Horizontalen gespiegelte Blumenornament verwenden, daß jedoch vor Talanders Vorrede obere und untere Blumenreihe zusätzlich durch eine Mittelleiste aus sternförmigen Blütenelementen getrennt sind, während im Zierstück vor der „Anderen Vorrede" das mittlere, elfte Blumenpaar fehlt und statt dessen wie hinter einem geöffneten Vorhang zwei gleichfalls aneinander gespiegelte

15

Erkennt man freilich das Moment textimmanenter Theatralisierung des Martyriums als bereits dem barocken Trauerspiel inhärent, wie es insbesondere flir die Dramen des Andreas Gryphius zu beobachten ist, so schreibt Bohses Constantine-Figur die Faktur barocker Märtyrer(innen) nur radikalisierend fort. Vgl. dazu Nicola Kaminski: Martyrogenese als theatrales Ereignis. Des Leo Armenius theaterhermeneutischer Kommentar zu Gryphius' Märtyrerdramen. In: Daphnis 28 (1999), S. 613-630.

Über die Schwelle der Un/Aufrichtigkeit

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ξίφίφ« buc Burke (2001), S. 143 f. 22 Praetorius wehrte sich wiederholt gegen Plagiatsbeschuldigungen. In dem Vorwort zu seiner jährlichen Chronik, dem Zodiacus von 1667, erwähnt er, dass er Materialien aus dem Theatrum Europaeum benutzt hätte, obwohl Seiten- und Bandzahlen fehlen, die er anderswo normalerweise zitiert. Die fehlenden Angaben machen es schwierig festzustellen, welche Informationen er benutzt. 23 ,,[A]us denen öffentlichen und Privilegirten Zeitungen / wie auch denen darnaben passirenden Tractaten / Gerüchten / Erfahrungen, etc. f...]. Zu mahln weil ein jeglicher unparteuischer Mann / auch aus diesem Grunde / meinen besonderen Fleiß / vor denen übrigen so genanten Relationes, Diariis, Theatris Europ. & c. schliessen und abnehmen werden können / so er wil" (Zodiacus 2, Der Eingang). Im Zodiacus 3 (1668) bestätigt er noch einmal, dass die Information wahr ist („weder aus seinem Urtheil / noch Erdichtung entsprungen"), und dass er aus „privilegirten öffentlichen (und also einem iedern zum Gebrauch frey / stehenden) Zeitungen / das ist / solchen Originaln, als man von Orten selbsten bekömmt / gezogen / und nur nach einer besondem Art / in diese Ordnung / vorgebracht" exzerpiert habe (3.3).

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Text und Bild Die Belagerung und Zerstörung von Magdeburg (Stadt der Magd [Maria]) war ein Ereignis von enormer publizistischer Wirkung in einer Zeit, die an kriegerischem Drama einiges zu bieten hatte. Die Theatrum-Illustration zeigt die Stadt in Flammen; Kanonenfeuer vor der Stadt und einige Reiter und Söldner im Vordergrund des Bildes insinuieren Belagerung und Zerstörung. Das Furchtbare dieses Ereignisses ist jedoch in der Darstellung aus einiger Entfernung von der Stadt kaum erkennbar. Im Gegensatz dazu vermitteln die einleitenden Worte des Begleittextes das Drama der Zerstörung von Magdeburg mit großer Eindringlichkeit: „Es werden in den Historien wol wenig Exemple zu finden seyn / dass Christen dergleichen grausame Tyranney gegen einander verübet / wie bei der Einnehmung und jämmerlichen Zerstörung der Statt Magdeburg vorgangen" (II. 354). Die kaiserlichen Truppen unter dem Kommando von General Tilly werden als „blutrünstig", das Schicksal der Stadt als „unverschuldet", die Zerstörung als ohne Ursache beschrieben. Doch die Einwohner sind nicht ohne Mitverantwortung an den Geschehnissen. Die „Stadt der Magd", wie Magdeburg in der Literatur oft genannt wurde, erkennt den Ernst der Lage nicht. Der Weiblichkeitsmetapher des Stadtnamens folgend erscheint die Belagerung als Werben der kaiserlichen, d. h. katholischen Offiziere um das „Jungfraw Kräntzlein." Der Werbung folgt nicht Hochzeit, sondern Vergewaltigung. Krieg als eine Metapher für Gender-Konflikte ist keinesfalls neu. Doch die Brutalität der Belagerung und Erstürmung der Stadt Magdeburg fand mithilfe vieler Zeitungsberichte, Flugblätter und -Schriften schnelle Verbreitung. Der Stadt der Magd wurde das „Jungfrauenkränzlein" entrissen, metaphorisch in ihrer Niederlage und realistisch in den Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen. So beschreiben es das Theatrum und mit ihm viele zeitgenössische Publikationen. Dementsprechend erscheint Tilly in der protestantisch geneigten Tagespresse als Mägdeschänder, die Eroberung der Stadt als Vergewaltigungsversuch, der, so die protestantischen Autoren, letztendlich erfolglos bleiben musste. Obwohl Tilly der Jungfrau schwer zusetzte, ging sie letztendlich unversehrt aus dem Kampf hervor.24 Oder, anders formuliert, wenn Tilly, der Schänder, auch ihre Kleider durcheinander bringen konnte, so musste er ihren „Jungfrauenkranz" doch unversehrt lassen.25 Die katholisch gefärbte Berichterstattung sah das Ereignis ein bisschen anders. Hier

24

25

Werner Lahne: Magdeburgs Zerstörung in der zeitgenössischen Publizistik: Gedenkschrift des Magdeburger Geschichtsvereins zum 10. Mai 1931. Magdeburg 1931, S. 152 u. 153; Ulinka Rublack: Metze und Magd. Frauen, Krieg und die Bildfunktion des Weiblichen in deutschen Städten der Frühen Neuzeit. In: Historische Anthropologie 3 (1995), S. 412-433, S. 416 f.; Michael Kaiser: Excidium Magdeburgense. Beobachtungen zur Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im Dreißigjährigen Krieg. In: Ein Schauplatz herber Angst: Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert. Hg. von Markus Meumann u. Dirk Niefanger. Göttingen 1997, S. 43-65. Diethelm Böttcher: Propaganda und öffentliche Meinung im protestantischen Deutschland 1628-1636. In: Der Dreißigjährige Krieg: Perspektiven und Strukturen. Hg. von Hans Ulrich Rudolf. Darmstadt 1977, S. 343; John Elliott: Krieg und Frieden in Europa. 16181648. In: 1648: Krieg und Frieden in Europa 33. Hg. von Klaus Bussmann u. Heinz Schil-

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erscheint Magdeburg als verstockte, obstinate Jungfrau, die ihre eigene Zerstörung, d.h. ihre Vergewaltigung, selbst verschuldet hatte. Die Stadt fiel innerhalb von einer Stunde, um 11 am 10. Mai 1631. Trotz des in der Berichterstattung im Theatrum angedeuteten Mitleids wird den Magdeburgern Naivität und Laxheit vorgeworfen. Sie hätten nicht getan, was sie hätten tun sollen, „achteten nicht / dass die Kayserischen [...] jhnen so nahe auff den Halss weren" (II. 365). Das Feuer, das die Stadt am 14. Mai zerstörte, wird nach heutiger Geschichtsschreibung den Magdeburgern selbst zugeschrieben; der Theatrum-Bericht macht Tillys Offiziere dafür verantwortlich. Sie hätten die Bürger erschrecken wollen und nicht mit der weitgehenden Zerstörung gerechnet, die auch das von den Soldaten geplünderte Gut in Mitleidenschaft zog. 26 Das Ende der stolzen Stadt war vielfach vorausgesagt worden: Es gab eine Mondfinsternis (4. Mai 1631), einen großen Sturm und eine schreckliche Missgeburt. Magdeburg fiel, so Merians Berichterstatter, weil die Magdeburger nicht nur nicht wachsam, sondern auch verzagt und kleinmütig waren und sich zudem zu sehr auf die Rettung durch das Heer von Gustav Adolph verlassen hatten. Dessen versprochene Hilfe kam jedoch zu spät. Bei der Schlacht von Lützen, ein Jahr später, kommt dann für Gustav Adolph selber jede Hilfe zu spät. In Lützen traf seine Armee auf die des kaiserlichen Generals Wallenstein. Die Kupferstiche, die dieser Schlacht gewidmet sind, verbinden Text und Bild zu einem monumentalen „Synchronbild". 27 Der Betrachter nimmt die Vorgänge aus der Entfernung von ungefähr zwei Kilometern in Augenschein, ein Blickwinkel, der von zeitgenössischen Illustratoren als „FernrohrPrinzip" bezeichnet wird. Der Beobachter sieht sehr deutlich, was sich abspielt, bleibt dabei aber in sicherer Entfernung von dem Schlachtfeld. 28 Lützen, eine kleine Stadt in der Nähe von Leipzig, wäre im Kontext des „Großen" oder „Deutschen Krieges", wie der Dreißigjährige Krieg in der zeitgenössischen Literatur oft bezeichnet wurde, sicher kaum der Erwähnung wert, wäre es nicht

26

27 28

ling. Münster 1998, S. 23-41; Herbert Langer: Hortus Bellicus: Der Dreißigjährige Krieg. Gütersloh 1982, S. 153, 165,195,221 u. 242. Weil die Bürger„jhre besten Sachen vnnd vornembsten Haußrath / wegen Einwerffung der Fewerkugeln / in den Keller gebracht / habe sie [die Soldaten] noch gute Beute erlanget / an Kleidern / Geschmeid / Silber / Geschin / Speck und Butter / auch viel Tausend Faß Bier / doch an Geld nit sieben Königreich wie Tylli seine Soldaten / damit sie deste beherzter anlieffen / das Maul geschmieret." Die Anzahl der Toten wird mit 6.440 angegeben, aber viele waren in den Kellern und Gewölben umgekommen. Zum Feuer: „und mochte niemand wissen / wie das Fewer welches den Rauberischen Soldaten jhre Beute zum guten Theil widerumb aufgefressen / in gedachtem Lager außgekommen were [...] Da doch Kayserische vornehme Officierer selbstens bekenneten / daß die Anzündung der Statt von den Ihrigen / vnnd nur den Bürgern zum Schrecken / auff daß sie von dem Widerstand abgehalten werden möchten / angeordnet worden / vnnd hätten sie selber nit versehen / daß die gantze Statt dadurch angezündet und in Aschen gelegt werden solte" (II. 366). Fuss (2000), S. 140. Giovan Battista Manso (1560-1645) lobte Galileo für die Erfindung des Fernrohrs, womit das menschliche Auge die Fähigkeit erlangte, auf Entfernungen von sechzig bis achtzig Kilometern deutlich zu sehen. Siehe Wolfgang Schmale: Das 17. Jahrhundert und die neuere europäische Geschichte. In: Historische Zeitschrift 263.3 (1997), S. 589.

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wegen dieser großen Schlacht und dem wenig glorreichen Tod von Gustav Adolph, den seine Zeitgenossen, Feind und Freund, als eine erfolgreiche und charismatische Persönlichkeit ebenso fürchteten als auch verehrten und bewunderten. Sein Tod war ein schwerer Schlag für die Schweden, deren militärische Erfolge sie bis hierher als unbesiegbar erscheinen ließen. Die große Niederlage zwei Jahre später, bei der Schlacht von Nördlingen (1634) beeinträchtigte die Führungsrolle der Schweden in der Folgezeit erheblich. Die drei Stiche, die Lützer Ordnung, die Lützer Schlacht und der Tod des Königs, vermitteln eindringlich die Dissonanz zwischen der Ordnung vor der Schlacht, der Monumentalität der Schlacht selbst und der Einsamkeit des Todes eines einzelnen Soldaten, egal welchen Ranges. Das Panorama des Schlachtfeldes, auf dem sich die gegnerischen Heere in kunstvoll symmetrischen Blöcken gegenüberstehen, breitet sich weiträumig vor dem Auge des Betrachters aus. Das Auge folgt der Lützer Ordnung aus der Vogelschau; es bewegt sich hin und her zwischen den feindlichen Armeen, deren mathematische Präzision, Harmonie der Schlachtenordnung und sorgfaltige Nummerierung und Beschriftung deren tödliche Aufgabe fast vergessen lässt. Die Untertitel, oder „Ikonotexte" dienen als Orientierungshilfe für den Leser. 29 Die soldatischen Vierecke und die sorgfältig platzierten Kanonen komplett mit kleinen Pulverwolken besetzen eine Landschaft, deren Nutzung im Frieden noch an den Feldrainen und der sich quer durch das Bild ziehenden baumumsäumten Landstraße schwach erkennbar ist. Ausgenommen die Spielzeugen ähnlichen symmetrischen Soldatenblöcke erscheint die Landschaft leer und unbewohnt, wären nicht die Rauchwolken, die aus der am linken Bildrand fast versteckten Stadt hervorquellen. Im nächsten Bild rückt die Stadt um Einiges näher. Die Lützer Schlacht explodiert förmlich vor dem Auge des Betrachters; die Präzision des Aufmarsches weicht dem zerstörerischen, zwar geplanten, aber nun chaotisch erscheinenden Schlachtengewühl. Die Söldner geraten aneinander; in der linken Bildmitte lösen sich die Soldatenvierecke im Schlachtengetümmel auf; an den vorderen Bildrändern drängen Pferde und Menschen in allen Richtungen scheinbar hinweggerissen von der allgemeinen Verwirrung. Das Auge des Betrachters folgt der von dem Kanonenrauch demarkierten Schlachtenlinie, deren gerundete Regelmäßigkeit die Baumreihen im Bildhintergrund nachzeichnet, die wir schon aus dem Aufmarschbild kennen. Nahe dem durch den Galgen im Vordergrund angezeigten Richtplatz, überschattet von den zerstörerischen Flammen über der Stadt fliegt das Bild zusammen mit den Teilen eines Munitionswagens buchstäblich in die Luft. Die Macht der Explosion reißt die Leichen der Hingerichteten von den Galgen und schleudert sie wie Stoffpuppen in alle Richtungen; Feuerleitern, grässlich vertraut von Bildern der Hexenverbrennungen, folgen scheinbar schwerelos deren Bahn. Die Gewalt des Kriegs zerstört den Ort der Rechtsgewalt. Beide Darstellungen sind mit einer kleinen Tafel versehen, die den Leser über die Schlachtengegner und den Namen der Stadt informiert. Die im Bild er29

Buike (2001), S. 143 f.

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kennbaren Buchstaben und Zahlen werden im Ikonotext wiederholend erläutert; sie identifizieren die Armeen und die Strategie ebenso wie die militärisch bedeutungsvollen Aspekte der Landschaft. Die Kombination von Infanterie, Kavallerie, Musketieren und leichter Artillerie, die den Schweden oft zum Siege verhalf, wurde hier auch von Wallenstein ins Feld geführt. 30 Das Auge des Lesers bewegt sich zwischen Bild und Text hin und her, wobei er sich mithilfe der Zahlen und Buchstaben orientiert. Das Gelesene konkretisiert sich im Gesehenen, eine Wahrnehmungsebene vertieft die andere. Ohne offensichtliche auktoriale Interpretation kann der Leser, ja nachdem, welcher Seite er den Sieg wünscht, sich hier seine .Geschichte' denken. Jeglicher Kommentar über die offensichtliche Zerstörung der Felder, der kleinen Stadt, der Tiere und Menschen unterbleibt. Das Bild ist der Text und umgekehrt; beide dienen der Darstellung, der ,nackten Wahrheit', einer wichtigen Episode in diesem Krieg. Im Vergleich zu der nüchternen Dramatik des Schlachtenbildes ist die kleine und einfache nach Berichten gezeichnete Darstellung von Gustav Adolphs Tod nahezu emotionsgeladen. Verheddert in seinen Steigbügeln, von seinem Pferd mitgeschleift, im Begriff unter den Hufen des heranreitenden Feindes zertrampelt zu werden, seine Augen weit aufgerissen im Anblick des nahen Todes, bietet der König ein Bild von Hilflosigkeit und Terror. Trotz der darstellerischen Bescheidenheit vermittelt die Illustration eindrucksvoll die Widersprüchlichkeit, die in jedem Krieg imliziert ist. Die Angst im Augenblick des einzelnen Todes, die kreatürliche Einsamkeit, hat wenig gemeinsam mit dem bildgewordenen, dramatischen und heroischen Schlachtengetümmel. Der König stürzt rücklings vom Pferd, unfähig, sich von den Steigbügeln zu befreien. Seine hilflos ausgebreiteten Arme scheinen unfreiwillige Ergebung, sein ungeschützter Körper eine erniedrigende Hilflosigkeit zu signalisieren. Der Begleittext informiert uns über die Fakten von Gustav Adolphs unheroischen Tod, die diesem Bild als Inspiration dienten. Bei einem unvorhergesehenen Kontakt mit feindlichen Truppen, die ihn anfangs nicht erkannten, wurde er tödlich verwundet; er stürzte aus dem Sattel und wurde unter den Hufen der Feindespferde bis zur Unkenntlichkeit zertrampelt. Seiner Kleidung und Waffen beraubt starb er allein. Der Text kommentiert, „ein solches End hat gehabt der furtreffliche Held / König Gustavus Adolphus / dessen herrliche Gaben /[...] nit allein von Freunden / sondern auch von Feinden selbstens gerühmt vnd hochgehalten worden" (11.749). Ohne jede weitere Überleitung folgt die Beschreibung der Schlacht selbst. Die Beschreibung einer der wichtigsten und folgenreichsten militärischen Begegnungen im Dreißigjährigen Krieg schließt mit der Erwähnung der ominösen Zeichen, die dem Tod des Königs voraufgegangen waren: Die Vorderbeine seines Lieblingspferdes waren vor der Schlacht eingeknickt. Einige Zeit vor der Schlacht hatte sich das Wasser des Lützener Stadtgrabens in Blut verwandelt, wie es siebenhundert Jahre vorher, bei der Schlacht des Kaisers Heinrich gegen die Ungarn schon einmal passiert war (II. 750). Text und Bilder der Lützener Schlacht wer-

30

Ronald G. Asch: Warfare in the age of the Thirty Years War 1598-1648. In: European Warfare 1453-1815. Hg. von Jeremy Black. New York 1999, S. 53-59.

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den zur Tragödie, die vorhergesagt, aber nicht erkannt wurde und deren Folgen schwer zu überschätzen waren. Der Bericht jedoch erlässt sich nicht in Vermutungen oder Voraussagen; er bietet lediglich die Fakten. Zwei Jahre später, im Jahr 1634, befand sich Gustav Adolphs Feind, der Generalissimus Wallenstein in einer ähnlich unerquicklichen Lage. Auf Befehl des Kaisers Sigismund wurde er in Eger, wo er und seine Armee das Feldlager bezogen hatten, von seinen eigenen Offizieren ermordet. Von der höchsten Höhe kaiserlicher Gnaden und großer militärischer und politischer Macht war er unvermittelt bei Hof in tiefste Ungnade gefallen. Nicht unberechtigt wurde er verdächtigt, mit der protestantischen Seite Verbindung aufgenommen zu haben, um möglicherweise seine Truppen in den Dienst der Protestanten zu stellen. Der Kaiser kam dieser für ihn militärisch und politisch äusserst gefährlichen Möglichkeit zuvor; er entsetze durch kaiserliches Mandat den General seines Kommandos und befahl Wallensteins Soldaten sich unter die Kontrolle von General Matthias Gallas zu begeben. Die Offiziere wurden dem Eid gegenüber Wallenstein entbunden und angehalten, dem Kaiser weiter treu zu dienen. Falls dies nicht geschehe, drohte das Mandat, „als lieb ein jedweder vnter euch ist / vnsere schwere Ungnade / vnd dabey rechten ausgesetzte straff vnd Poen / zu entfliehen (iij)." 31 Wenn auch nicht offen angewiesen, so wurde der Mord von Wallenstein doch als möglich, oder sogar wünschenswert in den Raum gestellt. Die Bildüberschrift bestätigt die Rechtlichkeit dieser Aktion, „eigentliche Vorbildung [...] welcher Gestalt [...] der Hertzog von Friedland [...] hingerichtet worden" [Hervorhebung G.S.W.]. Es heißt hier nicht „ermordet" sondern „hingerichtet." Damit wird der Mord von Wallenstein, ausgeführt von zwei schottischen Unteroffizieren und einem englischen Oberst, zu einem Gerichtsakt, d. h. zur Strafe für ein schweres Verbrechen, in diesem Fall für den Verrat am Kaiser, Laise majeste. Von den Mördern wurde gesagt, dass sie sich der katholischen, d.h. der kaiserlichen Seite zum Dienst verpflichtet hatten, und dass Wallenstein gegen seinen Eid verstoßen hatte. Das Synchronbild konfrontiert den neutralen Bericht der Fakten, die zu Wallensteins Tod führten, mit einer wesentlich nuancierteren, gefühlsbetonteren Darstellung, die das wenig heroische Ende eines der berühmtesten und mächtigsten Militärs des Dreißigjährigen Krieges den Berichten entsprechend eindringlich zu vermitteln sucht: Die Mörder überraschen Wallenstein in einem Augenblick der Unachtsamkeit und des friedlichen Beieinanders mit seinen Gefolgsleuten. Die so Gestörten springen vom Tisch auf; in einem heillosen Durcheinander werden Stühle umgestoßen, Teller, Kerzen, Servietten, und Speisen rutschen mit dem herabgezogenen Tischtuch vom Tisch. Die Männer ziehen ihre Degen, um sich gegen die Endringlinge zur Wehr zu setzen. Offensichtlich vergebens stellt sich Wallenstein mit gezogenem Schwert dem hier als zahlenmäßig überlegen dargestellten Feind. Unmittelbar darauf nutzt er das momentane Durcheinander und flieht, so sieht man es auf

31

Anonymus (Hg.): Ausführlicher Bericht vom General Wallenstein [...] Wie auch das keyserliche Mandat wider den General Walstein / und andere Officirer / so sich zu den Evangelischen Ständen haben begeben wollen. o.O. 1634.

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dem nächsten Bild, durch sein Schlafzimmer mit der offensichtlichen Absicht, durch das geöffnete Fenster zu entkommen. In diesem Augenblick ersticht ihn der Mörder von hinterrücks mit einer Hellebarde. Im nächsten Bild sehen wir, wie seine Leiche, von den Komplizen ohne viel Aufhebens an Armen und Füßen gepackt, hastig die Treppe heruntergeschleift wird. Niederlage und Erniedrigung des einst mächtigen Mannes werden unzeremoniell in Szene gesetzt. Wesentlich eindringlicher als der Bericht es artikuliert, erzählt das Bild, was hinter der Faktensprache des Textes verschwindet. Wallensteins Macht, die über Armeen gebot, vermochte nichts gegen mörderische Verschwörung. Wie Gustav Adolphs Tod, so war auch Wallensteins Ende von Zeichen begleitet. In der Mordnacht, just zur Todesstunde des Generals, erhob sich ein furchtbarer Sturm. 32 Der Bericht endet mit einem Spottgedicht über die Vergänglichkeit alles weltlichen Ruhms; das Heroische, das dem Tod der Mächtigen oft anhaftet, geht in den Worten dieses Gedichts schnell verloren: Hier liegt und fault mit Haut und Bein Der große Kriegsfürst Wallenstein. Der groß Kriegsmacht zusammen bracht / Doch nie gelieffert recht eine Schlacht. Groß Gut thet er gar vielen schencken / Dargeg'n auch viel Unschuldig hencken. Durch Sterngucken und land tractiren / Thet er viel Land vnd Leuth verliehren. Gar zahrt war ihm sein Böhmisch Hirn / Kont nich leyden der Sporn Kirn. Han / Hennen / Hund er bandisirt / Aller Orten wo er losirt. Doch mußt er gehn deß Todtes Strassen / D'Han krähn / vnd d'Hund bellen lassen. (ΙΠ. 185)

Die Schilderung des gewaltsamen und unwürdigen Todes Wallensteins fand nicht nur in den Zeitungen Verbreitung, sonder auch in Gedichten für die, die nicht lesen konnten. Kaum politisch bedeutungsvoll, jedoch nicht weniger dramatisch ist der Bericht und die sorgfältige Illustration von einem Riesenzahn, der im Jahre 1645 von Schwedentruppen bei den Schanzenarbeiten in Krems in Österreich gefunden worden war (V. 974). Der Text erklärt die Umstände, die zur Entdeckung des Zahns in dem von Verwesung geschwärzten Körper eines Riesen („ungehewren / grossen Riesen Cörper") geführt hatten. Der Zustand des Körpers erlaubte nur eine teilweise Ausgrabung des Skeletts, Teile dessen gesammelt und in der Jesuitenkirche in Krems ausgestellt wurden. Zwei weitere, etwas kleinere verweste Körper in unmittelbarer Nähe des Riesen konnte man nicht exhumieren; die Zeit reichte nicht aus, denn die Anlage musste fertig gestellt werden. Einer der Riesenzähne, er wog fünf Pfund, wurde an seine Majestät, den Kaiser, für seine Wunderkammer gesandt. Von der Größe des Zahnes, so der Text, 32

, 3 s ist sonderlich zu mercken / daß selbige Nacht umb neun Uhr ein schröckliches Windbraussen entstanden / vnd als evem die Zeit vber / als dieses Wesen vorgangen / gewehret" (III. 184).

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konnte ein „Kunstverständiger [...] die völlige Länge des Körpers leichtlich ermessen." Ein weiterer Zahn wurde den Mönchen von Steyer verehrt. Text und Illustration des Zahns fanden weite Verbreitung. Der Leipziger Autor Johannes Praetorius (1630-80) zitiert den Theatrum-Bericht gleich zweimal: einmal in seinem Traktat über den schlesischen Riesen Rübezahl und ein zweites Mal in einer seiner jährlichen Chroniken. Den Maßstäben der Zeit entsprechend ist die bildliche Darstellung des Zahnes von großer Exaktheit und der wissenschaftliche Begleittext korrekt, denn die Ausgrabung wurde „von gelehrten und erfahrenen Leuten in Augenschein genommen und für Menschenbein erkennet worden" (V:974). Der Leser wusste, und hier wurde es bestätigt, dass es Riesen gegeben hatte. Diese Entdeckung liefert den Beweis, dass sie nach Österreich gelangt waren. Die Tatsache, dass militärische Dringlichkeiten weitere Ausgrabungen verhinderten, änderte nichts an der Bedeutung der Entdeckung und auch nicht daran, dass man sich bemühte, so viele Knochen wie möglich für die Nachwelt zu bewahren. Einige der Riesenknochen wurden bis nach Schweden und Polen verschickt. Keine Wunderkammer dieser Zeit ohne Riesenzahn, so Johannes Praetorius. Bei der Ausgrabung des vermeintlichen Kremser Riesen begegnen sich Wunder und Wissenschaft, ja sie sind fast deckungsgleich. Das alte Testament sprach von Riesen, so auch die griechische und nordische Mythologie; hier nun erbrachte man den wissenschaftlichen Beweis, dass es solche Wesen gegeben hatte. Demgegenüber wird der Ursprung des Wunderbrunnens zu Hornhausen bei Halberstadt als hoffnungsvolles Zeichen für die Friedensverhandlungen zwischen Franzosen und Kaiserlichen interpretiert, von denen man hoffte, dass sie nun doch endlich bald mit Erfolg gekrönt würden.33 Der detaillierten Beschreibung der Genese und Wirkung des Hornhauser Brunnens ist eine doppelseitige Illustration beigefügt, die das Treiben um den Wunderbrunnen im Detail darstellt. Nach der Zerstörung und Verwüstung in den langen Kriegsjahren bescherte das plötzliche Erscheinen des Brunnens den Hornhausern ein Wunder: ,,[H]at der Allerhöchste [...] in diesem 1646. Jahr / auch eben an solchem desolat. Vnnd verwüsteten Orth [...] den genandten Heyl: vnd Wunder=Brunnen herfür kommen lassen" (V. 1118). Den Beweis der tatsächlichen Heilkraft des Wunderbrunnens erbringt ein Schäferssohn, der dem fiebernden Sohn einer Dorfgenossin das Brunnenwasser zu trinken gibt; der Junge wird sofort gesund. Weitere Heilungen folgen; der Brunnen wird berühmt. Andere Quellen erscheinen an anderen Stellen; das Wasser ist von unterschiedlichem Geschmack, mal süß, mal salzig, mal sauer. Die durch viele Heilungen bestätigte Wirksamkeit des Wassers wird von Ärzten der Universität Helmstedt bestätigt, die auf Anregen „hoher fürstlicher Personen" das Wasser auf seine Ingredienzen untersuchen. Man findet Schwefel und Salz, wobei Salz nicht nur auf den Körper wirkt, sondern auch „Spirital: und subtile[r]

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„Bey oberwehnten heylsamen Friedensverhandlungen wird sich nicht vngleich fugen / wann wir dieses Orths die grosse Thaten Gottes / welche / bey Eröffnung eines auch sehr heylsamben und kräffiigen Heilbrunnens [...] erhzehlen vnnd preisen" (V. 1117).

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Eygenschaffit" aufweist. Die Erfahrung („Experientz") zeigt, dass beide Mineralien viele schwere Krankheiten heilen, die im Folgenden aufgezählt werden. Damit jedoch nicht genug: Weitere Untersuchungen ergeben, dass das Wasser noch andere heilsame Bestandteile enthält, nämlich Quecksilber, Gold, Silber, Kupfer, Eisen, Zinn und Blei, Salpeter, Schwefel, Alaun, Ammonium, Vitriol, Arsenik, Perlen, Korallen und Edelsteine. Kurz, „alles was sich in der kleinen Welt / nemblich dem Menschen / befindet." Dies bestätigt den Brunnen als „übernatürliches Gnadenwerck" Gottes, ein Wunderwerk paracelsischer Bädermedizin. 34 Die Illustration zeigt zwar nicht die Quellen, aber sie macht klar, dass das medizinische zum wirtschaftlichen Wunder fur die kleine Stadt wird. Viele Menschen aus hohen und niederen Ständen strömen herbei; die Stadt gleicht mit 20.000 Heilungssuchenden einem großen Heerlager, „welches nicht allein in allen noch vberbliebenen Häusern / vnnd Schewern / sondern auch alle Wege / Gassen und Gärten / voller Hütten und Zellten / ja auch endlich gar hinder dem grossen Dorffe / das freye Feld / mit diesem Lager bedeckt worden" (1120). Genau das und mehr zeigt die Abbildung: im Vordergrund Menschen, deren Gebrechen vom Wasser geheilt werden sollen. Unter diesen bewegen sich die Händler, die Lebensmittel herbeischaffen und Unterkünfte versorgen und damit wirtschaftlich von dem Brunnen profitieren. Die ärmlichen Behausungen im Vordergrund; dahinter die Zelte der Reicheren; Männer und Frauen in modischen Kleidern und Hüten, das Durcheinander von Krüppeln, gebeugten Alten, Kranken in Schubkarren, Kutschen der Wohlhabenden, alles das deutet darauf hin, dass der Wunderbrunnen alles Volk zusammenbringt. Krankheit und Heilung, wie zuvor Krieg und Zerstörung, werden Gleichmacher unter den Menschen. Der plötzlich erscheinende Heilbrunnen bedeutet einen Einschnitt im Leben der Hornhauser, der ihr Leben in den vom Krieg zerstörten Überresten ihres Dorfes von Grund auf ändert. Dieses Ereignis kommt in den gedrängten Menschenmassen unterschiedlicher Beschäftigung und gesellschaftlichen Ranges in der Illustration sehr wirkungsvoll zum Ausdruck. Als letztes Beispiel, wie Merian das angestrebte Ideal von Wahrheit und Aufrichtigkeit in der Berichterstattung erfüllt, sei eine Episode aus den langjährigen Auseinandersetzungen mit den Türken vorgestellt. Es handelt sich um eine Seeschlacht im Mittelmeer vor der Insel Malta, deren auslösendes Ereignis die Gefangennahme von Zaffira, Frau des Sultans Ibrahim I, ihrer Begleiterinnen und eines türkischen Aga ist.35 Der Bericht stammt aus einer Relation, die zusammen mit den Bildnissen der Sultanin und ihres Sohnes an den Pariser Hof gesandt worden waren (V. 842). Im Theatrum geht dem Bericht eine längere Auflistung des Kriegsgeschehens voraus, das in dem Jahr 1643 ganz Europa in Mitleidenschaft gezogen hatte. Im Norden und Süden, Osten und Westen, über34

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Makro- und Mikrokosmos (die Große und die Kleine Welt). In: Ole Grell (Hg.): Paracelsus. The man and his reputation, his ideas and their transformation. Leiden u. Boston 1998. Türkischer Offizier oder Beamter. Der Vorfall fand im April 1645 statt. Der Sohn („Padre Ottomano") scheint nicht der legitime Thronfolger gewesen zu sein. Andere Quellen erwähnen Zaffira nicht; die Mutter des jungen „Sultans" erscheint als Amme des legitimen Sohnes, d. h. des legitimen Thronfolgers.

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all wurde gekämpft. „Fast eben solcher Art" wie den Christen geht es den Türken, so beginnt der Bericht. Auch unter ihnen herrscht oft Uneinigkeit und Krieg. Jetzt aber hatten sie sich entschlossen, aus Asien „auszubrechen und mit den Christen den Meister und Garaus zu spielen" (V. 840). Die Beschreibung der Aufstellung des Heeres und der Flotte hat geradezu epische Dimensionen: „Also dass er durch ganz Asiam alle / jhme unterworfifenen Königreich und Provincien / ein geraume Zeit armiert / [...] und eine sehr große Kriegsmacht zu Wasser und zu Lande zusammenbracht." Die Vormauern - das Bild von der Festung Europa entsteht vor dem geistigen Auge des Lesers - will der Sultan „überschwemmen und zerreißen." Aber bevor der türkische Kaiser seinen Plan in die Tat umsetzen kann, stirbt er; die Herrschaft geht an seinen Bruder Ibrahim I (1639/40-1648) über. Dieser tritt an Brudersstelle in den Krieg ein, allerdings aus einem weniger imperialen Grunde. In einem leidenschaftlich-zornigen und selbstbewussten Absagbrief, einem Manifest informiert er die Christen über seine Kriegspläne und Gründe. Er preist nicht nur seine Macht und seine Rolle als „Schrecken und Geysei / aller Christen," sondern verkündet, dass er speziell über die Gefangennahme der Sultanin Zaffira durch die Johanniter so vexiert ist, dass er nicht nur die ganze Christenheit, sondern die ganze Welt in Schrecken versetzen wird: „unser unschätzbare und unaussprechliche Macht / unser Zorn / wegen dessen Verlust unserer Sultanin [...] die ganze Christenheit erkennen und erfahren werde" (V. 842). Wie zu Zeiten Helenas schickt ein schönes Gesicht ganze Flotten in den Krieg. Das dem Brief beigefügte Portrait zeigt Ibrahim I. in Bart und kostbarer Kleidung, den Blick Ehrfurcht gebietend in die Ferne gerichtet. Anders die Abbildungen der Sultanin und ihres Sohnes. Selbstbewusst schaut sie auf den Betrachter. Ihre Kleidung erscheint europäisiert orientalisch; ihre junge Schönheit und elegant lässiger Haltung haben wenig Fremdartiges oder gar Exotischen an sich. Der hutartige Kopfschmuck sitzt leger und ein bisschen schief auf dem hellen (im Gegensatz zu dem schwarzen Sklaven) lockigen, in Zöpfen geflochtenes Haar, das er nur teilweise verdeckt. Kopf- und Körperhaltung und rechte Hand bringen Bewegung in das Porträt, die den durch den direkten Blick hergestellten Kontakt zwischen Bild und Betrachter wirkungsvoll verstärkt. Die Frauen im Bildhintergrund - möglicherweise die „Kebsweiber," die dem Bericht nach mit der Sultanin gefangen genommen wurden - scheinen dem Betrachter „türkischer", d. h. fantasievoll - orientalischer in Kopfbedeckung und Kleidung. Der Sklave, der Körpergröße nach zu urteilen noch ein Kind, ist ebenfalls kostbar bekleidet. Die Exotik der Darstellung liegt hauptsächlich in dieser Figur, deren dunkle Hautfarbe und krauses Haar den Sklaven charakterisiert. Leicht hinter seiner Herrin stehend, ist sein aufmerksamer Blick auf etwas außerhalb des Bildes gerichtet. Die andere Seite des Doppelblattes zeigt den Sohn und Thronfolger, dessen Gesicht dem seiner Mutter sehr ähnelt, europäisiert, hübsch und noch kindlich weich. Seiner Jugend widerspricht sein ausgestreckter Arm und der Zeigerfinger der linken Hand, die auf das Motto auf dem Tuch der Tischbedeckung deuten, „Donec totium impleat (nicht klar GSW) orbem." Die auf die Taille gestützte rechte Hand und der in die Ferne gerichtete

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Blick signalisieren trotz seiner offensichtlichen Jugend Autorität und europäischherrschaftliches Selbstbewusstsein. Die Kostbarkeit der Stoffe entspricht der Lesererwartung von orientalischem Reichtum; der Sklave und die Frauen im Hintergrund vermitteln den Eindruck von verhaltenem, doch exotischem Luxus. Die drei Porträts vereinen sich zu einem Familienbild, das der im siebzehnten Jahrhundert gängigen, oft wiederholten Beschreibung von dem grausamen, Frauen schändenden und kindermordenden Türken das Bild einer europäisierten Herrscherfamilie entgegenhält, deren Oberhaupt, ganz im Stil europäisch-sentimentaler Dichtung aus Rache fur den Verlust seiner Lieblingsfrau einen Krieg beginnt. Wir wissen nicht, ob dem Illustrator eine Vorlage zur Hand war oder ob alle drei Bilder der Vorstellung des Künstlers entspringen. Das ist in unserem Zusammenhang auch nicht wichtig. Offensichtlich wurde mit der Art, wie der Türkenherrscher und seine Familie dem Leser vorgestellt werden, sowohl das Fremde als auch das Vertraute der anderen Kultur klar gemacht. Die Tatsache, dass ihnen Wort und Bild gewidmet wurden, signalisiert das verlegerische Interesse an dieser spannenden Geschichte. Es stellt sich bei näherem Betrachten heraus, dass die Fakten sicher aufrichtig berichtet, aber im Großen und Ganzen verdreht, sogar falsch, dargestellt sind. Der 1669 veröffentlichte Bericht von „Den drei Schwindlern" macht aus der Geschichte keinen großen Krieg, sondern eine, wenn auch sultanatische, Intrige, an der die Suitana, eine Amme, der ungeliebte Thronfolger, der von dem Sultan sehr geliebte Ammensohn und ein Hofbeamter, der genannte Aga beteiligt und in ein Familiendrama verwickelt sind. 36 Dies führt zum Schluss dahin, dass die eifersüchtige Suitana den Sultan dazu bringt, dass er Aga, Amme und Sohn mit acht Schiffen nach Alexandria schickt. Diese Flotte, die Schätze des Aga, seine Frauen und Sklaven, die Amme und ihr Sohn fielen in die Hände der Malteser. Der Aga wurde freigelassen; nach seiner Rückkehr nach Kairo wurde er ein hoher Würdenträger von großer politischer und geistlicher Berühmtheit. Der Sohn der Amme wurde von den Maltesern als ottomanischer Prinz ausgegeben und maltesisch erzogen. Als Dominikaner erreichte er unter dem Namen Padre Ottomano einige Berühmtheit. Der erzürnte Ibrahim richtete seine Rachegelüste nicht gegen die Malteser, sondern gegen die Venezianer, gegen Kreta, nicht gegen Malta. Die 1644 begonnen Auseinandersetzung zwischen Venedig, den Maltesern und dem Türken fand erst 1669 mit dem Rückzug der Malteser aus Kreta ein Ende. Zu dieser Zeit war Merian schon lange tot. Zum Abschluss ist zu fragen, ob Merian seiner selbst gestellten Aufgabe, die „historische Geschichte einfaltig an den Tag zu stellen," gerecht werden konnte. Hat er die „blosse Warheit," die „Seel der Geschichte" in aller Aufrichtigkeit dargeboten? Der Aufmachung und den Berichten nach zu urteilen, hat er keine 36

Evelyn John: The histoiy of the three late famous impostors. Viz. Padre Ottomano [...] With a brief accound of the ground and the occasion of the present war between the Turk and the Venetian. Savoy 1669, S. 9-11; Jason Goodwin: Lords of the Horizon: A Histoiy of the Ottoman Empire. London 1998, S. 225 f.; Joseph von Hammer-Purgstall: Geschichte des Osmanischen Reiches. Band 5. Graz 1963, S. 362 f.

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Mühen gescheut, alle denkwürdigen Sachen zu Papier zu bringen („alle Dokumenta [...] beydes in unser Mutter= und auch anderen Sprachen / [...] ängstiglich und mühsamb durchkrochen"). Auch kann ihm nicht unterstellt werden, dass er sich nicht, soweit als möglich, aller Parteilichkeit enthalten hat. Und doch wird klar, dass, wenn auch die Auswahl und Präsentation der Tatsachen unter Merians Kontrolle standen, Wort und Bild zusammen mehr und anderes vermitteln, als der Druck allein. Bild und Text widersprechen keinesfalls dem Aufrichtigkeitsund Wahrheitsanspruch Merians. Beim Lesen und Betrachten wandeln sich nicht die Fakten, es wandelt sich ihre Aufnahme durch den Leser. Außerdem führt die Wahl der Quellen nicht immer zur Wahrheit der berichteten Tatsachen, wenn auch die Aufrichtigkeit der Berichterstattung nicht infrage gestellt werden kann. Dieser allen historischen Texten potentiell inhärente Konflikt ist es wert, im Kontext des zeitlich und geschichtlich monumentalen Theatrums am Werk als Ganzes überprüft zu werden. Wenn sich Merian auch dagegen wehrt, Geschichte als Universalgeschichte zu schreiben, so liefert sein Werk doch „der lieben Posterität und Nachkömmlingen" vieles, was „nutz / lieb und werth" ist; d.h., das Theatrum wird durch die Unmittelbarkeit der Berichterstattung eine Fundgrube für den Historiker, die gerade wegen Merians Bemühen sich der „Parteylichkeit unnd eigenes Urtheils [zu] enthalten," lesenswert bleibt.

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