203 84 101MB
German Pages 367 [368] Year 1996
MEDIEN IN FORSCHUNG + UNTERRICHT Serie A Herausgegeben von Dieter Baacke, Wolfgang Gast, Erich Straßner in Verbindung mit Wilfried Barner, Hermann Bausinger, Helmut Kreuzer, Gerhard Maletzke Band 41
Gerd Fritz I Erich Straßner (Hgg.)
Die Sprache der ersten deutschen Wochenzeitungen im 17.Jahrhundert
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Sprache der ersten deutschen Wochenzeitungen im 17. Jahrhundert / Gerd Fritz/Erich Strassner (Hgg.). - Tübingen: Niemeyer, 1996 (Medien in Forschung + Unterricht: Ser. A ; Bd. 41) NE: Fritz, Gerd [Hrsg.]; Medien in Forschung + Unterricht / A ISBN 3-484-34041 -X
ISSN 0174-4399
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Hugo Nadele, Nehren
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
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(Gerd Frifz, Thomas Schröder, Erich Straßner) 1.1 Das neue Medium aus presse- und sprachhistorischer Sicht
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1.2 Zum Stand der Forschung
4
1.3 Fragestellungen und Ergebnisse im Überblick
5
1.4 Methodische Prinzipien, Verfahren und Probleme 1.4.1 Die integrative Betrachtung von journalistischen Handlungsformen und sprachlichen Mitteln 1.4.2 Strukturelle, interpretative und quantitative Methoden . . . 1.4.3 Textvergleich 1.4.4 EDV-Einsatz 1.4.5 Corpusauswahl
11 11 14 15 15 16
1.5 Berichtsmedien um 1600
17
1.6 Kurzporträts der untersuchten Zeitungen
22
1.6.1 1.6.2 1.6.3 1.6.4 2.
Aviso (1609) Relation (1609 und 1667) Ordentliche Wöchentliche Post-Zeitungen (1667) Nordischer Mercurius (1667)
22 25 27 27
Bestandsaufnahme zum Untersuchungsbereich »Textstruktur, Darstellungsformen und Nachrichtenauswahl« 29 (Jens Gieseler, Thomas Schröder)
2.1 Einleitung
29
2.2 Textstruktur
32
2.2.1 Die Zeitung als Sammlung von Korrespondenzen
33
VI 2.2.2 Die Korrespondenz als Sammlung von Beiträgen 2.2.3 Parallelberichterstattung 2.3 Nachrichtenauswahl 2.3.1 Schwerpunkte der Berichterstattung 2.3.2 Thematische Struktur 2.3.3 Personelle Struktur 2.4 Nachrichtendarstellung 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5
3.
34 36 41 42 45 48 49
Mitteilungsumfang Bewertung und Kommentierung Redewiedergabe und der Umgang mit Quellen Zusammenhänge zwischen Beiträgen Typische Formen der Beitragsgestaltung
51 54 58 63 66
Bestandsaufnahme zum Untersuchungsbereich »Syntax« (Ulrike Demske-Neumann, Anhang: Kari Keinästö)
70
3.1 Einleitung
70
3.2 Die Kompositionsstruktur der frühen Zeitungen
72
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Kohäsive Mittel zur Beitragskonstitution Die Beiträge als Sammlung von Nachrichten Der Zusammenhang mit der thematischen Struktur Die Syntax funktionaler Bestandteile
3.3 Die komplexe Syntax nominaler Konstituenten 3.3.1 Zur Entwicklung des Nominalstils 3.3.2 Erweiterte Adjektiv- und Partizipialattribute 3.3.3 Nominalkomposita 3.4 Der Einfluß stilistischer und dialektaler Faktoren am Beispiel von Stellungsregularitäten im Verbalkomplex 3.4.1 Die frühneuhochdeutschen Daten 3.4.2 Stilistische und dialektale Variation 3.5 Anhang: Zur Syntax der UNG-Substantive
74 78 87 94 102 102 103 109 115 115 121 126
4.
Bestandsaufnahme zum Untersuchungsbereich »Wortschatz« 141 (Thomas Gloning)
4.1 Einleitung: Fragestellungen und Methoden
141
4.2 Funktionaler Wortschatz (Sprachliche Mittel des Textaufbaus) . 142 4.2.1 Sprachliche Mittel der Referenz (Bezugnahme auf Gegenstände) 4.2.2 Ereignisbezeichnungen 4.2.3 Ortsangaben 4.2.4 Zeitangaben 4.2.5 Mittel zur Kennzeichnung des Quellenbezuges 4.2.6 Wiederaufnahmen und Querverweise 4.2.7 Hinweise zur Nachrichtenlage 4.2.8 Bewertungs- und Kommentierungsausdrücke 4.2.9 Meldungsverknüpfung und Wiederaufnahme 4.3 Thematischer Wortschatz und Fachsprachenbezug 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.3.6 4.3.7
Thematische Organisation des Wortschatzes Wortschatz der politischen Berichterstattung Wortschatz der Militärberichterstatrung Wortschatz der Hofberichterstattung Handel, Seefahrt, Kirche, Medizin Quantitative Aspekte Fachsprachenbezug
4.4 Fremdwortschatz und Fremdwortgebrauch
143 145 146 147 148 151 152 152 153 157 158 158 159 160 161 162 163 164
4.4.1 Fremdwortbestand 4.4.2 Typen fremdsprachiger Lexik 4.4.3 Fremdsprachiger thematischer bzw. funktionaler Wortschatz 4.4.4 Herkunft fremdsprachiger Lexik 4.4.5 Erstbelege, frühe Belege, Altersschichtung
170 174 176
4.5 Prinzipien der Berichterstattung und ihr Niederschlag im Wortschatz
180
4.5.1 Komprimierung
165 169
180
vm 4.5.2 Überregionalität 4.5.3 Authentizität und Personalisierung
181 182
4.6 Entwicklungsgeschichte und Profil von Einzelzeitungen
183
4.7 Der Wortschatz und seine Verbuchung
186
5.
4.7.1 Erstbelege, Frühbelege, selten belegte Wörter 4.7.2 Aktualität als Grundlage für Erst- und Frühbelege 4.7.3 Lexikalische Dokumentation
186 191 193
Zur Vorgeschichte von Darstellungsformen und Textmerkmalen der ersten Wochenzeitungen
196
(Thomas Gloning) 5.1 Einleitung
196
5.2 Nachrichten in Briefen und ihre Verselbständigung
198
5.3 Darstellungsformen und Textmerkmale
212
5.3.1 Der Ausbau elementarer Mitteilungen durch Quellenkennzeichnung 213 5.3.2 Querverweise 217 5.3.3 Verknüpfungsmittel 219 5.3.4 Hinweise zur Informationslage und Hinweise auf Folgeberichterstattung 220 5.3.5 Formen der Textorganisation durch Überschriften 221 5.3.6 Form und Verwendung von Marginalien 229 5.3.7 Darstellungsformen und thematische Schwerpunkte . . . . 235 5.3.8 Thematische Wortschätze 237 5.3.9 Syntaktische Muster der Berichterstattung 239 5.4 Die Korrespondenten als Vermittler von Schreibtraditionen.... 244 5.4.1 Die Entwicklung der Berichterstattung in den Briefen von Christof Scheurl 5.4.2 Die Mehrsprachigkeit der Berichterstatter 5.4.3 Kanzleien und Kontore - Die Rolle der Geschäftssprache 5.4.4 Gibt es eine zeitgenössische Schreiblehre für Korrespondenten?
245 251 254 256
IX
6.
Vom Nutzen und richtigen Gebrauch der frühen Zeitungen Zur sogenannten Pressedebatte des 17. Jahrhunderts (Jens Gieseler)
259
6.1 Einleitung
259
6.2 Die wichtigsten Pressekritiker
260
6.3 Zeitungen aus der Sicht der frühen Pressekritiker
262
6.4 Für und wider die Zeitungen
263
6.4.1 Die Neugier der Leser 6.4.2 Der Nutzen der Zeitungen 6.5 Die Prinzipien der frühen Berichterstattung 6.5.1 Wahrheit: »Redliche Anzeige und unverfälschte Nachricht« 6.5.2 Relevanz: »Denn was gehet mich an?« 6.5.3 Verständlichkeit: »Eine reine, teils eine klare und kurze Sprache« 6.5.4 Aktualität: »Neue Sachen sind und bleiben angenehm« .. 6.5.5 Informativität: »Sechs bekannte Umstände« 6.5.6 Kommentarlosigkeit: »Unzeitgemäßes Urteil«
263 265 268 268 276 277 280 281 283
6.6 Ausblick
285
7.
286
Maximen des Informierens (Thomas Schröder)
7.1 Einleitung
286
7.2 Aktualität
287
7.3 Relevanz
289
7.4 Informativität
293
7.5 Wahrheit
297
7.6 Unparteilichkeit
306
8.
Verständlichkeit und Verständnissicherung in den frühen Wochenzeitungen (Thomas Gloning)
315
8.1 Einleitung
315
8.2 Textgestalt der Zeitungen, Verstehensvoraussetzungen und mögliche Verstehensprobleme
316
8.3 Verständnisfördernde Maßnahmen der Berichterstatter und die Verständnismöglichkeiten von Lesern
328
8.4 Die Verständlichkeit der frühen Zeitungen: Versuch einer zusammenfassenden Beurteilung
339
Literatur
341
Quellen
341
Sekundärliteratur
347
1.
Einleitung
1.1 Das neue Medium aus presse- und sprachhistorischer Sicht Im Jahre 1609 erscheinen die ersten uns erhaltenen gedruckten Wochenzeitungen, der Wolfenbüttler »Aviso« und die Straßburger »Relation«. Damit beginnt eine neue Phase im Zeitungswesen, die pressegeschichtlich ebenso bedeutsam ist wie sprachgeschichtlich. Aus pressegeschichtlicher Sicht ist es vor allem die Kombination folgender Charakteristika, die das neue Nachrichtenmedium in der Medienlandschaft der Zeit hervorstechen läßt: Die Publizität, im Gegensatz zu privaten oder doch exklusiv vertriebenen Nachrichtenbriefen, die Periodizität, im Gegensatz zu den Berichten über Einzelereignisse, wie sie seit Beginn des 16. Jahrhunderts in sogenannten Neuen Zeitungen erscheinen, die Aktualität, im Gegensatz zu den seit 1583 erscheinenden Meßrelationen, die jeweils zur Frühjahrs- oder Herbstmesse herausragende Ereignisse des vorhergehenden Halbjahres zusammenstellen, die Universalität der Berichtsgegenstände, im Gegensatz zu den Neuen Zeitungen, und die gedruckte Form, im Gegensatz zu den handschriftlichen Zeitungsbeilagen in Briefen oder Nachrichtenbriefen. Diese Eigenarten, die auch heute als Definitionskriterien für die Zeitungen gelten, haben Konsequenzen sowohl für den inhaltlichen Aufbau der Berichterstattung der frühen Zeitungen als auch für die darin angewendeten journalistischen Handlungsformen. Beide Aspekte der ersten Zeitungen sind bisher noch nicht systematisch erforscht. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht sind die frühen Zeitungen unter verschiedenen Aspekten von Bedeutung: als Gegenstand der Textsortengeschichte, als Gegenstand der Geschichte sprachlicher Strukturen (z.B. der historischen Syntax und der historischen Wortschatzforschung) und als Gegenstand der historischen Verbreitungs- und Standardisierungsforschung (z.B. im Zusammenhang der Frage nach der Entstehung einer überregionalen deutschen Schriftsprache).
Textsortengeschichtlich kann man zunächst feststellen, daß das neue Medium einem zunehmend breiteren Publikum Berichtstexte in einer bisher nicht gekannten quantitativen Häufung und mit deutlichen Ansätzen zur Standardisierung der Darstellungsformen präsentiert. Wir können hier also zweifellos eine wichtige Phase in der Textsortengeschichte annehmen, deren genauer Stellenwert aber präzise bestimmt werden muß. Dazu bedarf es einer detaillierten Erfassung der Formen der Textkonstitution und der für das Erscheinungsbild der Zeitungstexte charakteristischen sprachlichen Formen, insbesondere der für die funktionalen Aufgaben der Zeitungsberichterstattung spezifischen syntaktischen und lexikalischen Mittel. Gleichzeitig muß man sich, um die Spezifik des neuen Mediums beurteilen zu können, die gebräuchlichen Formen der Berichterstattung zu Ende des 16. Jahrhunderts vor Augen führen, die in den oben erwähnten Medien (geschriebene Zeitungen, Neue Zeitungen, Meßrelationen) präsent waren. Die besonderen kommunikativen Aufgaben der Zeitungsberichterstattung verlangten den Einsatz von geeigneten sprachlichen Mitteln. Dies führt zu einem quantitativ auffallenden Auftreten bestimmter grammatischer und lexikalischer Erscheinungen, so daß die Zeitungen für viele sprachliche Phänomene eine Fundgrube und frühe Belegbasis abgeben, die unser Bild vom Stand der Entwicklung dieser sprachlichen Formen im 17. Jahrhundert in vielfältiger Weise bereichern. Das gilt, um nur einige Beispiele zu nennen, für die Struktur der Satzgefüge, den Ausbau der Nominalphrase, Nominalisierungen, manche Aspekte des Verbalkomplexes, Funktionsverbgefüge und andere Streckformen, den funktionalen Wortschatz des Berichtens, den Bestand der Modalverben, den Bestand an thematischem Fachwortschatz und den Fremdwortbestand. Damit sind die Zeitungen ein wichtiger Teil des uns zugänglichen Fundus an Quellen für die Geschichte des Frühneuhochdeutschen, speziell der Entwicklung der neuhochdeutschen Schriftsprache. Sie sind ein Quellentypus sui generis, der im Vergleich zu Privatbriefen, Verwaltungstexten, Fachtexten und literarischen Werken - bei aller Heterogenität im einzelnen - eine eigene Ausprägung schriftsprachlicher Texte auf einer mittleren Stufe der Formalität zeigt. Aufgrund ihres breiten Publikums können die Zeitungen darüber hinaus als eine bedeutende Verbreitungsinstanz für sprachliche Neuerungen bzw. für in ihren Texten
bevorzugte Formen gelten, besonders im Bereich des Wortschatzes, aber auch im Bereich der Syntax. Die sprachhistorische Bedeutung der frühen Zeitungen ist spätestens seit den Arbeiten von Mackensen bekannt, der vielfältige Einzelbeobachtungen zur sprachlichen Form der Zeitungen mitteilte und auf Forschungsdesiderate hinwies (Mackensen 1958, 1961,1964). Diese Bedeutung und die damit verbundenen Forschungsaufgaben sind auch später immer wieder hervorgehoben worden (Besch 1980,591 f.; Straßner 1984; Simonow 1987). Obwohl also seit geraumer Zeit bekannt war, daß die Zeitungen eine wertvolle Quelle für das Verständnis der deutschen Schriftsprache des 17. Jahrhunderts sein könnten, fehlte es bis vor wenigen Jahren an umfangreicheren speziellen Untersuchungen zu diesem Thema. Dieser Mangel wurde auch deshalb besonders deutlich, weil sich in den letzten Jahren zunehmend die Auffassung durchsetzte, daß erst die Kenntnis der Besonderheiten unterschiedlicher Textsorten ein realistisches Bild von der Entwicklung der deutschen Schriftsprache ermöglicht (vgl. Steger 1984; Betten 1990). Um diese Forschungslücke wenigstens teilweise zu schließen, wurde die systematische Untersuchung der Entstehung und Entwicklung der Zeitungssprache im 17. Jahrhundert zum Gegenstand eines Projekts gemacht, das die DFG in den Jahren 1987-1992 an der Universität Tübingen förderte.1 In diesem Projekt wurden für ausgewählte Zeitungen der Jahrgänge 1609 und 1667 sowie für verschiedene Arten von Vergleichstexten die drei Bereiche »Textstruktur, Darstellungsformen, Nachrichtenauswahl«, »Syntax« und
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Das Projekt wurde geleitet von H.-J. Bucher, G. Fritz, M. Muckenhaupt und E. Straßner. Als wissenschaftliche Mitarbeiter waren in den verschiedenen Arbeitsbereichen tätig: Th. Schröder,]. Gieseler (Textstruktur, Darstellungsformen, Nachrichtenauswahl), U. Demske-Neumann (Syntax), Th. Gloning (Wortschatz). Im Arbeitsbereich »Syntax« konnten wertvolle Anregungen durch die Zusammenarbeit mit unseren finnischen Kollegen J. Korhonen und K. Keinästö gewonnen werden. Nicht namentlich erwähnt werden können hier die zahlreichen studentischen Hilfskräfte, deren Unterstützung bei vielen Detailarbeiten eine große Hilfe war. Unser besonderer Dank gilt Frau D. Schlauch, die in der Verwaltung und Organisation des Projekts unersetzlich war. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danken wir für ihre großzügige Unterstützung unserer Arbeit.
»Wortschatz« untersucht. Der vorliegende Band dokumentiert in Grundzügen die Ergebnisse dieser Projektarbeit.2
1.2 Zum Stand der Forschung Wie schon angedeutet, waren bei diesem sprachwissenschaftlichen Projekt spezielle Vorarbeiten nur sehr beschränkt verfügbar. Schon erwähnt wurden die Arbeiten von Mackensen. Hervorzuheben ist die in Deutschland weitgehend unbekannt gebliebene Untersuchung von Semenjuk 1972, in der die Autorin frühe Zeitungen - vor allem Aviso und Relation - mit funktionalstilistischen Methoden analysiert, die sowohl zum Textaufbau als auch zur Syntax wertvolle Beobachtungen erbringen (vgl. nun Semenjuk 1995). Neben dieser Arbeit und der Untersuchung Admonis zu Relationen vom Ende des 17. Jahrhunderts (Admoni 1980) finden sich zur Syntax der frühen Berichtsmedien in der Literatur nur verstreute Einzelbeobachtungen und allgemeine Charakterisierungen (z.B. Straßner 1984; Sandig 1986). Zum Wortschatz periodischer Zeitungen gibt es Arbeiten von Kinnemark (1964a,b), zu Neuen Zeitungen und periodischen Zeitungen Arbeiten von Simonow (1979; 1987). Zum Fremdwortproblem sind die Untersuchungen von Jones und Brunt zu nennen, die als Teil ihres Gesamtcorpus auch Zeitungsmaterial heranziehen. Im Zusammenhang der Fremdwortfrage werden die Zeitungen auch in Sprachgeschichten erwähnt (z.B. Tschirch 1969, Bd. , 111 f.; 2
Die Einschränkung auf die genannten Arbeitsbereiche geht einerseits zurück auf Erwägungen zur Arbeitsökonomie, sie hat andererseits aber vor allem zwei positive Gründe: 1. In diesen Arbeitsbereichen bestanden besonders gravierende Desiderate. 2. Für diese Arbeitsbereiche ließ der hier praktizierte methodische Zugriff der integrativen Betrachtungsweise besonders gute Ergebnisse erwarten. Aus dieser Einschränkung sollte man aber nicht schließen, daß die Zeitungen nicht auch interessantes Material für andere Beschreibungsebenen liefern könnten. Im Gegenteil: Eine Untersuchung der interessanten Formen der graphematischen und morphologischen Variation in den Zeitungstexten erschiene uns durchaus lohnend. Über den vorliegenden Band hinaus sind Beiträge zum thematischen Umfeld des Projekts von verschiedenen Projektleitern und Projektmitarbeitern erschienen (vgl. Kap. 1.2). Für die Arbeitsabschnitte 1987/1989 und 1989/1991 liegen jeweils ausführliche Projektberichte vor.
Wells 1990, 305). Für den notwendigen pressehistorischen Hintergrund und speziell für den Arbeitsbereich »Textstruktur, Darstellungsformen, Nachrichtenauswahl« konnte auf Arbeiten aus der Publizistikwissenschaft zurückgegriffen werden. Vielfältige Fakteninformation bieten die eher materialorientiert-deskriptiven Arbeiten der älteren zeitungswissenschaftlichen Forschung, z.B. Grasshoff 1877 und Kleinpaul 1930 zu den geschriebenen Zeitungen, Roth 1914 zu den Neuen Zeitungen. Der Bestandsaufnahme der erhaltenen Zeitungstexte aus dem 17. Jahrhundert dienen Arbeiten aus dem Institut für Presseforschung in Bremen, vor allem Bogel/Blühm 1971. Blühm behandelt in zahlreichen Schriften die Entstehung und Entwicklung der Presse im 17. Jahrhundert in ihren politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Daneben ist Welke 1976 eine nützliche Quelle für die Kenntnis der Bedingungen und Möglichkeiten der Nachrichtenverbreitung im 17. Jahrhundert. Für die Frage des Themenbestandes ist aus der Publizistikwissenschaft die inhaltsanalytische Untersuchung von Wilke 1984 eine wichtige Vergleichsuntersuchung. Methoden computerunterstützter Textanalyse wurden von Ries für die vergleichende Untersuchung der Zusammenhänge zwischen verschiedenen Zeitungen erprobt (Ries 1977). Im ganzen gesehen war das Projekt unter seinen spezifischen Fragestellungen jedoch Pionierarbeit. Aus dem Projekt und seinem Umfeld sind bisher folgende Publikationen hervorgegangen: Demske-Neumann 1990; Fritz 1990; 1991; 1992; 1993; Fritz/Gloning 1991; Gloning 1991; Keinästö 1991; Korhonen 1988; 1990; Schröder 1991; 1995. Th. Gloning bereitet eine größere Arbeit zum Wortschatz der ersten deutschen Zeitungen vor.
1.3 Fragestellungen und Ergebnisse im Überblick Beim gegenwärtigen Stand der Forschung mußte das erste Ziel der Projektarbeit eine detaillierte Bestandsaufnahme der sprachlichen und textlichen Charakteristika der von uns ausgewählten frühen Zeitungen sein. Diese Bestandsaufnahme war der Arbeitsschwerpunkt des Projekts und nimmt auch im vorliegenden Band wesentlichen Raum ein. Gleichzeitig eröffnet die Bestandsaufnahme in der Form von zwei synchronischen Schnitten (1609/1667) die Möglichkeit einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive. Entwicklungsgeschichtlich stellen sich primär zwei
Fragen: »Wie entsteht das spezifische sprachliche Erscheinungsbild der periodischen Zeitungen?« und »Wie entwickelt sich dieses sprachliche Erscheinungsbild?« Für die Entstehungsfrage sind die entscheidenden Hinweise aus dem Umfeld der Berichtsmedien im 16. und frühen 17. Jahrhundert zu gewinnen (vgl. Kap. 1.5). Textvergleiche im Hinblick auf die typischen funktionalen Bausteine der Zeitungsberichterstattung lassen Schlüsse auf mögliche Traditionslinien zu. Gleichzeitig muß man aber auch jenseits der Berichtsmedien - andere textliche und fachliche Bezugsbereiche (Urkunden und andere Verwaltungsfachtexte, Militärfachtexte usw.) in Betracht ziehen, wenn man mögliche Quellen syntaktischer und lexikalischer Mittel zu fassen bekommen will. Die Entwicklungsfrage läßt sich weitgehend zeitungsintern bearbeiten. Zu diesem Zweck wurde ein Vergleich zwischen Zeitungen von 1609 und 1667 durchgeführt. Wenn wir sagen »weitgehend zeitungsintern«, so ist damit primär das relevante Vergleichscorpus gemeint. Dagegen sind auffallende Veränderungen sehr wohl durch Einflüsse »von außen« zu erklären, z.B. durch den steigenden Bedarf an Hofberichterstattung und durch die Verstärkung des französischen Einflusses in vielen Bereichen. Ausgehend von den genannten Zentralfragen ließen sich nun Fragestellungen unterschiedlicher Detailliertheit entwickeln, die die Untersuchung im einzelnen leiteten. Im folgenden sollen nun einige übergreifende Fragestellungen kurz skizziert werden. Die Detailuntersuchungen, die den hier in knappem Umriß gegebenen Antworten zugrundeliegen, werden in der Bestandsaufnahme und in den Fallstudien ausführlicher dargestellt. Die Leitfrage für die Bestandsaufnahme lautete: Gibt es ein spezifisches Erscheinungsbild der frühen Zeitungen, vielleicht eine »Zeitungssprache«, und wie läßt sich gegebenenfalls dieses Erscheinungsbild beschreiben? Der erste Eindruck, den eine kursorische Lektüre der Zeitungen hinterläßt, ist der der Heterogenität auf allen Beschreibungsebenen: Uneinheitliche Textsorten - falls man hier überhaupt schon von Textsorten sprechen kann - und thematisches Durcheinander, vielfältige Abstufungen der syntaktischen Komplexität, wechselnde Konzentration von Fach- und Fremdwörtern usw. Bei differenzierter Betrachtung zeigt sich aber eine gewisse Ordnung in der Heterogenität. Unter den vielfältig unterschiedenen Texten finden sich Familienähnlichkeiten, so daß man zwar nicht von einem gefestigten System von Textsorten, wohl aber von
einer Textsortendifferenzierung in statu nascendi reden kann: So lassen sich z.B. kurze Meldungen, ausführlichere Ereignisdarstellungen, Berichte und Dokumentenwiedergaben unterscheiden. Die zentralen Themen in den verschiedenen Berichtsregionen zeigen eine starke Kontinuität. Bestimmte funktionale Bausteine, wie z.B. Quellenangaben, Querverweise und Vorausdeutungen kommen häufig vor, so daß die dafür verwendeten syntaktischen und lexikalischen Mittel quantitativ auffallen. Stufen der syntaktischen Komplexität verteilen sich in charakteristischer Form auf die unterschiedlichen Textformen: Kurzmeldungen zeigen im allgemeinen einen weitaus geringeren Hypotaxenkoeffizienten als die Kanzleidokumente in Dokumentenwiedergaben - um nur ein Beispiel zu nennen. Der Fach- und Fremdwortschatz für bestimmte Themen zeigt charakteristische Konzentrationen in Korrespondenzen aus bestimmten Regionen. Diese Aspekte der Ordnung im sprachlichen Erscheinungsbild der Zeitungen werden in den Beiträgen zur Bestandsaufnahme näher bestimmt. Eine Fragestellung, die bei den ersten Zeitungen naheliegt, geht aus von der Vermutung, daß ein neues Medium in vielerlei Hinsicht für Innovationen offen ist. Dafür könnten viele Detailbeobachtungen der Art sprechen, wie sie zum Teil schon von Mackensen gemacht wurden (z.B. Mackensen 1964, 163): Man findet in den Zeitungen z.B. frühe Belege für Funktionsverbgefüge, für erweiterte Partizipialattribute, für Fach- und Fremdwörter usw. Wer sich eine einfache Bestätigung der Innovationshypothese erhofft, wird allerdings schnell enttäuscht. Bei genauer Betrachtung wird das Bild sehr differenziert. Es ist richtig, daß man in den Zeitungen Fremdwortbelege findet, die vor den Erstbelegen der vorliegenden Wörterbücher liegen. Aber es ist ebenso richtig, daß man in vielen Fällen hinter die Zeitungen zurückgehen und in Fachtexten noch frühere Belege finden kann. Der innovative Charakter der Zeitungen erweist sich in diesen Fällen als eine durch den Stand der Forschung erzeugte Fiktion. Was bleibt, ist die schwächere Position, daß die Zeitungen sich in diesen Fällen durch frühe Übernahme aus der Fachsprache auszeichnen und damit als Verbreiter in die Gemeinsprache gelten können. Vergleichbares kann man für die Syntax sagen, wobei entscheidend die erwähnte Beobachtung ist, daß Merkmale wie syntaktische Komplexität auf die unterschiedlichen Texttypen der Zeitungen ganz unterschiedlich verteilt sind. Zur Frage der Textsorten selbst könnte man pointiert sagen, daß es keine Variante aus dem Spektrum von
8 Textformen in den periodischen Zeitungen gibt, die nicht in irgendeiner Weise in den anderen Berichtsmedien der Zeit präsent ist. Das Spezifikum des neuen Mediums liegt also nicht in der Einführung neuer Textformen, sondern in einer charakteristischen Konstellation von schon bekannten Textformen, die auf die besondere Produktionsweise der periodischen Zeitungen zurückzuführen ist. Eine zweite Frage zur Genese der Zeitungssprache betrifft einen anderen Bezugsbereich als die schon etablierten Formen der Berichterstattung. Es ist die Frage nach der Abhängigkeit von der Kanzleisprache. Bei der Beantwortung dieser Frage zeigt sich besonders klar, daß man die verschiedenen Textsorten der Zeitungen getrennt betrachten muß. Die Hypothese, daß sich die Zeitungen eng an Kanzleitraditionen anschließen, ist für die Wiedergabe von Dokumenten trivialerweise zutreffend, denn die wiedergegebenen Dokumente sind zumeist Kanzleitexte. Auch für die eigentlichen Berichtstexte lassen sich gewisse Verwandtschaften mit Kanzleitexten zeigen, z.B. die Häufigkeit von afiniten Konstruktionen, die als ein Merkmal der Kanzleisprache der Zeit gelten, oder das häufige Auftreten von Querverweisausdrücken des Typs abgedacht. Aber in so grundlegenden Eigenschaften wie der Zahl der untergeordneten Sätze pro übergeordnetem Satz und der Einbettungstiefe von untergeordneten Sätzen unterscheiden sich die Berichtstexte eben zumeist von typischen Kanzleidokumenten. Der Ausbau der Satzgefüge konzentriert sich auf das Nachfeld der übergeordneten Strukturen, und statt der kanzleitypischen Formen der syntaktischen Verschachtelung finden sich häufig sogenannten weiterführende Nebensätze (vgl. Demske-Neumann 1990). Die Kanzleihypothese für die Zeitungssyntax ist also nur eingeschränkt gültig. Eine - partielle - Gegenthese läßt sich aber gar nicht bestätigen, nämlich die These von der Nähe zur Sprechbzw. Umgangssprache (vgl. Mackensen 1958,150-156; Mackensen 1964, 158). Elemente wie bestimmte Redewendungen, die man als umgangssprachlich auffassen könnte, spielen eine völlig untergeordnete Rolle, und die Syntax steht zweifellos in (verschiedenen) schriftsprachlichen Traditionen. Hier schließt sich direkt die Frage nach der Verständlichkeit oder Unverständlichkeit der Zeitungen an. Schon Zeitgenossen beklagen einen hohen Fremdwortanteil und den mangelnden Zusammenhang der Einzelmeldungen als verständnishindernde Faktoren. Andererseits läßt die Beliebtheit und große Verbreitung der Zeitungen darauf schließen,
daß entweder die Verstehensprobleme für viele Leser nicht gravierend waren, oder aber, daß sich viele Leser/Hörer mit partiellem Verstehen zufriedengaben. Im Bereich der Syntax dürften - nach heutigen Maßstäben - die eigentlichen Berichtstexte im allgemeinen keine großen Leseschwierigkeiten bereitet haben. Für den Bereich des Wortschatzes läßt sich zum einen feststellen, daß die periodischen Zeitungen durchschnittlich einen eher geringeren Fremdwortanteil zeigen als z.B. die Neuen Zeitungen, zum anderen war der hohe Anteil an Wörtern lateinischen und französischen Ursprungs für gebildete Leser - und diese Gruppe dürfte einen beträchtlichen Teil der Leserschaft ausgemacht haben - wohl kein unüberwindliches Problem. Wenn man allerdings die Möglichkeiten der expliziten Verständnissicherung betrachtet, die in anderen zeitgenössischen Medien verfügbar waren (thematische Überschriften, Marginalien, Worterklärungen, Glossare usw.), so ist bei den periodischen Zeitungen - mit geringfügigen Ausnahmen - der Befund eindeutig, daß keine nennenswerten Anstrengungen zu leserfreundlicher Textgestaltung unternommen wurden. Wir können annehmen, daß es vor allem Faktoren auf der Leserseite waren, die trotz der bekannten Probleme ein ausreichendes Verständnis ermöglichten. Durch kontinuierliche Lektüre konnte der Leser ein Wissen aufbauen, das ihm den Überblick über thematische Zusammenhänge eröffnete. Dazu konnte der eingeschränkte Kanon von regelmäßig erscheinenden Ereignistypen ebenso beitragen wie die Kontinuität der Berichtsgegenstände in bestimmten Berichtsregionen (z.B. der Ständekonflikt in der Berichterstattung aus Prag und Wien). Wilke (1984) stellt für die von ihm untersuchte Zeitung von 1622 eine Stereotypie der Berichtsgegenstände fest. Wie eben schon angedeutet, läßt sich dieser Befund im wesentlichen auch für die von uns untersuchten Zeitungen verifizieren. Es ist zwar richtig, daß die periodischen Zeitungen eine Vielfalt von Themenbereichen abdecken. Jedoch gibt es zum einen einen übergewichtigen thematischen Schwerpunkt im Bereich der politischen Berichterstattung, und zum ändern gibt es innerhalb der Themenschwerpunkte ein relativ kleines Repertoire von Standardereignissen, über die berichtet wird. Dabei handelt es sich weitgehend um öffentliches Geschehen im strengen Sinne, wie z.B. Ankunft und Abreise von Gesandtschaften. Diese Beschreibung trifft schon auf Aviso und Relation von 1609 zu und läßt sich für den ganzen Untersuchungszeitraum unverändert festhalten. Bemerkenswert ist, daß die
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hohe Zahl der Einzelinformationen einhergeht mit einer Beschränkung auf die oberflächlichste Ebene der berichteten Ereignisse. Die zweite der einleitend genannten entwicklungsgeschichtlichen Fragestellungen könnte man folgendermaßen präzisieren: Wie entwikkelt sich das neue Medium im Hinblick auf Ausdifferenzierung und Standardisierung der journalistischen Handlungsformen bzw. Textsorten? Hier ist der Befund ganz eindeutig negativ. Bis zu dem systematisch untersuchten Zeitschnitt 1667 - und weit darüber hinaus - bleibt das Erscheinungsbild der Durchschnittszeitungen nahezu unverändert. Die einmal gefundene Produktionsweise, die ja dieses Erscheinungsbild determiniert, erweist sich als so brauchbar und flexibel, daß ein Anlaß zur Veränderung offensichtlich nicht besteht. Das Textsortenspektrum bleibt im wesentlichen konstant, und auch die funktionalen Bausteine bleiben im wesentlichen dieselben. Die Geschichte der periodischen Zeitungen im ersten Jahrhundert ihres Bestehens ist durch Kontinuität in allen untersuchten Bereichen gekennzeichnet. Das schließt vielfältige Detailveränderungen nicht aus, vom thematischen Bereich (z.B. Zunahme der Hofberichterstattung) über die Syntax (z.B. Ansteigen der Zahl und Komplexität von erweiterten Partizipialattributen) bis hin zum Wortschatz (z.B. Ansteigen des Fremdwortanteils, besonders des Anteils an Wörtern französischer Herkunft). Gegenüber den Standardzeitungen des Jahres 1667 (Postzeitung, Relation) ist die Sonderrolle des Mercurius hervorzuheben, der sich durch einen überdurchschnittlichen Bearbeitungsgrad auszeichnet. Für die Beurteilung der Funktion der Zeitungen in der Entwicklung einer überregionalen Schriftsprache spielt die Frage eine Rolle, inwiefern man die Zeitung als wichtige Verbreitungsinstanz für sprachliche und textliche Formen einstufen kann. Eine derartige Verbreitungshypothese hat z.B. Mackensen vorgebracht: Die Zeitung gewöhnt »ihre Leser an die Vielfalt deutscher Lautungs- und Ausdrucksmöglichkeiten ... Sie leitet damit eine Sprachbewegung ein, die fast unberührt von den großen Bemühungen der führenden Kreise, wie sie z.B. in den Sprachgesellschaften der Zeit erwogen und erprobt wurden, das Problem des Sprachausgleichs in Deutschland auf eine ihr entsprechende Weise angeht und entwickelt. Damit hat sie sicher nachhaltiger gewirkt, als die Veröffentlichungen der gelehrten Sprachmeister es zunächst vermochten« (Mackensen 1958,148). Angesichts der zahlreichen Leserschaft der periodischen Zeitungen ist es plausibel anzunehmen, daß die Zeitungs-
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texte im 17. Jahrhundert für einen großen Personenkreis mögliche Muster für die eigene Schreibpraxis sein konnten. Nur ist es außerordentlich schwierig nachzuweisen, daß die Zeitungen tatsächlich zur Verbreitung bestimmter Textmuster oder bestimmter sprachlicher Formen beigetragen haben. Man kann möglicherweise Parallelen im Sprachgebrauch (Textaufbau, Syntax, Wortschatz) aufzeigen und damit Traditionslinien plausibel machen, ähnlich wie wir es in bezug auf die Vorgänger der periodischen Zeitungen selbst getan haben, aber die tatsächliche Übernahme wird sicherlich nur im Einzelfall zu dokumentieren sein. Die exemplarische Analyse solcher Einzelfälle, die es bisher für die Zeitungen nicht gibt, hätte einen hohen Erkenntniswert für das genauere Verständnis von Verbreitungsvorgängen. Diese methodische Schwierigkeit ist aber kein Sonderproblem der Zeitungssprache, sondern betrifft die sprachhistorische Verbreitungsforschung allgemein.
1.4 Methodische Prinzipien, Verfahren und Probleme 1.4.1 Die integrative Betrachtung von journalistischen Handlungsformen und sprachlichen Mitteln Ein methodisches Grundprinzip des Projekts war die integrative Betrachtungsweise, d.h. es wurde besonders auf Zusammenhänge zwischen den journalistischen Handlungsformen, d.h. der Verwendung von bestimmten Textsorten und dem Berichten über bestimmte Themen, und der syntaktischen und lexikalischen Gestalt der Zeitungstexte geachtet. Dieser Betrachtungsweise liegt die Annahme zugrunde, daß die Ausnutzung bestimmter struktureller Möglichkeiten der Sprache und die Bevorzugung bestimmter sprachlicher Mittel in vielen Fällen zusammenhängt mit den speziellen Aufgaben einer Kommunikationsform - im Falle der Zeitungen also dem Berichten über aktuelle Ereignisse -, mit den Themen der Kommunikation und mit den kommunikativen Prinzipien, die für diese Kommunikationsform gültig sind. Diese sehr allgemeine Annahme konkretisiert sich für die Formen der periodischen Berichterstattung in vielfältiger Weise. Das soll an einigen Beispielen verdeutlicht werden.
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1. Funktionale Elemente der Berichterstattung erklären die Häufigkeit bestimmter syntaktischer und lexikalischer Elemente. Man kann zum Beispiel einen Zusammenhang zeigen zwischen der auffallenden Häufigkeit von Passivkonstruktionen in den Zeitungen und typischen Formen der Meldungseröffnung (Aus Andorff wird geschrieben, Aus Franckreich wird vermelt, Auß Holland wird avisirt). Hier steht hinter dem statistischen Befund für eine syntaktische Struktur die häufige Verwendung eines bestimmten funktionalen Bausteins. Auf ähnliche Weise erklärt sich das zahlreiche Auftreten von Modalverben in epistemischer Verwendung als ein Reflex der quellenorientierten Berichterstattung (Ertzhertzog Leopolt sol von hier stracks auff München gereist seyn) und der Äußerung von Vermutungen und Befürchtungen (es möchte sich der Frieden zerstossen). 2. Die Auftretenshäufigkeit bestimmter syntaktischer und lexikalischer Elemente hängt ab von Textsorten und Themen der Berichterstattung. So wäre es z.B. sinnlos, ohne interne Differenzierung von der syntaktischen Komplexität der Zeitungstexte zu reden, da in diesem Punkt zwischen den verschiedenen Textsorten signifikante Unterschiede bestehen. Die durchschnittlichen Kurzmeldungen, die mehr als 60% der Zeitungstexte ausmachen, sind syntaktisch relativ einfach gebaut, während die ausführlicheren Ereignisdarstellungen einen mittleren Komplexitätsgrad vertreten und die dokumentierten Kanzleitexte zumTeil außerordentlich komplex verschachtelte Strukturen zeigen. Ein extremes Beispiel ist der im Aviso von 1609 wiedergegebene sogenannten Majestätsbrief, in dem Kaiser Rudolf . den böhmischen Ständen die Religionsfreiheit verbrieft. Für den lexikalischen Bereich kann man zeigen, daß der Fremdwortanteil in verschiedenen Themenschwerpunkten der Berichterstattung unterschiedlich groß ist und daß die Anteile am themenspezifischen fachsprachlichen Wortschatz nach den unterschiedlichen Korrespondenzorten variieren. Beobachtungen wie diese machen eine Verknüpfung der Betrachtung von kommunikativen Aufgaben, Textformen, Themen, Korrespondenzorten auf der einen Seite und syntaktischen und lexikalischen Mitteln auf der anderen Seite unerläßlich. Insofern ist die integrative Betrachtungsweise eine grundlegende methodische Orientierung, die zudem von einer handlungstheoretischen Auffassung der Sprachverwendung her theoretisch gut abgesichert ist (vgl. zu dieser Auffassung allgemein Fritz 1982, zu ihrer Anwendung auf die Medienkommunikation Bucher 1986 und Muckenhaupt 1986a).
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So fruchtbar sich diese Betrachtungsweise für die Untersuchung der Sprache der Zeitungen erwiesen hat, so deutlich wurden auch ihre Grenzen erkennbar. Dies gilt in besonderem Maß für den Bereich der Syntax. Es gibt zahlreiche syntaktische Erscheinungen, deren Bestandsaufnahme aufschlußreiche Befunde für die geschriebene Sprache des 17. Jahrhunderts erbrachte, für die aber eine funktionale Erklärung nicht oder noch nicht - zu gewinnen war. Nehmen wir als Beispiel die Struktur der Verbalkomplexe mit drei verbalen Elementen (daß er sollte gesehen haben). Die Tatsache, daß in den Zeitungen häufig Berichte aus zweiter Hand weitergegeben werden, erklärt, warum die Formen mit sollte so zahlreich zu belegen sind. Sie erklärt aber nicht, warum die eine Zeitung (Relation) die Erststellung des Finitums in dieser Dreiergruppe favorisiert, während die andere (Aviso) stärker die Letztstellung des Finitums zeigt (vgl. Fritz 1992). Möglicherweise sind hier regionale Präferenzen oder auch stilistische Prinzipien zu erkennen. Im Falle einer regionalen Präferenz ist der Befund überhaupt nicht zeitungsspezifisch, im Falle einer stilistischen Präferenz ist dieses Prinzip nicht so eng an das Medium Zeitung gebunden, daß es nicht in verschiedenen Zeitungen unterschiedlich befolgt werden könnte. Ähnliche Beobachtungen könnte man zu Besonderheiten der Struktur der Nominalphrase machen (z.B. zur Stellung der Genitivattribute; vgl. Fritz 1993). Hier hängt zwar ebenfalls die statistische Häufigkeit bestimmter Strukturen mit der Praxis der Einführung von und Bezugnahme auf Personen in den Zeitungstexten zusammen (z.B. deß Conte die Verua seines Ampassators ankunfft), aber die Topologie der Genitivattribute selbst läßt sich für unser Material nicht mit irgendwelchen funktionalen Kategorien in Zusammenhang bringen. Untersuchungen von Ebert haben uns gelehrt, daß topologische Unterschiede sich bisweilen sehr gut mit Textsorten oder dem Bildungsstand von Autoren korrelieren lassen (vgl. Ebert 1980; 1981), aber für die Zeitungen ist bisher in den genannten Fällen kein markanter Befund zu erkennen. Etwas anders sieht es aus bei der Entwicklung der erweiterten Partizipialattribute. Hier erscheint es plausibel, daß das relativ zahlreiche Vorkommen derartiger Strukturen schon in den Zeitungen von 1609 und die Zunahme der Zahl und Komplexität dieser Strukturen - mit einer gewissen Verzögerung - parallel läuft zur Praxis der Kanzleisprache. Es liegt also nahe, hier einen Bezug der Zeitungstexte zu Verwaltungstexten anzunehmen.
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1.4.2 Strukturelle, interpretative und quantitative Methoden Die Bestandsaufnahme der sprachlichen und textlichen Eigenarten der Zeitungen ist eine deskriptive Aufgabe mit vielfältigen Facetten. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß dabei mit einem breit gefächerten Methodeninventar gearbeitet werden muß. In allen Arbeitsbereichen gibt es Aufgaben, die mit strukturellen Beschreibungsmethoden bearbeitet werden. Das ist bei der Bestandsaufnahme des syntaktischen Formeninventars besonders naheliegend, gilt aber auch für Teile der Textsortenund Wortschatzanalyse. Bei der Textsortenanalyse spielt besonders die Verknüpfung von Beobachtungen zur Struktur des Textaufbaus mit der Feststellung von funktionalen Bausteinen eine wichtige Rolle, strukturelle und funktionale Analyse gehen Hand in Hand. Im Bereich des Wortschatzes bilden Wortfeldstrukturen eines der Organisationsprinzipien der Gesamtarchitektur. Dementsprechend steht die Betrachtung einzelner Wortfelder (z.B. Modalverben, Querverweisausdrücke) neben der Analyse der Gliederung des Fachwortbestandes nach Fach- bzw. Themenbereichen und der Analyse des Fremdwortschatzes nach Herkunftssprachen. In allen Arbeitsbereichen zeigen sich Grenzen einer mechanisch-erfassenden Arbeitsweise. Selbst so scheinbar einfache Aufgaben wie die Bestimmung von Satzgrenzen oder Beitragsgrenzen erfordern in vielen Fällen interpretative Leistungen. Das gilt verstärkt für die Bestimmung von Fremdwortlesarten, die Bestimmung von thematischen Zusammenhängen und die Einordnung der Berichterstattung in die historischen Zusammenhänge der Zeit. Letzteres spielt bei der Einführung von Kodierungskategorien eine wichtige Rolle. Am Beispiel der verschiedenen Sachgebiete innerhalb der politischen Berichterstattung diskutiert Schröder (1995) dieses Problem. Viele Fragen zum Erscheinungsbild der ersten Zeitungen lassen sich nicht allein durch eine strukturelle Analyse von Formtypen und die Aufnahme des Typenbestands beantworten. Das Erscheinungsbild der Zeitungen ist ja nicht primär geprägt durch das Vorkommen von einzelnen Textformen, syntaktischen Mustern und Wortklassen an sich, sondern durch charakteristische Häufigkeitsverteilungen dieser Formen. Hier ergeben sich auch interne Differenzen zwischen verschiedenen Zeitungen, Korrespondenzorten und Themenbereichen. Deshalb ist das Erheben von quantitativen Befunden ein wesentlicher methodischer
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Schritt in allen drei Arbeitsbereichen. Vor allem für den quantitativen Aspekt der Analysen war der Einsatz der EDV ein entscheidendes Hilfsmittel.
1.4.3 Textvergleich Ein methodisches Verfahren, das für verschiedene Ziele eingesetzt wird, ist der Textvergleich. Extensive Textvergleiche werden u.a. angestellt zur Parallelberichterstattung von Aviso und Relation und zu den Textsorten in den verschiedenen Berichtsmedien der Zeit. Diese Textvergleiche erlauben es, Spezifika der einzelnen Zeitungen von allgemeinen Spezifika der periodischen Presse zu trennen und die Verwandtschaftslinien zwischen den verschiedenen Berichtsmedien aufzuzeigen.
1.4.4 EDV-Einsatz Grundlage für die EDV-Unterstützung des Projekts in allen Arbeitsbereichen war die Speicherung und Aufbereitung des Textcorpus mit einem Textverarbeitungssystem. Mit einem von Muckenhaupt entwickelten Konvertierungsprogramm wurden die sequentiell gespeicherten Texte in das Format einer relationalen Datenbank überführt (vgl. Muckenhaupt 1986b). Diese Form der Datenverwaltung ermöglichte eine direkte Weiterverarbeitung, durch die unverzichtbare Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden konnten. Automatisch erstellt wurden Konkordanzen zu den fünf Zeitungen, in denen sämtliche Wortvorkommen mit Belegstelle und Belegauszug verzeichnet sind. Ebenfalls in einem automatischen Verfahren wurden diese Konkordanzen zu Wortindices verdichtet. Zugleich erlaubt die Textverwaltung im Datenbankformat jederzeit die originalgetreue Rekonstruktion der Textfolge für eine Druckaufbereitung, für die Weiterverarbeitung von Belegstellen, vor allem aber für die on-line-Bearbeitung von beliebigen Textausschnitten am Bildschirm, z.B. zur Markierung von Satzgrenzen, zur Fremdwort- und Wortartkodierung oder zur Analyse der Textstruktur. Im Arbeitsbereich »Textstruktur, Darstellungsformen und Nachrichtenauswahl« wurde die gesamte Analyse EDV-unterstützt durchgeführt.
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Für jede Zeitung wurde eine Beitragsdatei eingerichtet. Pro Beitrag wurde ein Datensatz angelegt und nach verschiedenen Feldern kodiert, z.B. Korrespondenzdatum und -ort, Beitragslänge, Art der Quellenangabe, Thema usw. Eine genaue Darstellung der in diesem Bereich entwickelten Arbeitsformen findet sich in Schröder (1995). Die umfassende Repräsentation der strukturellen Befunde und ihre Parallelverwaltung für die verschiedenen Zeitungen waren zugleich grundlegend auch für die Arbeit in den anderen Projektbereichen. Einen entscheidenden Vorteil bietet die EDV auch im Bereich »Wortschatz«, weil die Bestandsaufnahme in einer Datenbank sowohl problemorientiertes Abfragen als auch materialorientierte Dokumentation erlaubt. Die nach dem Muster von Wörterbuchartikeln angelegten Datensätze lassen sich einerseits direkt in ein alphabetisches Wörterbuch überführen, andererseits können sie über ein Markierungssystem unterschiedlichen Teilwortschätzen zugeordnet werden (z.B. als Fremd- und Fachwort) oder quantitativ ausgewertet werden. Im Bereich »Syntaktische Strukturen« wurden Programme für die Satz- und Teilsatzkodierung geschrieben und analog zu den anderen Arbeitsbereichen angewendet. Daneben wurde auch eine Datei zur Wortartenkodierung angelegt. Zusätzliche Auswertungsmöglichkeiten ergaben sich durch die Vernetzung der Daten aus den einzelnen Arbeitsbereichen. Beispielsweise läßt die Aufschlüsselung der syntaktischen und semantischen Befunde nach Herkunftsort und nach Beitragstypen zum Teil deutliche Differenzierungen erkennen.
1.4.5 Corpusauswahl Das Kerncorpus besteht aus fünf periodischen Zeitungen, verteilt auf zwei Zeitschnitte: Aviso und Relation von 1609 und Frankfurter Postzeitung, Nordischer Mercurius und Relation von 1667. Um einen Eindruck von der Größenordnung des Kerncorpus zu geben: Es umfaßt insgesamt rund 500 000 Wörter. Die Auswahl der Texte des ersten Zeitschnitts ergab sich zwangsläufig, da für diese Zeit nur Aviso und Relation vorliegen, für die Auswahl im zweiten Zeitschnitt wurde eine Reihe von besonderen Kriterien angelegt. Allgemein wurde erwartet, daß ein Zeitabstand von knapp 60 Jahren ausreichend groß sein würde, um vorhandene Tendenzen der Veränderung erkennbar werden zu lassen.
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Für den thematischen Bereich war auch zu erwarten, daß die politischen Veränderungen vom Anfang des Jahrhunderts bis zum letzten Drittel des Jahrhunderts Spuren hinterlassen würden. Im Rahmen der schon erwähnten starken Kontinuität in allen Bereichen haben sich diese Erwartungen in Details auch bestätigt. Die getroffene Auswahl an Zeitungen des Jahrgangs 1667 erlaubte folgende Vergleiche: 1. den Vergleich zwischen dem ersten und dem letzten erhaltenen Jahrgang der Relation - also eine Art Längsschnitt für diese Zeitung. 2. den Vergleich zwischen drei regional unterschiedenen Zeitungen (Relation in Straßburg, Postzeitung in Frankfurt, Mercurius in Hamburg). Es ist ein bemerkenswertes Ergebnis, daß in den Arbeitsbereichen des Projekts kaum auffällige regionale Differenzen zu erkennen waren. Hier zeigt sich also schon eine relativ weitgehende überregionale Standardisierung. 3. den Vergleich zwischen Durchschnittszeitungen wie der Relation und der Postzeitung auf der einen Seite und einer Ausnahmezeitung wie dem Mercurius auf der anderen Seite. Neben dem Kerncorpus wurde zunächst der Annus Christi von 1597 als ein weiteres periodisch erscheinendes Presseerzeugnis (Monatszeitung) untersucht. Meßrelationen und Neue Zeitungen wurden vor allem dort herangezogen, wo gemeinsame Themen einen direkten Textvergleich erlaubten. Unter dem Entstehungsgesichtspunkt wurden besonders die Meßrelationen von 1609 auf Gemeinsamkeiten in Themen und Darstellungsformen mit der Wochenpresse untersucht. Über das Corpus an Berichtstexten hinaus wurden vor allem für den Bereich des Fachwortschatzes Fachtexte unterschiedlicher Art als Vergleichstexte herangezogen, z.B. der »Tractat über den Reichstag« (um 1577) oder Kirchhofs »Militaris Disciplina« von 1602.
1.5 Berichtsmedien um 1600 Um das Spezifikum der periodischen Zeitungen des 17. Jahrhunderts richtig einschätzen zu können, ist es notwendig, die Ausgangslage vor dem Erscheinen dieser Zeitungen zu betrachten. Nur so kann man das Verhältnis von Tradition und Innovation in der Entstehung dieses neuen Mediums zutreffend bestimmen. Die folgende knappe Skizze soll einen
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relevanten Ausschnitt aus der Medienlandschaft um 1600 darstellen und gewisse Entwicklungslinien vorsichtig andeuten. Weitere Einzelheiten werden im vorliegenden Band an verschiedenen Stellen behandelt. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts gibt es ein ganzes Spektrum von Berichtsmedien, die in unterschiedlicher Weise der Chronik der Tagesbis Jahresereignisse dienen. Im einleitenden Abschnitt wurden die wichtigsten von ihnen schon kurz kontrastierend erwähnt. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts werden Nachrichten gesammelt und in handschriftlicher Form weiterverbreitet, teils im privaten Kreis von an Information interessierten Personen wie Fürsten, Verwaltungsleuten, Kaufleuten oder Gelehrten, teils auf kommerzieller Basis. Die Verfasser der Korrespondenzen waren Fürsten und Adelige, fürstliche Residenten und Agenten, Diplomaten und Gelehrte. 1575 schließen die Kurfürsten von Brandenburg und Sachsen sowie die Herzöge von Württemberg, Schleswig-Holstein und Braunschweig auf dem Fürstentag zu Regensburg eine Vereinbarung zum Austausch von Briefzeitungen (Handbuch der Zeitungswissenschaft Bd. l, 1276). Von Herzog Wilhelm V. von Bayern weiß man, daß er im Jahre 1592 Empfänger von Nachrichtenbriefen zahlreicher Absender war, unter ihnen Erzherzöge, Herzöge, hohe Geistliche (der Erzbischof von Köln, der Cardinal von Trient), prominente Vertreter des Jesuitenordens, hohe Verwaltungsbeamte und Handelsleute (z.B. verschiedene Vertreter des Hauses Fugger). Der Einzugsbereich der Nachrichten reichte von Spanien bis Polen und von Italien bis Norddeutschland, mit einem besonders engen Netz von Korrespondenten in Österreich und Süddeutschland (vgl. Kleinpaul 1930, 158 f.; Kieslich 1966, 253 ff.). Unter den Gelehrten, die Nachrichten sammelten und verbreiteten, ist besonders Melanchthon zu nennen (vgl. Grasshoff 1877). Als einen Zeitgenossen der ersten periodischen Zeitungen kann man Crusius erwähnen, der in seinem Tagebuch Zeitungsnachrichten vermerkte und in Privatbriefen Nachrichten weiterverschickte (vgl. Gloning 1991). Auch in der Kaufmannschaft werden Nachrichten verbreitet. Man unterrichtet sich nicht nur über das Angebot von und die Nachfrage nach Waren, sondern vor allem auch über neue Handelsplätze oder über Gefahrert, die durch Kriege, Piraterie und Seuchen drohen. Die Kontore der großen Handelshäuser, der Fugger und Welser zum Beispiel, sammeln aus aller Welt eingehende Meldungen und stellen sie zu Kaufmannszeitungen zusammen, die kopiert und an Geschäftspartner verschickt werden. Der ständig steigende Bedarf an Information führte
19 dazu, daß das Schreiben von Zeitungsbriefen professionell organisiert wurde. 1571 kommt Jeremias Krasser nach Augsburg und gründet dort zusammen mit Jeremias Schiffle ein Korrespondenzbüro. 1615 finden wir bereits sieben selbständige Briefzeitungsschreiber in der Stadt. Jede Briefzeitung wird ungefähr 20 bis 24 mal abgeschrieben und an Bezieher verteilt, die sich zum Teil in Lesezirkeln organisieren. Schließlich bilden sich bei den geschriebenen Zeitungen periodische Erscheinungsformen heraus (vgl. Blühm 1977, 60). Diese relativ ausführliche Skizze der Praxis des Sammeins und Verbreitens von Nachrichtenbriefen bzw. geschriebenen Zeitungen ist an dieser Stelle deswegen notwendig, weil es diese fest etablierte Praxis ist, die den wichtigsten Hintergrund für das Entstehen der periodischen Zeitungen bildet. In den geschriebenen Zeitungen bildet sich über längere Zeit hinweg ein Repertoire von Berichtsformen aus, das in die gedruckten Zeitungen übernommen werden kann. Dabei haben die gedruckten Zeitungen die geschriebenen lange Zeit nicht verdrängt. Die beiden Formen existierten nebeneinander, wobei Vorteile der geschriebenen Zeitungen u.a. darin bestanden, daß man mit ihnen leichter die Zensur unterlaufen konnte und daß sie wesentlich billiger waren. Die Korrespondenten der gedruckten Zeitungen sind - so kann man annehmen - derselbe Typ von Schreiber wie die Korrespondenten der geschriebenen Zeihingen. Teilweise werden es sogar dieselben Personen gewesen sein, die für beide Medien schrieben, und in vielen Fällen waren geschriebene Zeitungen die direkten Vorlagen für die gedruckten Zeitungen. Möglicherweise war auch der Aviso nichts anderes als eine nachgedruckte handschriftliche Zeitung. Schon im 17. Jahrhundert leitete einer der Zeitungstheoretiker, Christian Weise, die gedruckten Zeitungen von den Zeitungsbriefen her: »Was hat man auch in den wöchentlichen Zeitungen anders als Erzählungsbriefe, da von allen Orten der Welt etwas Sonderliches geschrieben und in einer anständigen Ordnung zu guter Nachricht des Lesers vorgestellt wird« (Weise 1676, zit. nach Handbuch der Zeitungswissenschaft I, 1940, 1275). Die handschriftlich übermittelten Nachrichten, die zunächst Briefen als Sammlungen von Zetteln (»pagellae«) beigelegt wurden, aber auch die eigentlichen Zeitungsbriefe, haben schon eine Eigenart, die in den Korrespondenzen der späteren periodischen Zeitungen wiederkehrt: Sie sind weitgehend ungeordnete »Conglomerate von Einzelnachrichten« (Grasshoff 1877,11), Aneinanderreihungen von unabhängigen Ereignismeldungen.
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Während die geschriebenen Zeitungen nur beschränkt der Öffentlichkeit zugänglich waren, gab es seit Beginn des 16. Jahrhunderts ein Medium, das den vollen Charakter der Publizität hatte, die sogenannten Neuen Zeitungen (vgl. Lang 1987). Diese Bezeichnung, die man mit »aktuelle Nachricht« wiedergeben könnte, taucht 1502 zum ersten Mal auf (Köhler 1976, 36). Es handelt sich dabei um Flugblätter oder Flugschriften, die im wesentlichen Berichte zu kurz zuvor stattgefundenen Einzelereignissen verbreiten, zum Teil mit Illustrationen (zur Flugschrift vgl. Köhler 1976; zum illustrierten Flugblatt vgl. Harms 1987; Schilling 1990). Daneben wurden als Einzeldrucke auch amtliche Dokumente wie Verträge oder amtliche Ausschreibungen und offizielle Mitteilungen, z.B. über Friedensschlüsse, unkommentiert der Öffentlichkeit mitgeteilt. Neben reinen Nachrichtenblättern und Bekanntmachungen finden wir in den Neuen Zeitungen auch Texte mit polemischer Tendenz, bis hin zur Streitschrift. Inhaltlich werden sowohl die großen Fragen der Reichspolitik als auch lokale Neuigkeiten publizistisch aufbereitet. Vor allem in Kriegs- und Revolutionszeiten schwillt die Zahl der verbreiteten Neuen Zeitungen an. Die Beziehung zwischen Neuen Zeitungen und periodischen Zeitungen muß man differenziert sehen. Einerseits bieten die Neuen Zeitungen ein breites Repertoire von Berichtsformen, aus dem die Korrespondenten der periodischen Zeitungen schöpfen konnten. Allerdings sind die Formen ausführlicher Ereignisdarstellung, die man in Neuen Zeitungen findet, in den periodischen Zeitungen außerordentlich selten. Andererseits werden Neue Zeitungen bisweilen direkt als Vorlage für Texte der Wochenpresse genutzt. Auch die Dokumentenwiedergabe finden wir in den periodischen Zeitungen. Dagegen spielt das Element der Meinungsäußerung in den periodischen Zeitungen eine völlig untergeordnete Rolle. Das nächste Nachrichtenmedium, das hier zu erwähnen ist, sind die sogenannten Meßrelationen. Bender charakterisiert sie folgendermaßen: »Benannt nach dem Rhythmus ihrer Erscheinungsweise zu den Handelsmessen, ihrem Absatzmarkt, und nach ihrem häufigsten Titel >Relatio