Die Sprache der Verstellung: Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert [Reprint 2011 ed.] 9783110963557, 9783484630017

Am Leitfaden einer Geschichte von 'Verstellung' und 'Verstellungskunst' markiert die Untersuchung de

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German Pages 381 [382] Year 1992

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Die Sprache der Verstellung: Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert [Reprint 2011 ed.]
 9783110963557, 9783484630017

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OMMUNICATI( ) Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel und Reinhart Koselleck

Ursula Geitner

Die Sprache der Verstellung Studien zum rhetorischen und anthropologischenWissen im 17. und 18. Jahrhundert

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1992

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Geitner, Ursula: Die Sprache der Verstellung : Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert / Ursula Geitner. - Tübingen: Niemeyer, 1992 (Communicatio ; Bd. 1) NE:GT ISBN 3-484-63001-9

ISSN 0941-1704

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhalt

Einleitung I. Metamorphosen der Verstellungskunst. Eine einführende Skizze zur Geschichte des Konzepts in der Neuzeit

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II. Dissimulatio artis, Simulatio und Dissimulatio im 16. und 17. Jahrhundert

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1. Die gefällige Kunst der Kunstlosigkeit: Der Cortegiano, seine Vor- und Nachfahren

51

a) Vom Orator zum Homo aulicus: Dissimulatio artis — Sprezzatura — Nachlässigkeit

51

b) Die (noch) schöne und die (schon) verwerfliche Kunst. Ethik und Ästhetik im Widerstreit

61

2. Selbsterhaltung als Mimikry: »Von der Simulation und Dissimulation und deren rechtem Gebrauche« in der Privat-Politik

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a) Jenseits des »Welttheaters«: Der Politicus als Schauspieler

67

Exkurs: Die Eloquentia corporis. Zur zentralen Bedeutung der ActioLehre für die neuzeitlichen Bildungs- und Interaktionsideale . . . .

80

b) Wider den »Übel=Stand an unserem Leibe«: Comödiantische Erziehung der Oberschicht. Christian Weises Politikund Theaterkonzeption

94

III. Listige Zeichen und probabilistische Interpretationen

. . . .

107

1. Verstellte Worte, verstellte Gebärden: Versuche des 17. Jahrhunderts, das Verstehen zu verstehen

107

a) Zur Differenz von Innen und Außen. Die Unerreichbarkeit des Bewußtseins

112

b) Die Unlesbarkeit der Welt: Gracians O/'/räwj-Roman

. .

116

c) Zweideutige Worte, Diphthonge und Comödianten. Anforderungen an eine Ars conjectandi hominum mores .

120

VI

Inhalt

2. »Wenn es dem Menschen an der Stirne geschrieben stünde, wie er gesinnet, so brauchte es nicht solcher Umstände«: Die Kardiognostik der Frühaufklärung a) Komplement der Verstellungskunst: Die kardiognostische Wissenschaft des Christian Thomasius b) Angriffe auf die Temperamentenlehre: Julius Bernhard von Rohrs Kunst der Menschen Gemüther %u erforschen. Ein Werkzeug des >gemeinen Lebens
Einschreibung< und menschlicher >Lektüre< im Pietismus

195

VI. »Toujours hors de lui«: Rousseau 1. Gemeine Verstellung und falsche Grundsätze. Rousseaus Aufklärung der Aufklärung a) Archaische und moderne Expressionen b) Rousseaus Rolle: allein unter Schauspielern 2. »Intus et in cute«: Präsentation der Innerlichkeit im Medium der Äußerlichkeit a) Die Entfernung vom Ursprung und der Charme des Supplements b) Bekenntniszwänge c) Das fiktionale Ende des Motivverdachts

209 209 214 220 227 229 233 237

Inhalt

VII

VII. Sprache, Schrift, Verstehen

239

1. Lavaters Physiognomik: Traum vom Verstehen ohne Rest a) Aussichten ins Jenseits der Sprache

.

239 246

b) Referentialitätsgaranten

255

c) Moral gegen Verschriftlichung d) Menschen und >Schriftfabrikanten
anderes< Geschlecht b) Vorzüge und Gefahren der Selbstbeobachtung

. . . .

2. Schauspielkunst: Natur oder »mechanische Nachäffung«

290 294

. .

301

a) Affen, Schauspieler und Menschen. Das Interesse der Anthropologie am Horror vacui

306

3. »Die Menschen sind insgesamt, je zivilisierter, desto mehr Schauspieler«

317

a) Paradoxe sur le comedien b) Rameaus Neffe und die Kunst Exkurs: Eloquentia corporis. Zum Ende der Inter-Aktion in der Moderne IX. Literaturverzeichnis 1. Quellen 2. Darstellungen

317 321

332 344 344 359

Einleitung

Das Wesen der Verstellung, so heißt es 1746 unter dem Lemma »Verstellung« in Zedlers Universal-Lexicon, liege darin, das Wesen zu verstellen: Man verstellt also »sein Hertz, das ist, den innerlichen Zustand seines Gemüths«.1 Der Eindruck, es handle sich dabei um eine Kritik solcher Verstellung, täuscht. Zedlers Artikel steht, wie sein Fortgang erweist, noch deutlich in einer Tradition, welche in den Operationen der Verstellung — sei es der Simulation oder Dissimulation - probate Mittel sowohl der gefälligen Selbstdarstellung als auch der notwendigen Selbsterhaltung sah.2 Diese Tradition, welcher der besagte Eintrag noch weitgehend zugehört und die er in seine Gegenwart hinüberzuretten sucht, ist indes spätestens seit den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts von folgenreicher Kritik betroffen. In deren Fokus steht insbesondere die Rhetorik, sei es als Theorie, sei es als Praxis. Goethes Diktum, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Redekunst schlichtweg mit Verstellung identifiziert,3 reiht sich in eine Phalanx rhetorikkritischer Äußerungen, Topoi und Diskurse ein, die sich bereits im 18. Jahrhundert - auch innerhalb der Rhetorik - Geltung verschaffen konnten. Sie kontrastieren die Anweisungen und Übungen, die Vorschriften und Formulare der mündlichen und schriftlichen Beredsamkeit einem freien, natürlichen und individuellen Ausdruck.* Gerät so die Rhetorik unter den massiven — zumeist moralisch begründeten — Verdacht, kaum mehr denn eine Anleitung zur Verstellung zu sein, so wird daneben mit dem jetzt deutlich negativ konnotierten Begriff »Verstellungskunst« jene überkommene Kunst der Interaktion erfaßt, die >bei Hofe< zuhaus ist. Daniel Jenisch, der im Jahre 1800 auf das 18. Jahrhundert und dessen Errungenschaften zu1

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Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 47 (1746), Sp. 2058. Siehe dazu vor allem Kapitel I und II. Die Redekunst, so heißt es in direktem Anschluß an Kant, »verfolgt ihre Zwecke und ist Verstellung von Anfang bis zu Ende« (Johann Wolfgang von Goethe, Westöstlicher Divan. Noten und Abhandlungen, in: ders., Werke, hg. v. Erich Trunz (Hamburger Ausgabe), Bd. 2, München 1978, 186). - Vgl. hierzu Wilfried Barner, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970,13. Siehe dazu Kap. I, IV und V.

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Einleitung

rückblickt, verortet eine solche >künstliche< Interaktion in einer durch »ungeheure Ungleichheit der Stände« deformierten höfisch-höflichen Gesellschaft.5 Nur in dieser kann den Abhängigen und Ambitionierten eine Sprache verordnet werden, die so weit entfernt ist, frei, natürlich und individuell zu sein und statt dessen, so Jenisch im Hinblick auf die Körpersprache, verlangt: daß man »kriecht auf allen Vieren«.6 Mit den Kritik-Begriffen der Verstellung und der Verstellungskunst wird eine Auseinandersetzung geführt, in der es um die Entwertung >vormoderner< Verhältnisse geht. Diese stehen dem 18. Jahrhundert in der Rhetorik einerseits, in der Ständegesellschaft andererseits vor Augen. Mit der Ablösung des ständischen durch ein natürliches decorum? welches prinzipiell Gleichheit unterstellt und nur dort differenzieren möchte, wo es sich >von selbst< versteht, wird zugleich das Konzept unterschiedslos gleichen, offenen und aufrichtigen Verhaltens popularisiert, jenes Verhaltens, das Jenisch als Vermächtnis des aufgeklärten Jahrhunderts ehrt. Sind Simulation und Dissimulation, Stellung und Verstellung in den Texten der Rhetorik- und Poetik-, der Politik- und Klugheitslehren des 17. und noch des frühen 18. Jahrhunderts moralisch und ästhetisch weitgehend unbelastete technische Termini, so ändert sich dies in den ersten Dezennien des 18. Jahrhunderts einschneidend, mit anderen Worten: Die >Sattelzeit< von Verstellung und Verstellungskunst liegt in eben diesem Zeitraum.8 Hiermit ist in groben Zügen der historische Umbauprozeß skizziert, welchen die vorliegende Untersuchung zu begreifen versucht. Verstellung und Verstellungskunst gelten ihr dabei nicht als bloß unerhebliche Wörter, sondern vielmehr als Begriffe, deren historisches Bedeutungsspektrum Interpretationen sowohl voraussetzt als auch erfordert. Die hier angestrebten Interpretationen orientieren sich an den theoretischen und methodischen Vorgaben der Begriffsgeschichte bzw. der historischen Semantik und an den einschlägigen Überlegungen zur Semantikevolution.9 Die — sowohl semasio5

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Daniel Jenisch, Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts, politisch, moralisch, ästhetisch und wissenschaftlich betrachtet, 1. Theil, Berlin 1800, 321. Diese Redeweise, hier bezogen auf Konstantins Hofhaltung, ist sowohl metaphorisch als auch eigentlich zu verstehen (Jenisch, Geist und Charakter, 322). Siehe dazu Kap. II und V. — Vgl. als wichtige Vorarbeit Georg Stanitzek, Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tübingen 1989. Siehe dazu Kap. IV. — Zur Umwandlung der idealen Kommunikationsvorstellungen im gleichen Zeitraum siehe die parallel entstandene Arbeit von Karl-Heinz Göttert, Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie, München 1988, Kap. V. Reinhart Koselleck, Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit, in: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), 81-99; ders., Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Historische Semantik und Begriffsgeschichte, hg. v. Reinhart Koselleck, Stuttgart 1978, 19-36; Karlheinz Stierle, Historische Semantik und die Geschichtlichkeit der Bedeutung, in: Koselleck (Hg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, 154-189; Niklas Luhmann, Gesellschaftliche Struktur und se-

Einleitung

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logisch als auch onomasiologisch erhobenen — begrifflichen Befunde werden demzufolge erst in den jeweils zu ermittelnden Kontexten verstehbar, welche Wort- und Begriffsbedeutungen organisieren, sichern und vernetzen.10 Es stellt sich also, mit anderen Worten, die Frage nach der Beziehung von Begriff, Text und Kontext. Damit ist das Problem der Interpretation zweifellos nicht suspendiert: Auch die Kontexte bieten sich nicht >von sich aus< dar, sondern sind sowohl interpretativ zu ermitteln als auch interpretativ zu lesen. Im Hinblick auf das anzuwendende Beschreibungsinstrumentarium bleibt zunächst zu bedenken, daß jede Beschreibung unzureichend wäre, die sich in der Wahl ihrer Kriterien, Kategorien, Unterscheidungen und Bewertungssysteme der anthropologischen und sprachtheoretischen Kritik des 18. Jahrhunderts anvertraute. Zwar bildet das 18. Jahrhundert diejenigen modernen patterns aus, mit welchen das rhetorische und >politische< 17. Jahrhundert in der Folge begriffen und, belegt mit epochentypologischen Prädikaten, erinnert wird; doch bedarf diese Erinnerung der Korrektur. Die maßgeblichen auf die Phänomene der Verstellung bezogenen Unterscheidungen, wie etwa: Mensch/ Schauspieler; Natürlichkeit/Künstlichkeit; Redlichkeit/Rhetorik; Innerlichkeit/Äußerlichkeit, mit denen die Aufklärung in kritischer Absicht operiert, sind deshalb nicht allein auf ihre moralisch-polemischen Funktionen, sondern vielmehr auch auf ihre kognitiv-analytischen Leistungen hin zu untersuchen; oder mit anderen Worten: Die kritischen Beobachtungen des 18. Jahrhunderts müssen ihrerseits beobachtet werden, ohne daß man freilich hierfür eine vorab privilegierte Beobachterposition — deren Annahme ja schon von der Aufklärungshermeneutik bestritten wurde — reklamieren könnte. Wiederum wird hier die Beziehung von Text und Kontext relevant. Karl Philipp Moritz hat unter dem Titel Die Signatur des Schönen mit Blick auf die Werke der bildenden Kunst formuliert, daß die beste Beschreibung des Kunstwerks dieses selbst ist.11 Todorov nimmt diesen Gedanken in bezug auf die Literatur — und ohne Bezugnahme auf Moritz — auf12 und veranlaßt damit de Man zu einem Kommentar, in dem dieser die Operation der Auslegung so simpel wie prägnant als Konfrontation zweier Sprachen beschreibt,13 als Konfrontation eines Textes mit (s)einem Kontext, wie sich im Anschluß daran formulieren läßt.

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mantische Tradition, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. l, Frankfurt/M. 1980, 9-71. Siehe dazu Stierle, Historische Semantik, 172. Karl Philipp Moritz, Die Signatur des Schönen. Inwiefern Kunstwerke beschrieben werden können?, in: ders., Werke, hg. v. Horst Günther, Bd. 2, Frankfurt/M. 1981, 579—588, hier: 587. — Die klare und eindeutige Kontur der bildenden Kunst wird gegen die unbestimmte Signatur der Wörter gehalten. Tzvetan Todorov, Qu'est-ce que le structuralisme?, Paris 1968,100. Paul de Man, The Rhetoric of Blindness: Jacques Derrida's Reading of Rousseau, in: ders., Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism, Minneapolis 1983,102-141, hier: 108.

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Einleitung

Mit dieser Einsicht ist nicht bestritten, daß die Selbstbeschreibungen der >Quellengrauer Genealogiegegenstandsnah< zu verfahren. Ganz im Gegenteil: Die Notwendigkeit selektiv-konstruktiven Zugriffs wird nicht nur notgedrungenerweise eingestanden, sondern vielmehr, ganz im Sinn der hermeneutischen Reflexion unhintergehbarer Vorurteilsstruktur, affirmiert, ohne doch dabei die Vorstellung quasi mündlicher Dialogizität von Text und Ausleger und das Apriori immer schon vermittelnder Wirkungsgeschichte zu übernehmen. Es kann also nicht darum gehen, »die langsame Kurve einer Entwicklung nachzuzeichnen«, sondern vielmehr soll mit Hilfe genannter Instrumentarien versucht werden, »die verschiedenen Szenen wiederzufinden, aufweichen die Ereignisse verschiedene Rollen gespielt haben«.16 Zentraler Gegenstand der Untersuchung ist, wie aus ihrem Titel hervorgeht, die Rolle von Sprache und Kommunikation im rhetorischen und anthropologischen Szenarium. Im Zuge des Versuch, der >Sprache der Verstellung< und damit der Rhetorik überhaupt Einhalt zu gebieten, konzentriert sich die Kritik des 18. Jahrhunderts insbesondere auf die Körper- und Gebärdensprache, die von seilen der Rhetorik in den actio- und pronutttiatio-Lehten

Hier seien zunächst die einschlägigen Texte Derridas genannt, insbesondere aber: De la grammatologie, Paris 1967. — Zur Systemtheorie: Niklas Luhmann, Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?, in: Materialität der Kommunikation, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt/M. 1988, 884-905. »Grau ist die Genealogie, ängstlich und geduldig ist sie mit Dokumenten beschäftigt, mit verwischten, zerkratzten, mehrmals überschriebenen Pergamenten« (Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historic, in: ders., Von der Subversion des Wissens, hg. u. übers, v. Walter Seitter, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1978, 83-109, hier: 83). Ebd.

Einleitung

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behandelt wird.17 Im Austausch gegen eine rhetorisch disziplinierte, verstellte eloquentia corporis, welche Jenisch in drastischer Version noch einmal herbei zitiert, führt man die eloquentia cordis, die Sprache des Herzens ein. Jenseits aller rhetorisch-politischen Verstellungen und Verstellungskünste soll diese neue Artikulationsweise den Blick ins >Innere< des Menschen freigeben. An dieser Geschichte der Ablösung der rhetorischen eloquentia corporis durch die Sprache expressiv-körpersprachlicher Unmittelbarkeit lassen sich eine ganze Reihe der Probleme erkennen, die dem 18. Jahrhundert und seiner anthropologischen Beschreibung des Menschen entstehen. Denn auf dem idealen Modell körpersprachlicher unmittelbarer Expressivität bauen die Beschreibungen von Sprache, Schrift, Verstehen und Kommunikation auf. Im Gegenzug zu einer Rhetorik, welche, darin den Konzepten des 18. Jahrhunderts sozusagen weit voraus, die Mittelbarkeit der Kommunikation, die Polyvalenz der Zeichen und die Opazität der >vorausgehenden< und zugrundeliegendem Gedanken reflektiert, setzt die Anthropologie des 18. Jahrhunderts den Ausdruck und begründet so die naive Identität von Bewußtsein und Kommunikation. Mit Hilfe des matürlichen Zeichensvon selbst< zu aller Zufriedenheit, in friedvollem Einverständnis, regelte. Die in der 13. Maxime des Handorakels entworfene Situation des Umgangs bedient sich einer Metaphorik des Krieges, deren Verwendung nicht als außerordentlich oder gar legitimationsbedürftig erscheint. Ein »krieg« ist das Leben der Menschen, und wenn sich dieser auch gegen »die bosheit der menschen« richten sollte, so bleibt ihr Umgang doch kriegerisch und deshalb bestimmt von »krieges=list«.14 Zu dieser gehören auch jene Techniken, welche die 13. Maxime beschreibt: Verstellung als Wahrheit und - die raffiniertere Variante Wahrheit als Verstellung auszugeben, sind die Waffen eines Privatklugen, der einen »schlauen feind« besiegen und damit die eigenen Chancen heraufsetzen kann. Aus der Beschreibung der hier als Kriegslisten geführten Regeln politischer Klugheit läßt sich unschwer auf die soziale Sphäre schließen, auf welche Gracians Maximen zuvörderst orientieren. Insbesondere das vom Übersetzer Müller im Kommentar zur 13. Maxime herausgehobene Zentrum der politischen Klugheit, die Verstellungskunst und deren soziale Behandlung, wird plastisch erst im Kontext einer allgemeinen Phänomenologie des Hoflebens, welche den einzelnen Anweisungen zu klugen und verstellten Operationen unterlegt ist.15 Daß Gracians Oraculo manualy Arte de prudencia, 1647 erstmals

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Müller, Balthasar Gracians Oracul, 81. — Bosheit und Krieg, die von Müller hier gewählten Vokabeln, übersetzen: »milicia« und »malicia«. »Milicia es la vida del hombre contra la malicia del hombre« (ebd., 80). Die beiden Wörter sind nur beinahe identisch: ihre Differenz liegt im Buchstäblichen. Der Ernst der kriegerischen Universalsituation wird versehen mit dem Index des Wortspiels. Das konzeptistische Experimentieren dokumentiert somit, über die bloße Freude daran hinaus, ein Experimentieren mit basalen (anthropologischen) Aussagen, welche nur scheinbar den Status letztgültiger Wahrheiten haben. In der Skepsis diesen gegenüber treffen sich die politischen mit den ästhetischen Überlegungen Gracians. Zum Zusammenhang von Ästhetik und Politik/Klugheit bei Graciän siehe Gerhart Schröder, Logos und List. Zur Entwicklung der Ästhetik in der frühen Neuzeit, Königsstein/Ts. 1985, 122ff. — Trotz aller Skepsis hat der Politiker sich (situativ) gültige Menschen- und Situationsbeschreibungen anzufertigen, mit deren Hilfe er seinen politischen Alltag zu bewältigen vermag. Zu diesen gehört die Beschreibung der arte de prudencia, der Lebenskunst, als ars heilt. Vgl. dazu Jansen, Die Grundbegriffe des Balthasar Graciän, 79ff. — Daß der von Graciän konzipierte politische Akteur sich nicht allein auf die Position von Abwehr und Defensive zurückziehen kann, betont Jansen in diesem Zusammenhang zu Recht (ebd., 91). Siehe dazu auch Göttert, Kommunikationsideale, 50ff. Die bereits genannte französische Übersetzung des Handorakels von Amelot de La Houssaie, 1684 zuerst erschienen, trägt wohl nicht zufällig den Titel: »L'homme de cour«. Entsprechende Titel wählen die vor Müller angefertigten Übersetzungen, so etwa: »L'homme de cour oder der heutige politische Welt- und Staatsweise« (Johann

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erschienen, mit seinem Versuch, die Kunst der Klugheit zu skizzieren, zugleich eine Abhandlung über Verstellung und Verstellungskunst liefert, ist möglicherweise (ein) Grund für den Erfolg (und die literarische Vorbildlichkeit) des ratgebenden Textes, nicht jedoch Beweis seiner Originalität in der Sache.16 Die Situation des um die unbeständige Gunst des Fürsten sich bewerbenden und um die beständige Konkurrenz seiner Mitbewerber wissenden Höflings hat bereits Eustache de Refuge in seinem Tratte de la Cour von 161617 veranlaßt, der bloßen Beschreibung dieser prekären Relationen eine Samm-

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Leonhard Sauter, 1686) und »Homme de cour. Oder: Kluger Hof- und Welt-Mann« (Silentes, d. i. Christian Weissbach, 1711, 21715). Daß, wie bei Silentes, dem Hofmanne der Weltmann zugesellt wird, entspricht der schon skizzierten Ausweitung des Politikkonzeptes und läßt sich an der Semantik einer Vielzahl politischer Texte von der Mitte des 17. Jahrhunderts an beobachten. Bück weist zu Recht darauf hin, daß bereits die Zeitgenossen Machiavellis dessen Lehre (selbstverständlich inklusive ihrer Verstellungstechniken) zu einer allgemeinen »Lebenslehre« machen und damit die Unterscheidung von Staats- und Individualräson in gewisser Hinsicht einebnen (Bück, Die Kunst der Verstellung im Zeitalter des Barocks, 93). — Die Graciän-Rezeption ist indes nicht zu überbieten: Hidalgo-Serna gibt an, daß die französische Übersetzung des Handorakels von Amelot de la Houssaie zwischen 1684, dem Jahr der Ersterscheinung, und 1765 dreiundzwanzigmal neu aufgelegt worden ist. Vgl. Hidalgo-Serna, Das ingeniöse Denken, 21. — Die Bemerkung Ulrich Schulz-Buschhaus', in Gracians Frühwerk — gemeint ist insbesondere der »Heroe« von 1637 — werde das bislang allein dem Herrscher, dem Fürsten, vorbehaltene verstellte Verhalten >erstmals< verallgemeinert, ist mit Hinblick auf de Refuge einzuschränken. Die Übertragung ehedem fürstlich-politischer Techniken auf den Bereich der höfisch-gesellschaftlichen Interaktion ist nicht Graciäns originäre Leistung. Gleichwohl ist er für die Rezeption, darauf wurde bereits hingewiesen, ungleich bedeutender als de Refuge. Vgl. den instruktiven Aufsatz von Ulrich Schulz-Buschhaus, Über die Verstellung und die ersten »Primores« des »Heroe« von Graciin, in: Romanische Forschungen 91 (1979), 411—430, hier: 426f. — Gracians Bedeutung für die deutsche Literatur behandelt ausführlich Egon Cohn, Gesellschaftsideale und Gesellschaftsroman des 17. Jahrhunderts. Studien zur deutschen Bildungsgeschichte, Berlin 1921, 199-211. Cohn betont Gracians Eklektizismus und seine Epigonali tat bezüglich der entsprechenden Traditionen der italienischen Renaissance und ist, in puncto Rezeption, bemüht herauszustellen, daß Gracian für »das deutsche Geistesleben des 17. Jahrhunderts« nicht die Bedeutung zukommt, die Borinski ihm in seiner Graciän-Studie beigelegt hatte (Cohn, 202ff.). Vgl. dazu die (materialreiche, aber völlig unsystematische) Arbeit von Karl Borinski, Balthasar Gracian und die Hoflitteratur in Deutschland. Reprogr. Nachdr. d. Ausg. Halle 1894, Tübingen 1971. Eine kurze, aber treffende Charakterisierung dieses Textes findet sich bei Maurice Magendie, La politesse mondaine et les theories de l'honnetete, en France au XVII e siecle, de 1600 ä 1660. Reimpression de l'edition de Paris 1925, Geneve 1970, 351ff. — De Refuge stellt nicht allein die Bemühung des Höflings um die Gunst des Frusten in den Vordergrund seiner praktischen Anweisungen, sondern versucht, das soziale und kommunikativ-wirkungsbezogene Verhalten am Hof überhaupt — aus der Perspektive des je einzelnen Akteurs — zu erfassen.

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lung von Techniken zur Seite zu stellen, mit Hilfe derer der Selbsterhaltung18 am Hofe Chancen eingeräumt werden sollen: Ein Kluger Hofmann, so der Titel, den Harsdörffer für seine 1655 erschienene Übersetzung des Traite de la Cour wählt, hat sich der Verstellung zu bedienen. Sie erscheint, wie noch in Müllers Gracian-Kommentar fast hundert Jahre später, als Herzstück der dem Hofmanne nötigen klugen Künste. Harsdörffers Übersetzung überschreibt das diesem Problem der Verstellung gewidmete Kapitel mit: »Von der Zurükkehaltung der Worte und Werke«.19 Insbesondere in »Hofgeschäfften«, so

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»Selbsterhaltung« ist hier durchaus verstanden als jene von Günther Bück ausführlich behandelte Kategorie der neuzeitlichen Anthropologie, welche Selbsterhaltung als Selbststeigerung denkt. Im Gegensatz zum stoischen Konzept der Selbsterhaltung als appetitus conservationis sui ipsius geht die politische Philosophie seit Hobbes davon aus, daß nicht »Sein« bloß zu bewahren ist, sondern, den neu-zeitlichen Schwund natürlicher Teleologie vorausgesetzt, Selbsterhaltung Bewegung impliziert, eine Bewegung hin auf ein — vom unstillbaren Begehren (desire) — je anvisiertes Ziel, welches sich wiederum im Horizont neuer Ziele findet. Furcht, Begehren, Neugierde und Machtstreben sind die wesentlichen, dauernde Bewegung und Unruhe verursachenden »Triebe« des ideologisch nicht zu beruhigenden Menschen, welcher auf diese Weise (unter großem Aufwand) Selbsterhaltung als Selbststeigerung exekutiert. Knapp reformuliert, ist dies die detailliert herausgearbeitete Zentralthese von Günther Bück, Selbsterhaltung und Historizität, in: H. Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt/M. 1976, 208—281. — Die politische Anthropologie des Thomas Hobbes ist mit ihrer Konstruktion eines kriegerischen Naturzustandes in vielen Bestimmungen abbildbar auf jene Phänomenologie des Hoflebens, wie sie im 17. Jahrhundert üblich ist. Einige dieser Bestimmungen seien genannt: Vergleich und Wettbewerb (»Komparation als Kompetition« — Bück, Selbsterhaltung und Historizität, 236f.), Machtstreben, Bedrohung und Bedrohtheit, (Kalkulation von) Opazität, Argwohn, Mißtrauen, Umund Vorsicht in jeder Beziehung, »Unruhe« überhaupt. Ausgeschlossen ist jedoch die Angst vor gewaltsam herbeigeführtem Tod; der Tod des Höflings ist ein sozialer Tod, wie die Metapher des »über Leichen gehenden Höflings« andeutet. — Daß Hobbes seiner Naturzustände-Konstruktion Elemente frühbürgerlicher Markt- und Konkurrenzgesellschaft einarbeitet, hat ideologiekritisch Macpherson betont (Crawford B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, Frankfurt/M. 1973); dagegen ließe sich einwenden, daß ein — wie auch immer gefährdeter — Besitz einen Ruhe-Punkt darstellen kann, während der Höfling, und dies gilt insbesondere für den nicht erbadeligen Aufsteiger, von »Fallhöhe« und »Nichts« bedroht ist, ohne Schutzvorkehrungen sicher treffen zu können. — Zum Vergleich von höfischer und bürgerlicher Rationalität allgemein vgl. Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt/M. 1983 ( 969), 139-177. Georg Philipp Harsdörffer, Mr. Du Refuge, Kluger Hofmann: Das ist/ Nachsinnige Vorstellung deß untadelichen Hoflebens/ mit vielen lehrreichen Sprüchen und denkwürdigen Exempeln gezieret; Nicht nur den Hofleuten zu dienlicher Nachrichtung: sondern allen und jeden welche bey grossen Herren mit schweren Regiments=Geschafften beladen/ und sich vieler Welthändel unterziehen müssen/ Zu sondrem Behuff Gedolmetscht/ und mit vielen Gedichten/ Anmerckungen und seltnen Betrach-

Metamorphosen der Verstellungskunst

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führt er aus, ist diese »Zurückehaltung«20 zu praktizieren, sind Meinungen, Absichten und Vorhaben, kurz: die Geschäfte zu verbergen, ist die reservatio mentalis durchzuhalten, ohne die Aufmerksamkeit von Beobachtern, anderer Höflinge also, über Gebühr zu erregen. Offenherzigkeit jedenfalls ist bei Hofe nicht angebracht, wie die in diesem Zusammenhang benutzte Metapher des (aufgedeckten) Kartenspiels illustriert: Der Vergleich baut darauf auf, daß mit dem Blick in die Karten das Spiel zwar nicht unbedingt beendet, wohl aber verloren bzw. gewonnen ist; gewonnen für denjenigen Spieler, welchem es gelang, Einsicht in die Karten des Gegenspielers zu gewinnen. Wie der Blick in die Karten ist das Offenlegen der Absichten (oder bloß: deren ungeschickte Cachierung) mit dem Sieg des Mitspielers, des Höflings in der Rolle des Konkurrenten also, identisch. Zumindest aber ist, wenn nicht die Gewißheit, so doch die »Gefahr eines nicht geringen Verlustes« in der Situation der Auf- und Entdeckung nicht abzuweisen.21 »Mit aufgelegter karte zu spielen ist eine sache, davon man weder vortheil noch vergnügen hat«, heißt es in Gracians 3. Maxime, und auch hier ist die Karten-Metapher eingeschlossen in eine Warnung vor unpolitischer Offenherzigkeit. Zwar ist die Metaphorik des Kartenspiels gefälliger als die des Krieges und der kriegerischen Listen, doch hat die Spiel- mit der Ernstfall-Metapher eines gemein: Die Logik von Gewinnen und Verlieren impliziert, daß in der Regel nur einer gewinnt und daß, wer nicht gewinnt, notwendig verliert; andere Möglichkeiten sind ausgeschlossen. Übertragen auf das Feld der sozialen Beziehungen, der Interaktionen im höfischen Umgang, erscheint, was im Falle des Kartenspiels bloß analytisch und daher selbstverständlich ist, nun aber als mit dem Begriff des Umgangs nicht unbedingt gegebener Sachverhalt: Personen begreifen sich, folgt man der Übertragung, als Spieler und Gegenspieler, die, konzentriert auf den eigenen Sieg, nichts berücksichtigen als die dazu zweckdienlich erscheinenden Mittel. Das Spiel basiert also auf einer Konfrontation von Privatabsichten, von je eigenen Interessen, welche weder ein zu erreichendes Gemeinwohl berücksichtigen, noch den selbstlosen Mitvollzug der Interessen der anderen sich zum Ziel setzen. Der kluge politicus, wie ihn de Refuge und nach ihm Gracian konzipieren, geht davon aus, daß eine Harmonie der Interessen weder von selbst gegeben, noch, unter den geltenden Um-

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tungen beleuchtet. Durch ein Mitglied der hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschafft, Frankfurt und Hamburg 1655,146f. Bei Harsdörffer (ebd., 147) heißt es: »Wer sein Spiel aufdeckt/ und ihm in die Karten sehen lasset/ der setzet sich und seine Freunde/ welcher Glück mit dem seinen verbunden/ in Gefahr eines nicht geringen Verlustes.« Müller, Balthasar Gracians Oracul, 22. - Die Kartenspiel-Metapher findet in prägnanter Weise Verwendung in den Maximen 16, 98 (hier explizit auf die Verstellungskunst bezogen) u. 240. - Ein (hinsichtlich der sozialen Konnotationen) schwächeres Äquivalent bietet die Metapher des »offenen Briefes« in Maxime 179.

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ständen, technisch herstellbar ist. Mag ein solcher Zustand der Harmonie auch wünschenswert erscheinen, so wäre ein an diesem orientiertes Vorgehen des Höflings fatal insofern, als damit dessen Unglück bei Hofe kaum vermeidbar wäre. Eine sich ins Gewand erreichter Realität kleidende Utopie bürgerlicher Geselligkeit, deren Geltungsbereich dann in kritischer Absicht auf alle Felder gesellschaftlicher Beziehungen projiziert werden wird, ist hier, soviel ist deutlich, noch weit entfernt.22 De Refuge rät seinem Höfling - die Logik von Gewinn und Verlust zugrundegelegt -, »seinen Willen/ mit einem freyen und lieblichen Angesicht/ und holdseligen Geberden/ und freundlichen Worten [zu] verstellen«, denn, das gilt als ausgemacht, nur so ist den Interessen überhaupt eine Chance gegeben, sich zu realisieren, ehe ein Gegenüber auf diese hat aufmerksam werden können. Der verstellte Hofmann hat »also sein Spiel wol in acht zu nehmen/ wann er die verlangte Ehre gewinnen will«,23 fährt der Text de Refuges fort. Die verlangte Ehre meint in der Regel die Reputation bei Hofe, welche sich im Amt, in der dem aulicus vom Fürsten zugedachten Stellung zeigt. Sie lokalisiert ihn in einer stabilen Hierarchie von Funktionen und fixiert damit in eindeutiger Weise seine Beziehungen zu anderen Höflingen.24 Zwar ist die Hierarchie der Ämter und Funktionen relativ stabil; deren personelle Besetzung jedoch ist dauernden Veränderungen unterworfen, ein Tatbestand, welcher den Höfling, anders wohl als den modernen Beamten, zu dauernder Aufmerksamkeit zwingt.25 Der Abstieg muß verhindert und auf 22

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Deren Vorstellung natürlicher Kongregation ist dem Exempel einer Bienen- und Ameisengesellschaft vergleichbar, welche Hobbes den menschlichen sozialen Verhältnissen entgegensetzt. In seiner Rekonstruktion der aristotelischen These vom syon politicon zitiert er die Bienen- und Ameisengesellschaft/-geselligkeit, um dann die Differenz von Mensch und Tier hinsichtlich ihrer Vergesellschaftung zu explizieren: Zu dieser differentia specifica gehört, daß in der Menschengesellschaft mit der Identität von Privat- und Gemeinwohl nicht zu rechnen ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Status der Rhetorik: Als Beleg und Exekution menschlicher Freiheit erlaubt sie es, Dinge und Personen mit (moralischen) Prädikaten zu versehen, die — in einer bestimmten Situation — funktional, nicht jedoch — situationsunabhängig — wahr sind. Aufgrund der Existenz der Sprache (als Rhetorik) ist eine Menschengesellschaft als sich natürlich regelnde Sozialität nicht denkbar. Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen oder kirchlichen Staates, hg. v. I. Fetscher, Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1976,17. Kap., 133. Die Hofliteratur zeigt, daß die Rhetorik als angewandte Kunst der Wirkung und Beeinflussung den Bedingungen der »Komparation als Kompetition« innewohnt. Harsdörffer, Mr. Du Refuge, 151. Dies gilt auch für den geselligen Umgang bei Hofe, der, »belastet« mit karrierebezogenen Ambitionen gelungener Selbstpräsentation, dem »Privatleben« des Bürgertums nicht zu vergleichen ist. Vgl. dazu ausführlich Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft, 84f. Zu Rangordnung und Karrieremöglichkeiten am Hof vgl. Elias, ebd. 138ff. — Ein auf diese Bedingungen hin abgestimmtes Verhalten des Höflings wird als spezifische Form umfassender Rationalität beschrieben (140f.).

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den Aufstieg muß hingearbeitet werden, indem man die Gunst des Fürsten zu erlangen sucht. Die genaue Planung der jeweils eigenen (Karriere-)Vorhaben geht einher mit der Beobachtung anderer Vorhaben, welche sich möglicherweise als identisch und damit als Blockade erweisen. Vom eigenen Geschick, der Erlangung eines begehrten Amtes etwa, ist das Geschick anderer direkt betroffen. Die eigenen Absichten zu verstellen und die der anderen zu entdekken, gehört also zu jenen Techniken und Geschicklichkeiten, mit deren Hilfe der Höfling sein Geschick bei Hofe meistert. Mit »offenen Karten« zu spielen, ist, um in der Logik der Metaphorik zu bleiben, gerade dann verhängnisvoll, wenn das Spiel ernstgenommen wird und nur einen Gewinner zuläßt. Daß mit einem Amt bei Hofe wesentlich die Verstellungskunst seines Inhabers honoriert wird, gibt, in kritischer Absicht, Johann Wolfgang Christstein zu verstehen: Ein »Ampt« bei Hofe bekommen ihm zufolge diejenigen Personen, die dort »politisch dissimuliren«, nicht diejenigen, die sich, religiös oder moralisch motiviert, eines »aufrichtigen Wandels«26 befleißigen. Mit der Entgegensetzung von Aufrichtigkeit und Verstellung versucht die Literatur der Hofkritik, welcher auch Christsteins Traktat aus dem Jahre 1675 zuzurechnen ist, gegen den »mainstream« der Hofpräzeptistik eine Aufwertung der Aufrichtigkeit zu betreiben, welche im privatpolitischen Kontext nicht anders denn als »Einfalt« behandelt wird. Die loci communes der Hofkritik weisen dem Gegensatzpaar von Aufrichtigkeit und Verstellung einen prominenten Platz an und sichern somit, wider Willen sozusagen, ein Interesse an der Verstellungskunst.27 Dieses erhält sich, unbeschadet der energischen hofkritischen Invektiven, bis ins 18. Jahrhundert, wie etwa der Gracian-Kommentar des Leipziger Philosophieprofessors Müller zeigt. Wenige Jahre später, zu einer Zeit also, in welcher eine neue, bürgerliche, nun mit größerer Reichweite ausgestattete Hofkritik sich bereits etabliert hatte, gibt Zedlers Universal Lexicon im Artikel »Hof«28 von diesem eine Beschreibung, welche 26

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Johann Wolfgang Christstein, Der heutige Welt=Mann in seinem politischen Habit/ [...] Zu Papier fürgestellt/[o.O.] im Jahr Christi 1675,46f. Als typisch hierfür kann gelten: Christoph Lehmann, Florilegium politicum: Politischer Blumen Garten/ Darinn Auszerlesene Sententz/ Lehren/ Regulen und Sprüchwörter [...] in locos communes zusammen getragen, Lübeck 1639 ( 630). Die loci communes Lehmanns stellen unter »Hoff« insbesondere die Verstellung, das »simulieren« in den Vordergrund (ebd. 399). — Zur (Entstehung der) Hofkritik allgemein vgl. Helmuth Kiesel, >Bei Hof, bei Hölh. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller, Tübingen 1979. — Zur Hofkritik der altdeutschen Opponenten (Moscherosch, Schupp, Lauremberg u.a.) und den von ihnen postulierten >deutschen< Tugenden (Redlichkeit, Aufrichtigkeit, Einfalt, Grobheit etc.) siehe Manfred Windfuhr, Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1966,351ff. Art. »Hof«, in: Zedler, Grosses vollständiges Universal Lexicon, Bd. 13, 1735, Sp. 404-412.

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dem Genre des Lexikonartikels entsprechend — weder kritische Intentionen (im Sinne einer eindeutigen Hofkritik) verfolgt, noch als eigentliches >Handorakelüber-Leichen-gehenden< Höflings fügt sich ein in jene von Kampfund Kriegsmetaphern geprägten Beschreibungen, welche Gracian und andere vom höfischen Schauplatz anfertigten. Bis in Details hinein in Übereinstimmung mit den einschlägigen Traktaten des 17. Jahrhunderts, die er in gleichsam synoptischer Rückschau präsentiert, hält Zedlers »Hof«-Artikel fest: Ein homo aulicus hat es schwer, sich »bey Hofe zu mainteniren«, da andere sich beständig anstrengen, ihn zu »unterminiren«.30 Nicht anhaltendes Glück und Ruhe, sondern Unruhe und Risiko bestimmen die Existenz der Höflinge; in dem Wissen, das Glück nicht auf Dauer stellen zu können, müssen sie den riskanten Zustand zu erhalten suchen und dessen Stabilisierung als die eigentliche Sicherheit betrachten.31 Dem dienen die Mittel politischer Klugheit; und zur allgemein empfohlenen klugen Um- und Vorsicht gehört der bekannte Imperativ der Verstellung: »Deine Absichten verbirg, und sey verschwiegen in Vollzühung dererselben.«32 Das Recht, sich zu »mainteniren«, ist mit dem Recht auf Verstellung verbunden — auch in diesem Punkt weicht Zedler nicht von den aus dem 17. Jahrhundert bekannten Argumentationen ab. Auch die 29 30 31

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Ebd., Sp. 407. Ebd. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang Antonio de Guevara, Institutiones vitae aulicae. Oder Hof Schul [...], München 1610, 27. — Guevara warnt hier vor und orientiert zugleich auf eine solche höfische Situation beständiger Unbeständigkeit; fast übergangslos geht deshalb Kritik in Lehre (Hofschule) über, wird der Leser vom distanzierten Beobachter zum identifizierten Mitspieler. Art. »Hof«, in: Zedler, Universal Lexicon, Bd. 13, Sp. 407.

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- zu Beginn des 18. Jahrhunderts beliebte - Politesse verlangt nach einem Gebaren der »Heiligkeit«, welches an Verstellung grenzt. Bei Hofe lebt man »polit«, wie der Lexikon-Artikel konzise festhält, und jene Politesse verlangt, dem »Schein« den Vorzug zu geben. Dazu gehört, durch »die glatten Worte des ändern«33 — diese mögen nicht einmal verstellt oder in betrügerischer Absicht gesetzt sein — sich nicht etwa zu vertrauensvollem Umgang animieren zu lassen. Bei seiner planvollen Kalkulation eigener und fremder Verstellung sollte der Höfling damit rechnen, daß: Mißtrauen vor Vertrauen rangiert, Feindschaft wahrscheinlicher ist als Freundschaft und der »Schein«, wenn er auch bloß schön zu sein vorgibt, im Regelfall des Hoflebens doch betrügerisch

ist. Nicht zufällig erinnern noch die in Zedlers »Hof«-Artikel resümierten Maßnahmen der Selbsterhaltung an jene, welche Machiavelli dem virtuosen Fürsten zuschrieb. Oft genug findet sich jedoch, gerade zu Beginn des 18. Jahrhunderts, das gegenteilige Bemühen: Der Versuch nämlich, die der Hofpräzeptistik ganz offensichtlich eignende machiavellistische Dimension zu negieren: Den Vorwurf des Machiavellismus zu antizipieren, um ihn dann, mit dem Versuch einer Begründung, abzuweisen, gehört zu jenen captatio-benevolen-

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Ebd., Sp. 411 — Vgl. hierzu den Artikel »Politesse« in Zedlers Universal Lexicon. Die Politesse hat sich als »Elegantia morum« nicht bloß am Hof, sondern »im täglichen Umgang« zu zeigen. — Wenn auch hier vom Hof und der höfischen Rangordnung abstrahiert wird, so wird die Politesse jedoch auf eine strenge Beachtung des ständischen decorum verpflichtet (Art. »Politesse«, in: Zedler, Universal Lexicon [...], Bd. 28, 1741, Sp. 1522f.). Sie trägt insofern Züge jener höfischen Rationalität, die Norbert Elias für die »höfische Gesellschaft» beschreibt. — Wiepo/itesse so wird auch das Modewort galant in den deutschen Sprachgebrauch entlehnt. Der Sache nach stehen beide Wörter in enger Verbindung zum »Politischen«, zumpoliticus des 17. Jahrhunderts, und indizieren die Verallgemeinerung des politischen Interaktionsideals. Das »Galante« erfaßt darüber hinaus das Äußere, insbesondere die Kleidung. Vgl. dazu Wilfried Barner, Barockrhetorik, 138ff. - In seinem berühmten Kolleg von 1687/88 nennt Thomasius, mit Hinblick auf Frankreich, »die Galanterie und la Politesse« in einem Atemzug. Siehe Christian Thomasius, Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle, in: ders., Deutsche Schriften, hg. v. Peter von Düffel, Stuttgart 1970, 19. — Daß die Galanterie »bey Hoffe« ihren eigentlichen Sitz hat und sich von dort ausbreitet, gibt Thomasius ebenfalls zur Kenntnis. Als vom Höfischen abgeleitete Verhaltensform rekonstruiert Wilhelm Voßkamp das Ideal des Galanten, welches sich jedoch, wie Voßkamp nachweist, zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Deutschland auf eigentümliche Weise zu wandeln beginnt: Unter Beibehaltung spezifisch politischer Momente adaptiert das Ideal des Galanten gleichzeitig Momente neuer zeitgenössischer Diskussionen wie z. B. das ästhetische Natürlichkeitsprinzip. Inwieweit es mit diesem Natürlichkeitsbegriff in die Nähe »bürgerlicher« Konzepte rückt, wird noch zu diskutieren sein. Vgl. Wilhelm Voßkamp, Das Ideal des Galanten bei Christian Friedrich Hunold, in: August Bück u.a. (Hg.), Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 9), Hamburg 1981, 61 — 66.

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/wi-Formeln, welche die Autoren von Hoftraktaten und politischen Klugheitslehren ihren Vorreden und programmatischen Abschnitten einstreuen. Doch noch oder gerade die Abwehr, die Antizipation des Verdachts und das Bestreben, diesen auszuräumen, machen auf Aktualität und Brisanz des Themas Machiavelli aufmerksam und verhindern in der Folge - mögen die kritischen Diskussionen auch von anderen Motiven getragen sein — dessen Verblassen. Daß »virtu« und »prudenzia«, die Kardinaltugenden des Principe, nicht allein dem Fürsten, sondern auch dem Hofmann nützlich sind, gehört zum common sense der politischen Präzeptistik, wenngleich diese den entscheidenden Prätext, eine ihrer zentralen und traditionsstiftenden Vorlagen, nicht gern explizit benennt. Bekanntlich bot der Tacitismus im späten 16. und im 17. Jahrhundert die Möglichkeit, den seit dem Tridentiner Konzil verfemten Namen Machiavelli zu umgehen, dessen Lehre indes mit Hilfe des Decknamens Tacitus gleichwohl zu verbreiten.34 Die (partielle) Identität von >klugem< Hofmann und Machiavellischem Fürsten scheint jedoch so evident wie irritierend, und genau diesem Sachverhalt wird, in der einen oder anderen Weise, affirmativ oder kritisch, begegnet. Im Brennpunkt der Auseinandersetzung steht, oft implizit, das 17. Kapitel des Principe.^ Darin wird die Frage der Verstellung zentral behandelt. Den Fürsten zeichnet kluge Schläue aus, eine füchsische Intelligenz, List und Verschlagenheit. Mögen gerade diese Eigenschaften seinen Ruhm begründen, so ist es doch auf der anderen Seite (politisch) wichtig, daß er nicht immer, nicht in jeder Situation und nicht allen gegenüber, als Fuchs erscheine. »Diese Beschaffenheit [...] des Fuchses muß er durch geschicktes stellen und verstellen wohl zu verdecken wissen.«36 Die hier zitierte Übersetzung aus dem Jahre 1714 gebraucht das übliche, der Verstellungskunst zugehörige Vokabular: Stellung und Verstellung sind die deutschen Vokabeln für simulatioldissimulatio?1 34

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Siehe dazu grandlegend Jürgen von Stackelberg, Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich, Tübingen 1960, 32f., 64 u. 260. - Zu den zentralen taciteischen Themen zählt gerade auch die (Legitimität der) Verstellung. Tacitus gilt an der Wende zum 17. Jahrhundert nicht allein als kundiger und brillanter Menschenbeobachter, sondern als politischer Beobachter schlechthin. Und in der Tat nimmt, so Stackelberg, Tacitus der machiavellistischen Analyse einiges vorweg (ebd., insb. 9, 21ff. u. 112ff.). - Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts konzediert Amelot de la Houssaie, der Machiavelli ins Französische übersetzt und >tacitistisch< kommentiert, die Übereinstimmung der Politiklehren Tacitus' und Machiavellis (ebd., 69 u. 92). Vgl. Mulagk, Phänomene des politischen Menschen, 56f. Nicolai Machiavelli, Lebens= und Regierungs=Maximen eines Fürsten [...], Cölln 1714,146. Neben dem Kalkül der »Verbergung der Absichten« (Graciän) steht Dissimulation als Affektkontrolle und Affektbeherrschung in neustoizistischer Tradition. Die Bezähmung der Leidenschaften und Affekte führt dort zur Ausbildung einer Vernunft,

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welche jedoch auch als Fremdworte (Simulation und Dissimulation) geläufig verwendet werden. »Stellung« oder »Stellen« bedeutet, daß etwas gezeigt wird, das >in Wahrheit< gar nicht vorhanden ist; etwas bloß Erfundenes tritt an die Stelle der Wahrheit und gibt sich, das unterscheidet die Stellung (Simulation) sowohl von der Fiktion als auch von der Ironie, doch als solche aus. Des Fürsten »geschicktes stellen« läuft darauf hinaus, daß er ethische und religiöse »Qualitäten» zeigt, Tugenden, die er nicht besitzt, von deren scheinhafter Stellung er sich jedoch politischen Erfolg verspricht. »Du soll gnädig/ treu/ freundlich/ religieux und auffrichtig scheinen und seyn/ jedoch aber in deinem Gemüthe also beschaffen seyn/ daß du bey Erfoderung der Noth/ obige in das Gegentheil zu verwandeln wissest und könnest.«38

Eine nur gelegentliche Orientierung an der Tugend (»scheinen« und »seyn«) widerspricht ihrem Begriff, so daß der Fürst nicht als wahrhaft und habituell Tugendhafter, wohl aber als talentierter Darsteller gesehen werden kann. Vor dem Hintergrund der anthropologischen Annahme, daß alle Menschen »böse«,39 stets tugendhafte und ehrliche mithin zum Scheitern verurteilt sind,

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welche (soziale und staatliche) Ordnung stiftet und erhält, jedoch naturimmanent konzipiert ist. Vgl. dazu Günter Abel, Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, Berlin - New York 1978, 40ff. u. 114ff. In dieser stoizistischen Tradition steht auch Torquato Accetto, dessen Traktat über die >schickliche Verstellung< betont, daß die dissimula^ione der Selbstüberwindung (und der legitimen Selbstverteidigung) dient (Torquato Accetto, De la dissimulazione onesta (1641), hg. v. Benedetto Croce, Bari 1928). Vgl. dazu auch Bück, Die Kunst der Verstellung, 100. — Dissimulation als Ordnungskategorie wird in dem hier vorgestellten Zusammenhang insbesondere für den weiblichen Geschlechtscharakter (des 18. Jahrhunderts) relevant. — Von der Beziehung von Affekten und politischer Aktion handelt Walter Benjamin: Neben dem zugleich affektgesteuerten und affektbeherrschten Fürsten ist der Intrigant diejenige Figur, welche vollends affektbeherrscht, überlegt und »willentlich« handelt; der ihm zugesprochene Machiavellismus verlangt ein Höchstmaß an Affektdisziplinierung und psychologisch kluger Berechnung anderer. Siehe Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt/M. 1963 ( 928), 64ff. und 94ff. - Die rhetorische Kategorie der dissimulatio (artis) wird, in ihrer ästhetischen und auch politischen Färbung, später ausführlich behandelt werden. — Zu Fragen der Terminologie siehe Carl. Gottofr. Ittig, De simulatione et dissimulatione, olim et hodie usuali [...], Lipsiae 1709, insb. 8f. — Ittig verweist darauf, daß >verstellen< (dissimulare) von >stellen< (simulare) nicht zu trennen ist. Dieser Sachverhalt, hier akademisch gesehen, erschwert die politisch übliche Aufwertung der Dissimulation gegenüber der Simulation, worin sich wiederum eine politische Strategie zu erkennen gibt (ebda., 6). — Zur Abgrenzung von Simulation/Dissimulation und Ironie vgl. Wolfgang G. Müller, Ironie, Lüge, Simulation, Dissimulation und verwandte rhetorische Termini, in: Christian Wagenknecht (Hg.), Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX, Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986, Stuttgart 1989,189-208. Machiavelli, Lebens= und Regierungs=Maximen, 147f. Ebd., 146.

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soll die Simulation des Fürsten, welcher überdies nicht nur für sich allein Verantwortung trägt, als nicht prinzipiell verwerflich gelten. Die simulierten Eigenschaften des Principe verwandeln sich, das zeigt das Zitat, im Zustand der Not legitimerweise in ihr Gegenteil, die Arbeit am Schein erübrigt sich sodann. Das formalisierte Spiel mit dem Gegenteil wird, daran sei erinnert, in Graciäns 13. Maxime raffiniert werden, und leicht ist ersichtlich, wie der bei Machiavelli konstruierte Notstand, der alles ohne Einschränkung zu tun erlaubt, ja erfordert, zur »kriegerischen« Universalsituation Graciäns ausgeweitet werden kann. Wider »die humanite« zu handeln, ist des Fürsten Pflicht, denn die ihm gestellte Hauptaufgabe, welcher andere Verpflichtungen nachzuordnen sind, liegt in der »Erhaltung seines Landes«.40 Was dem Fürsten die Erhaltung seines Landes, so läßt sich parallelisieren, ist dem Höfling die Erhaltung seiner selbst bei Hofe. Der Schein, welcher, wie gesehen, in Zedlers »Hof«-Eintrag zur Selbstverständlichkeit eines politen Umgangs gehört, ist dem Fürsten in einer politisch wichtigen Angelegenheit behilflich: Der Schein nämlich trägt ihm den Ruf eines vir bonus und den eines Christen ein. »Es ist also nicht nöthig/ daß ein Fürst alle obenberührte Qualitäten besitze/ wohl aber daß es scheine als hätte er sie.«41 Entscheidender noch als das hier entworfene Charakterprofil ist die rhetorische Basis der Argumentation insgesamt: Bloß gestellte Qualitäten nämlich unterscheiden sich nicht von wahren Qualitäten; jene erreichen die gleichen Wirkungen wie diese, vorausgesetzt natürlich, es gelingt, sie für politisch relevante Beobachter, für das jeweilige >Publikum< also, überzeugend zu präsentieren. Machiavellis Text setzt sich hier an dessen Stelle, nimmt wahr aus der Perspektive eines zum »man« hin verallgemeinerten Beobachters des Fürsten: »und wenn man ihn ansieht und höret/ muß er voll lauter Gnade/ lauter Redlichkeit lauter Sanfftmuth und Gottes=Furcht scheinen.« Die Wirkung bezieht sich auf das, was am Fürsten wahrzunehmen, zu sehen und zu hören ist; der Ruf gründet sein Urteil auf das, was wenig später schon eine bloße »Äußerlichkeit« genannt werden wird. Die Gebärden und auch die Worte des Fürsten haben sich zunächst an ihrer antizipierten Wirkung zu orientieren. Die wahren Qualitäten vermag das Gegenüber nicht aus dem Verborgenen des Bewußtseins ans Licht zu holen, vielmehr bleibt es verwiesen auf die gestischen und sprachlichen Zeichen, die kontrollierten Äußerungen und Aktionen, an denen entlang es seine Beobachtungen zu Hypothesen und Urteilen führen kann. Für die Person seines Interesses bedeutet das, noch einmal formuliert als politischer Merksatz: »Ein jeder sieht was du scheinest/ aber wenig fühlen was du bist«.42 40

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Ebd., 147. Ebd., 149. - In Graciäns 99. Maxime heißt es dann, die rhetorische Dimension politischer Verhältnisse hervorhebend: »Eine sache paßieret in der weit nicht vor dasje-

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Machiavellis Text über den idealen Fürsten installiert also jene Begriffspaare, derer sich in der Folge die pragmatische Hof- und Klugheits-Literatur bedient: Schein und Ruf, Simulation und Dissimulation, das Stellen erfundener Eigenschaften und Absichten und das Verbergen, die Dissimulation dessen, was zu den eigentlichen Vorhaben zählt und mit diesen in Verbindung steht. Darüber hinaus ist angegeben, was zu »stellen« von Vorteil ist: Aufrichtigkeit und Redlichkeit, Sanftmut und Gottesfurcht sind diejenigen Eigenschaften, welche bei Machiavelli maßgebliche Gegenbegriffe zu Simulation und Dissimulation bilden. Nicht die Legitimität von politischen Tugenden und Operationen43 soll auf diese Weise geprüft werden, sondern vielmehr geht es darum, auch die christlichen Tugenden — insbesondere die Tugenden der Aufrichtigkeit und Redlichkeit — der Verstellung und Stellung zugänglich zu machen, das Simulationsrepertoire auf diese Weise mit ethisch wirkungsvollen Rollen auszustatten, mit solchen also, welche der Politik des Fürsten Vorschub leisten. Dessen virtü ist Tugend auch in diesem Sinne. Wie angedeutet, wird der Inhalt des 18. Kapitels des Principe insbesondere im frühen 18. Jahrhundert zum neuralgischen Punkt der Diskussion. Christoph August Heumann, welcher mit seiner erstmals 1714 erschienenen politischen Klugheitslehre auf das gemeine Leben44 hin zu orientieren versucht, verlangt vom politicus, daß dieser »muß können simuliren und dissimuliren«, und versucht doch gleichzeitig bereits in der Vorrede, sich vom Verdacht jenes Politikbegriffs zu befreien, welchem der Geruch des Machiavellismus anhaftet. Wie für den Regenten und den Staatsminister, so sollte auch und gerade für eine »Privat-Person«, den Privatpolitiker im Gegensatz zum Staatspolitiker also, gelten, daß diese ihr jeweiliges privatpolitisches Interesse nicht mit »Lug und Trug« befördert. Ein so verfahrender »Machiavellist« nämlich könne den vom Autor Heumann vergebenen »Titul eines wahren Politick45 nicht für sich beanspruchen.

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nige, was sie wirklich ist, sondern vor dasjenige, was sie zu seyn scheinet« (Müller, Balthasar Gracians Oracul, 733). — Der Fürst orientiert sich an den an ihn gerichteten Erwartungen und wird auf der Grundlage eben dieser Orientierung wiederum beobachtet. Der politisch-rhetorische Personbegriff beschreibt die persona demzufolge nicht als reale Substanz, wie dies der spätere Charakterbegriff impliziert, sondern vielmehr als Kategorie der Selbst- und Fremdbeobachtung. Damit steht er einem modernen soziologischen Personbegriff nahe. Siehe dazu Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984,158f. u. 286. Zur ethisch indifferenten, für Ästhetizismus anfälligen »Praxis des Tatsächlichen« und der von Machiavelli an Cesare Borgia, dem prototypischen Politiker, beobachteten Verstellungskunst siehe Rene König, Niccolo Machiavelli, 175. Christoph August Heumann, Der Politische Philosophus, Das ist Vernunfftmäßige Anweisung zur Klugheit Im gemeinen Leben [...], Bey dieser dritten Auflage verbessert und vermehret von A.S.P., Franckfurt und Leipzig 1724. Ebd., Erste Vorrede (von 1714), unpag.

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Die Verstellungskünste sind als Mittel der Politik schon längst nicht mehr auf den Hof als Anwendungsbereich und auf den homo aulicus als Anwender beschränkt, wie Heumanns Simulations- und Dissimulationsgebot beweist. Die privatpolitischen Klugheitslehren sehen mit dem politicus eine kluge Person vor, deren Aktionsbereich nur unter Umständen der Hof46 ist. Die Welt jedoch, das >gemeine Lebern, in welchem man mit Hilfe von Klugheit und Privatpolitik zu avancieren hat, ist in signifikanten Merkmalen dem Hof nachgebildet. Dieser gibt das Modell ab für ein Verständnis von Welt, in welcher alle Beziehungen, der Umgang im weitesten Sinne, auf einer universellen Divergenz von Interessen beruhen. Für den politicus bedeutet das, die potentielle Bedrohung seiner Interessen voraussetzen zu müssen und sich doch gleichzeitig mit ihnen durchsetzen zu wollen. Wie dem aulicus ist deshalb dem politicus, der Ähnlichkeiten bzw. Identität ihrer Umstände halber, die Verstellungskunst unabdingbar. Bezeichnenderweise ist es denn auch der Artikel »Verstellung« in Walchs Philosophischem Lexicon, welcher vermerkt, daß die soziale Welt aus miteinander kollidierenden Privatinteressen besteht. In der »Beförderung seines privat=Nutzens« trifft der Einzelne auf »grossen Wiederstand offtmahls in der Welt, indem das Interesse der Menschen [...] auf vielfältige Weise zusammen collidiret.«47 Eine Voraussetzung, welche auch Christian Thomasius nolens volens zu teilen scheint und deshalb wohl in (der Übersetzung) seiner Klugheitslehre von 1710 folgende pauschale Empfehlung ausgibt: »Laß niemand mercken/ was du vor hast.«48 Die Geltung dieses Satzes wird nicht eingeschränkt: Die Klugheitslehre verspricht, ihren Nutzen, wie der Titel annonciert, »in allen Menschlichen Gesellschafften« unter Beweis stellen zu können. In Anlehnung an Aristoteles ist unter Gesellschaft, das expliziert die Vorrede, die Universität ebenso begriffen wie die Kaufmannschaft, die häusliche ebenso wie die höfische Gesellschaft sowie die Gesellschaft überhaupt, als nicht lokalisierte, ständisch nicht bestimmte, sich hier und da ereignende allgemeine Konversation.49 Die Dissimulation, das Verbergen der Vorhaben, ist in jeder 46

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Daß der privatkluge politische Philosoph Heumanns sich nicht unbedingt den Hof zum Ort der Konversation erwählen sollte, hängt zusammen mit der Annahme einer Abneigung der Hofleute gegenüber den Gelehrten, die leicht als eigensinnige, trokkene »Pedanten« gelten. Vgl. dazu Helmuth Kiesel, >Bei Hof, bei HöllSelbstbezogenheit< als Vorgeschichte von französisch »amour-propre«, Stuttgart 1977, 278ff. Die Religion wird von Seiten der »vernünftigen« Gesellschaft und Geselligkeit funktional bestimmt. Siehe dazu ausführlich Martens, Die Botschaft der Tugend, 186f. und 194f. Anthropologie soll hier nicht verstanden werden als Summe oder Teil all jener (wissenschaftlichen) Texte, die sich ihr expressis verbis, etwa im Titel, zuordnen. In einem allgemeineren Sinne erfaßt sie hier vielmehr die über den Menschen (im Singular) gemachten aufklärerischen Aussagen, die i.d.R. auf eine ihm zugeschriebene »Natur« (jenseits der Erbsündigkeit) gestützt sind und — weder eigentlich metaphysisch noch naturwissenschaftlich-empirisch — zum Fundament einer Konzeption ethisch-gesellschaftlichen Lebens werden. Für die »neuzeitliche« Anthropologie, die ihre Konjunktur im 18. Jahrhundert hat, konstatiert Odo Marquard allgemein eine »Wende zur Lebenswelt«. Diese selbst verlange nach anthropologisch-philosophischer Sättigung, wie Marquard, insbesondere im Hinblick auf Kants Anthropologie-

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sondere aber von der in der Privatpolitik unumgänglichen Kategorie des Standes und/oder des situativen aptums absehen möchte, beschreibt den Menschen als »Menschen«: als redliches, offenherziges, den Nächsten auf quasi natürliche Art liebendes Wesen, welches von seinen ihm von der Natur zugedachten Eigenschaften sich nur schwerlich überhaupt distanzieren kann. In einer kaum zu entwirrenden Gemengelage von (Realitäts-)Beschreibungen und (Möglichkeits-)Entwürfen entsteht das Konzept einer Gesellschaft der Freunde und Redlichen, der Biedermänner und Matronen, um nur einige der Titel Moralischer Wochenschriften aufzunehmen, einer Gesellschaft, welche sich entweder (partiell) schon realisiert findet oder aber als chancenreiches Projekt einer Zukunft realisierter aufgeklärter Moral anbietet: In jenem Stadium wird die Natur des Menschen zu sich selbst finden. Die in der Gegenwart sich stellenden Probleme — wie etwa die kaum zu verdrängende Tatsache, daß lasterhafte Personen von der menschlichen Natur absehen und damit nicht allein sich selbst diskreditieren, sondern darüber hinaus das Geschäft der Tugendhaften blokkieren und so das Projekt aufgeklärter Moral gefährden — >lösen< sich dann, wenn sie als zeitliche, bloß transitorische, nicht jedoch als prinzipielle, wesentliche Unverträglichkeiten zu denken sind.78 Über diese Möglichkeit einer »verzeitlichenden«, geschichtsphilosophischen Beseitigung konzeptueller Probleme hinaus verfügt die Sittenlehre der Aufklärung über eine andere Lösung, welche so trivial wie überzeugend ist: Obgleich einerseits die aufklärerische Moral ihr Fundament in einer (mora/-sense-geßitbten) positiven Anthropologie hat, ist sie doch andererseits von einer Unterscheidung getragen, welche die Menschheit (als Menschlichkeit) von ihren >Deserteuren< zu trennen ermöglicht: Nicht sicher sein zu können, ob man es mit einem Menschen (oder etwa bloß mit einem politicus) zu tun hat, impliziert, das Gegenüber nach Maßgabe

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Vorlesungen darlegt. Vgl. Odo Marquard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs Anthropologie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in: Collegium Philosophicum 1965, 209-239, hier: 212f. - Wie angedeutet, zeichnet sich die moralische Anthropologie der Frühaufklärung, beeinflußt von Naturrecht und moral sense-I-£hre, durch insgesamt positive Annahmen über die natürliche moralische Qualifikation des Menschen aus. Der Optimismus der »lebensweit!ich« orientierten und orientierenden Traktatliteratur steht, vergleicht man diese mit ihren Äquivalenten im 17. Jahrhundert, den Hofschulen und der politischen Traktatistik, in scharfem Kontrast zu deren anthropologischen Pessimismen. — Zur >populären< Anthropologie siehe Mareta Linden, Untersuchungen zum Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1976,106 u. 115f. Eine partiell realisierte Utopie einer in der Gesellschaft befreiten Natur zeigt die comedie serieuse. Diderots »Natur« ist nicht Abbild der gesellschaftlichen Situation, sondern Vorgriff auf eine zu realisierende Natur gesellschaftlich-moralischer Ordnung. Logische Unverträglichkeiten der Gegenwart lassen sich auf diese Weise entparadoxieren. Vgl. dazu Hans Robert Jauss, Diderots Paradox über das Schauspiel (Entretiens sur le >Fils Naturelinnere< Substrat tugendhaften Handelns, vermag es unbeschadet zu erhalten, und paradoxerweise ist es gerade »die Klugheit«, die ihm dabei behilflich ist: Sie nämlich »setzt [...] in den Stand auch in den gefährlichsten Fällen seinen Charakter redlich zu behaupten.«86 Mit der Einführung pragmatisch-politischer Techniken in die Redlichkeitsmoral soll deren Fundament, die Trennung zwischen guten und bösen Charakteren, zwischen Tugend und Laster, Schafen und Wölfen erhalten bleiben, mithin also die Möglichkeit, die Eigentlichkeit des Charakters von bloß episodischem Verhalten und die Menschen von den Unmenschen zu unterscheiden. »Ich übernehme die Vertheidigung der Menschlichkeit wider diesen Unmenschen«, annonciert Friedrich II. im Vorbericht zu seinem »Antimachiavell«.87 83 84

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Matthäus 10,16. Auch: Lukas 10,3. Vgl. Maxime 243. — Hier werden Taubennatur und Schlangenklugheit als in einer Person zu vereinigende Merkmale postuliert. Die Trennung in Schafe und Wölfe jedoch fehlt (Balthasar Graciin, Handorakel, Stuttgart 1975, 243f.). - Zur Tier-Symbolik bei Saavedra Fajardo vgl. Mulagk, Phänomene des politischen Menschen, 143f. »Der Wolf verbirgt sich unter der Gestalt eines Schafes, damit ihm der Raub desto leichter werde« (Der Redliche, 14. Stk., 215). So heißt es in der Erläuterung zur Allegorie von Taube und Schlange (Der Redliche, 2. Stk., 19). Friedrich II., Antimachiavell oder Versuch einer Critick über Nie. Machiavells Regierungskunst eines Fürsten [...], Hannover und Leipzig 1762, 213.

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Daß die »Machiavellisterey« (Ch. A. Heumann) sowohl die »Unschuld einer Privatperson«88 als auch die eines Regenten verführt, pointiert nicht allein die Allgemein-Gefährlichkeit des Principe, sondern diffamiert darüber hinaus die Privatpersonen in den Mittelpunkt stellenden Politiklehren. Der Bedeutungsverlust der Privatpolitik geht im 18. Jahrhundert einher mit einer kaum zu überbietenden Distanzierung vom Machiavellismus, welche zumeist auch dort prägnant ist, wo sein Name nicht fällt.89 Machiavelli zu folgen, hieße nun, wie Friedrich II. warnt, die »Barbarey« in einen neuen, gerade erreichten Zustand der »Menschlichkeit«90 wieder einziehen zu lassen. Die — wie auch immer rhetorische — Besorgnis des Preußenkönigs ist symptomatisch: Von der Jahrhundertmitte an, insbesondere aber in den empfindsamen 70er Jahren, werden Stellung und Verstellung, Zentraltugenden des »Fürsten« wie des ihm nachgebildeten Privatpolitikers, ohne (die für die Moralischen Wochenschriften etwa noch typischen) Einschränkungen verworfen. Mit der Entdeckung und kulturellen Multiplikation eines Konzeptes aufrichtiger Herzens-Kommunikation, welches Ethik und Ästhetik, Anthropologie, Hermeneutik und Physiognomik gleichermaßen für sich beanspruchen, wird die Verstellungskunst zwar vollends obsolet, jedoch nicht vergessen. Von der Bühne des gesellschaftlichen Lebens, welche nun nicht mehr dem Hof nachgebildet, sondern nach dem Vorbild einer Konzeption der bürgerlichen Familie modelliert ist, programmatisch verbannt, wird die Verstellungskunst nun auf einer anderen als der Weltbühne relevant: auf der Bühne des Theaters. Die Schauspielkunst nämlich wird zunächst als I/irr/i//»«theatralischen< Untermi88

Ebd., 214.

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Vgl. dazu oben, 24ff. Friedrich II., Antimachiavell, 223. Als tertium comparationis von Verstellungs- und Schauspielkunst fungiert die Rhetorik. Dazu unten, Kap. II, Abschn. 2, Exkurs über die actio-Lehre. Eine Theater-Geschichtsschreibung stellt die Elemente der Sittlichkeitsdebatten auch des 18. Jahrhunderts bereits 1823 zusammen: Carl Friedrich Stäudtlin, Geschichte der Vorstellungen von der Sittlichkeit des Schauspiels, Göttingen 1823, 5— 7. — Stäudtlin ist Philosoph und Professor der Theologie in Göttingen.

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nierung zugleich die Chance einer prägnanteren Profilierung des moralischaufrichtigen Charakters. Für die Schauspielkunst jedoch heißt das, daß deren ästhetische Phänomene (wie etwa die technisch-künstlerische Verwandlungsleistung der Schauspieler) nicht zuletzt als ethische Probleme behandelt werden. Der schöne Schein, welchen die proteische Kunst93 des Schauspielers erzeugt, wird reduziert auf den falschen, den betrügerischen Schein eines Verstellers. Wenngleich diese Behandlung der Kunst als Moral nicht ohne Einspruch bleibt, wie etwa die faszinierten Urteile eines Lessing oder Lichtenberg über den modernen Schauspieler schlechthin, über den Engländer Garrick,94 beweisen, so bleibt doch andererseits ein wesentlich von Rousseau sich herleitender common sense erhalten, welcher im Schauspiel und in der Kunst der Schauspieler ein Dementi der Charakter- und Identitätskonzeption argwöhnt.95 Die Idee einer Erziehung zur Aufrichtigkeit, welcher sich die in der Rousseau-Nachfolge stehende Anthropologie und Pädagogik angenommen haben, gebietet Transparenz im Umgang, Offenherzigkeit nicht allein im familialen Raum. In den Dienst dieser Erziehung stellt sich eine an bürgerliches Publikum adressierte Literatur, welche neben der Aufrichtigkeit auch deren negatives Komplement, die Schauspielerei, behandelt. Traktatähnliche Romane und romanähnliche Traktate, Multiplikatoren aufklärerischer anthropologischer Errungenschaften ihrem Selbstverständnis nach, widmen sich konzentriert sowohl dem Thema der Schauspielerei als Verstellung als auch dem der Verstellung als Schauspielerei. Dabei ist nur selten zu unterscheiden, worauf das Interesse der Kritik jeweils genau abzielt: auf die neue Institution des Theaters, dessen Wert als moralische Anstalt noch nicht als erwiesen gilt, oder aber auf die als Bühne beschriebene Gesellschaft überhaupt. In der modernen Umschreibung des tbeatrum-mundi-Gleichnisses stehen zumeist beide, Theater und Gesellschaft überhaupt, in Frage, wie der folgende Text verdeutlichen kann. 1799 läßt Christian Friedrich Sintenis den Protagonisten seines Romans, einen aufgeklärten Küster namens Ehrentraut, behaupten, daß er, der Aufklärer und Aufgeklärte, »im Jahrhundert der Humanität« geboren und folglich, anders wohl als sein Gesprächspartner, ein Graf, an die humanen Imperative des Saeculums gebunden sei.96 Der Roman läßt, in zeit- und gattungstypischer 93

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Im Proteus, deswegen die deutliche Parallele zur Verstellungskunst, wird der Politicus reidentifiziert. Vgl. Kap. VII, Abschn. 3. Hierzu Kap. VI. Christian Friedrich Sintenis, Dialogen des Küsters Ehrentraut, mit den Honoratioren seines Dorfes, 2 Tie., 1. Tl., Berlin 1796, 2. Tl., Leipzig 1799 (Neue Auflage), hier: 2. Tl., 75. - Ehrentraut, uneheliches Kind aristokratischer Abstammung, versteht sich in seiner betont bescheidenen Position sowohl als Volksaufklärer als auch

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Weise zwischen pädagogisch motiviertem Traktat und »schöner« Literatur changierend, die Grundprobleme der Pädagogik im Roman selbst noch einmal erscheinen. Der Dialog der Aufklärung mit ihrem Kontrapart, personifiziert im Küster Ehrentraut auf der einen, im Grafen auf der anderen Seite, arbeitet die pädagogischen Positionen der Dialogisierenden nach dem Muster der Gegenbegrifflichkeit heraus: Nach des Küsters Konzept hat »die erste Regel der Pädagogik« zu lauten: daß die Jünglinge keinesfalls lernen dürfen, »etwas zu seyn zu scheinen, was sie nicht sind.«97 Ein Jahr also, bevor das Jahrhundert der Humanität zu Ende geht, kann sich das hier anvisierte Publikum einer Maxime versichern, welche noch zu Beginn des Jahrhunderts alles andere als selbstverständlich war: Das Herz des zu erziehenden Jünglings muß »ohne Verstellung«98 sein, wie der Küster nachdrücklich fordert, seinem Dialogpartner im Habitus des Aufklärers begegnend. Der Graf beweist seine Rückständigkeit, indem er es »für die erste Erziehungsregel« hält, daß dem Jüngling die Fähigkeit, etwas »zu-seyn-zu-scheinen« gelehrt werde, jedenfalls dann, wenn er »für die Welt«99 erzogen wird. Die Unangemessenheit der vom Aristokraten — gegen alle Errungenschaften der Aufklärung — favorisierten Pädagogik des Handorakels illustriert die im Jahrhundert der Humanität vollzogene Ablösung der Klugheitslehre und Privatpolitik durch eine pädagogisch-moralische Traktatliteratur, welcher auch der vorliegende Text des Sintenis noch zuzurechnen ist. Als »Schule der Verstellung, der Heuchelei und Betrügerei«100 denunziert der Küster die Erziehungsmaximen des Grafen und mit diesen zugleich die Tradition der Privatpolitik insgesamt. Die unterschiedliche Haltung zur moralischen Legitimität der Verstellung scheint hier, in zwischenständischer Konversation, in erster Linie durch die soziale Stellung der beiden Kontrahenten bestimmt zu sein, durch ihre Zugehörigkeit zu Bürgertum und Adel. Charakteristischerweise sind die Positionen der beiden Standesrepräsentanten aber gerade nicht in dieser Weise eindeutig zu verrechnen: Denn weder ist der Streit als verbal ausgefochtener >Klassenkampf< zu subsumieren, noch ist die Position des aufgeklärten Küsters auf eine in moralischen Termini artikulierte Adelskritik beschränkt — wenn auch festzuhalten ist, daß deren Topoi in der Rede des Küsters Verwendung finden. Was demgegenüber jedoch den kontroversen Dialog eigentlich interessant macht, ist die Tatsache, daß dessen Sprengstoff, die Debatte über die Verstellungskunst, sich an der Frage der Einschätzung eines Erziehungsinstituts entzündet, welches sowohl bürgerliche als auch adlige Personen (aus-)bildete: die Schulkomödie. Diese Einrichtung, welche insbesondere seit Christian Weise für Eloquenz, >Condui-

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als Aufklärer der »Großen«, welche für das dörfliche setting durch die Honoratioren gestellt werden. Diese werden vom Küster, der zentralen Instanz des Romans, mittels sokratischer Dialogmethoden an Positionen bürgerlicher Moral herangeführt. 98 10 Ebd., 79. Ebd. " Ebd. ° Ebd., 80.

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te< und explizit: für privatpolitisches, kluges Verhalten auch und gerade bürgerlicher Zöglinge sorgte,101 steht im Text des Sintenis für das Theater allgemein, wie die auftauchenden stereotypen, aus der Theaterkritik stammenden Argumente verdeutlichen. Das Tertium comparationis von Schultheater und Theater allgemein ist, bezogen aufs Leben, in der Verstellungskunst zu finden. Mit der Frage nach der sozialen Situierung der Verstellungskunst markiert der Sintenis-Dialog also ein allgemeines, ein nicht leicht - qua ständischer Zuordnung etwa - von der Hand zu weisendes Problem. Denn zwar ist die Verstellungskunst als zentrale Einrichtung strategisch->kriegerischer< Beziehungen der höfischen Gesellschaft (und somit ihrer exponierten Trägerschicht, der Aristokratie) zurechenbar, doch gilt dies für die seit der Jahrhundertmitte sich etablierende Schauspielkunst, welche allzu leicht mit der Verstellungskunst identifiziert wird, keineswegs. Die Schaubühne versteht sich, jedenfalls im Rahmen der seit der Jahrhundertmitte lancierten Nationaltheateridee, als Projekt der Aufklärung, als Agentur sittlicher Bildung, in deren Genuß — idealerweise — alle Stände zu kommen haben.102 Als >moralische Anstalt< verstanden, ist das Theater zuallererst Medium einer gesellschaftlich zu universalisierenden Moral, welche den Konzepten der literarischen bürgerlichen Intelligenz entspricht. Das »bürgerliche Trauerspiel«103 etwa will den Menschen, befreit von allen sogenannten Äußerlichkeiten, insbesondere aber denen des (hohen) Standes, in einer privaten, nicht politisch-öffentlichen Situation zeigen,104 in welcher mit

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Am Zittauer Gymnasium bildete Weise bürgerliche und adelige Schüler aus. Vgl. Barner, Barockrhetorik, 212f.; Hans Arno Hörn, Christian Weise als Erneuerer des deutschen Gymnasiums im Zeitalter des Barock. Der »Politicus« als Bildungsideal, Weinheim 1966,165ff. Zu den frühen Nationaltheater-Bildungs-Konzeptionen Johann Friedrich Mays und Christlob Mylius' sowie zu den praktischen Entwürfen Johann Elias Schlegels und Friedrich Löwens siehe: Hilde Haider-Pregler, Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert, Wien und München 1980,145-162. Der Begriff, in der Regel eine Übersetzung von französisch: tragedie bourgeoise, bezeichnet diejenigen Bühnenstücke, deren Problematik >seriös< und deren Wirkung in der Rührung (speziell: der Erregung von Mitleid) besteht. Die traditionellen Gattungsgrenzen und Gattungsbezeichnungen waren zu Hindernissen geworden, die es zugunsten einer neuen Spezialgattung, die man Bürgerliches Drama nannte, zu beseitigen galt. Vgl. dazu Alois Wierlacher, Das Bürgerliche Drama. Seine theoretische Begründung im 18. Jahrhundert, München 1968,29-42, hier: 39ff. Dem korrespondiert die Aufhebung der Standesklausel für die Tragödie und die Reformation der Komödie, in welcher fortan auch die »Großen« agieren sollten, sofern sie als Menschen und nicht als Heroen auftreten. Vgl. ebd., 7f. und 35f. - »Bürgerlich« wird häufig als Kontrastbegriff zu heroisch gebraucht und/oder bezeichnet die menschlichen, privaten und häuslichen Angelegenheiten; »Bürger« und »bürgerlich« sind demzufolge eher als Wertbegriffe denn als Standesbezeichnungen zu lesen. Der

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der intimen Darstellung der conditio humana zugleich die Möglichkeit des Transports moralischer Botschaften gegeben ist: Moral, in der Regel vorgeführt im Zustand ihrer Bedrohung, ist attraktiv auch und gerade dann, wenn das Laster nicht besiegt werden kann. Mitleid als sanftes ethisches Gefühl, welches sich am Geschick der Bedrohten erwärmt, und eine generelle Bereitschaft zur Tugend sind die durch die Bühne in Anspruch genommenen und verstärkten Affekte der Menschlichkeit,105 welche die Programmatik des bürgerlichen Trauerspiels für dessen Publikum vorsieht. Dieses, allenfalls äußerlich heterogen, bildet eine Gemeinschaft der Menschen und Mitmenschen, welche sich auch außerhalb des Zuschauerraums zu erhalten und gegen alle Anfeindungen zu bewähren hat. Einfühlung, Mitleid, Tugend und Menschlichkeit sind Elemente natürlicher Moralität,106 der die »Gerichtsbarkeit der Bühne« erst eigentlich zu ihrem Recht verhilft. Das »moralische Gefühl« der OTora/-je»je-Theorie107 gewinnt Anschaulichkeit und Prominenz zunächst auf dem Theater108 und wird erst dann zum Element einer Empfindsamkeit, welche sich als Konzeption des >gemeinen Lebens< versteht.

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von Wierlacher vorgestellte anonyme Theoretiker des bürgerlichen Trauerspiels sieht für den Kreis der dramatis personae einen »Mittelstand« vor, welcher den Adel einschließt: »Es giebt einen gewissen Mittelstand zwischen dem Pöbel und den Großen. Der Kaufmann, der Gelehrte, der Adel, kurz, Jedweder, der Gelegenheit gehabt hat, sein Herz zu verbessern, oder seinen Verstand aufzuklären, gehöret zu demselben« (Anonymus, Vom bürgerlichen Trauerspiele (1755), 22; zit. nach Wierlacher, Das bürgerliche Drama, 171). — Wierlacher weist daraufhin, daß »Pöbel« in der Regel als »Gesinnungsbegriff« und, darin den Begriffen Bürger und bürgerlich funktional vergleichbar, nicht als Bezeichnung eines bestimmten Standes gebraucht wird. Vgl. ebd., 58ff. - Zu den Sujets des Bürgerlichen Trauerspiels vgl. Lothar Pikulik, »Bürgerliches Trauerspiel« und Empfindsamkeit, Köln und Graz 1966. Erinnert sei an das Diktum Lessings: »Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste« (Brief an Nicolai, November 1756, in: J. Schulte-Sasse (Hg.), Lessing, Mendelssohn, Nicolai, Briefwechsel über das Trauerspiel, München 1972, 55). Der Gedanke natürlicher Moralität geht u. a. zurück auf Shaftesburys Natur-Teleologie: Die Natur des Menschen hat ihr Telos in der Erhaltung der Gattung, in der Einrichtung eines »Gemeinwohls« (publicgood), welches allem vorgeordnet ist. Die auf das gemeine Wohl abzielenden Affekte heißten natural affections. Vgl. dazu Wolfgang H. Schrader, Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung. Der Wandel der moral-sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume, Hamburg 1984, 9. — Der moral sense operiert quasi instinkthaft (ebd., 30f.) und ist der Selbsterhaltung als selfishness entgegengesetzt. Das Hingeordnetsein des einzelnen auf das »Ganze«, welches letztendlich als System des Universums gedacht wird, bedeutet sozial, daß Gesellschaft ursprünglich und fundamental komplementär zum Individuum konzipiert ist. Vgl. ebd., 6-10. Vgl. dazu Gerhard Sauder, Empfindsamkeit, Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974, 73—85. — Zur Rezeption der morai-sense-Theonc und zur Epigonalität der in Deutschland kurrenten Moralkonzeptionen ebd., 184ff. In Lessings Übersetzung der Entretiens Diderots heißt es über »Bühnengegenstände«

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Wie das Theater bereits den empfindsam-einfühlsamen Menschen im Zuschauerraum voraussetzt, so ist auch auf der Bühne der Empfindsamkeit ein Zuhause geschaffen. Das gilt sowohl für die (durch Diderots >comedie serieuse< angeregten) Sujets,109 welche sich um die Familie als soziale Einrichtung organisieren, als auch für den Versuch, eine davon abgezogene Familiarität110 als Universalregulativ gesellschaftlichen Umgangs zu installieren. Zum anderen, und allgemeiner, ist die Darstellung natürlich-empfindsamer Familiarität im Medium der Bühnen-Präsentation auf prägnante Weise zu gewährleisten: Die gemäldeartigen Familienszenen — man denke an diejenige am Ende des Diderotschen »Hausvaters« — 1 H sind geeignet, die Visionen familialer Moralität widerspruchsfrei ins Bild zu rücken. Als auf Dauer gestellte Augenblicke einfühlsamer und nicht selten schweigender Kommunikation sind die Personenkonfigurationen den Bewährungsproben, welche Zeit und (Rest-)Gesellschaft ihnen stellen könnten, entzogen. Solche Arrangements sind Bühnenphänomene und zeigen doch die Wahrheit, die eigentliche oder jedenfalls: bessere Wirklichkeit, in welcher sich die menschliche Natur herauspräparieren läßt. Kunst ist Natur, und diese läßt sich am besten auf dem Theater erleben: Die dort tableauartig präsentierten Personen sind »so natürlich und so wahr«,112 daß sie - Kopien der Natur und des natürlichen Lebens — ihre artifizielle Vergesellschaftung vergessen lassen. »Im Dram wird uns das Gemähide der Natur, der Abdruck unsers Lebens aufgestellt«, heißt es dementsprechend in einem französischen Traktat, hier in seiner

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und deren Wirkung: »Es gibt ein moralisches Gefühl, das sich auf alles erstreckt, und das der Lasterhafte nicht hat« (Diderot/Lessing, Das Theater des Herrn Diderot [1760], hg. von Wolfgang Stellmacher, Leipzig 1981,135). Vgl. Peter Szondi, Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert. Der Kaufmann, der Hausvater und der Hofmeister, hg. v. Gert Mattenklott, Frankfurt/M. 1973, HOff. Vgl. den Artikel »Familiarite Morale« in der Encyclopedic: Die Situation einer vertrauensvollen, transparenten und (potentiell) unter allen sich ereignenden Kommunikation wird als Zustand der Kindheit beschrieben. Es sind die »distinctions de rangs & d'etat«, die diesen Zustand des »premier age« beenden. Eine von sozialen Distinktionen unberührte »Familiarite« gilt es, im Namen der Natur, in der Gesellschaft zu (re-) etablieren (Encyclopedic, Bd. 6 [1756], Stuttgart-Bad Cannstatt 1967, 390). - Zur Vorsicht vor »Familiarität« in der klugen Konversation vgl. Thomasius, Kurtzer Enrwurff der politischen Klugheit, 118. Zum tableau, welches — im Gegensatz zum medienbezogenen theatralischen coup de theatre — Natur, Wirklichkeit und Unmittelbarkeit einfängt, vgl. Szondi, Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels, 114—118. — Wierlacher weist im Anschluß an andere Arbeiten darauf hin, daß einige der Bürgerlichen Dramen sich — im Untertitel — als »Gemähide« etikettieren. Vgl. Wierlacher, Das bürgerliche Drama, 41 f. — Nicht allein als Merkmal einer Gattungskonfusion zu lesen, rückt der Begriff, oft im Zusammenhang mit »Familie« erwähnt, die Attraktivität eines solchen Bildes in den Blick. Diderot/Lessing, Das Theater des Herrn Diderot, Erste Unterredung, 106.

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deutschen Übersetzung von 1778.113 Ueber die Empfindsamkeit läßt sich, diesen Eindruck vermittelt der Text, am besten handeln, wenn man sich, wie hier der Autor Mistelet, die empfindsamen tableaux der Dramen (als bürgerliche Trauerspiele oder Schauspiele) und die wiederum tableauartig arrangierten idyllischen Szenen der empfindsamen Romane vergegenwärtigt. Der Titel der Abhandlung kündet von einer Bevorzugung künstlicher bzw. in der Kunst beheimateter Empfindsamkeit, welche für den Text insgesamt konstitutiv ist: Ueber die Empfindsamkeit in Rücksicht auf das Drama, die Romane und die Erziehung. Die »Erziehung« den Bühnen- und Romanepisoden nachzuordnen, heißt dann, den in diesen sich präsentierenden »Abdruck unsers Lebens« als >Vordruck< zu verstehen, sie als Kopie zu lesen, deren Original noch anzufertigen ist. Vom >Abdruck< ist die Darstellung menschlicher Natur zu erwarten, einer Natur, welche durch den Abdruck ihre Konturen jedoch allererst gewinnt. Eng verbunden mit dieser Konzeption des Abdrucks ist die des ^«idrucks, mit der sich erfassen läßt, was die Bühne vom natürlichen Menschen und seinen Empfindungen in sprachlichen, mimischen und gestischen Äußerungen zu zeigen vermag: »Die Empfindung quillt aus dem Herzen. Sie ist kein Vorrecht der Geburth und des Standes, und ihr Ausdruck ist beym Unterthan wie beym Monarchen einfach und groß.«114

Die natürlichen und einfachen Empfindungen, die in den oberen wie den unteren Rängen der Ständegesellschaft beheimatet sind, äußern sich wie von selbst, ohne Überformung und Stilisierung, wie sie im höfischen bzw. im rhetorischen Habitus allgemein gefordert sind. Derjenige Mensch jedoch, dessen Empfindung so unverstellt und unmittelbar »aus dem Herzen« quillt, wie Mistelet formuliert, ist sowohl Mensch im empfindsam-emphatischen Sinne als auch: Schauspieler. Als Schauspieler aber ist er, darauf hat Rousseau insistiert, professioneller Verstellungskünstler, jemand also, der sich stellt und verstellt, einen Charakter zeigt, indem er den eigenen verbirgt.115 Was »hinter« der Maske liegt, ist unkenntlich-dissimuliert, 113

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[A. Chr. Kayser], Ueber die Empfindsamkeit in Rücksicht auf das Drama, die Romane und die Erziehung, vom Herrn Mistelet, Aus dem Französischen übersetzt, Altenburg 1778, 31. Mistelets Anliegen an dieser Stelle ist es zu beweisen, daß der erhabene Stil sich nicht allein für den Heroismus der klassischen Tragödie schickt, sondern als Ausdruck des Menschen allen Menschen zukommt. Mit der Ablehnung des »kalten«, deklamatorischen Stils geht die Aufwertung der Empfindung einher, welche sich auf naiv-erhabene Weise, d. h. unverstellt und eben deshalb beeindruckend äußert (ebd., 24). In einer deutschen Übersetzung liest sich das folgendermaßen: »Was ist denn das Talent eines Comödianten? Die Kunst sich zu verstellen, einen ändern Charakter als den seinigen anzunehmen« (Herrn Rousseaus, Bürgers in Genf, Patriotische Vorstellungen gegen die Einführung einer Schaubühne für die Comödie, in der Republik Genf [...], Zürich 1761, 51).

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um es in der inzwischen obsoleten privatpolitischen Terminologie zu sagen. Im schlimmeren Fall jedoch ist der in der Rolle sich bergende Charakter gar nicht vorhanden, und die in diesem Falle zu attestierende Charakterlosigkeit, welche die Moralischen Wochenschriften als größtmöglichen Makel des Menschen perhorreszieren, wird erst in Diderots Paradoxe sur le comedien zum Privileg, dann freilich in ästhetischer Hinsicht. Schauspiel und Schauspieler liegen also im Widerstreit: Moralität, das betont insbesondere die Thematik des Bürgerlichen Trauerspiels, konstituiert sich nämlich gerade über die (stets erneut vorgeführte) Abweisung von Stellung und Verstellung, von scheinhafter Existenz und Charakterlosigkeit. Eben deshalb läßt Lessing das verstellte Spiel einer Marwood in grellem Kontrast zur unverstellt-unschuldigen Sara Sampson erscheinen.116 Deren Moralität basiert wesentlich auf Aufrichtigkeit und Transparenz, auf einer Identität von Innen und Außen, von Gedanken, Gefühlen und deren sprachlicher Äußerung, deren gestischer Zeichen. »Ausdruck« im Sinne Mistelets findet sich in Sara Sampson vollständig realisiert. Rousseaus kritischer Blick auf das Theater jedoch zeigt, daß Theater mit Verstellung notwendig einhergeht und sie überdies dem Zuschauer als eine Art zweite Botschaft präsentiert. Die Moral der Aufrichtigkeit im Medium des Theaters zu transportieren, heißt zugleich, von der >Verstellungskunst< der Schauspieler Gebrauch zu machen. In dieser Hinsicht sind Sara Sampson und Lady Marwood nicht voneinander zu unterscheiden. Daß sich auf dem Theater in dieser Weise die Differenz von Aufrichtigkeit und Verstellung notwendig einebnet, wirkt als beunruhigendes Faktum. Die Eigenschaften der Beständigkeit und Aufrichtigkeit, der Identität und Transparenz sind Merkmale eines modernen Charakterbegriffs, wie Kant ihn beispielsweise in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht expliziert: Ein »Mann von Grundsätzen«117 ist derjenige, welcher sich beständig an die einmal gefundenen moralischen Prinzipien bindet und in diesem Sinne Identität wahrt.118 Die Grundsätze selbst, die ein Charakter für sich anerkennt und dadurch überhaupt erst zu einem solchen wird, sind jedoch nicht vollständig frei zu wählen, wenn der >Mann von Grundsätzen auch ein >Mann von Cha116

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Das Muster antithetischer Weiblichkeit ist eines der Markenzeichen des bürgerlichen Dramas: Genannt seien Millwood und Maria in Lillos London Merchant, Marwood und Sara in Miss Sara Sampson, Gräfin Orsina und Emilia in Emilia Galotti, Lady Milford und Luise Millerin in Kabale und Liebe. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, Werkausgabe, hg. v. W. Weischedel, Bd. 12, 638. Der anthropologisch-moralische Identitätsbegriff des 18. Jahrhunderts hat in der Regel zwei Dimensionen: Zum einen ist damit Identität des Charakters in der Zeit, »Beständigkeit« also, gemeint; zum anderen ist dem moralischen Charakter Transparenz, die Identität von Innen und Außen, eigen, welche in der Privatpolitik gerade zum Verschwinden gebracht werden sollte.

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rakter< zu sein beabsichtigt: Aufrichtigkeit und »Wahrhaftigkeit«119 sich selbst und anderen gegenüber sind diejenigen Eigenschaften, auf welchen der Charakter basiert. Der Entwurf eines solchen Charakters sieht sich in der Figur des Schauspielers paradigmatisch seinem Gegenteil konfrontiert. Dessen Kunst ist die Kunst permanenter Verwandlung, die Fähigkeit des Rollenwechsels und damit einhergehende Virtuosität im Gebrauch von Simulation und Dissimulation. Schon erwähnt wurde die Verwandtschaft von Höfling bzw. politicus und Schauspieler: Aus der Perspektive einer Anthropologie des Charakters, wie sie anhand der Ausführungen Kants skizziert wurde, wird ersichtlich, daß der Mensch des 17. Jahrhunderts, wie er in den Hof- und Politiktraktaten modelliert wird, im späten 18. Jahrhundert als Schauspieler beschrieben werden kann. Dies nicht ohne Ressentiment; Kant verwendet zur Illustration seines Charakterbegriffs ein negatives Beispiel: Personen, die es verstehen, sich »in alle Formen« zu fügen, haben keinen Charakter. Könnte hiermit auch der Schauspieler gemeint sein, so wird die Charakterlosigkeit in diesem Zusammenhang den Höflingen attestiert: Ein Charakter ist »bei Hofleuten, die sich in alle Formen fügen müssen, gar nicht zu suchen«.120 Setzte man hier für »müssen« (gleichsam ein Kürzel für die dem Höfling auferlegte Notwendigkeit der bedrohten Selbsterhaltung) »können« ein, so wäre mit Kants Charakterisierung der Bühnenkünstler gleichermaßen getroffen. Das proteische Wesen eignet ihnen beiden. Was Kant hier aus kritischer Perspektive beschreibt, versuchen die Briefe des Grafen von Chesterfield an seinen Sohn™ welche in den Jahren 1774 bis 1777 in deutscher Übersetzung erscheinen, noch einmal unter positivem Vorzeichen zu präsentieren. Einem e/oquentia-Ideal gemäß, wie es auch Christian Weise formuliert hat, zeigen die Briefe des Grafen von Chesterfield, daß man die Habitus des Höflings, des Redners und: des Schauspielers miteinander zu kombinieren hat, wenn man gesellschaftlich reüssieren will. Allein auf der Grundlage solcher Ausstattung läßt sich, wie der Vater dem Sohn und der Text dem Leser versichert, Karriere machen. Und dies gilt nicht allein für die >gute Gesellschaft und den Hof, sondern, die englischen Verhältnisse vorausgesetzt, auch für das Parlament.122 Chesterfields Versuch, den traditionsverhafteten Bildungsidealen auch in modernen Verhältnissen ihre Geltung zu sichern, bleibt letztlich erfolglos, jedenfalls in Deutschland. Die 119

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>Aufrichtigkeit< ist der sozusagen archimedische Punkt des moralischen Charakters (Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 637). Ebd. Graf von Chesterfield, Briefe des Herrn Philipp Dormer Stanhope, Grafen von Chesterfield, an seinen Sohn Philipp Stanhope, Aus dem Englischen übersetzt, 6 Bde., Leipzig 1774—1777. — Die Briefe des Earl of Chesterfield umfassen einen Zeitraum von ca. 30 Jahren (1737—1768). Die englische Originalausgabe erscheint 1774. Ebd., Bd. l (1774), Brief vom 1. November 1739,108f.

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Semantikevolution geht an jenem persona-Ideal politisch-rhetorischen Zuschnitts vorbei, welches den neuen anthropologischen Bestimmungen so offensichtlich widerstreitet. Eine kluge Person, so formulierte Graciän, sei ein Proteus, jemand, der sich wie die aufgerufene mythologische Figur in alle Gestalten und Personen zu verwandeln weiß und damit eine Fähigkeit beherrscht, die es verdient, eine Kunst genannt zu werden.123 Die Kunst des Proteus, für Kant Signum der Charakterlosigkeit, für Chesterfield hingegen Signum des wendigen Habitus,124 ist verbunden mit der Kunst, Absichten zu dissimulieren und, dazu komplementär, andere zu »stellen«, etwas zu »ertichten«, wie es in Müllers Graciän-Übersetzung heißt, eine Fiktion also überzeugend zu realisieren. Um einen solchen »Text« zu erstellen, ist dem Höfling wie dem Schauspieler eine Anleitung behilflich, welche Mimik, Gebärden und die Modulation der Stimme, den Habitus insgesamt, kunstvoll und überzeugend einzurichten versucht. Ein entsprechendes Bemühen liegt begründet in der rhetorischen actio-Lehre, welche, zunächst Konzept des rednerischen, höfischen und politischen Alltags, im 18. Jahrhundert nurmehr in der Sphäre der Kunst, nämlich auf der Bühne, geduldet ist und deren Legitimität selbst dort zugunsten eines natürlich-empfindungsvollen Stils zurückgedrängt wird. Im Zeitalter der Natur und Natürlichkeit, der Aufrichtigkeit und des Ausdrucks, der moralisch-ästhetischen Einfalt und naivete wird Artifizialität, sofern sie am Menschen sich realisieren soll, verdächtig. Der natürliche Mensch gilt dem Artefakt, welches Rhetor, Höfling und Schauspieler darstellen, als überlegen. Wer seiner Natur nicht folgt, wird — jetzt übertragen — ein Schauspieler125 genannt. Als »eine Art von Schauspieler«126 bezeichnet Kant demzufolge denjenigen, der sich, wie noch Chesterfields Zögling,127 in der Kunst des Schauspiels übt, ohne 123

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Müller übersetzt die 77. Maxime mit: »von der Klugheit, allen allerley zu werden« (Müller, Gracians Oracul, Bd. l, 585). Von dieser macht Chesterfields Sohn, ginge es nach seinem Vater, noch ganz selbstverständlich Gebrauch (Graf von Chesterfield, Briefe, Bd. 2, 88f.). Der metaphorisch-pejorative Gebrauch von »Schauspieler/in« scheint im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts üblich zu werden. Vorher, insbesondere in den Moralischen Wochenschriften, stand an dieser Stelle » Comödiant/in«, freilich mit anderen Konnotationen. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 414. — In anderem Zusammenhang wird der Mensch als Schauspieler von Kant positiv hervorgehoben: Eine zivilisierte Gesellschaft verlange, daß der Schein sich (des öfteren) an die Stelle der Wahrheit setze; ein Code der Höflichkeit zeichnet zivilisierte Verhältnisse aus, ohne jedoch betrügerisch genannt werden zu können; denn: jede(r) weiß, daß nicht alles, was geäußert wird, von Herzen kommt, daß nicht alles also »herzlich« gemeint ist. Hinzu kommt, daß über die höfliche »Schauspielerei« mentale Habitualisierungsprozesse eingeleitet werden können: Das bloß Gekünstelte, bloß Gespielte wird zur zweiten Natur, geht über in ein quasi automatisiertes Verhalten (ebd., 442f.). Siehe Graf von Chesterfield, Briefe, Bd. 4, 58.

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doch Schauspieler zu sein. Er »erkünstelt einen Schein von seiner eigenen Person«.128 Die damit pejorativ als Künstelei beschriebene Kunst war dem neuzeitlichen rhetorisch-»theatralischen« Personen-Konzept129 ganz selbstverständlich inhärent. Von Castigliones // Libra del Cortegiano ausgehend, soll dieses im folgenden dargestellt werden.

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Ebd., 414. Zu Graciäns Begriff »persona« siehe Hellmut Jansen, Die Grundbegriffe des Balthasar Graciän, 10. — Jansen gibt, im Anschluß an eine Studie Hans Rheinfelders, für »persona« die Konnotation »Schauspieler« an, welche (auch) der Gracianschen Verwendung anhaftet. Zu Goethes Verwendung dieses alteuropäischen Personen-Begriffs und zur Thematik des >Theatralischen< überhaupt siehe grundlegend: Dieter Borchmeyer, Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weimarer Klassik, Kronberg/Ts. 1977, lOff.

II. Dissimulatio artis, Simulatio und Dissimulatio im 16. und 17. Jahrhundert

1. Die gefallige Kunst der Kunstlosigkeit: Der Cortegiano, seine Vor- und Nachfahren a) Vom Orator zum Homo aulicus: Dissimulatio artis — Sprezzatura — Nachlässigkeit Die Verhaltenskunst des 16. und 17. Jahrhunderts trägt rhetorisch-theatralische Züge insofern, als der sich ihrer bedienende Mensch, die persona, sich idealerweise selbst als Artefakt begreift, als jemanden, der Worte, Mienen und Gesten einsetzt, um mit diesen als stilisierten Zeichen je bestimmte, antizipierte Wirkungen zu erzielen. Sie können zum einen den Zwecken der (Privat-) Politik dienstbar gemacht werden oder, und dies ist ein von Castiglione sich herleitender Traditionsstrang, ihren Zweck in ästhetischer Annehmlichkeit finden. Jedoch ist weder der Privatzwecken folgende Utilitarismus der Politik noch die ästhetische Zweckfreiheit, welche den Handlungen des Cortegiano zumeist unterstellt wird, jeweils zu verabsolutieren. Denn auch (und schon) dem Hofmann Castigliones geht es um die eigene Reputation. Die hierin ausschlaggebende Gunst des Fürsten auf die eigene Person zu lenken, wird im Cortegiano als eine Tätigkeit beschrieben, welche in die Nähe von Fleiß und Anstrengung, ja Arbeit rückt, wenngleich sie auch als deren Gegenteil zu erscheinen hat. Um eine »gute Reputation« zu erlangen und bei »grossen Herrn Gnade zu erwerben«,1 bedarf es mehr als nur der >edlen Geburt< und einer aus1

Der Vollkommene Hofmann und Hof=Dame. Von dem Graf Balthasar de Castillon Vormahls in Italiänischer Sprach beschrieben/ Anjetzo Wegen seiner/ von dem Thuano; Rutg. Rulando; M r de Wicquefort, und ändern berühmten Scribenten/ belobten Vortreflichkeit. Zum erstenmahl Verteutscht Durch I.C.L.L.I., Franckfurt am Mäyn 1684, 198. - Die erste Übersetzung des 1528 erschienenen Textes (Baldesar Castiglione, II Libro del Cortegiano) stammt m. W. aus dem Jahre 1565, mit dem Titel: Hofmann, ein schon holdselig Buch, in Welscher sprach der Cortegiano, oder zu Teutsch der Hofmann genant [...] etwa in Italiänischer Sprach durch Graf Balthasern Castiglione beschriben worden. Nunmals in schlecht Teutsch/ durch Laurentzen Kratzer [...] transferiert, München 1565. - 1593 erscheint eine weitere Übersetzung des Cortegiano, vorgelegt von Johann Engelbert Noyse.

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Die gefällige Kunst der Kunstlosigkeit: Der Cortegiano, seine Vor- und Nachfahren

gewogenen Bildung: Darüber hinaus ist der Hofmann aufgerufen, sich in Gesellschaft so zu präsentieren, daß, von den — der Beobachtung nicht immer zugänglichen — Merkmalen der Herkunft weitgehend unabhängig, die »Annehmlichkeit des Anschauens«2 gewährleistet ist. Eine gepflegte Erscheinung vorausgesetzt, verlangt dies neben bewußter Beobachtung der eigenen Rede nach kontrollierter >Stellung< der Mienen und Gesten, des habitus insgesamt, welcher je nach Maßgabe der Situation, des >SchauplatzesBildungsEreignissesWerkEreignis< deutlich von den Bedingungen schriftlicher Kommunikation. Und doch muß auch am so bestimmten Ereignis ebenso wie an Text und Werk gearbeitet werden. Konzentrieren muß der Cortegiano sich auf die »dem Schreiben ohnnöthige[n] Sachen«, auf die Modulation seiner Stimme und auf die schickliche Einrichtung seiner Gebärden. Ein stimmiger und angenehmer Habitus begleitet also die Worte der Rede, ohne sich jedoch, als unmittelbares, unlenkbares Geschehen sozusagen von selbst einzustellen. Die acfzo-Lehte der antiken Rhetorik,7 der fünfte und letzte Teil der paries rhetorices, welcher den Orator auf seinen Auftritt als Gerichtsredner oder politischer Redner vorbereitet, findet sich auch bei Castiglione. Der >Graf< profiliert die interaktionsbezogenen sprachlichen Qualitäten eines Hofmannes und zählt zu diesen: »eine gute und nicht alzu kleine«, jedoch auch nicht »alzuharte/ rauhe grobe (welche bäurisch/) sondern eine wohlklingende/ helle/ liebliche/ wohlgesetzte/ mit einer freyen Außsprach und ziemlichen Gebährden gezierte Stimm.« Es ist deutlich, daß mit diesen Anforderungen an ein wohlmoduliertes Sprechen jene in der pronuntiatio formulierten Vorschriften angesprochen sind, welche sich an die Stimme richten. Vox, vultus und gestus müssen, so lassen sich die Hinweise der actioLehre ganz allgemein formulieren, sowohl mit dem Text der Rede korrespondieren, als auch an der (sozialen) Situation sich orientieren, in welcher die Rede aufgeführt wird. Die zitierten ziemlichen Gebärden< sind Gebärden, die sich ziemen, und damit solche, welche dem decorum entsprechen. Sie sind der sowohl vultus als auch gestus betreffenden eigentlichen Dasein heißt eine Rolle spielenVortrags< präsent sein sollte, existiert also ein weiterer >Textintention< des Redners auf prägnante Weise unterstützt. Die in der elocutio auszuwählenden und zu arrangierenden Worte, von denen es heißt, daß der Cortegiano sie »wie in Wachs nach seinem Gutbefinden«9 bildet, sind für die Wirkung einer Rede nicht einzig ausschlagend; es wäre also verfehlt, Mühe, Fleiß und Anstrengung allein auf die Worte zu verwenden: Denn der Habitus, durch die rhetorische actio-Lehre diszipliniert, bedarf seinerseits der künstlerischen Formung, auch er ist demzufolge zu behandeln wie ein Wachs, welches der Hofmann »zu bilden« hat. Ganz bewußt attribuiert er dabei den Signalen des Körpers Bedeutung, in der Absicht, diese kommunikativ geltend zu machen.10 Ein Bemühen, welches jedoch als Mühe den Zuhörern und Zuschauern verborgen bleiben sollte: Anstrengung, Fleiß, Kontrolle und Reflexion, welche der Hofmann als Darsteller auf seine Darstellung verwendet, dürfen im Resultat, in seiner >Aufführung< nicht spürbar werden, wenn diese als gelungen qualifiziert werden soll. Zwar stellt, um die Metapher Castigliones aufzunehmen, das Formen und Bilden des Wachses einen Prozeß dar, dem ästhetische Dignität zukommt, jedoch, so ist hinzuzufügen: nur dann, wenn die Kunst nicht als Kunst identifiziert werden kann. Sie hat vielmehr als Verhalten zu erscheinen, welches ganz »ohne vorbedacht und ohngefehr«11 sich einstellt. Für den Schein der Kunstlosigkeit, des unreflektierten und kunstlosen >Ohngefehrs< zu sorgen, erfordert selbstverständlich wiederum: künstlerische Anstrengung. Sowohl »in den Reden« als auch im »Lachen« und in den »Gebährden«, in allen »Leibs=Bewegungen« ist eine »Unachtsamkeit sehen [zu] lassen«,12 welche den schönen Schein der Mühe- und Kunstlosigkeit über die Konversation und actio des Hofmannes legt. »Sprezzatura«, von Castiglione selbst als »nova parola«,13 als wörtliche und begriffliche Neuschöpfung, eingeführt und kenntlich gemacht, heißt jene künstliche Kunstlosigkeit, jene An8 9

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Castiglione, Der Vollkommene Hofmann, 111. Ebd., 110. Und darin ähnelt er dem späteren, dem modernen Schauspieler. Da die Schauspielkunst vieles von der Rhetorik übernimmt, ist der Cortegiano vom Schauspieler technisch gesehen - nicht eben weit entfernt. Zum Zusammenhang von Rhetorik und >barocker< Schauspielkunst siehe Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Bd. 2, Tübingen 1983,43ff. Castiglione, Der Vollkommene Hofmann, 87. Ebd., 88. Erich Loos, Baldassare Castigliones »Libro del Cortegiano«. Studien zur Tugendauffassung des Cinquecento, Frankfurt/M. 1955,116.

Dissimulatio artis, Simulatio und Dissimulatio im 16. und 17. Jahrhundert

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strengung, die Anstrengung zu vermeiden, welche der zitierte deutsche Text mit »Unachtsamkeit«14 und »Nachlässigkeit«15 übersetzt. Als deren Gegenbegriff figuriert »Affectation«:16 Künstelei, die der Aufgabe, den Schein des >OhngefehrStellungOhngefehr< merklich und doch gleichsam unbeabsichtigt aufscheinen zu lassen, beruht auf einer grundlegenden Operation: der Dissimulation.20 Ihr ist zu verdanken, daß Kunst als Kunstlosigkeit zu erscheinen vermag. Die schöne Kunst der spre^atura ist die Kunst, die Kunst zu verbergen. »Auß der Ursach kann man sagen/ daß die Kunst in dem nicht künstlich scheinen bestehe/ und muß man in deren Verbergen den größten Fleiß anwenden«.21 Spre^xatura und Nachlässigkeit lauten die (Deck-)Namen für diesen Vorgang der Dissimulation, dem größte ästhetische Wertschätzung entgegengebracht wird. Auch hier steht die antike Rhetorik Pate. Castigliones Text gibt in der dialogischen Erörterung der Dissimulation den Blick frei auf die ihn bestimmende Tradition: Jener Graf, welcher die Kategorie der spre^atura erläutert, erinnert in diesem Zusammenhang, er habe bei »etlichen alten vortrefflichen Rednern« gelesen, daß diese »mit Verhelung [!] ihrer Gelehrsamkeit« den Eindruck erzeugten, daß »ihre Reden einfältig und viel mehr von der Natur und Wahrheit/ als von Fleiß und von der Kunst herrühreten«.22 Wenngleich 14

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Castiglione, Der Vollkommene Hofmann, 88. Ebd., 87. Ebd., 86. Ebd., 87. Vgl. Loos, Baldassare Castigliones »Libro del Cortegiano«, 115 — 121. Castiglione, Der Vollkommene Hofmann, 86f. Dissimulation ist (auch) in diesem Text gleichbedeutend mit »Verstellung« (ebd., 288). Ebd., 87. Ebd., 88.

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sich hier im Dialog am Hofe zu Urbino jene Opposition von Natur/Natürlichkeit versus Kunst/Künstlichkeit zu entfalten scheint, welche das 18. Jahrhundert strapazieren wird, so darf die Voraussetzung der im Cortegiano explizierten Ästhetik nicht übersehen werden: daß die Phänomene der Natur und Natürlichkeit, der Einfalt und Wahrheit auf Kunst und Fleiß beruhen. Der neuzeitliche Hofmann ist darin der antiken Rhetorik streng verpflichtet: Ars ist nämlich natura prinzipiell vorgeordnet, und der Natürlichkeitseffekt ist Ergebnis raffiniertester Kunstanstrengungen. Die >Verhehlung< der Gelehrsamkeit, welche der Graf im genannten Exemplum erwähnt, ist identisch mit der Anwendung des rhetorischen Kunstmittels der dissimulatio artist In der antiken Rhetorik wird das Gebot, Kunst als Kunstlosigkeit erscheinen zu lassen, bereits technisch operationalisiert: Aristoteles weist in seinen Ausführungen über die Angemessenheit (prepon)2* der Rede darauf hin, daß die Artifizialität, mit welcher eine gute Rede verfertigt ist, dem Zuhörer nicht spürbar werden dürfe. Bei der Verwendung der sprachlichen Mittel, welche neben der Relation von res und verba auch die Beziehungen zum darzustellenden Affekt und zum Charakter des Redners berücksichtigen sollten, ist prinzipiell zu beachten, daß nicht alle sprachlichen Dekorationen, von denen angenommen werden darf, daß sie sich >schickendurchschaut< werden, die Artifizialität, mit der jede gelungene Rede notwendig verfertigt ist, mithin unentdeckt bleibt. Im anderen Fall jedoch, in dem die Kunst als Kunst identifiziert werden kann, ist Entscheidendes aufs Spiel gesetzt: Sowohl der in der Rede behandelte Gegenstand als auch der Redner selbst, sein Charakter, geraten in Gefahr, als unglaubwürdig zu erscheinen — ein Effekt, der dem Erfolg einer Rede mit Sicherheit abträglich ist. Das läßt die stark pointierten Sicherheitsvorkehrungen verständlich werden, welche vorsehen, »die Kunstfertigkeit anzuwenden, ohne daß man es merkt, und die Rede nicht als verfertigt, sondern als natürlich erscheinen zu lassen — dies nämlich macht sie glaubwürdig, jenes aber bewirkt das Gegenteil«.26

Diese Stelle aus der Rhetorik des Aristoteles etwa könnte es gewesen sein, welche die Erörterungen des Grafen in Castigliones Cortegiano inspirierte: Wie gesagt, erzeugen seiner Meinung nach die >alten Redner< auf überzeugende Weise den Eindruck, daß ihre Reden, frei von Spuren oder Verdachtsmomenten der Kunst und des Fleißes, nicht mehr, aber auch nicht weniger seien als natürliche und >einfältige< Gebilde. Auf Aristoteles also, doch auch auf eine sententiöse Formulierung des Quintilian hätte der räsonierende Graf zurückgreifen können, um ein überzeugendes antikes Exemplum zu geben: In seiner Einführung in die wahre< Disposition des Akteurs müssen die Zuschauer allerdings im dunkeln bleiben: Der »Aufweis aus Zeichen« (ek ton semeion deixis), wie es bei Aristoteles heißt, ermöglicht auch im Falle des Cortegiano nur wahrscheinliche, keineswegs aber sichere Urteile.42 Um vor ihren Augen zu bestehen, ist der Hofmann gut beraten, neben der grundlegenden Verstellungsoperation der dissimulatio artis von der Stellung angenehmer respektive: Aufrichtigkeit indizierender Eigenschaften Gebrauch zu machen. Zu den ethisch wirkungsvollen Markierungen zählt auch die Bescheidenheit, jene Eigenschaft, welche schon in der antiken Rhetorik dem Redner ans Herz gelegt wird. Insbesondere zu Beginn einer Rede schickt es 39

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Ebd., 140 (1395b). - Wörner führt weitere Mittel an: Es sollte eine sittliche Entscheidung getroffen (prohatresis) und nicht bloß ohne Festlegung dieser Art argumentiert werden; und selbstverständlich ist die Situation zu berücksichtigen, die richtige Gelegenheit abzuwarten (pre'pon und eukairos). Siehe Markus H. Wörner, Charakterdarstellung und Redestil, in: Wolfgang Kühlwein/Albert Raasch (Hg.), Komponenten und Wirkungen, Bd. 2, Tübingen 1981, 129-134, hier: 131ff. Zum vir bonus in der Neuzeit vgl. Ueding, Rhetorische Konstellationen, 31 ff. Castiglione, Der Vollkommene Hofmann, 112. Wörner, Charakterdarstellung und Redestil, 133.

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sich, das Wort in schüchterner, bescheidener Weise zu ergreifen, wie Cicero in De Oratore ausführt.43 In seiner Nachfolge liefert dann Quintilian im Rahmen der Darstellung der ötf/o-Lehre44 detaillierte Beschreibungen des sowohl stimmlichen als auch mimischen und gestischen Zeichenspiels, welches die geforderte bescheidene Haltung des Redners anzeigt. Gleichsam als Illustration eines thematisch einschlägigen Cicero-Zitates (»Wenn ich denn überhaupt Talent besitze, so gering es auch, wie ich wohl weiß, ist«) versteht sich Quintilians Versuch, eine diesem verbalen Bescheidenheitsgestus entsprechende ideale actio zu entwickeln. En detail wird dabei eine angemessene Haltung und Bewegung der Hände beschrieben; die Berücksichtigung kleinster Nuancen in ausführlich-akribischer Deskription läßt einen Text entstehen, der deutlich den Zwecken der Übung und Imitation durch den Leser angepaßt ist.45 Die Bescheidenheit ist dem Cortegiano, wird sie auch hinsichtlich einer korrespondierenden actio weniger ausbuchstabiert als bei Quintilian, doch alles andere als entbehrlich: Ein bescheidener Habitus schickt sich nicht allein bezogen auf eine Rede oder deren gekonnt-bescheidenen Beginn.46 Ist der Bezug auf den rhetorischen Bescheidenheitstopos in der Tradition Ciceros und Quintilians auch evident, so wird dessen situative Beschränkung auf den Anfang einer Rede doch aufgehoben. Der Hofmann erscheint schicklicherweise auch und gerade dann in bescheidenem habitus, wenn er Grund hätte, sich »löblicher Verrichtungen«47 zu rühmen. Wie der bescheidene Redner, des Wortes mächtig und seiner Wirkung sicher, das genaue Gegenteil seiner eigentlichem Souveränität simuliert, so sollte der Cortegiano »mit einer guten manier dissimuliren«,48 was sich zu seiner Auszeichnung guten Gewissens sagen ließe. Der so 43

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Es spricht Crassus: »In meinen Augen wirken auch die, die am besten reden und es am leichtesten und wirkungsvollsten können, trotzdem, wenn sie nicht scheu das Wort ergreifen und am Beginn der Rede Zeichen von Verwirrung zeigen, beinahe unverschämt« (Marcus Tullius Cicero, De oratore/Über den Redner, lateinisch/ deutsch, übersetzt und hg. v. Harald Merklin, Stuttgart 1981, l, 119, S. 109). Quintilian, Ausbildung des Redners, XI, 3, Bd. 2, S. 609-681. Ebd., XI, 3, 96ff., S. 645ff. — Auf das Problem, mündliche und körpersprachliche Interaktion im Medium der Schrift anweisen zu wollen, wird im Exkurs dieses 2. Kapitels zurückzukommen sein. Überdies muß der Hofmann nicht die Großformen der Rede, die antiken genera orationis, beherrschen, sondern vielmehr die Kunst alltäglicher, geselliger Konversation. Zur Konversation des Hofmanns vgl. Claudia Schmölders (Hg.), Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie, München 1979, 23f. - Die hier von Schmölders hervorgehobene Verpflichtung des Hofmanns auf die Tugend der Aufrichtigkeit ist freilich in signifikanter Weise eingeschränkt. — Das prudentistische Moment der Bescheidenheit, insbesondere in Interaktion mit dem Fürsten, betont zu Recht: Loos, Baldassare Castigliones »Libro del Cortegiano«, 114. Castiglione, Der Vollkommene Hofmann, 200. Ebd.

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»mit Bescheidenheit verfahrenden Person« ist, agiert sie überzeugend, das Lob der anderen sicher, während ihr das peinliche, die Attraktivität möglicherweise längerfristig herabsetzende Selbstlob erspart bleibt. Ist unter dem Titel der Bescheidenheit Dissimulation ratsam, so gilt es sie auch in solchen Fällen anzuwenden, in denen das, was als »nicht lobwürdig«49 gilt, für andere zum Vorschein käme. Und dazu komplementär gehört es zu den reputationsförderlichen Verfahren des Cortegiano - das relativiert die Bedeutung der Simulation von Bescheidenheit —, daß er »mit guter Manier Gelegenheit suche«, sich in der »Sach«, in welcher er »geschickt ist, sehe zu lassen.« Die Formen der dem Cortegiano idealer- und legitimerweise zukommenden Verstellung reichen also von einer dissimulatio artis, welche seine sämtlichen Aktionen begleiten muß, über die >Stellung< der Stärken und die Dissimulation der Schwächen bis zur anforderungsreichen Simulation jener >einfältigen Aufrichtigkeit^ deren gekonnt erzeugter Schein sowohl die ihn allererst ermöglichende Kunst kaschiert, als auch den Verdacht des Betruges abwendet. Daß auf diese Weise Stellung und Verstellung geradezu gefordert werden, Betrug aber vermieden werden soll, stellt ein Problem dar, das Castiglione nicht unberücksichtigt läßt.50 Deutlich wird dies insbesondere an einer Kontroverse der Höflinge, welche sich an der Frage nach dem offensichtlich prekären Verhältnis von >Gutem< und >Schönem< entzündet. Hier tritt das Bemühen zutage, einen Kunstbegriff zu explizieren, mit dessen Hilfe unterschieden werden kann: in die (noch) schöne und die (schon) verwerfliche Kunst. Den Ausgangspunkt des kontroversen Dialogs bildet eine von Messer Federico eingebrachte Beobachtung, der zufolge Personen nicht allein, in gerade erörterter Weise, nach Gelegenheit suchen, ihre »Wissenschaft und Geschickligkeit«51 unter Beweis zu stellen, sondern sich darüber hinaus — angetrieben vom Verlangen nach überraschend perfekter sozialer Präsentation — auf Felder (des Wissens und Könnens) wagen, die von ihnen nicht eigentlich beherrscht werden, dem Bereich ihrer jeweiligen »Profession«52 jedenfalls nicht zugehören. Gleichwohl, versichert der Berichterstatter, gelinge es diesen Personen, sich auf unbekanntem Terrain »wacker und vortrefflich«53 zu bewegen — eine Lei49

Ebd., 288.

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Merkwürdig wirkt die Behauptung August Bucks, im Cortegiano fehle jede Empfehlung 2ur Verstellung (Bück, Die Kunst der Verstellung im Zeitalter des Barocks, 94). — Generell ist zu beobachten, daß schematische Epochencharakterisierungen (humanistische Renaissance / politisches Barockzeitalter) dafür verantwortlich zeichnen, daß solchen Schematisierungen Widerstreitendes vergessen und/oder die Texte nur mehr als Belege für geistesgeschichtliche Visionen herhalten müssen und dementsprechend gelesen werden. — Zur dissimulatio bei Castiglione siehe demgegenüber Göttert, Kommunikationsideale, 29. Castiglione, Der Vollkommene Hofmann, 286. Ebd. Ebd., 287.

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stung, welche nebenbei und nicht zuletzt Rückschlüsse auf die Fähigkeiten in der Beherrschung der eigentlichen Profession zulasse. Das Talent, ungeübt neue, unbekannte Rollen überzeugend vorzuführen, kommentiert Messer Federico, der faszinierte Erzähler, wie folgt: »Dieses Kunst=Stückgen mißfällt mir nicht/ wenn es mit einem guten Verstand begleitet ist.« Die Geschicklichkeit des Dilettanten, als solcher nicht aufzufallen, ein Meister zu sein im Verbergen des Dilettantismus, wird mithin von Federico akzeptiert, ja anerkennend ein »Kunst=Stückgen« genannt — obgleich ja eben anzunehmen ist, daß diese Kunst sich einer subtil und listig eingefädelten Täuschung bedient. »Ich kan dieses vor keine Kunst halten«, entgegnet deshalb alsbald ein anderer Konversationsteilnehmer, Gasp. Pallavicino, dem beeindruckten Apologeten und begründet seine Gegenrede mit dem Vorwurf, daß die Kunst jener geschilderten Simulanten auf »einen wahrhafften Betrug« hinauslaufe, welcher sich keinesfalls für jemanden schicke, der für einen vir bonus, »vor einen ehrlichen Mann und etwas Rechtschaffenes wil gehalten seyn.« Der angegriffene Vertreter der Simulation geht nun in seiner Verteidigung aufs Ganze: Mit dem Hinweis auf die schon geäußerte Behauptung, es handle sich im Fall des meisterhaften Dilettanten um ein bloß ästhetisches Phänomen, eine gelungene Darbietung artifizieller Leistung, sei es nicht getan. Die Frage nach dem Verhältnis von Simulation und Kunst, von Lüge und listig-ästhetischem Vermögen, modern gesprochen: von Ethik und Ästhetik gibt Federico Anlaß, das Thema der Kunst nun prinzipiell zu behandeln. In moralischer Hinsicht durchaus persönlich attackiert, insistiert er auf seiner strikt ästhetischen Interpretation des Dilettanten-Themas: »Und wenn es ja ein Betrug/ so ist er doch nicht zu schelten.« Im Bemühen, ethische und ästhetische Kriterien zu differenzieren, gibt Federico ein Beispiel: »Werdet ihr nicht auch sagen/ daß unter zweyen Fechtern/ der seinem Compagnon einen Hieb oder Stoß beybringet/ denselben betriege? Und dieses geschieht doch/' weil der eine künstlicher ist als der andere.«54

Federicos Beispiel bleibt unscharf: Man müßte nämlich wissen, ob der zitierte Hieb des Fechters den Normen und Regeln des Fechtkampfes entspricht oder aber deren möglicherweise gut getarnte Überschreitung bedeutet. Doch auch wenn der kunstvolle Hieb des Fechters kein raffiniert getarnter Verstoß, sondern eine kunstvoll-technische Raffinesse wäre, taugte das Beispiel des Fechters nicht zur Illustration des in Rede stehenden Sachverhalts. Denn auf dem Feld des Fechtkampfes wird selbstverständlich technisches Raffinement prämiert — eine Regel, die den Kampf konstituiert und über die, hat man sich darauf eingelassen, sinnvollerweise nicht Beschwerde geführt werden kann. Auf dem Terrain des Fechtkampfs sind die Zuständigkeiten der je zulässigen Urteile und deren Kriterien eindeutig festgelegt. Im höfischen Leben scheint 54

Ebd.

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es sich aber anders zu verhalten: Die dort typische Gemengelage ästhetischer und ethischer Beobachtungskriterien, welche doch eigentlich im Mittelpunkt des Gesprächs der Kontrahenten steht, wird auch mit einem zweiten von Messer Federico zum Zweck seiner Verteidigung vorgebrachten Vergleich nicht erfaßt: »Und wenn ihr ein Edelgestein habt/ der ohn eingesetzt schön aussihet/ dafern er hernachmahls den Goldschmidt unter die Hände kommt/ der ihn so wohl einsetzt/ daß er weit schöner spielt/ werdet ihr nicht sagen der Goldschmid betrüge der anschauenden Augen? Nichts destoweniger verdienet er mit diesem Betrug sein Lob und Geld; dann es geben offt die mit gutem Verstand und Kunst vereinbahrte geschickte Hände des Arbeiter dem Helffenbein/ dem Silber/ oder sonst einem schönen in Gold eingefasten Jubel eine Zierd und Annehmlichkeit.«55

Die vom Goldschmied vorgenommene Verschönerung des Edelsteins kann — in der entscheidenden Hinsicht — wohl kaum mit einem Höfling verglichen werden, der, um >schön zu Spielern, um zu gefallen also, sich derjenigen Mittel bedient, welche, integriert in ein rhetorisches Kalkül, (ästhetische) Wertschätzung sichern sollen, ohne Rücksicht auf Aufrichtigkeit und Wahrheit. Die dem Cortegiano gebotene »einfältige Aufrichtigkeit« ist ja, wie gesehen, nicht einem christlichen oder rousseauistischen Aufrichtigkeitsgebot vergleichbar, sondern stellt, basierend auf der Operation der Simulation, eher dessen Gegenteil dar. Aufrichtig zu sein, ist jene Kunst, welche Moral simuliert und etwas zur Darstellung bringt, von dem niemand — vielleicht nicht einmal der Darsteller selbst - weiß, wie es sich zur Wirklichkeit des tatsächlichem, insbesondere der tatsächlichen Empfindungen und Absichten verhält. In einer Welt wie der höfischen des Castiglione-Textes, in welcher den rhetorischen Werten der Gefälligkeit, der >Annehmlichkeit< und Anmut ein so ausgezeichneter Status zukommt und in welcher Simulation und Dissimulation als geeignete Mittel gelten, die Ästhetik der Erscheinung ins Bild zu rücken, scheint es sich zu erübrigen, ethische Maßstäbe anzulegen, ethische Kriterien zur Beurteilung von Verhaltenskunst zu wählen. Letztlich kommt es nicht darauf an, das bloß Fingierte vom einfach Wahren zu unterscheiden; vielmehr ist aus je einzelner, besonderer Perspektive darauf zu achten, daß eine Beeinträchtigung des guten Rufs vermieden wird. Sind die Illustrationen der virtuosen Fechtkunst und des bearbeiteten Edelsteins zwar in entscheidender Hinsicht unzulänglich, so geben sie doch einen deutlichen Hinweis darauf, daß der ideale Cortegiano, mag er sich auch in seinem Verhältnis zur Ethik des öfteren vor den Scheideweg gestellt sehen, in erster Linie Künstler ist — ein Künstler, dessen Kunst sich prinzipiell allerorten und zu jeder Zeit, in Geschäften und in der Konversation realisieren sollte. Ästhetische vor ethischen Referenzen rangieren zu lassen, impliziert dann 55

Ebd., 288.

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auch, die Kategorie des Betrugs von vornherein abzuweisen.56 Offenbar der Meinung, daß seine Beispiele überzeugt haben, schlägt Federico vor: »Lasst uns derowegen nicht sagen/ daß die Kunst/ oder ein solcher Betrug (wenn ihrs ja so nennen wolt) zu schelten und zu tadeln sey.«57 Das Zugeständnis, welches Federico seinem Gegenspieler Pallavicino zu machen bereit ist, beschränkt sich auf die Ebene des Vokabulars. Und es scheint ihm nicht überflüssig, resümierend herauszustellen, es zieme sich generell, Stärken herauszustreichen und Schwächen zu verbergen, vorausgesetzt, dies geschehe mit einer »gewissen verschmitzten dissimulation und Verstellung«. Die »certa avvertita dissimulazione«58 wird in der hier vorliegenden Übersetzung sowohl als Dissimulation wiedergegeben als auch mit dem Terminus technicus »Verstellung« verdeutscht. Dies kann als Zeichen dafür gelesen werden, daß diese Übersetzung aus dem Jahr 1684 bereits auf zwei begriffsgeschichtlich relevante Traditionen Bezug nimmt: neben der Rhetorik mit ihrer Forderung nach dissimulatio artis, nach Verbergung von Kunst und Kunstfertigkeit, auch auf die der Politik, welche sich, beschreibbar als Technik der Selbsterhaltung, nicht auf die Verbergung von Kunst allein beschränken läßt.

2. Selbsterhaltung als Mimikry: »Von der Simulation und Dissimulation und deren rechtem Gebrauche« in der Privat-Politik a) Jenseits des »Welttheaters«: Der Politicus als Schauspieler In politischer Hinsicht sind es die Projekte und Absichten, die verräterischen Stimmungen und Affekte, welche man im Zuge einer rationalen und disziplinierten Kalkulation von Erfolgschancen zu verbergen hat, damit sie nicht von anderer, respektive: feindlicher Seite diagnostiziert werden können. Hatte Machiavelli noch vorausgesetzt, daß die extraordinäre fürstliche Intelligenz sich deutlich von der politischen >Einfalt< der Untertanen und Gegner abheben las-

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Doch das — soziale — Leben ist seit altersher Gegenstand der Frage nach dem guten Leben; deshalb kann sich der Hofmann ethischer Verantwortung — in anderer Weise als Fechter und Goldschmied — nicht entziehen. Castiglione, Der Vollkommene Hofmann, 288. »Non e ancor disconveniente ehe un omo ehe si senta valere in una cosa, cerchi destramente occasion edi mostrarsi in quella, e medesimamente nasconda le parti ehe gli paian poco laudevoli, il tutto perö con una certa avvertita dissimulazione« (Baldesar Castiglione, II libro del cortegiano, A cura di Giulio Preti, Torino 1960,169).

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se, so rechnet Graciän, wie dargelegt, mit einer ubiquitären Verbreitung politischer Maßnahmen im allgemeinen und verstellter Operationen im besonderen. Die höfischen »Lebens= und Conversations-Arten«, welche Castiglione vor Augen hat, verlangen, daß der mit rhetorisch-politischem Urteilsvermögen ausgestattete Hofmann sich — sowohl gegenläufig zu seinen Verstellungskünsten als auch mit deren Hilfe - nie »von dem Schein der Wahrheit alzuweit entferne«.59 Die honneten und politischen >Lebens- und KonversationsartenDer Mensch als Schauspielen hervorhebt, findet sich jenseits des 18. Jahrhunderts auch bei Friedrich Nietzsche, freilich in ganz anderer Weise und unter anderem Vorzei59 60 61

Castiglione, Der Vollkommene Hofmann, 289. Vgl. dazu Kap. IV. Barbara Zaehle, Knigges Umgang mit Menschen und seine Vorläufer. Ein Beitrag zur Geschichte der Gesellschaftsethik, Heidelberg 1933, 66. - Alberto Martino betont, daß sich im — insbesondere von Graciän — herbeigeführten Bruch zwischen Sein und Schein Relativierung, Auflösung, ja »Werte«-Untergang zeige (Alberto Martino, Daniel Casper von Lohenstein, Geschichte seiner Rezeption, Bd. l, 16611800, Tübingen 1978,93).

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eben. »Vom Problem des Schauspielers«62 in anderer als der bisher üblichen Weise zu handeln, verspricht ihm Aufschluß über eine ganze Reihe (moderner) Phänomene: »Das Problem des Schauspielers hat mich am längsten beunruhigt; ich war im Ungewissen darüber (und bin es mitunter jetzt noch), ob man nicht erst von da aus dem gefährlichen Begriff >Künstler< — einem mit unverzeihlicher Gutmütigkeit bisher behandelten Begriff — beikommen wird.« Wolle man den bislang nur unzulänglich verstandenen »Künstler« mit Hilfe der Figur des Schauspielers begreifen, fährt Nietzsche fort, so müßten bei diesem die folgenden >CharakterCharakter< beiseite schiebend, überflutend, mitunter auslöschend; das innere Verlangen in eine Rolle und Maske, in einen Schein hinein«.

Mit dieser Charakterisierung wird nun nicht allein der Schauspieler der Moderne, der professionalisierte Schauspieler etablierter Bühnen erfaßt, dem die Lust am Uneigentlichen in eigens dafür vorgesehenen Räumen gestattet ist. Als Notwendigkeit der »Anpassung« und nicht als Lust am artifiziellen Mehrwert sind die Elemente und Techniken des Schauspielers nämlich auch bei solchen Personen zu finden, die unter »wechselndem Druck und Zwang« sich — und das soll nicht weniger heißen als: »ihr Leben« — durchsetzen müssen. Die schauspielerische Verstellung ist als genuine Anpassungs- und Selbsterhaltungsleistung Mitgift einer fundamentalen »Abhängigkeit«, welche sich »bei Familien des niederen Volks« notwendig ausbilden muß. Der soziale Index, mit welchem Nietzsche an dieser Stelle den Menschen als Schauspieler markiert, erstaunt insofern, als er eigentümlich querliegt zu den sich anschließenden Beobachtungen, die der Philosoph über das verstellte Verhalten der Angehörigen jenes miederen Volks< mitteilt: Diese haben »sich geschmeidig nach ihrer Decke zu strecken«, sich »auf neue Umstände immer neu einzurichten«, sich »immer wieder anders zu geben und zu stellen«. Das befähigt sie letztlich, »den Mantel nachjedem Winde zu hängen und dadurch fast zum Mantel werdend, als Meister jener einverleibten und eingefleischten Kunst des ewigen Verstecken-Spielens, das man bei Tieren mimicry nennt«.63

Unschwer ist zu erkennen, daß sich diese Beschreibung der politischen Semantik des 17. Jahrhunderts und der ihr zugehörigen politischen Emblematik bedient. Der nach dem Wind, d.h. nach der Gelegenheit, gehängte Mantel und die allgemeine Formel nobiles mobiles bilden die >geheime< Genealogie des verwendeten Vokabulars. Daß es historisch gesehen zum Besitz der Oberschichten zu rechnen ist, mag Nietzsche dann zur anschließenden Überlegung 62

63

Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: ders., Werke, hg. v. Karl Schlechta, Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1969, Bd. 2,508f. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 509.

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inspiriert haben: Dem beschriebenen Typus desjenigen Schauspielers, der sozial im >Volke< zu lokalisieren ist, tritt als Ergänzung von selten derjenigen, welche in »höheren gesellschaftlichen Bedingungen« leben, der »Diplomat« an die Seite; als Verstellungskünstler, der, wie Nietzsche supponiert, »auch einen guten Bühnen-Schauspieler« abgäbe. Am Diplomaten, und hier nimmt Nietzsche die >politisch< einschlägigen Beschreibungen des Gesandten, des Botschafters und des negociateurs auf,64 tritt insbesondere die schauspielerischtechnische Dimension hervor, die sachliche Komponente des Schauspielersyndroms, welches in der Figur des deklassierten >niederen< Schauspielers sozial akzentuiert erscheint. In sozialer Hinsicht ist jedoch die je faktische Standes- oder Klassenzugehörigkeit weniger entscheidend als vielmehr der Typus sozial-asymmetrischer Relationen, in welcher Personen zu anderen stehen können. Die im miederen Volk< beobachtete Überlebens-Mimikry mag sich deshalb auch auf anderen Sprossen der sozialen Stufenleiter finden lassen. Für die politische Semantik der Verstellung und Schauspielerei ist ja insbesondere der >erhabene< Schauplatz des Hofes zentral, und gerade dort wird den hierarchisch-asymmetrischen Relationen, gemäß der Kategorie des situativen aptum^ größte Aufmerksamkeit geschenkt. Die Überlebensmimikry trägt dort Züge von Aufstiegs- und Karrieremimikry: Mit den Momenten der Geschicklichkeit des Diplomaten und der sozialen Sensibilität des Deklassierten ist jene politische Anforderung charakterisiert, am Hofe Gunst und Gönner zu erwerben, eine Leistung mithin, die insbesondere die nicht durch aristokratische Herkunft geadelten homines novi zu erbringen haben. Als politische sind ihre Techniken der Simulation und Dissimulation denen eines modernen Schauspielers in entscheidender Hinsicht vergleichbar. Zum skizzierten historischen >Resonanzraum< von Nietzsches Reflexion stimmt es, daß die Figur des Künstlers den Ausgangs- und Zielpunkt seiner Reflexion der Schauspieler-Problematik bildet. Als Künstler, der sich selbst seine soziale >Aufführung< — als artifizielle Leistung begreift, ist Castigliones Cortegiano beschrieben worden. Von ihm ist nun eine Linie auszuziehen, welche den Typus des honnete komme mit dempo/iticus des 17. und 18. Jahrhunderts verbindet. Der honnete komme ist nämlich dem Hofmann Castigliones nachgebildet, wenngleich er, anders also als der Cortegiano, die Voraussetzung der >edlen< Geburt nicht notwendig erfüllen muß. Als Welt=Mann — so heißt es im 64

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Braungart beschreibt den Diplomaten des 17. und 18. Jahrhunderts als Inbegriff des Weltmanns bzw. des politicus (Braungart, Hofberedsamkeit, 137). — Der negociateur wird von Francois de Caillieres De la moniere de negocier avec /es souverains (1716) mit einem Schauspieler verglichen (Strosetzki, Konversation, 141). — Selbstverständlich ist der Diplomat kein Hochstapler; es verbinden sich bei ihm vielmehr professionelles Wissen und soziale, rhetorische Flexibilität. Zum Begriff des >situativen aptum< vgl. Sinemus, Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat, 55.

Dissimulatio artis, Simulatio und Dissimulatio im 16. und 17. Jahrhundert

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Titel einer 1647 in Leipzig erschienenen, von Caspar Bierling herrührenden Übersetzung des Faretschen L'honneste Horn me von 1630 — hat er sich die von vielen Leuten gesuchte schöne Kunst l wie einer an grosser Herren Höfen durch besondere Tugenden und geschicktes Wohlverhalten [...] sich beliebet und belobet machen könne, zu erwerben.66 Diese »schöne Kunst« soll sich laut Versprechung des deutschen Buchtitels im Traktat selbst finden und also erlernen lassen. Als schöne und (doch) lehrbare Kunst steht sie vor eben jenen Problemen, welche der Cortegiano — stellenweise nahezu plagiatartig verwendetes Vorbild Farets - bereits ausführlich behandelt hatte. Mit der Dichotomic von spresgatura und affetttnyone warnte Castiglione den Hofmann vor den Gefahren eines ästhetischartifiziellen Verhaltens, welches die Präsentation von Natürlichkeit verfehlt. Affetta^ione verletzt eben nicht nur den idiosynkratisch-sensiblen Geschmack der Hofgesellschaft, sie ruft darüber hinaus, wie gesehen, moralische Zweifel und Mißtrauen hervor. Farets honneste homme begehrt, >beliebet und belobet< zu werden und hat seine Kunst deshalb so einzurichten, daß sie anderen als nichts anderes denn als schöne Kunst erscheinen kann. Castigliones Dichotomic: spre%xatura\affetta%ione ist bei Faret mit: negligence\affectation belegt worden: »C'est de fuyr comme un precipice mortel cette malheureuse & importune Affectation, qui ternit & soüille les plus belles choses, & d'user par tout d'une certaine negligence qui cache l'artifice«.67 66

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Caspar Bierling, L'honneste Homme, Das ist: der Ehrliebende Welt=Mann/ Oder Die von vielen Leuten gesuchte schöne Kunst/ wie einer an grosser Herren Höfe durch besondere Tugenden/ und geschicktes Wolverhalten gegen männiglichen sich beliebet und belobet machen könne. Erstlichen und zwart vor wenig Jahren in Frantzösischer Sprache zu Paris durch einen grossen Hoff=Mann Den Herrn Faret heraus gegeben/ Und stracks darauff durch einen Leipzigschen Patricium C. B. so Studierens/ und selbige Königliche Hoffhaltung wol zu besehen sich zu selbiger Zeit viel Jahr daselbst auffgehalten/ ins Teutsche mit Fleiß übergesetzt und zierlichen verdolmetscht, Leipzig 1647. Der Originaltext erschien 1630 unter dem Titel L'Honeste homme. Ou L'Art de plain a la Cour. — Vgl. dazu: Maurice Magendie, La politesse mondaine et les theories de l'honnetete, en France au XVIIC Siede, de 1600 a 1660, 355 — 369. Farets honnete homme ist kluger und moralisch ambitionierter Höfling, nicht >Weltmann< der Salons. Zum Ideal der honnetete vgl. Oskar Roth, Die Gesellschaft der Honnetes Gens. Zur sozialethischen Grundlegung des koanetefe-ldcals bei La Rochefoucauld, Heidelberg 1981. Ferner: Henning Scheffers, Höfische Konvention und die Aufklärung. Wandlungen des ho»nete-homme-ldtals im 17. und 18. Jahrhundert, Bonn 1980. Zur Entstehung der honnetete aus der Hofkultur/-literatur: Anette Höfer/Rolf Reichardt, Honnete homme, Honnetete, Honnetes gens, in: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680—1820, hg. v. R. Reichardt u. Eberhard Schmitt, H. 7, München 1986, insb. 3ff. Faret selbst ist vom Schuhmachersohn in die Pariser Hofgesellschaft aufgestiegen; sein Traktat erfuhr bis 1681 sechzehn Auflagen (vgl. ebd., 12f.). — Zur unproblematischen Verbindung von >künstlicher< Regelhaftigkeit und Natürlichkeit in der doctrine classique siehe Strosetzki, Konversation, 37f. Nicolas Faret, L'Honeste homme. Ou L'Art de plaire a la Cour, Rouen 1637,29.

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Eine »Art der Fahrlässigkeit/ darunter gleichwol die Kunst verborgen ligt«,68 so lautet die Übersetzung von negligence ins Deutsche — verborgene Kunst, dissimulatio artis. Die für die >Fahrlässigkeit< in konzeptueller Hinsicht zentrale Referenz ist auch hier keine andere als diejenige Castigliones: die der antiken Rhetorik. Die »Redener« haben, versichert Faret, »kein subtiler Kunststücklein« auszuführen, als jene kunstvolle Kunstlosigkeit des Cortegiano handzuhaben, welche die deutsche Castiglione-Übersetzung als »Nachlässigkeit« führt. Auch bei Faret wird die Rhetorik nicht nur im allgemeinen, in ihren zentralen Prämissen aufgerufen; sie stellt überdies, und das ist in unserem Zusammenhang entscheidend, in der Besonderheit ihrer ^//o-Lehre ein vom bonnete komme, vom Welt-Mann, zu berücksichtigendes verbindliches Element seiner Operationen. Die geforderte »stete Auffmerckung«,69 welche sich sowohl auf die Beobachtung seiner Umgebung als auch seiner selbst richtet, impliziert ein ^«•öra/w-adäquates (Gesprächs-)Verhalten, wie es sich zu je »gelegener Zeit« empfiehlt, »wie sichs gebühret«.70 Politisch klug - dafür steht die Kategorie der Gelegenheit — und ästhetisch »anmuthig« artikuliert sich der Welt-Mann auch und gerade in seinen »euserlichen Geberden«. Über Castiglione findet mithin die rhetorische aetio-Lehte Eingang in die Konzeption der honnetete, für deren Tradition Faret von erheblicher Bedeutung ist. Damit gibt sich zugleich jenes Relais zu erkennen, welches Ästhetik und Politik aneinander anschließt: Es ist die eloquentia corporis, die in den actiones des Höflings sich artikulierende »Beredsamkeit des Leibes«.71 In ihrer spezifisch höfischpolitischen Funktion wird sie von Faret in der Passage »Von der Action« beschrieben: Als »Seele aller Gespräche« erscheint die actio hier; sie trägt dazu bei, auch »die geringsten dinge [...] mit gunst anzubringen«.72 Auch wenn die >eigentliche< Sache oder die Botschaft nicht gerade bedeutend ist, sorgen die Zeichen der körperlichen Beredsamkeit für die Wirkung desjenigen, der sich ihrer zu bedienen versteht. 68 69 70

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Bierling, L'honneste Homme, 20. Ebd., 118. Ebd., 119. Darauf achten auch die Frauen: »Dann das erste ding/ welches sie an einer Manns= Person betrachten/ ist die Mine oder gestalt und die äuserlichen Actionen/ welche Cicero eine Beredsamkeit des Leibes nennet« (ebd., 123). — Cicero ist Gewährsmann Castigliones; sein Cortegiano ist eine Art Parellelstück zu Cicereos De oratore. Vgl. dazu Loos, Baldassare Castigliones »Libro del Cortegiano«, 175f. — Zur Beredsamkeit des Leibes< siehe den Exkurs über die Geschichte der aftio-Lehie im 2. Kapitel. »Die Action/ welche von der Theilung dieser Beredsamkeit des Leibes/ darvon wir itzo geredet haben/ ein Stück ist/ soll auch sehr wol beobachtet werden/ alldieweil sie die Seele aller Gespräche/ so wir führen/ ist. Denn in Wahrheit unsere Reden schwach= und Macht=loß seyn würden/ wann ihnen davon nicht beygesprunge wird« (Bierling, L'honneste Homme, 127).

Dissimulatio artis, Simulatio und Dissimulatio im 16. und 17. Jahrhundert

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Die gekonnte actio bietet sich — weit entfernt, dem Abdruck innerer Regungen und Absichten zu dienen — unter Umständen als Werkzeug einer anderen Kunst an: der der Verstellung. Denn diese hat nicht allein Worte zu vermeiden, wie dies beim dissimulierenden Schweigen der Fall ist, sie zu kontrollieren oder simulierend zu erfinden; es gilt überdies, um lästige Zweifel von Beobachtern auszuräumen, dafür zu sorgen, daß die Gesamtinformation konsistent erscheint: Rede und actio sind deshalb aufeinander abzustimmen und sollten sich nur dann wechselseitig dementieren, wenn dies als Bestandteil der Information fungiert und der Kontrolle eines souveränen Akteurs unterliegt, der die Zeichen zu disziplinieren vermag — etwa um ein Verstellungssignal zu setzen. Ist das Problem der Simulation bei Castiglione noch Gegenstand eines Dialogs, eines Streitgesprächs, so lassen Machiavelli und Gracian keinen Zweifel daran, daß der Politiker — sei er als exponiertes Subjekt an der Erhaltung des Landes< oder als Personal-Politiker an der >Erhaltung der eigenen Person< bei Hofe interessiert — von Verstellung Gebrauch machen muß. Sie ist jedoch nur zum Teil mit jener dissimulatio artis Castigliones identisch: Denn es ist nicht nur darum zu tun, die Kunst als Natur und Natürlichkeit sehen zu lassen, um ihr so den Geruch des Betruges zu nehmen; darüber hinaus ist die politisch funktionalisierte Verstellung die Verstellung von etwas. Nicht allein sie selbst ist zu kaschieren, sondern es sind Gedanken, Regungen, Absichten, Projekte und Pläne zu verbergen, um Beobachter, Neider und Konkurrenten, die prinzipiell in allen Personen zu vermuten sind, über diese im dunkeln zu lassen. Mit Hilfe bloß fingierter, gestellter Absichten kann es gelingen, eine Person (als persona) darzustellen, die mit der eigentlichen, sich verbergenden Person und deren Intentionen womöglich wenig gemein hat. An genau dieser Stelle ist der politicus als Schauspieler im modernen Sinne tätig, welcher mit dem seinem Fatum ergebenen Comödianten im (Gleichnis des) theatrum mundi nicht zu verwechseln ist. Der schauspielernde politicus sucht nämlich, wie eine zeitgenössische topische Formel sagt, das Schicksal zu steuern und sein Glück zu machen, indem er den Einfluß Fortunas begrenzt, sich ihr nicht unterwirft, sondern sich ihrer gleichsam bedient.73 Sich der providentiellen Fügung zu überlassen, den Rollen- und Regieanweisungen Gottes, des obersten Spielleiters, gehorsam Folge zu leisten und den einmal zugewiesenen Platz in der 73

Diese die Kompetenz des Menschen herausstellende Bedeutung Fortunas geht auf die Renaissance zurück: Das Lebensschiff des Menschen wird nicht mehr allein von attfortuna di märe getrieben, der Mensch selbst steht am Steuer und versucht Glück und Gelegenheiten zu nutzen. Fortuna und Klugheit sind deshalb politisch relationiert. Vgl. dazu Friihsorge, Der politische Körper, 97—106. — Machiavellis virtit ist auf die Macht Fortunas bezogen: Fortuna bietet die occasio; virtit unapruden^ia wissen sie zu ergreifen. Siehe dazu Mulagk, Phänomene des politischen Menschen, 63. Zum Verhältnis von Fatum und Fortuna vgl. Voßkamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert, 172ff.

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Ordnung des Ganzen nicht zu verlassen, ist das Gesetz, unter welches zwar der Comödiant des Welttheaters,74 nicht aber der politicus sein Leben stellt. Diesem sind beim Versuch, sein politisches Glück - wenn er es auch nicht direkt sichern kann - doch wenigstens erwartbar und wahrscheinlich zu ma74

Der Comödiant des Welttheaters ist ein Mensch, der, durch Gott >bewegteSchauplatz< erscheint sub specie mortis als theatrum vanitatis, wie Rusterholz an Gryphius zeigt. Siehe: Peter Rusterholz, Theatrum vitae humanae. Funktion und Bedeutungswandel eines poetischen Bildes. Studien zu den Dichtungen von Andreas Gryphius, Christian Hofmann von Hofmannswaldau und Daniel Casper von Lohenstein, Berlin 1970, 46. — Die Schein-Kritik ist in diesem Rahmen weniger oder kaum Verstellungskritik im hier erörterten sozialen Sinn. Das Geschehen ist insgesamt auf Gott statt auf die Menschen bezogen. Gott ist Regisseur, Zuschauer, und, wenn er den Tod eintreten läßt, >EntlarverZusammenbruch< von Rhetorik und theatrum mundi grundlegend und ausführlich: Barner, Barockrhetorik, 86—135. — Auffällig ist jedoch in Barners Darstellung, daß er das rhetorische Schauspiel (actio) in der Nachfolge Ciceros und Quintilians und das Konzept des theatrum mundi nicht unterscheidet. Damit wird er der Entstehungsgeschichte der Vorstellung vom >Menschen als Schauspielen, welche unabhängig vom Welttheater-Gleichnis sich entwickelt, nicht gerecht. Dies gilt auch und gerade für seinen Versuch, das Welttheater anthropologisch (ebd., 92f.) oder — mit Gracian — politisch zu verstehen (142ff.). - Wie Barner verfahren auch Bück (Die Kunst der Verstellung, 88f.) und Fischer-Lichte (Semiotik des Theaters, Bd. 2, lOff.). — Zur Rollenmetapher siehe Ralf Konersmann, Die Metapher der Rolle und die Rolle der Metapher, in: Archiv für Begriffsgeschichte 30 (1986/87), 84-137.

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chen, sowohl rhetorische als auch politische Techniken behilflich. Zu ihnen zählen insbesondere die ^//o-Vorschriften sowie die Kunst, mit deren Hilfe je nach Gelegenheit zu simulieren und zu dissimulieren. Wie dies klug anzulegen ist, will ein Schmiede des Politischen Glücks1'* betitelter Traktat aus dem Jahre 1666 zeigen. Die »heilsahme[n] Lehren«, welche dieser Text seinem Publikum zu geben verspricht, stehen in der Tradition der politischen Überlegungen Machiavellis, Castigliones, de Refuges, Gracians, Farets und anderer, und ihre >Originalität< besteht darin, die einschlägigen Prätexte in ein Kompilat einzuschmelzen, das sich, der Funktion des Graciänschen Handorakels vergleichbar, dem politicus als dem Schmied seines Glückes zum probaten Werkzeug anbietet. Das politisch-pragmatische Genre der Hof- und Klugheitsliteratur, welches in Deutschland insbesondere von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an bis in die ersten Dezennien des 18. Jahrhunderts floriert, findet sich im vorliegenden, von Christian Georg Bessel verfaßten Text geradezu prototypisch ausgebildet. Daß die Verstellungskunst zur technischen Ausrüstung sowohl des Regenten als auch des Hof- und des >Welt-Manns< gehört, gibt der Text ohne Begründungsaufwand zur Kenntnis: »qui nescit dissimulare, nescit regnare«.76 Denn wie die »Blösse des Leibes« ist auch »selbe des Gemühts« einem politicus in geradezu existentieller Weise abträglich. Wer nicht »alles stellen und verstellen kann«, ist »ungeschickt«. Und mit einem italienischen Sprichwort wird darüber hinaus behauptet, daß, wer sich nicht stellen und verstellen könne, sein (Über-)Leben aufs Spiel setze. Der Text kommentiert, offensichtlich zustimmend: »Die Italiäner extendiren die Notwendigkeit dieser Stell= und Verstellungs Kunst noch weiter/ sagende: chi non sä fingere, non sä vivere, wer nicht zu simuliren weiß/ der weiß auch nicht zu leben«.77

Bessel >extendiert< nun nicht allein — so wie es die mit der Sentenz aufgerufenen Italiener vermeintlich tun - die Handhabung der Simulation und Dissi75

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77

Ch.G.B. [= Christian Georg Bessel], Schmiede des politischen Glücks, darinnen viele heilsahme Lehren enthalten. Neben angefügten schönen Tractätlein, als: 1. Des wolgebohren und semperfreyen Herrn zu Limburgk etc Thesaurus Paternus. 2. Und dann William Cecill, Frey=Herrn von Burghley, heilsahme Lehren an seinen Sohn gerichtet, Hamburg 1666. Dieser Text ist vorgeblich wider Bessels Willen von seinen Freunden herausgegeben worden. Vgl. Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinem Gelehrten-Lexico [...] von Johann Christoph Adelung, Bd. l, Leipzig 1784, Sp. 1798. Bessel, Schmiede des politischen Glücks, 105. — In Marc Antoine Murets TacitusKommentar (In Taciti Anna/es Commentarius) heißt es: »Qui nescit simulate ac dissimulare, nescit regnare« — ein Diktum, das offenbar auf Ludwig XI. zurückgeht (Stackelberg, Tacitus in der Romania, 117). Bessel, Schmiede des politischen Glücks, 105f.

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mulation von einer das (politische) Leben erleichternden zu einer dieses allererst sichernden Technik — er erweitert auch den sozialen Bereich ihrer Anwendung: Wird in der Ausgabe der Politischen Schmiede von 1666 vom »Politicus« gesprochen, so ist damit in der Regel der Regent und Staatspolitiker gemeint, wenngleich sich nach Gracians Handorakel dem kundigen und orientierungsbegierigen Leser wahrscheinlich stets allgemeinere Auslegungsund Applikationsmöglichkeiten ergeben. In einer autorisierten und revidierten Fassung der Besselschen Politiklehre, welche unter dem Titel Neuer Politischer Glücks=Schmied im Jahre 1673 erstmals erscheint,78 ist der politicus nicht allein als herausragende Herrscherpersönlichkeit, sondern allgemein als jene bei Gracian konzipierte persona gefaßt, welche sich qua Klugheit — auch und gerade unter feindlichen Bedingungen - zu erhalten weiß. Augenfällig wird die von Bessel vorgenommene soziale Ausweitung des anvisierten Personenkreises an jenen Stellen des Textes, an welchen diesbezügliche Ergänzungen und Korrekturen vorgenommen worden sind. In einer wichtigen Passage, in welcher es um die Notwendigkeit geht, einen guten Ruf zu erwerben und sich nicht den eines »verschlagenen Mannes« einzuhandeln (wovor schon die Politik-Lehre Machiavellis gewarnt hatte), spricht der Text von 1666 vom »Staats=Mann«,79 während die revidierte Fassung an dessen Stelle den neutraleren Begriff »Politicus«80 setzt. Im selben Abschnitt, in einer Castiglione abgesehenen, nun eindeutig politisch gewendeten Charakterisierung des dissimu/atio-artis-Topos heißt es 1663: »dann gleich wies die grösseste Kunst der Beredsahmkeit ist/ dero Kunst zu verbergen/ also bestehet auch die grösseste Klugheit eines Hoffmanns darin/ daß er seine Klug= und Verschlagenheit mit dem Scheine der Einfalt artig wisse zu bemänteln«.81

Die Ausgabe von 1681 macht aus der »Klugheit des Hoffmannes« die Klugheit eines »Welt=Mannes«.82 Die semantisch signifikante Umstellung von >Hofmann< auf >Weltmann< ist als Indikator eines sozialen Sachverhalts zu lesen, welcher insbesondere die Situation der bürgerlichen Intelligenz im 17. Jahrhundert betrifft. Bekanntlich gelingt es dieser bereits im 16. Jahrhundert, in 78

79 80 81 82

Bessel gibt im selben Jahr auch eine lateinische Fassung heraus unter dem Titel: Faber fortunae politicae [...], auctore Christiane Georgio Bessel [...], Hamburg 1673. - Die deutsche Fassung erlebt mehrere Auflagen. Die hier vorliegende stammt aus dem Jahre 1681: Neuer Politischer Glücks= Schmied/ Mit allerhand Zum Hof= und Welt= Leben dienenden/ und auff gegenwärtige Zeiten absonderlich gerichteten heylsamen und höchstnöthigen Lehren/ welche mit außerlesenen Sprichwörtern/ Sinn=reichen Redens=Arten/ und ungemeinen Gleichnüssen und Beyspielen ausgeziert/ angefüllet/ und der gelehrten Welt fürgestellet/ Durch Christian Georg v. Bessel [...], Franckfurt 1681. Bessel, Schmiede des politischen Glücks, 218. Ders., Neuer Politischer Glücks=Schmied, 352. Ders., Schmiede des politischen Glücks, 218. Ders., Neuer Politischer Glücks=Schmied, 352.

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die sich absolutistisch erweiternden fürstlichen Verwaltungen einzuziehen und dort als Beamte, vorzugsweise als Juristen, tätig zu werden. Für die altständische Ordnung heißt dies, daß dem stabilen und statischen Ordo-Gefüge ein mobiles Element zugeführt wird. Neben der nobilitas generis entsteht ein neuer Adel, die nobilitas scientiae sive literaria. Mit juristisch-studierter Bildung steht den bürgerlichen Gelehrten ein brauchbares Äquivalent zur >edlen Geburt< zur Verfügung. Als Qualifikationsmerkmal reicht dies dann nicht mehr aus, wenn im sich ausbauenden absolutistischen Staat und einer entsprechend sich differenzierenden Verwaltung ein spezialisiertes Know-how erforderlich wird. Die bürgerlichen >KarrieristenAdelsrenaissanceAdelsrenaissanceGlücks-Schmied< Bessels zum politischen Verhängnis werden. Die klugen Bemühungen des politicus, sich in den »Credit eines Offenhertzigen und Unfalschen«87 zu setzen, können, sofern die Entdeckung seiner (möglicherweise: habituellen) Verstellung erfolgt, mit einem Schlag zunichte werden. Die eigentlich »zu seinem Vorteil gebrauchte/ aber nachgehens entdeckte/ List« bringt dem »Politico« doppelt so viel Schaden wie er sich Nutzen von ihr versprochen hatte.88 Oder, mit den Worten des Thomas Campanella: »nam ubi simulatio semel detecta fuerit, nulla illi amplius fides habebitur.«89 Die Konsequenz, dieser Gefahr auszuweichen, indem man auf das Gegenteil von List und Verstellung setzt, wird aber nicht gezogen. Im Gegenteil: die entsprechenden Kunstfertigkeiten sind zu perfektionieren. politicus der »Glücks= Schmiede« lernt im XXXVII. Lehrsatz — überschrieben: »Von der Simulation und Dissimulation, und dessen rechtem Gebrauche«90 —, wie er den gewünschten Eindruck bei anderen erzeugen kann, und zwar unter der für rhetorische Verhältnisse typischen Voraussetzung, daß das den Beobachtern Präsentierte nicht eigentlich präsent ist. Der »Faber Fortunae Politicae«,91 wie der politicus im Titelkupfer der Ausgabe von 1681 genannt wird, erlernt die Schauspielkunst als eine Kunst, die, weit entfernt, bloß als schöne zu fungieren, sein Glück befördert. »Ars fortunam adjuvat«, heißt es in einem quasi emblematischen Titelkupfer der 1666er 85

Ebd., 352.

86

Vgl. dazu Michel de Montaigne, Essais. Auswahl und Übersetzung von Herbert Lüthy, Zürich 1953,79 f. Bessel, Neuer Politischer Glücks=Schmied, 355. Ebd., 351. Ebd., 362. Ebd., 359. So auch der Titel der lateinischen Übersetzung aus dem Jahr 1673.

87 88 89 90

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Ausgabe, welches das Interieur eines Hofes, den Thron und dessen Umgebung, zeigt. An der äußeren Stirnseite ist als Kommentar zum inneren Geschehen die warnende Erinnerung angebracht: »Frons saepe mentitur«.92 Was für das Gebäude gilt, trifft darüber hinaus auch für die Stirn des Menschen zu, für sein den Beobachtungen zugewandtes Äußeres, welches alles >Innere< per se verborgen hält. Der >Glücksschmied< als Schauspieler weiß um das (möglicher- und wahrscheinlicherweise) Lügnerische und Betrügerische des (eigenen) Äußeren und weiß zugleich, daß es für seine Beobachter nichts als dieses Äußere gibt, ja daß eben dies für Interaktion und Kommunikation allein entscheidend ist. Der Hinweis auf den Sachverhalt umschließt beides: eine Warnung vor Leichtgläubigkeit und eine Aufforderung zum Schauspiel. »Wofür ein Politicus in Gesellschafften für den Leuten angesehen seyn wil/ so muß er sich daheim und von allen abgesondert formiren«,93 lautet Bessels Anweisung zur rhetorisch-schauspielerischen Wirkungskalkulation. Das Bild, welches der Text an dieser Stelle anbietet, ließe sich, retrospektiv von der Schauspielkunst der Moderne her gesehen, als Situation des Spiegelstudiums interpretieren. Bessels Vorschläge zur Inszenierung einer Inszenierung sehen folgendes vor: Der sich auf beschriebene Weise formierende politicus solle sich »fest einbilden/ daß die Sachen/ so er zu simuliren oder zu dissimuliren gedencket/ sich in der That so verhalten/ und auff solche Weise sich zuvor selber zu betriegen suchen/ ehe man sich unterfange einen anderen dessen zu überreden/ dann so wird es desto unvermerckter abgehen«.94

Die hier vorgesehene Disziplinierung der (körper-)sprachlichen Zeichen hat, wie im Hinblick auf Castiglione und Faret gezeigt wurde, ihren angestammten Ort in der rhetorischen actio-Lehte. Die dem schauspielerischen politicus nahegelegte Technik des >Selbstbetrugsstatischen< jenseitsdominierten barocken Welttheater die genuin schauspielerischen Techniken der politisch ambitionierten Rhetorik nicht angemessen beschreiben kann, ließe sich gegen Kapp einwenden. Zum Einfluß der antiken Rhetorik auf die Schauspielkunst des Quattrocento und Cinquecento siehe Kapp, Die Lehre von der actio, 41. — Wie die Schauspielkunst der frühen Neuzeit auf die Rhetorik zurückgreift, so rekurriert die antike Beredsamkeit auf die Schauspielkunst, dies weniger auf theoretische, sondern eher auf imitatorisch-praktische Weise. Quintilian führt an, daß Demosthenes bei dem Schauspieler Andronicus studiert habe (Quintilian, Ausbildung des Redners, XI, 3, 7, S. 611). Lernt die antike hypokrins\actio von der Schauspielkunst bzw. den Schauspielern auf dem Wege der >AnschauungInnern< abspielt, durch den Gebrauch prägnanter Zeichen für Beobachter wahrnehmbar werden. Feste Bedeutungsattributionen und eindeutige konventionell eingespielte Signifikant-Signifikat-Beziehungen regeln sowohl den Vorgang der Codierung auf selten des Redners als auch die Decodierung, welche dem Publikum aufgegeben ist. Ausgehend von den Vorgaben Ciceros unternimmt es Quintilian, die Zeichen der actio >plastisch< auszubuchstabieren und zur Benutzung bereitzustellen. Diese ermöglicht die Evokation eines bestimmten Eindrucks. Mit der modernen Ausdrucks-Kategorie ist dieser Vorgang des >einen-bestimmten-Ausdruck-Sicherstellens< nicht begriffen. Die Ausdrucksästhetik des 18. Jahrhunderts versteht nämlich den Ausdruck als Abdruck eines inneren Zustandes, der sich, jenseits artifiziell inszenierter Prägnanz, einstellt, sich von selbst ergibt - gleichsam einfach geschieht.139 Bemerkenswert ist, daß Quintilian eine solche Natürlichkeits-Option in seinem Text bereits berücksichtigt, ohne sich freilich von ihr beeindrucken zu lassen: Er weist daraufhin, daß es zeitgenössische Kritiker gebe, welche die kunstvolle actio mit ihrem Gegenteil, einem ungeschulten, sozusagen spontanen Verhalten in der Absicht konfrontieren, die größere Gefälligkeit des Nicht-Artifiziellen zu suggerieren. Alles, was mit der Gestaltung einer kunstvollen actio zusammenhängt, gilt jenen von Quintilian aufgerufenen Kritikern als affektiert (adfectata) und nicht eben natürlich (parum natura/ia).140 Die hier eingerichtete Dichotomic von Natur und Affektation wird für die Geschichte der Rhetorik und Ästhetik entscheidend werden. Quintilian, der sich der von den Natürlichkeits-Apologeten propagierten Negation des Artifiziellen nicht anschließt, sich also weigert, die Natur der Kunst gegenüber zu privilegieren, entwirft zwei das Verhältnis von Kunst und Natur betreffende Modellsituationen, welche für die weitere >Technikgeschichte< der actio ver-

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139 140

Ein so organisierter rhetorischer Apparat verschwindet erst im Laufe des 18. Jahrhunderts. Ihm sind im übrigen auch die Formen höfischer >Unterweisung< und andere Äquivalente nicht institutionalisierten Unterrichts zuzurechnen. — Den institutionellen Faktor berücksichtigt Cahns Wissenschaftsgeschichte der Rhetorik leider überhaupt nicht. Zur Umstellung auf den Ausdruck innerhalb der Rhetorik vgl. Kap. V, Abschnitt 1. Quintilian, Ausbildung des Redners, XI, 3,10, S. 610.

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Exkurs: Die Eloqwntia corporis

bindlich werden sollen: Sind beim Redner Gefühle (motus animorum)™ vorhanden, so fehlt diesen in der Regel artifizielle Prägnanz (carent arte), damit zugleich auch Kommunikabilität, d. h. das wichtigste Moment einer rhetorischen Situation. Im umgekehrten Falle, in welchem es den Gefühlen an natürlicher Grundlage fehlt (carent natura),^2 sie also so gut wie gar nicht vorhanden sind, hilft dem Redner, das hatte bereits Cicero am Beispiel des forensischen Redners entwickelt,143 die Technik der Selbsttäuschung, der Selbstinduktion. Diese wird bei Quintilian — sowohl Ciceros Vorschläge als auch das Si vis me flere des Horaz aufnehmend — folgendermaßen konzipiert: Der Redner muß sich agierend und sprechend von den selbsterzeugten Bildern (imagines rerum) ergreifen und überzeugen lassen.144 Sie werden qua suggestiver Leistung des Redners und Akteurs zu Wirklichkeiten umstilisiert. Vorausgesetzt ist dabei, daß die Möglichkeiten mentaler Stimulationen und Veränderungen prinzipiell unbegrenzt sind. Weder Natur noch Moral sorgen für automatisch sich einstellende Limitationen der Artikulation. Das Verhältnis von >Innen< und >Außen< hat dann zwei Verlaufsformen: Zum einen animiert die mentale Verfassung des Redners seine Stimme (oder andere Äußerungen), zum anderen aber ist es in umgekehrter Richtung die Stimme selbst, die in selbstsuggestiver Weise diejenigen Stimmungen, welche für den Vortrag vorgesehen sind, in der Rede produziert. Weder gehen diese als sozusagen fertige, nach Ausdruck suchende Befindlichkeiten in die Rede ein, noch wird die bloße Existenz eines Gefühls oder einer Befindlichkeit honoriert, dessen unverfälschte, unverstellte, möglicherweise kaum expressive, kaum eindrucksvolle Darstellung. Der technisch geschickte, dem aptum und den Kunstanforderungen entsprechende Redner beweist sich vielmehr gerade in jenen Fällen, in welchen er sich mit Hilfe einer auf seinen habitus gerichteten kunstvollen Geschicklichkeit als Agierender allererst >herstelltinneren< Bewußtsein prinzipiell unabhängig. Als Medium der Kommunikation so nützlich wie unentbehrlich, läßt die Gebärdensprache, wie die Stimme, doch keine Rückschlüsse auf das Innere zu. Die verborgenen Signifikate (der Gedanken, Befindlichkeiten, Stimmungen und Gefühle) müssen stets unentdeckt bleiben, damit rechnet die Rhetorik im allgemeinen und die actio bzw. pronuntiatio im besonderen. 141 142

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144

Ebd., XI, 3, 61, S. 632. Ebd., XI, 3, 62, S. 632. »Weil [...] die Bewegung des Gemüts, die der Vortrag vor allem ausdrücken oder nachzuahmen hat, oft so verworren ist, daß sie verdunkelt und beinahe überdeckt wird, muß das, was verdunkelnd wirkt, beseitigt und das, was hervortritt und ins Auge fallt, hervorgehoben werden« (Cicero, De oratore, III, 215, S. 583). Quintilian, Ausbildung des Redners, XI, 62, S. 632.

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Auch die Operationen aespoliticus basieren auf dieser Einsicht, beziehen sie in ihr Kalkül ein. Bessels sich übender und gleichsam selbstbetrügender Politiker, welcher sich in die richtige, d.h. politisch kluge Befindlichkeit rückt, weiß, daß es darum geht, die Zeichen — indices mentis — richtig zu setzen, und weiß zugleich, daß nur diese seinen höfischen Beobachtern zugänglich sind. Gegen die actio-Lehte als Anleitung zur richtigen >Zeichensetzung< vermag die bei Quintilian kritisch zitierte Position der Spontaneitäts- und Natürlichkeitsästhetik sich nicht durchzusetzen. Erst die Aufklärungs-Kritik an der rhetorischen Tradition wird einen radikalen Neu-Beginn verkünden: die Geburt eines natürlichen, eines unmittelbar sich einstellenden Verhaltens, welches das Ende jeder actio-Lehte belegen soll. Bis dahin freilich erhält sich, wenn auch unter je spezifischen Bedingungen, die antike actio-Konzeption: In der Rhetorik des späten Mittelalters und der Renaissance verschafft sich, wie eine auf diesen Zeitraum bezogene Darstellung belegt,145 die Auffassung Geltung, daß pronuntiatio und actio sich zwar qua Beobachtung, Imitation und Übung, weniger aber mit Hilfe theoretischer Anweisung erlernen lassen. Diese Einsicht, welche Legitimität und Funktionalität der eloquentia corporis nicht bezweifelt, wohl aber die Frage nach dem Modus ihres Erwerbs neu stellt, ist den entsprechenden Rhetorik-Texten abzulesen: In ihnen wird die actio-Lehie entweder nur kurz abgehandelt oder aber sogar gänzlich gestrichen, wie dies etwa in den einschlägigen Texten Philipp Melanchthons der Fall ist. Noch Gerhard Johannes Vossius beschränkt die Darstellung von motus corporis und pronuntiatio auf einen Extrakt der antiken Vorlagen.146 Dabei ist allerdings im Auge zu behalten, daß diese als Referenzen präsent bleiben. Noch im 16. Jahrhundert ändert sich die Situation: Die actio-Lehte gewinnt >literarisch< und theoretisch an Bedeutung zurück147 und baut dann, insbesondere im 17. Jahrhundert, ihren Anwendungs- und Geltungsbereich aus; sie behauptet sich als legitimes kulturelles Institut. Denn zum einen wird durch die zitierte Beredsamkeit des Leibes der gefällige, angenehme und prägnante habitus des Höflings (Castiglione) und des honnete homme (Faret) angeleitet, zum anderen, und hier steht Bessels politicus an prominenter Seite, läßt sich mit Hilfe der beschriebenen Techniken die politisch nutzbare Kunst pflegen, Stimmungen und deren verbindlich-konventionelle Zeichen nach Maßgabe der je vorliegenden Situation zu produzieren.

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Siehe dazu Dilwyn Knox, Late medieval and renaissance ideas on gesture, in: Kapp (Hg.), Die Sprache der Zeichen und Bilder, 11-39. Zu Melanchthon und Vossius siehe ebd., 14. — Im Schauspiel des humanistischen Schultheaters ist die actio jedoch nach wie vor von (praktischer) Bedeutung. Siehe dazu Kapp, Die Lehre von der actio, 41. Knox, Late medieval and renaissance ideas on gesture, 16f.

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Die mentalen und körperlichen Veränderungsmöglichkeiten, die bewußt und planvoll herbeigeführten mutationes^ welche Quintilian beschrieben hatte, geben Höfling, >Weltmann< und politicus die am Hofe und/oder für politische Geschäfte erforderliche Flexibilität. Doch bleibt anzumerken, daß die actio nicht allein Angelegenheit des höfischen und im engeren Sinne: politischen Lebens bleibt. Kindermanns Deutscher Redner von 1660 etwa verspricht seinem Publikum Nutzanwendung für die Abfassung und Aufführung unterschiedene[r] Arten der Reden auff allerley Begebenheiten, welche aus Verlöbnissen, Hochzeiten, Begräbnissen, Kindtaufen bestehen, aber auch Bitten und Danksagungen umfassen, dies alles so wol bey hohen\ als niedrigen Mannes und Weibespersonen. In der Vorrede weist Kindermann dann darauf hin, der Redner habe zu beachten, daß die »Bewegung des Leibes sittiglich geschehe«149 und verweist die Leser im übrigen auf die einschlägigen Ausführungen seines Vorgängers Meyfart, der in seiner Teutsehen Rhetorica von 1634 das gesamte 2. Buch der pronuntiatio und actio (»Reden außsprechen und abhandeln«) gewidmet hatte.150 Diejenige Rhetorik jedoch, die sich in besonderer Weise der schauspielerischen Disziplinierung von actio und pronuntiatio verschreibt, geht über die deutschsprachige >Gelegenheitsrhetorik< und deren Normierung angemessenzivilisierter Gebärdung hinaus: Christian Weises Konzeption einer (Schul-) Rhetorik versteht sich selbst als Part jener Bemühungen um Selbsterhaltung, die, als >politisch< etikettiert, neben der Bewahrung des Erworbenen auch das gesellschaftliche >Fortkommen< noch umfassen sollen. Die Schulcomödie wird als theatralische Übung des angehenden politicus — auf der Bühne des Schultheaters für die Bühne des sich alsdann eröffnenden gesellschaftlichen Lebens - in ein ihr bis dato unbekanntes Dienstleistungsverhältnis gestellt. b) Wider den »Übel= Stand an unserem Leibe«: Comödiantische Erziehung der Oberschicht. Christian Weises Politik- und Theaterkonzeption Daß die »Action« in den Exerzitien des schulischen Rhetorikunterrichts zu kurz komme, bemängelt Christian Weises Politischer Redner in seiner Beschreibung des herkömmlichen Unterrichts: 148 149

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Quintilian, Ausbildung des Redners, XI, 62, S. 632. Balthasar Kindermann, Der Deutsche Redner/ In welchen unterschiedene Arten der Reden auff allerley Begebenheiten Auff Verlöbnüsse/ Hochzeiten/ Kind=Tauffen/ Begräbnüsse/ auf Empfah= Huldig= Glückwünsch= Abmahn= und Versöhnungen/ Klag und Trost: wie auch Bitt Vorbitt und Dancksagungen samt dero nothwendigen Zugehör/ von der Hand/ so wol bey hohen/ als niedrigen Mannes und Weibespersonen zuverfertigen enthalten sind. Mit besondern Fleiß auff etlicher Freunde Ansuchen herfür gegeben [...], Franckfurt an der Oder 1660, Vorrede, unpag. Johann Matthäus Meyfart, Teutsche Rhetorica Oder Redekunst [...], 1634, hg. v. Erich Trunz, Tübingen 1977,1—54 (»Das Ander Buch«).

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»Endlich bleibt der Leib über die Helfte bedeckt/ also daß man wenig darnach fragt/ wie der Unterleib und die Beine in ihre Geschickligkeit gebracht werden.«151

Weises Kritik von in dieser Art gehaltenen Orationes läßt zugleich sein eigenes Konzept in nuce erkennen, ein Konzept, welches die Elemente: Rhetorik, Politik und Schauspiel in neuer und origineller Weise kombiniert. Abgestimmt ist jenes neue eloquentia-lat&\ auf die Bildungsbelange der Oberschichten, deren Angehörige noch Christian Schröters Gründliche Anweisung %ur deutschen Oratorie von 1704152 mit einem Titelkupfer anzulocken versucht. Dieses zeigt einen Tempel mit der Inschrift »TEMPLUM ELOQUENTIAE«, und darunter ist formuliert, was derjenige zu tun hat, der sich in der Welt einen passablen Platz verspricht: »Wilt du der Welt was nütze seyn, So sprich in diesem Tempel ein.« Da es in den interaktionszentrierten Verkehrsformen der adligen und bürgerlichen Oberschichten nicht auf die mündliche Rede allein ankommt, sondern auf die Präsentation der Rede und des Redners im ganzen — womit eben auch das >Körperganze< gemeint ist —, hält Weise es für angebracht, »wenn man die jungen Leute/ also zu reden/ in Lebens=Grösse vorstellt/ un hierdurch eine angenehme Conformität in den Gliedmassen zu erwecken bemühet ist.«153 Die Action ist eben Teil der Interaktion, finde diese nun bei Hofe oder andernorts statt.154 Deshalb sind die rhetorischen Kathederübungen, welche der eloquentia forporis keinen Raum bieten, als Propädeutik für das gesellschaftliche Leben ungeeignet: »Gestalt es auch so wol in Bürgerlichen/ als in Politischen Hof= Leben niemals dahin körnt/ daß sich ein Redner biß über den halben Leib darf mit Bretern verschlagen lassen.«155 Die Action des politischen Redners, der sich dem decorum entsprechend zu >tragen< weiß, ist deshalb nicht am Katheder, sondern auf der Bühne zu erlernen. 151

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Christian Weise, Politischer Redner/ Das ist/ Kurtze und eigentliche Nachricht/ wie ein sorgfältiger Hofemeister seine Untergebene zu der Wolredenheit anführen sol/ damit selbige lernen 1. Auf was vor ein Fund, eine Schul=Rede gesetzet ist/ 2. Worinn die Complimenten bestehen; 3. Was bürgerliche Reden sind; 4. Was bey hohen Personen sonderlich zu Hofe vor Gelegenheit zu reden vorfällt. Alles mit gnugsamen Regeln/ anständigen Exempeln/ und endlich mit einem nützlichen Register ausgefertigt/ Auch bey dieser 3ten Edition in vielen verbessert. Repr. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1683, Kronberg/Ts. 1974, hier: Vorrede, unpag. — Mit seiner Neukonzeption des rhetorischen Unterrichts knüpft Weise an die schon bestehende >politisch< motivierte Kritik der humanistischen Rhetorik an. Siehe dazu Braungart, Hofberedsamkeit, 62f. Christian Schröter, Gründliche Anweisung zur Deutschen Oratorie nach dem hohen und Sinnreichen Stylo Der unvergleichlichen Redner unsers Vaterlandes, besonders Des vortrefflichen Herrn Von Lohensteins in seinem Großmüthigen Herrmann und ändern herrlichen Schrifften, Leipzig 1704, Titelkupfer. Weise, Politischer Redner, Vorrede, unpag. Vgl. dazu Hans Arno Hörn, Christian Weise als Erneuerer des deutschen Gymnasiums im Zeitalter des Barock. Der »Politicus« als Bildungsideal, Weinheim 1966, 56ff. Weise, Politischer Redner, Vorrede, unpag.

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Die Schulcomödie wird damit zentraler Bestandteil eines politisch akzentuierten Rhetorikunterrichts.156 Der in der antiken Rhetorik gemeinplätzlich vorgebrachte Vergleich des Redners mit dem Schauspieler, das Bemühen, die Prototypen Demosthenes und Roscius in ihrer Identität und Differenz zu bestimmen, führt nun in Weises Projekt in eine Praxis über, in welcher der Redner als Schauspieler und der Schauspieler als Redner zu agieren lernt. Unter Berufung auf Demosthenes, der »seine Reden allemal vor dem Spiegel« präparierte, und mit dem Hinweis auf Cicero, der sein Vergnügen daran hatte, »mit dem Roscio als einem Theatralischen Ceremonien Meister« die unterschiedlichsten Mienen zu erproben,157 expliziert Weise die Funktion einer Rhetorik, welche die Relevanz der Action und mit ihr die Notwendigkeit, sie auf der Schulbühne vorzubereiten, herausstellt. Die eloquentia externa, welche sich eben nicht wie ihr Komplement, die eloquentia internet, die auf die (geschriebenen) Worte bezogene Beredsamkeit, im Führen der »Feder«158 beweisen kann, ist identisch mit der eloquentia carports Ciceros und der >Beredsamkeit des Leibespedantischen< Gelehrten oder Spezialisten oder gar einen »Eloquentiae Professor« beabsichtigt Weise heranzuziehen — wenngleich, eben das ist Merkmal des Politischen, sich die rhetorisch-praktischen Mittel selbstverständlich auch für diese Personen schicken -, vielmehr bildet er den »geschickten Redner« heran, einen Redner, der sich »im Politischen Leben«161 bewährt, gleich an welcher Stelle er steht. Mit der Einführung, der deutschsprachigen Oratorie in den rhetorischen Schulbetrieb, mit der Orientierung auf die Sprache der Geschäfte, der Konversation und des Alltags, er-

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Zu Weise grundlegend: Barner, Barockrhetorik, 190—220. Zu Weises Theater- und Politikkonzept siehe: Konradin Zeller, Pädagogik und Drama. Untersuchungen zur Schulcomödie Christian Weises, Tübingen 1980. Vgl. auch Hörn, Christian Weise, 49ff. Christian Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner/ das ist/ ausführliche Gedancken von der Pronuntiation und Action, Was ein getreuer Informator darbey rathen und helffen kan/ Bey Gelegenheit Gewisser Schau-Spiele allen Liebhabern zur Nachricht gründlich und deutlich entworffen, Leipzig 1693, b 1. Ebd.,a6 r . Ebd., b 2'. Vgl. dazu Barner, Barockrhetorik, 302-322. Weise, Politischer Redner, Vorrede (Geneigter Leser), unpag.

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leichtert Weise die konzeptuell vorgesehene Bildung für das politische und kluge Leben. In diesem kommt der Action eine besondere, nun ausführlicher zu erläuternde Aufgabe zu. Weise selbst beschreibt sie im Freymüthigen und hoffliehen Redner, in jenem dem Thema der Pronuntiation und Action eigens gewidmeten Text aus dem Jahre 1693. Die »Erklärung des Kupffer=Blats«, welche einem Titelkupfer beigegeben und genanntem Text vorangestellt ist, behandelt zwei Spiegel. Von einem Spiegel wird gesagt, daß er sich anbiete, die menschliche Welt zu spiegeln, und dem Betrachter die Chance gebe, sich diese, »die curiöse Welt«,162 betrachtend zu vergegenwärtigen. Dieser Spiegel — so zeigt ein Blick auf das Titelkupfer — ist Spiegel der (Stände-)Gesellschaft, Abbild des theatrum vitae humanae. Der andere Spiegel nun, der eigentlich wichtige, soll dem Selbststudium dienen. Der Betrachter steht hier nicht außerhalb, nicht jenseits des Spiegels und der Spiegelung, wie es beim >WeltSchauspieler< sich gefällt oder für ästhetisch perfekt hält. Entscheidend ist neben dem Spielleiter das Publikum, jene beobachtende Öffentlichkeit, welche letztlich über Schönheit und Angemessenheit der actio entscheidet. Der im Spiegel auf die eigene Physiognomie gerichtete Blick hat den Blick der anderen in sich aufgenommen (»man mercket an sich selbst/ was ändern wolgefällt«), und nur auf diese Weise ist der Erfolg, die Akklamation der Bemühungen, zu erreichen. Der Spiegel ist als Requisit, welches jeden Politicus auf seinem Weg zur Klugheit begleiten soll, nicht leicht durch ein effizienteres Medium der Klugheit zu ersetzen: »Will iemand klüger seyn/ so mag er ihn zerbrechen«, beschließt deshalb die Erklärung des Kupferstichs ihre Reflexion über den Spiegel. Andererseits hat er bloß Ersatzfunktion für diejenigen, welche nicht in den Genuß der theatralischen Übungen kommen oder gekommen sind. Die Komödien des Terenz und Plautus oder die von Weise selbst verfaßten, auf die Zwecke der Übungen hin abgestimmten Schulcomödien gelten als Propädeutik für das »Leben selbst«, welches als »grosse Comoedie«164 gezeichnet wird. Mit dem Bild der >menschlichen Komödie< ist jedoch keineswegs das dem 17. Jahrhundert so geläufige Gleichnis vom tbeatrum vitae humanae oder iheatrum mundi gemeint, die Vorstellung einer Welt und eines Lebens, worin jeder menschlichen Kreatur von Gott, dem obersten Spielleiter und allgegenwärtigen Beobachter, eine bestimmte, eine ständisch bestimmte Rolle zu spielen aufgegeben ist. Im Hinblick auf Weises Konzept einer theatralisierten sozialen Welt tun sich mehrere Unterschiede zum alten tbeatrum-mundi-Vzt&digma165 auf: Die göttliche Überdetermination aller menschlichen Verhältnisse ist aufgehoben, aus >irdischer< Perspektive wird das soziale Geschehen gleichsam anthropomorphisiert. Denn nicht Gott ist nunmehr der entscheidende Beobachter, es sind die Menschen selbst, die sich und andere bzw. sich in Beziehung auf andere ins Visier nehmen. Dabei rückt der Akzent von Determination auf Freiheit: Die zu spielende Rolle ist zwar möglicherweise eine aufgegebene, nämlich providentiell vorherbestimmt, doch erscheint dem politicus als faber fortunae politicae deren Um- und Neugestaltung, ja die Wahl anderer Rollen kaum als sündiges Vergehen, ganz im Gegenteil. Decorumbezogene proteische Flexibilität ist Kardinaltugend des politicus, welche sich einer allgemeinen und prinzipiellen inhaltlichen Festlegung entzieht. Die »Welt kennen lernen« bildet das Ziel aller theatralischen Übungen, und dies bedeutet gleichzeitig: sich in dieser Welt, die es kennen zu lernen gilt, einen Platz zu sichern; sich 164

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Christian Weise, JO. Barclaji, Gedichte Von der Sicilianischen Argenis, Wie selbiges den 3. Märt. 1683. Auf das Littauische Theatrum geführet worden [Vorredner], in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 1: Historische Dramen I, hg. v. John D. Lindberg, Berlin-New York 1971, 383. Vgl. oben, 73f. u. 79f.

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einen Stand, eine Position zu wählen; etwas zu erreichen, was nicht schon durch Geburt und göttliche Lenkung gegeben und gesichert ist. Arrivieren und Avancieren - ein Mittel dazu ist, wie gesehen, die gelehrte Bildung166 prägen den Horizont des politicus. In dieser Weise auf Mobilität zu setzen, muß heißen, sowohl an der Gesellschaft und ihrer Ordnung zu partizipieren, als auch als deren Störenfried aufzutreten.167 Diese Beweglichkeit, zu welcher nicht zuletzt die Comödie mit ihren rhetorisch-politischen Exerzitien ausbildet, unterscheidet den politicus entscheidend von derjenigen Person, die Luther durchs Schultheater erzogen sehen wollte. Weise selbst stellt Luthers Position dar; und ohne daß sie eigens benannt werden, stehen dem aufmerksamen Publikum die Differenzen, welche sich aus der (indirekten) Konfrontation beider Konzepte ergeben, deutlich vor Augen: In seinem Text über Pronuntiation und Action, dem Freymüthigen und hoff liehen Redner, erwähnt Weise eine Episode der Lutherischen »Tisch=Reden«, in welcher der Reformator die Frage, ob es sich für einen Christen schicke, in einer Comödie zu spielen, eindeutig bejaht. Denn zum einen, so begründet Luther diese Antwort mit einem bekannten Argument, trainiere die Comödie die lateini-

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Daß neben den interaktionsgebundenen rhetorischen Qualitäten auch spezielle gelehrte Kenntnisse notwendig werden, zeigt die Figur des aulicus doctus; siehe Emilio Bonfatti, Vir Aulicus, Vir Eruditus, in: Sebastian Neumeister/Conrad Wiedemann (Hg.), Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, Teil l, Wiesbaden 1987, 175-191, hier: 186. Zur Spannung von Hof- und Gelehrtensphäre — als Wertesystemen — im frühen 18. Jahrhundert siehe Manfred Beetz, Der anständige Gelehrte, in: ebd., 155 — 173, hier: 165f. Damit ist das Profil des Aufsteigers, des Karrieristen skizziert (vgl. dazu oben, 77f.). Schon Flemming weist darauf hin, daß Christian Weises Romane und Dramen sich insbesondere bürgerlichen Personen als Hilfsmittel der Karriere-Steuerung anbieten (Willi Flemming, Die Auffassung des Menschen im 17. Jahrhundert, 407). Die Karriere am absolutistischen Hof basiert nicht mehr auf den Prinzipien der Abstammung und des Herkommens, sondern primär auf den Fähigkeiten des ambitionierten Höflings, sich Positionen und Status zu erarbeiten. Das Abstammungsprinzip wird damit vom Prinzip der Nähe %um Thron abgelöst; der Günstling wird zur prägnanten Figur des Hofes. Siehe dazu Jürgen Freiherr von Kruedener, Die Rolle des Hofes im Absolutismus. Stuttgart 1973, 57f. Damit ist für jene aufstiegswilligen, nach Adelsprädikaten strebenden Bürgerlichen eine Situation gegeben, in welcher sie unabhängig von ständischen Vorgaben jenseits göttlicher und weltlicher Ordnungssanktionen agieren und gerade damit sozial erfolgreich sind. Aus genau dieser Perspektive erfaßt die >Privatpolitik< sozial relevantes Geschehen. — Für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts beschreibt Luhmann eine neue Interaktionssemantik, welche mit den Differenzen von ascription/achievement und Innen/Außen arbeitet. Im Gegensatz zur Hofliteratur des frühen 17. Jahrhunderts werde hier eine Semantik entwickelt, die den stratifikatorischen Standards noch entspreche und schon über sie hinausweise. Siehe Niklas Luhmann, Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. l, 72-161, hier: 92ff.

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sehe Eloquenz, zum anderen aber, und das scheint der eigentlich wichtige Grund, unterrichte sie durch die in ihr gezeigten (Kunst-)Figuren, so daß »ein jeglicher seines Amts und Standes erinnert und ermahnet wird/ was einem Knechte/ Herrn/ Jungengesellen und Alten gebühre/ wol anstehe/ und was er thun soll.«168 Was dieser Bestimmung zufolge gelernt wird, ist die genaue, exemplarisch studierte Beachtung des decorum, die sich selbstverständlich nicht auf die genannten Personen und deren Rang- und Altersdifferenzen beschränken läßt. In der Comödie zeigt sich vielmehr ein geradezu vollständiges Bild der menschlichen Verhältnisse: Es wird im Schauspiel also »für Augen gestellet/ aller Dignitäten Grad/ Aempter und Gebühr/ wie sich ein ieglicher in seinem Stande halten soll/ in euserlichem Wandel/ in einem Spiegel.«169 Fast scheint es so, als habe genau dieser Spiegel, mit dessen Hilfe jeder lernen soll, seinen Stand >einzuhaltenangeborenen< Stand und damit in die Ordnung der Gesellschaft einzurücken. Das Schauspiel führt ihn ein in den ihm ein Leben lang zukommenden Status und lehrt ihn zugleich, andere Status zu differenzieren und somit die Voraussetzung zu erwerben, sich gebührlich, schicklich, anständig, Stand und decorum entsprechend aufzuführen. Weises Comödiant, das zeigte der dem ersten ständischen Spiegel-Bild konfrontierte zweite Spiegel, ist aufgefordert, statt eines ständischen, festgelegten habitus die »Freyheit in Geberden« zu erwerben. Dieser Freiheit korrespondiert, wie Weises Klugheits- und Politikkonzept allgemein es vorsieht, die relative Freiheit, Positionen zu wählen (oder sich jedenfalls in der Freiheit zu wissen, diese wählen zu können), Rollen ergreifen und alsdann beherrschen zu lernen. Weniger zur Einhaltung eines Standes oder einer Position, sondern eher zu deren Überschreitung wird der politisch unterrichtete Zögling befähigt. Ist dies zum einen eher makrobiographisch (Rolle als Profession z. B.) zu verstehen, so sind zum anderen doch auch Entscheidungen geringerer Tragweite von der Freiheit der Rollenwahl und der Notwendigkeit, die je gewählte Rolle zu beherrschen, bestimmt. Denn jede Situation erfordert, so will es das Konzept der Klugheit mit seiner Basiskategorie der Gelegenheit, neue Orien168

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Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner, e 4. - Zu Luthers Schulcomödie im 16. Jahrhundert vgl. Böckmann, Formgeschichte der deutschen Dichtung, 294ff. Weise, ebd. Vgl. dazu Zeller, Pädagogik und Drama, 70, — Auf die Funktion des speculum docet stützt Zeller seine Erklärung des Titelkupfers zum Freymüthigen und hoff liehen Redner.

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tierung und einen neuen, ihr angepaßten Auftritt. Dabei nimmt der politicus Rollen-Partikel unterschiedlichster Art auf und kombiniert sie; die körperliche Eloquenz ist sowohl Voraussetzung als auch Effekt einer solchen Action. Generell soll Weises Zögling mit Hilfe der Bühnen-Übungen diejenigen Eigenschaften ablegen, welche als Makel seine Mobilität, sein gesellschaftliches >Fortkommen< behindern. Es sind dies vor allen anderen: »Furcht« und »Hoffart«,171 ein allzu schüchternes, blödes und ein überhebliches, uninteressiertes Verhalten. Der Blöde schämt sich, »viel Minen zu versuchen«, nutzt also die ihm gegebene Freiheit der eloqmntia carports nicht, ist unfähig, zur rechten Zeit die richtigen Zeichen zu gebrauchen, und damit politisch erfolglos. Die Hoffart, in ihrer »faulen« Variante, krankt, sind die Motive auch andere als im Fall der »Furcht«, an gleicher Stelle: Es mangelt an Fähigkeit oder Lust, »den Leib zu bewegen«; und die »active Hoffart«,172 eine eitle und arrogante Haltung, bringt es mit zugehöriger nur schlecht vorgebrachter negligence zu einer kläglichen Action, die aus undisziplinierten, inkonsistenten »Grimmassen« besteht.173 Makel dieser Art, welche sich schon einem ersten Blick zu erkennen geben, müssen kuriert werden: Der blöde Zögling etwa kann sich mit Hilfe des Theaters - comödiantisch - einüben in eine Action, welche seinem Stand ganz und gar nicht entspricht, in die eines unverschämten Bauern etwa. Die diesem abgesehene Haltung kann »einer furchtsamen Schamhafftigkeit«174 bestes Heilmittel sein. Abgesehen davon, daß sie prinzipiell dazu verhilft, Blödigkeit abzulegen, kann die (positiv verstandene) Dreistigkeit eines Bauern dem politicus auch okkasionell zur Hilfe kommen, so wie es sich ohnehin anbietet, ein Repertoire von Mienen parat zu haben. Der dem Stande und der Position allzeit konforme habitus jedenfalls ist sowohl comoedice als auch realiter fehl am Platz. Trotz aller (Gebärden-)Freiheit, welche Weises Konzeption so deutlich von derjenigen Luthers unterscheidet, folgt, und hierin sind die beiden Positionen selbstverständlich ähnlich, der Einsatz der gespeicherten und je gelegentlich abrufbaren Mienen des Weiseschen Comödianten doch einem streng zu beachtenden Gesetz: der ständischen Regulation von actio und sozialem aptum. In der Konversation und in Geschäften aller Art ist die Ständegesellschaft präsent als eine Struktur von Beziehungen, in welchen sich act politicus jeweils zu verorten hat. Denn sein Stand und seine Position sind nicht als absolute Größen ausschlaggebend für das, was gezeigt, erwiesen oder verlangt werden kann (dies gilt allein für die einsame Position der Spitze). Entscheidend ist 171

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Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner, b 5r. - Zu Blödigkeit und Comödie vgl. Stanitzek, Blödigkeit, 58 u. 230f. Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner, b 6V. Ebd.,b7. Ebd., Abschnitt XCIX, unpag.

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vielmehr, mit wem deipotitieus es zu tun hat. Höher/niedriger/gleich sind die differentiellen Kriterien, mit deren Hilfe er sich in seiner gesellschaftlichen Umwelt lokalisiert. Die >Freiheit in Geberden< ist eben dann jeweils aktuell eingeschränkt, wenn die ständische Relation eindeutig vorliegt: Denn als unschicklich müssen diejenigen auffallen, »die keinen Unterschied halten/ ob sie mit einem Fürsten oder mit einem Kammerdiener reden.«175 Die hier vorgeführte Unfähigkeit zu differenzieren und entsprechend zu agieren, mag, denkt man an Bourdieus Habitus-Theorie, insbesondere denjenigen anhaften, welche der höfischen Oberschicht nicht immer schon angehörten. Rhetorik und actioLehre könnten dann gerade den homines novi nützlich sein, jenen Personen also, welchen der frühe selbstverständliche und unbeschwerte Zugang zur legitimem höfischen Kultur nicht gegeben ist.176 Die »feinen Unterschiede«, welche die adlige Anciennität vom indecorum der Aufsteiger abheben, gilt es seitens der >Neulinge< sowohl zu realisieren als auch letztlich einzuebnen. Die Rhetorik erweist sich dabei als probates Instrument und birgt doch zugleich Risiken: Ungeschickt oder gar lächerlich erscheint nicht allein der gänzlich Unbeholfene, sondern auch derjenige, welchem die rhetorische Disziplinierung noch anzumerken ist, dessen Gebärden nach wie vor >schräg< sind, den Usancen des Umgangs nicht entsprechen.177 Zu diesen zählt, wie Weise bezeugt, die genaue Beobachtung körpersprachlicher Distinktionen: Oiepo/itici müssen sich nämlich, wenn sie »mit einem höhern« zu schaffen haben, ganz anders aufführen, als wenn sie mit »ihres gleichen« oder »geringern« konfrontiert sind. Im ersten Falle zeigt man angemessenerweise »in den Minen [...] etwas demüthiges«, ohne doch dabei— es gilt die Berücksichtigung feinster Unterschiede — als ein »Sclavisches Gemüthe« dazustehen. Im anderen Fall, geht man also mit Personen geringeren Standes um, läßt man eine Miene sehen, »daraus lauter Freundligkeit und Liebe zu erkenen ist.« Im Umgang mit »den Untern« ist »ein gravitätischer accent und eine sachte Bewegung des Leibes am alleranständigsten.«178 Die von Weise hier vorgegebene Relation von actio und aptum wird - insbesondere im Be175 176

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Ebd., XXI, unpag. Siehe dazu Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982,125ff. u. 728. Dabei ist jedoch nicht zu vergessen, so ließe sich im Anschluß an Bourdieu formulieren, daß etwa der unbeholfene >Pedant< nicht allein Name für einen realen vorfindbaren Sachverhalt ist — die >wirkliche< Ungeschicklichkeit einer Person —, sondern darüber hinaus zugleich als Instrument dient, mit dem der Adel vor dem Hintergrund einer Statuskonkurrenz von Adel und Bürgertum Abgrenzungspolitik betreibt. Der mondän-adlige Diskurs wäre dann immer schon im Recht, und das >je ne sais quoi< ebenso wie die Forderung nach dissimulatio artis wären Formeln, die (auch) in diesem Zusammenhang ihre Funktion erfüllen. Vgl. dazu Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 131. Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner, XXI, unpag.

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reich der rhetorischen Didaxe — in prägnanter Form wiederaufgelegt: Erdmann Uhses wohl-=informirter Redner179 etwa liefert die bedeutendsten oratorischen Kunst=Griffe — in äußerst konzisen, in großen Lettern gesetzten Sätzen, welche zum sofortigen Memorieren geeignet scheinen. Auf die dem Schüler vom Text vorgelegte Frage, was er als Redner »bey sich selbst beobachten« müsse, soll der Schüler folgende, vom Text dann gelieferte Antwort parat haben: Er muß zunächst ermitteln, ob der Redner »1. Höher/ als der andere 2. Niedriger/ als der andere 3. Dem ändern gleich« ist.180 Allerdings bleibt insbesondere im Hinblick auf Weise selbst festzuhalten: Wenn die Action bzw. deren Voraussetzung, die Möglichkeit der freien, uniimitierten Gebärdung, durch die je aktuellen, je vorliegenden ständischen Beziehungen auch eingeschränkt wird, so kann das selbstverständlich nicht heißen, daß einer Person ein einziger habitus zukäme. Auf die ständischen Differenzen antworten zu müssen, bedeutet, die Action dementsprechend zu differenzieren. Aus der Spannung von Situation und Gelegenheit auf der einen und ständischer Determination auf der anderen Seite ergibt sich noch eine weitere die Flexibilität von Action und habitus betreffende Konsequenz: Nicht immer sollte der politicus sich nämlich ausschließlich an der ständischen Position seines Gegenübers orientieren. Zu erwägen ist demgegenüber, ob die Person, mit der man konfrontiert ist, für die eigenen je aktuellen Belange wichtig und nützlich ist. Damit wird diese von einem Standort aus gesehen, der es erlaubt, okkasionell interessante Eigenschaften und Funktionen in den Blick zu nehmen. Nicht das ständische, sondern das politische decorumm ist in einem solchen Falle ausschlaggebend. Die Anforderungen an die Flexibilität des Akteurs sind damit jedoch erhöht. In der Sprache des Theaters, welche bei Weise, wie gesehen, mehr ist als bloße Metaphorik, ließe sich sagen, daß die Rollen jeweils neu, abgestimmt auf die ständischen und/oder politischen Hinsichten und Relationen, vergeben werden. Von hier aus ist die von Weise postulierte Notwendigkeit des >Mienen-parat-Habens< erst eigentlich zu verstehen. In bezeichnender Weise ist von den dargelegten Relationen und den damit einhergehenden Notwendigkeiten des Rollenwechsels derjenige ausgenom179

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Erdmann Uhse, [W]ohl=informirter Redner, worinnen die Oratorischen Kunst= Griffe vom kleinesten bis zum grösten, durch Kurtze Fragen und ausführliche Antwort vorgetragen werden. Die Fünffte Auflage, an vielen Orten verbessert, Leipzig 1712 ( 702). Uhse, [W]ohl=informirter Redner, 301. — Ist der Zuhörer vornehmer, so muß der Redner ihm »fein nach dem Maule reden/ und das vorbringen/ was er am liebsten höret« (ebd.). Vgl. Ludwig Fischer, Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland, Tübingen 1968, 179f.; und ausführlich: Sinemus, Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat, 100-112; 116-121.

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men, dem es sozusagen professionell zukommt, >derselbe< zu bleiben, Identität in Reden und Action zu erweisen: der Geistliche. Die politischen Gelegenheiten und die ständischen Relationen dürfen für ihn als Künder einer anderen, christlichen Welt keine Rolle spielen. Als Diener Christi der »weltlichen Eitelkeit« und ihren Konventionen respektive Rangunterschieden abhold, stellt der Geistliche eine (für ständische Verhältnisse außergewöhnliche) Figur dar, die sich unterschiedslos »allen Menschen«182 in gleicher Weise zuwendet. Damit ist ein Verhalten benannt, welches der politicus, transferiert auf seine Verhältnisse, als indecorum zu bezeichnen hätte. Vorweggenommen ist jedoch mit der Figur des Geistlichen der >Mensch< des 18. Jahrhunderts, der überall seinesgleichen, nicht aber gesellschaftliche Distinktionen wahrnehmen möchte. Der in der Nachfolge Christi stehende Kleriker bleibt, bezogen auf die je unterschiedlichen Situationen, sei es am Altar oder am Krankenbett, dieselbe verläßliche Person, die mit »liebreichen und gravitätischen Minen« agiert. Er verfährt dabei wie der gewissenhafte Verteidiger, den Cicero beschrieben hatte: bemüht, den Eindruck der Integrität sicherzustellen. Bei Weise heißt es also: »Ein Geistlicher/ der auff der Cantzel/ im Beichtstuel/ bey dem Altare/ ja wol auch bey dem Krancken=Bette zu reden hat/ dem stehen die andächtigen/ liebreichen und gravitätischen Minen wol an«. Die Aktion hat der Grammatik einer Sprache des Herzens Genüge zu tun: »Denn er muß mit der andächtigen Mine weisen/ daß ihm die Rede von Hertzen gehet.«183 Mit der Aufforderung, die Rede als eine solche zu gestalten, welche »von Hertzen gehet«, ist ein Kürzel gegeben, das für eine schon benannte rhetorische Technik steht: die des Si vis me flere. Weise selbst überliefert an anderer Stelle das hier bloß apostrophierte Diktum des Horaz in folgenden Worten: »was nicht von Hertzen kömmt/ das geht auch nicht wieder zu Hertzen.«184 Wie der Text jenes Verses, von welchem Weise hier in seinen Curieusen Gedancken von deutschen Versen handelt, ist auch das, was der Geistliche präsentiert, ein hervorzubringender, unter Konsistenzanforderungen gestellter Zusammenhang von Zeichen. Sowohl der poetische Text als auch jener, den die eloquentia corporis erstellt — beide setzen nicht eine Herzensstimmung voraus, sondern sind als deren eigentlicher Anreiz zu betrachten. Indem der Geistliche nun in dieser rhetorischen Weise von Herzen spricht, scheint er, wie der Ver182

Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner, XX, unpag.

183

Ebd.

184

Christian Weise, Curieuse Gedancken Von Deutschen Versen/ Welcher gestalt Ein Studierender in dem galantesten Theile der Beredsamkeit was anständiges und practicables finden sol/ damit er Gute Verse vor sich erkennen/ selbige leicht und geschickt nachmachen endlich eine kluge Maße darinn halten kan: wie bißhero Die vornehmsten Leute gethan haben/ welche/ von der klugen Welt/ nicht als Poeten/ sondern als polite Redner sind aestimirt worden, Leipzig 1692 (11691), 21. - Vgl. dazu Stenzel, »Si vis me flere ...«, 655.

Dissimulatio art is, Simulatio und Dissimulatio im 16. und 17. Jahrhundert

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teidiger Ciceros, von der jeweiligen Empfindung selbst eingenommen. Dieser Eindruck wird bestätigt, wenn Zuschauer und Beobachter die entsprechenden Empfindungen attestieren und den Eigenschaften und Dispositionen des Akteurs zurechnen. Dieser hat selbst dafür zu sorgen, daß die artifiziellen Spuren der Empfindungspräsentation und entsprechend rhetorische Vorlagen nicht erkennbar werden. Ein Redner, so lautet Weises Umschreibung des dissimulafio-artis-Topos, sollte als »Dollmetscher seines Hertzens« und nicht als »ein Papagey von fremden oder ausstudirten Worten«185 erscheinen. Ob Worte oder Gebärden: Die Äußerungen des Redners dürfen mit den memorierten Parolen des Papageis, denen die Mechanik und Mühe des Lernens noch beiklingt, nicht verwechselt werden. Mit negligence, unter Vermeidung von affectation also - hier rückt Weise in jene von Castiglione herrührende Tradition ein - ist der Gesamthabitus einzurichten: »Und gewiß/ wer sich allhier auch so moderiren kan/ daß man in solchen Geberden nichts gezwungenes und affectuirtes/ sondern eine listige negligence gleich als was Angebohrnes und Natürliches zu verwundern hat/ der ist in diesem Handwercke der beste Meister.«186 Natur steht hier als Metapher für »listige negligence«, für eine List, welche die Konnotation ästhetischer Raffinesse mit sich führt. Daß aber mit dem Phänomen von Kunst und Artifizialität immer auch die Angst vor Betrug sich einstellt, rückt das Problem der List in ein anderes Licht. Das >GezwungeneOhngefehr< (Castiglione) vermissen läßt, ist jederzeit »ein unbetrügliches Merckmahl der Falschheit«,187 bemerkt Weise in Fortschreibung der an Aristoteles gezeigten Aporien. Was für die Verskunst selbstverständliche und ungefährliche Voraussetzung ist (daß sie nämlich den Gelegenheiten passende »Haltung[en]«188 zuordnet), kann auf dem Feld der Politik als mindestens genauso selbstverständlich, nicht aber als ebenso ungefährlich gesehen werden. Erübrigt es sich nämlich im Bereich der Fiktion, nach der Verfassung oder der eigentlichen Intention des gattungs- und gelegenheitsgebundenen Schriftstellers zu fragen — und eben dies ist ein Merkmal, welches die Perzeption des Schriftstellers von der des modernen Dichters unterscheidet189 —, so wird auf dem Terrain der Politik die >wahre Absicht, welche selbstverständlich kaum anders als in statu possibili (re-)konstruiert werden kann, zum zentralen Gegenstand politisch ambitionierter Aufmerksamkeit.

185 186 187 188

189

Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner, XLV, unpag. Ebd.,c6vf. Ebd., XXI, unpag. Wolfgang Kayser, Der rhetorische Grundzug von Harsdörffers Zeit und die gattungsgebundene Haltung, in: Richard Alewyn (Hg.), Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche, Köln-Berlin 1964, 324-335. Ebd., 328.

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Selbsterhaltung als Mimikry

Sich von der Kunst des Zeigens und Verbergen«, von der Raffinesse in Simulation und Dissimulation einnehmen zu lassen, soll nicht heißen, den Betrugsverdacht oder die politische Aufmerksamkeit allgemein außer acht zu lassen und sich damit den politischen Strategien des Gegenübers >einfältig< auszuliefern. Oetpo/itifus lernt, so zeigt das folgende Exempel Weises, sein Urteil zu differenzieren: »Nach der Zeit bin ich auch so ausgehärtet worden/ daß ich mich in der schönsten action sehr wenig bewegen lasse. Wenn iemand redet/ so verwundere ich mich über die galanten affecten/ und wenn iemand ein penetrantes argument mit schöner Manier anzubringen weiß/ so gefällt mir der annehmliche Betrug/ und die künstliche persuasion über die massen wol. Immittelst sehe ich es an/ als ein Ding/ das ich admiriren/ nicht dem ich folgen und einfältig gehorchen soll.«190

Der politicus kann sich betrügen lassen (eben weil er nicht zu betrügen ist) und kann darüber hinaus den Betrug als ein ästhetisch-artifizielles Ereignis genießen. Mit dieser politischen Antwort reagiert Weise auf die bei Castiglione im Dialog am Hof zu Urbino aufgeworfene Frage nach der Legitimität einer Kunst, die sich zwischen ästhetisch (noch) zu goutierender List auf der einen und ethisch (schon) zu monierendem Betrug auf der anderen Seite bewegt. Für Weise erübrigt sich, jedenfalls in diesem Zusammenhang, eine solche ethisch dimensionierte Diskussion, da in politischen Verhältnissen mit der Aufmerksameit und Raffinesse eines jeden gerechnet werden darf.

190

Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner, XCIII, unpag.

III. Listige Zeichen und probabilistische Interpretationen

1. Verstellte Worte, verstellte Gebärden: Versuche des 17. Jahrhunderts, das Verstehen zu verstehen Die Affirmation politischer Verhältnisse, welche sich in Christian Weises Texten unbeschwert, spielerisch, ja geradezu euphorisch ausnimmt, scheint anderen Autoren der >politischen< Epoche, folgt man zunächst ihren Selbstbeschreibungen, Probleme zu bereiten. Problematisch erscheint ihnen der politische Zustand der eigenen Zeit, wenn sie ihn mit jenen goldenen Zeiten der Menschheitsgeschichte vergleichen, für welche Wahrheit, Kunstlosigkeit und Naivität, bar jeder reflexiv-sentimentalischen Haltung, als vorherrschend angenommen werden. 1649, zwei Jahre nach Erscheinen des Gracianschen Handorakeis also, gibt die Kurtze Doch grundrichtige Anleitung %ur Heftigkeit in einer Art Vorbemerkung einen Kommentar zu einer so beschriebenen, naiven Vergangenheit: Die Anleitung verschweigt dabei nicht, daß sie selbst in der zurückliegenden goldenen Zeit funktionslos gewesen wäre: »Wann die Zeit so vielen änderungen nicht unterworfen wäre/ und aus einer güldenen in eine eiserne verwandelt worden [...]/ so dürfte man dieser meiner Anleitung und derselben Aus=übung gantz nicht.«1 In der apostrophierten goldenen Zeit sind nämlich, wie der Text fortfährt, sowohl »Satzung« als auch »Lehre«,2 mithin alles, was der vorliegende Text selbst anzubieten hat, schlichtweg überflüssig. Die jetzige, die eiserne Zeit3 trägt eine andere, eine politische Signatur.

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2

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[Hans Adolf von Alewein], Kurtze Doch grundrichtige Anleitung zur Heiligkeit: Darinnen gewiesen würd/ wie man so Wohl mit Fürsten und Herren/ als auch gemeinen Leuten umgehen/ und sich im Frauen=zimmer und anderen Gesellschafften/ im Reden und Gebaehrden/ die einen Höfling geziemen/ verhalten sol. verabfasset und Herrn Filip von Zesen übereignet/ durch den Schmäkkenden/ der Höchstlöbl. Deutschgesinneten Genossenschaft Mitglied, Frankfurht am Mayn 1649,1. »Ja man würde keiner Kunst/ keiner Satzung und Lehre nöthig haben; indem alles nach eingäbung der grossen Zeugemutter fortgehen würde« (Alewein, Kurtze Doch grundrichtige Anleitung, 2). Den Umschlag vom Optimismus der Renaissance zur gegen Ende des 16. Jahrhunderts sich etablierenden Dekadenzdiagnose skizziert (mit Angabe der einschlägigen

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Versuche des 17. Jahrhunderts, das Verstehen %u verstehen

Die Anleitung lebt, gleichsam parasitär, von einer Situation, welcher sie sich doch, gerade weil sie den Zustand der Degeneration so genau auszuleuchten versteht, ethisch überlegen weiß. Wenn auch die Menschen jener goldenen Frühzeit ihre Epoche nicht begreifen — gerade das ist Merkmal ihrer Simplizität — so ist doch jetzt, in der politischen Zeit, die Differenz überdeutlich. Die geschichtsphilosophische Abbreviatur, welche der Verfasser hier anbietet, stützt sich auf die alte Lehre der vier Weltalter oder der - von Hesiod sich herleitenden - Folge der fünf Geschlechter, überspringt dabei jedoch jene Epochen des Übergangs, welche die goldene Zeit der Unschuld von der eisernen Gegenwart trennen. Die so gewonnene Antithetik ist literarisch bereits vorformuliert: Wie der aefas aurea Ovids mangelt es hier nämlich, anders als der Schilderung des goldenen Zeitalters bei Hesiod, an positiven, fabulierenden Elementen. Die Jetztzeit ist auch sprachlich nichts anderes als die Negation der Urzeit und deren ethischer Attribute: fugere pudor verumque ßdesque* In Anlehnung an diese prominente literarische Vorlage formuliert Alewein, der Verfasser besagter Anleitung, seine Gegenwartsdiagnose: Wahrheit und Eindeutigkeit sind seit langem verabschiedet. Gebärden, welche »wider den Lauf der Angebohrenheit« diszipliniert werden, können so »zwei=deutig«5 und falsch sein wie Worte, die, nach Belieben gesetzt, nur eines umgehen wollen: eine deutliche und eindeutige Beziehung auf die Intention ihres Benutzers. Der »listige verschalkte Sin« ist nicht der Sinn des Scherzes oder Witzes, des zurückgenommenen und letztlich konsequenzlosen fiktionalen Spiels mit Wahrheit und Bedeutung.6 List in politisch-strategischer Bedeutung - und das ist die Hinsicht des Textes — ist die Fähigkeit, Wahrheit und wahre Absichten zu verstellen. Metis, Tochter des Okeanus und damit wie Proteus eine

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Literatur) Wilhelm Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters, Tübingen 1982,17—31. — Zum Bild der Zeitalter in Spanien vgl. Fritz Schalk, Das goldene Zeitalter als Epoche, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 114 (1963), 85-98. Ovid, Metamorphosen, hg. u. übersetzt von Hermann Breitenbach, Zürich 1987,1, 129, S. 12. — Zum aetas-aurea-Motiv im 17. Jahrhundert vgl. Klaus Garber, Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts, Köln-Wien 1974, 214-224. Alewein, Kurtze Doch grundrichtige Anleitung, 2. — Zur Korrespondenz von List und multipler, wandelbarer Wirklichkeit, der feste — soziale — Normen und Perspektiven fehlen, vgl. Schröder, Logos und List, 236. Zum Zusammenhang von >listigem< Text, >listiger< Ästhetik, Politik und Ökonomie in der frühen Neuzeit siehe Schröder, Logos und List, 237—240; zum Unterschied von Ästhetik und Politik in dieser Hinsicht ebd., 122. — Sprache wird in diesem Kontext als energeia, nicht als mimesis verstanden (ebd., 240); zum Verhältnis von rationalistischer und manieristischer Sprachauffassung siehe ebd., 24ff. - Die Logique de Port-Royal beschreibt Sprache als Medium gedanklicher Mitteilungen, Sprache leistet transparente Repräsentation des Gedankens (ebd., 25).

Listige Zeichen und probabilistische Interpretationen

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Meeresgottheit, ist Göttin der Klugheit und der (Arg-)List zugleich.7 Ihre Verwandlungsfähigkeit entzieht sie selbst der Gefahr und täuscht andere über ihre wahre und eigentliche Identität. Die von Alewein formulierte Kritik ist zum einen Kritik der Sprache, der Wort- wie der Gebärdensprache, und trägt zum anderen deutliche ethische Züge. Die Sprache erweist sich als gefährliches Fluidum, welches sich den unterschiedlichsten Interessen und Taktiken dienstbar machen läßt. Das proteische Wesen der persona entspricht dem Wesen der Sprache.8 Wie die Worte mindestens zweideutig sind, so sind die Metamorphosen der Personen potentiell zahllos, und es ist kaum zu identifizieren, in welcher der Formen und Gestalten die Person >beheimatet< ist. Dies gilt für alle Menschen und ist Zeichen ihrer Erbsündigkeit. Der Sündenfall ist Ursache, daß mit der vordem Gott allein vorbehaltenen Fähigkeit der Erkenntnis und Reflexion auch die Eigenschaft der arglistigen Klugheit in die Welt gesetzt worden ist: »Weil aber nunmehr alle Menschen den Adams=apfel gekostet haben«, sind alle »so klug/ oder vielmehr so arg=listig«9 geworden, daß daraus die vorliegenden politischen Verhältnisse haben erwachsen können. Die Kombination von Goldenem Zeitalter und christlichem Sündenfall, der Einbruch des Ereignisses der Sünde in die Situation der Unschuld, macht deutlich, daß die Rückkehr in das Paradies eigentlich humaner und doch >übermenschlicher< Verhältnisse ver7

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Zum Verhältnis von metis (List) und Sophistik als deren Reflexion siehe Schröder, Logos und List, 236ff. — Wie Schröder herausstellt, wird vor diesem Hintergrund eine normfreie Analyse und Theorie der Kommunikation möglich, die in der neuzeitlichen Moralistik ebenso zur Anwendung gelangt wie in der (manieristischen) Ästhetik (236f.). Alewein vertritt damit als Mitglied der >Deutschgesinneten Gesellschaft< eine Kritikfigur, die sich bei den sogenannten >Altdeutschen Opponenten häufig findet. Mit einer rigiden Absage an den höfisch-mondänen Konversations- und Interaktionsstil verbindet sich eine — auch und gerade von Adligen vorgetragene — Kritik der Sprache, insbesondere aber der tropischen Sprechweisen, die, nach Meinung der Opponenten, einer Dissoziation von Gesagtem und Gemeintem, von Simulation und Wahrheit Vorschub leisten. Statt dessen soll die Sprache so einfach und simpel wie die >Gesinnung< offenherzig, aufrichtig und unverstellt (sprich: teutsch) sein. In Anknüpfung an die humanistische Sprachauffassung und die protestantischen Versuche der Sprach- und Stilkritik soll das >ehrliche< Wort resümiert werden — dies gegen die mit Hilfe der sophistischen und politisch genutzten Rhetorik etablierten >Entund Verstellungen^ — Windfuhr unterscheidet die älteren Opponenten (wie Titz, Tscherning, Meyfart), die an die humanistische Maßhaltetheorie anknüpfen, von der Altdeutschen Opposition (Moscherosch, Schupp, Rompier von Löwenhalt u.a.). Vgl. Manfred Windfuhr, Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1966, 344ff. u. 351ff. — In gewisser (noch zu erörternder) Weise nimmt die pietistische ebenso wie die bürgerliche-moralische Sprachkritik des 18. Jahrhunderts Elemente jener altdeutschem Argumentation auf. Alewein, Kurtze Doch grundrichtige Anleitung, 3

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Versuche des 17, Jahrhunderts, das Verstehen ^u verstehen

sperrt ist. Könnte man sich zum goldenen Zeitalter und dessen moralischer Verfassung immerhin affirmativ verhalten, sie als regulative Idee verwenden und damit eine — wie immer pauschale — ethische Position gegen die politischen Verhältnisse zur Geltung bringen, so verbietet sich dies angesichts jenes sündigen Ereignisses, welches die Tore für immer verschloß. Ohne nun auf eine (heilsgeschichtliche) Erlösung oder auf eine Wiederkehr des glücklichen Zustandes zu warten, wählt der politische Mensch eine andere Lösung: Er affirmiert, wenn auch halbherzig, die eiserne Tatsächlichkeit seiner Verhältnisse und sucht in ihnen nicht etwa den Ort der Distanz, sondern den der Teilhabe: »Dann einer/ der unter den Fuchsen und Wölfen wohnet/ mus auch mit ihnen heulen.«10 Hätte der Autor Alewein sich hier auf die Bibel (Matthäus 10,16) bezogen, auf jene Passage nämlich, in welcher die Jünger Christi zu furchtlosem Bekenntnis ermuntert werden, so hätte er anders entscheiden müssen: Den Jüngern wird dort bekanntlich aufgetragen, wie Schafe unter den Wölfen zu leben. Sind sie so zwar schlechter gerüstet, so geben sie die Hoffnung auf Belehrung (der Wölfe) doch nicht auf. Diese Position wird freilich erst die Aufklärung beziehen, um den ausgezeichneten und doch stets gefährdeten Status von Vernunft und Tugend zu beschreiben. Deren Realisierung aber wird in utopischen Bildern koloriert werden, welche dann neue Energien freisetzen sollen. Die Energie des politischen Menschen gilt der Gegenseite der Utopie: Mit der Unterscheidung von innerer und äußerer Tugend,11 wie Weise sie etwa in seiner Tugend=L·ehre trifft, ist als weitere zugleich die von »Status idealis und possibilis« gegeben. Ideale Zustände mag man sich im Kopf ersinnen und darin seine Vortrefflichkeit, seine innere Tugend, erweisen — in praxi zählt jedoch nicht, »was wir wünschen sollen«, sondern: »was wir hoffen können«.12 Wer sich mit den so beschaffenen Verhältnissen nicht zu arrangieren 10

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Ebd. — Damit ist die Position konsequenter Opposition zugunsten einer taktisch verstandenen Höfligkeit durchbrochen. Schuld daran sind allein die Verhältnisse; sie verführen zur Verführung. Diese Unterscheidung entspricht einer sich von Seneca bzw. der (vom Tacitismus geprägten) politischen Seneca-Rezeption herleitenden Differenz von innerer Wahrhaftigkeit und äußerlicher Akkomodation. Die >doppelte Moral< des stoisch Lebensklugen disponiert ihn zu politischem Handeln. Die Verschränkung von Neustoizismus, Tacitismus und Machiavellismus ermöglicht den (kaum als geglückt zu bezeichnenden) Versuch, moralische Legitimationen für norm- und moralfreie politische Entscheidungen und Operationen zu finden. Vgl. dazu Karl Alfred Blüher, Seneca in Spanien. Untersuchungen zur Geschichte der Seneca-Rezeption in Spanien vom 13. bis ins 17. Jahrhundert, München 1969, 413—423. — Zum Verhältnis von christlicher Moral und politischer Seneca-Auslegung siehe ebd., 387. Ist man in dieser Weise an Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit orientiert, so hält man sich an »die gemeinen und täglichen Exempel aus der Experientz«: Christian Weise, Ausführliche Fragen über die Tugend=Lehre/ Welchergestalt ein Studirender

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weiß, muß die Einsamkeit wählen, sei es die des »Einsidelerfs]« oder die des einsam denkenden Utopisten: »Dem das nicht anstehet/ rathe ich ein Einsideler zu werden/ und aller Gesellschafften sich zu enthalten/ oder nach seinem Kopffe eine neue Welt zu erschaffen.«13 Die aufklärerische Position der teilhabenden Distanz ist dem politicus einzig unter der Bedingung der reservatio mentalis möglich. Die ja auch für Weise entscheidende Präferenz des Möglichen, des Machbaren und des Wahrscheinlichen bringt Alewein als Vertreter der Höfligkeit zu einer Position politischer Konformität, in welcher mit den Wölfen geheult, nicht aber — mit dem Überzeugungswillen der Schafe - gegen sie vorgegangen wird. In diesem Punkt unterscheidet sich die Höflichkeit Aleweins nicht von der bonnetete, welche 1632 der französische Autor du Böse beschreibt. Sein Text verwendet die gleiche Konstruktion: Eine »premiere simplicite«, eine idealeinfältige Zeit ist, nun abgelöst durch ein »siecle d'artifice«, kaum mehr als ein entrücktes Objekt melancholischer Erinnerung. Wie für Alewein so ist auch für du Böse eine antithetische Begrifflichkeit — prudence /naivete — das Muster des Vergleichs.14 Der siecle d'artifice, das jetzige Zeitalter, zugleich artifiziell und (arg-)listig, läßt sich — hierin liegt eine weitere Parallele zu Alewein vornehmlich daran erkennen, daß Worte und Gedanken zweierlei sind. Erfunden wurden die Worte in jenem Zustand der Unschuld, so läßt sich nun extrapolieren: »pour exprimer les pensees«,15 wie du Böse angibt. Im gegenwärtigen Zustand der List aber dienen die »parolles« ausschließlich dazu, die Gedanken zu verbergen, zu dissimulieren (»a les cacher«), ohne daß dies unangenehm auffällt (»de bonne grace«). Die »parolles« - selbst ein vieldeutiges und mehrgeschlechtliches Wort, welches sowohl die Worte als auch nur leere Worte, die Reden und die Redekünste, die Versprechen und die bloßen Phrasen bezeichnen kann -, sie verstellen den wahren Sachverhalt. Was in sie gelegt werden sollte, läßt sich nicht wieder entnehmen: die Worte sind leer, weil sie verstellt

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nach Anleitung der Ethica sich selbst erkennen/ Die wahre Glückseeligkeit in der Tugend suchen/ Auch solchen Zweck durch unbetrügliche Mittel erlangen/ Hiernächst aber mit sonderbahrem Nutzen Den Grund zur Politisch= und gelehrten Beredtsamkeit legen soll [...], Leipzig 1696,148. Bessel, Neuer Politischer Glücks=Schmied, 21. — Bei Weise heißt es: »Denn wer sich den Statum idealem so hartnäckig einbilden/ und wie man zu reden pflegt/ eine Platonische Stadt/ die sich in Gedancken aufbauen läßt/ auch in der That selbst erfodern will/ der wird nichts als Confusion anrichten« (Weise, Ausführliche Fragen über die Tugend=Lehre, 149). Jacques du Böse, L'Honneste Femme, Seconde Edition, Revue, corrigee & augmentee par l'Auteur, Paris 1633 (11632), 48. Zur weiblichen honnetete, die in der Regel auf chastete bedeutungsverengt wird, siehe Oskar Roth, Die Gesellschaft der Honnetes Gens, 26. Auf diese geschlechtsspezifische Variante kommt es allerdings im hier skizzierten Zusammenhang nicht an. Ebd.,48f.

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sind, und verstellt, weil sie leer sind. Alle Dinge bedürfen der Verkleidung; »masque« und »voile« geben den Blick aufs Innere nicht frei. Und selbst die »innocence«, jenes unzeitgemäße Institut der goldenen Urzeit, ist unter den Bedingungen allgemeiner List davon nicht auszunehmen.16 Stärker als bei Alewein wird bei du Böse die Verteidigungshaltung hervorgehoben, in welche die Unschuld sich gedrängt sieht. Dennoch: die Strategien, mit deren Hilfe sie sich rettet, sind die der Metis. Der Gebrauch von List soll freilich am Status der Unschuld nichts ändern. Zeigte diese nämlich ihr wahres Gesicht, wäre sie somit Unschuld im eigentlichen Sinn, so wäre dies, heißt es, einer Situation vergleichbar, in der sie nackt unter bewaffneten Feinden sich bewegte.17 Der beklagte Zustand, in dem Worte und Gespräche, Sprache und Schrift die Gedanken nicht wahrheitsgetreu abbilden, sondern diese (ver-)stellen, wiederholt sich somit fatalerweise auch im Falle der defensiven Unschuld. Konsequenz des von du Böse thematisierten Sachverhalts ist, daß auch sein eigener Text sich den Einwänden jener skeptischen Hermeneutik zu stellen hat. An diesem Punkt sehen sich Lektüre und Interaktion den gleichen Problemen konfrontiert. a) Zur Differenz von Innen und Außen. Die Unerreichbarkeit des Bewußtseins Das >verstellte< Verhältnis, in welchem Gedanken zu Zeichen, Wörtern und Texten stehen können, impliziert, daß zwischen dem, was gedacht oder gefühlt wird, und dem, was sich anderen, sei es in Worten oder Gebärden zeigt, keine Affinität, kein notwendiger und eindeutiger Zusammenhang besteht, der es zuließe, von den äußeren Zeichen sicher auf das Innere zu schließen.18 Die von Alewein herausgestellte Zweideutigkeit erscheint zwar einerseits harmlos angesichts des denkmöglichen Spektrums von Bedeutungsvarianten,

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Ebd., 49.

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»[TJous nuds entre des ennemys armez« (ebd.). >Zeichen< wird in diesem Zusammenhang nicht im modernen (Saussureschen) Sinne, sondern zunächst unspezifischer im scholastischen Sinn des aliquid statpro aliquo verwendet. Das >politische< Zeichenverständnis, um das es an dieser Stelle geht, entspricht dem Begriff der endeiktikoi, der Zeichen also, die einen beobachtbaren Sachverhalt anzeigen, ohne daß Aufschluß über diejenige Instanz, für welche die Zeichen stehen, zu gewinnen ist. In diesem Sinne bleibt auch das >Innen< unzugänglich; die Leib-Seele-Beziehung wird in stoischer Tradition auf diese Weise beschrieben. Siehe dazu: Art. »Sign«, in: Encyclopedic Dictionary of Semiotics, Bd. 2, Berlin—New York — Amsterdam 1986, 936—951. — Aristoteles unterscheidet bereits die notwendigen Zeichen (tekmeria) von denjenigen Zeichen, welche nicht notwendige, sondern bloß wahrscheinliche Beziehungen anzeigen. Allein die notwendigen Zeichen lassen sich syllogistisch (im modus tollens oder modusponens) ausdrücken. Siehe ebd., 939f.

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zeugt jedoch andererseits von >listiger< Problemsensibilität. Daß es im commerce, im kommunikativen Austausch von Zeichen, keine Redlichkeit (probite) gibt, hat in der nicht hintergehbaren Differenz von Innen und Außen sein transzendentales Fundament. Nicht Simulation und Dissimulation sind letztlich dafür verantwortlich, daß die wahren Motive und die eigentlichen Gedanken sich nicht präsentieren und das Gegenüber ins Dunkle gehüllt bleibt. Die reservatio mentalis von Stellung und Verstellung nutzt vielmehr eine Einrichtung der Natur, welche allenfalls vor dem Sündenfall anders ausgesehen haben mag. Die Natur selbst hat »nicht ohne Ursache« das Herz, den Ort der Gedanken und Gefühle, an »einen so verborgenen Ort gesetzt und verschlossen«,19 schreibt Bessel in einem Zusammenhang, in dem davor gewarnt wird, sich zu offenbaren, da schon die zitierte Natur sich einem solchen Ansinnen entgegengestellt habe. Das Herz ist weder sichtbar, noch artikuliert es sich von selbst. Der menschlichen Freiheit kommt die Qual der klugen und geschickten Wahl zu: zu reden oder zu schweigen, zu offenbaren oder zu simulieren. Da niemand Einsicht in jene dunkle und verschlossene Kammer des Herzens nehmen kann, stellen allein die Zeichen der Kommunikation, die Worte und Gebärden, das — politisch kontrollierte und disziplinierte - Material, welches der Beobachtung verfügbar ist. Das gilt für alle Interaktions- und Kommunikationsbeziehungen - mit einer Ausnahme: »mit GOtt lasset sichs übel vermaßquerirt oder vermummet handeln«,20 weil nichts sich seinem Blick entzieht, selbstverständlich auch nicht das dem Verkehr mit Menschen unzugängliche Herz. Da das göttliche Auge »in das Innerste siehet/ und sich durch die Larven nicht verführen oder betriegen lasset«, gereicht dem politicus hier jeder Verstellungsversuch zum Nachteil. Was unter Menschen klug, ist im Kontakt zu Gott unklug: »In Glaubens=Sachen aber muß man die Simulation und Dissimulation gantz bey seit setzen«,21 rät Bessel seinem faber fortunae. Ohnehin vertraut dieser seiner eigenmächtigen >Glücksschmiede< mehr als der göttlichprovidentiellen Fügung. Die Beziehung zu Gott ist, obgleich sie den Sonderstatus der (einseitigen) Transparenz für sich beanspruchen kann, dennoch nicht entscheidend — jedenfalls nicht für den politicus, nicht für den WeltMann. Denn die Tatsache, daß Gott alles sieht, er somit auch Stellung und Verstellung unter den Menschen als Verfehlung registriert, hebt Bessel an dieser Stelle keineswegs hervor — Politik und Religion bilden zwei Bereiche, für die je Unterschiedliches gilt. Die Marginalisierung der Religion ist dabei jedoch unübersehbar. Es gibt keine Transparenz in der Politik; sie rechnet mit der Opazität ihrer Agenten. Stellung und Verstellung sind darauf bezogene, Opazität kalkulie19 20 21

Bessel, Neuer politischer Glücks=Schmied, 358. Ebd., 370. Ebd.

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rende Operationen. »Ein Politicus ist ein mißtrauisch Ens«,22 heißt es deshalb noch in Heumanns politischer Klugheitslehre von 1724. Auf das Mißtrauen allein bleibt aber die Haltung des politicus nicht beschränkt. Mit dem realistischen Wissen, daß Inneres und dessen Präsentation nicht deckungsgleich sind, daß — wie ein zeitgenössisches Diktum formuliert — Herz und Zunge23 nicht aneinander angeschlossen sind, läßt sich zwar nicht auf Transparenz hoffen, wohl aber darauf, daß sich Motive und Absichten, die Bewegungen jenes verschlossenen Herzens, probabilistisch erfassen lassen. »Politische Wahrscheinlichkeit, Lat. Probabilitas Politica« heißt das entsprechende Lemma eines Artikels in Zedlers Universal Lexicon, welcher diesen Sachverhalt der wahrscheinlichen Zurechnung von »Handlungen« auf »Absicht und Gemüths= Beschaffenheit« beschreibt.24 Bei der Zurechnung ist der Status des Wahrscheinlichen nie außer acht zu lassen; von Wahrscheinlichkeit auf Notwendigkeit und Wahrheit umzuschalten, hemmte die Flexibilität der politischen Beobachtung. Die Politik hat ihre eigene bündige Erkenntniskritik, derzufolge die Wahrheit - mag man deren Existenz auch unterstellen - in menschlichen Dingen nicht zu erfassen ist. Menschliche Aktionen bieten ohne daß damit von vornherein böse Absichten, etwa der Verstellung, verbunden sein müssen — mehrere Ansichten, eine Erkenntnis, welche das Phänomen der Interpretation in den Blick bekommt. Du Böse, der, wie gesehen, konstatierte, daß die »Parolles« in nur uneindeutiger Weise referieren, gibt folgende Skizze der multiplen, vielgesichtigen Wirklichkeit, welche stets nach Auslegung verlangt: »Et d'ailleurs, quand il n'y auroit ny malice ny ennemis au monde, il n'y a gueres de choses si asseurees cm si veritables ä qui on ne puisse donner plusieurs visages: ä bien examiner toutes nos actions, il semble qu'elles soient presque toutes sujettes ä l'interpretation & au Probleme.«25 22 23

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Heumann, Der Politische Philosophus, 15. So heißt es in Gracians Cr//«»»-Roman: »Ist das nach eurer Meynung nicht eine schöne Regul vor unsere Zeiten/ in welchen die Zunge von dem Hertzen gantz abgesondert ist?« ([Caspar Gottschling], Des Berühmten Spanischen Jesuiten Balthasaris Graciani Criticon über die Allgemeinen Laster des Menschens/ Welche demselben in der Jugend/ in dem männlichen und hohen Alter ankleben/ Desgleichen Über die Art und Weise/ wie dieselben durch den rechten gebrauch der Vernunfft vermieden werden können; Welches aus der Frantzösischen Sprache in die Teutsche übersetzet worden ist, 3 Tie., 1. Tl., Franckfurt u. Leipzig 1710, 230f.). - Im 18. Jahrhundert wird das Diktum von Herz und Zunge unter dem Vorzeichen des sich etablierenden Ausdrucksbegriffs einer charakteristischen Neuinterpretation unterworfen: »Die Zunge des Menschen hat eine ganz besondere Verknüpfung mit der Seele desselben«, heißt es dann etwa in den Vernünftigen Tadlerinnen vom 29. März 1726 (Die Vernünftigen Tadlerinnen. Der andere Theil, Dritte Auflage, Hamburg 1748, 109). Zedler, Grosses Vollständiges Universal Lexicon, Bd. 28,1741, Sp. 1530f. Du Böse, L'Honneste Femme, 144f.

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Als Beispiel für die postulierte Auslegungsbedürftigkeit menschlicher Aktionen dient das Geben eines Almosens, welches »en public« vonstatten geht: »Qui peut iuger certainement hors le Christianisme, d'un homme qui donne l'aumosne en public, si c'est pour le bon exemple ou pour la vanite?«26 Die Tatsache, daß jemand öffentlich Almosen gibt, zeigt, doch auch das ist bloß wahrscheinlich, daß er Beobachter wünscht. Ob er diesen aber — um wenigstens die krassesten der vorstellbaren Möglichkeiten zu nennen — mit gutem Beispiel vorangehen möchte oder aus dem Motiv eitler Eigenliebe agiert, ist nicht zu entscheiden. Und wenn eine Entscheidung gefallen ist, so mag sie mehr oder weniger plausibel erscheinen, die Gewißheit des Urteils jedoch fehlt - »hors le Christianisme« jedenfalls, wie der Text bemerkt. Jenseits des durch christlich-religiöse Beobachtungskriterien abgesicherten Standpunkts stellt sich das Problem >richtiger< Auslegung in krasser Weise. Was für den »Ausleger der Natur«27 gilt, von dem Bacon gesagt hat, daß er der außermenschlichen Natur allein durch Beobachtung nach Maßgabe seiner >kreatürlichen< Disposition habhaft wird, nicht aber durch eine unmittelbare Einsicht, welche die menschlichen Erkenntnisbedingungen zu >überspringen< versucht, trifft auch für den Ausleger der menschlichen Verhältnisse zu. Versucht dieser, sich Rechenschaft von den >Vorurtheilen des Standpunktes< zu geben, so wird es ihm ratsam erscheinen, den einen und einzigen, den privilegierten Standpunkt zu verlassen. Daß dieser bei du Böse der christliche Standpunkt ist und an ihm als Fixpunkt festgehalten wird - nicht ohne andere Gesichtspunkte zu nennen und damit den Horizont der Möglichkeiten zu eröffnen —, zeugt sowohl von seiner Relevanz und Außerordentlichkeit als auch von seiner Gefährdung. Wer die Hoffnung auf die übermenschliche Fähigkeit, mit einem Blick das Innere zu erschließen, aufgegeben hat, dem wird >umständliche< Beobachtung von verschiedenen Standpunkten, mithin Erfahrung, zum allein verläßlichen Instrumentarium. Weder ein einziger Blick noch voreilige Spekulation, welche Bacon an der metaphysischen Naturauffassung kritisiert hatte, vermögen das dunkle Herz auszuleuchten; mit der Bewegung vom einen zum ändern Ort, von Gesichtspunkt zu Gesichtspunkt, ist jedoch die Chance gegeben, die Beleuchtung zu ändern. Die so gewonnenen Erfahrungen und Beobachtungen reflektieren stets den Status der Wahrscheinlichkeit und bestreiten, transzendental sozusagen, den der Wahrheit. Die Probabilität sorgt wiederum für Dynamik: Sie animiert dazu, weitere Daten zu sammeln und deren Relativität im Auge zu behalten. Mobilität, unruhige Veränderung der Stand- und Sehepunkte, dient dazu als Mittel. 26 27

Ebd., 145. Franz Bacon, Neues Organ der Wissenschaften (1620), übersetzt von Anton Theobald Brück, unveränderter reprogr. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1830, Darmstadt 1974, 26 u. 33.

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b) Die Unlesbarkeit der Welt: Graciins Cr/'//Vo«-Roman Diese Art Erfahrung ist der entscheidende Modus des Erlebens, den Gracians Roman El Criticon im Leitmotiv der Reise vorstellt.28 Die beiden Hauptfiguren Andrenio und Critile sind auf ihrer Reise durch die Welt — einer Reise, die mit der alten peregrinatio nichts mehr gemein hat — an kaum einem der sich darbietenden Phänomene so interessiert wie an dem des Menschen, sofern dieser nicht als vereinzeltes biologisch-kreatürliches Naturwesen, sondern als persona, als Person in Beziehung zu anderen also, erscheint. »Das wüste Meer des Hofes«,29 wie eine deutsche Übersetzung aus dem Jahr 1710 den Titel des 11. Kapitels im 1. Buch des Romans übersetzt, stellt den geeigneten Schauplatz für ein solches soziales Studium dar. Ohne nun Proteus und Metis, die vielgestaltigen Meeresgottheiten, welche im neuzeitlichen Politikdiskurs als Allegorien der Klugheit und Taktik, List und (Ver-)Stellung figurieren, in den Vordergrund jener höfischen Sozialität zu rücken, setzt die Beobachtung der menschlichen Tatsachen fundamentaler an. Nicht Simulation oder Dissimulation, sondern Opazität, die aller Taktik voraus- und zugrundeliegt, wird in der höfischen Sphäre zum Thema: Ein Hofmann erklärt den beiden Reisenden, daß das Buch // Galateo — welches ein Verkäufer als »ABC« aller höfisch-politischen Lehren anpreist und an die im höfischen Klima noch unerfahrenen Reisenden zu verkaufen sucht —, daß dieser angepriesene Text keineswegs einlöse, was er sich zum Ziel setzt: zu lehren, »was man bey Hofe in acht zu nehmen hat« und »wie man sich in Ansehen bringen solle«.30 Diese Bemerkung des Hofmanns allein als Zitat, als literarischen Kommentar zu Gracians eigenem politischen ABC, dem Handorakel, oder zum Genre der höfischen Präzeptistik allgemein zu lesen, wäre sicher zu wenig. Der Kontext stellt.nämlich heraus, daß der Galateo des italienischen Autors Giovanni della Casa, auf welchen hier mit dem »ABC« referiert wird, in anderer Hinsicht aufschlußreich ist: Anders wohl als Gracians eigenes Klugheits-ABC erscheint della Casas (1558 posthum veröffentlichter) Text unzeitgemäß. Der kritische Hofmann merkt an, daß der Text della Casas seine Aufgabe allenfalls »zu unser Vorfahren Zeiten/ als man noch mit Armbrusten schösse«,31 erfüllen konnte. Entscheidend ist dabei folgendes: Die Armbrust steht hier als >treffende< Metapher für das Bemühen, die Brust des Gegenübers zu erreichen, die Brust, welche wiederum metaphorisch für das >Innerste< des 28

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Die Reise ist, wie Blumenberg betont, Chiffre der kopernikanischen Wende: Auch der Standort des Weltbeobachters gerät in Bewegung. Zum Cr//iiO'«-Roman überhaupt grundlegend Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M. 1981, 108ff. Gottschling, Des [...] Balthasaris Graciani Criticon, 1. Tl., 229. Ebd., 230. Ebd.

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Menschen steht. Eine Lehre aus dem GWiZ/eo-Traktat, welche der Hofmann an dieser Stelle präsentiert, rät angeblich, dem zu erkundenden Gegenüber nicht etwa in die Augen, sondern »gegen die Brust« zu sehen. Die zitierte Vorschrift, welche sich so im Galateo wohl schwerlich finden läßt, wird hier dazu verwendet, folgenden Sachverhalt zu markieren: Texte vom Typ des kritisierten Galateo gerieren sich, als sei es mit ihrer Hilfe möglich, die >Brust< und damit das Herz des Menschen zu erforschen. Gracian selbst hatte als Autor des Handorakels die Raffinierung der (Verbergungs-)Taktiken herausgestellt, eine Raffinierung, welche das Verlangen, die Wahrheit des Herzen zu erkunden, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dies zu erkennen, ist Moment im Prozeß des allgemeinen desengano?2 jenes zentralen Themas des Critifon-Romans. Das wohlklingende Versprechen des Galateo muß schon deshalb als pure Illusion erscheinen, so (re-)konstruiert es der Hofmann. Sein stärkster Einwand gegen dieses trügerische Versprechen ist indes nicht unbekannt: Man dürfe sich nicht darüber täuschen, so formuliert er, daß »die Zunge von dem Hertzen gantz abgesondert ist«.33 Gedanken und Kommunikation haben demzufolge nicht unmittelbar miteinander zu tun; vom einen läßt sich nicht auf das andere schließen. Mit der genannten probabilitas politica muß realistischerweise vorlieb genommen werden; die politische Wahrscheinlichkeitsrechnung setzt sich an die Stelle jener Gewißheit des Urteils, welche, obschon unerreichbar, eben darum doch sehnsüchtig gewünscht wird. Dem Tadel des Momos aber ist nie entsprochen worden. Nur dann, führt der Hofmann aus, wenn »der Wunsch des Momi erfüllet wäre/ und die Menschen ein klein Fenster vor der Brust hätten/ wodurch man sehen könte/ was darinne verborgen wäre«,34 machte die Pseudo-Vorschrift des Galateo Sinn —und wäre doch gleichzeitig überflüssig. Die Physiognomik des 18. Jahrhunderts wird in ihrer Lavaterschen Version einen späten Versuch unternehmen, diesen Wunsch zu realisieren.35 Der Vorstellung von Transparenz wird dann der ihr von altersher, seit dem Momos'schen Tadel eignende Charakter des Utopischen genommen. Hybris gegenüber der Götterwelt, Usurpation einer Position, welche allein dem christlichen Gott gebührt, und entschiedene Negation der politischen Tradition sind die konstitutiven Momente jener Physiognomik, welche die Spontaneität eines gefühlvoll-empfindsamen Menschen, dem der transparenzerzeugende Blick ins Innere des Mitmenschen gelingt, ins Recht zu setzen versucht. »Die ent32

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Die Enttäuschung basiert wesentlich auf der Einsicht, daß Täuschung jederzeit möglich ist. Zum desengano als Vanitas-Motiv vgl. Jansen, Die Grundbegriffe des Baltasar Gracian, 151ff. Gottschling, Des [...] Balthasaris Graciani Criticon, 1. Tl., 231. Ebd. — Zur Differenz von Erscheinen (parecer) und Sein (ser) Schröder, Logos und List, 103-110. Vgl. dazu Kap. VII.

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larvte Welt«36 meint demgegenüber etwas anderes: Entlarvt ist die menschliche Welt als monde dann, wenn erkannt wird, daß sie nicht zu entlarven ist. Dies ist die Wahrheit, welche die Anstrengungen der Demaskierung ihr entreißen können. Gracian wählt an dieser Stelle den Vergleich mit der außermenschlichen Natur, die, akzeptiert man den Rahmen der gewählten Metaphorik, ohne Anstrengung gelesen werden kann: Der Himmel ist einem Pergament vergleichbar, »worauf die Wunder=Wercke über uns mit hell=gläntzenden Buchstaben geschrieben sind.«37 Das himmlische Pergament bietet die Geheimnisse der göttlichen Schöpfung dar, welche zwar möglicherweise unfaßbar, nicht aber in der Weise verborgen sind, daß eine Lektüre des Pergaments hinter oder unter den Zeichen Liegendes zu entbergen hätte. Die Zeichen des Himmels haben Bedeutung oder sind Bedeutung, ohne enträtselt, entziffert oder decodiert werden zu müssen. Die Rede vom Hintergrund erübrigt sich im Zusammenhang dieser Metaphorik von Transparenz und Helle, der zufolge an der Oberfläche das Bezeichnete und am Außen das Innen sichtbar wird. Die Welt in ihrem unteren, ihrem menschlichen Ausschnitt bietet demgegenüber ein anderes Bild: Sie ist jener »Theil des Buches der Welt«, der aus »unbekandten Buchstaben« sich zusammensetzt.38 Damit ist eine Lektüre dieses Buchs unmöglich. Außer der Materialität des Textes, außer den sich dem Auge darbietenden Zeichen läßt sich nichts erfassen — von der Erkennbarkeit (Differenz) der Zeichen, wie sich 'einwenden ließe, einmal abgesehen. Die Möglichkeit, die äußeren Zeichen der Sprache und der Gebärden auf das Innere, das verborgene und verschlossene Herz zu beziehen, ist per se verstellt. Die Metapher der Unlesbarkeit übertreibt freilich: Denn zwar kann es keine Urteilsgewißheit hinsichtlich der wahren Bedeutung geben, indes existieren Konkurrenten der Bedeutung, konkurrierende Interpretationen. Mit den Metaphern der Verschlossenheit und des Schlüssels — Negation prinzipieller Unlesbarkeit — ist der Sachverhalt stets erneuter, experimenteller Interpretation anvisiert. Der Schlüssel ist in diesem Zusammenhang nicht dasjenige Instrument, welches das je Verschlossene in der Weise erschließt, daß es nun für immer offen zutage läge. Nicht die Wahrheit der Erschließung interessiert, sondern deren Nützlichkeit. Der passende Schlüssel ist die je passende Auslegung, welche nicht wahr, wohl aber klug sein muß. Die Erforschung des Gegenübers gelingt dann, wenn sie politisch-kluge Operationen des Gemütsforschers anschließbar werden läßt. Der in diesem Zusammenhang formulier-

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Gottschling, Des [.,.] Balthasaris Graciani Criticon, 3. Tl., 111. Ebd., 112. Ebd. — Blumenberg sieht darin einen entscheidenden Umbruch: Die Epoche des verborgenen und täuschenden Gottes in der Theologie wird abgelöst durch die Vorherrschaft des verborgenen, sich selbst verschlüsselnden Menschen in der Anthropologie. Vgl. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, 13f.

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te Grundsatz der Opazität steht dazu nicht im Widerspruch: »das menschliche Hertz ist versteh und unerforschlich.«39 Die passenden, angemessenen, je situativ zu fallenden hermeneutischen Urteile täuschen sich — das belegt jener Grundsatz einmal mehr - weder über ihre Möglichkeiten noch über ihre Interessen. Die »entlarvte« Welt ist eben diejenige, die auf das Faktum der Unlesbarkeit politisch zu antworten versteht. Mit seinem Interesse an Opazität und Verstellung nimmt der Roman die Position dessen ein, der einem an den Finessen des Handorakels geschulten Akteur konfrontiert ist. Andrenio, unbeholfen, unerfahren, ja naiv, wäre einem solchen kaum gewachsen. »Wie kan dieses seyn [...], daß die Welt in unbekandten Buchstaben geschrieben sey?« lautet seine erstaunte Frage, auf die er sich alsdann eine Antwort gefallen lassen muß, welche deutlich herausstellt, daß ein wichtiges Ziel der Reise, die Einsicht in eben diesen Sachverhalt der Unlesbarkeit, noch nicht erreicht ist: »Seyd ihr schon so lange Zeit gereiset/ und seyd noch nicht diese Wahrheit gewahr worden?«40 Zu der Wahrheit, daß es keine Wahrheit gibt, ist Andrenio auf seinem Weg durch die sozialen Verhältnisse nicht vorgedrungen, obwohl das Hofleben und die Kommentare jenes kritisch-skeptischen Höflings ihm hierzu Gelegenheit gaben. Im Roman tritt deshalb eine Personnage auf, eine Art professionalisiertes Lehrpersonal, welches nun sowohl Grenzen als auch Möglichkeiten einer Lektüre der menschlichen, sozialen Welt vorführt. Anders als der vom genannten Höfling kritisierte Galateo sind diese Lehrer dem Problem des diziplinierten Umgangs mit Wahrheit und Wahrscheinlichkeit gewachsen: Vorderhand ist die Möglichkeit, betrogen zu werden, auszuschalten; Menschen, die von der »Art die Gemüther zu kennen/ nichts verstehen«, lassen »sich so leichtlich/ als Blinde betrügen«.41 Aufklärung darüber bietet der Descifrador,42 der Entzifferer, eine Figur, welche das Komplement zum verstellten politicus des Handorakels darstellt. Im deutschen Text als »Dolmetscher« geführt, gibt er den beiden Reisenden zu verstehen, daß nicht allein in höfisch-diplomatischen Verhältnissen mit naturgegebener Opazität zu rechnen ist. Auch familial-freundschaftliche 39 40

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Gottschling, Des [...] Balthasaris Graciani Criticon, 3. Tl., 112. Ebd. — Andrenios Naivität liegt eben nicht zuletzt in seiner Nicht-Sozialisation begründet: Aufgewachsen in einer Höhle und von Tieren versorgt, blendet ihn die Welt, insbesondere in ihren politischen Beziehungen. Dem Umgang, seinen Vorkehrungen und Finessen zeigt er sich nicht gewachsen. Graciän nimmt damit ein Motiv des arabischen philosophischen Romans auf, das dem platonischen Höhlengleichnis verwandt ist. Siehe dazu Schröder, Logos und List, 249. Gottschling, Des [...] Balthasaris Graciani Criticon, 3. Tl., 116. Die Kunst der Seelenforschung stellt sich in mehreren allegorischen Gestalten vor: Dem descifrador beigesellt sind Argos, über und über mit Augen besät, und Acertador, derjenige, der alles richtig bestimmt. Vgl. Werner Krauss, Gracians Lebenslehre, Frankfurt/M. 1947, 30f. — Zum descifrador siehe auch Jansen, Die Grundbegriffe des Baltasar Graciän, 137.

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Beziehungen sind davon bestimmt: »ja biß zu den Freunden/ zu den Vätern/ zu den Müttern/ biß zu den Kindern/ ja alles/ sage ich/ ist eine verborgene Sache.«43 Diese Diagnose des Dolmetschers bleibt nicht ohne Konsequenz. Mit der Gewißheit, daß die Absichten der anderen »eine in Wahrheit unergründliche Materie«44 darstellen, ist zugleich die Notwendigkeit von Kunstgriffen gegeben, mit deren Hilfe sich der Entzifferer zu wahrscheinlichen und wie immer vorläufigen Hypothesen über das Verborgene vorarbeiten kann. c) Zweideutige Worte, Diphthonge und Comödianten. Anforderungen an eine Ars conjectandi hominum mores Zu den Kunstgriffen der Beobachtung gehört, niemals von der Eindeutigkeit, der Identität von Personen auszugehen: Vielmehr sind sie als »Diphthong!«45 zu betrachten, als Zweiklanglaute, die den einen zusammen mit dem anderen Laut vernehmen lassen. In seiner Funktion als Entzifferer muß der Beobachter auch den komplementären, den jeweils anderen Laut mithören, um so der Täuschung zu entgehen. Wenn, so übersetzt der Dolmetscher den beiden Reisenden, jemand »euch die Hände küsset«, so ist mitzudenken, daß er sie vielleicht lieber »beissen wollte«; wenn jemand auffällig »viel verspricht«, ist nicht unwahrscheinlich, daß er »nichts halten wird« — unzählige weitere Situationen sind von ironischer Zweideutigkeit durchzogen.46 Der politische Sündenfall, der die natürliche und eindeutige Sprache korrumpierte, zog - man denke an Aleweins Darstellung des Sachverhalts — die zweideutigen Worte nach sich, jene diphthongartigen Gebilde, die wie die menschlichen Aktionen dem Leser oder Hörer die Aufgabe der Enträtselung und Auslegung aufladen. Die politische Welt ist die Welt der Diphthonge, der Zweideutigkeit, nicht allein bezogen auf die Sprache. Eindeutigkeit vorauszusetzen, bedeutet Verfälschung und Verstellung, eine Reduktion der Wirklichkeit, wie sie allein politisch einfältigen Personen unterläuft. Doch noch diejenigen, die mit der Existenz der Diphthonge rechnen und nach der simplen »Regel der antithesis« von ihnen urteilen, sind, das hatte schon Montaigne gesehen, nur mangelhaft gerüstet, denn: »Die Welt steckt solcher Leute gantz voll/ welche gantz anders sind/ als sie scheinen.« Da sie »gantz anders« sind, werden sie »Comoedianten« ge-

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Gottschling, Des [...] Balthasaris Graciani Criticon, 3. Tl., 115. Ebd., 116. Ebd., 117. Blumenberg stellt in diesem Zusammenhang die permanente Überforderung des Interpreten heraus (Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, 115). Gottschling, Des [...] Balthasaris Graciani Criticon, 3. Tl., 116. — Die Hauptdifferenz, von der die Diphthonge regiert sind, ist die von Mensch und Bestie (vgl. ebd., 117). — Der Diphthong ist ironisch im Sinne des Theophrastschen Eiron. Vgl. dazu Kap. I.

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nannt: Personen, welche »andere Personen vorstellen/ als sie selber sind«.47 Mit dieser Rede des Dolmetschers ist der »Comoediant« als Schauspieler im modernen Begriffssinn — d. h. jenseits der tbeatrum-mundi-Votstellung*9 — aufgerufen. Mit der Unterscheidung von Diphthong und Comödiant sind die Möglichkeiten der Beobachtung sozialer Beziehungen reicher geworden: Eine raffiniertere Chiffrierung, so wie Graciäns Handorakel sie popularisiert, verlangt nach einer raffinierteren Hermeneutik. Comödianten sind eben nur unter Umständen Diphthonge. Daß die Kunst des Descifradors letztlich versagt, liegt möglicherweise darin begründet, daß sie mit ihrer Methode, nach der Regel der Antithesis zu urteilen, diesem im Comödianten versinnbildlichten komplexeren Sachverhalt nicht Rechnung zu tragen vermag. Das könnte die interne Logik der literarischen Präsentation des Dolmetschers und seiner Decodierungskünste sein. Die folgende Episode zeigt jedenfalls, daß der Dolmetscher sich nicht bewährt: Gegenüber einer Menschenmenge auf dem >Platz des Scheins< versucht ein »Marcktschreyer« sich als Redner. Offenkundig, daß er lügt und betrügt, und doch wird ihm von der Menge geglaubt, als er einen Esel als Adler auszugeben versucht.49 Mit dem Hinweis, daß nur diejenigen, die dem Adler an Verstand gleich sind, ihn überhaupt erkennen können, versucht dieser Redner die Eigenliebe der Zuhörer anzureizen, um mit diesem Ferment jenen Prozeß zu beschleunigen, in welchem die Zuhörer sich seiner Definition der Wirklichkeit ergeben. Sein sophistisch-rhetorisches Kalkül geht auf: Die Menge bewundert den zum Adler erklärten Esel. Ob sie nun allerdings glaubt, daß es sich bei diesem wirklich um einen Adler handelt, bleibt dahingestellt. Die Tatsache nämlich, daß sie nicht aufbegehrt, kann weder für den einen noch für den anderen Fall als Indiz herangezogen werden.50 Deutlicher noch als mit dem Esel-Adler-Verwandlungskunststück werden die auf dem Platz des Scheins erzeugten Wirklichkeiten auf die sozialen Verhältnisse des Hofes hin beziehbar, als besagter Redner es unternimmt, einen nur unterarmgroßen und unscheinbaren Mann als Fürsten auszugeben. In der vom Redner eröffneten Hoffnung, von eben diesem Fürsten alsbald Ämter 47

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Gottschling, Des [...] Bakhasaris Graciani Criticon, 3. Tl., 128. — Bei Montaigne heißt es: »[Die] Kehrseite der Wahrheit hat hunderttausend Spielarten und ein unbegrenztes Feld« (Montaigne, Essais, 83). Vgl. dazu Kap. H. Gottschling, Des [...] Bakhasaris Graciani Criticon, 3. Tl., 135ff. — Vgl. dazu Schröder, Logos und List, 250ff. Eine sich leise äußernde Stimme aus dem Publikum belegt, daß nicht alle wirklich glauben. Doch auch die betreffende kluge Person verletzt die kommunikativ erzeugte Wirklichkeit nicht: »Bey meiner Treu! sprach ein verständiger und kluger Mann/ gantz sachte: Ob gleich dieses ein rechter Esel ist: so wil ich mich dennoch wol hüten/ daß ich es keinem sage [...]. Heute zu Tage paßiret ein Maulwurff vor einen Luchs [...] lasset uns mit der gantzen Welt leben. Und dieses ist die beste Patthey/ welche wir ergreiffen können« (Criticon, 3. Tl., 140).

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und Stellen zu erhalten, schenkt die Menge der vermeintlichen Majestät Beifall. Der Descifrador schweigt zu all dem, bis Critile ihn endlich auffordert, hier und jetzt von seiner Dechiffrierungskunst Gebrauch zu machen und deren Solidität nun unter Beweis zu stellen: Der Betrüger ist bloßzustellen, seine Identität und seine Absichten sind zu lüften, den verstellten Dingen und Personen sind die ihnen wirklich zukommenden Namen zu geben.51 Die Rhetorik, welche der Marktschreier dazu nutzte, die Dinge von ihren Namen zu trennen, soll, so verlangt es Critile vom Dolmetscher, der Rekonstitution jener Ordnung weichen, in der die wahren Signifikationen wieder Gültigkeit haben. Der auf diese Weise in die Enge getriebene Dolmetscher gibt dem Drängen nach: Er öffnet den Mund, beginnt auch zu sprechen, doch gelangt er über ein: »Das ist ...« nicht hinaus. So kläglich scheitert sein Versuch, sowohl den Betrüger als auch die dessen betrügerischer Manipulation unterliegenden Dinge zu identifizieren. Die Wahrheit, sofern der Descifrador wirklich in ihrem Besitz ist, findet nämlich keine Gelegenheit, sich (öffentlich) zu artikulieren. Und noch an dieser Verhinderung ist der Betrüger ausschlaggebend beteiligt: Den Dolmetscher und dessen Decodierungsansinnen genau observierend, beginnt er in eben dem Augenblick, in welchem dieser zu sprechen sich anschickt, einen dicken Qualm aus seinem Munde auszustoßen - wie, so erläutert der Text, ein Tintenfisch, der, wenn er sich bedroht fühlt, jene Tinte verbreitet, die er für die »gelegene Zeit«, die »ocasion«, gesammelt hat, und auf diese Weise eine Dunkelheit erzeugt, die ihn schützt, indem sie ihn verbirgt. In dieser Dunkelheit verschwindet auch der für Aufhellung und Aufklärung zuständige Dolmetscher. Verunsichert geht die Menge auseinander.52 So eigenartig sich dieser Zwischenfall auch ausnimmt, zeigt er doch nichts anderes als einen fast beliebigen Ausschnitt jenes unteren Teils der Welt, in welchem Opazität als Normalfall gelten muß. Auch die Entzifferungskunst, das beweist der Ausgang der Episode, vermag daran nichts zu ändern. Mit ihrem pessimistisch-realistischen Blick auf das Weltszenario scheint sie sich selbst zu verabschieden. Festzuhalten bleibt, daß gerade in diesem Realismus ihre eigentliche Leistung zu sehen ist.53 Daß die Bemühung um Entzifferung — der begrenzten hermeneutischen Möglichkeiten zum Trotz — nicht resigniert und nicht resignieren darf, beweist eine weitere auf die Thematik der Decodierung zugeschnittene Allego51

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Critile ist auf der Suche nach derjenigen antirhetorischen Instanz, die allen Dingen den ihnen zukommenden Platz zuweisen kann. Felisanda, die verlorene und wiederzufindende Geliebte, ist als allegorische Verkörperung jener Instanz zu lesen. Siehe dazu Schröder, Logos und List, 249. Jeder verlor seinen »Compaß«, heißt es dort (Criticon, 3. Tl., 148f.). Der Descifrador ist Verkörperung der Ent-Täuschung (des-engano) in diesem Sinne. Vgl. dazu Krauss, Gracians Lebenslehre, 31 und Jansen, Die Grundbegriffe des Baltasar Gracian, 136.

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rie: die des Hell- und Allessehers, des »Veedor de todo«, der zur Klasse der »Zahori« gehört.54 Daß die »Zunge nicht mit dem Hertzen übereinstimmet«,55 daß Gedanke und Kommunikation, weit davon entfernt, deckungsgleich zu sein, in vielfältigen Beziehungen zueinander stehen können, ist auch die grundlegende Erkenntnis dieses Allessehers. Mit einer Transparenz-Metapher, deren eigentliche Karriere noch bevorsteht, verspricht dieser »neue Lehr=Meister«56 jedoch eines: das Innere des Menschen (welches hier vorrangig im Sinne der Lehre von den bumores als Temperament gefaßt wird) so genau und klar sehen zu können, als läge es »in einem durchsichtigen Crystallinen Buchslein«.57 So scheint es, als sollte sich der Wunsch des Momos mit dem Zahori realisieren lassen: »Ich sehe alles/ was in dem Menschen vorgehet: gleich/ als wenn man es in seiner Seele durch ein Fenster lesen könte.« Doch den Hellseher vermag nichts darüber hinwegzutäuschen, daß das »als wenn« dieser Formulierungen ernstzunehmen ist. Und auch die Behauptung, daß »ein eintziger Anblick« genüge, um den Menschen zu erkennen, ist als Zitat zu lesen, das dem Bilder-Arsenal jener alten utopischen Sehnsucht entnommen ist. Die Metaphern sind eindeutig als solche markiert - das als wenn betont diesen ihren Status -, und quer zu ihnen skizziert der neue Lehrmeister ein anderes Projekt: das einer Wissenschaft. Die projektierte Unternehmung »bestehet in der Geschicklichkeit das innere des Menschen zu erforschen« und »verdiene eine Wissenschaft genennet zu werden«.58 1692 versucht der Graciän-Liebhaber Christian Thomasius das deutsche Publikum genau davon zu überzeugen. Ohne seinen literarischen Vorläufer, den Zahori, beim Namen zu nennen, übernimmt er dessen Programm: Eine »Wissenschaft« soll, sei sie erst einmal auf ein sicheres Fundament gestellt, jene Geschicklichkeit heißen, »[d]as Verborgene des Herzens anderer Menschen auch wider ihren Willen aus der tägli-

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Der Zahori ist eine Art Super-Descifrador, wie Jansen formuliert (Jansen, Die Grundbegriffe des Baltasar Graciän, 144). Gottschling, Des [...] Balthasaris Graciani Criticon, 3. Tl., 162. — Daraufhatte man die beiden Reisenden schon in den ihnen erteilten Lektionen über das Hofleben aufmerksam gemacht, vgl. ebd., 1. Tl., 230f. Ebd., 3. Tl., 161. Ebd., 162. Ebd., 161. - Der Wissenschaftsstatus wird der Physiognomik freilich im 18. Jahrhundert nicht uneingeschränkt zugesprochen. Nachdem bereits die Encyclopedie die Physiognomik als science imaginain (Art. Physionomie, in: Encyclopadie, Bd. 12 (1765), Sp. 538) disqualifizierte, versucht Lavater, den Wissenschaftsanspruch erneut zu reklamieren, ohne ihn indes einlösen zu können. Zur Wissenschaftsgeschichte der Physiognomik aus der Sicht des 18. Jahrhunderts siehe Georg Gustav Fülleborn, Abriss einer Geschichte und Litteratur der Physiognomik, in: ders. (Hg.), Beyträge zur Geschichte der Philosophie, 8. Stück, Züllichau und Freystadt 1797; und aus jüngster Sicht Andreas Käuser, Physiognomik und Roman im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M.-Bern-New York-Paris 1989.

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chen Konversation zu erkennen«.59 Sein Ansinnen, diese Fertigkeit auf das Niveau einer Wissenschaft zu heben, konfrontiert Thomasius im nächsten Satz mit dem erwartbaren, von ihm selbst nun antizipierten Einwand, der besagt, daß die Erforschung des Menschen göttliches Privileg sei. Auch in diesem Punkt ist die Übereinstimmung mit dem literarischen Prätext unübersehbar. Denn gleich nachdem der Zahori, der neue Lehrmeister, sein Wissenschafts-Projekt den beiden Educandi präsentiert hat, stellt Andrenio die signifikante Frage: »Seyd ihr denn ein GOtt?60

2. »Wenn es dem Menschen an der Stirne geschrieben stünde, wie er gesinnet, so brauchte es nicht solcher Umstände«: Die Kardiognostik der Frühaufklärung a) Komplement der Verstellungskunst: Die kardiognostische Wissenschaft des Christian Thomasius Was im Criticon als literarische Vision erscheint, wird im ambitionierten Expose Christian Thomasius' zum Projekt eines - universitär - zu disziplierenden Wissens.61 Gewiß ist die Bemühung um den Nachweis der theoretischen Dignität einer Kunst, die menschlichen Gemüter zu erforschen, so alt wie die ars conjectandi hominum mores selbst. Als Vorläufer seines Projekts benennt Thomasius neben anderen auch Scipio Claramontius, dessen 1625 erschienene Schrift De Coniectandis cuiusque moribus et latitantibus animi affectionibus Christian Wolff der Tradition der Ars conjectandi (Physiognomia) zurechnet. Deren Aufgabe bestimmt er wie folgt: »Mores conjectare dicimur, si ex iis, quae in sensu incurrunt, determinationem generalem appetitus & aversationis quod actiones certi generis vel speciei probabiliter saltern colligimus.«62

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Christian Thomasius, Erfindung der Wissenschaft anderer Menschen Gemüt zu erkennen, Schreiben an Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg zu Neujahr 1692, in: Fritz Brüggemann (Hg.), Aus der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Christian Thomasius und Christian Weise, Nachdr. der Ausg. von 1928, Darmstadt 1966, 61 — 79, hier: 68f. Gottschling, Des [...] Balthasaris Graciani Criticon, 3. Tl., 161. Christian Thomasius, Erfindung der Wissenschaft anderer Menschen Gemüt zu erkennen. — Thomasius beklagt, daß es noch keine Universität in Europa gibt, die diese Wissenschaft so vertritt, wie sie es verdiente (ebd., 73). Christian Wolff, Philosophia practica universalis. Methodo scientifica pertractata (1739), in: ders., Gesammelte Werke, II. Abt., Bd. 11, Hildesheim-New York 1979, S. 643, § 704. — Zu Claramontius und seinem hier genannten Text siehe Georg Gustav Fülleborn, Abriss einer Geschichte und Litteratur der Physiognomik, 139f.

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Von den in die Sinne fallenden Merkmalen eines Menschen auf dessen Neigungen und Abneigungen zu schließen, ist auch Thomasius' erklärtes Ziel. Die verborgene determinatio generalis, das »Innwendige und Heimliche«, wie es bei Thomasius heißt, ist menschlichen Blicken zwar entzogen, bleibt aber Zielscheibe der intendierten Wissenschaft, welche — als >Hilfswissenschaft< der Privatpolitik — »allen Ständen« Nutzen verspricht. Ein jeder braucht sie, da man ohne sie »ohnmöglich in der Welt fortkommen kann«.63 Das wissenschaftliche Interesse ist nicht zuletzt ein pragmatisches Interesse, bestimmt durch die Zwecke einer Privatpolitik, die in ihren Inklusionsansprüchen ernstgenommen werden will. Die Probabilität politischer Urteile ist auch in diesem Kontext verbindlich, wie an Christian Wolffs Definition ablesbar (colligimus probabiliter). Ohne die Bilder der Eindeutigkeit und Transparenz überhaupt zu verwenden, setzt Thomasius die Opazität des Herzens voraus, eine Tatsache, die sein Projekt zwar einerseits höheren Ansprüchen konfrontiert, es jedoch gleichzeitig vor Irrtümern schützt. An der conditio humana des verborgenen Herzens ist nicht zu rütteln —, es geht vielmehr um diejenigen politisch-physiognomischen Maßnahmen, welche das Institut der Opazität nutzen. Und hier verspricht sich Thomasius allerdings Erfolg: Die zu beobachtende Tatsache, »daß ein scharfsinniger Mensch zum öfteren dasjenige, was ein anderer noch so sehr zu dissimilieren [!] und zu verbergen sucht, dennoch zu penetrieren geschickt ist«,64 gibt Anlaß, die Decodierung der (Ver-)Stellungen für möglich zu halten, sofern die Hypothesen decodierender >Entstellung< weder vorschnell noch undifferenziert sind. Der vom descifrador des Critifoti-Romans präsentierte Vorschlag, stets nach der Regel der antithesis zu urteilen, verspricht keinen Aufschluß. Eher schon dürfte das jenseits von einfältiger Identität und diphthongartiger Zweideutigkeit angesiedelte Modell des Comoedianten zur Leitvorstellung taugen, unter welcher das Gegenüber sich beobachten und dechiffrieren läßt. Zwar besteht die Gefahr, daß die Interpretation angesichts der unzähligen Möglichkeiten, die das Modell des Schauspielers mit sich bringt, versagt; andererseits kann man jedoch davon ausgehen, daß — zunächst weitgehend unabhängig von einer zu konstruierenden Relation von Innen und Außen — das >Äußere< der Darstellung selbst Inkonsistenzen aufweist. Die Perfektionierung der Schauspielerei erhöht, gegen die ihr zugrundeliegenden Intentionen, die Gefahr schauspielerischer Schwächen, logischer und physiognomischer Unstimmigkeiten. Simulation und Dissimulation verlangen — anders noch als die professionalisierte Schauspielkunst, die fremde und fertige Texte memoriert und aufführt - sowohl verbal-sprachliche als auch körpersprachliche Präzision. Momentane Schwächen und Unachtsamkeiten der gewählten Rolle gegenüber zeigen sich in unkoordinierten Aussagen, 63 64

Thomasius, Erfindung der Wissenschaft, 70. Ebd., 69.

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in unstimmigen Gesten, entwischten Worten und unkontrollierten Blicken, in Zeichen also, die in der Regel nicht zurückzunehmen sind.65 Das gibt dem aufmerksamen Gegenüber eine Chance. Die der Kontrolle entzogenen Äußerungen geben das Material für die Diagnostik des Gemütserforschers ab, anhand ihrer verifiziert oder falsifiziert er seine (vorläufigen) Auslegungen. Mag dieses Verfahren auch umständlich erscheinen, so berücksichtigt es doch, und darin liegt sein Vorteil, die vorn skizzierten Probleme der Interpretation, für welche die Metaphern der Dunkelheit, Verschlossenheit und Unlesbarkeit einstanden. Weit entfernt, dem Tadel des Momos und den mit diesem verbundenen Sehnsüchten nachzuhängen, empfiehlt Thomasius statt dessen, mit »attenten Augen« zu beobachten, eine argusäugige Aufmerksamkeit also fest einzurichten. In der 49. Maxime des Handorakels, auf welche Thomasius' >attentes Auge< offenbar anspielt, ist der »Hombre juizioso y notante« beschrieben, der »gran descifrador«,66 welcher, wie gesehen, im OvWcow-Roman einer so harten Bewährungsprobe unterzogen wird. August Friedrich Müllers deutsche Übersetzung führt den großen Entzifferer als einen »mensch [en] von verstand und aufmercksamkeit«, der als »ein rechter auskundschaffer derer auf das schlaueste versteckten heimligkeiten«67 gelten kann. Dieselbe 49. Maxime kommentiert die französische Handoraket-Übersetzung von Amelot de la Houssaie68 mit dem Momos-Mythologem, das in diesem Zusammenhang für die Möglichkeit eines unmittelbaren, durch Techniken und Medien ungetrübten Zugangs zum anderen steht. In der deutschen Übersetzung dieses Textes heißt es: Momos gebe »seinen allbern Verstand genugsahm zu erkennen«, wenn er sich auf das »Fensterlein/ an der Brust« verlegt. Denn denen, so führt der Text aus, die »Brillen zu ihrem Gesichte brauchen«,69 ist mit dem ersehnten Fenster nicht geholfen. Das optische Instrument vermag die Wirklichkeit zu erschließen - der Wunsch des Momos indes führt nur in die Irre. Denn nicht als Störung erscheint das dazwischengelegte technische Medium, sondern als Hilfe. Die Brille ist das Instrument, welches der allgemeinen kreatürlichen Hilfsbedürftigkeit des Menschen Stütze und Ergänzung ist: Niemandem, nicht einem menschlichen Wesen, ist es vergönnt, direkt zu erfassen, was ihm verborgen ist — oder, um im Bild zu bleiben: Ein jeder ist Brillenträger. Das ist das nüchterne Argument der hier formulierten Anthropologie. Dem Phantasma des göttlichen Blickes wird der menschlich-kreatürliche, defizitäre und hilfsbe-

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VgLebd.

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Müller, Balthasar Gracians Oracul, 340. Ebd., 341. Der Titel dieser Übersetzung lautet: L'Homme de cour. Traduit de l'espagnol de Baltasar Gracian. Par Amelot de La Houssaie. Avec des notes, Paris 1684. Johann Leonard Sauter, L'Homme de Cour Oder Balthasar Gracians Vollkommener Staats= und Welt=Weise [...], Leipzig 1686,166.

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dürftige Blick konfrontiert, der nach technischen Supplementen verlangt.70 Eben ein solches Supplement beabsichtigt Thomasius mit seiner Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. In seiner Klugheitslehre von 1710 situiert Christian Thomasius die Kardiognostik,71 »die Kunst/ anderer Menschen Gemüther zu erkennen«,72 in ihrem entscheidenden Kontext: dem privat-politischen. Der Privatpolitiker hat mit Feinden, mit Personen, welche den eigenen Status gefährden, zu rechnen. »Denn ein kluger und vorsichtiger Mensch ist gantz gewiß versichert/ es sey nicht möglich/ daß er keine Feinde haben solte.«73 Nur wer sich dieser politischen Tatsache bewußt ist, vermag die richtigen, politisch angemessenen Maßnahmen zu ergreifen. Deren erste besteht darin, Feinde eindeutig zu identifizieren, sie von Freunden zu unterscheiden. Auf diesen Vorgang bezogen fungiert die Kardiognostik als Mittel: »Dahero bedienet sich ein Weiser der Augen seines Gemüths/ seine wahren Freunde von den Feinden seines Reichthums oder Ehren=Standes zu unterscheiden.«74 Die >Augen des Gemüths< haben die sich in jeder Interaktion stellende Aufgabe zu lösen: die vorherrschende Disposition des Gegenübers - unter dem Vorbehalt eines nur probabilistischen Urteils - zu erfassen. Denn wie die Wölfe im Schafspeb erscheinen, so können die Feinde als Freunde auftreten. Sie installieren den »Schein der Freundschafft«,75 um das vorsichtige Mißtrauen zu kalmieren. Sind die Feinde jedoch erst einmal identifiziert, so lassen sich Thomasius zufolge einige Regeln angeben, mit deren Hilfe der Bedrohung Einhalt geboten werden kann: Eine ostentativ »gute Aufführung«76 etwa kann die Feinde dazu bringen, von ihren Anschlägen auf Ehre oder Reichtum abzulassen. Außerdem sollten die eigenen Absichten, wenn man Feinde vermutet, über das bekannte Normalmaß hinaus kaschiert werden, um den Betreffenden schon früh die Möglichkeit gezielter Attacke zu nehmen. Ein weiteres von Thomasius empfohlenes Mittel ist zudem, einem »alt Sprichwort« Folge zu leisten: »Divide &

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72 73 74

Die >kopernikanische Wende< kann dafür verantwortlich gemacht werden, daß die Einsicht, dem Mensch fehle es an Über- und Einblick, sich auf verschiedenen Feldern geltend macht. — Das Fernrohr der Naturerkenntnis entspräche den kardiognostischen Techniken in der anthropologischen Erkenntnis; beide Hilfsmittel korrespondieren einer skeptischen Anthropologie. Vgl. dazu Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Bd. 3 (Der kopernikanische Komparativ. Die kopernikanische Optik), Frankfurt/M. 1981, 728. >Kardiognostik< soll hier als Oberbegriff firmieren. Er ist abgeleitet von Christoph August Heumanns »Prudentia cardiognostica« und soll die ars conjectandi hominum mores, die Physiognomik und sämtliche Derivate umfassen. Spezifikationen erfolgen jeweils im Zusammenhang. Thomasius, Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit, 101. Ebd., 97, §58. 75 76 Ebd., 98, §61. Ebd., §60. Ebd., 99, §65.

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Impera«.77 Und auch im Zuge dieser politischen Operation kommt die Kardiognostik zum Einsatz: »Es kan aber ein kluger Mann die Regeln/ wie er sich Freunde machen und seine Feinde zertrennen solle/ nicht wohl anbringen/ wenn er die Kunst/ anderer Menschen Gemüther zu erkennen nicht vollkommen inne hat.«78

Die Fähigkeit, die Gemüter zu erkennen, hier in der Terminologie der ars conjectandi bominum mores nicht Wissenschaft, sondern bescheidener eine Kunst genannt, setzt »Auffmercksamkeit und Nachdenken«79 voraus. Die aufmerksame Beobachtung richtet sich sowohl auf den Körper und die Physiognomie als auch auf die Person als agierendes Wesen, als soziale Entität. Denn: »in der Rede/ im Gange/ in den Geberden/ Kleidern und Belustigungen gewisser Personen/ ja in allen ihren Thun und Bewegungen [sind] gewisse Kenzeichen ihrer Sitten verborgen.«80 Die ins Auge fallenden Zeichen müssen nun, um Aufschlüsse über das Verborgene liefern zu können, auf die »Sitten« bezogen werden, die moralischen Eigentümlichkeiten, welche eine Person charakterisieren. Nicht deren sittliches Selbstbild ist dabei entscheidend, sondern was an diesem vorbei sich ermitteln läßt. Mit drei Charakteren, den drei Haupt-Lastern »Wollust«, »Ehrgeitz« und »Geld=Geitz« und den drei Haupt=Tugenden »Mäßigkeit/ Bescheidenheit/ Vergnüglichkeit«,81 an anderer Stelle zusammengezogen als »Vernünfftige Liebe« gefaßt, sollen Personen sich beschreiben und erfassen lassen. Mit Hilfe einer »Tabelle«82 — »Spiegel Der Erkäntniß seiner selbst und anderer Menschen«83 - und der in ihr vorgesehenen Kriterien und Zuordnungen kann die Beobachtung einer Person zu einem Resultat gelangen, welches über deren Haupteigenschaft Auskunft gibt. Das Wissen darum, daß die je an einer Person wahrzunehmenden Zeichen trügerisch sein können, darf, wie Thomasius bereits in seiner Sittenlehre darlegt, nicht zur Konsequenz haben, sie zu ignorieren. Ganz im Gegenteil: »Vielmehr bestehet in dergleichen Sachen die gantze oder vornehmste Kunst darinnen/ daß man auff die euserliche Zeichen wohl und genau Achtung habe/ dieselbigen wohl und attent unterscheide/ wo in der Erkäntniß mehr als ein Kennzeichen vonnöten ist/ nicht nur aus einen eintzigen Urtheile u.s.w.«84 77 81 82

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78 79 M Ebd.,100, §69. Ebd.,101 ,§72. Ebd., 102, §73. Ebd., 103, § 76. Ebd., 104a. Ebd., 103. Ebd., 104a. — Selbsterkenntnis ist in erster Linie Voraussetzung und Mittel der Erkenntnis anderer — jedenfalls in politischer Hinsicht. Vgl. Christian Thomasius, Von der Artzeney Wider die unvernünfftige Liebe und der zuvorher nöthigen Erkäntnüß Sein Selbst. Oder: Ausübung Der SittenLehre Nebst einem Beschluß/ Worinnen der Autor den vielfaltigen Nutzen seiner Sitten= Lehre zeiget/ und von seinem Begriff Der Christlichen Sitten=Lehre ein aufrichtiges Bekäntnüß thut, Reprograf. Nachdr. d. Ausg. Halle 1696, Hildesheim 1968, 396.

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Erst zahlreiche Beobachtungen und deren durch die Eigenschaften-Tabelle geleitete Auswertung eröffnen die Möglichkeit, Zeichen als »Kennzeichen« zu identifizieren und Merkmale zu einem (hypothetischen) Gesamtprofil zu verdichten. Die vier »Haupt-Passionen« — Wollust, Ehrgeiz, Geldgeiz und vernünftige Liebe, im Text der Klugheitslehre als Laster bzw. Tugend bezeichnet — umfassen das Insgesamt möglicher Eigenschaften und lassen sich anteilmäßig bei jeder Person antreffen. Die passio dominant gibt die entscheidenden Züge an. Thomasius' Weitere Erleuterung durch unterschiedene Exempel des ohnlängst gethanen Vorschlags wegen der neuen Wissenschaff 11 Anderer Menschen Gemüther erkennen %u lernen^1 ein Text aus dem Jahr 1692, bestimmt ausführlich, wie die Passionen sich, in Zahlen ausgedrückt, zueinander verhalten können. Die Daten, das betont die Erleuterung, werden vorzugsweise in der >Conversation< gewonnen.86 Sind die »Data« nicht in eine konsistente Verbindung zu bringen, welche die Festlegung der Hauptpassion und die Aufschlüsselung der übrigen Positionen erlaubt,87 so ist diese Unvereinbarkeit der Beobachtungen in der Regel ein Zeichen dafür, daß zwei nahezu gleich starke, inhaltlich jedoch fast vollständig konträre Passionen um Vorherrschaft ringen. Als Beispiel für eine solche kontrastreiche Mixtur gibt Thomasius die Verbindung der Hauptpassion Wollust (60 Grad) mit der Passion des Geldgeizes (55 Grad) an.88 Nicht nur der wollusttypische »Müßiggang« und die den Geldgeiz charakterisierende »Esels Arbeit« liegen hier im Widerstreit, sondern auch »Tückische Lügen und Simulierung«89 oder, anders formuliert, »Betrüglichkeit/ Lügen/ Verstellung«90 auf der Seite des Geldgeizes sowie »Unbedachtsame Klätscherey«91 bzw. »Übereilung/ Plauderhafftigkeit«92 auf selten der unbedacht-unreflektierten Wollust. Die habituelle Verstellung des Geldgeizigen wird nun vermutlich durch die

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Christian Thomasius, Weitere Erleuterung durch unterschiedene Exempel des ohnlängst gethanen Vorschlags wegen der neuen Wissenschafft/ Anderer Menschen Gemüther erkennen zu lernen/ Auf Anleitung der nöthigen und gründlichen Beantwortung derer vielfaltigen und über drey Jahr hero continuirten Zunöthigungen [...], Vierte Edition, Halle 1711. Ebd., 224. Die dominierende Passion beansprucht den Hauptanteil, welcher mit 60 Grad festgelegt wird, während die schwächste Passion in der Regel mit jeweils 5 Grad beteiligt ist. Die Anteile der mittleren Passionen müssen kleiner als 60 und größer als 5 sein; sie besetzen die Positionen 2 und 3 (Thomasius, Weitere Erleuterung, 239). Ebd., 244. Thomasius, Von der Artzeney Wider die unvernünfftige Liebe (Gegeneinanderhaltung der Vier Haupt=Leidenschafften), 172f. Thomasius, Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit (Spiegel Der Erkäntniß seiner selbst), 104 a. Thomasius, Von der Artzeney Wider die unvernünfftige Liebe, 172. Thomasius, Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit, 104 a.

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der Hauptneigung entsprechende starke Neigung zu voreiliger, unbesonnener und unkluger Plauderei überlistet werden, denn Eigenart des Hauptaffekts das liegt in seinem Begriff — ist es, daß er sich nicht oder nur schwerlich dissimulieren läßt. Selbst dann also, wenn der Geldgeiz in der Position der Hauptpassion sich befände und sich somit die Situation ergäbe, daß die unbedachte Offenherzigkeit der nun in die zweite Position gerückten, doch nur um wenige Grade von der Hauptpassion differierenden Wollust für bare Münze genommen werden könnte, würde die (Ver-)Stellung sich doch zu erkennen geben — vorausgesetzt, es existiert ein (tabellen-)kundiger Beobachter. Dieser klopft den Menschen quaestionis bei den ersten beobachteten Anzeichen von (Ver-)Stellung auf das Passionenprofil eines Geldgeizigen oder eines Ehrgeizigen93 ab. Hat er sich überzeugt, es mit einem Geizigen — sei dieser nun ehroder geldgeizig — zu tun zu haben, kann er in der Folge zwischen (Ver-)Stellung und Wahrheit deshalb unterscheiden, weil die übrigen Eigenschaften des Geizes durch die schabionisierten Eigenschaften der Passionen tabellarisch festliegen. Eben diese Tabelle soll im Konzept des Thomasius davor bewahren, im Zuge der Überlegung, alle Zeichen könnten (be-)trügen, in eine Art desengano zu verfallen. Die übersichtlichen Simplifizierungen der Passionentabellatur bieten statt dessen Orientierungen, gleichsam Stützpunkte für politisches Handeln. In der Logik politisch motivierter Kardiognostik liegt es jedoch, die allgemeinen Maßnahmen der Um- und Vorsicht auf den schlimmsten Fall zuzuschneiden. Dieser besteht bei Thomasius in der Neigung zum Geldgeiz. Geldgeiz impliziert habitualisierte Verstellung, Tücke und Betrug. Der schlimmste Fall liegt also im Vorstellungshorizont der Möglichkeiten, und an seinem Maßstab werden die Vorsichtsmaßregeln der politischen Interaktion und der Kardiognostik universalisiert. Deshalb auch ist die ars conjectandi, sobald sie in Kontexte politischer Klugheit eingelassen ist, ein Instrument der Unterscheidung von Freunden und Feinden — und das heißt eben auch: Schein-Freunden und wahren Freunden. Daß der Geldgeizige eine sozusagen natürliche Veranlagung zu eigennütziger Schein-Freundschaft mitbringt, versteht sich nun von selbst. Festzuhalten bleibt in diesem Zusammenhang, daß der politische Gemütserforscher, wenn er Freunde und Feinde sortiert, nicht vorrangig an deren >eigentlichem< Eigenschaftsprofil interessiert ist. Er verfährt auch in der Kardiognostik nach Gesichtspunkten des politischen decorum, nach »Unterscheid der Umstände«.94 Charaktereigenschaften, welche ihn allezeit von einer Person überzeugen oder vor ihr warnen und von ihr fernhalten, interessieren ihn we93

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Der Geldgeizige ist der Versteller bzw. >Steller< (Simulator), während der Ehrgeizige den Dissimulationstyp repräsentiert: er schweigt zu viel (ebd., Spiegel der Erkäntniß seiner selbst). Ebd., 103, § 78.

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niger. Vielmehr muß er berücksichtigen, daß aus Feinden Freunde werden können und vice versa — je nach Unterschied der Umstände und je nach aktuellen Absichten der beteiligten Akteure. Die dauerhafte Disposition ist für den politicus nicht das motivierende zentrale Erkenntnisziel: Er muß demgegenüber insbesondere die je vorliegenden Ambitionen und Ziele seines Gegenübers zu enträtseln suchen. Deshalb auch rät Thomasius an, alle Zeichen mit >attentem Auge< wahrzunehmen und von der Beobachtung nicht abzulassen, eine Empfehlung, welche sich erübrigen würde, wenn mit der Feststellung des Passionentypus die kardiognostischen Anstrengungen bereits an ihr Ziel gelangt wären. Die »tägliche Conversation« ist eben auch täglich als »medium cognoscendi« zu verwenden: »Endlich hat die tägliche Conversation auch diesen Nutzen/ daß man/ was uns zu wissen nöthig ist/ und vor uns sonst verborgen gehalten wird/ gantz unvermerckt erfahren kan. Offt entfähret einem ein unbedachtsames Wort/ dadurch das Geheimste seines Hertzens/ so er durch tausend Stellungen und Verstellungen verborgen/ auff einmahl entdecket wird.«95

Was sich hier entbirgt, ist nicht die Wahrheit eines Charakters im Sinne eines Passionentyps, sondern die Wahrscheinlichkeit einer für die jeweilige Situation entscheidenden Absicht, die sich selbst zu verbergen und/oder andere Absichten zu stellen gesucht hatte. Der schon erwähnte Artikel »Politische Wahrscheinlichkeit« in Zedlers Lexikon,96 in welchem der Gegenstand der Probabilitas Politico als die aus den jeweiligen Handlungen und Umständen zu erkundende »Gemüths=Beschaffenheit« eines Menschen bestimmt wird, beschränkt sich gleichfalls nicht mehr auf die mit der Temperamentenlehre gegebenen Elemente: Verstand, Willen und Gemütsneigungen. Als weitere im Urteil politischer Wahrscheinlichkeit zu kalkulierende Größe werden die flexiblen, nicht unbedingt aus dem Temperamententypus extrapolierbaren »Absichten« genannt. Zum einen ist der Mensch »überhaupt«, zum anderen sein »Unternehmen« und »dessen Endzweck« probabilistisch zu erschließen. Die genuin politische Aufmerksamkeit verschiebt, die Temperamentenlehre für ihre spezifischen Zwecke beerbend, den Fokus kardiognostischer Bemühungen: von der Feststellung des einen Temperamententyps zur Beobachtung atomisierter, flexibler und flüchtiger Interessen. Der Gracian-Übersetzer Müller empfiehlt im 5. Kommentar (»Von der geschickligkeit, mit verstellten leuten klüglich umzugehen«) zur 13. Maxime des Handorakels ein politisches Vorgehen, das die MikroStruktur der je gegebenen Situation kardiognostisch erfaßt. Nicht die charakterliche Disposition der agierenden Personen, sondern deren momentanes Engagement rückt dabei in den Vordergrund. Zu prüfen 95

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Ebd., 138, § 64. Art. »Politische Wahrscheinlichkeit«, in: Zedler: Grosses Vollständiges Universal Lexicon, Bd. 28,1741, Sp. 1530f.

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ist mithin, worin das jeweilige Gegenüber »eigentlich sein interesse suche«.97 Mit dem Begriff des Interesses bestimmt Müller eine Relation, die Beziehung von Personen und Situationen, die aktuelle Beteiligung des Gegenübers, dessen typisch-temperamenthafte »beschaffenheit« und »gemüths=art« zu erkunden und festzuhalten allein nicht ausreicht. Wie bei Thomasius die ars conjectandi Element der Klugheitslehre wird, so führen auch die an seinem Vorbild des politisch-selektiven Rückgriffs auf die Temperamentenlehre geschulten Privatpolitik- und Klugheitslehren die »Prudentia exploratoria«98 oder Prudentia cardiognostica als Spezialabteilung. Im Text des Christoph August Heumann antwortet die Kardiognostik vorrangig auf die zuvor gegebenen Klugheitsmaximen, deren Kern in den Überlegungen und Anweisungen zu Simulation und Dissimulation zu finden ist. Wenn diese auch die eigentliche Herausforderung darstellen, so ist die Kardiognostik jedoch nicht allein mit den komplexen Phänomenen von Stellung und Verstellung und deren Erkenntnis befaßt. Die basale, von den (Ver-)Stellungen zunächst unabhängige Aufgabe der kardiognostischen Bemühungen besteht darin, einen klugen Umgang allererst zu ermöglichen. Es geht darum, daß die Personen, mit welchen der politicus umgehen will oder muß, eine ihnen angemessene Behandlung erfahren: »Denn, indem das Naturel der Menschen gewaltig variiret, so muß man nicht alle Leute auf einerley Art tractiren, sondern sich nach eines jeden Genie richten.«99 Dem >Genie< heißt der Eigentümlichkeit einer Person Rechnung tragen; dies jedoch nicht allein, um der so traktierten Person einen Gefallen zu tun. Die traktierende Person setzt sich vielmehr auf diese Weise selbst in ein günstiges Licht; sie erhöht durch die adäquate Behandlung, die sie anderen zukommen läßt, die eigenen Wirkungen.100 Wichtig wird ein solches Vorgehen insbesondere dann, wenn Anerkennung und spezieller: Reputation die anvisierten Effekte vorstellen. Mit der Erforschung des Gegenübers erhöhen sich die Chancen des Erfolges. Die Rhetorik, auch in diesem Punkt von der Politik beerbt, hatte der Überzeugung durch die Rede eine Analyse der Stimmungen und Neigungen der 97 98

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Müller, Balthasar Gracians Oracul, 89. »Prudentia exploratoria, Oder Von der Kunst/ anderer Gemüther zu erforschen«, liest man bei Heumann, Der Politische Philosophus, 1. Aufl., 1714, 33. - In der dritten überarbeiteten Auflage von 1724 heißt besagte exploratorische Kunst dann »Prudentia cardiognostica« (Heumann, Der Politische Philosophus, 31724, 55). Heumann, Der Politische Philosophus, 1724 (im folgenden wird diese Angabe zitiert), 56. Diesen Mechanismus macht sich das Complimentierwesen zunutze. — Vgl. dazu Manfred Beetz, Komplimentierverhalten im Barock. Aspekte linguistischer Pragmatik an einem literarhistorischen Gegenstandsbereich, in Wolfgang Frier (Hg.), Pragmatik. Theorie und Praxis, Amsterdam 1981,135-181; außerdem: Karl-Heinz Göttert, Legitimationen für das Kompliment. Zu den Aufgaben einer historischen Kommunikationsbetrachtung, in: DVjs 61 (1987), 189-205.

Listige Zeichen und probabilistische Interpretationen

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Zuhörer vorangestellt. Neben dem Ort der Rede, ihrem Zeitpunkt und Anlaß sowie der Person des Redners selbst bilden die Zuhörer den zentralen außersprachlichen Bezugspunkt, der ins Wirkungskalkül eingeht. Cicero verdeutlicht die Notwendigkeit genauer Beobachtung und Analyse des Gegenübers am Beispiel eines gewissenhaften Arztes, der seinen Therapien eine genaue Diagnose des Patienten und seiner Krankheit vorangehen läßt. Eine entsprechende diagnostische Beobachtung ist auch dem Gerichtsredner zu empfehlen; er hat sie seinen Aktionen zugrundezulegen. Denn die Überzeugung der Richter erfordert über gute und stichhaltige Argumente hinaus Kenntnis der richterlichen Vorlieben und Abneigungen, Stimmungen und Erwartungen. Die »Gemüther der Richter« habe der Redner in seine Gewalt zu bekommen, übersetzt Heinze den betreffenden Passus in seiner De Ora/ori-Übersetzung aus dem Jahr 1762.101 Mit dem hier verwendeten Terminus >Gemüth< ist jedoch nicht nur die >Identität< eines Charakters, sondern auch die augenblickliche und flüchtige Neigung gemeint, die durch kleine Hinweise und scheinbar unbedeutende Zeichen Zustimmung und Ablehnung kaum merklich signalisiert. Auf sie bezieht sich der Gerichtsredner in seiner Funktion als Gemütsbeobachter; flexibel antwortet er auf das, was ihm nicht eigentlich bedeutet worden ist. Läßt der Richter eine Neigung erkennen, die dem Verteidiger für sein eigenes Vorhaben günstig erscheint, so nimmt er »den Vortheil inacht« und richtet die »Seegel« so, wie »der Wind blaset«.102 Dieses Bild, das in der Emblematik des 17. Jahrhunderts für politische Wendigkeit steht, ist als Illustration also bereits bei Cicero einem strategisch-politischen Kontext zugeordnet. Bei Heumann heißt es dann, bezogen auf die Nutzanwendung kardiognostischer Beobachtungen: »Denn, wenn ich einen recht kenne, so weiß ich [...] wie ich mit ihm umgehen muß, wenn ich ihn zu meinem Willen [...] bringen will.«103 Das kardiognostisch-rhetorische Kalkül von Überzeugung und Überredung, des Geneigtmachens und der Affekterregung wird nun von Heumann sogleich auf eine Situation appliziert, welche durch Statusdifferenzen und Hierarchien entscheidend markiert ist. Entweder nämlich soll die erforschte Person »gehorchen« oder, das andere Extrem, »mein Patron seyn«.104 Schon die höfisch-politische sowie die honnete Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts hatten dem Insinuanten eine Art rudimentäre Kardiognostik ans Herz gelegt: Für Castigliones Hofmann etwa heißt das, daß er jeweils zu erforschen habe, was dem Fürsten ge- oder mißfällt, um sich dessen Entscheidungen und Nei101

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Marci Tullii Ciceronis Drey Gespräche von dem Redner. Aus dem Lateinischen übersetzt und mit Anmerkungen erleutert von Johann Michael Heinze, Helmstädt 1762, 317. Ebd., 318. Heumann, Der politische Philosophus, 56. Eine solche Sicht der Dinge wird im 17. und 18. Jahrhundert auch als Pathologie beschrieben. Ebd., 57.

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gungen möglichst unauffällig anzupassen. Das nämlich, so die Prämisse, sichere ihm des Fürsten Gunst. Faret formuliert dann allgemeiner, daß, wer gefallen wolle, die Neigungen dessen kennen müsse, dem zu gefallen er beabsichtigt. Gespräche und Themen lassen sich so dem Gemüt der betreffenden Person entsprechend einrichten, ohne daß diese zu deutlicher Artikulation ihrer Vorlieben und Abneigungen gezwungen wäre.105 Wie Heumanns Hinweis auf den >Patron< beweist, empfiehlt es sich gerade Abhängigen, die Gemüter derer zu erforschen, von denen sie abhängen - »welche Regel denenjenigen fürnehmlich nöthig ist, deren glück in anderer menschen bänden ist«, liest man in Müllers Übersetzung von Graciäns 77. Maxime.106 Die anpassungsfähige untergebene Person verbindet mit der Kardiognostik die eigene (Ver-) Stellung: »Man lerne gleichsam dem strohme in der weit nachschwimmen, dadurch daß man sich politischer weise in mancherley gestalten zu verwandeln wisse«. Den »Proteus« zu spielen, bedeute dann: »allen allerley zu werden«107 — allen, auf die es ankommt. Neben diese ständisch akzentuierte Nutzanwendung der Kardiognostik tritt auch bei Heumann die politische als bedeutende Variante, die nicht allein auf die Berücksichtigung ständischer Relationen, sondern daneben auch derjenigen Interessen abzielt, die bei Müller als Gegenstand situativ-flexiblen politischen Engagements herausgestellt wurden. Es gilt zu erforschen, »ob« und »wie weit« der Mensch quaestionis sich »zur Freundschafft schicke [...] und worinnen ich mich vor ihm in acht zu nehmen habe«.108 Gefahr und Wohltat, Zu- und Abneigung, Freundschaft und Feindschaft schlummern in einer Person, und damit ist dem einzelnen mehr abverlangt, als sich, ausgehend von einem konsequent ständisch bestimmten decorum, stets konform zu verhalten. Mit ihren Differenzen und Abstufungen verspricht die Kardiognostik Heumanns weitreichende Anwendungsmöglichkeiten: von der komplimentartigen, dem jeweiligen Gegenüber entgegenkommenden angenehmen Gesprächsführung über die Beachtung des ständisch bestimmten decorum bis hin zur Wahrnehmung des politischen Interesses. Da aber diese Applikationen nicht im einzelnen auszubuchstabieren sind, müssen die Regeln und Anweisungen der Kardiognostik so einfach und basal wie universell sein. Eine solche universelle Orientierung stellt Heumann durch die Temperamentenlehre bereit, welche spätestens seit della Porta Teil einer — statt auf Weis- und Vorhersagung - auf Charakterbestimmung und »Menschenkenntnis«109 abzielen-

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Bierling, L'honneste Homme [...] durch einen grossen Hoff=Mann Den Herrn Faret herausgegeben, 118. Müller, Balthasar Graciäns Oracul, 586. Ebd., 585. Heumann, Der Politische Philosophus, 57. Vgl. dazu Fülleborn, Abriss einer Geschichte und Litteratur der Physiognomik, 173.

Listige Zeichen undprobabilistische Interpretationen

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den Physiognomik ist. Melancholicus, Cholericus, Sanguineus und Phlegmaticus, jene vier Temperamente - welche voneinander durch die Konstellation der humores, der »Vermischung der unterschiedenen Theile, woraus das Geblüte des Menschen bestehet«,110 unterschieden sind - geben sich, und das macht sie für die politische Kardiognostik interessant, auch äußerlich zu erkennen. Die cholerische, melancholische, sanguinische oder phlegmatische Komplexion zeigt sich als temperamentum carports1^ etwa in der Gesichtsfarbe: Ein cholerisches Temperament ist beispielsweise von schwärzlich-roter Farbe, ein phlegmatisches hingegen »weiß und blaß«. Die Reihe der äußeren Zeichen, die als Indizien taugen, läßt sich verlängern: Neben der »Farbe des Gesichts« ist auf die »Sprache« zu merken, womit hier die Stimme gemeint ist, auf die »Augen« und die »Leibesgestalt«.112 Mit diesen habituellen Eigenheiten sind die physicalischen Kennzeichen erfaßt, denen die moralischen Kennzeichen an die Seite gestellt werden, welche vom temperamentum atiimaem Kenntnis geben. Diese verdanken sich dem influxus physicus, einem Einfluß, welchen das Geblüt auf die Seele nimmt. Das temperamentum animae umfaßt sowohl das temperamentum intellectus (ingenium, iudicium, memoria) als auch das temperamentum voluntatis, das Temperament des Willens, welches die eigentlich moralisch charakterisierten Eigenschaften impliziert. Moralische Eigenart und physicaltsche Kennzeichen sind nun in einer festen Zuordnung aufeinander bezogen; die Temperamente des Leibes, äußerlich prägnant, werden auf die »Haupt=Affecte«, jene von Thomasius her bekannten Typen des Ehrgeizes (bei Heumann »Ehrsucht« genannt), des Geldgeizes (»Geitz« bei Heumann) und der Wollust appliziert: »Zu unserm Propos ist genug, zu wissen, daß ein Melancholicus den Geitz, ein Cholericus die Ehrsucht, ein Sanguineus und Phlegmaticus die Wollust, und zwar jener eine hitzige, dieser eine schläffrige, zum Haupt=Affecte hat.«114

Mit dieser Applikation ist der Sprung vom Außen, den körperlichen Signifikanten, zum Innen, den moralisch-sittlichen Qualitäten des Willens getan. Die »Haupt=Inclination«,115 die zu kennen lebenswichtig sein kann, läßt sich auf diese Weise erschließen. Aufmerksamkeit auf die körperlichen Zeichen und Erforschung des Gegenübers »aus seinen Worten und aus seinen Wercken«116 machen es diesem schwer, seine Neigung(en) zu verheimlichen. Und das gilt eben auch für jene Typen, denen Stellung und Verstellung charaktermäßig eig110

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1H

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Art. »Temperament«, in: Zedler, Grosses vollständiges Universal Lexicon, Bd. 42, 1744, Sp. 763. Art. »Temperament des Leibes«, ebd., Sp. 764--772. Ebd., Sp. 766. - Vgl. Heumann, Der Politische Philosophus, 58. Art. »Temperament des Leibes«, Zedler, Grosses vollständiges Universal Lexicon, Bd. 42, Sp. 772. Heumann, Der Politische Philosophus, 57. Ebd., 56. Ebd., 61.

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Die Kardiognostik der Frühaufklärung

net. Der Ehrgeitzige »kan sich sehr verstellen«,117 er dissimuliert und schweigt allzuviel, wie es bei Thomasius hieß, er wahrt - ein insbesondere dem Hofmann und dem politicus zuträgliches Verhalten — das decorum, gelegentlich zu Lasten der Wahrheit. Auf diese moralische Disposition soll nun die Gesichtsfarbe einen ersten Hinweis geben: Der Ehrgeizige ist cholerischen Temperaments; diese Komplexion zeigt sich in schwärzlich-roter Gesichtsfarbe und markiert fernerhin in charakteristischer Weise Stimme, Blick, Gestalt, Haut und Gang. Neben dem Ehrgeizigen ist der Geldgeizige - melancholischer Komplexion — der eigentliche Schauspieler: Er »kan sich anders stellen, als es ihm ums Hertz ist«.118 Doch auch für dessen habituell-verstelltes Raffinement gilt, daß es äußerlich ablesbar ist. Zwar ist mit einer solchen Lektüre nicht zu erfassen, was er dissimuliert und warum, mit welchem Motiv und welcher Absicht er von Verstellung Gebrauch macht. Fest steht allein, daß er es tut. In diesem Sinne sind die äußerlichen Zeichen eben nicht betrügerisch, sind sie nicht leer und unbekannt, nicht unlesbar und verstellt, wie Gracians Criticon es in einigen Passagen skeptizistisch zu verstehen gab. Wer sich den Zeichen mit Aufmerksamkeit zuwendet, sie auf ihre Verweisungen und ihre Kompatibilität hin prüft, wird ihrer Bedeutung habhaft. Die Unsicherheit einer ins Leere gehenden Lektüre läßt sich mit Hilfe der Temperamententabelle in ein relativ gewisses Urteil überführen. Mag der simulierende Geldgeizige sich auch mit der Maske der Aufrichtigkeit zu tarnen suchen, so wird doch, an seinen Anstrengungen vorbei, deutlich, daß er »sinceriret«.119 Denn alle Signale, insbesondere die, auf welche er keinen Einfluß hat (Gesichtsfarbe und Stimme etwa) sprechen gegen ihn. Die Zeichen des temperamentum corporis sind beredter als das, was der Simulant in Willkür und Freiheit gegen diese unbestechlichen Zeugen seines Temperaments zu setzen vermag. Schon die Temperamentenlehre selbst weist auf die den vier Temperamenttypen zuzurechnenden sozialen Eigenarten, auch auf deren Anteile an den Operationen politischer List hin: Unter den Titeln »Gegen die Freunde« und »Gegen die Feinde« rubriziert Wolffgang Trier das erwartbare Verhalten der vier Komplexionen: »Tückisch« verhalten sich cholerisches und melancholisches Temperament gegen Freunde; »Offenhertzig« demgegenüber sanguinisches und phlegmatisches.120 Schon im Kontext freundschaftlichen Verkehrs ist also die politische Dimension der Tücke des cholerischen und des melan117 118 119 120

Ebd., 63. Ebd., 64. Ebd., 65. Johann Wolffgang Trier, Kurtze Fragen Von den Menschlichen Neigungen/ Darinnen von deren Ursprung und Würckungen auf eine besondere Art gehandelt/ und zugleich angewiesen wird/ wie man dieselben so wohl an sich als an ändern erkennen könne/ auch sich sonsten im gemeinen Leben dißfalls zu verhalten habe. Zum ändern mahl aufgelegt, Leipzig 1709,198.

Listige Zeichen und probabilistische Interpretationen

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cholischen Temperaments präsent. Mit dieser Information, die zugleich auch Warnung ist, verbindet sich eine Art Klugheitsanweisung: Trier gibt auf die Komplexionstypen bezogene »Mittel« an, welche je deren »Gewogenheit zu erhalten« versprechen. »Tieffer Respect«121 wäre etwa diejenige kluge Haltung, welche den Cholericus gewogen stimmen kann. In nuce findet sich hier in Triers Temperamentenlehre jene Klugheit, welche Heumann als Antwort auf die Herausforderung der Temperamentendiagnose zur Verfügung stellt: Es lassen sich »leichtlich allerhand Regeln der Klugheit formiren«122 — nur einige von ihnen will Heumann zur Probe anbieten. Politische Klugheit ist deshalb sinnvoll möglich, weil den beobachteten Zeichen Bedeutung zugewiesen wird und ihre unendlichen Verweisungen sich, wie gesehen, durch die normierte Applikation von Temperamentszeichen und moralischer Disposition arretieren lassen. Diese arretierende Applikation, auf welche politisches Handeln sich stützt, wird jedoch sowohl in Kontexten der ars conjectandi hominum mores als auch in denen politischer Klugheit als zunehmend problematisch herausgestellt: Johann Christian Barths Galante Ethica, ein in der Tradition der Klugheitslehren stehender, noch 1748 in zweiter Auflage erscheinender Text, hat die gängige Skepsis gegenüber der Temperamentenlehre aufgenommen, ohne sich jedoch von ihr gänzlich zu verabschieden. Vielmehr gibt Barth die Kardiognostik als politisches Instrumentarium aus. Als »Physicalische Mittel« behandelt er das temperamentum corporis bzw. dessen Erkundung am Material der einschlägigen Zeichen. Die bei Heumann an dieser Stelle sich anschließende Applikation von Temperament und Charakter, von temperamentum corporis und temperamentum voluntatis, wird bei Barth jedoch nicht automatisch vollzogen, sondern als problematische Operation diskutiert. Barth bringt nachdenklich kritische Argumente ins Spiel: Mit dem Zitat einer Bemerkung von Johann Christoph Rüdiger zieht er in Zweifel, daß aus den Zeichen des körperlichen Temperaments auf den Willen, auf das moralische Temperament also, geschlossen werden kann: »Complexionem & temperamentum physicum ex corporis aliis phaenomenis, colore, obesitate, capillorum diversitate judicari posse, concedo, indolem animi & voluntatis inde conjici posse, nego.«123 Barth läßt sich von dieser entschiedenen Position des Temperamentenlehre-Kritikers Rüdiger jedoch nicht vollständig bestimmen. Er hält letztlich daran fest, »daß das Temperament und die Neigungen einige Verwandtschafft mit einander haben«.124 Hilfreich - und das könnte das Motiv für Barths bloß halbherzigen Vorbehalt sein — ist eine solche Verwandtschafts-Hypothese ins121

Ebd., 109.

122

Heumann, Der Politische Philosophus, 65. Barth, Galante Ethica, 25. Ebd.

123 124

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Die Kardiognostik der Frübaufklärung

besondere in politischer Hinsicht: Die Aufmerksamkeit auf die Signale des Temperaments impliziert zum einen politische Wachsamkeit überhaupt. Zum anderen kann die politisch akzentuierte Temperamentenlehre mit ihren Vorkehrungen darüber hinaus vor den größten Gefahren und Fehlern bewahren: Mit der systematischen Konzentration auf den Typus des tückisch-verstellten Melancholicus institutionalisiert sie neben der Wachsamkeit auch das (wohl dissimulierte) Mißtrauen, jene politische Tugend, welche Heumannn so prägnant herausstellte. Die mißtrauische Beobachtung sucht, insbesondere dann, wenn sie eine Person »das erste mahl zu Gesichte bekommet«125 und sich somit auf keinerlei Erfahrung und Information stützen kann, Halt an den sich dem ersten Blick darbietenden Zeichen. Um solchem Orientierungsbedarf entgegenzukommen, bringt Barth, seiner im Anschluß an Rüdiger geäußerten Skepsis ungeachtet, die Signaturen der Temperamente zum Einsatz. Von der Farbe des Gesichts bis hin zu den Augen werden die Komplexionen auf ihre Kennzeichen hin durchgemustert. Mit der üblichen Applikation auf Ehrgeiz, Geldgeiz und Wollust wird die innere, intellektuelle und moralische Eigenart eines Temperamentträgers zugänglich. Auf diese Weise, so verspricht Barth, läßt sich »hinter die Wahrheit« einer (sich verstellenden) Person kommen, wenn dies auch in methodischer Hinsicht mit bloß »wahrscheinlichen Mitteln«126 bewerkstelligt werden kann. Barth stellt Wahrheit nicht zuletzt deshalb in Aussicht, um der Politik weiterhin Chancen einzuräumen. Das Wahrheitsversprechen der Kardiognostik ist indes nicht unumstritten — ein Sachverhalt, der auch lexikographisch verzeichnet ist: Wie die »Muthmassung«, so das Lemma in Zedlers Universallexikon, die conjectura überhaupt, so urteilt auch die dort aufgeführte moralische Mutmaßung, welche des Menschen »Gemüths=Art, so wohl in Ansehung des Verstandes, als Willens« zum Gegenstand hat, »mit einer solchen Gewißheit, die noch einige Ausnahme leidet«;127 mit anderen Worten: Im Begriff der Konjektur liegt, daß sie (bloß) wahrscheinlich ist. Und eben dies hält auch der bereits genannte Artikel »Politische Wahrscheinlichkeit« fest. Die im Mutmaßungs-Artikel verwendete Terminologie von temperamentum intellectus (»in Ansehung des Verstandes«) und voluntatis (»als Willens«) ist zwar noch die der Temperamentenlehre, doch läßt sich daraus nicht schließen, daß diese auch als Konzept vertreten wird. Denn seit den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts wird die Temperamentenlehre im Rahmen der ars conjectandi hominum mores als unbrauchbar kritisiert. Gegen das starre Zuordnungsschema von Temperament (temperamentum carports) und Moral (Ebrgeit^ Geldgeify Wollust) wird eine neue ErfahrungsgevfiRheit 125 126

127

Ebd. Ebd., 26. Art. »Muthmassung«, in: Zedler, Grosses vollständiges Universal Lexicon, Bd. 22, 1739, Sp. 1583.

Listige Zeichen und probabilistische Interpretationen

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gesetzt, welche — zunächst negativ verfahrend — nachzuweisen versucht, daß die Temperamentenlehre widersprüchlich und inkonsistent ist. Der neue Maßstab, an welchem die Leistung der alten Lehre sich messen lassen muß, sind die Erfahrungen, die Empirie der data. Mit diesen konfrontiert, soll sich an der Temperamentenlehre erweisen, daß sie sich zur Beschreibung der Wirklichkeit nicht eignet. Deren Evidenzen sollen fortan anderer Art sein. Die Hypostasierung von Erfahrung, Wirklichkeit und Empirie führt Argumente des folgenden Typs gegen die Tabellen der Temperamente ins Feld: »Mancher«, so heißt es etwa, der »ein hitziges Geblüte« hat, »ist deswegen doch nicht ehrgeitzig«.128 Mit dem hitzigen Geblüt ist hier der Temperamententypus des Cholericus gemeint, dessen Element das Feuer und dessen primae qualitates gewöhnlich mit: »Trocken und warm«129 angegeben werden; das temperamentum voluntatis ist mit der Haupteigenschaft des Ehrgeizes bestimmt. Doch gerade einer solchen Zuordnung scheint nun »die Erfahrung im Weg zu stehen«,130 denn es ist evident, daß der hier beobachtete und exemplarisch vorgeführte Hitzige nicht ehrgeizig ist. Im Namen von Erfahrung und Evidenz lassen sich nun weitere Beobachtungen anschließen, welche die Temperamentenlehre als bloß papiernes, nach Maßgabe tabellarischer Anordnung konstruiertes und gegen jede Empirie abgedichtetes Gebilde erscheinen lassen.131 b) Angriffe auf die Temperamentenlehre: Julius Bernhard von Rohrs Kunst der Menschen Gemüther %u erforschen. Ein Werkzeug des >gemeinen Lebens< An diesem Geschäft einer Kritik der Temperamentenlehre ist die Kunst der Menschen Gemüther %u erforschen des Julius Bernhard von Rohr maßgeblich beteiligt. Im achten Kapitel seiner 1732 schon in vierter Auflage erscheinenden Schrift gibt er ganz im Tenor des zitierten Einwandes zu bedenken, daß erfahrungsgemäß Personen phlegmatischer Komplexion existierten, deren Gesicht gleichwohl von »rother Farbe« sei.132 Dieses Datum ist deshalb signifikant, 128 129 130 131

132

So: Art. »Temperament des Leibes«, in: Zedler, Universal Lexicon, Bd. 42, Sp. 771. Trier, Kurtze Fragen Von den Menschlichen Neigungen, 192f. Art. »Temperament des Leibes«, Zedler, Universal Lexicon, Bd. 42, Sp. 771. Diese Kritik geht wesentlich auf eine von Gottlob Haenisius verfaßte Dissertation zurück, die im Jahre 1712 sub praesidio Friedrich Mentz' verteidigt wurde: Meditatio philosophica de temperamentis, indulgente incluto philosophorum ordine, sub praesidio M. Fridrici Mentz, in eodem collegio assessoris, ad disputandum proposita ab auctore Gottlieb Haenisio [...], Lipsiae 1712. Julius Bernhard von Rohr, Unterricht Von der Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen, Darinnen gezeiget, In wie weit man aus eines Reden, Actionen und anderer Leute Urtheilen, eines Menschen Neigungen erforschen könne, Und überhaupt untersucht wird, Was bey der gantzen Kunst wahr oder falsch, gewiß oder ungewiß sey. Die vierte und vermehrte Auflage, Leipzig 1732, 316. - Die erste Auflage dieses Textes stammt aus dem Jahr 1714.

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Die Kardiognostik der Frühaufklärung

weil die Temperamentenlehre für Phlegmatiker eine weißlich-blasse Hauttönung vorsieht. Gegen Rohrs Beobachtung ließe sich nun freilich von sehen der Temperamentenlehre einwenden, daß es sich bei der betreffenden Person möglicherweise gar nicht um ein phlegmatisch dominiertes Wesen handelt, die vorausgesetzte Diagnose mithin falsch ist. Streiten ließe sich dann etwa über die zur Typisierung benutzten Daten, über die Instrumente, Kategorien und Methoden ihrer Erhebung, auch über deren Gewißheit. Selbst die Ausnahmen, welche die Regel wiederum ins Recht setzen, ließen sich zur Rechtfertigung vorbringen. Doch Rohr scheint an einer solchen Auseinandersetzung nicht gelegen zu sein: Es kommt ihm vielmehr darauf an, eine offenkundige, klar zutage liegende Inkompatibilität von Temperamentenlehre und Erfahrungsevidenz effektiv herauszustreichen.133 Als desavouierendes Faktum muß erscheinen, daß die Personen, welche realiter zu beobachten sind, in den Büchern der Temperamentenlehre nicht vorkommen (dürfen). Rohrs achtes Kapitel, überschrieben mit: »Von dem Ungrunde derer vier Temperamenten«,134 stellt den Versuch dar, die Temperamentenlehre als kardiognostisches und politisches Instrument zu verabschieden: Daß die Temperamentisten mit ihrer Vermutung, im Blute eines jeden befänden sich gewisse »Theilgen«, welche für das Temperament zuständig sind, Recht haben könnten, nimmt Rohr großzügigerweise noch zu ihren Gunsten an, wenn er auch einwendet, daß die >TeilchenLob< der traditionellen Lehre satirisch eingefärbt von der überlegenen Kritik des Frühaufklärers: Die Adern sollen, ebenso wie die von der Chiromantie zu prüfenden Hände und die von der Pedoposcopie zu unter137 138 139

Ebd. Ebd., 314. Ebd., 315.

142

Die Kardiognostik der Frühaufklärung

suchenden Füße, nun im hellen Licht der Aufklärung, welches Rohr auf die Tradition fallen läßt, als Gegenstände erscheinen, mit denen ein augurenartiger Aberglaube hantierte. Polemisch spielt Rohr hier auf die neben der Charaktererkenntnis übliche Schicksalsweissagung (von der die politisch genutzte Temperamentenlehre freilich gar keinen Gebrauch macht) an, in der Absicht, die Temperamentenlehre insgesamt zu diskreditieren. Rohrs Kardiognostik verspricht, wie nun seine Klugheitslehre in ihrem 24. Kapitel (»Von Erforschung andrer Leute Gemüther«) ankündigt, »in dem gantzen menschlichen Leben [...] unausbleiblichen Nutzen, vornehmlich aber in Heyrathen, Staats=Geschafften, Schliessungen der Contracte, Mietungen des Gesindes u.s.w.«140 Die Möglichkeit des Und-so-weiter ist das >Gütesiegel< der Rohrschen Klugheit: Im Anschluß an seine Aufzählung, welche in der aristotelischen Tradition praktischer Philosophie Liebe, Staat und Gesinde aufführt, lassen sich nun beliebige weitere Beziehungen und Situationen assoziieren, in welchen es ratsam erscheint, die kluge, politische Perspektive einzunehmen. Weit entfernt, auf ein Modell der Dissoziation von öffentlicher und privater Sphäre hinzuarbeiten und/oder den politischen Orientierungsansprüchen eines Thomasius oder Barth nachstehen zu wollen, ist es Rohrs Absicht, diejenigen Hindernisse aus dem Wege zu räumen, welche alle kardiognostischen Unternehmungen bislang zum Scheitern verurteilt hatten: Simulation und Dissimulation. Schon das erste Kapitel seines Unterrichts von der Kunst der Menschen Gemüther %u erforschen, das allgemein über die ars conjectandi hominum mores unterrichtet, ist von Reflexionen auf die möglichen Hindernisse dieser Kunst durchsetzt: Nicht nur die Temperamentisten, auch Thomasius, der sich in seiner kardiognostischen Wissenschaft, wenngleich nicht systematisch, der körperlichen Zeichen der Temperamente bediente, täusche sich, wenn er vorgebe, aus einer »eintzigen Mine«141 die Passionen des Mienenträgers erschließen zu können. Das zweite Kapitel der Rohrschen Kardiognostik entfaltet dann das Thema »Von der Stellung und Verstellung« in allen seinen Facetten und Diffizilitäten. Zahlreich - so informiert eine Art phänomenologischer Bestandsaufnahme — seien die Verstellungsarten, unüberschaubar die Personen und Personengruppen, welche sich ihnen verschreiben:142 Es verstellen sich die Frauen vor ihren Männern, es verstellen sich die Stellenanwärter, wenn sie Hoffnung auf ein Amt haben, es verstellen sich unter diesen selbst die liederlichsten Studenten der Theologie, wenn sie Aussicht auf Pfarrdienste

140

141 142

Julius Bernhardt von Rohr, Einleitung Zu der Klugheit zu leben. Oder Anweisung, Wie ein Mensch zu Beförderung seiner zeitlichen Glückseeligkeit seine Actiones vernünfftig anstellen soll, Dritte Auflage, Leipzig 1730, 502. - Die erste Auflage stammt von 1715. Kardiognostik und Klugheit werden also fast parallel behandelt. Rohr, Unterricht Von der Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen, 8. Ebd.,45ff.

ästige Zeichen und probabilistische Interpretationen

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haben, es verstellen sich die Nicht-Christen in Christen, die Versteller mithin in Aufrichtige. Mit präzisem Aufmerken auf die Worte, die Handlungen und Gepflogenheiten, auf das Verhalten in betrunkenem und nüchternem Zustand, in Gesellschaft und Einsamkeit, Höheren und Niedrigeren, Freunden und Feinden gegenüber, sowie auf weitere actiones, welche die Moral der betreffenden Personen verraten, ist der Kardiognostiker zwar ausreichend beschäftigt, doch gelangt er mit dieser sowohl systematischen als auch umständlichen Beobachtung nicht immer ans Ziel seiner Wünsche. Die Verstellung steht noch immer im Wege. Eher halbherzig übernimmt Rohr deshalb als weiteres Hilfsmittel die Prämisse des Thomasius, welche besagt, daß die wahren, von Herzen gehenden und damit der Hauptpassion entsprechenden Äußerungen sich natürlich ausnehmen, vergleicht man sie mit den ge- und verstellten, welche »gezwungen«143 erscheinen. Ein Gefühl, ein je-ne-sais-quoi soll — die übrigen eher systematisch-rationalen Recherchen flankierend - entscheiden. Doch diesem Gefühl und seinem Differenzierungsvermögen nur halbwegs trauend, bringt Rohr die aus dem 16. und 17. Jahrhundert bekannte Skepsis ins Spiel, welche um die Raffinessen der dissimulatio artis weiß und darauf antwortet. In ihren Worten wendet er ein, daß so »manches Menschen Simuliren ziemlich natürlich läßt«144 —ohne allerdings wegen dieses Einwands auf die von Thomasius vorgeschlagene Pseudo-Methode ganz verzichten zu wollen. Außer der umständlichen Beachtung von Kleidern und Möbeln, Gepflogenheiten und Schriften, dem Vergleich signifikanter Situationen und der systematischen Befragung anderer Personen und außer jenem zuletzt genannten bewußt vagen Gefühl für Natur und Natürlichkeit sieht Rohr noch ein weiteres Mittel vor: die »Physiognomie«. Die 3. Auflage seines Unterrichts Von der Kunst der Menschen Gemüther ^u erforschen kündigt dieses erstmals an.145 Physiognomie meint dabei sowohl den Gegenstand der Untersuchung, nämlich die »Glieder des gantzen menschlichen Leibes«, die »Theile des Gesichtes«146 eingeschlossen, als auch die diesem Gegenstand adäquate Methode. Die ältere Physiognomik des ausgehenden 16. und 17. Jahrhunderts hatte, teilweise in Konkurrenz zur Astrologie, die Temperamentenlehre verwendet, um aus den Temperamenten die Charaktertypen ableiten zu können.147 Nicht mit der Temperamentenlehre, sondern in Konkurrenz zu ihr konzipiert Rohr seine Physiognomie. Mit dem Rückgang auf die Physiologie, insbesondere auf das Gesicht und die Mine, schafft er ein Äquivalent zu den signifikanten Zeichen des tem143 144

145

146

147

Ebd., 57. Ebd. Rohr, Unterricht Von der Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen, 1732 (Erinnerung. Bey der dritten Auflage). Ebd., 317. Vgl. Fülleborn, Abriss einer Geschichte und Litteratur der Physiognomik, 120 u. 129.

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Die Kardiognostik der Frühaufklärung

peramentum carports, jenen Merkmalen, welche sich einem ersten Blick schon erschließen und sich durch Stellung und Verstellung nicht überlisten lassen. Rohr resümiert somit auf neue Weise die der Temperamentenlehre zugrundeliegende Relation von >Innen< und >AußenGemüths=Disposition und äußeren Zeichen voraussetzte bzw. die Zeichen als Indikatoren für das vorherrschende Temperament las, geht die Physiognomik Rohrs einen anderen Weg: Ihr Ausgangspunkt nämlich ist, daß die Gemütsdisposition sich in den Mienen nicht allein %eigt, sondern für deren Zustandekommen und deren Charakter allererst sorgt. Die einer charakterlichen Disposition entsprechenden Affekte prägen sich, da sie habituell aufzutreten pflegen, einem Gesicht ein und bringen so den Charakter zur Erscheinung. »Wenn nun ein Mensch zu einem gewissen Affect sehr geneigt ist, so wiederholet er die Minen, die aus der Natur des Affects fließen, gar offters, und durch diese offtere Wiederholung werden die Züge des Gesichts, die Musculen und die Nerven so darnach eingerichtet, daß man einem solchen Menschen, ohne daß er in dem Affect ist, oder dieselben Minen macht, doch offters seine Passion ansehen kan.«148

Der influxusphysicus wirkt einseitig, in einer Richtung: von innen nach außen. Die zwischen Korrespondenz und Kausalität changierende Beziehung, welche die Temperamentenlehre für das Verhältnis von Disposition und äußerlichen Kennzeichen annahm, vereindeutigt Rohr in seiner Physiognomik zu einer Kausalitätsbeziehung. Doch nicht die Materie der im >Geblüt< befindlichen wässrigen, irdischen, öligen und salzigen Tbeilgen ist verantwortlich für das, was sich an einer Person, insbesondere hinsichtlich deren intellektueller und moralischer Eigentümlichkeiten, wahrnehmen läßt. Im Modell der Rohrschen Physiognomik sind diese einer Entscheidung unterstellt. Damit ist für die Position des Willens als derjenigen Instanz, welche begründet Entscheidungen trifft, einiges gewonnen: Er ist nicht mehr bloß Folge oder Ausdruck einer materiell und von Natur bestimmten Eigenschaftskomplexion, er ist vielmehr deren ursächlicher Grund. Vor dem Hintergrund willensmäßiger Entscheidungsfreiheit erscheint die Stelle, welche die Temperamentenlehre dem Willen zuwies, als seiner Kapazität nicht würdig. Ähnliches gilt auch für den Verstand, die zweite Größe des temperamentum animae. Johann Georg Walchs Philosophisches Lexicon stellte - darin mit Rohrs Kritik einig - das entscheidende 148

Rohr, Unterricht Von der Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen, 319. Diese Habitualisierungsthese wird in modifizierter Form Kant gegen Lavaters Physiognomik ins Spiel bringen; vgl. dazu Kap. VII.

Listige Zeichen und probabilistische Interpretationen

145

Manko der Temperamentenlehre heraus, wenn er diese beschuldigt, eben jene Freiheit des Willens, welche im neuen Paradigma als Apriori gilt, durch die Annahme fataler, materieller Determination unterlaufen zu haben. Aus dieser Annahme mußte »folgen, daß die Verbesserung des Verstandes und Willens vergebens, indem wir nichts dabey thun könnten, wenn deren Beschaffenheit von dem Geblüte dependiren soll«.149 Die strikte Ablehnung einer solchen unveränderlichen Abhängigkeit des Menschen von seinem >Geblüt< motiviert Walch zu einer einfachen, aber folgenschweren Konsequenz, welche auch Rohr, wie gesehen, gezogen hatte: »Auf solche Weise halten wir dafür, es sey besser, wenn man den Grund des Naturells, des Verstandes und des Willens in der Seele selbst suche.«150 Mit dieser Umstellung von natürlicher Determination auf die Voraussetzung willentlicher Freiheit ist der Frühaufklärung der Weg geebnet: Sowohl das Apriori selbstbestimmter Entscheidung als auch die Vorstellung von Aufklärung und Erziehung, welche »eine Aenderung verursachen«151 können, sind auf diese Weise gesichert. Die Temperamentenlehre ging demgegenüber von der Unveränderlichkeit der Komplexionen aus: »einmal von Natur gesetzet, [...] sollen sie auch beständig bleiben, daß also darinnen keine Veränderung vorgienge.«152 Die im Rahmen der Temperamentenlehre vorgesehenen Veränderungen sind bloß diätetischer Art: Herbeigeführt werden sie durch >kosmetische< Einflußnahmen auf den physischen Haushalt, ohne doch dabei das Temperament tangieren zu können. Mit der Neubestimmung des Charakterbegriffs ist eine weitere, nicht minder bedeutsame Neuerung verbunden: Die alte Dreier-Schematik von Ehrgeiz, Geldgeiz und Wollust löst sich zugunsten flexibler, nicht länger nach dem Muster der drei Passionen zu kombinierender Eigenschaften auf. So können in Rohrs Physiognomik Ehrgeiz, Falschheit und Rachgier ohne hierarchische Anordnung nebeneinander stehen. Im Zuge der Aufweichung des Passionenschematismus bilden sich außerdem neue Gravitationszentren: die von Aufrichtigkeit und Tücke, von aufrichtigem und falschem Charakter. Mit der hier im Rahmen der Kardiognostik sich vollziehenden Ablösung der Temperamente und Passionen durch den Charakter beginnt eine Entwicklung, welche im Charakter-Konzept Kants zu einem adäquaten Resultat gelangen wird. Das Temperament wird dann als Naturanlage betrachtet, eine an der Entscheidungsfreiheit des Subjekts gemessen heteronome Gegebenheit, für welche die Natur sorgt. Der Charakter aber, bestimmt als »Wille, der von diesen Naturga149

150 151

152

Art. »Temperament«, in: Johann Georg Walch, Philosophisches Lexicon, Anderer Theil, 4. Auflage, Leipzig 1775,1103. Ebd., 1104. Ebd., 1105. Ebd.

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Die Kardiognostik der Frühaufklärung

ben Gebrauch machen soll«, ist, was der Mensch kraft seiner Autonomie »sich selbst schafft«.153 Nicht was die Natur aus ihm macht, sondern was der Mensch »aus sich selbst macht«,154 wird dann als seine individuelle (und gleichwohl sittlich konforme) Sinnes- und Denkungsart, als sein Charakter gefaßt. Die Wahrhaftigkeit des Charakters ist dabei zentral. Bereits Rohrs physiognomische Versuche sind auf den Charaktertypus des Aufrichtigen konzentriert, ohne jedoch dabei von der Eindeutigkeit der aufrichtigen (wie der verstellten) Zeichen auszugehen. Neben dem Grundsatz der Wahrscheinlichkeit, der bloß wahrscheinlichen Konjektur, steht der Grundsatz der Opazität, der Unzugänglichkeit eines Gemüts: Ein »gantz unbetrügliches Merckmahl«155 ihres Charakters läßt sich im Umgang mit Menschen an diesen nicht ablesen. »Einige sehen redlich und aufrichtig aus, und ziehen doch alle Leute durch«, manche, die wissen, daß sie physiognomisch beobachtet werden, verstehen es, »sich meisterlich zu bergen, und ihre Gesichter in solche Falten zu rücken, daß sie so viel als möglich in ihren Minen einen gantz ändern Affect annehmen.«156 Weder das Gefühl für Ungezwungenheit und Natürlichkeit noch der Blick des Menschenfreundes und Menschenkenners, mit dem Lavater auf letztlich intuitive Weise Verstellung zu lüften beanspruchen wird, versprechen bei Rohr Aussicht auf Erfolg. Was demgegenüber bleibt, ist Sorgfalt in langfristigen Beobachtungsserien, Sammlung von data, deren Vergleich und deren Bilanzierung. »Wenn es dem Menschen an der Stirne geschrieben stünde, wie er gesinnet, so brauchte es nicht solcher Umstände«,157 bemerkt Rohr lapidar im 11. Kapitel, gegen Ende seines Textes. Die Umständlichkeit der Datenerhebung ist damit nicht nur eingestanden, sie ist für unhintergehbar erklärt. Mit dem Hinweis auf den Momos-Topos wird zugleich auf dessen utopische Dimension angespielt: Kritisch wird dazu bemerkt, daß »der menschlichen Gemüther Beschaffenheit« sich nicht nach »unsern Gedancken«158 richtet; vielmehr sollten unsere Gedanken zunächst die reale Beschaffenheit der menschlichen Natur zur Kenntnis nehmen und dieser Natur Rechnung tragen. Das impliziert jedoch, selbstverständlich stets von der Opazität >anderer Gemüter< auszugehen. Mit der Stirn, welche hier das von Momos eingeklagte Fenster quasi ersetzt, ist zugleich auf eine traditionelle Lehre verwiesen: die physiognomische Metoposcopie. Auch sie, die aus den Lineamenten der Stirn auf die moralischen Dispositionen schließt oder gar das Schicksal der untersuchten Person mit Gewißheit weiszusagen verspricht, läßt sich — wie die bereits kriti-

153 154

155 156 157 158

Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 637. Ebd., 634. - Vgl. Kap. I. Rohr, Unterricht Von der Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen, 1732, 322. Ebd., 324. Ebd., 359. Ebd.

Listige Zeichen und probabilistische Interpretationen

147

sierte Temperamentenlehre — vom Gedanken einer einfachen, unverstellten und ungestörten Lektüre leiten. Nicht nur die Zeichen und Merkmale selbst, sondern auch deren Signifikate liegen eindeutig und offen zutage, eben so, als stünde alles an der Stirn geschrieben. Mit der Unterstellung eines freien Willens und - daraus gefolgert - der Unterstellung von Verstellung als Normalphänomen verpflichtet sich die Rohrsche Physiognomik demgegenüber auf eine Methode minuziöser und umständlicher Beobachtung, welche noch die Perspektive anderer Beobachter zu bedenken und für die eigene Unternehmung auszuwerten versucht. Die »lange Zeit«,159 welche es braucht, des betreffenden Menschen >Tun und Lassen< zu registrieren, bringt, so Rohrs Versprechen, einen großen Vorteil ein: Am Ende des langen Beobachtungsweges steht eine Größe, die nicht nur gelegentlich, sondern dauerhaft orientiert: der Charakter. Gegen die privatpolitische Frage nach der ephemeren Absicht und dem je vorliegenden Interesse und gegen die Annahme der Identität einer unveränderlichen Naturanlage, welche die frühaufklärerische Kardiognostik am Konzept der Temperamentenlehre kritisierte, setzt Rohr die Identität des Charakters, eine Disposition, die sich gegen den Wechsel der Zeit(en) und Situationen zu erhalten vermag. Nicht metaphorisch, sondern als ins Insgesamt der kardiognostischen Verfahren integrierte technische Anweisung ist der Vorschlag Rohrs zu lesen, ein Buch160 über die zu erkundende Person anzulegen und darin zu notieren, was deren methodisch disziplinierte Beobachtung ergibt. Zwar ist Rohrs Charakter-Begriff mit seinem Merkmal der Beständigkeit jenem Charakter-Begriffverwandt, welchen die Moralischen Wochenschriften fixieren werden,161 doch bleibt Rohr, anders als die Wochenschriften-Programmatik, gleichzeitig der Privatpolitik verbunden. Denn weder Menschenliebe oder Menschenaufklärung noch interesseloses Wohlgefallen an Menschenart und Menschentum ist das Motiv des Kardiognostikers, wie ihn Rohr konzipiert. Einsatz und Aufwand müssen sich in ein >ökonomisch< passables Verhältnis zu den durch sie erreichbaren Zwecken setzen, welche wiederum durch privatpolitische Interessen vorgegeben sind: Die Arbeit des Kardiognostikers lohnt sich bei denjenigen »Personen, die uns zur Beförderung unserer zeitlichen Glückseligkeit hinderlich oder förderlich seyn können«.162 Das mit kühlem Kopf geführte Buch bewährt sich selbst in Liebes- und Eheverhältnissen, insbesondere bei deren Anbahnung. Die Taktiken der (Ver-)Stellung und der Versuch, mit Hilfe dissimulierter Aufmerksamkeit die logischen Fehler, die Inkonsistenzen der Verstellung zu ermitteln, empfehlen sich etwa, wenn damit zu rechnen ist, daß auch die Frauen sich »politicueus« verhalten und ihre 159 160 161

162

Ebd. Vgl. ebd., 357. Vgl. Kap. IV. Rohr, Unterricht Von der Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen, 1732,160.

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Die Kardiognostik der Frühaufklärung

Liebhaber »gerne zu probiren pflegen«,163 also zu wissen wünschen, was sie von den Angeboten und Geständnissen, Versprechungen und sonstigen amourösen Mitteilungen zu halten haben. Dem ersten Blick ist ebensowenig zu trauen wie dem >untrüglichen< Gefühl: Der Blick geht weder auf die Adern oder die Stirne, wie in der Temperamentenlehre, noch direkt ins Herz, wie die empfindsame Emotion und der unbestechliche coup de foudre später suggerieren werden.

163

[Julius Bernhard von Rohr], Germani Constantis Neuer Moralischer Tractat Von der Liebe gegen die Personen ändern Geschlechts/ Darinnen so wohl überhaupt Die Regeln der Klugheit so bey Liebes=Affairen vorzukommen pflegen/ vorgestellet werden/ als insbesonderheit Die Christliche/ Eheliche/ Freundschaffts/ Galanterie, Socialitäts, Concubinats und Huren=Liebe moralisch abgehandelt werden, Leipzig 1717,172.

IV. Charakterlosigkeit. Eine Entdeckung der aufgeklärten Sittenlehre

1.

Von der Gebührlichkeit zur Identität des Charakters, von der rhetorischen Actio zur einfältigen Handlung

Der Begriff des Charakters, der sich, wie gesehen, im Rahmen der Kardiognostik aus den Mustern der Temperamenten- und Passionenlehre löst, verweist auf die sich im 18. Jahrhundert etablierende moderne Charakter-Vorstellung. Für diese sind zwei Dimensionen entscheidend: Beständigkeit und Offenher^igkeit, wie es in der zeitgenössischen Semantik heißt. Der so qualifizierte Charakter ist sowohl zeitlich stabil als auch an die Imperative der Einfalt und naivete, der Redlichkeit und Aufrichtigkeit gebunden. Unter dem Titel Identität wird deshalb im folgenden sowohl die Übereinstimmung von Innen und Außen als auch die zeitliche und soziale Stabilität einer Person, eines Charakters verstanden. Der Redliche, eine Wochenschrift aus dem Jahre 1751, beginnt mit einer genretypischen Präsentation seiner Titelfigur: »Der Character des Redlichen« wird als kontrafaktische Figur eingeführt. Kontrafaktisch deshalb, weil der Konstruktion des politischen Sündenfalls zufolge die Einfalt durch eben jenen Fall der Menschheit systematisch zum Verschwinden gebracht wurde. Während die (privat-)politische Literatur des 17. Jahrhunderts darauf mit (rhetorisch: >notgedrungenerVerkörperung< fällt in der auf Schriftlichkeit bezogenen ars dictandi aus; daraus läßt sich der Verdacht der Täuschung ableiten. Zu diesem Zusammenhang siehe Peter M. Spangenberg, dessen These hier kurz reformuliert wird (Pragmatische Kontexte als Horizonte von Stil-

Ebd., 151.

85

Ebd.

i6

Ebd.

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Gegen die Formularrhetorik: Das Beispiel einer Brief Umschrift aus dem Jahr 1725

Autor und Schreiber, von Aussagesubjekt und Ausführendem des Schreibvorgangs, wird die körperliche Gegenwart zur Bedingung dafür, daß Stellung und Verstellung ausgeschlossen werden können. Affektivität und sprachlicher Ausdruck finden sich, weil ein allgemein-natürlicher Vorgang sie aneinander anschließt, bei allen Menschen, auch bei >gemeinen Leuten< also. Die von der »Rhetorick« her überbestimmte Schulbildung des Gratulanten fällt unter das Verdikt pedantisch-humanistischen Drills und muß sich gleichzeitig den Makel höfisch-falschen Zeichengebrauchs nachsagen lassen. Die natürliche Geste des Schreibens befreit deshalb von zwei Pedanterien: der der reglementierten Sprache und der des artifiziellen Habitus. Cartesianisch-Lamysche Affekttheorie, Rhetorikkritik und allgemeine anthropologische Annahmen über den Menschen als Naturwesen liefern hier die entscheidenden Argumente für eine Uminterpretation des Si vis me //^re-Topos. Dieser wird zum Element einer Konzeption der Herzenssprache. Eine im Patrioten präsentierte Umschrift des Gratulationsbriefes soll als Muster für die Sprache eines sich im Glückwunsch wahrhaft mitteilenden Herzens gelten. Daß er (noch) der Muster dazu bedarf, heißt nicht, daß einer solchen Umschrift nicht alle Menschen fähig sind oder: sein könnten. Denn selbst vom Verfasser des Negativexempels, des ent- und verstellten Briefes, darf angenommen werden, daß, »wenn er seine Rhetorick vergessen hat, eben dieser Brieff auffeine viel natürlichere Ahrt aus seiner Feder fliessen würde«.88 Der dann zu erwartende natürliche Brief wird dem Muster gleichen, welches der Patriot seinem Publikum schon jetzt vorstellen kann. Die der Sprache des Herzens assimilierte Umschrift des Glückwunschbriefes ist jedoch Brief und Briefformular zugleich. Sie stellt eine Art Problemlösungsformular dar, demgemäß das Herz zu offenbaren, das individuelle >Innere< des Schreibenden ohne Zugabe, naturgetreu, abzubilden ist; dies soll mit Hilfe einer Sprache gelingen, welche den Abbildungsanspruch (vor allem: semantisch) beglaubigt. So jedenfalls läßt sich der umgeschriebene Brief lesen: Schon im ersten Satz versichert der Verfasser, »auffrichtigst«89 Glück zu wünschen. Die Aufrichtigkeit des Glückwunsches und, wichtiger noch, seines Überbringers äußert sich so in einer Formulierung, welche möglicherweise gegen die Absicht ihres Benutzers kaum mehr erreicht, als auf ihr Gegenteil aufmerksam zu machen und damit dem Verstellungszweifel ein neues Einfallstor zu bieten. Dies wird jedoch nicht zum Thema des Patrioten. Die neuen Worte, mit denen Aufrichtig-

88 89

reflexionen im Mittelalter, in: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, 68 — 92). Der Patriot, 70. Stk., 149f. »Hoch=Edelgebohrner Herr, sehr geneigter Gönner! Ich erhielt diesen Morgen die höchst=angenehme Nachricht von EU. Hoch=Edelgeb. Vermählung, und bediene mich dieser Gelegenheit, mit dem zurück gehenden Boten Deroselben auffrichtigst dazu Glück zu wünschen« (ebd., 150).

»Aus der Fülle des Herzens« ... Interpretationen des biblischen Topos

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keit beteuert und Natürlichkeit postuliert wird, gelten ihm — im Gegensatz zu den beliebig verwendeten, haltlosen und leeren Zeichen des rhetorischen Glückwunschbriefes — als gleichsam abbildartige Markierungen, welche Rückhalt finden in dem, was sie zum Ausdruck bringen: das individuelle >Innere< eines Menschen. Das rhetorische Brief-Formular, in welches die entsprechenden sprachlichen Versatzstücke gelegentlich eingetragen werden, weicht als Prinzip konventioneller Serialität dem Modus ausdruckshafter Singularität, welchen die Briefumschrift zu realisieren beansprucht. Jenseits der >bloßen< Signifikanten, der Tropen, Figuren, der stereotypen Wendungen und Worte, wird auf diese Weise nach einem Signifikat gesucht, das jeder Sprache vorausgeht und doch mit ihr zusammenfallt. Das volle Wort ist dasjenige adäquate Wort, welches das Gefühl, die Seele des Autors, in sich aufgenommen hat. Die Umschrift streicht deshalb die überkommenen Phrasen, um zu wahren, d. h. adäquaten Artikulationen zu finden. Das Vorspiel auf dem Theater, Fausts Suche nach einem präsemiotischen Transzendentalsignifikat,90 hat ein Vorspiel — außerhalb von >Dichtung< und vor 1800.

3. Oberflächliche Tiefe. Zum problematischen Verhältnis von göttlicher >Einschreibung< und menschlicher Lektüre im Pietismus Eine solche das Innere mitteilende Herzenssprache ist ein sowohl zentraler als auch neuralgischer Programmpunkt des Pietismus. Der biblische Topos: »Ex abundantia cordis os loquitur« (Matthäus 12,34 und Lukas 6,45) wird zum be-

90

Faust streicht das Wort >Wort< und führt es — vorbei an >Sinn< und >Kraft< — zu >TatAufschreibesystems 1800< dient, zeigt, daß gegen die philologisch-literarisch-humanistische Gelehrsamkeit mit dem Aufschreibesystem 1800 ein neuer Modus des Schreibens und Verstehens installiert wird. Dieser betrifft indes nicht allein die Dichtung, sondern auch andere gesellschaftlich-literarische Praktiken wie — an zentraler Stelle — das Lesenlernen. — Das >freie< Schreiben will sich, wie auch das Verstehen, nicht in Signifikanten verlieren, sondern >reine Bedeutungen< konstituieren. Siehe dazu Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985, hier: 11-59. - In der im frühen 18. Jahrhundert sich vehement ausbreitenden Kritik der Rhetorik ist das entscheidende Ferment zu sehen, welches das Zustandekommen neuer Aufschreib- und Lektüresysteme befördert. Wie gesehen, erfaßt diese Kritik eine Reihe gesellschaftlicher Terrains und literarischer Techniken. Der nun vorstellbar gewordene direkte Rückgang auf Bewußtseinstatbestände (Gedanken, Gemeintes, Motive etc.) reizt die Suche nach Signifikaten an. Durch die Zeichen der Verbal- und Körpersprache >hindurch< soll der Mensch als individuelles Bewußtsein erscheinen. Vgl. dazu auch die Darstellung der Lavaterschen Physiognomik in Kap. VII.

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Göttliche >Einschreibung und menschliche >Lektün< im Pietismus

vorzugten Bild, in welchem sich »das Herzchristentum der gotterfüllten Seele« gespiegelt sieht. »Wes das hertz voll ist des gehet der mund über«, so hatte Luther den Topos übersetzt, ohne ihm jedoch größere Bedeutung zumessen zu wollen. Eine identifizierte Verwendung des Topos wird überhaupt erst mit dem Pietismus möglich.91 Die abundantia cordis, gegen Ende des 18. Jahrhunderts in deutscher Sprache als »Fülle des Herzens« geläufig, soll in der empfindsamen Literatur den Inbegriff erlebten Gefühls symbolisieren, welches sich sowohl auf den Menschen als auch auf die Natur richten kann. Als Voraussetzung der Dichtung (Stolberg) oder als Element romantischer Künstlerexistenz (Novalis) erfährt der Topos schließlich eine emphatische, auf ästhetische Sachverhalte bezogene Wendung. Gleichzeitig findet er jedoch, wenn auch wohl nur vereinzelt, Verwendung, um empfindsame Exaltationen als bloße Klischees oder gar Geschmacklosigkeiten herauszustellen.92 Die schon dem biblischen Bild von der Fülle des Herzens anhaftende Ambivalenz bleibt damit erhalten. Es erlaubt positive und negative >LektürenUnterscheid< Rechnung zu tragen: »ein Wort geredet zu seiner Zeit/ ist/ wie gülden Aepffel in silbern Schalen.«95 Die rhetorische Formel des Si vis me flere, welche Bessel als Anregung zu technischem Studium und schauspielerischer Vorbereitung interpretiert, geht hier mit einer politisch motivierten Distanzierung vom Topos der abundantia cordis zusammen. Denn dieser beschreibt, aus der Perspektive des politischen Akteurs, das gefahrliche Gegenteil politischer Klugheit. Aus der Perspektive des politischen Beobachters, jener Komplementärrolle, welche der Kardiognostiker einnimmt, wird sowohl die Formel vom Baum und seinen Früchten als auch die Wendung vom übergehenden Mund als Anregung für Aufschluß versprechende geschickte Beobachtungen lesbar. Christian Barths Galante Ethica verzeichnet in ihrem kardiognostischen Teil, in welchem »gewiesen wird, auf was Art die Gemüther der Menschen zu erforschen« sind, jene Merkmale, an welchen der Passionentyp der zu erforschenden Person sich probabiliter ablesen läßt. Das »Thun und Reden« als eher soziales, weniger eigentlich physiognomisches Phänomen stellt das große und zunächst unübersichtliche Feld dar, auf dem man sich kardiognostisch betätigen kann. Ein Zitat, das Barth unter seinen eigenen Text setzt, präsentiert den Fundort dieser Überlegung: »Ein guter Mensch bringt Gutes herfür, aus dem guten Schatze seines Hertzens, und ein boßhaffter Mensch bringet Böses herfür, aus dem bösen Schatze seines Hertzens. Denn wes das Hertz voll ist, gehet der Mund über.«96

Das sollte nicht als Hinweis auf eine sich naturwüchsig regulierende Identität gelesen werden, denn es versteht sich von selbst, daß der galante politüus auf Stellung und Verstellung stets gefaßt sein muß.97 Im Rahmen der politischen Kardiognostik ist die Erwartung von Simulation und Dissimulation fest institutionalisiert. Der für den politischen Beobachter glückliche Fall, in welchem die Person seiner kardiognostischen Aufmerksamkeit sich einfältigerweise der Rede ihres Herzens überläßt, kann allenfalls als Ausnahmefall politisch-kluger 93 94 95

96 97

Bessel, Schmiede des Politischen Glücks, 210. In der Ausgabe von 1681: Bessel, Neuer Politischer Glücks=Schmied, 359. Ebd., 358. Barth, Galante Ethica, 30. Vgl. ebd., 106ff.

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Göttliche >Einschreibung< und menschliche >Lektüre< im Pietismus

Interaktion beschrieben werden. Nur in diesem für den politischen Akteur unglücklichen, weil möglicherweise negativ folgenreichen Fall läßt sich von den Früchten des Baumes auf seine Qualität, von den Worten und Gebärden auf die Intentionen, den Passionentyp, das Temperament oder den Habitus schließen. Nur in diesem Fall ist also die Rede des politicus als Sprache des Herzens zu verstehen und als solche auszuwerten. Im Pietismus aber wird der Topos von der Fülle des Herzens in ganz anderer als in politischer Hinsicht relevant. Er symbolisiert, wie angedeutet, die Einwirkung Gottes auf die menschliche Seele, die, angefüllt mit diesem inneren Schat^, sich anderen mitteilt. Die Rede schöpft dann aus einem überreichen fundus animae — das Gotteserlebnis, das sich im Innern der Seele ereignet, läßt den Mund davon sprechen, läßt ihn übergehen. Die durch das Wirken Gottes im Innern des Christen eingelassenen »guter« sind zwar einerseits geschützt, sie sind »verborgen vor der weit«,98 verlangen jedoch andererseits danach, sichtbar und erkennbar gemacht zu werden. Allein durch äußerliche Präsentation der inneren Vorgänge läßt sich die göttliche Einwirkung bezeugen. Die pietistische Religionspraxis, wie etwa Spener sie vorsieht," impliziert die Anwesenheit und die Relevanz eines Publikums, dem die Bekehrung und das innere Erleben des jeweiligen Christen sich darbietet. Die Innerlichkeit bedarf also der Repräsentation, die religiöse Privatheit verlangt ein ihr zugehöriges Forum, auf welchem noch die intimste Beziehung des Pietisten zu Gott, sein andächtiges Gespräch bzw. Gebet, einer Beobachtung zugänglich sein sollte. Diese erfolgt notwendigerweise nach Maßgabe äußerer Kriterien. Einerseits auf äußerliche Repräsentation angewiesen, muß pietistische Innerlichkeit sich doch andererseits streng davor hüten, als bloße Äußerlichkeit und mithin als weltliche Eitelkeit und leere Prätention zu erscheinen. Am Thema der >Einschreibung< wird deutlich, wie Sichtbares und Unsichtbares sich idealerweise ins Verhältnis setzen (lassen) sollten: Gott schreibt sich tief ins Herz des aufnahmebereiten Christen ein, seine Worte werden so zum inneren und verborgenen Schatz ihres Empfängers. Gleichzeitig aber gehört es zur Schrift, auch jener göttlichen, daß sie lesbar ist. Der Christ wünscht sich, daß, nachdem Gott durch den heiligen Geist seine Worte ihm »recht tief« 98

99

Philipp Jacob Spener, Predigten über des seeligen Johann Arnds Geistreiche Bücher vom wahren Christentum, zu mehrerer Erbauung in Denselben, auf Christliches Verlangen herausgegeben (1711), 10; zit. nach Gerhart v. Graevenitz, Innerlichkeit und Öffentlichkeit. Aspekte deutscher »bürgerlicher« Literatur im frühen 18. Jahrhundert, in: DVjs 49 (1975), Sonderheft: »18. Jahrhundert«, 1-82, hier: 6. Vgl. Philipp Jacob Spener, Christliche Buß=Predigten Darinnen verschiedene Texte der heiligen Schrift Einfältig erkläret/ und etliche wichtige/ zur erbauung Des Wahren Christenthums nöthige Materien/ Auff gehaltene öffentliche Buß= Fast= und Bet=Tage/ Der Gemeinde GOttes vorgetragen worden/ Auf verlangen gottseliger Hertzen zum Truck gegeben [...], Franckfurt am Mayn 1678.

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ins Herz geschrieben hat, »Jedermann« an ihm »von außen« lesen kann, was ihm »durchs Wort ins Hertz geschrieben ist«.100 Dieser Wunsch mag implizieren, daß nicht allein die Worte von Gott geschrieben würden, sondern auch deren >oberflächliche< Repräsentation von Gott ins Werk gesetzt werden möge. Letzteres fallt jedoch, denkt man an Speners kritische Überlegungen zum Gebet, in die Zuständigkeit des Menschen selbst.101 Er selbst muß zeigen, was ihm von Gott gegeben ist. Die dem Christen abverlangte >repräsentierende< Übersetzung des verborgenen Herzensschatzes in sichtbare und lesbare Zeichen soll zugleich von Ent- und Verstellung, insbesondere aber von »heucheley«102 frei bleiben. Die Heuchelei ist eine dem heidnischen ^//-Menschen habituell zukommende Eigenschaft, die, wird sie dem Pietisten attestierbar, diesen desavouiert. Vor die anforderungsreiche Aufgabe gestellt, mit Worten und Gebärden zu überzeugen und gleichwohl nicht als Person zu erscheinen, die sich in Religionsdingen weltlicher - sei es nun wort- oder gebärdensprachlicher — Beredsamkeit bedient, ist der Pietist letztlich aufgerufen, sich den inneren Affekten zu überlassen. Dem Rhetor Hallbauers durchaus vergleichbar, soll der Habitus des Christen sich auf kunstlose und damit unverdächtige Weise selbst regulieren.103 Daß damit Deutlichkeit und Prägnanz des Ausdrucks, die geforderte Lesbarkeit der Schrift, nicht geradezu gewährleistet sein können, ist eine alte rhetorische Einsicht, welche auch die Pietisten berücksichtigen. Ohne sich der rhetorischen Tradition programmatisch verschreiben oder deren interne Probleme bearbeiten zu wollen, lebt das Konzept pietistischer Affekt- und Herzenssprache gleichwohl von rhetorischen Anregungen und Überlegungen. In seiner anti-rhetorischen Programmatik104 liegt

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»Schreib was wir hier geschrieben lesen, durch deinen Geist recht tief im Hertzen ein, [...] daß jedermann an mir von außen liest, was mir durchs Wort ins Hertz geschrieben ist« (Carl Heinrich von Bogatzky, Die Übung der Gottseligkeit in allerley Geistlichen Liedern, zur allgemeinen Erbauung dem Druck überlassen von dem Verfasser des güldnen Schatzkästleins, Halle 1750,17). Dort heißt es: »[D]as gebet ist ein stück, darauß Göttliche ehre herrlich hervor leuchtet« (Spener, Christliche Buß=Predigten, 541). Die actio des Gebets muß authentisch und glaubhaft sein: »Aber gewiß ist/ wo es dem menschen ernst ist/ daß sichs an solchen äusserlichen zeichen und geberden auch nothwendig zeigen wird. Und ist man versichert/ daß deren gebet/ die da mit den äugen stätig herumbfackeln/ und äusserlich keine reverentz zeigen/ nicht von hertzen gehet« (ebd., 540). Um eben diese »heucheley« zu vermeiden, dürfen, so Spener, die Zeichen des Gebets und der Andacht nicht zu deutlich ausbuchstabiert werden; vgl. ebd. »Es sind die geberden die beste [!]/ die die andacht ungesucht selbst bringet« (ebd.). Diese verträgt sich jedoch andererseits, wie Wolfgang Martens für den halleschen Pietismus Franckescher Prägung nachgewiesen hat, mit institutioneller rhetorischer Schulung. Die Vorbereitung auf die Welt und deren Usancen läßt es den halleschen Pietisten ratsam erscheinen, die Schüler zu eloquent-gewandten Personen auszubil-

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es freilich auf einer Linie mit den Natürlichkeits-Konzepten der weltlichen Sittenlehre, welche die Moralischen Wochenschriften popularisieren. Ohne deren Vokabular im einzelnen zu teilen, ist der Pietismus von einem vergleichbaren Identitäts-Konzept bestimmt. Mit diesem stellen sich, wiederum vergleichbar, die Probleme der Herzenssprache und des Ausdrucks: Unter den Bedingungen öffentlicher Beobachtung und eines entsprechenden Wunsches nach >Akklamation< ist eine Gratwanderung zwischen moralisch bzw. religiös gefordertem Ausdruck und zu vermeidender (Dis-)Simulation zu absolvieren. Die inneren Schätze, die als verborgene dennoch ans Licht kommen und offenbar werden müssen, sind dem Pietisten nicht allein unermeßliche Seligkeit. Zur Bürde kann ihm die Aufgabe angemessener Darstellung werden, deren Risiken er stets gegenwärtig weiß. Selbst wenn der Christ den Anfechtungen kreatürlich-weltlicher Eitelkeit zu steuern vermag, droht er, unter den schwerwiegenden Verdacht der Verstellung zu geraten — ein Verdacht, der die religiöse Glaubwürdigkeit belastet und neue Beweise abverlangt. Diese bekommen es jedoch dann mit den gleichen, den genannten Schwierigkeiten zu tun. Auch jenseits der Separatöffentlichkeit pietistischer Konventikel105 sind Mißtrauen und Verstellungsverdacht virulent. Die Moralischen Wochenschriften, die einerseits in ihrer Identitäts- und Ausdrucks-Semantik der Sprache der Pietisten so auffällig ähneln, finden andererseits gerade unter den stilisierten pietistischen Habitus dankbares Material für ihre negativen Charakterporträts. Die Figuren des Heuchlers und der Betschwester106 stehen dabei für eine Haltung, welche Frömmigkeit und Authentizität belohnt sehen möchte, ohne daß deren Besitz nachweisbar wäre. Doch naturgemäß fällt der Besitznachweis schwer: Denn auch die Sprache des Herzens, welche ex abundantia cordis hervorgeht, bedient sich der Sprache. Die Zeichen der Frömmigkeit und die der Moral können bereits als Zeichen Verdacht erregen. Wenngleich sie also als Zeugen nicht taugen, so wird ihnen doch größte Aufmerksamkeit zuteil. Wie die Moralischen Wochenschriften ihr Mißtrauen gegenüber Heuchler und

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den. Eine solche durchaus weltzugewandte (und nicht selten kritisierte) Haltung steht unter dem Zeichen missionarischer Absichten und sucht hierin ihre Rechtfertigung. Das Problem bleibt jedoch: Distanz soll über Assimilation erreicht werden. Kein Wunder also, daß sich charakteristische Widersprüche nicht vermeiden lassen. — Zum halleschen Pietismus siehe Wolfgang Martens, Hallescher Pietismus und Rhetorik. Zu Hieronymus Freyers Oratorio, in: IASL 9 (1984), 22-43. Siehe hierzu Reinhard Breymayer, Die Erbauungstunde als Forum pietistischer Rhetorik, in: Helmut Schanze (Hg.), Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.-20. Jahrhundert, Frankfurt 1974, 87-104. - Im Anschluß an die Thesen Dockhorns beschreibt Breymayer die in den pietistischen Zirkeln fortwirkenden rhetorischen Strategien. Dabei bleiben jedoch — wie bei Dockhorn — die spezifischen Bedingungen des Fortlebens rhetorischer Tradition weitgehend unberücksichtigt. Vgl. dazu Martens, Die Botschaft der Tugend, 255f.

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scheinheiliger Betschwester generalisieren, so ist das Mißtrauen der Pietisten insbesondere denjenigen gegenüber immer wach, welche sie »Weltmenschen«107 nennen. Wie die (Charaktere der) Moralischen Wochenschriften die Unterscheidung von gut und böse verwenden, um sich, zum einen, zu verteidigen und um, zum anderen, den Aufklärungsanspruch der Belehrung und Unterweisung wahrzunehmen, so gebrauchen die Pietisten die Unterscheidung von Christenmenschen und Weltmenschen sowohl, um sich vor anderen zu schützen, als auch, um Anfeindungen zu identifizieren und den eigenen Gnadenstand zu überprüfen. Betrug und Selbstbetrug sollen so erschwert werden. Der im Prozeß der (Selbst-)Kritik notwendige Rückgang auf Motive bleibt, der Unsicherheit der Zeichen und ihrer Bedeutung zum Trotz, für die pietistische Perspektive verbindlich. Denn was sich äußerlich zwar als durchaus ähnlich darstellen mag, kann über das Kriterium von Motivlagen dann gleichwohl doch unterschieden werden. Ein Beispiel hierfür ist das Kompliment: Die Höflichkeit der Welt und mit ihr das weltlich institutionalisierte Komplimentieren ist »aus Falschheit und Verstellung« geboren. Anders verhält es sich jedoch bei denjenigen Komplimenten, welche Christen machen, da bei ihnen »alles aus dem Herzen gehet«.108 Deren Kritik entzündet sich weder an den Komplimenten als überkommenen Institutionen noch an den vorgefertigten Formularen, sondern an falschen Dispositionen und Absichten, aus denen heraus sie getätigt werden. Auf diese Weise bleiben, ein wohl typisches Merkmal pietistischer Kritik, weltliche Institute weitgehend unangerührt, der kritische Gestus kann sich jedoch gleichwohl wirksam präsentieren. Die (Stände-) Gesellschaft mit ihren symbolisch gesicherten Rängen und Hierarchien, ihren darauf bezogenen Höflichkeiten und Ehrerbietungen liegt nicht in der Reichweite der Klettenbergschen Kritik, sondern sie gilt jeweils einzelnen Personen, die ihre Verstellung selbst verantworten. Daß die äußerlichen Zeichen wichtigster und zugleich unsicherster Gegenstand der Beurteilung sind, stellt den pietistischen Willen zur aufrichtigen Bezeugung< vor unüberwindliche Schwierigkeiten: Das Beispiel einer vormals unchristlich-eitlen, jetzt aber bekehrten Adligen fungiert in dem zitierten Text Klettenbergs als Beleg dafür, daß sich am äußerlichen Habitus der Bekehrten nichts ändern muß. Die betreffende Adlige hat »ihre Absichten, aber nicht ihre Aufführung geändert [...]. Sie versichert nach wie vor Höhere ihres Gehorsams, Gleiche ihrer Ehrbietung«,109 mit dem entscheidenden Unterschied jedoch, daß die dem decorum der Ständegesellschaft entsprechenden Gesten nun107

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Susanna Katharina von Klettenberg, Von Beobachtung der sittlichen Pflichten bei einer christlichen Freundschaft (1754), in: Heinrich Funck, Die schöne Seele. Bekenntnisse, Schriften und Briefe der Susanna Katharina von Klettenberg, Leipzig 1912,151-166, hier: 165. Ebd., 162. Ebd., 155.

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mehr »Versicherungen« sind, die der Bekehrten »von Herzen« kommen. Die »daraus hervorleuchtende Redlichkeit« erhöht augenblicklich den Wert der Person, auch und selbst in den Augen der Weltmenschen. Christen- und Weltmenschen nehmen an ihr grundsätzlich das Gleiche wahr: überzeugend artikulierte Worte und entsprechende Gesten. Die Metapher des >Hervorleuchtens< der Redlichkeit täuscht über das Fehlen einer Transparenz hinweg, die Privileg des göttlichen Blicks bleibt — weshalb man hier auch von eitler Anmaßung sprechen könnte. Der christliche Umgang mit der Welt, wie Klettenberg ihn charakterisiert, ist auch aus einem anderen Grund nicht unproblematisch: Ist einerseits deutlich geworden, daß die Simulationen, die falschen weltlichen Komplimente etwa, für einen Christen nicht taugen, so bleibt doch andererseits auch der christliche Habitus von Kritik nicht ausgenommen. Diese betrifft nun gerade jene >bloße< Darstellung ihrer selbst, welche die simulationsund scheinorientierten Weltmenschen pflegen. Den Christen mangelt es nämlich an prägnanter Expressivität, an rhetorischer Darstellung, kurz: an Äußerlichkeit. Diejenigen unter ihnen, welche glauben, der ihnen allein zugängliche Zustand innerer Bekehrung und innerer Überzeugung reiche aus, um sie in jeder (weltlichen) Beziehung überzeugend und anständig erscheinen zu lassen, irren, zu ihrem eigenen Nachteil. Zwar bestreitet Klettenberg keineswegs die guten sozialen Absichten dieser Menschen, den unbestreitbar »redlichen Grund ihres Herzens«, doch gilt es ihr zufolge auch, diese Redlichkeit in eine Sprache zu überführen, welche auch von anderen, auch von Weltmenschen verstanden werden kann. Aus dieser Perspektive heraus entfaltet sich Klettenbergs Kritik an jenen artikulations- und darstellungsarmen Christen: Man »soll [...] ihnen bloß glauben; sie wollen es weder mit Worten noch mit Gebärden bezeugen.«110 Wie für die von Spener nolens volens ausbuchstabierte Andacht des Gebets gilt auch für die christliche »Freundlichkeit« der Welt gegenüber: »Diese muß nicht nur im Herzen sein, sondern sich auch in Gebärden zeigen.«111 Die Argumente Klettenbergs lassen deutlich erscheinen, was nicht eigentlich ins Bild paßt: eine so vorsichtig-halbherzige wie gleichzeitig unverhohlene Re-Integration der körperlichen Beredsamkeit in den unrhetorischen ausdruckshaften Habitus. Dieses prekäre Verhältnis von christlicher Innerlichkeit und sie repräsentierender Äußerlichkeit, welches Klettenberg in ihren Überlegungen umschreibt, wird in Goethes Wilhelm Meister-Roman zum Kristallisationspunkt figürlicher Darstellung. So jedenfalls liest es Friedrich Schlegel in seiner Kritik des Romans von 1798: In der Figur der schönen Seele, welche Goethe nach eben jener seiner Mutter befreundeten Susanna Katharina von Klettenberg modelliert, realisiert der Roman eine zentrale Spannung. Zum einen wird 110 111

Ebd. Ebd., 164.

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nämlich an der schönen Seele »das äußerste Maß der Innerlichkeit«112 darstellbar, zum anderen läßt sie sich gerade mit Hilfe eines Vokabulars beschreiben, welches der Theatersphäre entstammt. Weit entfernt, einen Kontrast zur Gesellschaft der Schauspieler darzustellen — wie es auf den ersten Blick erscheinen mag —, ist die schöne Seele vielmehr mit diesen verwandt. Darüber hinaus fungiert sie als Symbol schauspielerisch-menschlicher Existenz schlechthin. Bei Schlegel heißt es: »Ja sie lebt im Grunde auch theatralisch; nur mit dem Unterschiede, daß sie die sämtlichen Rollen vereinigt, die in dem gräflichen Schlosse, wo alle agierten und Komödie mit sich spielten, unter viele Figuren verteilt waren, und daß ihr Inneres die Bühne bildet, auf der sie Schauspieler und Zuschauer zugleich ist und auch noch die Intrigen in der Coulisse besorgt.«113

Ein wichtiges Requisit des schauspielerischen Studiums, den Spiegel, benutzt auch sie: »Sie steht beständig vor dem Spiegel des Gewissens, und ist beschäftigt, ihr Gemüt zu putzen und zu schmücken.«114 Pointiert umreißt Friedrich Schlegel so eine spannungsreiche Beziehung von Spiegel, Putz und Schmuck auf der einen und Gewissen und Gemüt auf der anderen Seite: So wie in dieser Formulierung Gewissens-Spiegel und geschmücktes Gemüt aufeinander bezogen sind, sind Innerlichkeit und Äußerlichkeit ineinander verschränkt, ohne daß die Sphäre der Innerlichkeit als Privatheit verlassen würde. Denn auf ein Publikum scheint die schöne Seele nicht angewiesen. In der Art, »wie sie sich für sich selbst interessiert«,115 ist sie sich selbst Publikum. Ein auf diese Weise über die kritische Selbstbeobachtung und -befragung hinausgehendes Interesse an der eigenen Person könnte die Öffentlichkeit, das eigentliche Publikum also, als kreatürlich-sündige Eitelkeit auslegen, als Eitelkeit, die sich im Medium des Theatralischen ihren Spielraum verschafft. Deshalb auch bleibt diese schauspielerische Existenz vor der Welt verborgen. Präsentiert die schöne Seele sich aber öffentlich, so hat sie solche Zeichen zu setzen, welche dem Modus der Innerlichkeit zugerechnet werden können. Daß dies die Anforderungen an äußere Darstellung noch weiter heraufsetzt, ohne das innere Erleben gleichzeitig intensivieren zu müssen, ist das eigentlich theatralische Moment der so charakterisierten schönen Seele. Die Probleme, welche sich auf diese Weise nun nicht für die theatralischen Seelen selbst, sondern für deren Beobachter ergeben, thematisiert der Pietist Friderich Carl von Moser in einem Traktat mit dem Titel: Der Character eines Christen und ehrlichen Manns bey Hofe. Der Christenmensch ist mit dem Hof zu112

113 114 115

Friedrich Schlegel, Über Goethes Meister (1798), in: ders., Kritische Schriften und Fragmente (1798-1801), Studienausgabe, hg. v. Ernst Hehler und Hans Eichner, Paderborn 1988, Bd. 2,157-169, hier: 167. Ebd. Ebd. Ebd.

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Göttliche >Einschreibung< und menschliche >Lektüre< im Pietismus

gleich der Welt schlechthin in ihrer »betrüglichen Larve« konfrontiert. Ihm wird angeraten, sich weder von der hoftypischen Ruhmesgier und Karrieresucht anstecken zu lassen, noch darauf zu verfallen, die im Dienst dieser politischen Begierden einzusetzenden strategischen Mittel zu verwenden: Was ein Christ tut, tut er vielmehr »mit ganzem Herzen, mit völliger Application«,116 wie er es, als Christ unter Christen, gewohnt ist. Doch noch diese wollige ApplikationExterritorialenheutigen< Künstler etwa heißt es: »Tout artiste veut etre applaudi. Les eloges des ses contemporains sont la partie la plus precieuse de sä recompense.«8 Diese Gier nach Applaus und Anerkennung ist vom — erst im zweiten Discours begrifflich eingeführten - amour-propre gesteuert, jener unmäßigen Eigenliebe, die Vergleich, Kompetition und Konkurrenz sucht, erzeugt und in den Institutionen auf Dauer stellt. Stärker indes als der Drang, Neues, Unerhörtes, Brüskierendes, Aufklärendes und Anklagendes zu sagen, ist der Wunsch, zu gefallen und auf diese Weise erfolgreich zu sein. Der art de plaire, als höfische Sozialtechnik erprobt, bestimmt Rousseaus Anklage zufolge das Geschäft der Wissenschaft und der Kunst, auch der Aufklärung: Die paradoxe Folge ist, daß diejenigen, die für Innovation eigentlich zuständig sind, sie statt dessen unterdrücken: Genialität beugt sich den allgemeinen Kriterien des Geschmacks, um die gesellschaftliche Akzeptanz ihrer Produkte nicht aufs Spiel zu setzen. Es wird also angenommen, daß auch diejenigen sich habituell verstellen, deren Aufgabe in der Beförderung der Wahrheit liegen sollte. Auch sie zwingt ein rhetorisches Kalkül, das Eigene und Eigentliche zu dissimulieren und statt dessen zu >stellenGarantin< von Wahrheit und Authentizität erhält sie ganz unterschiedliche Einsatz- und Wirkungsmöglichkeiten. Die Wissenschaft wird zum ersten und härtesten Testfall für eine Kritik, die als neues Kriterium die Intensität des eigenen >inneren< Erlebens einführt und gegen andere Kriterien ausspielt. Das Herz soll Motor und Fundus der Erkenntnis sein und zugleich deren Legitimität bestätigen. Wahr und gerechtfertigt ist dann, was gefühlt, was erlebt wird. Rousseaus einschlägige Selbstbeschreibungen betonen, daß die wahren Gedanken nicht eigentlich denkend hervorgebracht werden: Nicht Rousseau selbst steuert als kognitives, reflektierendes Wesen den Erkenntnisprozeß, vielmehr wird er sozusagen selbst überrascht und geführt von den oft plötzlichen Eingebungen, die er den autonomen Impulsen und Agitationen eines sensiblen Herzens zu verdanken hat. Eine Art >poetischer Furor< bringt Wahrheiten hervor, die bereits durch den Modus ihrer Produktion gerechtfertigt scheinen. Rousseau

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Ebd., 4.

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Aufklärung der Aufklärung

überläßt sich der Stimme so verstandener innerer Natur,15 zornig, daß ihr niemand sonst Gehör schenkt. Die unmittelbare Produktion seiner Texte läßt eine Reflexion auf deren stilistische Mittel nicht zu. Die Texte sind Reden, welche die Sprache des Herzens sprechen: Ex abundantia cordis os loquitur.^ a) Archaische und moderne Expressionen Es ist keine Frage, daß Rousseau hier an jener Entrhetorisierungstendenz partizipiert, welche gegen Ende des 17. und im 18. Jahrhundert (auch an der Rhetorik selbst) zu registrieren ist.17 Doch er geht über diese hinaus: Eine globale Kritik der sozialen Verhältnisse versucht, die Phänomene fortschreitender Degeneration sowohl auf den Begriff zu bringen als auch abzuleiten — und damit zugleich den Weg anzugeben, welcher als Ausweg noch offensteht. Ihn bahnt Rousseau selbst in erster Linie als Schriftsteller, als aufklärerischer Autor, der sich von der vermeintlich affirmativen Haltung anderer Aufklärer distanziert. Eigenwillige und eigenständige Kriterien ermöglichen ihm eine vorbehaltlose Kritik der modernen Gesellschaft. Die Moderne wird als ein durch Negation ursprünglicher Natur erreichter Zustand bestimmt. Eine einfache hypothetische Konstruktion, die des etat primitif, wird verwendet, um die auf der Negation der Natur aufruhenden Verhältnisse ins Bild zu rücken. Schon die Politiklehren des 16. und 17. Jahrhunderts hatten mit der Abgrenzung des goldenen Zeitalters von dem des ihnen gegenwärtigen eisernen einen einfachen und für scharfe Kontraste sorgenden Epochenschnitt gelegt. Und schon im Rahmen dieser Schematisierung stand die Gesellschaft als ein vorrangig als Gefüge von Kommunikationen bestimmtes Phänomen im Vordergrund. Rousseau nun beschreibt - in anderer Absicht - in ähnlicher Weise: Sein wilder Naturzustand18 zeichnet sich, im Gegensatz zum gesellschaftlich-zivilisierten Zustand, nicht zuletzt dadurch aus, daß sich in ihm Kommunikation bloß zufallig und vorübergehend ereignet. So wie es kein Eigentum, keine Hütten und stabilen sozialen Institute gibt, so fehlt auch die Permanenz von Kommunikation. Die

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16 17 18

Vgl. dazu: Jean Starobinski, Rousseau et l'origine des langues, in: dets., La transparence et l'obstacle, 358ff. Vgl. dazu Kap. V, Abschnitt 3. Vgl. dazu Kap. V, Abschnitt l. Rousseau unterscheidet dabei den Naturzustand der Wilden (»sauvages«) von dem der »barbares«. Leben die Wilden noch vereinzelt, so findet sich der eigentlich glückliche Zustand in den ersten Sozietäten der »barbares«, friedlich-bukolischen Gesellschaften, die jedoch bereits über sich hinaus weisen: Es droht der Verlust von naiver Ursprünglichkeit, der Eintritt in zivilisierte Verhältnisse ist zum Teil schon vollzogen. Siehe dazu Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, Frankfurt/M. 1975, 35-42.

»Toujours bars de lui«: Rousseau

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flüchtigen Begegnungen der Wilden verlangen nicht mehr als grob differenzierte, unkonventionell-natürliche Zeichen, mit deren Hilfe Verständigung gleichwohl gelingt. Der cri de la nature^ bildet die Sprache des ursprünglichen Menschen, in der er seine elementar-notwendigen Bedürfnisse mitzuteilen versteht. Eine instinktartige Disposition läßt diese wilden Wesen auf einfachste Weise miteinander kommunizieren. Noch weit davon entfernt, vom Wort, dem Interpreten der Gedanken, Gebrauch zu machen, teilen sich die einander vorübergehend Begegnenden allein das mit, was sie sich wirklich zu >sagen< haben. Das der Sprachlosigkeit und dem »cri de la nature« so auffällig kontrastierende »dire«20 annonciert, ohne nur Metapher zu sein, im Rahmen der Beschreibung des reinen unverfälschten Naturzustandes, was Rousseau eigentlich am Herzen liegt: die Erkundung der Möglichkeiten unverfälschter und naiver Kommunikation inmitten falscher, verstellter Verhältnisse. Die gelegentlichen und authentischen Kommunikationen des im zweiten Discours beschriebenen etat primitif mag Rousseau bereits vor Augen haben, wenn er im ersten Discours von einer Zeit spricht, in der es, vor dem Einbruch der >heutzutage< herrschenden Kunst und Künstlichkeit, möglich war, daß die Menschen sich ohne Mühe durchschauen konnten.21 Sie erkannten sich ohne Aufwand, ohne Zweifel und Irrtum, ohne die Notwendigkeit der Interpretation. Auf den ersten Blick enthüllte sich dem Beobachter das Gegenüber.22 Die Erinnerung an einen Zustand, den es historisch wohl nie gegeben hat, weist über die Konstruktion einer bloßen Denkmöglichkeit hinaus auf das, was es allererst zu realisieren gilt: den unverstellten Ausdruck, das unverstellte Verstehen. Der der Ursprünglichkeit weit entrückte Mensch der modern-zivilisierten Gesellschaft ist nie er selbst. Wie die Klingen einer sich öffnenden Schere gehen Sein und Schein mehr und mehr auseinander, ein Prozeß, an welchem die Sprache (der konventionellen und willkürlichen Zeichen) maßgeblich beteiligt ist. Als die Menschen aus dem Zustand der wilden und unabhängigen Vereinzelung heraustraten und engere Verbindungen eingingen, ließen sie die bis dahin verbindliche universale Sprache des cri de la nature hinter sich.23 An deren Stelle trat nun die Gestensprache, begleitet von einer in ihren

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Vgl. dazu Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l'inegalite, in: ders., Schriften zur Kulturkritik, 154. Ebd., 142. Rousseau, Discours sur les sciences et les arts, 10. Was hier rückwärtsgewandte hypothetische Spekulation ist, wird Lavater als erreichbares Ziel seiner Physiognomik ausgeben. — Vgl. dazu Kap. VII. Vgl. Rousseau, Discours sur l'inegalite, 152ff. — Bei Herder findet man eine ähnlich konstruierte >urspriingliche< Situation: Tone sind Ausdruck von Empfindungen, und diese werden in sympathetischer Kommunikation erfaßt — Mißverständnisse sind ausgeschlossen. Dieses Szenarium der Ursprünglichkeit bildet den Anfang des Sprachursprungsaufsatzes (Johann Gottfried Herder, Über den Ursprung der Spra-

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Modulationen angereicherten stimmlichen Verständigung. Wie der cri de la nature die momentane innere Verfassung desjenigen zu erkennen gab, der sich des Schreis bedienen mußte, so ist die Geste, in diesem Zusammenhang als nicht-expressive Geste verstanden, sowohl an die Präsenz des Gegenstandes als auch an die Anwesenheit des Signifikaten, der sich artikulierenden und gestikulierenden Person gebunden. Erst die in einer Situation sich verdichtenden und verfeinernden Kommunikationsbedarfs durch Übereinkunft eingeführte Sprache bringt zum einen, so läßt sich Rousseaus Konstruktion fortschreitender Sprachentwicklung interpretieren, den simultanen und unmittelbaren Ausdruck >innerer< Befindlichkeit in der primitiv-einfältigen Sprache des cri de la nature zum Verschwinden und entrückt zum anderen die realen Gegenstände, jene anwesenden, direkt wahrnehmbaren Entitäten, auf welche eine deiktische und imitativ->malende< Gestensprache einst referierte.24 Mit dem Verlust der Referenten und/oder deren primitiver einfacher Präsentation sind, so ließe sich schlußfolgern, der Verstellung und dem Schein sowie der Lüge die Bedingungen ihrer Möglichkeit geschaffen worden. Jene ursprünglich-primitive und zugleich ideale Sprache, welche in ihren Zeichen und Verlautbarungen die Intentionen und Gegenstände direkt erkennen ließ, bestimmt Rousseaus Visionen von direkter Kommunikation im Kontrast zu Verhältnissen, die dies, spätestens seit Einführung der Schrift, nicht mehr zulassen. Die Hindernisse menschlicher Kommunikation25 werden jedoch für überwindbar erklärt, da sie sich kulturell-historischer Degeneration verdanken und eben deshalb zur Disposition stehen. Die Hoffnung, daß die Dinge und Personen wieder so erscheinen könnten, wie sie wirklich sind, gibt Rousseau jedenfalls nicht auf.

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ehe, in: ders., Werke, hg. v. Wolfgang Pross, Bd. 2, München-Wien 1987, 253—256). — Die rohe, wilde Verständigung Rousseaus ist bei Herder indes zu einer empfindsam-mechanischen geworden: Das tönende Gefühl affiziert den anderen, ob er es will oder nicht; Reste dieser authentischen Artikulationen sind uns, so Herder, erhalten geblieben. — Die Gebärden haben eine ähnliche Funktion wie jene naturhaften Töne: »Empfindungen sind Tone, - und Geberden«, heißt es in anderem Zusammenhang über jene erste sprachlose Sprachstufe, die »Sprache in ihrer Kindheit« (Johann Gottfried Herder, Über die neuere deutsche Literatur, Fragmente I, in: ders., Werke, hg. v. Wolfgang Pross, München-Wien 1987,145). Wiederum konstruiert Herder analog: Die Chinesen haben, so heißt es in den Fragmenten, in der Sprache, ja selbst in der Schrift Referentialität aufrecht erhalten: Sie besitzen eine »Sachensprache« und haben außerdem »das Singen beibehalten«, jenes tönende Gefühl, welches sich auf die Gefühle anderer überträgt. Die >Gefahren der Schrift* sind auf diese Weise begrenzt; die chinesische Sprache ist Relikt der Ursprünglichkeit inmitten veränderter Verhältnisse (Herder, Über die neuere deutsche Literatur, Fragmente I, 160). — Die Angst vor der Schrift ist die Angst vor der Verflüchtigung, der Paralyse reiner Referentialität. Vgl. dazu Kap. VII. Zu deren >Normalität< vgl. Niklas Luhmann, Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, in: ders., Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, 25—34, insbesondere 26f.

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Wie Gesellschaft im allgemeinen Natur negiert, so negiert die moderne Kommunikation jene natürlich-archaische Verständigung, die, so wenig raffiniert und elaboriert sie auch von der Gegenwart her gesehen erscheinen mag, doch den großen Vorteil hatte, die (soziale) Welt unverfälscht abzubilden. Rousseau nun stellt sich seinerseits die Aufgabe der Negation.26 Wenn eine einfache Rückkehr zu jenen archaisch-hypothetischen Naturgegebenheiten sich auch von selbst verbietet, so sieht Rousseau doch die Chance, die — bloß kontingenten — Hindernisse der Verständigung zu umgehen. Daß seine literarischen Visionen von der Vorstellung beseelt sind, die Hindernisse ließen sich nicht bloß umgehen, sondern auch beseitigen, ist indes nicht von der Hand zu weisen.27 Auf der anderen Seite ist jedoch die Suche nach den Möglichkeiten und Mitteln des Auswegs und der >Heilung< streng diszipliniert: Der gesellschaftliche, durch den amour-propre bestimmte Kommerz hat sich längst seine festen Institute und Konventionen geschaffen. Die Sprache selbst, so ist gezeigt worden, steht im Dienst der Selbstliebe. Während der Wilde in sich selbst lebt, indem er seinen autonomen und eigenwilligen Impulsen folgt und sich nur dann mitteilt, wenn es notwendig ist, ist der gesellschaftliche Mensch durch den zum Vergleich auffordernden amour-propre in stete Unruhe versetzt; er ist zur sprachlichen >Selbstentäußerung< gezwungen.28 Nicht auf sich selbst, sondern auf die opinion des autres, auf das Urteil der anderen achtet er. Wichtig sind ihm insbesondere diejenigen Personen, von denen er sich Vorteile erwarten darf. Aufmerksamkeit auf die Meinung der anderen sollte mit geschickter Assimilation direkt verknüpft sein, so lautet ein Imperativ der Hof- und Politiklehren. Und nichts scheint in diesem Prozeß besser geeignet als die aus willkürlichen Zeichen bestehende — Sprache, mit deren Hilfe sich Motive verbergen und erfinden lassen. In der sozialen Welt, sofern sie als monde wesentlich auf Umgang, Interaktion und schriftlicher Kommunikation basiert, ist deshalb, so muß Rousseau im zweiten Discours konstatieren, alles bloß »factice et joue«.29 Kaum anderes ist zu erkennen als ein »exterieur trompeur«, ein betrügerisches, falsches Äußeres. Rousseau nimmt damit die Opazität kom-

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Vgl. Starobinski, La transparence et l'obstacle, 53. Man denke hier an die zahlreichen Beschreibungen transparenter Kommunikation in den Confessions (Madame de Warens, Therese le Vasseur) oder an die entsprechenden Idyllen in Julie ou la Nouvelle Helotse. Vgl. dazu Starobinskis Beschreibung der »fete champetre« in Ciarens (ebd., 116—121). — Autobiographie und literarische Fiktion zeigen ähnliche Bilder. Vgl. dazu Manfred Maengel, Zeichen, Sprache, Symbol. Herders semiologische Gratwanderung — mit einem Seitenblick auf Rousseaus Schlafwandeln, in: J. Gessinger/W. v. Rahden, Theorien vom Ursprung der Sprache, Bd. l, Berlin—New York 1989, 375-389, hier: 384f. Rousseau, Discours sur Pinegalite, 266.

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munikativer Zeichen als gegeben an.30 Seine Eingriffe verstehen sich als Antworten auf eben diese Herausforderung. Die Visionen völlig ungestörter, emphatischer Kommunikation präsentieren sich deshalb als Utopie: Jene ideale Welt, welche Rousseau in den Dialogues konstruiert,31 hat als Welt der Transparenz und des ungehinderten Verstehens mit der faktischen Welt kaum etwas gemein. Diese verlangt nach anderen Beschreibungen und zudem nach Lösungen, welche sich durch (archaische) Visionen zwar anregen, aber letztlich nicht finden lassen. In einer idealen Welt erübrigte sich jedoch, wozu Rousseau sich verpflichtet, ja berufen fühlt: die Existenz eines Schriftstellers zu führen.32 Dazu hat ihn eine Art natürliche Anlage geradezu prädestiniert. Der Sprache und insbesondere der Schrift mit allergrößtem Mißtrauen begegnend, fühlt sich Rousseau doch zum Schriftsteller geboren. Eine Erklärung für diese Inkompatibilität bieten die autobiographischen Texte. In ihnen wird nämlich deutlich, daß sein schriftstellerisches Projekt aus den am eigenen Leibe erfahrenen Bedrängnissen erwächst, den Nöten und Ängsten, die er in Gesellschaft und in Geselligkeit hat ausstehen müssen. Anders als die anderen sieht Rousseau sich aus geradezu physischen Gründen33 nicht in der Lage, den Erfordernissen gesellschaftlich-konventionellen Umgangs zu entsprechen. Dieser basiert, so verdeutlicht schon der erste Discours, auf dezentem, klugem und eigensüchtigem Verhalten, auf der Fähigkeit, sich den Usancen entsprechend zu betragen und

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Dies begründet sowohl seinen Realismus als auch seine zunehmend paranoische Haltung. Die Angst vor der betrügerischen Macht der Zeichen beherrscht ihn in zunehmendem Maße. Vgl. dazu Starobinski, La transparence et l'obstacle, 264. »Figurez-vous done un monde ideal semblable au nötre, et neanmoins tout different.« — Die entscheidende Differenz zum Bestehenden liegt darin, daß die Bewohner der idealen Welt einander sofort erkennen; füreinander sind sie, darin den Menschen der Vorzeit ähnlich, transparent, für andere jedoch bleiben sie >unlesbar< (JeanJacques Rousseau, Rousseau juge de Jean Jacques. Dialogues, in: ders., CEuvres completes, Bd. l, Paris 1959, 668). Die Bewohner der idealen Welt schreiben demgegenüber Bücher überhaupt nur in Ausnahmefallen. Vgl. ebd., 672f. Zur Bedeutung des Körpers als Erfahrungs- und Erkenntnismedium siehe im Anschluß an Starobinski Ehrhardt Linsen, Identität und Körper in den autobiographischen Texten J.-J. Rousseaus, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 63 (1986), 33—56. — Zur Ausblendung der körperlichen Sensationen siehe demgegenüber Hans Ulrich Gumbrecht, »Quand je n'aurai plus de corps«. Geschichtsspekulation und Körpererfahrung bei Rousseau als Vorspiel der Posthistoire, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 63 (1986), 57—85. — Während Linsen die Selbstbeschreibung Rousseaus zugrundelegt, bezieht Gumbrecht diese auf die effektiven Konsequenzen des anthropologisch-geschichtsphilosophischen Konzepts: Die Geschichtsspekulation entkoppelt sich danach von den körperlich-emotionalen Sensationen; die Moral verlangt — Beispiel dafür ist Julie — die Tötung des Körpers und kann nur so ihre Ziele erreichen.

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die eigenen Regungen, den eigenen individuellen Charakter, nicht zuletzt mit Hilfe der Sprache, zu negieren. Ein so zu charakterisierendes Betragen grenzt an permanentes Betrügen: Schon eine harmlose Konversation etwa verlangt von ihren Teilnehmern, daß sie schweigen und simulieren, daß sie ihre Beiträge auf die Situation abstimmen, daß sie bleiben, wenn sie gehen und gehen, wenn sie bleiben möchten. Doch all diesen Anforderungen kann Rousseau sich nicht unterwerfen.34 Ein feuriges, aufbrausendes und unkontrollierbares cholerisches Temperament macht es ihm unmöglich, sich der jeweiligen Situation entsprechend zu verhalten und eine verbale und Gebärden-Sprache zu sprechen, die sich nicht wie von selbst einstellt. Zu diesem cholerischen Moment gesellt sich eine Trägheit, Mitgift eines phlegmatischen Temperamentenanteils, welche ihn daran hindert, schnell auf sich bietende Gelegenheiten zu reagieren. Doch auch Unterwürfigkeit ist ihm qua Naturell fremd: Wenn er auch schüchtern und blöde (auf sein eigenes Fehlverhalten) reagiert, so verbietet ihm ein gleichfalls angeborener Stolz, seine Misere einzugestehen und sich damit den fragwürdigen Kriterien anderer zu unterwerfen. Das ihm in die Wiege gelegte eigensinnige und widerständige Naturell eines hochindividuell kombinierten Temperamentencharakters ist also verantwortlich dafür, daß es dem armen Jean-Jacques, folgt man wiederum seiner Selbstauslegung, unerreichbar erscheinen muß, sich einen sicheren und attraktiven Platz in der (Pariser) Gesellschaft zu erobern. Ihm ist vielmehr eine Existenz an deren Peripherie beschieden.35 Doch gerade dieser randständigen Existenz will Rousseau seine kritischen Einsichten und seine den allgemein verstellten Einrichtungen der Gesellschaft radikal widerstreitenden Lebensentwürfe verdanken. Der erste Anstoß zu ihnen entstammt seinem widerständigen Temperament, das eine - also gewissermaßen unfreiwillig-naturgegebene — Affinität zu Transparenz mit sich bringt: Sein aufbrausendes Herz, sein inneres Feuer und seine Unfähigkeit, dieses zu rechter Zeit unter Kontrolle zu bekommen, sind ebenso wie seine phlegmatische, unflexible Trägheit autonome und störrische Agenten seines Verhaltens. Sie sorgen dafür, daß sein Äußeres nicht den sozialen Usancen, sondern seinem Innern entspricht. Dieses veräußert sich in genauer Abbildung. Alles wird auf diese Weise sichtbar: »On voit quand et comment il s'agite ou se calme, quand et comment il s'irrite ou s'attendrit, et sitot que ce qu'il voit ou ce qu'il entend l'affecte, il lui est impossible d'en retenir ou dissimuler un moment l'impression.«3*

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Vgl. Stanitzek, Blödigkeit, 169-203. Darin ähnelt er Rameaus Neffen (vgl. Kap. VIII, Abschnitt 3). Doch anders als dieser, der mit Händen und Füßen versucht, ins Zentrum zu rücken, will Rousseau sich davon als einem Infektionsherd fernhalten. Rousseau, Rousseau juge de Jean Jacques, deuxieme dialogue, 860.

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b) Rousseaus Rolle: allein unter Schauspielern Verstellung hingegen gelingt allein denjenigen, die, eben so wie die rhetorische art/o-Lehre es vorsieht, ihren Ausdruck beherrschen. Diese Personen sind kalt, >gestellt< (»froids poses«) und zudem bösartig: »Le premier art de tous des medians est la prudence, c'est a dire la dissimulation.«37 Zu rechter Zeit bringen sie, kalt und geplant operierend, die ihrem Willen stets gehorchenden Zeichen aus eigensüchtigen Interessen zum Einsatz, unabhängig von ihren verborgenen Vorhaben und ihren verschlossen gehaltenen Gefühlen: »Ayant tant de desseins et de sentiments a cacher, ils savent composer leur exterieur, gouverner leurs regards, leur air, leur maintien, se rendre maitres des apparences.« Gegen diese Virtuosen des Scheins setzt Rousseau nun seine, nicht zufallig an die primitive Sprache des Naturzustandes erinnernde Ausdrucksphysiognomie: An seiner Stimme und am Verstummen, an seinen Augen und am Erröten oder anderen charakteristischen expressiven Zeichen gibt Rousseau sich stets — unfreiwillig - allen zu erkennen.38 Was gemessen an den klugen Gepflogenheiten seiner gesellschaftlichen Umwelt als Makel und als Schwäche erscheinen muß, unterzieht Rousseau nun einer neuen, ungewöhnlichen Bewertung. Seine vermeintliche Schwäche ist als (zunächst unverdiente, da natürliche) Auszeichnung, als Stärke zu lesen. Schon der erste Discours verschafft Rousseaus exzeptioneller, jedoch mißachteter Natur programmatische Rükkendeckung. Das im zweiten Discours dann entfaltete Konzept des amour-propre, der, wie gesehen, auf fatale Weise mit der sprachlichen Kommunikation der Verstellung Hand in Hand geht, läßt Rousseaus gegen alle eigennützigen Hinsichten sich durchsetzende Natursprache als vollends gerechtfertigt erscheinen. Sie ist mit positiven Vorzeichen zu versehen. Die Eigenliebe hingegen, jenes relative, stets auf andere sich beziehende Gefühl (passion), welches sowohl gesellschaftliche Reputation des einzelnen ermöglicht, als auch zugleich allgemeine gesellschaftliche Degeneration herbeiführt, kann ihre Erfolge nur deshalb erzielen, weil sie die Menschen zu Schauspielern erzieht. Von der Klugheit über die Verstellung gelangt Rousseau zum Schauspieler, jener prekären Figur, von welcher schon der Lettre a d'Akmbert gehandelt hatte.39 In den Dialogues ist jedoch nicht der eigentliche, der professionelle Schauspieler im Visier, sondern der Mensch als Schauspieler. Von der Eigenliebe und den ihr entspringenden Bewegungen angetrieben, verweigert dieser sich den »impulsions directes de la nature«* und macht sich zum absoluten Herr37

Ebd., 861.

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Sein »coeur transparent« kann nichts verbergen (ebd., 860). In dieser 1756 verfaßten Schrift bemängelt Rousseau die Eigenschaft des Schauspielers, welche darin besteht, sich zu verstellen und damit andere in Verstellung einzuüben.

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Rousseau, Rousseau juge de Jean Jacques, 861.

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scher über Worte und Gebärden. Kalten Temperaments41 und kalten Herzens agieren die comödiantischen Menschen, die allein aus dem Gehirn ihre künstlichen, reflektierten Empfindungen (passions secondaires) beziehen. Diese erscheinen sodann in ihren Augen und Gebärden. Doch im Unterschied zu den feurigen und unbeherrschten Temperamenten, denen sich Rousseau zurechnet, sind die Zeichen, welche jene kalten und beherrschten Wesen hervorbringen, »pantomimes et comediens plus tot qu'animes et passiones.«42 Es fällt auf, daß Rousseau hier im zweiten Dialog Diderots idealen Bühnendarsteller, den Schauspieler des Paradoxe sur le comedien^ beschreibt. Die Anforderungen, welche Diderot im Widerspruch zu einer Schauspielkunst der einfühlenden sensibilite an den Komödianten stellt, gelten Rousseau als bereits erfüllt. Die hommes sociables der Moderne sind durch ihre selbstinduzierten, gehirngeborenen >sekundären< Empfindungen und Leidenschaften charakterisiert. Fast klingt es, als habe Rousseau sich Diderotscher Formulierungen bedient. Dieser bemerkt nämlich im Paradoxe: »Die Tränen des Schauspielers stammen aus seinem Gehirn, die des empfindsamen Menschen steigen aus seinem Herzen auf. Beim empfindsamen Menschen bringt das Innerste den Kopf in maßlose Erregung; beim Schauspieler bringt bisweilen der Kopf eine vorübergehende Erregung im Innersten hervor.«44

Setzt Diderot den empfindsamen Charakter als zeitgenössischen Durchschnittstyp45 voraus, so meint Rousseau diesen allererst proklamieren zu müssen. Für ihn stehen nämlich selbst die Empfindungen unter dem Verdacht, bloß oberflächlich und simuliert zu sein. Denn jene schauspielernden Menschen zeigen kalten Herzens Gefühl in einer Weise, daß man versucht ist, sie

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>Kalt< ist neben dem melancholischen auch das phlegmatische Temperament. Rousseaus eigenes Phlegma, welches sein cholerisches Temperament ergänzt, partizipiert jedoch nicht an der Eigenschaft der Kälte dieser Komplexion, sondern allein an der ihr zugeschriebenen ungeschickten Langsamkeit und Trägheit. Rousseau, Rousseau juge de Jean Jacques, 862. Dieser Text Diderots entstand in den Jahren 1770—1773; 1778 legte Diderot daran letzte Hand an, 1830 wird er zum ersten Mal in Paris veröffentlicht. Diderot entwikkelt die Thesen des Paradoxe anläßlich einer Rezension eines Textes von Sticotti, der in französischer Übersetzung gerade erschienen war. Die Rezension erscheint 1770 in der Correspondance litteraire. Dort heißt es bereits über den adäquaten Schauspieler: »Les cris de sä douleur sont notes dans sä memoire, les gestes [...] ont etc prepares; il sait le moment precis les larmes couleront« (Diderot, Observations sur une brochure intitulee Garrick ou les acteurs anglais, in: ders., GEuvres completes, hg. v. J. Assezat, Bd. 8, Nachdr. d. Ausg. Paris 1875, Nendeln Liechtenstein 1966, 339-359, hier: 348). - Zu Diderot vgl. Kap. VIII, Abschnitt 3a. Denis Diderot, Das Paradox über den Schauspieler, in: ders., Ästhetische Schriften, hg. v. Friedrich Bassenge, Bd. 2, Frankfurt/M. 1968,489. Freilich gibt es - signifikante - Ausnahmen wie den Höfling. Vgl. ebd., 514.

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für von Herzen gerührt zu halten (»qu'on les croiroit emus jusqu'au fond du cceur«), wenn nicht die übergenaue Perfektion ihres simuliert-engagierten Verhaltens sie enttarnte.46 Die actio der comödiantischen Menschen basiert auf Überlegung, auf Reflexion.47 Diese ist an die Stelle der wahren, unmittelbaren Gefühle getreten oder sorgt doch wenigstens für deren Verfälschung und Verstellung, so diagnostiziert Rousseau. Diderot hingegen will seinen Schauspieler zu einem Spiel der »reflexion«48 allererst erziehen. Rousseaus indirektes Zitat des Diderotschen Textes in den Dialogues läßt die Positionen beider wie in einem Chiasmus zueinander in Beziehung treten. Text und Kontext erscheinen in dieser rhetorischen Figur selbst rhetorisch. Doch dieser Effekt dürfte kaum in Rousseaus Absicht gelegen haben. Rousseaus Absage an die Maximen seines Jahrhunderts49 impliziert die Abrechnung mit der Verstellung und der Schauspielerei: auf sein Leben und auf sein Werk bezogen. Erst die Übereinstimmung beider soll seine Identität gewährleisten. Die autobiographischen Schriften verdeutlichen, daß der Bruch mit seiner Zeit und mit seiner Gesellschaft eine Neubewertung seiner Person einschließt. Seine unbeherrscht-spontane und Rücksichten sozialer Art ignorierende Herzenssprache, bislang als bloße Ungeschicklichkeit diffamiert, darf nun als eigentliche Sprache proklamiert werden. Das cholerische, phlegmatisch eingefärbte Temperament kommt dabei einer moralischen Option entgegen: Rousseau, der sich nicht verstellen kann und nicht verstellen will, gewinnt so eine Dignität, welche, würde sie von anderen erst begriffen, den vermeintlich Unfähigen und Ungeschickten vor allen anderen auszeichnete. Doch bleibt seine gesellschaftliche Lage realiter prekär, da die Beweislast nicht bei der angeklagten verstellten Gesellschaft, sondern bei ihm selbst liegt. Rousseau versucht, diese Situation zu bewältigen, indem er sich ihr entzieht. In einer depravierten Gesellschaft will er nicht akzeptiert sein — ein entscheidender Grund dafür, warum er die ihm vom französischen König im Jahr 1752 in Aussicht gestellte Pension nicht annimmt.50 Nur aus der Distanz der Schriftstellerexi46 47

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Rousseau, Rousseau juge de Jean Jacques, 863. Ebd., 861. Diderot, Paradox, 485. In den Confessions datiert Rousseau den Beginn dieses Bruches auf das Jahr 1750, das Jahr also, in welchem er den Preis der Akademie von Dijon für seinen ersten Discours bekam. Vgl. Jean-Jacques Rousseau. Les Confessions de J. J. Rousseau, in: ders., (Euvres completes, Bd. l, 356. Signifikant ist die in den Confessions verzeichnete Kombination von Gründen, welche Rousseau — retrospektiv gesehen — bewegen haben, nicht vor dem König zu erscheinen: Einerseits werden sein Blasenleiden und seine temperamentspezifische Schüchternheit (physisch-natürliche Gründe) dafür verantwortlich gemacht, andererseits soll der eigenverantwortliche Entschluß, sich nicht (vom Schein) korrumpieren zu lassen, den Ausschlag gegeben haben. Diese Gründe entsprechen Rousseaus genereller Einschätzung seiner natürlich-ethischen Außerordentlichkeit und Überlegenheit. Vgl. Rousseau, Les Confessions, 379f.

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stenz heraus will Rousseau sich auf die Gesellschaft beziehen. Andererseits jedoch ist er, wie er zu beteuern nicht aufhört, kein unmenschlicher, gefühlloser Misanthrop. Diderots Diktum, nur der Böse sei allein, trifft Rousseau als ein neuerlicher Beweis dafür, daß man ihn nicht versteht.51 Seine Entgegnung auf Diderots Anspielung dreht den Spieß um: Böse sind allein diejenigen, welche sich in der auf verstellter Kommunikation basierenden Gesellschaft wie die Fische im Wasser zu bewegen wissen. Doch andererseits ist Rousseau die Einsamkeit, die ihn davor schützen soll, in das gesellschaftliche Räderwerk relativer, eigensüchtiger Leidenschaften zu geraten, keineswegs genug: Er will — das verdeutlicht jenes Diderot attestierte Unverständnis - verstanden sein. Sein Werk soll anderen zur Orientierung dienen und ihn selbst, seine so fremd und ungewöhnlich erscheinenden Optionen, erklären, sie achtens-, ja liebenswert erscheinen lassen. Doch auch dieses Begehren muß auf einen Widerstand stoßen: Denn diejenigen, welche sein Werk verstehen und den Sonderling lieben könnten, kann es Rousseaus eigenen Diagnosen zufolge eigentlich (noch) nicht geben. Der literarischen Figur Emile vergleichbar, wären solche ihm zugeneigten Wesen allenfalls als Resultate einer Erziehung vorstellbar, welche sich den schriftstellerischen Einsichten und Eingriffen Rousseaus erst verdankt. Und doch gibt es auch gegenwärtig singuläre und einzigartige Personen, die sich wie Rousseau selbst zu den Ausnahmen rechnen dürfen. Rousseaus eigener Ausnahmestatus basiert zum einen auf jener natürlichen moralaffinen Eignung, die ihm mit seinem Temperament gegeben ist, zum anderen auf zwei Entscheidungen, die er willentlich und selbstverantwortlich herbeigeführt hat: sich so weit wie nur möglich von den Praktiken seiner Gesellschaft zu distanzieren und dabei das Projekt einer Selbst-Erziehung zu verfolgen, einer Erziehung, welche die — theoretisch deduzierten — Charakteristika des komme nature/52 konsequent zu berücksichtigen versucht.

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Vgl. Rousseau, Rousseau juge de Jean Jacques, 789f. Zum Verhältnis von komme nature/ und perfectibilite siehe Günther Bück, Über die systematische Stellung des »Emile« im Werk Rousseaus, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 5 (1980), H. l, 1-40. - Eine Reihe zufällig aufeinandertreffender Ursachen hat dafür gesorgt, daß der Mensch aus der Natur in die Geschichte eintritt. Das natürliche Gleichgewicht ist nachhaltig gestört, narurale Teleologie nicht vorstellbar. In dieser durch die Annahme menschlicher Perfektibilität grundsätzlich offenen Situation kommt es nun darauf an, eine Art Gleichgewicht künstlich herzustellen. Produkt dieses Konstruktionsexperimentes ist die Erziehung des Emile (ebd., 21). — Wie gesehen, versucht Rousseau, sich selbst zum komme nature/ zu erziehen, ein ebenso schwieriges wie aussichtsreich erscheinendes Projekt, über das die Confessions Rechenschaft zu geben beanspruchen. Die autobiographischen Texte insgesamt, so ließe sich formulieren, wollen Auskunft geben über die Bedingung der Möglichkeit einer Selbst-Erziehung, welche den komme nature/ zum Ziel hat. Erfolge und Mißerfolge, Paradoxien und Aporien lassen sich hier deutlicher erkennen, als dies im — stärker noch — konstruierten Emile der Fall ist.

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Starobinski hat diese Selbsterziehung als Rollenstudium begriffen.53 Die Rolle ist von Rousseau selbst geschrieben. Doch wie ein Schauspieler eine ihm zunächst fremde Rolle erlernen, üben, korrigieren und perfektionieren muß, so muß auch Rousseau sich der Anstrengung unterziehen, mit der aufgegebenen Rolle identisch zu werden. Er selbst beschreibt sich in den Confessions als — Schauspieler. Erstaunlicherweise erscheint er dabei als diejenige schauspielerische Figur, welche Diderot im Paradoxe propagiert und welche Rousseau selbst, als Autor der Dialogues, unter Verdikt stellt: Im 9. Buch seiner Autobiographie berichtet Rousseau von dem sich auf die Jahre 1756/57 beziehenden Entschluß, seine Lebensweise mit seinen Prinzipien vollends zur Deckung zu bringen, jene Identität von Leben und Werk also herzustellen, von der eingangs die Rede war. Von der ursprünglichen Güte seines Temperamentencharakters zugleich ausgehend und abrückend, führt ihn sein Rollenstudium zur Tugend: »Jusques la j'avois ete bon; des lors je devins vertueux«.54 Dabei ist, so erklärt er, jene Faszination für die vertu seinem Kopf entsprungen, um sich dann erst seines Herzens zu bemächtigen. In den Worten der Dialogues ließe sich diese selbstinduzierte Faszination als sekundäre, reflektierte und blutarme passion beschreiben, als blasser und kalter Effekt willentlicher Manipulation, als Verstellung. Obgleich sich Rousseau mit dem Eintritt in das Rollenstudium von der prätendierten Unmittelbarkeit zu entfernen scheint, heißt es in der autobiographischen Rückschau: »Je ne jouai rien; je devins en effet tel que je parus«.55 Ohne zu spielen, arbeitet er an einer Rolle und findet er gerade dadurch zu seinem eigentlichen Charakter.56 Eine konsistente widerspruchsfreie Interpretation dieser Verwandlungsszene läßt sich nicht geben. Andererseits ist aber auch der herangezogene Vergleich mit dem Schauspieler nicht konsequent durchführbar. Zwar übt Rousseau eine Rolle ein und macht dabei offensichtlich Gebrauch von den Techniken des Schauspielers, unterscheidet sich von diesem jedoch grundsätzlich insofern, als er von der einmal erlernten Rolle nicht mehr absehen kann. Er bleibt mit der Rolle des modernen komme naturel identisch.57 Und anders als jene gewöhnlichen comödiantischen Menschen,

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Starobinski, La transparence et l'obstacle, 77f. Rousseau, Les Confessions, 416. Ebd. In Entsprechung dazu macht der Erzieher des Emile diesen qua Dissimulation zum komme naturel; er dissimuliert seine Gleichgewichts- und Vorsehungskonstruktion, die Absicht also, eine künstliche natürliche Welt für seinen Zögling zu schaffen. Siehe dazu Bück, Über die systematische Stellung des »Emile«, 23. Rousseaus Identitäts-Projekt bezieht sich also zum einen kritisch auf die Traditionen des verstellten Umgangs und damit auf die überkommene höfische Gesellschaft, zum anderen kritisiert es die in der modernen funktional differenzierten Gesellschaft notwendig werdenden Rollenkombinationen. Vgl. dazu Ursula Link-Heer, Facetten des Rousseauismus. Mit einer Auswahlbibliographie zu seiner Geschichte, in: Zeit-

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welche der zweite Dialog kritisiert, will Rousseau seine Rolle nicht benutzen, um zu gefallen, sich zu verstellen oder um zu betrügen, sondern um im Gegenteil der einst verlorenen und gegenwärtig mißachteten Authentizität zu neuer Geltung zu verhelfen. Selbstverständlich ist er dabei auf die Unterstützung anderer Menschen angewiesen. Auch sein authentisches Selbstverhältnis, in welchem er sich mit dem Herzen über das Herz verständigt, bedarf der Kommunikation. Erreicht werden soll dabei das Herz der anderen. Doch die Kommunikation birgt Gefahren: Schon das Wort allein ist, wie gesehen, Ergebnis von Interpretation; es interpretiert den zunächst unmittelbar gegebenen Gedanken. Mag das sprachlose Selbstverständnis auch authentisch sein, seine Artikulation, die Übersetzung in sprachliche Zeichen, unterliegt unkontrollier- und unbeherrschbaren Auslegungen. Deshalb soll die ideale Kommunikation sich derjenigen Mittel bedienen, von welchen angenommen werden kann, daß sie als selbstlose Transmitter innerer Ereignisse statt als Instrumente der Interpretation und Manipulation fungieren. Die Körpersprache soll ein solches Mittel sein. Sie ist immediate, >mittellosursprünglich< Sicherheit und Gewißheit gab. Die ursprüngliche Verständigung dient der direkten, unmittelbaren Kommunikation als Modell. Doch die spezifisch moderne Emotionalität der Situation, die gefühlte und kommunizierte Intensität der Beziehung, läßt zugleich deren Moralität erkennen. Sie bestätigt die Situation und die an ihr Beteiligten. Diese entziehen sich den verstellten Verhältnissen, ohne doch die misanthropische, böse Einsamkeit zu wählen. Die Confessions verdeutlichen, daß die Kommunikation, in welcher nicht Worte und Sätze aufeinandertreffen, sondern >Bewußtseine< einander sozusagen berühren, die Gegenwart von Frauen als Katalysator verwenden kann. Rousseau selbst ist, wie beschrieben, in zweifacher Hinsicht privilegiert: zum einen aufgrund seiner natürlichen temperamentspezifischen Veranlagung, zum anderen aufgrund jenes theoretisch induzierten Entschlusses zur Transparenz, welcher eine Art Rollenstudium nach sich zog. Auf diese Weise zur Verstellung unfähig, »incapable de dissimuler«,58 und nicht bereit, von ihr jemals Gebrauch zu machen, fühlt Rousseau sich zu

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schrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 63 (1986), 127-163, hier: 149f. Zu betonen bleibt, daß Rousseaus Kritik der modernen Gesellschaft sich als Element dieser Gesellschaft und ihrer zentralen Diskurse etabliert. Jean Starobinski, La transparence et l'obstacle, 217.

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Aufklärung der Aufklärung

weiblichen Personen hingezogen, die ihm sowohl vertrauensvolle Sicherheit als auch ethisch Genugtuung geben. Die »Sympathie des ames«,59 welche sich schon beim ersten Treffen mit Madame de Warens, seiner liebevollen Gönnerin, einstellt, trügt nicht, gerade weil sie sich >auf den ersten Blick< einstellt: Madame de Warens, in ihrem (neu erlangten) Glauben von großer Aufrichtigkeit, ist aufrichtig auch in ihren sozialen Beziehungen, jedenfalls Jean-Jacques gegenüber. Deshalb gelingt es beiden, je im Herzen des anderen zu lesen.60 In einer Situation, in welcher der 16jährige Rousseau in die >Welt< eintritt und dabei zum ersten Male seine Schüchternheit überaus mißlich empfindet,61 ist ihm in Gestalt von Madame de Warens, seiner >MamanMaman< und die Verkörperung der simplicite. Die Herzensgüte der - unverbildetem Therese entschädigt ihn für Enttäuschung, Mißerfolg und Mißtrauen. Wiederum geben sich in dieser Kommunikation Herzen zu verstehen, was Worte allein nur verstellen könnten. Therese bemerkt an äußeren Zeichen,63 was in Rousseau vorgeht; seine authentische Beredsamkeit des Leibes findet so eine Auslegung, die ihr unmittelbar adäquat ist.

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Rousseau, Les Confessions, 52. Ebd., 51 f. »Ainsi j'avois avec la timidite de mon age celle d'un nature l tres aimant, toujours trouble par la crainte de deplaire. D'ailleurs quoique j'eusse l'esprit assez orne, n'ayant jamais vu le monde je manquois totalement de manieres, et mes connoissances, loin d'y suppleer servoient qu'ä m'intimider davantage, en me faisant sentir combien j'en manquois« (ebd., 48). — In der deutschen Übersetzung der Confessions wird Madame de Warens gern »zärtlich« genannt, selbst eine »zärtliche Sprache« wird ihr attestiert (J. J. Rousseaus Bekenntnisse. Erster Teil, Berlin 1782, 83). — Damit sind Körper- und Wortsprache gleichermaßen gemeint (ebd., 82). Rousseau, Les Confessions, 53. »Therese s'apper^ut ä quelque signe et surtout ä mon air confus que j'avois quelque reproche a me faire« (ebd., 355).

»Toujours hors de lui«: Rousseau

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2. »Intus et in cute«: Präsentation der Innerlichkeit im Medium der Äußerlichkeit Rousseaus Texte, insbesondere seine autobiographischen Schriften, beweisen, daß es ihrem Autor keineswegs genügt, allein mit jenen zu kommunizieren, die ihm nah, bekannt und vertraut sind. Die Confessions sollen ihn gerade denjenigen verständlich machen, welche mit Unverständnis und Mißtrauen auf ihn — und sein Werk — reagierten. In der Selbstanklage soll sich die Wahrheit seines Charakters erweisen, vor deren Anerkennung sich auch seine mißgünstigen Interpreten nicht verschließen können sollen. Wie das Herz - »so durchsichtig als ein Krystall« in »dem ganzen Laufe meines Lebens«, heißt es in der von Knigge besorgten Übersetzung - nicht fähig war, Gefühle zu »verbergen«,64 so soll auch der bekennende Text Innerstes nach Außen kehren, Repräsentation ohne Rest ermöglichen. Intus et in cute, innerlich, bis unter die Haut, heißt das Aulus Persius Flaccus entliehene Motto,65 das Rousseau seinen Konfessionen voranstellt. Mit der Metapher der Entblößung, die freilich hinter den >Tiefevermitteln< vorgeben, ihren eigenwilligen Interpretationen. Rousseaus eigene sprachkritische Überlegungen bestimmen die ecriture als Mittel des Mittels, als Repräsentation der Repräsentation.68 Das Verhältnis von Signifikant und Signifikat, von schriftlichem Zeichen und seiner Referenz, ist als sukzessive Folge von Exterioritätsbeziehungen69 bestimmt: Das Wort analysiert bzw. repräsentiert den Gedanken, die Schrift repräsentiert das Wort, sie repräsentiert das Repräsentierte, analysiert das Analysierte und paralysiert so ihren Ausgangspunkt, ihre Bezugsgröße: die Einheit eines Signifikats. Demnach erscheint die Schrift kaum geeignet, dem unmittelbaren Selbstgefühl zu unmittelbarem Ausdruck zu verhelfen. Exteriorität und Innerlichkeit geraten ebenso in Widerspruch wie die Einzigartigkeit des bekennenden Individuums mit der rigiden Konventionalität von Sprache und Schrift. Doch trotz jener Hindernisse und Einschränkungen, die mit der Anwendung von Schrift unabwendbar gegeben sind, scheint es Rousseau allein mit ihrer Hilfe möglich, gegen den feindlichen Schein vorzugehen und den wahren und eigentlichen Wert seiner Person kommunikativ geltend zu machen — fern von der Gesellschaft, unabhängig von ihren verstellten Konversationen, ihren wort- und gestenreichen Simulationen und Spektakeln. Der Schrift kommt mithin eine Überlegenheit zu, welche der Repräsentationsgedanke nicht entfaltet. Damit wird gleichzeitig eine Umwertung möglich: Gesprochenes Wort und stumme Geste sind nicht per se unschuldig. Rousseaus Mißtrauen gegenüber der die Identität des Signifikats in arbiträre, willkürlich-konventionelle Zeichen auflösenden Schrift richtet sich auch gegen deren komplementäre Erscheinungen: mündliches Wort und Geste sind von einer sich beschleunigenden Degeneration des Ausdrucks gleichermaßen betroffen; die Misere der Schrift rückt die Misere der Expression überhaupt vor Augen.

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Vgl. Starobinski, La transparence et l'obstacle, 170. »L'analyse de la pensee se fait par la parole, et l'analyse de la parole par 1'ecriture; la parole represente la pensee par des signes conventionnels, et l'ecriture represente de meme la parole; ainsi art d'ecrire n'est qu'une representation mediate de la pensee« (J.-J. Rousseau, Prononciation, in: ders., CEuvres completes, Bd. 2, 1249). — Der Text stammt wahrscheinlich aus dem Jahr 1761. Rousseau knüpft damit, wie Starobinski zeigt, an Lockes Sprachtheorie an. Vgl. Starobinski, La transparence et l'obstacle, 170.

»Toujours bars de lui«: Rousseau

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a) Die Entfernung vom Ursprung und der Charme des Supplements In seinem Essai sur l'origine des langues1® skizziert Rousseau die dekadente Entwicklung der Sprache, welche in der ecriture ihren Abschluß findet. Die Schrift, die auf die schematisch re-konstruierten Epochen der Gestensprache und des gesprochenen Wortes, der mündlichen Kommunikation, folgt, ändert den Charakter der Sprache insgesamt.71 Gegenüber der Sprache der Mündlichkeit, die je individuelle Akzentuierungen zuließ, ja herausforderte, ist die Schriftsprache allgemein, dabei kraftlos, leer, ohne Energie, vom Ursprung der (gesprochenen) Sprache ebenso weit entfernt wie der geschriebene Signifikant vom gedachten oder >gesprochenen< Signifikat. Die gesprochene Sprache entstand aus den »passions«, aus den deutlichen und authentischen Gefühlen der Liebe, des Hasses, des Mitleids oder der Wut: »la nature dicte des accens, des cris, des plaintes.«72 Wie gesehen, ist Herders Sprachursprungssituation ebenfalls vom Ton beherrscht. Der Einbruch der Schriftlichkeit, welcher jener ursprünglichen Situation des Ausdrucks konfrontiert wird, hat dann zur Folge, daß die Sprache ihre ursprüngliche Eindeutigkeit verliert. Die Identität von Gemeintem, Artikuliertem und Verstandenem, welche in der mündlichen Rede fraglos gegeben scheint, wird durch die Schrift unheilvoll zerstört. Am gesprochenen und geschriebenen Wort soll die fundamentale Differenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit veranschaulicht werden. Als Beispiel fungiert das »Ach«.73 Das tönende gesprochene >Ach< wird, eingebettet in eine Situation unmittelbarer Begegnung und direkten Kontextbezugs, trotz seiner prinzipiellen Polyvalenz sofort und eindeutig verstanden — als Ton der Verzweiflung oder der Entzückung, als Ausdruck der Klage oder des Genusses. Ganz anders das geschriebene >AchAch< wenigstens zum Gracianschen Diphthong,74 zum Zweiklanglaut, der Klage und Genuß, Schmerz und Freude zusammen >hören< läßt. Die Möglichkeit eindeutigen und somit vollkommenen Verstehens,

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Jean-Jacques Rousseau, Essai sur l'origine des langues, ou il est parle de la Melodie, et de l'Imitation musicale. Texte integral reproduit d'apres l'edition A. Belin de 1817, Paris 1970. — Dieser Text dient Derrida zum Hebel seiner Dekonstruktion. Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt/M. 1983, Kap. 3 u. 4, 283-541. Rousseau, Essai sur l'origine des langues, 507—512. Ebd., 505. Herder, Über den Ursprung der Sprache, 255. Siehe dazu Kap. III, Abschnitt Ib.

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Innerlichkeit im Medium der Äußerlichkeit

welche freilich auch, so muß man einwenden, in einer durch Gegenwarts- und Kontextbezug charakterisierten mündlichen Rede letztlich nicht gegeben ist, knüpft Herder an einen Zustand der Unschuld, der nicht zuletzt in einer Ethik des Tons gründet: Das spontane Mit-Gefühl, das der tönende Naturlaut im anderen unweigerlich hervorruft, bleibt im Fall der stummen Schrift aus. Der ursprüngliche und ideale Ort des gesprochenen Wortes ist in Rousseaus Essai der Süden, wo ein mildes Klima für Überfluß und Genuß sorgt und Arbeit, Existenzsorge und Zukunftsorientierung überflüssig macht. Die in solcher Umgebung entstandenen »langues orienteis« sind »vives et figurees«, lebhafte, beseelte, metaphorische (und deshalb eigentliche!) Sprachen, Sprachen der Dichter.75 Die gesprochene Sprache des Südens ist Ausdruck des Fühlens (sentir); die Gestensprache, die erste Sprache der nördlichen Gefilde, steht im Dienst der notwendigen Befriedigung existentieller Bedürfnisse. Authentizität eignet ihnen jedoch beiden.76 Mit den Gegensätzen des Nordens und des Südens ist eine Topographie von Oppositionen, Antithesen und Dualismen skizziert, wobei Kälte und Wärme sowohl metaphorisch als auch — Rousseaus eigener Metapherntheorie zufolge — zugleich eigentlich und wesentlich zu verstehen sind. Die natürlichen Sprachen, die Sprache der Gesten, welche ein notwendiges Bedürfnis zu stillen hilft, und die der Stimme, die ein Gefühl übermittelt, sind nicht von Dauer. Schon >aus sich selbst herausder Norden des Nordenstot