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German Pages 186 Year 2007
Philosophie im Spiegel der Literatur Sonderheft 9 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Herausgegeben von gerhard gamm, alfred nordmann und eva schürmann
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Bislang erschienen im Felix Meiner Verlag folgende Sonderhefte der »ZÄK«: 1 2 3 4 5 6 7 8
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Ursula Franke (Hg.): Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks (Jg. 2000) Rudolf Behrens (Hg.): Ordnungen des Imaginären (Jg. 2002) Ursula Franke / Josef Früchtl (Hg.): Kunst und Demokratie (Jg. 2003) Gert Mattenklott (Hg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste (Jg. 2004) · Ursula Franke / A. Gethmann-Siefert (Hg.): Kulturpolitik und Kunstgeschichte ( Jg. 2005) · Georg Braungart / Bernhard Greiner (Hg.): Schillers Natur (Jg. 2005) · Wolfgang Krohn (Hg.): Ästhetik in der Wissenschaft · J. Früchtl / M. Moog-Grünewald (Hg.): Ästhetik in metaphysikkritischen Zeiten
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Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Sonderheft 9 · ISBN 978-3-7873-1849-0 · ISSN 1439-5886 Felix Meiner Verlag 2007. Alle Rechte vorbehalten. Dies betriff t auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfa hren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Plat ten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. ©
IN H A LT
Gerhard Gamm, Alfred Nordmann, Eva Schürmann: Philosophie und Literatur
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Christoph Menke: Tragische Analysis: Sophokles’ König Ödipus ...................
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Georg W. Bertram: Georg Büchners Lenz und die graduellen Unterschiede von Literatur und Philosophie ....................................................................
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Eva Schürmann: Henry James’ Die goldene Schale oder ist Literatur die bessere Moralphilosophie? ....................................................................
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Klaus Günther: »Was ist denn meine Schuld?« Poetische Gerechtigkeit in Max Frischs Homo Faber .........................................................................
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Gernot Böhme: Zeitphilosophie in Michael Endes Momo .............................
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Martin Seel: Über einige Beziehungen der Vernunft zum Humor. Eine Lektüre der Korrektur von Thomas Bernhard .....................................
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Andreas Hetzel: Stimmen des Mythos, Stimmen der Anteilslosen: Zur nomadischen Poetik von Mario Vargas Llosa in Der Geschichtenerzähler
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Josef Früchtl: Scham vor der Metaphysik. Cees Nooteboom und Die folgende Geschichte .................................................................................
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Gerhard Gamm: Metaphysik und Metapher. Versuch über das Stehen. Zu Georges-Arthur Goldschmidt: Die Absonderung ....................................
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Alfred Nordmann: Abgrund des Unverständnisses. W. G. Sebalds Austerlitz ...
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Anschriften der Autoren ............................................................................
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Philosophie und Literatur Von Gerhard Gamm, Alfred Nordmann und Eva Schürmann
Das vorliegende Sonderheft geht auf eine Ringvorlesung an der TU Darmstadt zurück.1 Sie sollte aus der Philosophie heraus Wege zur Literatur bahnen – auch um zu sehen, welche Rückwege danach offenstehen. Einzige Aufl age war, die zu interpretierenden literarischen Werke ausführlich zu Wort kommen zu lassen, ansonsten war es den PhilosophInnen freigestellt, dem vielversprechenden Wörtchen »und« zwischen Philosophie und Literatur eine genauere philosophische Bedeutung zu geben. 2 Es überrascht daher schon ein wenig, bei einem derart offenen Rahmen und der Vielfalt der besprochenen Werke, die von Sophokles’ König Ödipus bis Cees Notebooms Die folgende Geschichte und W. G. Sebalds Austerlitz reichen, eine relativ große Einheitlichkeit festzustellen, vor allem in den Fragen, die sich im inneren Zirkel des prekären Verhältnisses von Philosophie und Literatur bewegen. Für die Moderne hat Alain Badiou sicher zu Recht geschrieben, daß im Blick auf Kunst und Literatur die Philosophie zwischen »Götzendienst und Zensur« 3 hin und her schwanke. Für die Überlegungen der AutorInnen dieses Bandes gilt dies jedoch in keiner Weise, ihre Einstellung ist durchgehend eine andere: Was kann die Philosophie in der Interpretation bedeutender Werke der Weltliteratur von ihnen und über die Grenzen ihres eigenen Sprechens und Denkens lernen? Wie (noch) Philosophieren angesichts einer durch Reflexion auf die Literatur erhöhten Sensibilität für die Medien ihrer kulturellen Praxis? Die AutorInnen nehmen die Werke zum Anlaß, ihre Überlegungen in die Perspektive einer Selbstkritik der Philosophie einzurücken, sie setzen – ausgesprochen oder unausgesprochen – das große Unternehmen der Kantischen Philosophie, die Vernunftkritik, fort. Sie erweitern sie bis an die Grenzen des Sinns und des Sagbaren, des diskursiven Denkens und der Moral. Sie stellen Fragen, die oftmals im philosophischen Kontext ausgespart oder unterdrückt bleiben. Für sie ist die literarische Form eine Art Schutzmantel, unter dem mehr und anderes gesagt werden kann als im philosophischen Diskurs. Auf diese Weise werden immer neue blinde Flecke der philosophischen Selbst- und Weltdeutung ans Licht gezogen, und diese sind für die Philosophie keineswegs marginal.
Für die großzügige Unterstützung danken wir herzlich dem Kreis der Freunde der TUD und der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. 2 Darmstädter SchauspielerInnen haben dabei ausgewählte Textpassagen sinnlich nachvollziehbar zu Gehör gebracht. Die Publikation spiegelt diese Situation noch insofern, als alle Beiträge längere Zitate enthalten. 3 Alain Badiou, Kleines Handbuch zur In-Ästhetik, Wien 2001, 8. 1
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Gerhard Gamm / Alfred Nordmann / Eva Schürmann
Es sind vor allem eine Reihe voreiliger Parteinahmen der Philosophie für die Vernunft, auf die ihr selbstkritischer Blick fällt; sie werden aus der Interpretation des jeweiligen Werks entwickelt. Weniger die Illustration und Demonstration philosophischen Weltwissens ist das Anliegen, sondern ein Sich-Einlassen auf das, was an der Literatur anders ist als in der Philosophie. Was die selbstkritischen Lektüren zeigen, ist der voreilige Rückgriff auf den Sinn, wo bloß blinder Zufall die Ereignisse verkettet (K. Günther) oder die Scham es gebietet, sich allenfalls verhalten und in indirekter Rede über ihn zu äußern ( J. Früchtl ); wo sich in einem Atem bei seiner Nennung Untiefen seines Verstehens auftun (A. Nordmann) oder Konjunktive und Mehrdeutigkeiten der sozialen Situation die Brüchigkeit einer jeden lebensgeschichtlichen Narration belegen (E. Schürmann); wo Kunst und Literatur Anlaß bieten, über die Vernunft zu lachen, auch wenn dies Gelächter ein Skandal bleibt und die Philosophie mit ihm fertig werden muß; wozu sie aber in der Moderne auch ausgezeichnete Anlagen besitzt, steht sie doch über die »postrationalistische Vernunftkritik« in einem engen Verwandtschaftsverhältnis zum Humor (M. Seel). Angesichts fremder Kulturen hilft nicht einmal mehr die Formel von der Einheit der Vernunft in der Vielheit der Stimmen weiter (A. Hetzel). Literatur reflektiert über weite Strecken mißlingende Kommunikation, Abgründe des Unverständnisses, geschichtliche Großereignisse, denen gegenüber auf Sinn zu pochen bloßer Hohn auf die Leiden von Abermillionen wäre. So geraten gewohnte Grundbegriffe der Philosophie wie Sinn, Verstehen, Subjekt, Zeit, Begriff und Metapher unter einen erheblichen Legitimationsdruck. Allen AutorInnen des Bandes ist das Bewußtsein gemeinsam, daß mit der Literatur etwas verbunden ist, das den allzu selbstsicheren philosophischen Gedanken zum Stocken bringt, das ihn verwirrt und sein an vielen Facetten reiches Vorurteil für die Vernunft auf bricht, um zu sehen, welches Licht von Seiten der Literatur darauf fällt. Obgleich ganze Kontinente an Raum, Zeit und Materie zwischen Antike und Moderne liegen, ist das Verhältnis von Wissen und Handeln auf den unterschiedlichen Ebenen bis heute ein äußerst angespanntes geblieben, auch in den Verhandlungen zwischen Philosophie und Literatur. In seiner Interpretation des sophokleischen König Ödipus konfrontiert uns Christoph Menke mit einer Einsicht in die Aporie unseres Erkennens und die Ausweglosigkeit unseres Handelns: Können wir wirklich etwas zum Besseren wenden, (nur) weil wir eine Einsicht in den notwendigen Verlauf der Dinge genommen haben? Seiner Auffassung nach ist es unmöglich, aus der Tragödie des Ödipus etwas zu lernen, ihr verhängnisvoller Verlauf ist weder zu bejahen noch zu verneinen. Der Zuschauer der Tragödie ist zugleich der, der die Einsicht des Protagonisten in die Wirkungslosigkeit des Erkennens vollzieht. Der Roman von Henry James Die goldene Schale ist das Thema von Eva Schürmann. Sie nähert sich dem prekären Verhältnis von Wissen und Handeln über die
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philosophische Auseinandersetzung, die u. a. zwischen den Chicagoer Philosophen Martha Nussbaum und Robert Pippin über das Verständnis von James’ Roman stattgefunden hat. Sie spitzt den Streit der Interpretationen auf die Frage zu: Ist die Literatur die bessere Moralphilosophie und kommt zu dem Schluß, daß die Mehrdeutigkeit der literarischen Vorlage moralphilosophisch relevante Einsichten ermöglicht, aber nicht zwingend vorschreibt. Vielmehr werde die philosophische Lektüre des Textes selbst zu einem Modus des Philosophierens über die Unlösbarkeit moralischer Konfl ikte und die Komplexität eines sich zu sich selbst verhaltenden Bewußtseins. Georg Bertram geht in seiner Interpretation von Georg Büchners Lenz die Sache etwas anders an. Er entschärft in gewisser Weise den schwelenden Konfl ikt zwischen Philosophie und Literatur dadurch, daß er sie – in einer gewissen Nähe zu Hegel – als zwei Weltanschauungsweisen oder Artikulationen betrachtet, die im Blick auf den Umfang und die Tiefe ihrer Explikation dem Grade nach verschieden, ihrer Aufgabe nach aber ein- und dasselbe Thema bearbeiten: Beides sind ihm Artikulationen, in denen das geistige Leben um seine Verständlichkeit ringt. In dem Aufsatz von Klaus Günther zu Max Frischs Homo Faber geht es um das Verhältnis von Gerechtigkeit und Literatur. Der Autor relativiert die herkömmlichen Deutungen, nach denen Frischs Roman als moderne Tragödie eines auf Wissenschaft und Technik vertrauenden Menschen gelesen wird, der trotz Auf klärung und Naturbeherrschung seinem Schicksal nicht entrinnen kann und so ungewollt schuldig wird. Das Literarische erscheint als ein Medium, das unseren impliziten Glauben an eine mythische Gerechtigkeit aufnimmt, zur Darstellung bringt, aber auch durchschaubar macht und überwindet. Die Lektüre von Michael Endes Momo hat Gernot Böhme angeregt, den modernitätskritischen Subtext des Romans – vor allem im Kontext der europäischen Zeitphilosophien – genauer unter die Lupe zu nehmen. Seine Überlegungen führen an die Grenzen dessen, was man durch rationale Begriffe auf klären und auflösen kann. Es handelt sich dabei um Fragen, die die Philosophie sich immer weniger zu stellen getraut. So bleibt in der Philosophie heute die nicht unwesentliche Frage nach der Einheit der Zeit weitgehend ausgeklammert. Böhme vermutet, daß diese Einheit in einem inneren und äußeren Resonanzgeschehen zu fi nden ist. Als Hauptwerk humoristischer Gegenwartsliteratur versteht Martin Seel Thomas Bernhards Korrektur. Seine Überlegungen verdeutlichen die Komplizenschaft von Vernunft und Komik und zeigen zugleich, wie durch eine ebenso tiefe Fremdheit ihr Verhältnis immer wieder getrübt wird. In seiner Lektüre von Mario Vargas Llosas Roman Der Geschichtenerzähler stellt Andreas Hetzel die Frage, ob und auf welche Weise eine westlich geprägte Literatur den Menschen in unterdrückten außereuropäischen Kulturen ihre Stimme zu verleihen vermag. Dabei geht es auch um das Verhältnis von Literatur und Mythos. Ausgehend von Vargas Llosas Poetik, die das Erzählen dem Nomadisieren annähert, fällt ein kritisches Licht auf die Standards der alteuropäischen Theorien der
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Narration, die für alles Erzählen auf einen geschlossenen und sinnhaften Kosmos verweist: Ist ein Erzählen jenseits dieser Tradition möglich? Kann es Erzählungen im Medium der Zerstreuung geben? Wie schon für Klaus Günther drehen sich die Überlegungen von Josef Früchtl zu Cees Noteboom und von Gerhard Gamm zu Georges-Arthur Goldschmidt explizit um Literatur und Metaphysik. Ihr Hintergrund ist die Kritische Theorie und der mal mehr oder weniger ausgesprochene Verdacht, daß die Literatur das Erbe der Metaphysik antreten könnte, daß sich womöglich nur mittels literarischer Instrumente sagen läßt, was einst die Metaphysik bewegte, oder genauer, daß womöglich nicht jede Sprache zur Darstellung metaphysischer Probleme taugt, eine Indirektheit des Sprechens und Nachdenkens die bessere Wahl darstellt. Für Früchtls Noteboom-Lektüre Die folgende Geschichte ist die Literatur Anlaß zur Selbstkritik einer Philosophie, die in Gestalt der Metaphysik wollte auftreten und auftrumpfen können, das kann sie aber nur mehr indirekt und verstrickt ins Profane sowie in einer »Metaphysik von unten«, während die Literatur das besser kann, weil sie es sich von Anfang an aufgrund ihrer Performativität und Fiktionalität erspart, intentio recta die Dinge erfassen zu wollen. Gerhard Gamm untersucht vor allem zwei für die Erzählung Die Absonderung von Goldschmidt relevante Gesichtspunkte, nämlich das, was Goldschmidt die »Urszene der Entdeckung des Selbst« nennt, sowie die Sprachen, mit denen man in Philosophie und Literatur über diese Szene spricht. Es ist das kleine, unscheinbare Wörtchen »stehen«, das in diesem Kontext eine besondere Rolle spielt. In Abwandlung einer bekannten Sentenz Nietzsches lautet seine These: Ich fürchte, wir werden die Metaphysik nicht los, solange wir an die Metapher glauben. Für Alfred Nordmann ist die von Sebalds Roman Austerlitz subtil gezeichnete Angstfigur des Protagonisten ein Leitfaden durch das Labyrinth eines in die Verwirrung seiner Gefühle eingesperrten Denkers. Sie erinnert die Philosophie fortwährend an den Abgrund des Unverständnisses, den das Denken gerade noch zu bewältigen suchte. Daß das Schöne von Kunst und Literatur »Symbol des Sittlich-Guten« (Kant) ist, klingt, nach allem, was es in der Moderne an avantgardistischen Versuchen mit einem »außermoralischen Sinn« gegeben hat, als höchst vermessen und veraltet. Und doch scheint es gerade im Rückblick auf die Literatur des 20. Jahrhunderts ins Schwarze zu treffen. Es ist sicher nicht der unbedeutendste Zug großer Literatur, Zeugnis abzulegen: nicht nur von der ›unerträglichen Leichtigkeit des Seins‹, sondern auch seiner schieren Unerträglichkeit in Gestalt von Unrecht und Gewalt, Erniedrigung und Schändung, von allen Formen des Autismus und der Sprachlosigkeit, von Selbst- und Fremdzerwürfnissen ohne Ende, freilich ohne in ein vordergründiges Moralisieren zu verfallen. Das zu tun, verhindert die ästhetische Form. Einzig sie macht das Unerträgliche erträglich, das Unsägliche sagbar, sie bringt das Unvorstellbare in die Nähe der Vorstellung, aber so, daß sie in seiner Inszenierung auch das mit zu verstehen gibt, was an Schönem und Lebenswertem,
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Erhabenem und Gelingendem über sie hinausweist. Dabei bleibt aber offen, ob das darin anklingende Versprechen: alles könne zum Besseren sich wenden, Spuren eines Wirklichen oder bloße Täuschungen enthält. Es ist, als ob sich die große Literatur einer ästhetischen List der Vernunft bediente, um mittels ihrer ästhetischen Form darüber hinwegzuhelfen, daß das Negative nicht umstandslos in ein Destruktives sich wandelt. Die ästhetische Form fängt auf, was die Scham verbietet, direkt oder offen darzustellen, sie ist Netz und doppelter Boden, wo ansonsten der entsetzliche Fall ins Bodenlose drohte. Der doppelte Boden der Form, der ästhetischen zumal, ruft die Philosophie auf den Plan, um, wenn sie es denn könnte, Näheres dazu zu sagen.
Tragische Analysis: Sophokles’ »König Ödipus« Von Christoph Menke
I. Nach längerer Untersuchung hat Ödipus, der jetzige König von Theben, herausgefunden, daß kein anderer als er es war, der Laios, den früheren König, am Kreuzweg vor der Stadt erschlagen hat. Dabei hat er zugleich erfahren müssen, daß Laios sein Vater gewesen ist und mithin Jokaste, die frühere Frau des Laios, die nun seine ist (und mit der er mehrere Kinder hat, unter ihnen Antigone), seine Mutter ist. Darauf hin bricht Ödipus in einen Schrei der Verzweiflung aus 1 : »Ödipus Hu! Hu! So wäre nun alles deutlich herausgekommen! O Licht! Könnte ich dich doch jetzt zum letzten Mal sehen! Ich, der ich als Sproß derer ans Licht gekommen bin, die nicht hätten zeugen dürfen, als einer, der zusammenlebt Mit wem er es nicht durfte, als einer, der getötet hat, wen er nicht sollte.« (1182-5)
Danach setzt das vierte Lied des Chores mit den Worten ein: »Chor O ihr Geschlechter der Menschen! Wie zähle ich eure Leben Dem Nichts gleich!« (1186-8) Nach dessen Ende tritt der Diener des Palastes auf und gibt, unterbrochen nur von Zwischenfragen des Chores, einen längeren Bericht über das von ihm beobachtete, aber weder dem Chor noch dem Publikum sichtbare Geschehen im Inneren des Hauses: »Diener des Palastes Ihr, die ihr in diesem Land auf immer in größten Ehren steht, Was für Taten werdet ihr hören und zu Gesicht bekommen, welch ein Leid werdet ihr zu tragen haben, wenn ihr weiterhin wie Verwandte Um das Haus der Labdakiden besorgt seid. Ich bin mir sicher, weder der Istros noch der Phasis könnten Dieses Haus reinwaschen und es säubern von allem, Was es verbirgt. Gleich wird es die schlimmen Dinge in grellem Licht erscheinen lassen. Sie wurden willentlich begangen, nicht ohne Willen. Am meisten schmerzen Die Leiden, von denen sich zeigt, daß man sie selbst gewählt hat. Ich zitiere Sophokles’ König Ödipus nach der Übersetzung von Jean Bollack, Frankfurt/M./ Leipzig 1994. 1
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Christoph Menke
Chor Was wir vorher wußten war schon genug. An Stoff für schwere Klagen mangelte es nicht. Was hast du jetzt noch hinzuzufügen? Diener des Palastes Die Rede, am schnellsten auszusprechen Und am schnellsten zu verstehen, ist die: Sie ist tot, die göttliche Jokaste! Chor Die Ärmste! Und welches war der Grund? Diener des Palastes Sie ist sich selbst der Grund. Von dem, was sich da zugetragen, Fehlt das Schmerzlichste: der Anblick, der bleibt euch erspart. Dennoch sollst du erfahren, soweit das Gedächtnis in mir die Kraft dazu hat, Was die Unselige erlitten hat.« (1223-1240)
Der Diener berichtet dann weiter, wie Jokaste, die, wie Ödipus erfahren hat, seine Mutter ist, außer sich vor Jammer in ihr Zimmer gestürzt war und dort von Ödipus erhängt aufgefunden wurde. Der Diener fährt fort: »Diener des Palastes Er nun Brüllt fürchterlich, da er sie sieht, der Arme, Er lockert das aufgehängte Seil. Sie lag nun auf der Erde, Die Unselige; furchtbar war zu sehen, was danach noch geschah: Er reißt ihr den Schmuck ihrer Gewänder Vom Leib, die goldgetriebenen Nadeln, Nun hob er die Arme, und schlug auf seine Augen. Man hörte ihn sagen: Nein, die Augen sollten weder Das Schlimme sehen, das er erlitten hat noch das Schlimme, das er getan hat. In der Finsternis sollten sie für alle Zeit diejenigen ansehen, die er nicht hätte Sehen dürfen, und diejenigen nicht erkennen, die er zu erkennen wünschte. So sang er die Hymne und hob den Arm, um auf seine Augen Zu schlagen, nicht einmal, nein, immer von neuem. Das aus den Höhlen Fließende Blut benetzte den Bart. Was sich ergoß, Es waren nicht Tropfen von gerinnendem Blut, es war ein Regen, Ein schwarzer, strömender Hagelregen aus Blut. Das Unheil kommt von zwei Menschen, nicht in einem allein ist es ausgebrochen, Sondern dieses Unheil vermischt den Mann und die Frau. Das frühere, altbewährte Glück war vordem Ein wirkliches Glück. Jetzt aber, an diesem Tag, fehlt nichts, Die Klage nicht, das Verderben nicht, der Tod nicht, die Schande nicht – Nichts von allem Unheil, das einen Namen hat. Chor Und jetzt, was macht er, der Arme, wenn ihm das Leiden Ruhe läßt? Diener des Palastes Er ruft, man solle ihm das Tor öff nen; und einer solle ihn, Den Mörder des Vaters und Mörder auch der Mutter, Allen Kadmäern vorzeigen. Er sagt Unheiliges, das ich nicht aussprechen kann, Nämlich daß er sich selbst aus dem Lande werfen werde, nicht länger In dem Hause bleiben werde, beladen mit dem Fluch, den er selbst verkündet hat.
Tragische Analysis: Sophokles’ »König Ödipus«
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Doch fehlt es ihm an Kraft, er braucht jemand, Ihn zu führen; die Qual ist größer, als daß er sie tragen könnte. Auch dir wird es gezeigt werden; die Riegel des Tores dort, Schon stößt man sie auf, gleich wirst du ein Bild zu sehen bekommen, Dessen Anblick den ärgsten Feind mitleiden lassen muß.« (1264-1296)
So endet Ödipus’ Schicksal: sein Schicksal, so wie und so weit es in König Ödipus, Sophokles’ wahrscheinlich irgendwann in den 20er Jahren des fünften Jahrhunderts v. Chr. in Athen aufgeführter Tragödie dargestellt wird. Zwar kennt die griechische Literatur viele andere Versionen dieser Geschichte. Es gab unter den Griechen nicht den Ödipus-Mythos, aber zweifelsohne ist es diese, Sophokles’ Version der Geschichte, die nicht nur unser Bild der Ödipusfigur, sondern zugleich auch unser Verständnis dessen bestimmt hat, was eine Tragödie ist. Seitdem für die erste neuzeitliche Wiederauff ührung einer griechischen Tragödie überhaupt am 3. März 1585 im Teatro Olimpico in Vicenza die Wahl auf Sophokles’ König Ödipus fiel 2 , ist dieses Stück im Verständnis von Neuzeit und Moderne zu der exemplarischen Tragödie geworden. Von Ödipus’ Ende her, so wie es der Diener des Palastes schildert, scheint klar, warum das so ist: Es scheint an der Entschiedenheit zu liegen, mit der Sophokles’ Stück den leidenden Menschen in den Vordergrund schiebt. Gerade weil hier keines der gräßlichen Geschehnisse vorgeführt wird, sondern von ihnen nur berichtet wird, erscheint der Mensch, Ödipus, hier als diese Geschehnisse Erleidender – als Opfer. So kündigt der Diener, auf halbem Wege zwischen dem Ausrufer jahrmarktlicher Schauerspektakel und christlicher Ecce homo-Geste, an, daß sich gleich das Tor des Palastes, hinter dem verborgen das Geschehene sich abgespielt hat, öff nen und Chor wie Publikum »ein Bild zu sehen bekommen [werden], / Dessen Anblick den ärgsten Feind mitleiden lassen muß« (1295-6). Dem entspricht dann auch, wie der Chor auf die Erscheinung des leidenden Ödipus reagiert, der sich selbst die Augen ausgestochen hat, um »weder / Das Schlimme [zu] sehen, das er erlitten hat, noch das Schlimme, das er getan hat« (1271-2): »Grauenvoll anzusehen für die Menschen das Leiden! / Das Grauenvollste von allem, dem ich / Je begegnet bin!« (1297-9) Der Schluß von König Ödipus bringt die Situation des Theaters, das ja nichts anderes als eine Szene, ein Apparat des Vorführens und Zuschauens ist, selbst auf die Bühne. Dieser Schluß ist Theater auf dem Theater: hier der zuschauende, mitleidende und beklagende Chor, dort, auf der Bühne, der leidende und klagende Mensch: »Ach, ach! Wehe, wehe! Ich Unseliger! / Wohin bloß werde ich denn getragen, ich Armer? Wie / Zerstiebt meine geborstene Stimme?« (1308-10) Der Schluß des König Ödipus zeigt aber nicht nur, wie der Chor von diesem Übermaß des Leidens zunächst überwältigt ist: »sogar dich anzuschauen, / Fehlt mir die Hellmut Flashar: Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit, München 1991. 2
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Christoph Menke
Kraft, wo ich doch so viel zu erfragen wünschte« (1303-4). Der Schluß von König Ödipus läßt im Chor auch bereits einen Prozeß des Nachdenkens, der Reflexion über das Gesehene beginnen, der seinen Ausdruck in der berühmten Schlußsentenz fi ndet: »Chor Ihr, die ihr das Theben eurer Väter bewohnt, schaut diesen Ödipus, Der die berühmten Rätsel wußte und der in der Welt der Mächtigste war. Ihm galt in der Stadt das eifernde Streben und auch der Erfolg nichts. In welchen Wirbel furchtbaren Unheils wurde er hineingerissen! So wird denn ein sterblicher Mensch, der sich diesen einen Tag, den letzten, Den jener gesehen hat, vor Augen hält, niemanden je glücklich preisen, bevor er Sein Leben nicht zu Ende gelebt hat, ohne Leid zu erfahren.« (1524-30)
Was der Chor hier ausspricht, ist die Einsicht, die wir durch unser Schaudern und Mitleiden mit dem Schicksal des Ödipus gewinnen können: die Einsicht in die Vergänglichkeit des Glücks. Diese Einsicht, die Aristoteles im ersten Buch der Nikomachischen Ethik als philosophische Einsicht diskutieren wird, ist eine allgemeine. Mit ihr geht die Tragödie in die Philosophie über; das Ende der Tragödie ist der Anfang der Philosophie. Auch das gehört zu den Gründen, aus denen König Ödipus zu der exemplarischen Tragödie geworden ist: König Ödipus zeigt nicht nur einen Menschen in seinem Leiden, sie entwirft in der Reaktion des Chores überdies die Grundzüge einer Theorie der Wirkung der Vorführung und Erfahrung dieses Leidens auf die Zuschauer. Die Tragödie König Ödipus entwirft also selbst eine Theorie der Tragödie, die hier, in ihrem letzten Satz, zugleich eine Theorie des Verhältnisses von Tragödie und Philosophie, ja von Literatur und Philosophie überhaupt ist: als des Verhältnisses wechselseitiger Abhängigkeit zwischen Affekt und Reflexion, zwischen einem Empfi nden, das dem je besonderen Schicksal, dem Schicksal dieses Menschen gilt, und einer aufs Allgemeine gerichteten Einsicht, einer Einsicht in das Schicksal des Menschen. So, als eine Schaudern und Mitleid weckende Vorführung von Leiden und Klagen eines dem Schicksal Ausgelieferten, die uns die Zufälligkeit unseres Glücks überhaupt vor Augen führt, kann man Sophokles’ Tragödie des Ödipus aber nur lesen, wenn man sie nur vom Schluß her liest: von dem Schluß her, den der Chor aus dem Schluß von Ödipus’ Schicksal zieht. Schon dieser Schluß aus dem Schluß aber muß vieles überhören und übersehen. Er muß überhören, was der Diener über die Leiden des Ödipus sagt: daß er »sie selbst gewählt hat« (1231). Er muß auch Wesentliches von dem überhören, das Ödipus nach dem Bericht des Dieners gesagt hat, nachdem er sich selbst geblendet hat; Dinge wie, daß das »frühere, altbewährte Glück«, das Ödipus mit seiner Mutter und Frau Jokaste erlebt hat, »vordem / Ein wirkliches Glück« war (1282-3), durch den schrecklichen Schluß also nicht in Frage gestellt wird. Oder daß Ödipus sich »beladen mit dem Fluch, den er selbst verkündet hat« (1291), sieht. Damit ist ein Motiv benannt, das sich wie ein roter
Tragische Analysis: Sophokles’ »König Ödipus«
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Faden durch die beiden längeren Unterredungen zieht, in denen Ödipus nach seiner Selbstblendung zunächst gegenüber dem Chor zu erläutern versucht, warum er sich so bestraft hat, sodann gegenüber Kreon, der als Bruder der Jokaste nun die Stadt regiert, wie er noch weiter bestraft werden soll. In keinem dieser beiden Zusammenhänge erleben wir Ödipus allein als an seinem Schicksal Leidenden und über es Klagenden. Ödipus reklamiert vielmehr Täterschaft – ebenso für seine Strafen wie für sein Schicksal. »Chor O du! Grauenvolles hast du getan! Wie konntest du das tun, dein Augenlicht zerstören, solch ein Gut? Wer von den Göttern trieb dich? Ödipus Apollon war es, Apollon, ihr Freunde! Der die schlimmen Dinge, die schlimmen, vollbracht hat, diese meine Leiden, die meinen! Nicht irgendein Mörder hat zugeschlagen mit eigener Hand, Sondern ich selbst war es, ich Armer!« (1327-32)
»Ich selbst war es, ich Armer« – d.h.: Ich selbst war es, der zugeschlagen, der sich geschlagen hat. Ich, Ödipus, bin der »groß[e] Zerstörer« (1341): der Zerstörer meiner selbst. Und zwar bin ich es, ja will ich es nun sein, der sich straft: der sich selbst blendet und der sich selbst aus der Stadt vertreibt – gegen den Willen des zögerlichen Kreon, der sich kein Urteil darüber zutraut, wie mit Ödipus zu verfahren sei und lieber noch einmal zum Orakel nach Delphi gehen will, um »erst noch zu vernehmen, was zu tun sei« (1443). Denn indem ich, Ödipus, mich selbst für meine Taten strafe, ziehe ich nur die Konsequenzen daraus, daß es eben nichts als meine eigenen Taten waren, die mich – mich, »[D]er die berühmten Rätsel wußte und der in der Welt der Mächtigste war« (1525) – ins Unheil gestürzt haben: »Das habe ich, ich Allerunseligster, / Der ich wie kein anderer in der Stadt Theben vom Glück verwöhnt war, / Mir selbst genommen.« (1379-81) Damit ergibt sich ein anderes Bild von Ödipus’ Schicksal. Das heißt: Ödipus selbst zeichnet ein anderes Bild seines Schicksals, als es der Diener und vor allem der Chor tun. Sie beschreiben und beklagen als »Schicksal« ein Geschehen, in dem jemand, ohne eigene Schuld, aus höchstem Glück in tiefstes Unheil gestürzt wird. Dafür liegt es dann nahe, übermenschliche Mächte verantwortlich zu machen. Und einem solchen Schicksal gegenüber bleibt dem Betrachter nur Mitleid mit dem Opfer und Resignation vor der Macht, die es schlägt. Dem widerstreitet eine zweite Schicksalsauff assung, die Diener und Chor andeuten, die entschieden aber vor allem Ödipus selbst äußert. Darin ist »Schicksal« kein Geschehen, sondern ein Handlungsverlauf: Im Schicksal wendet sich eine Handlung gegen ihren Urheber. Wer ein Schicksal erleidet, ist daher zugleich Handelnder, Täter seines Schicksals. Das Schicksal, das König Ödipus, die Tragödie, darstellt, wird durch das Handeln hervorgebracht und vorangetrieben, das König Ödipus, die tragische Person, ausführt; Ödipus’ Schicksal ist seine eigene Tat. Es ist niemand anderes als er selbst,
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Christoph Menke
der sich sein Schicksal bereitet. Ja, darin besteht nach dieser Auffassung die Tragik eines Schicksals: nicht allein darin, daß jemandem Grauenvolles zustößt, sondern daß er es sich selbst, natürlich: ohne Wollen und Wissen, also unbewußt, zufügt. »Tragik« heißt nicht schon, daß ich von fremden, übermächtigen Mächten Schreckliches erleide. »Tragik« heißt: Ich selbst bin zu meinem schlimmsten Feind geworden. Wenn es aber das ist, das in der Tragödie des Ödipus zur Darstellung kommt, dann können auch Mitleiden und Mitklagen nicht mehr das einzige, das angemessene Verhalten der Zuschauer sein. Mitleiden und Mitklagen sind angemessen gegenüber einem schicksalhaften Geschehen, das jemanden von außen, ohne sein Zutun vernichtend triff t. Darin, daß wir in die Klage des Geschlagenen einstimmen, bringen wir zum Ausdruck, daß uns das schicksalhafte Geschehen vielleicht unabänderlich, aber gewiß unverdient erscheint. Insofern ist die Tragödie immer schon eine Kritik des Schicksals: des Scheins seiner Gerechtigkeit; in der Klage über das Schicksal steckt die Anklage gegen das Schicksal. Wenn das tragische Schicksal aber darin besteht, daß ein Handeln sich gegen sich selbst wendet, ein Handelnder sich selbst zerstört, dann ist zwar auch hier noch, wie immer, wenn gelitten wird, Mitleiden und -klagen am Platz; Weh spricht vergeh. Dem zur Seite aber muß eine ganz andere Einstellung treten: die der Erkenntnis. Wodurch ist es passiert, und wie kann es überhaupt sein, daß sich ein Handeln gegen sich selbst richtet? Wie kann ein Handeln, das um des Guten willen unternommen wurde, durch sich selbst das Schlimmste hervorbringen? Welche abgründige Logik wirkt hier? Nur ein Zuschauer, der auf hört, mit dem Chor zu schaudern und zu klagen, und das Dargestellte untersucht, kann hierauf eine Antwort fi nden. König Ödipus wird nicht gerecht, wer sich seinen tragischen Affekten überläßt, sondern nur wer »tragische Analysis« 3 betreibt. II. Worin besteht das Handeln, durch das Ödipus sein Unheil hervorbringt? Womit beginnt sein Schicksal, das so endet?4 In den Unterredungen mit dem Chor und mit Kreon, in denen Ödipus zum Schluß der Tragödie sein Schicksal zu deuten versucht, gibt er zwei Antworten auf diese Fragen. Die eine Antwort scheint klar, die andere ist unklar. Die scheinbar klare Antwort, die aber selbst noch der Erklärung bedarf, lautet (im unmittelbaren Anschluß an die bereits zitierte Aussage, nach der Ödipus sich sein Glück »selbst genommen« habe): »Ich selbst verkündete doch, / Der Gottlose habe alle von sich zu stoßen!« (1381-2) Was Ödipus damit Schiller an Goethe, 2.10.1797. Die Antwort, die ich in diesem Abschnitt (II.) auf diese Fragen skizziere, ist eine Zusammenfassung der ausführlicheren Argumentation in Vf.: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt/M. 2005, Teil I. 3 4
Tragische Analysis: Sophokles’ »König Ödipus«
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meint, hat der Diener vorher deutlicher ausgesprochen. Er sagte, Ödipus sei »beladen mit dem Fluch, den er selbst verkündet hat« (1291). Das verweist zurück auf die große Fluchrede, in der Ödipus, früh im Stück, all diejenigen verdammt, die in die Ermordung des Laios verwickelt sind und sich ihm jetzt nicht offenbaren. Ödipus hat das nicht getan; d. h.: Er war in die Ermordung des Laios verwickelt – er ist sein Mörder – und hat sich nicht offenbart, daher ist er nun am Ende selbst, und zwar: durch sich selbst, verdammt. Sein Schicksal – so lautet die erste Antwort, die Ödipus am Schluß des Stückes gibt – besteht demnach darin, nur darin, von eben dem Fluch eingeholt zu werden, dessen Autor er war. Die zweite Antwort, die Ödipus hier gibt, klingt noch rätselhafter. Ödipus gibt sie an der bereits zitierten Stelle, an der er auf die Frage des Chores: »Wer von den Göttern trieb dich?« mit einer doppelten Behauptung antwortet. Er sagt dort zuerst: »Apollon war es, Apollon, ihr Freunde!« Und dann: »ich selbst war es, ich Armer!« (1329-31) Wie geht das zusammen: »Apollon war es« und »ich selbst war es«? Apollo ist der Gott des Orakels zu Delphi, das unter dem Motto steht: »Erkenne dich selbst«. Daß ›es Apollon war‹ und daß ›ich selbst es war‹, schließt sich daher nicht aus. Ich, Ödipus, war es selbst, sofern ich Apollos Weisung gefolgt bin und (selbst bzw. Selbst-) Erkenntnis gesucht habe. Der Moment, in dem sich Ödipus’ Schicksal von Glück in Unheil wendet, ist eben der, in dem er sich selbst erkennt; der Umschlag in Ödipus’ Schicksal von Glück in Unglück und Ödipus’ Erkenntnisgewinn über seine Taten (und seine Identität) fallen in eins. Das also sind die beiden Antworten, die Ödipus sich auf die Frage gibt, wodurch er, nur er selbst, sich sein Schicksal bereitet hat: durch seinen Fluch, der ihn am Ende selbst triff t, und durch die Selbsterkenntnis, die er in diesem Stück betreibt. Damit aber überhaupt nur eine dieser beiden Antworten verständlich werden kann, müssen wir beide Antworten als eine verstehen: Wir müssen verstehen, warum Ödipus’ Selbsterkenntnis mit einem Fluch verbunden ist. Dafür ist es zunächst nötig, genauer zu bestimmen, worin Ödipus’ Erkenntnisunternehmen besteht, um dann zu verstehen zu versuchen, weshalb dies als ein Fluch wirkt. Bis zu dem Zeitpunkt, bei dem ich mit meiner Deutung eingesetzt habe; dem Zeitpunkt, zu dem Ödipus sagt: »So wäre nun alles deutlich herausgekommen!« (1182), sehen wir Ödipus nur mit einem beschäftigt: damit, Wissen zu gewinnen. Die Philosophen haben in Ödipus daher gerne einen der Ihrigen gesehen – nach Heidegger wird Ödipus angetrieben durch die »Leidenschaft der Seinsenthüllung« – oder ihn als einen Auf klärer demaskiert, der, so Horkheimer und Adorno, durch Wissensgewinn alles Geschehen »auf das Subjekt« zu »reduzieren« versucht. 5 Daß Ödipus Wissen zu gewinnen sucht (und zwar gegen den wiederholt erteilten Rat, davon abzulassen), liegt aber nicht daran, daß er Philosophie oder Auf klärung Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik, Tübingen 61998, 81 f.; Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, in: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften 3, Frankfurt/M. 1981, 22 f. Vgl. Jean-Josephe Goux: Oedipus, Philosopher, Stanford 1993. 5
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betreibt, sondern daß er – so porträtiert ihn der Chor gleich zu Anfang – ein guter König ist. Ödipus will einen Mord auf klären und sühnen. Und das will er, weil er glaubt, daß die jahrelange Gleichgültigkeit, die jahrelange Urteilspassivität, mit der die Thebaner die Tötung ihres Königs Laios hingenommen haben, ebenso diesem, als dem Opfer, wie dem Land und den Göttern gegenüber ein Unrecht darstellt. Ödipus sucht Wissen nicht aus Sorge um die Wahrheit, sondern aus Sorge um die Stadt, genauer: aus Sorge um das Recht, dessen Vernachlässigung die Stadt, so glaubt Ödipus das eingangs des Stücks verkündete Orakel von Delphi verstehen zu müssen, mit der Pest überzogen hat. Ödipus’ Schicksal ist also nicht das Schicksal des Erkennenden, des wahrheitssuchenden Philosophen oder Forschers, sondern des Richters. Die Handlungsweise, durch die Ödipus sein Unheil bewirkt, besteht in der Suche nach Wissen darum, wer Laios getötet hat. Aber dieses Wissen strebt Ödipus nicht um seiner, des Wissens, selbst willen an. Ödipus’ Suche nach Wissen erfolgt vielmehr im Rahmen eines Rechtsprozesses, der, wie die Literatur gezeigt hat, aufs Genaueste den Schritten und Verfahren entspricht, mit denen in Athen Mordprozesse durchgeführt wurden. Mordprozesse aber werden geführt, nicht allein um zu wissen, wer was getan hat, sondern um ein Urteil zu fällen und damit eine Bestrafung zu ermöglichen; eine rechtliche Untersuchung zielt auf eine Beoder Verurteilung. Bevor Ödipus mithin zum Untersuchenden wird, will er Urteilender sein; er untersucht, er sucht Wissen, um zu urteilen. Und es ist nichts anderes als dieses Urteilenwollen, genauer: sein Selber-, als Richter, Urteilenwollen, das sein Unheil hervorbringt. Das Unheil, das Ödipus am Schluß geschieht, wird von ihm selbst so gedeutet, daß ihn hier der Fluch ereilt, den er selbst zuvor ausgesprochen hat. »Ich Armer!«, sagt Ödipus, »Mich selbst habe ich vorhin, wie es scheint, / Furchtbarer Verfluchung ausgesetzt, ohne es zu wissen.« (744-5) Was ist eine Verfluchung? Ein Fluch ist ein Sprechakt, mit ihm macht man etwas: Mit einem Fluch macht man jemanden zu etwas. Und zwar macht man den anderen dazu auf unmittelbare Weise: so, daß der andere dies nun ist, ob er es will oder weiß. Als Verfluchter kann der andere nur noch so sein, wie ich ihn genannt habe. Ein Fluch ist eine Überwältigung, die unentrinnbar ist und doch durch nichts als Sprache geschieht. Wenn es also Ödipus’ Richtertum, sein Untersuchen-um-zu-urteilen, ist, das ihn ins Unheil stürzt; und wenn er Recht damit hat, dieses Unheil so zu deuten, daß ihn hier ein Fluch triff t, den er selbst zuvor hervorgebracht hat – dann ist dies die Frage, die Ödipus’ Schicksal stellt: Wieso steckt im richterlichen Urteilen ein Fluch, eine Verdammung? Genau das nämlich ist es, das Ödipus in der schlechthin entscheidenden, in der sein Schicksal vorentscheidenden Szene des Stückes tut: Ödipus, der soeben noch gesagt hat, daß er nun in einem gerichtlichen Untersuchungsprozeß »die Sache [also: den Mord an dem früheren König Laios] aufs neue, von ihrem Ursprung her« auf klären wolle (132), Ödipus, der Richter, verflucht:
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»Ödipus Du verlangst. Was du verlangst – wenn du mir zuhörst Und bereit bist, meine Worte aufzunehmen und der Seuche zu dienen, So kannst du dafür Kraft zur Abwehr und eine Erleichterung in der Not fi nden In dem, was ich sagen werde als einer, dem diese Ankündigung selbst so fremd ist, Wie mir fremd ist, was getan wurde. Ich würde sonst der Spur nicht so lange folgen; Hätte ich nur irgendein Indiz, so täte ich es nicht. Aber jetzt als einer, der erst spät Bürger unter Bürgern geworden ist, Verkünde ich euch Kadmäern, euch allen, dies: Wer von euch weiß, wer der Mann ist, durch den Laios, Der Sohn des Labdakos, umgebracht wurde, Diesem befehle ich, mir alles anzuzeigen. Und fürchtet er die Anschuldigung, so soll er ihr entgehen: Er mag sie gegen sich selbst vorbringen; denn es wird ihm dann weiter nichts Unliebsames geschehen, er kann in Sicherheit das Land verlassen. Wenn aber jemand weiß, der Mörder ist ein anderer, aus einem anderen Land, So soll er nicht schweigen. Seinen Lohn Wird er von mir erhalten, und man wird es ihm danken. Schweigt ihr jedoch und es wendet jemand aus Furcht Dieses Wort von einem Freunde ab oder gar von sich selbst, Was ich dann tun werde, hört dies jetzt von mir: Diesem Mann, wer er auch sei, gebiete ich, in diesem Land, Wo ich die Gewalt und den Thron innehabe, Keinen bei sich aufzunehmen und an keinen das Wort zu richten, Mit keinem sich zu vereinen in den Gebeten an die Götter Und in den Opferhandlungen, mit keinem das heilige Wasser zu teilen. Jeden soll er aus seinem Haus verstoßen; dies ist der Frevel, Der auf uns lastet, wie das pythische Orakel Des Gottes mir soeben enthüllt hat. In solcher Weise kämpfe ich im Bündnis Mit dem Gott und auch mit jenem Mann, der erschlagen wurde. Den, der es getan hat und der uns verborgen bleibt, mag er es allein Getan haben oder mit anderen zusammen, diesen Mann verdamme ich In Grund und Boden: Er soll ein von allen geächtetes Leben fristen. Und außerdem gelobe ich: Falls er in meinem eigenen Haus Den Herd mit mir teilt und ich es weiß, So soll auch ich den Fluch erleiden, den ich soeben gegen jene ausgestoßen habe. Euch aber trage ich auf, dies alles zu tun Um meinetwillen, um des Gottes und um dieses Landes willen, das ohne Frucht und von den Göttern verlassen dahinsiecht. Denn hätten auch die Götter nicht das Geschehene wieder herangetrieben, So durftet ihr es doch nicht unterlassen, die Dinge zu bereinigen, Wo der beste der Männer, der König, umgekommen war.
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Ihr hättet der Sache auf den Grund gehen sollen. Jetzt, da es sich triff t, daß ich es bin, Der die Macht besitzt, die früher dem anderen gehörte, Und der das Bett und die gemeinsam besamte Frau besitzt, Und es gar zwischen uns eine gemeinsame Vaterschaft gäbe Von gemeinsam entsprossenen Kindern, wenn das Unheil nicht dessen Geschlecht getroffen hätte – Jetzt, da das Schicksal über ihn hereingebrochen ist, Hat er ein Recht darauf, daß ich, als ob es um meinen eigenen Vater ginge, Mich für ihn einsetze, und nichts wird mich abbringen Von meinem Entschluß, den Mann zu fassen, der den Mord beging.« (216-266)
Diese lange Rede, die voller Ironien ist, voller Stellen, an denen Ödipus, ohne dies zu durchschauen, über sich und sein künftiges Schicksal spricht; diese Rede beginnt Ödipus als ein Untersuchungsrichter, der nicht weiter weiß: Die Sache ist schon lange her, keiner redet, Ödipus hat kein »Indiz«. Darauf hin greift er zunächst zum Mittel der Drohung gegen Täter, Mitwisser und Zeugen, die ihr Wissen nicht preisgeben wollen: »Was ich dann tun werde, hört dies jetzt von mir [...]« (235). Dann aber ändert sich Ödipus’ Redeweise grundlegend: Er »gebietet« (236) ihnen, sich selbst aus der Gemeinschaft auszuschließen: ›Sie sollen keinen bei sich aufnehmen und an keinen das Wort richten, mit keinem sich vereinen in den Gebeten an die Götter und in den Opferhandlungen, mit keinem das heilige Wasser teilen. Jeden sollen sie aus ihrem Haus verstoßen.‹ Das ist nicht mehr wie zuvor eine Lokkung mit positiven oder Drohung mit negativen Konsequenzen. Es ist vielmehr die Vorschrift eines Tuns – eine Vorschrift aber, an der beides eigentümlich ist: ebensosehr was als auch wie sie vorschreibt. Was Ödipus dem Täter, seinen Mitwissern und Zeugen, die ihr Wissen nicht preisgeben wollen, gebietet, ist, daß sie selber etwas tun sollen: Sie sollen keinen bei sich aufnehmen, jeden aus ihrem Haus verstoßen, an keinem Opfer und Gebet teilnehmen; sie sollen sich also selbst aus der politischen und religiösen Gemeinschaft ausschließen. Darauf komme ich gleich zurück. Ebenso eigentümlich ist, wie Ödipus hier gebietet: Denn Ödipus’ Gebot an den Täter und seine Mitwisser, sich selbst aus der Gemeinschaft auszuschließen, besteht darin, daß er ihnen den Status aus der Gemeinschaft bereits Ausgeschlossener verleiht. Ihr Selbstausschluß ist bloßer Ausdruck, bloßer Nachvollzug ihres Ausgeschlossenseins. Das eben macht Ödipus’ Vorschrift zu einer Verdammung (247), einer Verfluchung (251). Denn ein Fluch ist ein Gebot, das unmittelbar zu Taten führt, dessen Befolgung daher, anders als eine Drohung, kein eigenes Entscheiden seines Adressaten mehr verlangt. Alle Worte, sofern sie gebraucht werden, sind Taten, Verfluchungen aber sind es auf eigentümliche Weise: Sie sind Worte, deren Aussprechen allein bereits bewirken wird, ja schon bewirkt hat, daß ihr Adressat in einen anderen Zustand versetzt ist, den des Verfluchtseins. Eine Drohung richtet sich an jemanden, der
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Wünsche und vor allem Ängste hat und Überlegungen anstellt, wie er jene erreichen oder diese vermeiden kann. Die Verfluchung bewirkt das geforderte Verhalten auf ganz andere Weise: ohne Vermittlung durch weitere Überlegungen – unmittelbar; ein Fluch ist etwas, das man »erleidet«, wie Ödipus sagt (251), etwas, das seinen Adressaten ereilt. Denn die Verfluchung macht aus ihrem Adressaten jemanden, der, ohne sich dazu entschieden zu haben und daher ohne sich dagegen entscheiden zu können, nur noch in der vom Fluch vorgegebenen Weise handeln kann; das Handeln, zu dem der andere verflucht ist, ist bereits so gut wie geschehen. Nichts, jedenfalls nichts was Menschen tun könnten, wird mehr dazwischentreten. Aber weshalb verflucht Ödipus hier diejenigen, die mit dem Mord an Laios zu tun haben und sich weigern, ihr Wissen zu teilen? Diese Frage zielt nicht auf die Motive, die Ödipus leiten mögen, sondern darauf, wie sich seine Verfluchung zu seiner Rolle als Richter verhält. Ist das richterliche, das rechtsförmige Urteilen, dem Ödipus sich verschrieben hat, nicht das Gegenteil einer Verfluchung, ja, seinem Selbstverständnis und Programm nach eine Überwindung der alten, magischen Praxis der Verfluchung? Eine Verfluchung ist eine Überwältigung, die den anderen von außen, ohne sein Zutun, triff t. Wenn ich die Macht dazu habe – und die habe ich nur, wenn ich, wie Ödipus sagt, »im Bündnis / Mit dem Gott« agiere (244-5) –, kann ich den anderen zu allem, was ich will, verfluchen. Der Richter dagegen urteilt allein aufgrund der Sache. Darin ist er gerecht: Das richterliche Urteil ist dem Verurteilten nichts Fremdes, Äußerliches, sondern bringt nur zum Ausdruck, wie die Sache selbst ist; ja, das richterliche Urteil bringt nur zum Ausdruck, wie sein Adressat selbst urteilen würde. Das rechtlich gerechte Urteil des Richters unterwirft den Verurteilten nicht einer fremden Macht, denn es ist nicht anders und nichts anderes als seine Selbstverurteilung. Genau das aber, die Selbstverurteilung und -bestrafung, ist es, wozu Ödipus hier die Schuldigen und Mitwisser verflucht. Sein Fluch und sein Verfluchen sind also nichts dem rechtlichen Urteilen Äußerliches. In Ödipus’ Fluch kommt vielmehr ein Zusammenhang zum Ausdruck, der das rechtliche Urteilen in seinem Inneren bestimmt. Das ist der Zusammenhang zwischen Verurteiltwerden (durch den Richter) und Selbstverurteilung (des Schuldigen). Diesen Zusammenhang versteht das Recht so, daß in ihm die Nicht-Äußerlichkeit, also: die Gerechtigkeit des Urteils zum Ausdruck kommt: Das Recht versteht das gerechte Urteilen durch den Richter so, daß ihm die Selbstverurteilung des Schuldigen entspricht. Dieser Zusammenhang unterliegt auch der Fluchrede des Ödipus. Nur wird dieser Zusammenhang hier ganz anders verstanden: nicht so, wie das Recht ihn versteht, als Gerechtigkeit, sondern im Gegenteil als Überwältigung, als Gewalt. Indem das Recht einen Schuldigen verurteilt, verlangt es von ihm eine Selbstverurteilung, die, obwohl, nein, weil selbst vollzogen, gewaltsam wirkt. Denn es ist nicht nur eine Selbstverurteilung, die der Betreffende vollziehen muß, die das Recht ihm auferlegt: Das Recht zwingt zu urteilen. Es ist vor allem eine Selbstverurteilung, die für das sich verurteilende Selbst unlösbar ist:
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Wer sich selbst verurteilen muß, kann sich nie mehr freisprechen. Er ist nun verurteilt – verdammt dazu, sich selbst zu verdammen. Ödipus’ Erfahrung ist, daß Urteilenwollen Unheil schaff t. Denn das Selberurteilenwollen, das den Richter Ödipus antreibt, führt zu seiner Selbstverurteilung – genauer: zu einem Sichverurteilenmüssen, das Ödipus so erfährt und beklagt, daß er darin von einem Fluch eingeholt werde – deren Urheber er durch seine richterliche Wissenssuche selbst gewesen ist. Dieser Umschlag in Ödipus’ Urteilen, von Selberurteilenwollen ins Sichselbstverurteilenmüssen ist der Umschlag in Ödipus’ Schicksal: vom königlichen Richter zum herumirrenden Verdammten. Dieser Umschlag findet statt, als Ödipus sich die Tötung seines Vaters und den Inzest mit seiner Mutter zuschreibt. Zum Richter über sich selbst, als Täter solcher Taten, zu werden; also: sich selbst als Täter solcher Taten zu beurteilen, kann nur zu einer Selbstverurteilung führen, die, nicht obwohl, sondern weil man sie selbst durchführt, nämlich: weil man sie selbst durchführen muß, wie ein Fluch wirkt und lastet. III. König Ödipus so zu lesen, wie es der vorhergehende Abschnitt angedeutet hat, bedeutet, sein tragisches Schicksal nicht bloß mitleidend, sondern erkennend zu erfahren. Das führt zur Einsicht darein, wie Ödipus sich durch die neue Handlungsweise, die er ein- und durchführt, die Handlungsweise rechtlichen Untersuchens und Urteilens, selbst ins Unheil stürzt. Darin ähnelt der Zuschauer von König Ödipus – des Theaterstücks – dem König Ödipus – der dramatischen Person: Beide suchen Erkenntnis. Zugleich unterscheiden sich beide, Theaterzuschauer und dramatische Person aber grundlegend; ihre Weisen der Erkenntnis, die im Stück vorgeführte des König Ödipus und unsere des Stücks König Ödipus, unterscheiden sich grundlegend. Ödipus’ eigene Weise des Erkennens ist urteilend: Das rechtliche Untersuchen zielt nicht allein auf die Feststellung der Tatsachen, sondern auf deren Beurteilung gemäß bestimmter Normen. Die Erkenntnis, die der Zuschauer dieses Stücks gewinnt, besteht hingegen darin, daß das rechtliche Urteilen den Beurteilten mit der Gewalt eines Fluchs triff t: des Fluchs, sich selbst zu verurteilen. Die Erkenntnis des Zuschauers gilt den Folgen der rechtlich urteilenden Erkenntnis für die in ihrem Tun beurteilte Person. Die Erkenntnis des Zuschauers ist Erkenntnis der (rechtlich urteilenden) Erkenntnis. Die Erkenntnis des Zuschauers der Tragödie ist eine reflexive Erkenntnis. So versteht es auch eine Philosophie, die in dem Ende der Tragödie ihren eigenen Anfang sieht: Sie versteht die Erfahrung der Zuschauer der Tragödie so, daß sie selbst schon auf den allgemeinen Gehalt des ihnen vorgeführten Einzelschicksals reflektieren. Die Philosophie deutet es so, daß die Zuschauer der Tragödie verstanden haben, daß die Tragödie »philosophischer« 6 ist als der Bericht von ihren 6
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Ereignissen, weil es in ihr um etwas Allgemeineres geht als die Ereignisse, von denen sie berichtet. Die reflexive Erkenntnis der Erkenntnis, die die Zuschauer der Tragödie gewinnen, folgt aber nicht diesem Modell philosophischer Verallgemeinerung. Sie ist kein Schritt vom Einzelnen zum Allgemeinen, sondern eine Reflexion von eigentümlich aporetischer Verfassung. Eben darin, in ihrer Aporie, in der Ausweglosigkeit, in die sie führt, ist die Reflexion der Zuschauer eine Reflexion über die Tragödie. Die Erkenntnis der Zuschauer der Tragödie ist reflexiv, weil sie eine Erkenntnis derjenigen Erkenntnis ist, die Ödipus in der Tragödie vorantreibt. Darin gleicht die Erkenntnis der Zuschauer der Tragödie zunächst einer philosophischen Erkenntnis: Sie ist auch eine Erkenntnis der Form von Ödipus’ Erkenntnis. Aber die Erkenntnis der Zuschauer der Tragödie ist nicht nur das: Wenn die Erkenntnis der Zuschauer der Tragödie in der Einsicht besteht, daß und weshalb das rechtliche Urteilen den Beurteilten mit der Gewalt eines Fluchs triff t – weil er durch das rechtliche Beurteiltwerden zu einem sich selbst Verurteilenden gemacht wird –, dann ist diese Erkenntnis der Zuschauer nicht nur eine Erkenntnis der Form der rechtlichen Erkenntnis, sondern ihrer Bedeutung: ihrer Bedeutung für den, der in eins ihr Objekt und ihr Subjekt ist. Die Reflexion der Zuschauer der Tragödie auf die Form rechtlicher Erkenntnis ist also nicht neutral: Sie ist eine Reflexion, für die die Sicht und Erfahrung des Beurteilten wesentlich ist. Daß eine Einstellung bloßen Mitleidens und -klagens gegenüber der Tragödie nicht zureichend ist, weil sie die Struktur des dargestellten Schicksals verkennen muß – sie muß verkennen, daß und wodurch das Schicksal den Helden nicht von außen triff t, sondern von ihm selbst gemacht ist –, das bedeutet nicht umgekehrt, daß die richtige Erkenntnis des Schicksals mit seiner Bejahung einherginge. Entgegen einer schlechten deutschen Tradition, die gerade an König Ödipus das passende Beispiel gefunden zu haben meinte, darf die tragische Erkenntnis des Schicksals nicht als dessen heroische Affi rmation verstanden werden. Im Gegenteil: Wenn die tragische Erkenntnis des Zuschauers nicht nur der Form, sondern der Bedeutung der rechtlich urteilenden Erkenntnis für die Person, die von ihr erfaßt wird, gilt, dann muß die tragische Erkenntnis die Perspektive dieser Person, also ihre Klage über das erfahrene Schicksal einbegreifen. Wie sich an Ödipus selbst sehen läßt, so wie er zu Ende des Stücks auftritt – denn an diesem Ende wird die dramatische Figur des Ödipus zu ihrem eigenen Zuschauer –, steht die tragische Erkenntnis damit vor der komplexen, wenn nicht unlösbaren Aufgabe, aus zwei Perspektiven zugleich zu schauen, in einem Doppelblick zwei unvereinbare Sichten zusammenzuhalten: die Draufsicht des Zuschauers, der die Ironie erkennt und – weshalb es verschweigen – der die Ironie genießt, in der sich das Handeln des Helden gegen ihn selbst richtet, und die Erfahrungssicht des Helden, der unter seinem selbstverhängten Schicksal mehr noch leidet als unter einem von außen auferlegten. Der Zuschauer muß sich in der tragischen Erkenntnis in Zuschauer und Teilnehmer verdoppeln.
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Diese Verdoppelung spaltet, ja zerreißt den Zuschauer der Tragödie. Das tragische Schicksal des Ödipus, die ironische Wendung des Handelns gegen sich selbst, bietet seinem Zuschauer einen doppelten Anblick, dessen beide Seiten er nie zur Deckung bringen kann. Auf der einen Seite wird der Zuschauer sich zwar mit der Figur des Ödipus nicht einfach hin identifi zieren – denn dann vermag er nicht mehr die Figur seines Schicksals zu lesen. Der Zuschauer muß aber deren Perspektive auf ihr Schicksal mit einnehmen. Der Zuschauer wird also das tun, das Ödipus in seinem Leiden und Klagen tut: Er wird die tragische Wendung im Schicksal des Ödipus mit ihm und so wie er bewerten – als schreckliches Unheil. Indem der Zuschauer das mittut, was Ödipus tut; indem er mit Ödipus mitleidend und mitklagend dessen Schicksal beurteilt, gerät der Zuschauer jedoch in die gleiche Situation, in der dieser sich am Schluß des Stücks befi ndet. Zum Tragischen dieser Situation gehört entscheidend, daß es eine Situation ohne Ausweg ist: Daß Ödipus sich als unlösbar verdammt oder verflucht empfi ndet, hat darin seinen Grund, daß er sich für sein Handeln selbst verurteilen muß, ohne die Chance zu haben, daran noch einmal etwas ändern zu können; ja, vor allem ohne die Chance zu haben, sich so ändern zu können, daß er jemand wird, der in Zukunft nicht mehr so handelt. Ödipus hat das Schlimmste getan – er hat seinen Vater ermordet, mit seiner Mutter Inzest betrieben und sie dadurch in den Tod getrieben; dafür verurteilt er sich, aber dafür konnte er nichts. Er kann sich also auch nicht vornehmen ein anderer zu werden; einer, der solches Handeln in Zukunft vermeiden wird. Ödipus kann aus seinem Handeln nichts lernen. Das ist die Ausweglosigkeit der Situation, in die Ödipus sich gebracht hat, und sie gilt auch für den Zuschauer, dem dieses Handeln und seine Konsequenzen und das Leiden an ihnen vorgeführt wird. So wie Ödipus aus seinem Handeln nichts lernen kann, so können wir aus König Ödipus nichts lernen. Denn so wie Ödipus’ tragische Situation am Ende des Stücks darin besteht, sich verurteilen zu müssen, ohne sich gemäß diesem Urteil verhalten und verändern, ohne aus diesem Urteil praktische Konsequenzen ziehen zu können, so sehen wir, die Zuschauer, uns in der paradoxen Situation, unsere Einsicht und unser Urteilen nicht zusammenhalten zu können. Wir erkennen Ödipus’ tragisches Schicksal als selbstverhängt: als notwendige Folge aus der Handlungsweise des Helden. Und wir beurteilen Ödipus’ tragisches Schicksal, mit dem Helden, als furchtbares Unheil. Daß wir es als furchtbar beurteilen, verlangt von uns, etwas zu ändern. Aber gerade weil wir das Schicksal als selbstverhängt, als selbstgemacht erkennen, können wir es nicht als vermeidbar ansehen. Denn daß es selbstgemacht ist, heißt hier, daß die Handlungsweise, die schicksalhaft umschlägt, aus guten, ja, den besten Gründen unternommen wurde. Diese Handlungsweise ist die des rechtlichen Untersuchens und Urteilens, die Praxis des Rechts. Wie viele, so erzählt auch die Tragödie des Ödipus davon, wie die alten Ordnungen der Rache und des Fluchs durch die des Rechts ersetzt werden. Und sie erzählt von den guten Gründen, die dafür sprechen: weil das Recht Gerechtigkeit verspricht. Es ist dieser Anfang, der Anfang mit dem Ge-
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rechtigkeitsversprechen des Rechts, der in der Tragödie zum notwendigen Ende des Fluchs, zur Selbstverdammung führt. Unsere Erkenntnis der Notwendigkeit, mit der das schreckliche Ende von Ödipus’ Schicksal aus seinem guten Anfang folgt, führt uns also zur genau entgegengesetzten Konsequenz wie unsere Beurteilung des Schrecklichen dieses Endes. Indem wir dieses Ende als schreckliches beurteilen, sagen wir Nein dazu: Wir wollen es ändern oder, da dies nicht mehr geht, in Zukunft vermeiden. Dieses Ende zu vermeiden würde verlangen, jenen Anfang, aus dem es, so haben wir erkannt, mit Notwendigkeit folgt, nicht zu machen. Das können wir, aber das können wir nicht wollen (oder wollen wir nicht können), denn jener Anfang war richtig – gerecht. Zwar erleiden wir als Zuschauer nicht dasselbe Schicksal wie Ödipus. Indem wir Ödipus’ Schicksal zuschauen – also: reflektierend zuschauen: weder bloß klagend, noch bloß neutral erkennend –, teilen wir mit ihm aber die zutiefst verunsichernde Erfahrung, daß unser Erkennen, unser Urteilen und unser Handeln auseinanderfallen: Wir können nicht so handeln, wie es unser Urteilen vorschreibt, denn wir können aus unserer Einsicht in die unheilvollen Folgen von Ödipus’ Handlungsweise keine Folgerungen dafür ziehen, wie denn anders besser zu handeln (gewesen) wäre. Darin besteht die Unmöglichkeit zu lernen, die die Tragödie nicht nur vorführt, sondern selbst, in uns, hervorbringt. Wenn es diese Unmöglichkeit ist, die Ödipus beklagt, indem er seine Situation am Ende als hoff nungslos ausweglos erfährt; als eine Situation ohne Weg, als eine aporetische Situation, in der ihm nur mehr bleibt, sich und seinen »elenden Körper gänzlich abzuriegeln« (1388), sich aus der Welt, in der man handeln kann und muß, auszuschließen – dann ist unsere tragische Erkenntnis von Ödipus’ Schicksal nicht nur reflexiv, eine mitleidende Erkenntnis der Sinnlosigkeit, weil Ausweglosigkeit von Ödipus’ Erkennen, sondern auch selbstreflexiv: eine Erkenntnis der Sinnlosigkeit und Ausweglosigkeit unseres eigenen mitleidenden Erkennens der Sinnlosigkeit und Ausweglosigkeit von Ödipus’ Erkennen. Sophokles’ Tragödie zeigt uns etwas, aber sie macht auch etwas mit uns: Sie macht uns zu Erkennenden – zu Erkennenden aber einer besonderen Art: zu Erkennenden, die an dem Sinn des Erkennens zweifeln, weil sie den Glauben verloren haben, auf dem alles Erkennen beruht. Diesen Glauben nennt der Chor in Aischylos’ Agamemnon den Glauben an Gerechtigkeit 7 : »Gerechtigkeit – dem, der Leid duldet, Lernen wägt sie zu.« Daß wir aus der Erfahrung des Leidens lernen können; lernen, wie wir unser Tun anders einrichten und ausführen müssen, macht die Gerechtigkeit der Welt aus, die nach der Überzeugung (oder ist es nur eine Hoff nung?) des Agamemnon-Chors Zeus garantiert. Die Ödipus-Tragödie des Sophokles zeigt uns nicht nur, wie jemand an diesem Glauben irre wird, sie läßt uns selbst an diesem Glauben irre werden, sie läßt uns irre werden.
Aischylos: Agamemnon, 249-50, in: Tragödien und Fragmente, übers. von Oskar Werner, München/Zürich 41988. 7
Georg Büchners »Lenz« und die gr aduellen Unterschiede von Liter atur und Philosophie Von Georg W. Bertram
Literarische und philosophische Texte sind beide Resultate besonderer Sprachpraktiken. Literaten schreiben – Philosophen schreiben auch. Literaten lesen auch zuweilen vor. Das wiederum tun Philosophen seltener. Philosophen diskutieren hingegen miteinander – oder sie sollten dies tun. Seit Platon hat die Nähe der Philosophie zur Literatur den Philosophen Angst gemacht. Platon charakterisiert die Literatur als eine Schrift, die gewissermaßen allein gelassen wird, deren Urheber ihr nicht zu Hilfe kommt.1 Das ist dem Philosophen verdächtig; er argwöhnt, daß bei einer solcherart herrenlosen Schrift nicht sicher über Wahrheit oder Falschheit entschieden werden kann. Besonders augenfällig für diesen möglichen Sachverhalt scheint ein Beispiel, das Hegel in der Phänomenologie des Geistes gibt. »Auf die Frage: was ist das Jetzt? antworten wir […] z. B.: das Jetzt ist die Nacht. Um die Wahrheit dieser sinnlichen Gewissheit zu prüfen, ist ein einfacher Versuch hinreichend. Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren; ebenso wenig dadurch, daß wir sie auf bewahren. Sehen wir jetzt, diesen Mittag, die aufgeschriebene Wahrheit wieder an, so werden wir sagen müssen, daß sie schal geworden ist.« 2 Aus der Erkenntnis, daß die Wahrheit in der Schrift schal werden kann, wird von vielen Philosophen eine Skepsis gegenüber der Schrift abgeleitet. Die Philosophie kann sich der Schrift nicht einfach anvertrauen. Aus diesem Grund hat die Philosophie ihr Gebiet immer wieder dadurch einzugrenzen versucht, daß sie die Literatur von ihm ausgeschlossen hat. Die Literatur gilt demnach als eine Schrift, die jenseits von Wahrheit und Falschheit agiert, wohingegen die Philosophie so von der Schrift Gebrauch macht, daß diese genau in der Dimension einer Differenz von Wahrheit und Falschheit steht. Diese Unterscheidung ist so unzureichend wie wirkungsvoll. Selbst Jürgen Habermas’ berühmter Exkurs stellt die Weichen zwischen Literatur und Philosophie nach dem Leitmotiv der fehlenden Wahrheitsorientierung innerhalb der Literatur. 3 Und auch Martin Seel greift in seinen Überlegungen zur Arbeit des Schriftstellers auf dieses Leitmotiv zurück. Der Schriftsteller sei derjenige, dem es in seinem Vgl. Platon: Phaidros, 275 d-e. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: Theorie-Werkausgabe 3, Frankfurt/M. 1977, 84. 3 Vgl. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985, 219247. 1 2
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Schreiben nur um das Schreiben selbst gehe, während es dem Philosophen in seinem Schreiben um etwas gehe. Martin Seel betont dezidiert die Kontinuität zur platonischen Auffassung 4 : »Platon hat […] in der Sache […] vollkommen recht, wenn er im Phaidros über den Schriftsteller sagt, im Unterschied zum echten Philosophen habe er nichts weiter als seine Schriften.« Zwar plädiert Seel für eine Veränderung der Bewertung, die das literarische Schreiben erfährt. Er nobilitiert es als eine genuine Form »innovativer Schriftproduktion« 5 . Diese Korrektur des platonischen Urteils ändert aber an der grundsätzlichen Unterscheidung nichts. Weiterhin soll gelten: Die philosophische Schrift kann, da bezogen auf etwas, wahr oder falsch werden; wem es hingegen, wie dem Schriftsteller, bloß um die Schrift geht, der erreicht die Differenz von Wahrheit oder Falschheit nicht. Diese Unterscheidung, die das Stereotyp philosophischer Selbstbegründung uns anbietet, rückt augenscheinlich den Zusammenhang ins Zentrum, der zwischen Sprache und Welt bestehen oder nicht bestehen kann. Wenn man die Unterscheidung, die hier im Spiel ist, weiter klären will, gilt es demnach, erst einmal zu fragen, wie die Sprache mit der Welt zusammenhängt und wie sie sich möglicherweise von der Welt lösen kann. Die besagte stereotype Unterscheidung von Philosophie und Literatur setzt voraus, daß die Sprache in manchen Kontexten – z. B. durch das Kriterium der Wahrheit – auf die Welt verpfl ichtet wird, daß sie aber in anderen Kontexten auch unabhängig von einer solchen Verpfl ichtung auf die Welt gebraucht werden kann. Dies halte ich für eine problematische Voraussetzung. Als eine Selbstverständlichkeit erweist diese Voraussetzung sich nur im Rahmen einer Sprachphilosophie, die es mit John Searle für die entscheidende Frage hält, wie sprachliche Ausdrücke sich auf die Welt beziehen können. 6 Man kann allerdings gerade die gewissermaßen entgegengesetzte Frage für weitaus entscheidender halten: wie nämlich sprachliche Ausdrücke sich von der Welt zu lösen vermögen.7 Mit einer Sprachphilosophie, die bei dieser Frage ansetzt, läßt sich die besagte stereotype Unterscheidung von Literatur und Philosophie nicht aufrechterhalten. Da wiederum, wie ich im Folgenden andeuten möchte, die zweite Art von Sprachphilosophie uns eher überzeugen kann, kommt es genau zu dieser Konsequenz.
4 Martin Seel: Über die Arbeit des Schriftstellers (und die Sprache der Philosophie), in: Ethischästhetische Studien, Frankfurt/M. 1996, 156. 5 Ebd. 6 Vgl. John Searle: Intentionalität, Frankfurt/M. 1987, 247. 7 Explizit wird diese Frage zum Ansatzpunkt erklärt in: Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, 18 ff. Analog ansetzen müsste z. B. auch Martin Heidegger entsprechend der von ihm in Sein und Zeit bezogenen Position. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 171985, § 34. Vgl. auch Georg W. Bertram: Medien der Refl exion – Überlegungen zur Sprachlichkeit und Bildlichkeit des Geistes, in: Inigo Bocken (Hg.): Kann das Denken malen?, München, in Vorb.
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In der stereotypen Unterscheidung von Literatur und Philosophie schlummert allerdings noch eine andere Voraussetzung. Es handelt sich um die Voraussetzung, daß Literatur und Philosophie Formen der »Schriftproduktion« sind. Nun wird diese Voraussetzung von denjenigen, die sich der platonischen Unterscheidung mehr oder weniger anschließen, offen eingestanden. Die Schriftproduktion wird ja gerade als genus proximum von Literatur und Philosophie begriffen. Dennoch ist diese Voraussetzung insofern einer Befragung wert, als gefragt werden muß, was genau geschriebene im Verhältnis zur gesprochenen Sprache ist und inwiefern Literatur und Philosophie als Formen geschriebener Sprache begriffen werden müssen. Solange der mögliche Unterschied von geschriebener und gesprochener Sprache nicht bedacht ist, bleibt ganz unklar, was es heißt, daß etwas eine Form der Schriftproduktion ist und daß sich unterschiedliche sprachliche Formen als Formen der Schriftproduktion unterscheiden lassen. Um die Voraussetzungen in der hergebrachten Unterscheidung von Literatur und Philosophie zu diskutieren, orientiere ich mich an einem Stück Prosa in deutscher Sprache, das für eine Bestimmung des Unterschieds von Literatur und Philosophie nicht besonders nahe liegt: Georg Büchners Lenz. Im Gegensatz zu vielen anderen Literaturen handelt es sich nicht um einen Text, der in besonderer Weise über das Verhältnis von Literatur und Sprache und das Verhältnis von Sprache und Welt nachdenkt. Ich will es so sagen: Büchners Text ist keine ausgesprochen refl exive Literatur, sondern eine Literatur, die eine große Literarizität aufweist. Genau um diese Literarizität geht es mir. Ich widme mich dieser Literatur also weder, um sie philosophisch zu interpretieren, noch, um ihr eine besondere philosophische Position zu entnehmen. Vielmehr will ich das Literarische von Literatur am Beispiel von Büchners Text betrachten, um Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, wie wir den Unterschied von Philosophie und Literatur verstehen können. Meine folgenden Überlegungen setzen an der Anfangspassage von Büchners Text an. Im Anschluß daran lege ich im zweiten Teil meiner Überlegungen dar, inwiefern wir die Sprache eines literarischen Textes als welthaltig im Sinne ihres Eingebettetseins in die Welt verstehen müssen. Ich führe dafür den Begriff der Artikulation ein und komme zu der These, daß alle Sprache – auch die literarische Sprache – als solche zu verstehen ist, die eine Welt artikuliert. Die welthaltige Kraft der Sprache aber ist ihrerseits, darauf komme ich im dritten Teil zu sprechen, nicht ohne die explikative Dimension der Sprache zu verstehen. Genau diese Dimension ist, so will ich behaupten, für einen brauchbaren Begriff der literarischen Sprache von großer Relevanz. Im vierten Teil komme ich schließlich auf das Verhältnis von Literatur und Philosophie als zwei unterschiedlicher Formen sprachlicher Explikation zu sprechen. Ich argumentiere dafür, daß man Philosophie und Literatur nicht kategorial voneinander unterscheiden kann, sondern daß zwischen ihnen nur ein gradueller Unterschied besteht.
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I. »Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergfl ächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte. Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen, er begriff nicht, daß er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunter zu klimmen, einen fernen Punkt zu erreichen; er meinte, er müsse Alles mit ein Paar Schritten ausmessen können. Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Täler warf, und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heran brausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneefl ächen zog, so daß ein helles, blendendes Licht über die Gipfel in die Täler schnitt; oder wenn der Sturm das Gewölk abwärts trieb und einen lichtblauen See hineinriß, und dann der Wind verhallte und tief unten aus den Schluchten, aus den Wipfeln der Tannen wie ein Wiegenlied und Glockengeläute heraufsummte, und am tiefen Blau ein leises Rot hinauf klomm, und kleine Wölkchen auf silbernen Flügeln durchzogen und alle Berggipfel scharf und fest, weit über das Land hin glänzten und blitzten, riß es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, Alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat; oder er stand still und legte das Haupt in’s Moos und schloß die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Flut unter ihm zog. Aber es waren nur Augenblicke, und dann erhob er sich nüchtern, fest, ruhig als wäre ein Schattenspiel vor ihm vorübergezogen, er wußte von nichts mehr.« 8
Georg Büchner: Lenz, in: Werke und Briefe, München 1988, 137-158, hier: 137 f. Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe. 8
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II. Sprache als Artikulation der Welt Zweifelsohne ist Büchners Text im weitesten Sinn als eine »innovative Schriftproduktion« zu verstehen. Er weist eine Vielzahl von Formulierungen, von sprachlichen Bildern und Redeweisen auf, die man umstandslos als innovativ bezeichnen kann. Dennoch geht es in den Innovationen von Büchners Prosa nicht primär um die Sprache als solche. Das kann man anhand einiger Betrachtungen zu der Frage deutlich machen, was es heißt, Büchners Text zu verstehen. Als paradigmatisches Beispiel nehme ich den Satz: »Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte.« Wer den Text versteht, muß nicht nur den Worten folgen – er muß insbesondere verstehen, was es heißt, lange zu laufen, dabei nicht müde zu sein, aber doch eine Erdenschwere zu spüren, die die Füße auf dem Boden verhaftet sein läßt. Büchners Text zu verstehen heißt, ihn als eine bestimmte Artikulation einer Situation der Welt zu verstehen. Wenn es in dem Text dann heißt: »Aber es waren nur Augenblicke, und dann erhob er sich nüchtern, fest, ruhig als wäre ein Schattenspiel an ihm vorübergezogen«, dann arbeitet der Text nicht nur mit Worten. Er arbeitet mit Erfahrungen und Verständnissen von der Welt, die er in neue und ungewohnte Formulierungen faßt.9 Die Verflechtung der literarischen Sprache von Büchners Text mit der Welt geht noch weiter. Dies läßt sich vor allem an den zahlreichen Passagen von Büchners Text beobachten, die sich dem ersten Augenschein nach ausnehmen wie Naturbeschreibungen. Der Text evoziert aber nicht (nur) imaginäre Landschaften, sondern präsentiert vielmehr die Perspektive des Protagonisten als eine der Erfahrung dieser Landschaften. So heißt es z. B.: »Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump.« Die Natur ist nicht eine neutrale Umgebung, sie ist die schwere, dichte, träge und plumpe Welt, die der Protagonist durchwandert. Sie ändert sich mit dem äußeren und inneren Weg des Protagonisten. Entsprechend auch nach der ersten Riß-Szene, die der Text schildert, wenn die Welt sich als eine einsame Welt erweist: »und alles so still, grau dämmernd; es wurde ihm entsetzlich einsam […]« (138). Auch mit den Naturbeschreibungen kommen so Erfahrungen und Verständnisse der Welt ins Spiel: Dem Leser ist gewissermaßen aufgetragen, die Präsentation des Protagonisten in der Natur als eine solche zu verstehen, die einen bestimmten Gemütszustand zeigt oder die einen solchen Gemütszustand artikuliert. Entsprechend hat z. B. Hegel das Material der Literatur als »das innere Vorstellen und Anschauen« bestimmt (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, in: TheorieWerkausgabe 15, Frankfurt/M. 1970, 229). Diese Bestimmung greift in gewisser Weise Monroe Beardsley auf, wenn er Literatur als eine Konfi guration semantischer Elemente begreift (vgl. z. B. Monroe C. Beardsley: Aesthetics: Problems in the Philosophy of Criticism, Indianapolis 1981, 129). 9
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Der Leser muß sich im weitesten Sinn mit solchen Gemütszuständen auskennen. Das heißt nicht, daß er in Büchners Text nicht möglicherweise eine Erfahrung geschildert und gestaltet bekommt, die er noch nicht kennt. Dennoch muß seine Welt eine sein, in der Gemütszustände mit der Welt verbunden sind und in ihrer Färbung und ihrer Tonlage einen Unterschied machen – ansonsten wird er gerade Büchners Präsentation des Protagonisten in der Natur nicht verstehen. Diesen Punkt kann man noch zuspitzen: Die gesamte sprachliche Ausgestaltung der Natur im Lenz ist nicht für jemanden verständlich, der nicht mit unterschiedlichen Zusammenhängen einer Welt – Zusammenhängen dessen, was für Menschen bedeutsam sein kann – vertraut ist. In bezug auf diese Zusammenhänge aber könnte man geneigt sein zu denken, daß der Text sich vom solchermaßen Vertrauten löst und eine eigene Welt des Protagonisten gestaltet. Der Text investiert sprachlich besonders in die Gestaltung der spezifi schen Sichtweise, die seinen Protagonisten ausmacht. Man könnte ihm aus diesem Grund eine Selbständigkeit zutrauen, die er dort nicht zu haben vermag, wo er nicht investiert (Zeitungsartikel, Oberlins Bericht, etc.). Dennoch wird die Eigenheit Lenzens nicht nur aufgrund eines Zugangs zur Sprache verstanden. Das sprachliche Verstehen umfaßt eine umfassende Vertrautheit mit der Welt – einer Welt, in der die Leserinnen und Leser mit allen Sinnen stehen. Ich kann es allgemein folgendermaßen sagen: Die literarische Sprache zeigt eine Verflochtenheit der Sprache mit der Welt, die für Sprache grundsätzlich gilt. Diese Verflochtenheit kann man durch ein Gedankenexperiment beleuchten, das John Austin in einem erkenntnistheoretischen Kontext angestellt hat: Austin erzählt die Geschichte von einem Stieglitz, der in einem Garten zu beobachten ist, und verfolgt die Frage, unter welchen Bedingungen wir uns sicher sein können, daß wir wissen, daß da tatsächlich ein Stieglitz im Garten ist. Nach einer Reihe von Überlegungen ergänzt er 10 : »›Sicher sein, daß es wirklich ist‹ schützt nicht besser gegen Wunder oder Ausbrüche der Natur als irgend etwas anderes oder irgend etwas anderes sub specie humanitatis überhaupt schützen kann. Wenn wir sichergestellt haben, daß es sich um einen Stieglitz handelt, und dieser in der Zukunft dann etwas Gräßliches tut (explodieren oder Virginia Woolf zitieren oder sonst etwas), so sagen wir nicht, daß wir Unrecht hatten, als wir sagten, es sei ein Stieglitz – wir wissen einfach nicht, was wir sagen sollen. Uns fehlen buchstäblich die Worte: ›Was hättest du gesagt?‹, ›Was sollen wir denn jetzt sagen?‹, ›Was würdest du sagen?‹« Austin weist uns meines Erachtens u.a. darauf hin, daß unsere Sprache auf Stieglitze, die explodieren oder Virginia Woolf zitieren, nicht vorbereitet ist. Sie ist auf solche Stieglitze deshalb nicht vorbereitet, weil es in unserer Welt keine Stieglitze gibt, die explodieren oder Virginia Woolf zitieren. Unsere Sprache ist nur auf das eingerichtet, was in den Umgebungen, in die wir praktisch involviert sind, tatsächJohn Austin: Fremdseelisches, in: Gesammelte philosophische Aufsätze, Stuttgart 1986, 101152, hier: 118. 10
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lich zuweilen geschieht. Genau in diesem Sinn ist die Sprache in die Welt eingebettet. Zum Beispiel hängen unterschiedliche Begriffe für Gegenstände und Sachverhalte der Natur damit zusammen, daß uns die Natur in unterschiedlichen Formen Widerstand leistet, daß sie uns mit Gegenständen und Zusammenhängen konfrontiert, die eine eigene Logik haben.11 Im Zusammenhang mit unseren sprachlichen Unterscheidungen begegnet uns die Welt als eine Welt, die eigene Strukturen aufweist. Und eine Vielzahl von sprachlichen Beschreibungen und Begriffen hängen damit zusammen, daß wir unsere Situation und die Welt in unterschiedlichen Gemütszuständen erleben. Auch solche Gemütszustände konfrontieren uns im Zusammenhang mit unseren sprachlichen Unterscheidungen als solche, die eigene Strukturen haben. Wäre die Natur von uns gestaltet oder gäbe es keine Gemütszustände, dann benötigten wir eine andere Sprache. Die Sprache, die wir haben, ist radikal abhängig von der Beschaffenheit der realen Welt, mit der wir es tagtäglich zu tun haben. Dies gilt – wie meines Erachtens Büchners Text anschaulich zeigt – auch für die Sprache der Literatur. Wie aber hängen Sprache und Welt zusammen? Wenn man die Einbettung der Sprache in die Welt von der Literatur her versteht, dann zeigt sich, daß eine naheliegende Erklärung dieser Einbettung nicht funktioniert. Diese naheliegende Erklärung besteht in dem Gedanken, daß die Einbettung der Sprache in die Welt durch die Übergänge von der Sprache zur Welt und von der Welt zur Sprache hergestellt wird. Ein Übergang von der Sprache zur Welt liegt z. B. vor, wenn Maria fragt, wo die Banane ist, und Kurt dann mit dem Finger auf sie zeigt. Man könnte meinen, daß im Beherrschen solcher Übergänge deutlich wird, ob jemand einen sprachlichen Ausdruck versteht oder nicht. Es wäre entsprechend so, daß ich das Wort »Banane« genau dann verstehe, wenn ich den Umgang mit diesem Wort in Kontexten beherrsche, in denen Bananen im Spiel sind, wenn ich z. B. zuverlässig die Anwesenheit einer Banane berichten oder nach einer Banane fragen kann. Meines Erachtens lehrt die literarische Sprache, daß die Einbettung der Sprache in die Welt genau so nicht begriffen werden kann. Um zu einem angemesseneren Verständnis des Zusammenhangs von Sprache und Welt zu kommen, kann man auf die Konzeption zurückkommen, die Johann Gottfried Herder 1772 in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache vorgeschlagen hat. Herder wendet sich dort gegen Condillac12 , dem er vorwirft, daß mit Verweis auf die Übergänge von der Sprache zur Welt und zurück deren Zusammenhang nur behauptet, aber nicht aufgeklärt werde.13 Was heißt es, daß das Wort »Banane« mit dem Ding Banane zusammenhängt? Daß man den Zusammenhang beherrschen muß, um Sprache zu 11
Vgl. dazu z. B. Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986,
174. 12 Vgl. dazu Étienne Bonnot de Condillac: Essai über den Ursprung der menschlichen Erkenntnisse, Leipzig 1977. 13 Vgl. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Stuttgart 1966, 17 ff.
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verstehen, ist – so Herder meines Erachtens zu Recht – keine Erklärung dessen, was der Zusammenhang ist. Es sagt einfach nur, daß man Sprache versteht. Herder verteidigt damit die Auff assung, daß man eine Erklärung des Zusammenhangs zwischen Sprache und Welt anders ansetzen muß. Einen neuen Ansatzpunkt entwickelt er in einem Gedankenexperiment, das die Entstehung von Sprache imaginiert.14 In der Situation, die Herder sich vorstellt, ist ein noch nicht sprechender Mensch mit der Welt konfrontiert. Die Welt zeigt ihm gegenüber charakteristische Merkmale wie z. B. charakteristische Geräusche. Der Mensch ist in der Lage, die Welt um ihn herum sinnlich wahrzunehmen. Tatsächlich zu unterscheiden vermag er die Dinge, die um ihn herum geschehen, noch nicht. Dazu ist es erst erforderlich, daß er die Merkmale als solche festhält, die sich voneinander unterscheiden. Genau dieses Festhalten leistet die Sprache. Herder ist also der Meinung, daß wir in Sprache Unterschiede als Unterschiede festhalten.15 Wir bezeichnen den Tisch als Tisch im Unterschied zu einem Stuhl und die Banane als Banane im Unterschied zu einem Apfel. Die Bezeichnungen halten den Unterschied fest, den ein jeweiliges Ding macht. Nach Herders Verständnis müssen wir die Sprache als ein Medium verstehen, das charakteristische Merkmale oder besser gesagt: charakteristische Unterschiede fi xiert. Egal, wie genau eine Banane aussieht: Wenn wir über ein Wort »Banane« verfügen, können wir sie als Ding in einem komplexen Gefüge von Dingen herausgreifen – als ein bestimmtes Ding. Diese Leistung der Sprache erklärt nun, folgt man Herder, den Zusammenhang zwischen Worten und Dingen. Die Worte hängen mit den Dingen dadurch zusammen, daß sie die charakteristischen Unterschiede der Dinge festhalten. Da wir von Dingen wiederum nur sprechen können, wenn sie sich in charakteristischer Weise unterscheiden, hängen nach diesem Verständnis die Dinge auch untrennbar mit den Worten zusammen. Der Zusammenhang gilt also in beide Richtungen. Ich will die Überlegungen der vergangenen Absätze dadurch resümieren, daß ich den Begriff der Artikulation einführe.16 Die Sprache ist ein Medium der Artikulation von Welt. Die Rede von »Artikulation« besagt: Die Sprache formt Einheiten, die es uns erlauben, mit der Welt als einer Welt von Einheiten umzugehen. Dieser Begriff der Artikulation fi ndet sich – mit unterschiedlichen Akzenten – u.a. bei Wilhelm von Humboldt,17 bei Martin Heidegger 18 und auch bei Ferdinand de Vgl. ebd., 32 ff. Vgl. hierzu auch Charles Taylor: The Importance of Herder, in: Philosophical Arguments, Cambridge, Mass. u.a. 1995, 79-99. 16 Vgl. hierzu auch meine Erläuterungen in Georg W. Bertram: Die Sprache und das Ganze. Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie, Weilerswist 2006, 4. Kap. 17 Vgl. z. B. Wilhelm von Humboldt: Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues [Kawi-Einleitung], in: Werke in fünf Bänden 3, Darmstadt 1963, 144-367, hier: 191 ff.; vgl. hierzu auch: Tilman Borsche: Sprachansichten. Der Begriff der menschlichen Rede in der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts, Stuttgart 1981, 271 ff. 18 Vgl. Heidegger: Sein und Zeit [Anm. 7], § 34. 14
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Saussure.19 Immer bringt er zur Geltung, was ich bislang als ein Festhalten von Unterschieden umschrieben habe. Die Sprache bietet Unterschiede an, mittels derer sich Unterschiede in der Welt festhalten lassen. In diesem Sinn artikuliert die Sprache die Welt. Es artikuliert aber auch die Welt die Sprache. Ohne Einheiten in der Welt können sich die sprachlichen Unterschiede nicht stabilisieren. Die jeweiligen charakteristischen Merkmale der Einheiten, aus denen Sprache und Welt bestehen, stabilisieren sich aneinander. 20 Meines Erachtens ist es wichtig, aus dem Verständnis von Sprache als Artikulation den Schluß zu ziehen, daß Sprache immer etwas zur Sprache bringt. Sprache gibt es nur, sofern sie die Welt artikuliert. Zwar kann Sprache unterschiedlich entwickelt sein. Es gibt, so kann man holzschnittartig sagen, ärmere und reichere Sprachen. Es gibt solche, die poetischer sind als andere, und solche, die künstlicher sind als andere. Es gibt aber nicht solche, die die Welt im Blick behalten, und solche, die sie aus dem Blick verlieren. Wenn man die Sprache als Artikulation versteht, dann kann man also nicht Gebrauchsweisen von Sprache, die auf die Welt hin orientiert sind, von solchen Gebrauchsweisen unterscheiden, für die dies nicht zutriff t. Das heißt, daß es meines Erachtens unmöglich ist, mittels einer solchen Unterscheidung das alltägliche Sprechen von der Literatur und diese wiederum von der Philosophie zu unterscheiden. Alle Unterscheidung unterschiedlicher Gebrauchsweisen der Sprache muß grundsätzlich davon ausgehen, daß Sprache mit der Welt zusammenhängt.
III. Sprache als Explikation von Sprache und Welt Wie allerdings läßt sich auf der Basis des bislang Gesagten die literarische Sprache von anderen Formen der Sprache unterscheiden? Wie läßt sich z. B. der Unterschied erläutern, der zwischen Büchners Prosa und dem Bericht Oberlins besteht, auf den Büchner sich in seinem Text stützt? Ich habe bereits betont, daß Büchner seinen Protagonisten in Naturbeschreibungen präsentiert. Gerade darin unterscheidet sich sein Text aufs Deutlichste von der Oberlinschen Vorlage. Wie auch bereits dargelegt, erzählt Büchners Text durch diese Präsentation der Inszenierung (in) der Natur die Gemütslage des Protagonisten. Das heißt, daß der Text diese Gemütslage nicht einfach in einer alltäglichen Weise artikuliert. Der Text sagt nicht einfach: »Mein Protagonist hört Stimmen.« Oder noch prosaischer: »Mein Protagonist hat schizophrene Schübe.« Er artikuliert die Schübe nicht nur sprachlich, sondern versucht sie als solche verständlich zu machen. Die Gemütslage des Protagonisten 19
Vgl. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 21967,
134. Diese wechselseitige Stabilisierung kann man auch mit dem Begriff der »Kokonstitution« fassen. Vgl. zu diesem Begriff Bertram: Die Sprache und das Ganze [Anm. 16], Einleitung, u.a. 20
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wird in Büchners Text nicht nur artikuliert – sie wird expliziert. Was die Rede von Explikation in diesem Sinn bedeutet, will ich im folgenden beleuchten. Die sprachliche Explikation, die die Literatur zuwege bringt, muß man meines Erachtens als eine spezielle Form einer grundsätzlichen explikativen Dimension der Sprache begreifen. Die uns besonders vertrauten Fälle dieser explikativen Dimension sind Zitate und Bedeutungsangaben von Worten. Wir sagen z. B. Dinge wie: »Merkel hat doch versprochen: ›Ich senke die Arbeitslosigkeit.‹« Oder wir sagen: »Das englische Wort ›table‹ bedeutet (im Deutschen) Tisch.« Oder wir sagen: »Wenn Karl sagt: ›Hans ist ein Hornochse‹, dann meint er, daß Hans nicht klar denken kann.« Wir können in der Sprache sagen, was andere gesagt haben, was Worte bedeuten, was andere mit ihren Worten meinen, können sagen, ob sie wahr oder falsch sind, usf. Die Sprache bietet uns in ziemlich unbegrenzter Weise die Möglichkeit, daß wir uns in ihr auf sie beziehen. Genau diese Dimension der Sprache bezeichne ich als explikative Dimension. 21 Man könnte nun denken, daß die explikative Dimension von Sprache als ein Aspekt ihrer artikulativen Dimension zu verstehen ist. Dann müßte man sagen, daß sprachliche Explikationen Artikulationen sind, die sich auf eine bestimmte Klasse von Dingen beziehen. Sie beziehen sich auf die Sprache selbst und auf die Zusammenhänge zwischen Sprache und dem außersprachlichen Sonst. Entsprechend wäre die Sprache durch und durch als ein Medium der Artikulation (ohne alle Explikation) zu verstehen. In der Folge wäre denkbar, alle Artikulationen, in denen Sprache sich auf sich selbst bezieht, als verfehlt auszuweisen. Dies hat u. a. Wittgenstein im Tractatus getan. Er hat dort die These vertreten, die Sprache könne sich und ihren Zusammenhang zur Welt nicht »sagen«, sondern nur »zeigen« 22 . Es scheint mir allerdings falsch, die explikative Dimension der Sprache in der artikulativen Dimension aufgehen zu lassen oder ihr auch nur unterzuordnen. Meines Erachtens muß man u.a. Davidson die Einsicht zuschreiben, daß wir die Welt-artikulierende Sprache ohne explikative Dimension nicht zu verstehen vermögen. Eine Sprecherin-Interpretin kann bestimmte sprachliche Artikulationen der Welt nur dann verstehen, wenn sie sie zu anderen solchen sprachlichen Artikulationen in Beziehung zu setzen vermag. Dafür muß sie sich auf sprachliche Ausdrücke als solche beziehen können. Technisch gesagt: Sie muß ihre eigene Sprache als Metasprache gebrauchen können. 23 Sprachliches Verstehen, so wie wir es kennen, ist Ausführlichere Darstellungen und Diskussionen der explikativen Dimension sprachlichen Verstehens fi nden sich in Bertram: Die Sprache und das Ganze [Anm. 16], 5. Kap.; Bertram: Medien der Refl exion [Anm. 7]. 22 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, z. B. 4.022, 4.12, 4.1212. 23 Das scheint mir ein entscheidender Aspekt des Grundansatzes der radikalen Interpretation zu sein, den Davidson in seinen Konsequenzen nicht beleuchtet. Vgl. Donald Davidson: Radikale Interpretation, in: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M. 1986, 183-203; vgl. auch Donald Davidson: Eine hübsche Unordnung von Epitaphen, in: Eva Picardi und Joachim Schulte (Hg.), Die Wahrheit der Interpretation, Frankfurt/M. 1990, 203-227. 21
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also nur unter der Bedingung möglich, daß ein irgendwie explikativer Sprachgebrauch entwickelt ist. Die explikative Dimension muß als eine irreduzible Dimension der Sprache verstanden werden, die neben der artikulativen Dimension steht. 24 Ich schlage vor, Literatur als eine besondere Art und Weise des explikativen Sprachgebrauchs zu begreifen. Die literarische Sprache ist entsprechend allgemein so zu verstehen, daß sie ein bestimmtes Sprechen explizit macht. In der Literatur werden Sachverhalte der Welt, wie Zustände steigender Schizophrenie, nicht einfach als solche artikuliert. Die Artikulation hat eine explizierende Dimension. Man kann die explikative Dimension u. a. so beschreiben: Ein literarischer Text probiert Wörter für bestimmte Sachverhalte aus. So heißt es z. B. in der bereits zitierten Anfangspassage von Büchners Text, »die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Flut unter ihm zog«. Die Bildlichkeit der literarischen Sprache ist eine explizierende Sprachlichkeit. Sie zeigt Worte, die wir zur Artikulation bestimmter Sachverhalte verwenden können, als solche. So z. B. auch: »Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen, […].« Der Text bietet neue Worte beziehungsweise Worte in neuen Zusammenhängen an. Dadurch geht er über eine bloße sprachliche Artikulation der von ihm beschriebenen Sachverhalte hinaus. In Büchners Text ist dabei z. B. die Spannung zwischen einem ausführlichen Sprachreichtum und einer enormen sprachlichen Kürze relevant. Angaben wie »Es lag ihm nichts am Weg« steht die lange Klimax des Satzes gegenüber, der mit »Nur manchmal, wenn« beginnt. Der Text gebraucht sprachliche Ausdrücke als kurze Ausdrücke oder als lange Ausdrücke und präsentiert damit Sachverhalte als solche, die sich kurz oder lang sagen lassen. Allgemein kann man diese Form der Explikation in der Literatur folgendermaßen umreißen: Ein literarischer Text sagt nicht nur, mit Hegel gesprochen, »was die Sache ist« 25 , sondern zeigt, wie man die Sache sagen kann. Explikation in der Literatur hat u.a. noch einen weiteren Aspekt: In literarischen Texten wird Sprache perspektiviert. Die literarische Sprache bezieht sprachliche Perspektiven als solche. Besonders vertraut ist uns dies, wo die Sprache von Figuren im Text präsentiert wird – wo also z. B. der Held sprachliche Marotten aufweist, die ihn charakterisieren. Büchners Lenz ist meines Erachtens als ein extremer Fall solcher Perspektivierung zu verstehen, da der Text es vermeidet, irgendeine Differenz zwischen einer Erzählperspektive und der Perspektive seines Pro ta gonisten auf kommen zu lassen. So ist die gesamte Sprache des Textes in die Per spektive des Protagonisten gerückt. Perspektivierungen von Sprache in diesem Sinn explizieren sprachliche Perspektiven als besondere sprachliche Perspektiven. Ein literarischer Text macht sprachliche Blickwinkel explizit. 24 25
Vgl. dazu auch weitergehend Bertram: Die Sprache und das Ganze [Anm. 16], bes. 5. Kap. Hegel: Phänomenologie des Geistes [Anm. 2], 325.
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Die literarische Explikation hat also nicht die Form von Bedeutungsangaben oder Worterklärungen. Vielmehr ist sie darauf hin orientiert, Sprache in unterschiedlichen besonderen Gebrauchsweisen zu verorten und vorzuführen. Die Literatur macht die Sprache verständlich und dies in der Art und Weise, wie sie sie gebraucht. Sie beleuchtet Sprechweisen im Erzählen. Ein gutes Beispiel dafür ist meines Erachtens: »er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen«. Der Text erzählt die phantastische Vorstellung des Protagonisten und zeigt dabei, was sich alles mit einer Formulierung wie »hinter den Ofen setzen« anfangen läßt. Daß er es zeigt, heißt: Er redet nicht darüber, sondern führt es vor. Das literarische Schreiben ist also als eines zu verstehen, in dem Artikulationen als solche explikativ gewendet werden. Die literarische Sprache ist als eine artikulative Sprache explikativ. In der Literatur kommt nicht nur die Welt zur Sprache, sondern immer auch die Sprache – diese aber als eine solche, die die Welt zur Sprache bringt, die unsere Sicht auf die Welt verändert und erweitert und die in diesem Sinn – um es mit Heidegger zu sagen – welterschließend ist. Die literarische Sprache ist nur als solche explikativ, die zugleich die Welt artikuliert.
IV. Literatur und Philosophie Büchners Text leistet Explikationen in der Form von Artikulationen – u.a. in der Art und Weise, wie er erzählt. Seine literarische Sprache ist eine Sprache, die eine sprachliche Perspektive präsentiert, die als solche die Welt des Protagonisten artikuliert. Genau in dieser Weise ist sie explikativ. Nun kann man fragen, ob dies nicht auch für eine philosophische Sprache gilt. Legt die hier angebotene Bestimmung von Literatur nahe, daß auch die Philosophie eine Art Literatur ist – und damit auch die Literatur eine Art Philosophie? Man wird Büchners Text schwerlich als ein Stück Philosophie verstehen wollen. Zu evident sind – zumindest dem Augenschein nach – die Unterschiede. Was aber unterscheidet genau Literatur und Philosophie in ihren Explikationen? Auch die Philosophie kennt bekanntlich die Erzählung. Lange Zeit waren philosophische Texte eingekleidet in Rahmenerzählungen. Gerade die Platonischen Dialoge oder z. B. die Bekenntnisse von Augustinus weisen solche Rahmenerzählungen auf. Philosophie präsentiert sich hier als Literatur und sieht sich – gerade im Falle Platons scheint dies unverkennbar – um so mehr vor die Notwendigkeit gestellt, sich von der Literatur abzugrenzen. Seit sich die Philosophie in der Neuzeit auf den klaren und deutlichen Ton besonnen hat, sind die Rahmenerzählungen zurückgegangen. Dennoch haben narrative Elemente sich in der Philosophie gehalten. Deutlich wird dies u.a. dort, wo philosophische Texte Beispiele geben, oder dort, wo sie uns Gedankenexperimente vorschlagen. Hier wird Philosophie Literatur, und die großen Philosophen erweisen sich oftmals als ganz ordentliche Schriftsteller. Die Philosophen erzählen davon, daß sie im Morgenrock vor dem
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Kamin sitzen, sie erzählen von Katzen, die auf der Matte liegen, von einem Hund Fido, von einem Planeten Zwerde, auf dem Wasser die chemische Zusammensetzung XYZ hat, und von vielen alltäglichen und außeralltäglichen Dingen mehr. Vergleicht man allerdings erzählerische Elemente in der Philosophie mit denen in der Literatur, so zeigen sich rasch Unterschiede. Als Beispiel will ich eine Passage aus Büchners Lenz heranziehen, die im ersten Moment nach einer klassischen erkenntnistheoretischen Fragestellung klingt: »der rettungslose Gedanke, als sei Alles nur sein Traum, öff nete sich vor ihm« (140). Sofern Philosophen einen solchen Gedanken durchspielen, durchforsten sie ihn auf seine Implikationen. Sie interessieren sich dafür, was der Gedanke enthält, und wollen u.a. verstehen, ob er sich konsistent verfolgen läßt. Büchners Text geht es nicht darum, den Gedanken durchzuspielen. Der Text versucht nicht, von diesem Gedanken her Zusammenhänge unserer Verständnisse als solche offen zu legen und in diesem Sinn zu Explikationen zu kommen. Die Präsentation des Gedankens gilt Büchners Text vielmehr selbst als explikativ. Er wird als Aspekt einer bestimmten sprachlichen Perspektive eingebracht. Philosophische Texte hingegen betrachten einen Gedanken, den sie (als Annahme) präsentieren, nicht selbst als explikativ. Sie wollen von ihm her Explikationen gewinnen. Auf der Basis solcher Gedanken wollen sie Zusammenhänge unserer Verständnisse deutlich werden lassen. Um dies zu leisten, müssen philosophische Texte allerdings metasprachliche Operationen durchführen. Sie müssen explikative Elemente einführen wie den Begriff des »Begriff s«, den Begriff der »Kategorie«, den Begriff des »(guten) Arguments« und viele andere solcher Elemente mehr. Mittels solcher explikativer Elemente suchen philosophische Texte begriffl iche Zusammenhänge als solche transparent zu machen. In diesem Sinn kann man sagen, daß erzählerische Elemente in der Philosophie immer begriffl iche Ziele haben. Begriffl iche Ziele sind aber nicht dadurch im Spiel, daß es im Schreiben um etwas geht. Das ist auch in literarischen Explikationen der Fall. Begriffl iche Ziele liegen vielmehr dann vor, wenn der Ort von Artikulationen im Rahmen sprachlicher Verständnisse insgesamt thematisiert wird, wenn die unterschiedlichen Zusammenhänge, in denen Artikulationen stehen, als solche beleuchtet werden. Die begriffl iche Arbeit philosophischer Texte ist aus diesem Grund an metasprachliche Operationen gebunden. Die erzählerischen Elemente in der Philosophie haben also – in dieser Weise kann ich meinen Gedanken zusammenfassen – nicht als solche einen explikativen Charakter, sondern nur dadurch, daß sie begriffl iche Explikationen auf den Weg bringen. Die erzählerischen Elemente bringen sprachliche Artikulationen ins Spiel, anhand derer sich die Optionen bestimmter sprachlicher Artikulationen thematisieren lassen. Das Schreiben und Sprechen wird also in der Philosophie nicht nur betrieben, um die sprachliche Artikulation der Welt zu verändern oder zu verbessern. Solche Veränderung und Verbesserung soll gerade mit Blick auf die Thematisierung sprachlicher Artikulationen selbst erzielt werden.
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Ich schlage also vor, in der Philosophie eine andere Form sprachlicher Explikation am Werk zu sehen als in der Literatur: In der Philosophie werden Explikationen gerade dadurch gewonnen, daß Artikulationen nicht für sich selbst genommen, sondern in ihren Zusammenhängen offengelegt werden. Das philosophische Schreiben zielt darauf, die sprachlichen Artikulationen der Welt selbst explikativ zu thematisieren und Vokabulare für solche Thematisierungen zu gewinnen. Das Schreiben und Sprechen über die Welt soll so eine Klärung erfahren. Philosophisch wollen wir beleuchten, was wir unter Bewußtsein verstehen (wollen) oder unter Erkenntnis oder unter Selbstgesetzgebung. Dies allerdings gelingt nur, wenn in der philosophischen Sprache nicht nur Artikulationen der Welt zustande kommen, sondern als Artikulationen in ihren Zusammenhängen expliziert werden. Ich komme zu der Auffassung, daß sowohl das literarische als auch das philosophische Schreiben als Verbindungen von artikulativen und explikativen Momenten der Sprache verstanden werden müssen. Das heißt, daß es unmöglich ist, literarisches und philosophisches Schreiben prinzipiell zu unterscheiden. Der Unterschied der beiden Schreibweisen scheint mir vielmehr ein gradueller zu sein. 26 Der besagte Unterschied läßt sich als ein Unterschied in der explikativen Dimension sprachlicher Artikulationen verstehen. Das literarische Schreiben präsentiert sprachliche Artikulationen so, daß diese als solche eine explikative Dimension aufweisen. Bestimmte Sprechweisen und sprachliche Perspektiven werden nicht als solche thematisiert, sondern werden als Sprechweisen und sprachliche Perspektiven präsentiert. Das philosophische Schreiben verfolgt von Artikulationen her eine andere Richtung: Es betreibt dadurch Explikation, daß es Zusammenhänge zwischen sprachlichen Artikulationen begriffl ich offen legt. Die Philosophie zielt darauf, die sprachliche Artikulation der Welt als solche transparent zu machen. Beide Bewegungen hängen zusammen und können jederzeit ineinander übergehen. An diesem Punkt kann ich auf eine Frage zurückkommen, die ich zu Anfang meiner Überlegungen aufgeworfen habe: auf die Frage, inwiefern Literatur und Philosophie Schriftproduktionen sind. Diese Frage impliziert, so habe ich gesagt, die Frage nach dem Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache. Sprache als Artikulation ist primär gesprochene Sprache. Es ist die Sprache, die diejenigen, die Sprache sprechen und verstehen, tagein tagaus in unterschiedlicher Weise sprechen und verstehen. Dort, wo wir die Rede von Tischen und Stühlen, von Träumen und von Hoff nungen in gesprochenen Worten verstehen, dort artikuliert die Sprache die Welt. Geschriebene Sprache ist nicht in derselben Weise Artikulation wie gesprochene Sprache. Die geschriebene Sprache ist als solche zugleich eine Form der Explika26 Diese These läßt sich auch von Überlegungen Martha Nussbaums her motivieren, die die besondere Eignung der Literatur zu Explikationen in ethischen Fragen betont; vgl. u. a. Martha Nussbaum: Introduction. Form and Content, Philosophy and Literature, in: Love’s Knowledge, New York u. a. 1990, 3-53.
Georg Büchners »Lenz« …
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tion. Explikation leistet Schrift u. a. dadurch, daß sie die gesprochene Sprache diszipliniert. Sie etabliert ein kanonisches Vokabular und kanonische Formen, in denen dieses Vokabular in wohlgeformte sprachliche Ausdrücke eingebaut werden kann. Die Schrift ist dadurch als solche, wie Christian Stetter dargelegt hat, der Anfang der Grammatik. 27 Auf der Basis der schriftlichen Standardisierung können sich grammatische Kategorien wie die des »Worts« oder des »Satzes« entwickeln. Die Schrift ist als ein Medium der Explikation selbst ein Moment der Weiterentwicklung der Sprache. 28 Da sprachliches Verstehen grundsätzlich eine explikative Dimension hat, ist Schrift gewissermaßen in sprachlichem Verstehen angelegt. Schrift und Schriftproduktionen verfolgen also insgesamt dasselbe Ziel wie Literatur und Philosophie auch: das Ziel sprachlicher Explikation. So wird denkbar, daß Literatur und Philosophie nicht als Formen der Schriftproduktion, sondern als Formen sprachlicher Explikation zu unterscheiden sind. Wenn man sie in dieser Weise unterscheidet, kann man auch der bereits erwähnten Tatsache Rechnung tragen, daß es sowohl in Literatur als auch in Philosophie auch relevante Formen gesprochener Sprache gibt: Auch der literarische Vortrag beziehungsweise zeitgenössische Formen wie Poetry Slams und der Hip Hop oder der philosophische Dialog müssen als explikative Formen des Sprachgebrauchs begriffen werden. So wird es plausibel, den Unterschied von Literatur und Philosophie nicht in Begriffen der Schriftproduktion, sondern in Begriffen der Explikation zu fassen. Literatur und Philosophie zielen auf unterschiedliche Formen der Explikation. Als solche arbeiten sie beide an der Entwicklung der Sprache als einer Artikulation von Welt. Die Literatur sucht Artikulationen, die als solche explikativ sind – Philosophie hingegen sucht Artikulationen, von denen her sie Zusammenhänge zwischen Artikulationen als solchen zu beleuchten vermag. Beide Formen des explikativen Sprachgebrauchs sind dabei ein Aspekt der Arbeit des Menschen an sich selbst – ein Aspekt der menschlichen Selbstgestaltung, zu der immer auch die Gestaltung von Sprache gehört. Aber genau diese Gestaltung – die Gestaltung von Sprache – ist nie als solche ein Selbstzweck – sie greift immer aus, auf uns und auf unsere Welt.
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Vgl. Christian Stetter: Schrift und Sprache, Frankfurt/M. 1997. Vgl. dazu auch Georg W. Bertram: Sprache, Schrift und Selbstbewusstsein, München 2006.
Henry James’ »Die goldene Schale« oder ist Liter atur die bessere Mor alphilosophie? Von Eva Schürmann
I. Nach Aristoteles ist Ethik ein Nachdenken über das Gute und Kluge. Ihr Gegenstandsbereich überschneidet sich darin mit dem der Literatur, die in ihren Tragödien die moralischen Dilemmata und tragischen Konfl ikte der antiken Heroen und Mythen reflektiert. Nicht nur in der Katharsispoetik wird der Literatur seitdem eine moralische Bedeutung für ein gutes und gelingendes Leben zugesprochen. Bis heute halten sich daran anknüpfende Stimmen, die die Literatur für einen Teil der oder gar für die bessere Moralphilosophie halten. Ein Grund dafür wird in den Konkretionsleistungen der Literatur gesehen, d.h. in ihrer Fähigkeit, am exemplarisch aufschlußreichen Einzelfall etwas Allgemeines und Typisches zu vergegenwärtigen, dessen Bedeutung schlechthinnig ist und zur Selbstklärung beiträgt. Die Beispielhaftigkeit der Konfl ikte eines Odysseus oder Hamlet ist es demnach, die diese Figuren bis heute interessant macht. Besonders affi rmativ sehen das einige zeitgenössische amerikanische Autoren. Martha Nussbaum hat in einer Reihe von Aufsätzen1 die These entfaltet, Literatur sei qua Darstellung des Partikularen das geeignetere Medium, moralphilosophische Themen zu bearbeiten. Narrative Texte, so die Argumentation von Nussbaum, seien philosophisch aufschlußreich, weil sie moralphilosophische Problembestände konkretisierten und in ihrer praktischen Relevanz vors Auge brächten. Ist die Philosophie dem Allgemeinen, Kategoriellen, Gesetzmäßigen verpfl ichtet, habe die Literatur die Chance, das Besondere als exemplarisch, und damit als regelgebend und orientierend vors Auge zu bringen. Kunst erscheint in dieser Konzeption als Schulung des moralischen Urteilsvermögens. Vom Standpunkt nicht-aristotelischer Ethiken gilt es hingegen als ein Kategorienfehler, von klassisch ästhetischen Kompetenzen wie Wahrnehmungssensibilität oder Geschmackssicherheit einen Zuwachs an ethischer Urteilskraft zu erwarten. Nussbaums Antwort auf diese Zweifel lautet etwa: »A person of practical wisdom lies close to the artist and the perceiver of art, not in the sense that this concept reduces moral values to aesthetic values or makes moral judgement a matter of taste. But in the sense that we are asked to see morality as a high type of vision of and response to the particular.« 2 Martha C. Nussbaum: Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature, New York 1990. Nussbaum: The Discernment of Perception. An Aristotelian Conception of Rationality, in: dies., Love’s Knowledge [Anm. 1], 54-105, 84. 1 2
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Richard Rorty geht womöglich noch einen Schritt weiter, wenn er den Roman gleich »an die Stelle der Moralphilosophie […] setzen« möchte und vorschlägt, »die Dreiteilung nach Kognition, Moral und Ästhetik durch eine Zweiteilung zu ersetzen« 3 . Die Trennung des Guten und Schönen sei irreführend, produktiv sei einzig die Unterscheidung zwischen »Problemlösung einerseits und imaginativer Neubeschreibung andererseits« 4 . Die Unterminierung der traditionellen Zuständigkeiten von Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik soll die beiden letzteren, die Frage nach dem Guten und die schönen Künste einander anverwandeln. Aber repristinieren solche Konzepte nicht nur das alte »fabula docet« der antiken Poetiken? Sicher mag man von Hamlet etwas über die Struktur moralischer Konfl ikte lernen.5 Vielleicht ist sogar das »prodesse et delectare« eine immer noch mögliche Erwartung an Literatur, denn selbst ein Beckett mag im Einzelnen durch gelungene Pointen erfreuen oder durch desillusionierende Darstellung nützen. Wahrscheinlich gibt es überhaupt keine Literatur von Bedeutung, die nicht philosophisch interessant ist. Doch sind damit mehr Fragen gestellt als beantwortet. Hamlet ist in erster Linie Hamlet und kein transzendentales Ich. Welche allgemeinen Schlüsse sind aus seinem Kasus zu ziehen? Wie und auf welche Weise kann die Auseinandersetzung mit Kunst ethisch relevante Resultate zeitigen? Belehrt das Besondere nicht nur über das Besondere? Was gestattet den Übertrag auf allgemeine Regeln, welche universell gültigen Normen und kategorischen Imperative sollten sich daraus ableiten lassen? Im Kontext dieser Problematik erörtere ich im folgenden Henry James’ späten Roman The golden bowl. II. Ein Werk der Erzählkunst, so liest man bei Heimito von Doderer, sei etwas »umso mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben kann«6. Tatsächlich erfaßt man von Henry James’ 1904 veröffentlichtem Roman Die goldene Schale nahezu nichts Wesentliches, wenn man nur den Plot zusammenfaßt. Mit dem Hinweis, es gehe um einen amerikanischen Millionär und seine Tochter, die sich beide mit zwei mittellosen Einzelgängern verheiraten, bzw. um ihre fragile Beziehungskonstellation, außerdem um die korrumpierende Macht des Geldes und um Richard Rorty: Der Roman als Mittel zur Erlösung aus der Selbstbezogenheit, in: Christoph Menke und Joachim Küpper (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt/M. 2003, 4966, 62. 4 Ebd. 5 Christoph Menke erteilt dieser Erwartung in seinem Beitrag in diesem Band eine Absage. Gleichwohl wird man sagen können, daß man von Oedipus gewissermaßen auch noch dann etwas lernt, wenn man die Vergeblichkeit seiner Lage einsieht. 6 Heimito von Doderer: Repertorium. Ein Begreifbuch von höheren und niederen Lebens-Sachen, München 1969, 72. 3
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Ehebruch und Loyalitätskonflikte, ist nicht viel gewonnen. Dennoch sei der Plot kurz angedeutet. Von dem eigentlich Wichtigem, dem literarischen Stil der Jamesschen Romankunst werden die ausgewählten Textpassagen etwas mitteilen. Adam Verver, ein verwitweter Millionär und leidenschaftlicher Kunstsammler, lebt gemeinsam mit seiner Tochter Maggie für einige Jahre in Europa, um Kunst aus der alten Welt für ein Museum in der neuen Welt zusammenzutragen. Maggie lernt den verarmten italienischen Fürsten Amerigo kennen und lieben. Kurz vor beider Hochzeit betritt Maggies eindrucksvolle, alleinstehende Freundin Charlotte Stant die Szene. Amerigo und Charlotte hatten, ohne daß Maggie je davon erfuhr, früher eine Beziehung, die jedoch wegen beider Mittellosigkeit nicht zur Eheschließung führte. Maggie Verver, seit dem frühen Tod ihrer Mutter die engste Vertraute und ständige Begleiterin ihres Vaters, fühlt sich schuldig, diesen durch ihre Verheiratung allein gelassen zu haben. So kommt es, daß sie ihn seinerseits zu einer Heirat mit Charlotte drängt. Doch auch nach dieser Vermählung und selbst nach der Geburt von Maggies Sohn, bleiben die beiden Ververs einander mehr verbunden als ihren jeweiligen Ehepartnern, was wiederum diese beiden, Amerigo und Charlotte, einander erneut näher bringt. Es kommt zum Ehebruch. Erst als Maggie das ahnt, sieht sie sich zu einer Emanzipation von ihrem Vater veranlaßt. Doch sie vermeidet jeden Eklat. Ihre Ansprüche auf ihren Mann macht sie geltend, indem sie auf eine Veränderung der Verhältnisse dringt; am Ende reisen ihr Vater und seine junge Frau zurück nach Amerika, um sich der Gründung eines neuen Museums zuzuwenden, Maggie und Amerigo beabsichtigen, sich ein eigenes Leben in Italien aufzubauen. Wer den Roman gelesen hat, weiß jedoch, wie wenig mit dieser Zusammenfassung gesagt ist. Der nachdenkliche Ton des Erzählers, die ausgedehnten Überlegungen und inneren Monologe seiner Figuren, die Fülle von widersprüchlichen und vieldeutigen Bemerkungen und die vielen Konjunktive, mit denen zahllose Variationen und Optionen angedeutet werden, erzeugen ein sehr viel reichhaltigeres Spektrum verschiedener Interpretationsmöglichkeiten, die sich jedoch so gut wie nie in bestimmte Aussagen darüber überführen lassen, wer was warum fühlt, denkt oder tut. Der Bruder des Psychologen William James ist ein Meister der verrätselnden Erzählkunst. Der Erzähler bringt sich zwar gelegentlich durch ein »ich muß sagen« und »ich muß überdies hinzufügen« ins Erzählte ein, aber oft ist auch er sich seiner Sache nicht sicher, häufig äußert er, daß etwas nur so scheine, als sei es dieses oder jenes, daß es sich nur vielleicht so oder so verhalte. So weiß er z.B., was Maggie hätte sehen können, aber nicht, was sie sah. Sie hätte »beobachten können, wie der Familienwagen vorüberfuhr« und dann hätte sie »gesehen, daß Amerigo und Charlotte ihn zogen, während sie und ihr Vater ihn noch nicht einmal schoben« 7. Aber niemand weiß am Ende, ob es das ist, was Maggie tatsächlich (ein-)sieht. Henry James: Die goldene Schale, Berlin 2002, 356 f. Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe. Da für die langen Zitatpassagen der Ringvorlesung die deutsche Fas7
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Es ist jedoch nicht so sehr die Rätselhaftigkeit der Kunst als vielmehr die Rätselhaftigkeit des Psychischen, die James zeigt. Was die Erzählung auslotet, ist das ineffabile-esse des Selbst in der Vieldeutigkeit seiner Weltbezüge und die mit logischen Mitteln uneinholbare Komplexität menschlichen Empfi ndungsvermögens. Die folgende Rede, die Charlotte an Amerigo adressiert, nachdem sie ihn überredet hat, sich am Vorabend seiner Hochzeit heimlich mit ihr zu treffen, um ein Geschenk 8 für Maggie zu kaufen, vermittelt davon einen Eindruck: »›Es ist mir gleichgültig, wie Sie darüber denken, und ich werde niemals wieder etwas von Ihnen erbitten – außer diesem hier. Das möchte ich ausdrücklich gesagt haben – das ist alles. Es wäre mir schrecklich gewesen, wenn ich es nicht fertiggebracht hätte, es Ihnen zu sagen. Sie noch einmal zu sehen, noch einmal eine kurze Stunde – oder sagen wir: zwei – mit Ihnen zusammen zu sein, sie so mit Ihnen zu verbringen, wie wir es jetzt tun und früher getan haben: diesen Wunsch hege ich seit Wochen. Natürlich lag mir daran, ihn vorher erfüllt zu bekommen – ehe Sie den Schritt tun, den zu tun Sie entschlossen sind. Sie verstehen also‹, fuhr sie, ihn immer noch anblickend, fort, ›daß es für mich darum ging, es noch rechtzeitig zu schaffen. Wenn es mir nicht gelungen wäre, jetzt zu kommen, hätte ich wahrscheinlich überhaupt nicht kommen sollen – vielleicht niemals. Aber da ich nun einmal hier bin, werde ich auch bleiben; es hat Augenblicke gegeben, drüben, in denen ich völlig verzweifelt war. Es war nicht so leicht – es gab Gründe, die dagegen sprachen; aber es galt entweder dies oder gar nichts. Sie sehen also, mein Kampf war nicht vergeblich. Danach – oh, das wollte ich nicht! Das heißt nicht‹ – sie lächelte – ›daß es nicht auch danach noch wunderbar gewesen wäre, Sie zu sehen, wunderbar, wann und wo auch immer; aber ich hätte nicht eigens deswegen eine so lange Reise unternommen. Dies hier ist etwas anderes. Dies ist es, was ich mir gewünscht habe – was ich bekommen habe, und was mir niemals jemand wird nehmen können. Natürlich ist dies etwas, das ich sehr entbehrt hätte‹, fuhr sie fort, ›wenn Sie es vorgezogen hätten, es mir nicht zu gewähren. Wenn Sie es abscheulich von mir gefunden hätten, wenn Sie sich geweigert hätten, zu kommen, wäre ich verraten und verkauft gewesen. Das Risiko mußte ich auf mich nehmen. Nun ja, Sie haben meinem Wünschen und Hoffen voll und ganz entsprochen. Das ist es, was ich Ihnen sagen mußte. Ich wollte nicht nur mit Ihnen zusammen sein, nein, sung gewählt wurde, bleibe ich bei dieser Übersetzung von Werner Peterich, die sehr sorgf ältig ist. 8 Dabei entdecken sie die titelgebende goldene Schale, von außen makelloses, vergoldetes Kristall mit einem unsichtbaren Sprung. Sie ist nicht nur ein Symbol für die innere Brüchigkeit des scheinbar Glanzvollen, sondern wird zum vermeintlichen corpus delicti, als Maggie sie bei jenem Antiquitätenhändler ersteht, bei dem Charlotte und Amerigo ihr heimliches têteà-tête hatten, von dem Maggie auf diese Weise erf ährt. Die interessante Frage, die sich daran anschließt, lautet: »Aber wenn es [ein Fehler] ist, den man nicht entdecken kann? Ist es dann nicht so, als ob sie keinen Fehler hätte?« (102)
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Sie sollten es auch wissen. Sie sollten es‹ – mutig verdeutlichte sie, was sie meinte, sanft und mit zaghaft zitternder Stimme, aber trotzdem unbeirrbar –, ›Sie sollten es verstehen, das heißt, es mit eigenen Ohren aus meinem Munde hören. Ich glaube, es ist mir gleichgültig, ob Sie es begreifen oder nicht. Wo ich Sie schon um nichts bitte, kann ich – oder darf ich – nicht einmal das von Ihnen erwarten. Wofür Sie mich halten – das spielt überhaupt keine Rolle. Ich möchte nichts weiter, als daß Sie sich dessen immer bewußt sein werden – daß Sie es niemals ganz vergessen: daß ich es getan habe. Ich werde nicht sagen, daß Sie es getan haben – verstehen Sie das, wie Sie wollen. Aber daß ich hier mit Ihnen zusammen gewesen bin, wo wir sind und wie wir sind, das ist alles, was ich sage. Mit anderen Worten, mich bloßzustellen – mich bloßzustellen, ohne auch nur das Geringste dafür zu erwarten. Das ist alles.‹« (86-88) Was will Charlotte Stant? Diese Frage kann vermutlich weder sie selbst noch der Autor beantworten. Überredet sie Amerigo zu der gemeinsamen Heimlichkeit, um ihn zu kompromittieren, ihn zu warnen, um zu verhindern, daß ihrer beider Geschichte spurlos im Sande verläuft, um ihm Schuldgefühle zu machen – alles ist möglich und niemand weiß es genau, auch Stant und James nicht. Der Romancier steht dem allwissenden Autor zwar noch insofern nah, als er sich in Kenntnis der inneren Monologe seiner Charaktere und ihrer Bewußtseinsströme befi ndet; er weiß um ihre Reflexionen und Zweifel und setzt uns darüber ins Bild. Aber nur selten kommt er zu resultathaften Bestimmungen dessen, was es nun ›wirklich‹ mit ihnen auf sich hat. Das Unausgesprochene mag häufig wichtiger sein als das Ausgesprochene, aber wer sollte darüber befi nden? Insofern kommt keine Interpretation umhin, Zuschreibungen vorzunehmen und Urteile zu fällen, die für das Verständnis dessen, was der Fall ist, eine notwendig vereinseitigende Wahl darstellen.9 Versucht man eine Beschreibung des Problembestandes, den die Protagonisten haben, stellt man schnell fest, daß es schwer ist, ihre Ambiguitäten offen zu halten. Es sind freilich vergleichsweise luxurierende Probleme, die man hat: Amerigos Glück ist zugleich sein Unglück. Bei allen Verlockungen, die die Umstände ihm bieten, kommt er nicht dazu, ein eigenes Leben zu führen. Er ist nur das Objekt der Begierde beider Frauen, und dem kann er sich kaum, jedoch nicht ohne Verlust für seinen Subjektstatus entziehen. Er nimmt, was sich ihm bietet, doch ohne daß es je Ziel seiner Wünsche oder Ergebnis seiner Bemühungen gewesen wäre. Er triff t keine Entscheidungen, sondern reagiert auf Optionen. Wie könnte er die liebenswürdige Millionenerbin, die sich in den Kopf gesetzt hat, ihn zu heiraten, ablehnen? Wie sollte er die betörende Frau seines Schwiegervaters, die seine Ge9 Im Roman selbst ist es das mit den Ververs befreundete Ehepaar Assingham, das eine Art Chor-Rolle in der modernen, verhaltenen Tragödie übernimmt; in räsonierenden Gesprächen erörtern die beiden das Geschehen und bieten unterschiedliche Interpretationen an. Aber Fanny Assingham mag sich irren.
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liebte werden will, nicht wollen? Aber beide Bindungen verpfl ichten ihn zu sehr viel Verfügbarkeit, er ist alles andere als frei, stets hat er dem nachzukommen, was man von ihm erwartet. Er ist »ein Mann, den man ungestraft stören darf« (109), denn er hat keinen Beruf, der ihn erfüllt, und er lebt in London in einem Exil, das ihm nicht behagt. Selbst wenn er Format hätte, fiele es ihm schwer, dies angesichts seiner Wahlmöglichkeiten zu wahren. Von Adam Verver wird gesagt, »daß er kostbare Vasen kaum weniger liebte als kostbare Töchter« (161). Er ist ein besessener Sammler erlesener Kunstschätze, von denen Charlotte Stant nur einer, wenngleich der erlesenste ist. Er ist der Mann, der das Leben aller vier Hauptpersonen fi nanziert und daher den Status des unbedingten Gesetzes hat, dem alles andere sich unterordnet. Die Ehe mit Charlotte, die kinderlos bleibt, geht er offenbar eher Maggie zuliebe ein. Vor allem vor Adam muß der Betrug bis zum Schluß geheim gehalten werden und was die Diskretion der drei anderen nicht vermag, das vermag sein eigenes Nicht-Sehen-Wollen. So ist am Ende er es, der sich am wenigsten entwickelt hat. Maggie Verver hat es über der Aufgabe, ihres Vaters Favoritin zu sein, versäumt, eine selbständige Identität auszubilden, sein Wille ist auch der ihrige, was sie ist und will, wird nahezu gänzlich von dem bestimmt, was ihm gefällt. Das Erscheinen Amerigos in ihrem Leben ändert daran zunächst nur wenig. Maggie gelingt es, zu heiraten, »ohne mit der Vergangenheit zu brechen« (341), d.h. ohne aufzuhören, ihrem Vater die unentbehrliche Gefährtin zu sein, die sie war. Auch nach der Geburt ihres Sohnes verbringt sie jeden Nachmittag in dessen Haus. Erst als sie beginnt, etwas von der Beziehung ihres Mannes zu Charlotte zu ahnen, endet ihre somnambule Dornröschen-Existenz, und sie triff t eine Entscheidung. Sie entwickelt sich von einer weltlosen, schönen Seele zu einer Frau, die einen Zusammenhang von Leben und Schuldigwerden einzusehen beginnt. Charlotte Stant wird uns als eine Persönlichkeit großen Stils und Formats geschildert, eine weltgewandte, vielgereiste, geistvolle Frau, deren Charakter an den Härten ihres Geschicks, durch den frühen Tod der Eltern arm und verwaist zu sein, offenbar eher gewachsen als durch sie beengt ist. Augenscheinlich hat sie durch Leiden und Leidenschaften nur gewonnen. Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens im Roman hat sie bereits eine Reihe von Scheiternserfahrungen gemacht, erfolglose Bemühungen, einen adäquaten Ehemann zu fi nden, was in dem viktorianischen Setting des Romans ihre einzige Chance auf soziale Absicherung und einen anerkannten gesellschaftlichen Status darstellt. Der Heiratsantrag von Adam Verver eröff net ihr die Möglichkeit, die Odyssee ihres unbehausten Lebens zu beenden, und ähnlich wie Amerigo ist auch sie kaum imstande, eine solche Möglichkeit auszuschlagen, bzw. hat auch sie keine interessanten Alternativen. Eine Zeit lang bemüht sie sich denn auch, den damit verbundenen Verpfl ichtungen einer Ehefrau nachzukommen, was durch die Unzertrennlichkeit ihres Mannes und seiner Tochter jedoch erheblich erschwert wird. Sie wie Amerigo haben Gründe, sich von den Ververs vernachlässigt zu fühlen. So sieht sie sich schließlich zu einer Wiederauf-
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nahme ihrer früheren Beziehung zu Amerigo veranlaßt. Am Ende jedoch muß sie genau wie Maggie einsehen, daß sie beide ihre Männer von der jeweils anderen Frau entfernen müssen, wenn sie dazu kommen wollen, ihre Ehen zu führen. Eine Art fünfter Akteur ist, wie so oft bei James, das Geld. Das Geldhaben ist den Figuren nicht äußerlich, es ermöglicht keine lediglich gut situierte Weise der Lebensführung, keinen nur Großzügigkeit schaffenden Wohlstand. Vielmehr steht es für die Möglichkeit, sich in schier unbegrenztem Maße das Beste kaufen zu können, was das Leben zu bieten hat, und sei dies die vorzüglichste Kunst, ein adeliger Italiener oder eine brillante Frau. Der Reichtum bedingt eine lautlose, wattierte Abgeschottetheit gegen die gewöhnlichen Härten des Lebens, und er schaff t eine quasi betäubende Atmosphäre äußerlicher Erlesenheit und Widerstandslosigkeit. Eine Art Weltlosigkeit liegt über den Palästen der beiden Ehepaare, sie leben in einer gegen alle Widrigkeiten und damit gegen die Wirklichkeit selbst abgeschirmten Sphäre der guten Dinge, feinen Stoffe, ausgesuchten Weine und funkelnden Schmuckstücke. Das Geld ist in einem derartigen Überfluß und einer solchen Selbstverständlichkeit vorhanden, daß es gleichsam alles entwertet, denn alles, was man davon kaufen kann, ist ohne jede Anstrengung verfügbar. Die vier Charaktere leben in einer übersteigerten Verfeinerung der Lebensart, und wenn sie, worüber wir nicht so viel erfahren, auch nur halb soviel Wert auf ihre Ernährung wie auf ihre Garderobe legen, dann bedarf ihr Tagesablauf des Sachverstandes und der Arbeitskraft von Dutzenden von Hausangestellten, Köchen, Kammerdienern, Sekretären, Schneidern und dergleichen mehr. Doch diese Aspekte kümmern James nicht in sozialkritischer Hinsicht. Ihn interessieren vor allem die Kosten solchen Reichtums im komplizierten Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen. Er forscht den Korruptionen, Irrtümern und Verstellungen nach, die das Geldhaben dort anrichtet. Denn es ist ihr Vermögen, das die beiden Ververs in ihrer Symbiose von den beiden eingeheirateten, um nicht zu sagen: eingekauften Figuren trennt. Es muß eine entsetzliche Abhängigkeit sein, die die beiden letzteren empfinden. Zudem setzt das Geld nahezu unverwindbare Statusunterschiede. Charlotte behält ein – wir wissen nicht wie schmerzhaftes – jedenfalls pflichtschuldiges Bewußtsein dieser Unterschiede immer bei, das sich darin äußert, daß sie Maggie als die gesellschaftlich höher Stehende ansieht, indem sie »hartnäckig darauf bestand, ihr stets den Vortritt zu lassen, sich nicht zu setzen, ehe sie saß, […], nicht das Wort zu ergreifen, ehe sie nicht dazu aufgefordert wurde« (369). Es sind enorme intersubjektive Obligationen mit diesem Vermögen verbunden, letztlich bedingt es die Unmöglichkeit eines selbstzweckhaften, freien Verhältnisses zum Anderen. Zugleich leiden alle vier in ihren grenzenlosen ästhetischen Freiheiten unter einem Mangel an Notwendigkeit. Sie sind im Kierkegaardschen Sinne verzweifelt, wenn denn »ein Selbst, das keine Möglichkeit hat, […] verzweifelt [ist], und ebenso ein Selbst, das keine Notwendigkeit hat«10 . Sie haben so viele Optionen, daß es auf 10
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keine mehr ankommt. Alles ist möglich, weil nichts wirklich ist in ihrem kontrastlosen Leben. Man könnte insofern der Ansicht sein, daß der unermeßliche Reichtum der Ververs ihr Bemühen um Stil, Takt, guten Geschmack und schöne Schicklichkeit letztlich blamiert. Aber das ist nicht das, was der Text explizit sagt, sondern es stellt wieder eine jener reduktionistischen Wahlen dar, die die Interpretin treffen muß, wenn sie zu einem Schluß kommen will. Lesen wir den Heiratsantrag, den Adam Verver Charlotte Stant macht: »›Wir haben, wir mir scheint, so wunderschöne Tage zusammen verlebt, daß ich hoffe, es schockiert Sie nicht zu sehr, wenn ich Sie frage, ob Sie sich vorstellen können, daß ich Ihr Mann wäre.‹ Als hätte er gewußt, daß sie bei einigem Anstand, und wie ihre Antwort auch immer ausfallen mochte, ob ja oder nein, unmöglich überstürzt antworten konnte, hatte er noch ein wenig weiter gesprochen – als ob er gespürt hätte, daß er alles im voraus hatte bedenken und sich überlegen müssen. Er hatte die Frage gestellt, von der es kein Zurück gab, die also das Opfer seiner Schiffe bedeutete; und was er jetzt noch hinzufügte, war wie das Hineinschleudern eines zweiten Feuerbrands, durch den die endgültige Vernichtung gesichert werden sollte. ›Es ist kein plötzlicher Entschluß von mir, und ich habe mich gelegentlich gefragt, ob Sie nicht spürten, wie ich dazu kam, ihn zu fassen. Er ist in mir gereift, seitdem wir Fawns verlassen haben – ja, er keimte schon, als wir noch dort waren.‹ Er sprach langsam, um ihr Zeit zu geben nachzudenken. […] ›Und glauben Sie bitte nicht, ich hätte vergessen, daß ich alt bin.‹ ›Oh, das stimmt nicht. Ich bin es, die alt ist. Sie sind jung.‹ Das war es, was sie als erstes erwidert hatte – und im Ton ganz so, als hätte auch sie sich Zeit genommen. Zwar hatte es sich nicht auf seine erste Frage bezogen, aber es waren freundliche Worte – und das war es, was er vor allem wollte. Und sie bewahrte diese Freundlichkeit auch in dem, was sie dann sagte, sprach weiterhin mit der klaren, tiefen Stimme und wandte den Blick nicht von ihm. ›Auch ich bin ganz erfüllt davon, wie wunderschön diese Tage waren. Es hieße ihnen unrecht tun, wenn ich nicht mehr oder weniger geahnt hätte, daß sie uns zu diesem Gespräch führen würden.‹ Ihm war, als wäre sie einen Schritt auf ihn zugetreten und doch gleichzeitig stehengeblieben. Was aber wohl ohne Zweifel nichts anderes bedeutete, als daß sie ernst und vernünftig nachdachte – also genau das tat, was er wünschte. Wenn sie nur genug nachdachte, würde sie wahrscheinlich dazu kommen, einzuwilligen. […] ›Also, falls Sie einer solchen Verbindung ins Auge sehen können, brauchen Sie keine Angst zu haben.‹ Sie schwieg abermals, und man hätte meinen können, daß sie ihr ins Auge sah, als sich durch Dämmer und Lampenlicht, durch den Hauch eines milden, ein wenig feuchten Südwests hindurch ihr Blick, ohne auszuweichen, mit dem seinen traf. Dennoch war sie sich nach Ablauf einer Minute nicht schlüssiger geworden als bis zu einem: ›Ich will nicht verhehlen, daß es meiner Meinung nach gut für mich wäre, zu heiraten. Gut für mich, meine ich‹, fuhr sie fort, ›weil ich so
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schrecklich allein dastehe. Es wäre mir durchaus lieb, wenn ich den Zufällen des Schicksals etwas weniger preisgegeben wäre. Ich hätte gern ein Heim, führte gern eine gesicherte Existenz. Es wäre mir lieb, wenn ich für eines mehr Grund hätte als für etwas anderes – einen Grund außerhalb meiner selbst. Ja‹, sagte sie so aufrichtig, daß es fast traurig und doch wieder so deutlich, daß es fast humorvoll wirkte, ›ja, wissen Sie, ich möchte sogar heiraten. Das ist – nun ja, das ist die Bedingung.‹ ›Die Bedingung …?‹ Er ließ es im Unbestimmten. ›Der Zustand, meine ich. Ich mag meinen eigenen nicht. ›Miss‹, das ist in unseren Kreisen zu furchtbar – für eine Verkäuferin mag es hingehen, aber ich möchte nicht eine schreckliche alte Jungfer sein.‹ ›Oh, Sie möchten, daß sich jemand Ihrer annimmt. Nun, ich werde das tun.‹ ›Ich fürchte fast, so ist es. Ich sehe nur nicht ganz ein, warum mich das, wovon ich spreche‹– sie lächelte –, ›nur um meinem augenblicklichen Zustand zu entfl iehen, so viel kosten soll.‹ ›So viel – das heißt: ausgerechnet mich zu heiraten?‹ Ihr Lächeln verriet Aufrichtigkeit. ›Möglich, daß ich das, was ich will, für weniger bekomme.‹ ›Sie fi nden, es kostet Sie so viel, es zu tun?‹ ›Ja‹, sagte sie, ohne zu zögern. ›Ich finde, es kostet mich eine Menge.‹ Das war es also, obschon sie so sanft, so völlig aufrichtig zu ihm war, und er fühlte, er wäre weit gekommen – das war es also, daß unvermittelt irgend etwas doch zu mißlingen schien und er nicht genau wußte, wo sie nun eigentlich waren. […] Er hätte ihr Vater sein können. ›Gewiß, ja – das ist mein Nachteil: Ich bin nicht der natürliche, bin weit entfernt davon, der ideale Partner für Sie in Ihrer Jugend und Ihrer Schönheit zu sein. Die Schwierigkeit liegt also für mich darin, daß Sie mich immer und unvermeidlich in einem so anderen Licht gesehen haben.‹ Aber sie schüttelte langsam den Kopf, was bewirkte, daß es sanft klang, als die dem widersprach – traurig fast, als kostete es sie Überwindung, es so klipp und klar auszusprechen; und noch bevor sie sprach, hatte er eine undeutliche Ahnung von einem Einwand, den sie erheben könnte, dem gegenüber der, den er ausgesprochen hatte, leicht wog, und der daher merkwürdig tief sein mußte. ›Sie verstehen mich nicht. Es geht um das, was es für Sie bedeutet – das ist es, woran ich denke.‹ Oh, damit war für ihn alles klarer! ›Daran brauchen Sie nicht zu denken. Ich weiß, was es für mich bedeutet.‹ Doch wieder schüttelte sie den Kopf. ›Ich bezweifle, daß Sie es wissen. Ich bezweifle, daß Sie es können.‹« (185-188) Erneut sieht sich der Leser mit einer irritierenden Vielzahl von Unklarheiten konfrontiert. Es kostet sie etwas, daß es für ihn etwas bedeutet, sie zu heiraten? Letztlich kommen beide darin überein, zu heiraten, wenn Maggie nichts dagegen hat bzw. weil es eine Freude für sie wäre. Man mag bezweifeln, ob das Arrangement so glücklich beginnt. Aber die Motive der Handelnden sind beschreibungsabhängig, und James zeigt die Instabilität, aber auch die Berechtigung jeder Beschreibungsweise, es gibt keine
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Möglichkeit der Überprüfung der Richtigkeit dieses oder jenen Motivs am Maßstab objektiver Fakten, sondern es gibt nur Optiken, Versionen, Optionen. Handeln, so zeigt der Roman, entspringt nicht notwendig aus Selbsterkenntnis, und Fühlen verhält sich nicht adäquat zu Normen und Normalitäten. Interpersonelle Beziehungen sind nur im Lichte ungewisser Interpretationen und Antizipationen möglich, und was ihren Bestimmungsgrund ausmacht, ist schwer zu sagen. Nun sind viktorianisch geprägte Menschen vielleicht generell mehr als Personen anderer Epochen außerstande, in die Abgründe ihres Gefühlslebens zu schauen. Noch weniger ist von ihnen zu erwarten, daß sie darüber offen sprächen. Wenn sie gleichsam aus Versehen gelegentlich mal etwas aussprechen, weiß James immer noch genug Rätselhaftigkeit damit zu verbinden: »So etwa lauteten die Worte, die sie von ihm, während sie sich selbst beobachtete, hervorgebracht vermeinte […].« (458) Auf klare Fragen: »›Warum sprichst du vom Unglück der Frau deines Vaters?‹« (627) gibt es keine klaren Antworten: »›Täte ich es nicht […] müßte ich von ihm sprechen.‹« (628) Und es gibt Fragen: »die nicht zu stellen, er sich beherrschen mußte« (501). Die Worte bezeichnen keine Dinge, schon gar nicht bilden sie Wirklichkeiten ab, sondern sie sind die Abgründe, die sich auftun, wenn zwei Menschen versuchen, sich einander etwas zu bedeuten. »Und die Worte, die sie sprach, unterschieden sich durchaus von denen, die er hätte aus den bereits gesprochenen heraushören können.« (498) III. Was heißt das nun für die eingangs gestellten Fragen nach dem Verhältnis von Literatur und Moralphilosophie? Im lesenden Nachvollzug der Probleme der Personen, ihrer möglichen Motive und Gründe spielen die Leser deren Lage und mögliche Alternativen durch; oft geschieht dies sehr nach Maßgabe eigener Präferenzen und Klärungsinteressen. Martha Nussbaum, Richard Rorty und Robert Pippin haben sich dem Werk von Henry James und insbesondere diesem spätem Roman zugewendet, um daran ihre Thesen zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik zu explizieren. So ist Rorty der Auff assung, der Roman sei der philosophischen Argumentation deswegen überlegen, weil er unserem Set von Überzeugungen etwas Neues hinzufüge. Literatur im Allgemeinen zeige uns, so Rorty in pragmatischer Vereinfachung 11 : »Was für Menschen gibt es auf der Welt, und wie kommen sie durchs Leben?« Um solche Einsichten zu erzielen, sei es die wesentliche Aufgabe der Literatur, vieldeutige Interpretationen zu eröff nen und den Geist von Allgemeinplätzen zu befreien. »Je poetischer ein Werk ist und je weniger es in rationaler Argumentation gründet, desto schwieriger wird es, dieses Werk einer unzweideutigen Interpretation zu unterwerfen.«12 Während es das Ziel argumen11 12
Rorty: Der Roman als Mittel zur Erlösung aus der Selbstbezogenheit [Anm. 3], 49. Ebd., 51.
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tierender Texte sei, »ein Maximum an Kohärenz mit bereits bestehenden Überzeugungen […] herzustellen«13 , breche die Literatur mit konventionellen Sichten. Gerade wegen ihrer Ambivalenzen seien Romane wie die von James oder Proust daher – im Unterschied zu denjenigen von Dickens oder Balzac – ergiebig. »Dikkens [bestätigt] unser intuitives Weltverständnis, während Proust es durcheinanderbringt.«14 Die Auseinandersetzung damit sei in sich selbst bereits, insofern sie etwas neu zu sehen lehre, eine ethische Angelegenheit. So kommt er zu dem erwähnten Vorschlag, die Trennung des Wahren, Guten und Schönen »durch eine Zweiteilung zu ersetzen, und zwar nach Problemlösung einerseits und imaginativer Neubeschreibung andererseits«15 . In bezug auf Fragen der Erkenntnis gebe es Probleme zu lösen, in bezug auf ethisch-ästhetische Fragen gehe es vor allem darum, produktive imaginative Sichten und Beschreibungen zu gewinnen. Wären die Menschen nur Problemlöser, gäbe es keine kreative Welterschließung. Für diese sei Imagination, mit deren Hilfe Altes neu gesehen wird, unabdingbar. Durch imaginative Neubeschreibung ermögliche es der Roman seinen Lesern »zu verstehen, wovor sie sich hüten und in acht nehmen müssen und worauf sie hoffen dürfen«16 . Nun ist allerdings die Weltliteratur voll von irreführenden Geschichten, unschuldigen Frauenleichen und verbrecherischen Fehlhandlungen, die uns häufig mehr ratlos als aufgeklärt darüber zurücklassen, wie wir die Dinge sehen sollten. Auch, daß man Allgemeinplätze über die Schwierigkeiten, die Ehebruch verursacht, durch James sehr wohl bestätigt fi nden kann, scheint Rorty nicht weiter zu beunruhigen. Anschlußfähig scheinen mir seine Überlegungen deshalb nicht dort zu sein, wo er den Roman als moralpädagogisches Mittel instrumentalisiert, sondern dort, wo er darauf aufmerksam macht, daß ethisch-ästhetische Probleme nie wirklich ›gelöst‹ werden können, sondern nur in unterschiedlich originellem Maße zu sehen und zu beschreiben sind. Das allerdings scheint mir wirklich erwähnenswert, denn was man folglich aus Literatur ›lernte‹, wäre demnach gerade nicht, wie man sich zu verhalten hat oder welche Mittel man sich gleich Rezepten verschreiben sollte. Die möglichen Erträge bestünden vielmehr darin, gewisse Einsichten in die Uneinsichtigkeit und Unlösbarkeit moralischer Konfl ikte zu erlangen, Formulierungen zu fi nden für die Natur dieser Konfl ikte und einen reflektierten Ausdruck für existentielle Grundbegriffe und -bedingungen menschlichen Lebens. In viel textnäheren Lektüren als Rorty hat Martha Nussbaum dem Jamesschen Roman mehrere Aufsätze gewidmet, in denen sie seine moralphilosophische Relevanz nachzuweisen versucht. Auch sie vertritt die Auffassung, er gebe »a particu13 14 15 16
Ebd. Ebd., 60. Ebd., 62. Ebd., 65.
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lar set of answers to the question how should one live«17. Sie verortet ihre Überlegungen im Kontext der grundlegenden Problematik der gegensätzlichen Ansprüche von Universalismus und Partikularismus. In der Tat besteht eine Schwierigkeit philosophischer Ethiken darin, das Besondere und das Allgemeine nicht zur Dekkung bringen zu können. Grundsatzorientierte Ethiken wie diejenige Platons oder Kants vernachlässigen das Partikulare und Kontingente individueller Lebenssituationen; während situative und lebensweltliche Ethiken wie diejenige von Aristoteles zwar die Wechself älle des Daseins berücksichtigen, aber keine universell gültige Orientierung geben.18 Hierzwischen zu vermitteln, ist Nussbaum zufolge die Leistung von bestimmter Literatur, die am exemplarisch bedeutsamen Einzelfall eine allgemeingültige Regel verdeutliche. Freilich gibt die Neoaristotelikerin Nussbaum der Ethik als Domäne der φρóνησις , der praktischen Klugheit, den Vorzug gegenüber deontologischen Prinzipienethiken19 : »Ethics is the search for a specification of the good life for a human being.« Doch in bezug auf die moralphilosophische Relevanz der Literatur geht ihr Bemühen dahin, deren regelgebende und universell gültige Orientierungsleistung herauszuarbeiten. James’ Roman avanciert dabei zum Paradigma moralischer Aktivität, denn er veranschauliche »the interaction of rules and perception in moral judging and learning« 20 . Erst das Zusammenwirken von normativen Regeln, perzeptiver Sensibilität und moralischer Urteilskraft mache das Ganze des moralphilosophischen Nutzens des Romans aus. Propositionale und argumentierende Rede allein könne das niemals leisten. Die allgemeinste Maxime, die Nussbaum den Jamesschen Darstellungen entnehmen kann, ist »to be fi nely aware and richely responsible«21, und zwar in dem Maße, in dem Nussbaum zufolge Maggie dies sei. Wie Maggie es schaff t, sich von ihrem übermächtigen Vater zu emanzipieren, ohne ihm das Herz zu brechen, ihren Mann von Charlotte abzuziehen, ohne einen Eklat zu verursachen, und die Lebensführung von ihnen allen ebenso diskret wie entscheidend zu verändern, dies sei exemplarisch aufschlußreich. »He must let her go, loving her, […] loving him, she must discover a way to let him go […] his dignity intact.« 22 Nussbaum setzt dabei jedoch gänzlich unkritisch voraus, daß jeweilige Einsichten in besondere Konstellationen mühelos auf eine allgemeine Regel übertragbar 17 Nussbaum: Introduction: Form and Content, Philosophy and Literature, in: dies., Love’s Knowledge [Anm. 1] 3-53, 36. 18 Vgl. den Überblick von Herlinde Pauer-Studer: Martha C. Nussbaum. Positionen, in: Info Philosophie 5 (2003), 28-33. 19 Nussbaum: James’s The Golden Bowl. Literature as Moral Philosophy, in: dies., Love’s Knowledge [Anm. 1], 125-147, 139. 20 Nussbaum: Finely aware and richly responsible. Literature and the Moral Imagination, in: dies., Love’s Knowledge [Anm. 1], 148 f. 21 Nussbaum: James’s The Golden Bowl [Anm. 19], 135. 22 Nussbaum: Finely aware and richly responsible [Anm. 20], 149.
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wären. Welche Regel oder gar universell geltende Norm sollten aber aus einer Lage ableitbar sein, deren Spezifi k durch die Sachzwänge und Konditionierungen ganz bestimmter gesellschaftlicher und historischer Verhältnisse diktiert sind? Zwar läßt sich sagen, daß wir alle Väter haben und Schwierigkeiten, uns zu diesen in ein Verhältnis zu setzen; wir können Abnabelungskonfl ikte, die denen von Maggie Verver, Hamlet oder anderen Figuren der Weltliteratur mindestens strukturell vergleichbar sein mögen, durchaus kennen. Doch sind wir per defi nitionem niemals in identischen Situationen. Wären wir dies, ließe sich vielleicht eine Regel aus ihrem Verhalten und Handeln ableiten, so aber bieten sie allenfalls eine gewisse Orientierung. Eine universelle Maxime daraus extrahieren zu wollen, vernachlässigt im Grunde gerade jene Einzigartigkeit ihrer Lage, auf die Nussbaum sich andererseits so sehr beruft. Denn ihre individuelle Besonderheit besteht ja doch in der Unvergleichlichkeit ihrer Konstellation. Die Inkommensurabilität und Einmaligkeit moralischer Situationen dürfte insofern gerade wegen ihrer Partikularität nie gänzlich theorief ähig sein, denn Theorie bedeutet Verallgemeinerbarkeit. 23 Konkretheit muß zu Lasten der Geltung gehen, denn der Umfang der aus dem Einzelfall zu gewinnenden Begriffe der praktischen Vernunft kann naturgemäß nicht so groß sein wie der der allgemeinen Maxime. Die Feinfühligkeit der Nussbaumschen Romaninterpretation kann nicht über die Schwächen hinwegtäuschen, die in ihren Zuschreibungen fi xer Bedeutungsgewinne bestehen. Die Tendenz, literarische Werke als Anweisung zum guten Leben oder gar als »prescriptions« 24 zu begreifen, scheint mir ein grober Instrumentalismus. So ist das Ende der Romans ihrer Ansicht nach ein happy end, eine perfekte Auflösung der Konfl ikte und wohl gar eine moralpädagogische Gebrauchsanweisung, wie man sich zu verhalten habe, befände man sich in ähnlicher Lage: »All daughters should treat their fathers with the same level of sensitivity to the father’s concrete character and situations.« 25 Über den Schluß gehen die Meinungen jedoch berechtigter Weise weit auseinander. Manche betrachten ihn als moralisches und persönliches Desaster aller vier Hauptpersonen und als ein Geflecht von bestenfalls zivilisations-notwendigen Lügen und mühsam gewahrtem Schein. Während Rorty und Nussbaum also die moralischen Lektionen, die der Roman erteile, äußerst optimistisch beurteilen, zeichnet Robert Pippin 26 ein ganz gegenteiliges, skeptisches Bild. Pippin hat James’ Œuvre im Blick auf die prinzipiellen moralischen Ambiguitäten der Moderne untersucht. Ihn interessiert die Rolle, die der intersubjektive Geltungsanspruch des Gemeinsinns darin spielt. Dieser Interpretation nach geht James’ Klärungsinteresse dahin, woher moralische Normen 23 Die Unterscheidung zwischen dem Allgemeinen (general) und dem Universellen (universal), die Nussbaum erörtert, ändert daran nichts. 24 Nussbaum: Finely aware and richly responsible [Anm. 20], 166. 25 Ebd., 167. 26 Robert Pippin: Moral und Moderne. Die Welt des Henry James, München 2004.
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ihre intersubjektive Verbindlichkeit trotz der unauslotbaren Vieldeutigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen bekommen können. Pippin fragt insofern nicht nach dem Verhältnis von Literatur und Philosophie, sondern er stellt eine in sich selbst moralphilosophische Frage, wenn er problematisiert, woher man im Gefüge menschlicher Beziehung je wissen kann, was recht oder unrecht ist. »Die große Dichte der ersten Seiten der Golden Bowl besteht aus einer fast nicht zu bewältigenden Dichte von Möglichkeiten […]. Und die Auflösung solcher Möglichkeiten verlangt nicht […] tiefere Einsichten, sondern verlangt eine Form der Abhängigkeit von anderen […] einen gemeinschaftlich hergestellten Sinn […], so als ob jede Bedeutung nur ›retrospektiv‹ und ›kooperativ‹ bestimmt werden könnte, als ob das Leben nicht als Leben gelebt werden könnte, sondern nur als Material für ein erinnertes Leben.« 27 Seiner Rekonstruktion nach problematisiert der Roman den Status moralischer Normen. »Die Normen sind häufig selbst der Kern der Sache und ihr Status steht immer zur Debatte, wird nie übergangen oder psychologisiert (als besondere Glaubensvorstellung eines einzelnen behandelt).« 28 Auf diese Weise zeichne James »die Moral nicht als distinktes oder separates Ziel, das man formulieren und anstreben sollte, zeichnet nicht moralische Helden und Heldinnen, die sich bemühen, gut zu sein, oder sich bemühen zu verhindern, daß ihr bestechliches Eigeninteresse ihre Motivation zur Erfüllung ihrer Pfl icht durchkreuzt. Seine Charaktere […] kämpfen einfach um ihr Leben, versuchen zu leben« 29. In diesen Kämpfen spielt ein spekulativer Konjunktiv eine perturbierende Rolle; die Vermutungen über mögliche Aktionen, Reaktionen, über das, was Maggie denkt, daß Charlotte denken könnte, daß ihr Vater es denke, eröff nen einen zuweilen schwindelerregenden Freiheitsabgrund des Vieldeutigen. »Das Leben im Jamesschen Universum [scheint] in einem ewigen Futur II und den Modi des Konjunktivs geführt zu werden. Nicht in der Art: mein Motiv für mein jetziges Handeln X ist M, unter Berücksichtigung der Situation S. Sondern in der Art: Ich wollte X getan haben, aufgrund dessen, was M gewesen sein würde, sollte die Situation sich als S erwiesen haben.« 30 Das Sprechen und Handeln der Charaktere ist derartig vieldeutig, daß die optional darauf einnehmbaren Sichten unerschöpfl ich scheinen. Nicht nur wissen die Romanfiguren nicht, warum sie so und nicht anders handeln, sondern sie sind dabei in einem Netz wechselseitiger Überzeugungen, Erwartungen, Interpretationen und Hypothesen befangen, das prinzipiell nicht in eindeutige Bestimmungen aufzulösen ist. Zuweilen gibt es nicht nur eine Reihe von diskutablen Gründen für ihr Fühlen und Handeln, sondern unter Umständen überhaupt keine. Die Recht27 28 29 30
Ebd., 92. Ebd., 74. Ebd., 75. Ebd., 92.
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fertigungsfähigkeit ganz diverser Beschreibungsmöglichkeiten aber ist es, die die Normativität moralischer Ansprüche so problematisch werden läßt. 31 Zugespitzt könnte man folglich sagen, daß der Roman nachgerade die Unmöglichkeit von Moralphilosophie in der Moderne verdeutliche. Indessen könnte genau darin seine sehr wohl moralphilosophische Relevanz bestehen. Mehr als andere literarische Werke vermittelt die Jamessche Erzählkunst die Einsicht darin, daß Menschen Geschichten erzählende, sich selbst interpretierende Lebewesen 32 sind, und zwar nicht nur in bezug auf sich selbst, sondern mehr noch im Verhältnis zu anderen, d.h. in ihrer sozial konstituierten und konditionierten Identität. Geschichten erzählend geben sie sich selbst eine Form, mit der sie zu rechtfertigen und zu erklären suchen, was ihnen widerfährt. Was durch die Lektüre des Romans immer wieder neu illuminiert wird, ist die Interpretativität und Narrativität von Selbst- und Weltverhältnissen: wie wir uns kraft und mittels Interpretationen und Erzählungen eine Meinung darüber aneignen, wer und was wir sind, und daß wir uns dabei nur jeweiligen Versionen möglicher Sichten verschreiben, um Selbst- und Weltverhältnisse auszubilden, die ebenso unzureichend wie unauslotbar sind. Als Maggie den verstörenden Umstand entdeckt, daß »der Geliebte der Frau ihres Vaters« (533) ihr Ehemann ist, ergreift sie Entsetzen. Ein Entsetzen »darüber, Böses zu entdecken, wo sie nur Gutes gewähnt; das Entsetzen ob der Entdeckung, daß sich etwas Grauenhaftes verbarg hinter soviel vertrauensvoll angenommener, soviel vorgetäuschter Vornehmheit, Klugheit und Zärtlichkeit. Es war die erste schneidende Falschheit, die sie in ihrem Leben erfahren […] hatte, […] es war ihr entgegengetreten wie ein verworfen aussehender Fremder, den sie an einem Sonntag nachmittag in den mit dicken Teppichen belegten Korridoren eines stillen Hauses überraschte« (537). Sie beginnt danach jedoch, sich eine Lesart dessen, was ihr geschehen ist, zu erfi nden, mit der sie leben kann. Ihre Entdeckungen bedeuten 31 Kate Croys Fall aus Wings of the Dove macht das sehr überzeugend klar. Hier geht es nicht einfach um jemandes Gier oder Profitinteresse, sondern vielmehr um die Frage, heiligt der Zweck die Mittel, und welche guten Gründe gibt es, Schlechtes zu tun? Inwieweit lassen sich Lebensprobleme planvoll und pragmatisch lösen, Wünsche rationalisieren, der Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit realisieren, ohne zu jemand anderes Lasten zu gehen? Kates Idee scheint zunächst durchaus vereinbar damit, Milly in den letzten Wochen ihres Lebens glücklich zu machen. In einer Zeit üblicherweise arrangierter Vernunftehen ist es keine ausgesprochene Zumutung an Densher, sie heiraten zu sollen. Aber es bleibt Instrumentalismus. Der andere ist in diesem Planspiel kein Selbstzweck von unangetasteter Würde, sondern er hat zweckrationalen Gegenwert. Dies ist die unerbittliche Wahrheit, die den moralischen Zusammenbruch bewirkt. Zwar versteht es Kate Croy durch kluge Interpretationen, ihrem Eigeninteresse Gründe zu unterlegen, mit denen sie einer moralischen Verurteilung zu entkommen sucht. Doch vermögen diese Gründe nicht darüber hinwegzutäuschen, daß man Milly Theale ins Unrecht setzt. 32 Vgl. Charles Taylor: Self interpreting animals, in: ders., Human agency and language. Philosophical papers I, Cambridge 1985, 45-76. Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt/M. 1987.
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einen Realitätseinbruch für Maggie, an dem sie in dem Maße wächst, in welchem sie ihn erzählend verarbeitet. Sie wird, wie Kleists Marquise von O., »durch eine schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht«, und wenn es ihr gelingt, sich aus der unselbständigen Vatertochter zu einer Person zu entwickeln, die entschlossen ist, ihr Lebensglück bzw. das, was sie dafür hält, gegen die Gefährdungen von außen zu verteidigen, dann vor allem durch die Form, die sie sich gibt, in den Erzählungen, mit deren Hilfe sie bearbeitet, was ihr zustößt. Die Figuren im Roman tun damit nichts anderes als die Leser des Romans: Sie befragen und rekonstruieren das, womit sie konfrontiert sind, vor dem Hintergrund der eigenen Überzeugungen und Klärungsinteressen. Entsprechend weit liegen ihre Schlußfolgerungen auseinander; was Rorty für die bessere Moralphilosophie hält, erscheint Pippin als eine Absage an dieselbe, was Nussbaum an Maggies Verhalten besonders taktvoll vorkommt, beurteilt Pippin als grausam. 33 Meines Erachtens läßt sich der Text auf nichts von alledem verpfl ichten. Die ethisch relevanten Einsichten, die James ermöglicht, betreffen weder die Möglichkeit noch die Unmöglichkeit literarischer Moralphilosophie, und noch viel weniger formulieren sie irgendwelche Verhaltensmaßregeln. Was der Roman erhellt, ist vielmehr die Struktur und Genese mit sich selbst und mit anderer ausgehandelter und narrativ konstituierter Identität. Er führt die perplexe Beschaffenheit eines sich zu sich verhaltenden Bewußtseins vor. Dazu ist der Stil der Erzählung wichtiger als der Plot, der erzählt wird. Die Art und Weise der Jamesschen Erzählkunst, seine Beschreibungen, Einschübe, Verästelungen usw. sind es, die alles verrätseln und offen halten. Eben damit aber spiegelt James genau jene Verfahrensweise wider, durch welche ein psychologisch situiertes Bewußtsein sich sukzessive eine Meinung darüber zueigen macht, was mit ihm geschieht. Die Kunst des Romans, die James’ eigener Theorie nach in nichts anderem zu bestehen habe als darin, »das Leben darzustellen« 34 , zeigt, daß die Geschichten nicht darstellen, was ist, sondern einnehmbare Sichten darauf formulieren, Versionen, mit denen etwas erklärt und verstanden werden kann, angeeignet und bejaht. Geschichten, die man, um es mit Max Frisch zu sagen, »für sein Leben hält«. Die Verhältnisse, die sich auf diese Weise zwischen den Menschen herausbilden, mögen etwas unhintergehbar Imaginäres haben, sie mögen nur mehr oder weniger konsistente Interpretationen, verzweifelte Rationalisierungsbemühungen oder zutreffende Hypothesen sein. Es sind Selbst- und Fremddeutungen, die notwendige blinde Flecken aufweisen, und keine eindeutigen Schlußfolgerungen gestatten. Aber manchmal stoßen die Konstruktionen von Gründen und Wirklichkeiten wie Wittgensteins Spaten auf irgendeinen Widerstand. In diesen Momenten wird eine Entscheidung f ällig und eine Unausweichlichkeit klar; eine unerbittliche 33 Nämlich, daß Maggie Charlotte und Amerigo einlädt, ihren letzten Abend in London gemeinsam zu verbringen. Vgl. Pippin: Moral und Moderne [Anm. 26], 98. 34 Henry James: Die Kunst des Romans. Ausgewählte Essays zur Literatur, Leipzig 1984, 7. James platziert den Schriftsteller in der Mitte zwischen Maler und Philosoph.
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Einsicht in die Notwendigkeit einer Trennung oder in die Unabwendbarkeit einer Schuld. Bei aller Unterschiedlichkeit der vorgestellten möglichen Lesarten gibt es indessen einen gemeinsamen Nenner, der zum Abschluß erwähnt werden sollte: Gleichgültig, ob man die Moral von der Geschichte pragmatisch reduziert, skeptisch in Frage stellt oder im Verständnis des Unverstehbaren verortet – stets ist es nicht die Literatur selbst, sondern erst ihre Reflexion im Modus philosophischen Nachdenkens, die solche Einsichten erzeugt. Moralphilosophische Relevanz kommt dem literarischen Text daher wenn überhaupt nicht als solchem zu, sondern erst seiner Vollzugsform in den Akten der Lektüre und der Interpretation. Erst der philosophische Kommentar oder die interpretierende Kontextualisierung sind es, die ein mögliches Fazit ziehen. Wenn Literatur folglich moralphilosophische Relevanz hat, dann nur qua philosophischer Erörterung. Damit aber nähern sich beide Diskursformen einander an, denn Philosophie, die Literatur interpretiert, ist nicht mehr rein argumentativ, und Literatur wird qua philosophischer Interpretation ein Modus des Philosophierens.
»Was ist denn meine Schuld ?« Poetische Gerechtigkeit in Max Frischs »Homo Faber« Von Klaus Günther
Für die Rechtsphilosophie scheint das Thema Philosophie und Literatur vor allem deswegen attraktiv zu sein, weil viele literarische Texte Recht und Gerechtigkeit mittelbar oder unmittelbar zum Gegenstand haben. Das breite Spektrum reicht von Aischylos’ Orestie und Sophokles’ Antigone über Kleists Kohlhaas oder Dostojewskis Verbrechen und Strafe bis zu Kaf kas Prozeß oder Coetzees Schande. Daher mag es verwundern, daß ich einen Roman ausgewählt habe, der auf den ersten Blick scheinbar nichts mit diesem Thema zu tun hat; Max Frischs Homo faber 1. Von den meine Wahl leitenden Gründen seien wenigstens zwei eingangs kurz erläutert: Der negative Grund liegt darin, daß die berühmtesten Texte aus der Gattung Recht und Gerechtigkeit als literarischer Stoff bereits allesamt reichlich ausgedeutet sind; die Abhandlungen über Das Recht in Kleists Novelle Michael Kohlhaas oder ähnliche Themen lassen sich kaum noch zählen. Diesen Versuchen bleibt wenig hinzuzufügen. Der zweite Grund ist eher positiver Natur, aber auch komplizierter, und er führt auch sogleich zu dem Aspekt, unter dem ich die möglichen Beziehungen zwischen (Rechts-)philosophie und Literatur untersuchen möchte. Viele Studien zur literarischen Darstellung von Recht und Gerechtigkeit suggerieren, daß ein Schriftsteller sich das Recht als einen Gegenstand literarischkünstlerischer Arbeit ebenso auswählen würde wie ein Philosoph oder ein Soziologe, die mal die Kunst und mal das Recht zum Objekt ihrer philosophischen oder soziologischen Forschung machen. Entsprechend suchen die Interpreten solcher Texte dann immer nach den besonderen Erkenntnissen und Einsichten über Recht und Gerechtigkeit, welche die Literatur vermitteln würde. So wird Sophokles’ Antigone immer wieder als tragische Entfaltung des Konfl ikts zwischen positivem staatlichen Recht und überpositivem Naturrecht oder göttlichem Recht gedeutet; Kleists Kohlhaas als Exempel für die zerstörerischen und selbstzerstörerischen Folgen eines verabsolutierten Anspruchs auf Rechtsdurchsetzung. Es mag sein, daß die Darstellung solcher Konfl ikte und die Beförderung spezifi scher Erkenntnisse ein Motiv für das Schreiben von Literatur ist. Ich kenne die literarische Praxis zu wenig, um völlig ausschließen zu können, daß ein Künstler oder eine Künstlerin mit einem solchen Interesse an ihr Werk gehen. Doch kann es auch ohne eine meist unproduktive Motivforschung legitim sein und einen Erkenntnisgewinn versprechen, literarische Texte darauf hin zu befragen, welche neuen Einsichten in Recht Max Frisch: Homo faber – Ein Bericht, Nachweis der Zitate im folgenden durch Seitenangabe in Klammern nach der Ausgabe Frankfurt/Main 1977. 1
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und Gerechtigkeit sie vermitteln oder welche Einstellungsänderungen sie bei ihren Rezipienten bewirken können. Der Rezipient selbst kann mit einem solchen Interesse an ein literarisches Kunstwerk herangehen. Es gibt nicht wenige Versuche, die Lektüre von Literatur als ein Medium zu verstehen, das den Rezipienten sensibler für die konkreten Merkmale moralischer und rechtlicher Konfl ikte werden läßt, für die je verschiedenen Perspektiven der beteiligten Individuen, für die komplexen, unendlich vielf ältigen Umstände, unter denen Menschen in einzelnen Situationen handeln. Literatur befördert so die Einbildungskraft, Urteilsfähigkeit und Empathie, die man braucht, um allgemeine Forderungen der Gerechtigkeit kontextsensibel im Einzelfall zur Geltung zu bringen. Gerade das theoretisch nicht faßbare Moment der Einbildungs- und Urteilskraft kann im Medium der ästhetischen Form dargestellt, erfahren und reflektierend nachvollzogen werden.2 Es ist dann nur folgerichtig, einen Schritt weiter zu gehen und nicht nur in der Literatur nach einer intensivierten und gegenüber der Alltagspraxis gesteigerten und verdichteten Erfahrung normativer Konfl ikte zu suchen, sondern auch umgekehrt nach literarischen Strukturen in der moralischen und rechtlichen Praxis selbst zu fragen. Während die literarische Erfahrung die Kontextsensibilität steigert und den Rezipienten zu einem angemessenen Umgang mit Moral und Recht bef ähigt, kann literarische Erfahrung umgekehrt auch auf die Abhängigkeit einer normativen Praxis, vor allem in der institutionalisierten Form des positiven Rechts, von ästhetischen Formen oder narrativen Elementen, schließlich sogar von literarischen, in einer Kultur repräsentierten Topoi aufmerksam machen. So ist in den USA aus dem law and literature ein law as literature movement geworden. 3 Klaus Lüderssen spricht in einem ähnlichen Sinne von produktiven Spiegelungen zwischen Recht und Literatur. 4 Diese Spiegelungen von Recht und Literatur, deren Produktivität hier nicht bestritten werden soll, haben indes eine Prämisse, die in vielen Fällen zwar zu überzeugenden Ergebnissen führt, sich aber nicht verallgemeinern läßt. Sie setzen voraus, daß literarische Erfahrung dazu dienen kann, das Verhältnis des Rezipienten zu sich, zu seiner sozialen Umwelt und zur objektiven Welt zu verbessern, indem sie ihm Einsichten und Fähigkeiten vermittelt, die anders, durch theoretische Erkenntnis, empirische Forschung, durch moralische Erziehung oder juristische Ausbildung, nicht zu haben sind. Aus dieser Perspektive erscheinen Recht und GeSiehe dazu vor allem die Arbeiten von Martha C. Nussbaum, vornehmlich die in dem Band Love’s Knowledge, Oxford 1990, versammelten Studien; dazu: Klaus Günther: Das gute und das schöne Leben. Ist moralisches Handeln ästhetisch und läßt sich aus ästhetischer Erfahrung moralisch lernen?, in: Gerhard Gamm und Gerd Kimmerle (Hg.): Ethik und Ästhetik. Nachmetaphysische Perspektiven, Tübingen 1990, 11-37. 3 Guyora Binder und Robert Weisberg, Literary Criticisms of Law, Princeton 2000. 4 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen, Frankfurt/Main 1991; ders.: Schiller und das Recht, Frankfurt/Main 2005 (darin auch eine umfangreiche Auseinandersetzung mit dem law as literature movement). 2
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rechtigkeit letztlich stets als das Referenzobjekt, als der Gegenstand der Erfahrung, auf den sich das Kunstwerk nicht nur als auf sein Material bezieht, sondern über das es wahrheitsfähige Erkenntnis verschaff t. Es konkurriert so mit anderen Erkenntnisweisen, die mit dem gleichen Wahrheitsanspruch auftreten. Daraus folgt dann weiterhin, daß die durch das literarische Kunstwerk vermittelte Erkenntnis prinzipiell stets übersetzbar ist in eine andere Sprache. Die Aporien einer vollständig positivierten Rechtsordnung, über welche Kleist in der Geschichte von Michael Kohlhaas handelt, oder der Konfl ikt zwischen positivem Recht und Naturrecht in Sophokles’ Drama Antigone, sind dann vielleicht nur in der jeweiligen ästhetischen Form einer Novelle oder einer Tragödie darstellbar und gestaltungfähig, aber dies ändert nichts daran, daß die ästhetische Form Einsichten in einen sachlichen Gegenstand vermittelt. Wäre dies so, dann müßten sich diese Einsichten stets auch in eine theoretische Abhandlung über diese Probleme übersetzen lassen, die ästhetische Form also durch funktionale Äquivalente ersetzt werden können. Möglicherweise ist dies ein Grund dafür, daß sich solche Untersuchungen über das Verhältnis von Recht und Literatur überwiegend auf eine bestimmte literarische Gattung beschränken: Auf die großen, im weitesten Sinne realistischen Romane und Erzählungen des 19. und 20. Jahrhunderts oder auf Tragödien, in denen das epische Element im Vordergrund steht. Hier sperrt sich die ästhetische Form nämlich am wenigsten gegen eine Übersetzung des Gehalts in eine theoretische Sprache. Diese Fixierung auf eine letztlich kontingente Beziehung zwischen rechtlichem Stoff und Literatur oder literarischer Darstellungsweise und Recht könnte jedoch den Blick auf eine tiefer liegende, verborgene Affinität zwischen Recht und Literatur, ja, vielleicht zwischen Recht und Kunst überhaupt, verstellen. Wenn es zutriff t, daß das Recht relativ häufig Gegenstand literarischer Bearbeitung wird – und im Kriminalroman ja sogar eine eigene, sehr erfolgreiche und populäre Gattung gefunden hat –, dann vielleicht vor allem deshalb, weil es einen internen Zusammenhang zwischen Literatur und Gerechtigkeit gibt. Um diese auf den ersten Blick befremdliche These noch zu einer Provokation zu steigern: Literatur (und vielleicht Kunst überhaupt) ist selbst eine Form und Praxis von Gerechtigkeit – und zwar eine solche, die sich im ästhetischen Medium selbst ereignet, und die deshalb auch gar nicht anders als im ästhetischen Medium selbst Gestalt werden kann. Möglicherweise kommt in der häufigen Nähe der Literatur zu rechtlichen Stoffen nur zum Ausdruck, daß sich hier dieser verborgene Zusammenhang nur expliziter entfalten läßt als in einem Gedicht, einer Skulptur oder einem Gemälde. Was es mit dieser rätselhaften These auf sich hat, will ich im folgenden an Max Frischs literarischer Erzählung erläutern, deren Stoff gerade keinen Rechtsbezug aufweist – zumindest nicht vordergründig – und auch überwiegend nicht mit einem solchen Bezug interpretiert wird.
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II. Zur Erinnerung kurz die wesentlichen Stationen der Handlung: Die Hauptfigur, der für die UNESCO arbeitende Ingenieur Walter Faber, berichtet rückblickend von seiner zuf älligen Begegnung mit dem Bruder seines früheren Freundes Joachim während des Fluges von New York nach Mexiko. Bei einer Notlandung in der mexikanischen Wüste erfährt er, daß Joachim 1936 Fabers damalige Freundin, Hannah Landsberg, eine Münchner Studentin der Kunstgeschichte und Halbjüdin, geheiratet hatte und daß sie eine Tochter hätten. Faber und Hannah hatten sich damals getrennt, weil Faber eine Stelle in Bagdad antreten wollte. Sie erwartete ein Kind von ihm, doch hatten beide vereinbart, daß Hannah ihre Schwangerschaft abbrechen werde. Faber weiß nicht, daß Hannah sich nicht an diese Vereinbarung gehalten und das Kind zur Welt gebracht hatte. Die Tochter Elisabeth wächst zusammen mit Joachim auf, den Hannah heiratete, sich jedoch bald wieder von ihm trennt, um schließlich als Kunsthistorikerin in Athen zu arbeiten. Der Bruder Joachims ist auf dem Wege nach Guatemala, um dort seinen Bruder zu besuchen, der jetzt als Farmer für ein deutsches Unternehmen arbeitet. Faber entschließt sich spontan, ihn zu begleiten. Die mühsame Fahrt durch den Dschungel endet damit, daß sie Joachim tot vorfi nden; er hatte sich kurz zuvor erhängt. Sein Bruder entschließt sich, dort zu bleiben, während Faber zurückfährt und nach einem kurzen Aufenthalt in Caracas, dem eigentlichen Zielort seiner Reise, wieder nach New York fl iegt. Dort trennt er sich von seiner Freundin Ivy und begibt sich auf eine Schiffsreise nach Frankreich, um an einer Konferenz in Paris teilzunehmen. Während dieser Reise lernt er eine junge Frau kennen, in die er sich bald verliebt – ohne zu wissen, daß sie seine Tochter ist. Sabeth, wie er sie nennt, will von Paris aus weiter über Südfrankreich und Italien nach Hause, nach Athen reisen. Obwohl sie sich nach der Ankunft des Schiffes in Le Havre trennen, sucht Faber in Paris nach Sabeth, fi ndet sie und fährt mit ihr zusammen im Auto auf der geplanten Reiseroute. Während dieser Fahrt werden sie ein Liebespaar, in Avignon schlafen sie miteinander. Faber beginnt nach mehreren Gesprächen zu ahnen, daß Sabeth seine Tochter sein könnte, doch berechnet er die Daten so, daß er am Ende glaubt, sie sei die Tochter Joachims. Kurz vor dem Ende der Reise, nach einer Nacht auf dem Akrokorinth und dem Strand von Theodori, wird Sabeth im Schlaf von einer Schlange gebissen, während Faber ein Bad im Meer nimmt. Sie erwacht, weicht vor dem aus dem Meer kommenden, nackten Faber zurück und stürzt rücklings von einer Böschung auf die Straße. Faber versucht mit der bewußtlosen Sabeth in ein Athener Krankenhaus zu eilen, was ihm jedoch erst nach einer langwierigen Fahrt gelingt. Er begegnet dort ihrer Mutter, die ihn nach und nach darüber auf klärt, daß Sabeth ihr gemeinsames Kind ist. Die behandelnden Ärzte, denen Faber Sabeths Sturz verschwiegen hatte, entdecken zu spät, daß sie sich infolge des Sturzes eine Schädelverletzung zugezogen hatte, an der sie verstirbt. Faber will in Griechenland bleiben, doch unternimmt er zuvor hektische
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Reisen, unter anderem nach Caracas, wo er den Bericht schreibt. Den zweiten Teil verfaßt er in einem Athener Krankenhaus, wo er sich wegen Magenbeschwerden untersuchen läßt, unter denen er schon seit längerer Zeit gelitten hat – wie sich herausstellt, ist er an Magenkrebs erkrankt. Er berichtet von seiner Rückreise nach New York und einem erneuten Flug nach Venezuela im Auftrag der UNESCO. Dabei besucht er noch einmal Joachims Bruder, der auf der Farm geblieben war. Er ist vollkommen passiv und gleichgültig geworden. Bei einer Zwischenlandung in Kuba gerät er in einen rauschhaften Zustand der Lebensbejahung und des Lebensgenusses, er will Hannah heiraten. Dennoch ahnt er, daß ihm seine Krankheit keine Zukunft mehr lassen wird. Zurück in Athen ordnet er die Vernichtung seiner Papiere an und endet mit einer kurzen Apotheose des Augenblicks.
III. Fabers Bericht ist in der nüchternen, knappen, scheinbar präzisen und auf viele Substantivierungen reduzierten Sprache eines Technikers verfaßt, der sich beharrlich weigert, die Welt anders zu sehen und zu erleben als in der realistischen Weise eines modernen, naturwissenschaftlich aufgeklärten Zeitgenossen. Er preist den technischen Fortschritt, dessen weltweite Verbreitung seine Berufung ist, um die Menschen aus technisch behebbaren Notlagen zu befreien. Was ihm in der kurzen Zeitspanne des Jahres 1957 begegnet, ist nichts als eine Kette zwar unwahrscheinlicher, statistisch jedoch nicht unmöglicher Zufälle – daß er dem Bruder seines Jugendfreundes begegnet, dabei von seiner früheren Freundin und ihrer Tochter erfährt, auf einer Schiffsreise eine junge Frau kennenlernt, die seine Tochter ist, sie nach ihrer Trennung in Paris wieder fi ndet und dann mit ihr durch Europa reist. Der erste Teil des Berichts schildert diese Zufälle zwar in chronologischer Reihenfolge, wird jedoch immer wieder unterbrochen durch Vorwegnahmen und Rückblenden, die von der Frage bestimmt sind, ob es sich dabei um Fügung und Schicksal oder nur um eine Kette von Zufällen handelt. Bereits dieser erste Zugriff legt die Interpretation nahe, daß es sich um das tragische Schicksal des modernen, technikgläubigen Menschen handle, der in seinem Wahn, die Natur beherrschen und die Welt allein mit Technik verbessern zu können, sein eigenes Leben verfehlt und fremdes Leben zerstört. Tragisch deshalb, weil es gerade sein vermeintlicher Wirklichkeitssinn ist, sein Glaube an die technische Steuerbarkeit der Natur, der ihn blind und somit ungewollt schuldig werden läßt am Tod seiner eigenen Tochter, aber auch am Mißlingen seines eigenen Lebens. Stellvertretend für diese vorherrschende Interpretation sei aus Kindlers Literaturlexikon zitiert 5 : »Walter Faber ist der Typ eines rationalitätsgläubigen, diesseitsoriKindlers Literaturlexikon, deutsche Ausg. begr. von Wolfgang v. Einsiedel, München 1974, 4609. 5
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entierten modernen Menschen, dessen technologisch-mathematisches Welt verständnis ihn blind macht für die Erkenntnis, daß das Leben mit all seinen Unwägbarkeiten und schicksalhaften Zufällen sich den Gesetzen der Logik entzieht. Die Tragik von Fabers eigenem Leben […] besteht gerade darin, daß er, der den Glauben an schicksalhafte, irrationale Fügungen im menschlichen Dasein als ›Mystifikation‹ und ›Spintisiererei‹ verwirft, das Opfer unkalkulierbarer Zufälle wird.« Dies ist gewiß eine mögliche und stringente Deutung, für die der literarische Text reichlich Anhaltspunkte bietet. Genährt wird sie vor allem durch eine Fülle von mythologischen Anspielungen, die gleichsam als Subtext immer wieder unter der Oberfl äche des Berichts hindurchschimmern und die Erfahrung des Lesens beeinflussen. IV. Aus diesem mythologischen Subtext seien wenigstens zwei exemplarische Passagen ausgewählt 6 : Während ihres Aufenthalts in Rom besuchen Walter Faber und Sabeth das Thermen-Museum. Er sieht sich mit Sabeth das Relief von der Geburt der Venus an, den sogenannten Ludovisischen Thron. Er ist von der auf einem seitlichen Teil dargestellten Flötenspielerin »entzückt«, läßt sich widerwillig von Sabeth wegen seines oberfl ächlichen Geschmacksurteils korrigieren, die für ihre Begeisterung authentischere Ausdrücke zu fi nden vermag. Er wehrt die Kritik ab und teilt dem Leser mit, daß er sich ungern in seiner Empfi ndungsweise kritisieren lasse – »dann komme ich mir, obschon ich sehe, wovon die Rede ist, wie ein Blinder vor« (111). Unmittelbar darauf ist es Faber, ansonsten – im Gegensatz zu Sabeth – der Kunst abgeneigt, der ein Skulpturenfragment entdeckt, das ihn sofort begeistert: der Kopf einer schlafenden Erinnye, allerdings ohne diesen Titel zu kennen, der ihn auch nicht weiter interessiert. Mit hilflosen Worten gibt er seiner unmittelbaren Begeisterung Ausdruck und fragt sich »was sie wohl zusammenträumt« (ebd). Als er sich dann nochmals dem Ludovisischen Thron zuwendet, fordert Sabeth ihn auf, stehenzubleiben. Wenn Faber vor der Geburt der Venus steht, fällt sein Schatten auf den Kopf der schlafenden Erinnye, so daß es aussieht, als sei sie erwacht – ›geradezu wild‹. In dem Augenblick, da die verbotene Liebe geboren wird, wacht die Rachegöttin auf, welche die Verfehlung einer unerlaubten Liebe mit dem Tode vergelten wird, ohne von dem sich wie ein Blinder fühlenden Faber erkannt zu werden. Ein anderes mythologisches Schlüsselwort fi ndet sich versteckt in einem längeren Bericht über die mühselige Fahrt Fabers mit der verletzten, fast ohnmächtigen 6 Genauere Hinweise auf diese mythologischen Schlüsselstellen fi nden sich vor allem bei: Rhonda L. Blair: Homo faber, Homo ludens und das Demeter-Kore-Motiv, in: Walter Schmitz (Hg.): Frischs Homo faber, Frankfurt/Main 1983, 142-167; Manfred Leber: Vom modernen Roman zur antiken Tragödie. Interpretation von Max Frischs Homo faber, Berlin/New York 1990.
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Sabeth vom Strand bei Korinth in das Krankenhaus von Athen. Zunächst nimmt sie ein Eselskarren mit, der jedoch zu langsam ist und unterwegs immer wieder anhält. Dann wechseln sie auf einen Lastwagen, der Eisenröhren transportiert. Damit geht es nur wenig schneller, »dreißig Stundenkilometer auf gerader Strecke! Ich hatte meine Jacke am Meer, mein Geld in der Jacke – in Megara, wo er stoppte, gab ich dem Fahrer, der ebenfalls nur Griechisch versteht, meine Omega-Uhr, damit er unverzüglich weiterfährt, ohne seine Röhren abzuladen. In Eleusis, wo er tanken mußte, ging wieder eine Viertelstunde verloren. Ich werde diese Strecke nie vergessen.« (129) Eleusis ist die Stätte eines großen antiken Heiligtums, von dem heute nur noch wenige Ruinen zu sehen sind. Hier wurden die sogenannten Eleusinischen Mysterien gefeiert, ein Geheimkult, mit dem die Göttin Demeter, Schwester und Geliebte des Zeus, mit dem Verlust ihrer Tochter Persephone versöhnt werden sollte. Persephone wird von Hades, dem Totengott, geraubt und in die Unterwelt entführt. Erst nach langwierigen Verhandlungen stimmt er zu, daß Persephone ein Drittel des Jahres bei ihm zubringt, während der übrigen Zeit aber bei den Göttern im Olymp weilen darf. Demeter entstammt den archaischen Erdgöttinnen und wurde als Göttin der Fruchtbarkeit, des Ackerbaus und des Getreides verehrt; das Verschwinden und die Rückkehr ihrer Tochter symbolisieren das Blühen, Reifen und Absterben der Pfl anzenwelt. Faber, der durch seine Krebserkrankung bereits dem Tod Geweihte, wird so zum Hades, der die Tochter Demeters raubt – besonders prägnant dargestellt in der Szene, da Faber aus dem Meer steigt und Sabeth erschrocken vor ihm zurückweicht, bis sie die Böschung hinunterfällt.
V. Nimmt man diesen durch die vielen verstreuten Anspielungen zugänglichen mythologischen Subtext auf, bleibt nach der Funktion zu fragen, die er für den Roman spielt. Aus dem Mythos schöpfen die griechischen Dichter den Stoff für ihre großen Tragödien, um, wie Aristoteles es dann in seiner Poetik später idealtypisch kanonisierte, das Schicksal eines großen, wenn auch nicht vollkommenen Menschen darzustellen, der einen Fehler macht, für den er unmittelbar nichts oder nur wenig kann, den zu begehen aber in seinem Charakter angelegt ist und an dem er mit seiner ganzen Lebensweise scheitert, so daß er von der Höhe des Ruhms und der Anerkennung herunterfällt. Die Vermutung liegt nicht fern, daß gerade die radikale Diesseitigkeit, Modernität und Identifi kation mit dem technischen Zeitalter, für die der Protagonist Walter Faber steht, der konstitutionelle Fehler ist, der Mangel, der den Gegensatz gleichsam anzieht – die archaische Dialektik des tragischen unschuldig SchuldigWerdens. Es würde sich dann um eine erzählte Tragödie in moderner Einkleidung handeln. Am deutlichsten hat dies vielleicht Gerhard Kaiser in seiner Rezension
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ausgesprochen7 : »So ist es kein Zufall, wenn in Frischs Werk bei genauerem Zusehen im modernen Gewand Begriffe und Vorstellungen der antiken Tragödie auftauchen: der Homo faber ist nichts anderes als der Mensch in der Hybris, der von den Göttern und dem Schicksal gestraft wird – Faber denkt an den Schlangenbiß, der Sabeth verletzte, als an eine Strafe der Götter. Der Mensch, der lebt, wie er will, muß erleiden, was er soll; er wird vom Schicksal auf sein wirkliches Maß zurückgeführt.« Der Mythos würde das Geschehen also in einen Zusammenhang von Verfehlung und Vergeltung führen. Vordergründig besteht Fabers Verfehlung darin, daß er mit seiner Tochter das Inzesttabu verletzt, die vergeltende Strafe im Tod seiner geliebten Tochter. Freilich kann er dafür unmittelbar nichts. Der Tod der Tochter war die Folge eines Unfalls, allenfalls besteht Fabers Fehler darin, die Ärzte nur über den Schlangenbiß, nicht aber über den Sturz Sabeths informiert zu haben, aber auch die Ärzte selbst handelten vielleicht nicht sorgfältig genug. Das Inzesttabu verletzt Faber nicht willentlich; immerhin ahnt er jedoch, wenn auch zweifelnd, daß Sabeth seine Tochter sein könnte. Die Rechnung, die er in den Ruinen an der Via appia anstellt, nachdem er durch sein Fragen von Sabeth erfahren hat, daß Hannah ihre Mutter sei, stellt er gegen seine eigene Intuition an. Dabei begeht er unabsichtlich einen Rechenfehler, vermutlich von dem Wunsch verursacht, daß er ein Ergebnis errechnen möge, das ihm seine Liebe zu Sabeth nicht zerstört. Aber auch diesen Fehler verursacht Faber höchstens leicht fahrlässig, es ist ja ebensogut möglich, daß Sabeth die Tochter Joachims ist. Seine Schuld wäre also, wenn man überhaupt davon sprechen will, sehr gering. Es gibt also eigentlich keinen Anlaß, Faber sein Verhalten vorzuwerfen. Doch selbst dann, wenn man ihm seine mangelnde Vorsicht, das Verdrängen und Schönrechnen gegen seine eigenen Ahnungen vorhalten wollte – wäre es nicht absurd, einen Zusammenhang mit dem Unfalltod seiner Tochter herzustellen, der daraus eine vergeltende Strafe für ein Fehlverhalten werden läßt, das zwar in der frühen Antike als schwerstes Unrecht, heutzutage jedoch bestenfalls als Bagatelle gilt, die kaum noch jemand für strafwürdig hält? Es ist der mythologische Subtext, der die Konstruktion eines solchen Schuldverhältnisses nahelegt. Diese Konstruktion wird vor allem durch die exemplarische Gestaltung der Figur Faber ermöglicht. Mittelbar läßt sich sein Verhalten durch sein konstitutionelles Defi zit verständlich machen. Es ist die Folge seiner Einstellung zur Welt und zum Schicksal. Dann geht es nicht um die vordergründige Verletzung des Inzesttabus und die darauf folgende Strafe. Vielmehr verkörpert Faber eine für die Moderne charakteristische Haltung, die sein Fehlverhalten erklärt. Technikgläubigkeit und instrumentelle Vernunft, die Abwehr von Emotionen und von Kunst, die Beherrschung der Natur und die damit einhergehende Bekämpfung und Verdrängung des Todes erscheinen dann als die Haltung, die gerade das Unglück herauf beschwört. 7
Gerhard Kaiser, Max Frischs Homo faber [Anm. 6] 155.
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Gerade derjenige, der von der Möglichkeit und Notwendigkeit technischer Kontrolle der natürlichen Welt überzeugt ist, scheitert an kleinen Fehlern, und zwar mit tödlicher Konsequenz. Es ist Hannah, die diese – für Faber selbst unverständliche – Deutung vorträgt: Technik »als Kniff, die Welt so einzurichten, daß wir sie nicht erleben müssen. […] Sie fi ndet es nicht unbegreifl ich, daß ich mich Sabeth gegenüber so verhalten habe«. Seine Verliebtheit sei »kein zufälliger Irrtum gewesen, sondern ein Irrtum, der zu mir gehört wie mein Beruf, wie mein ganzes Leben sonst. Mein Irrtum: daß wir Techniker versuchen, ohne den Tod zu leben. Wörtlich: Du behandelst das Leben nicht als Gestalt, sondern als bloße Addition, daher kein Verhältnis zur Zeit, weil kein Verhältnis zum Tod. Leben sei Gestalt in der Zeit« (169 f.). Zwar sagt Hannah dies ohne Vorwurf gegenüber Faber, aber in ihrer Erklärung steckt zugleich eine Anklage gegen die in Faber nur exemplarisch verkörperte Einstellung zur Welt. Die Verfehlung liegt also eigentlich in dieser Einstellung, und sie führt zu einer Art Hybris, die das Unheil nach sich zieht. Freilich ist der Roman nicht so einseitig angelegt, daß Hannah selbst nicht auch fehlerhaft handeln würde. Ihr Verhältnis zur Zeit ist ja ebenfalls gestört, wenn sie glaubt, ihre Tochter ganz für sich behalten und gegenüber der Welt und der Zeit abschirmen zu können. Der Demeter-Persephone-Mythos ist von der Literaturwissenschaftlerin Rhonda L. Blair als wichtiger Hinweis auf die Beziehung zwischen Hannah und ihrer Tochter gedeutet worden. 8 Hannah ist eine Mutter, die ihr Kind für sich haben und allein aufziehen will. Sie läßt den verabredeten Schwangerschaftsabbruch nicht vornehmen, verheimlicht Faber gegenüber, daß er eine Tochter hat, und isoliert das Kind auch gegenüber Joachim: »es war ja nicht sein Kind, auch nicht mein Kind, sondern ein vaterloses, einfach ihr Kind, ihr eigenes, ein Kind, das keinen Mann etwas angeht« (201) – was Faber zu dem Ausspruch veranlaßt »Hannah, du tust wie eine Henne« (137). Zwar hat sie gleichzeitig immer gewußt, daß sie Elsbeth, wie sie sie nennt, eines Tages wird frei geben müssen, ihre Reise war ein erster Schritt, den zu gewähren Hanna »schwer genug gefallen« ist (203). Indem sie sowohl ihrer Tochter als auch dem Vater gegenüber die Wahrheit verschweigt, läßt sie die Vergangenheit anders erscheinen, als sie tatsächlich gewesen ist; sie versucht also ebenfalls sich der Zeit zu bemächtigen und sie ihren Wünschen unterzuordnen. In einer tragischen Lesart trägt sie damit ebenfalls zum Unheil bei: Hätte sie ihrer Tochter ebenso wie dem leiblichen Vater die Wahrheit gesagt, wäre es nicht zum Inzest gekommen und das folgende, tödlich endende Geschehen wäre nicht möglich gewesen. Walter Faber und Hannah erscheinen so als komplementäre Figuren, die unter einer ihr jeweils eigenes Leben und ihr Verhältnis zum jeweils anderen bestimmenden Vereinseitigung leiden – Fabers Technikgläubigkeit und Hannahs matriarchalische Prä-Okkupation. Beide Einseitigkeiten, beide Mängel machen die Protagonisten für die jeweils komplementäre Seite blind und verursachen so den für Sabeth tödlichen Geschehensverlauf. 8
Vgl. Rhonda L. Blair: Homo faber [Anm. 6].
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Indes fehlt dieser Deutung noch ein entscheidendes Moment, das erst durch die Bezugnahme auf den Mythos hergestellt wird. Die beiden konstitutionellen Mängel der Figuren Faber und Hannah, die zu den kleineren, das Geschehen vorantreibenden Fehlern führen, werden in einen weiteren Zusammenhang von Schuld und Schicksal, Verfehlung und Strafe eingebracht. Aus diesem Zusammenhang scheint sich erst jene eherne Notwendigkeit zu ergeben, die aus Zufall und Unglück Unrecht, Schuld und Vergeltung werden läßt. Hannahs und Fabers Mängel werden so zu Verfehlungen, die nach einem Ausgleich verlangen, nach einer Strafe – dem Tod der gemeinsamen Tochter. Faber selbst setzt sich dagegen zur Wehr, indem er im ersten Teil des Berichts auf der Unwahrscheinlichkeit dieser unglücklichen Verkettung von Ereignissen insistiert. Gleichwohl kann er sich selbst nicht von der Last der Verantwortung frei machen, die durch den mythisch konstruierten Zusammenhang zwischen seinem Verhalten und dem Tod Sabeths suggeriert wird. Entsprechend bemüht er sich um eine Rechtfertigung, zieht sich also im eigentlichen Sinne des Wortes selbst zur Verantwortung. Der ganze erste Teil des Berichts steht gleichsam unter der von Faber selbst so formulierten Leitfrage: »Was ist denn meine Schuld?« (123). Wäre er ganz der Techniker, als welcher er sich selbst in dem Bericht präsentiert, dann würde er schon die Frage abweisen. Auch die Schilderung von Sabeths Tod beginnt mit dem Satz: »Was den Unfall betriff t, habe ich nichts zu verheimlichen« (156), es ist »Unsinn«, daß das Mädchen, dem er nur helfen will, vor ihm zurückweicht (157). Auch der Bericht über die erste leise Ahnung, die er hatte, als ihm während der Schiff sreise Sabeths Gesten an Hannah erinnern, soll gleichzeitig dazu dienen, ihn vor einem imaginären Tribunal zu entlasten. Hätte er einen konkreten Verdacht gehabt, dann hätte er Sabeth gleich nach ihrer Herkunft gefragt, und: »Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte, jedenfalls anders, das ist selbstverständlich, ich bin ja nicht krankhaft, ich hätte meine Tochter als meine Tochter behandelt, ich bin nicht pervers!« (81) Für die Vermutung, daß Hannah und Faber selbst es sind, die ungewollt eine mythische Beziehung zwischen den Ereignissen und einem ausgleichbedürftigen Verschulden herstellen, spricht auch das gleichsam geläuterte Verhalten beider Hauptfiguren im zweiten Teil. Beide erkennen ihre Verfehlungen, die der eine mit dem eigenen Tod und die andere mit dem Tod ihrer Tochter bezahlen müssen. Sie nehmen ihre Schuld an. Hannah bittet Faber auf Knien und unter Tränen um Verzeihung; Faber schließt mit seinem vorherigen Leben ab und öff net sich dadurch, wenn auch nur für eine kurze Zeit, dem Leben als einem unverfügbaren Prozeß von Werden und Vergehen – wie besonders eindrücklich und wiederum nahe dem anderen Extrem im Kuba-Erlebnis mit einer gleichzeitigen harschen Attacke auf den ›American way of life‹, der ihm nun als der Inbegriff der Lebensverfehlung erscheint. Dieses Bitten um Verzeihen, dieses Schuld Annehmen und Versöhnen wäre nicht erforderlich, wenn es nicht vorher Verfehlung und Schuld gegeben hätte. Aus dem zuf älligen Zusammentreffen von Ereignissen wird so auch in der
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Selbstdeutung der Figuren eine Fügung, ein Schicksal, das Vereinseitigungen rückgängig macht, Verabsolutierungen relativiert, Verfehlungen ausgleicht. Faber – und komplementär dazu Hannah – nimmt sich zu viel, mehr als ihm zusteht. Er will das Leben wie die Natur berechnen und beherrschen, um der Zeit und dem Tod keinen Raum zu geben – in diesem Zuviel liegt eine Ungerechtigkeit, die nach einem Ausgleich verlangt. Dann mag es so erscheinen, als würden Faber und Hannah erst jene mythischen Zusammenhänge herauf beschwören, die aus dem Zufall ein Schicksal machen, die eine richtende Instanz etablieren, vor der eine Verfehlung auch dann vergolten wird, wenn letztlich niemand dafür verantwortlich ist. Aus dem Romangeschehen ist damit ein Akt der Gerechtigkeit geworden.
V. Die darin waltenden Gerechtigkeitsprinzipien sind vertraut. Es handelt sich um die alten Grundsätze der distributiven und kommutativen Gerechtigkeit. Die distributive oder proportionale Gerechtigkeit gebietet, daß jeder von einem zur Verteilung anstehenden Gut nur so viel bekommt, wie ihm nach Verdienst oder Würde oder einem anderen Maßstab zusteht. Es ist der Grundsatz des suum cuique oder Jedem das Seine. Ungerecht ist ein Verhältnis zwischen Personen und Gütern also dann, wenn einer von einem zur Verteilung stehenden Gut mehr erhält, als ihm zukommt, während der andere zu wenig davon erhält. Die kommutative oder arithmetische Gerechtigkeit setzt dagegen die Gleichheit der Parteien voraus, z. B. als Partner eines Vertrages. Wer einen anderen schädigt, indem er eine versprochene Leistung verweigert oder auf andere Weise einen Schaden verursacht, verändert diese ursprüngliche Gleichheit zu seinen Gunsten und zu Lasten des Verletzten oder Geschädigten. Die arithmetische Gerechtigkeit verlangt einen Ausgleich nach Art und Höhe des Schadens oder des Maßes an Unrecht, bis die ursprüngliche Gleichheit wiederhergestellt ist. Beide Arten von Gerechtigkeit lassen sich nicht absolut voneinander unterscheiden, sondern bezeichnen eher verschiedene Situationen oder Voraussetzungen, unter denen jeweils ein Aspekt der Gerechtigkeit relevanter erscheint. Ihre gemeinsame Wurzel liegt in dem Prinzip, Ungleichgewichtslagen zu vermeiden, entweder dadurch, daß man ein Gleichgewicht herstellt (Proportionalität) oder ein bestehendes Ungleichgewicht korrigiert (arithmetischer Ausgleich). Aristoteles formuliert diese Gemeinsamkeit mit Blick auf den Ausgleich von Unrecht so 9 : »Und so ist es auch im wirklichen Leben. Denn wer Unrecht tut, bekommt zu viel, wer Unrecht erf ährt, bekommt zu wenig von dem in Frage stehenden Gut.«
Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. und hg. von Franz Dirlmeier, Berlin 1983, V, 1131b. 9
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Deutlicher noch läßt sich diese gemeinsame Wurzel in dem viel älteren Fragment erkennen, das als Spruch des Anaximander überliefert ist 10 : »Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist aber das Apeiron (das grenzenlos-Unbestimmbare). Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.« Als einer der ältesten Sätze der Philosophie ist dieses Fragment immer wieder neu und kontrovers interpretiert worden. Hier ist nicht der Ort, zu dieser komplexen Interpretationsgeschichte Stellung zu nehmen oder ihr gar eine neue Deutung hinzuzufügen. Entscheidend ist auch hier wiederum die Deutung der Gleichgewichtsstörung als Ungerechtigkeit, die nach einem Ausgleich verlangt; hier noch gesteigert zu einem Gesetz der Natur selbst, aus dem sich Werden und Vergehen erklären lassen. Hans Kelsen hat dieses Fragment als das exemplarische Zeugnis für seine Hypothese vom Ursprung des Kausalprinzips aus dem Vergeltungsprinzip gedeutet.11 Anaximanders vergeltungslogische Welterklärung bezieht sich auf elementare Zustände und deren Verhältnis zueinander: das Warme und Kalte, das Trockene und Feuchte. Zentral ist das Gleichgewicht zwischen diesen Zuständen, das proportionale Verhältnis, das jeden angemessen zur Geltung kommen läßt. In der Medizin entspricht dieser Harmonie die Vorstellung von einem Gleichgewicht der Temperamente – melancholisch, phlegmatisch, sanguinisch und cholerisch –, dem ein Verhältnis von Körpersäften korrespondiert, deren Gleichgewicht eigentlich Gesundheit ist.12 Das Überwiegen des einen gegenüber dem anderen, die Disharmonie oder das Ungleichgewicht führen zu Krankheit ebenso wie Ungerechtigkeit.13 Dieses Ungleichgewicht entsteht nicht nur durch ein bloß quantitatives Mehr, sondern vor allem auch durch eine zu lange Dauer – dadurch, daß ein Zustand länger andauert, als ihm zusteht. Tod und Vergänglichkeit erscheinen so als der notwendige Ausgleich, der für ein zu langes Verharren in der Gegenwart zu zahlen ist. »So wie die Notwendigkeit der Zwang des Rechtsgesetzes der Vergeltung ist, so ist die Zeitordnung, das Früher und das Später, die Abfolge von Schuld und Strafe.« Nach Kelsen handelt es sich dabei um »die erste Fassung des Kausalgesetzes. Aber es ist – zwar verallgemeinert, weil auf alles Geschehen schlechthin bezogen – dennoch im wesentlichen noch das Gesetz der Vergeltung. Die Ursache
Hermann Diels: Fragmente der Vorsokratiker I, hg. von Walther Kranz, Berlin 71954, 89. Vgl. Hans Kelsen: Vergeltung und Kausalität, Wien/Köln/Graz 1982, 241 ff. 12 Zur zentralen Bedeutung dieses Motivs in der Kunst s. Edgar Wind: Heidnische Mysterien der Renaissance, Frankfurt/Main 1981; Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl: Saturn und Melancholie, Frankfurt/Main 1990; für die Dogmatik der Medizin und Jurisprudenz s. Maximilian Herberger: Dogmatik – Zur Geschichte von Begriff und Methode in Medizin und Jurisprudenz, Frankfurt/Main 1981. 13 Kelsen: Vergeltung und Kausalität [Anm. 11], 241. 10 11
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ist noch die Schuld, die Wirkung noch die Strafe«14 . Die rechtliche Ordnung einer menschlichen politischen Gemeinschaft – die griechische Polis – wird als überzeitliches Ordnungsprinzip in den Kosmos projiziert. Tod und Vergänglichkeit ebenso wie Geburt und Werden erscheinen dem Menschen als so elementare Vorgänge und Ereignisse, daß sie nach einer Recht-Fertigung verlangen, nach einer Deutung aus einem für das menschliche Zusammenleben konstitutiven Prinzip. Erst später emanzipiert sich das Kausalitätsprinzip von seiner ursprünglichen Funktion, das Problem der Theodizee zu lösen. Aus dieser Perspektive betrachtet, lassen sich Fabers und Hannahs ›Verfehlungen‹ so deuten, daß sie sich jeweils in einem umfassenden, ebenso extensiven wie intensiven Sinne mehr vom Leben nehmen, als ihnen zusteht. Vor allem streben beide auf jeweils andere, gegensätzliche und somit komplementäre Weise danach, das Leben der Zeit und damit der Vergänglichkeit zu entreißen – und verlieren es dadurch. Darin liegt die mythische Ungerechtigkeit, auf welche die ebenso mythische Strafe folgt. VI. Aber – ist es heute nicht absurd, in diesem mythischen Sinne noch von ›Gerechtigkeit‹ zu sprechen? Es erscheint auf den ersten Blick merkwürdig, daß diese Gerechtigkeitsprinzipien in die Welt und auf das Leben projiziert werden, als würde es sich um eine objektive, in der Welt selbst gegebene, den Menschen nicht verfügbare Gerechtigkeit handeln. Auch Kelsens Deutung des Spruchs von Anaximander legt zwar die vergeltungslogische Wurzel des Kausalitätsprinzips frei, doch begreift Kelsen diese Deutung im Sinne einer soziologischen Aufklärung, die vom Mythos befreit und zum Logos voranschreitet. Die Genealogie des Kausalitätsprinzips entwertet dessen Geltungsanspruch nicht, und die Auf klärung besteht in der Einsicht in die kategoriale Verschiedenheit der sozialen Welt mit ihren von Menschen gesetzten Normen von der objektiven Welt mit ihren Naturgesetzen. Die Gesetze des Rechts und der Moral haben mit den Gesetzen der Natur nichts zu tun. Hat Faber also nicht doch eigentlich Recht, wenn er sich gegen die archaische Identifi kation von Kausalität und Vergeltung wehrt? Seine den chronologischen Bericht immer wieder unterbrechenden Reflexionen über Zufall und Wahrscheinlichkeit, seine Weigerung, in einer Kette von Zufällen Fügung und Schicksal zu erkennen, entspringen ja nicht nur dem Wahn eines Technikers, der allein naturwissenschaftlich begründete Aussagen gelten läßt. Der mythische Zusammenhang von Verfehlung, Schuld und Strafe würde ja auch uns heute fragwürdig erscheinen. Dies gilt sowohl für die Deutung des Unfalltodes als Ausgleich für die Verletzung des Inzesttabus und für die fehlende oder nur schwache Zurechenbarkeit der Normverletzung zu Fabers Schuld, als auch für die Deutung des Geschehens als notwen14
Ebd.
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diger und gerechter Ausgleich der konstitutionellen Mängel Fabers und Hannahs. Wäre Fabers Geschichte nur eine aktuelle Version des Ödipus-Dramas, hätte sie uns nicht mehr viel zu sagen. Damit steht der ganze, diese Deutungsversuche inspirierende mythologische Subtext auf dem Spiel. Zwar enthält der Text viele mythologische Anspielungen auf antike tragische Konstellationen, aber es handelt sich dabei eben um einen modernen Roman und nicht um die dramatische Form der antiken Tragödie. Daher weisen zwar die oben genannten und viele weitere Anspielungen auf die ÖdipusTragödie oder den Demeter-Kore-Mythos, aber der mythologische Subtext substituiert nicht den Romantext, und die Romanfiguren lassen sich auch nicht im Maßstab eins zu eins mythologischen Figuren zuordnen. Eine andere Frage ist noch dringlicher: Auch wenn es eine antike Tragödie in moderner Einkleidung wäre – worin bestünde dann der Wahrheitsgehalt des Romans? Sollte er sich tatsächlich in der Einsicht erschöpfen, daß auch der moderne, auf seine technischen Fähigkeiten und Instrumente vertrauende Mensch einem tragischen Schicksal nicht entrinnen könne? Aber glauben wir heute noch an einen mythischen Kosmos, in dem eine ewige schicksalhafte Ordnung dafür sorgt, daß die Hybris des Menschen (in diesem Fall die aus dem Glauben an die Technik geborene Hybris) bestraft wird? Brauchen wir heute noch eine Welt von Göttern und höheren Schicksalsmächten, um diese Einsicht zu erlangen? Dieter Geulen hat darauf die zutreffende Antwort gegeben15 : »Wir interpretieren die in dem Roman zur Darstellung gelangten Dämonen grundsätzlich falsch, wenn wir sie vergleichen mit den Gestalten antiker Mythologie, deren Gehalt für unsere Zeit nicht mehr verbindlich sein kann.« Die mythologischen Spuren, die der Autor in seinen Text einstreut, ließen sich dann bestenfalls als ein ästhetisches Spiel deuten oder als eine Technik der Verfremdung, die den Leser zur Reflexion veranlaßt und dadurch erst zu der Einsicht kommen läßt, daß der an die technische Beherrschbarkeit der Natur glaubende und in diesem Glauben handelnde Mensch einer Selbstverblendung anheimfällt, die sich von der Verblendung der mythischen Helden nicht unterscheidet. Doch auch als ein ästhetisches Spiel würde der mythologische Subtext nicht funktionieren, wenn die Leser sich von einer absoluten, in der Welt selbst schicksalhaft waltenden Gerechtigkeit endgültig verabschiedet hätten. Vielleicht sind wir gar nicht in jeder Hinsicht so aufgeklärt, wie wir uns einbilden, wenn wir das Leben nach naturwissenschaftlichen Kriterien auf Ursache-Wirkungs-Beziehungen (oder deterministische Regelmäßigkeiten) untersuchen und unsere soziale Welt nach zweckmäßigen Normen ordnen, die wir angesichts neuer Probleme auch wieder ändern. Möglicherweise gibt es gleichwohl eine tief sitzende Intuition, die Welt sei letztlich so geordnet und eingerichtet, daß Verfehlungen bestraft werden, daß dem, der sich mehr genommen hat als ihm zusteht, wieder etwas weggenommen wird, daß Verdienste belohnt werden – auch wenn wir gleichzeitig 15
Dieter Geulen, [Anm. 6] 55 f.
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wissen, daß es eine solche absolute Gerechtigkeit nicht gibt und daß die von Menschen praktizierte Gerechtigkeit unvollkommen ist und bleibt. Es gibt sozialpsychologische Untersuchungen darüber, daß unheilbar Erkrankte nach einer verborgenen Schuld suchen, die ihnen die Krankheit als eine darauf antwortende Strafe rechtfertigt, daß Arbeitslose nach einem Grund in ihrem eigenen Verhalten suchen, der ihnen ihr Schicksal als letztlich doch verdient und damit gerechtfertigt erscheinen läßt.16 Kaum jemand, der von einer Lebenskatastrophe selbst betroffen wird oder sie bei anderen erlebt, kann sich des Gedankens erwehren, daß sie eine Strafe für eine frühere Verfehlung sei oder ein Ausgleich für ein vorheriges Übermaß an Glück – und wenn sich ein solcher Zusammenhang auch beim besten Willen nicht herstellen läßt, so bleibt es bei der anklagenden Frage Walter Fabers: »Was ist denn meine Schuld?« Es handelt sich um die Frage Hiobs, um die uralte, ungelöste Frage der Theodizee: Warum müssen immer wieder unschuldige Kinder sterben, während sich so mancher Bösewicht eines langen und glücklichen Lebens erfreut? Und besteht nicht die unverminderte Aktualität von Max Frischs Roman unter anderem auch darin, daß wir heute glauben, seine an Walter Faber exemplifi zierte Diagnose über die schädlichen Folgen einer naturbeherrschenden instrumentellen Vernunft hätten sich bewahrheitet, und die ausgebeutete, verletzte und beschädigte Natur würde sich mit der Klimakatastrophe, neuen Krankheiten und anderen für den Menschen gefährlichen Reaktionen rächen – die Klimakatastrophe als ›Vergeltung‹ für ein technisiertes Leben? Je größer und schwerwiegender die Katastrophe ist, desto weniger gelingt es, zwischen verschuldetem Unrecht und bloßem Unglück, für das niemand etwas kann, kategorial zu unterscheiden. Wir bestrafen zwar niemanden mehr für ein Erdbeben – aber wenn nach einem Erdbeben eine große Zahl von Opfern zu beklagen ist, fragen wir nach der Verantwortlichkeit von Bauherren und Architekten, die es möglicherweise unterlassen haben, erdbebensichere Häuser zu bauen. Wir können, so scheint es, trotz besseren Wissens von ihrer Unmöglichkeit ohne eine stillschweigend unterstellte absolute und objektive Gerechtigkeit nicht leben. Das positive Recht mit allen seinen Unzulänglichkeiten befriedigt dieses Verlangen nur halbwegs. Mit dem modernen, positiven Recht haben viele Gesellschaften bewußt auf das Projekt der Herstellung absoluter Gerechtigkeit auf Erden verzichtet. Die civitas dei liegt in Gottes, nicht in Menschenhand. In einer säkularen und postmetaphysischen Welt gibt es keine objektive Gerechtigkeit mehr wie noch in der Philosophie des Anaximander von Milet. Die historische Erfahrung mit einer von Menschen beanspruchten und praktizierten Gerechtigkeit war die Erfahrung von Unheil, Terror, Elend und neuem Unrecht – so kann man Kleists Erzählung von Michael Kohlhaas lesen. Das Leben unter einer positivierten Rechtsordnung enttäuscht zwar absolute Gerechtigkeitserwartungen, doch ermöglicht es trotz aller Unzulänglichkeiten immerhin ein Zusammenleben in relativer Freiheit, 16
Claudia Dalbert, Über den Umgang mit Ungerechtigkeit, Bern 1996.
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Würde und in Frieden. Wenn das positivierte Recht jedoch einen untilgbaren Rest des hartnäckigen Gerechtigkeitsverlangens unbefriedigt läßt – was können und sollen wir dann tun? Wenn wir auch heute noch, im säkularen, postmetaphysischen Zeitalter versucht sind, Gerechtigkeit dort zu suchen, wo wir gleichzeitig wissen, daß es keine gibt, dann ist möglicherweise die Kunst der Ort und die Praxis, welche diesem Verlangen entspricht. Kunst konstruiert Zusammenhänge einer objektiven Gerechtigkeit, ohne sie als solche auszusprechen – und sie unterläuft sie zugleich. Es ist vielleicht kein Zufall, daß die Kunst in dem Augenblick autonom zu werden beginnt, da die eine objektive und absolute Gerechtigkeit verbürgenden Glaubenssysteme zerbrechen und das positive Recht sich gegenüber anderen sozialen Systemen, vor allem gegenüber Moral und Religion, weitgehend verselbständigt. Die Kunst wird so zur Platzhalterin des Versprechens einer absoluten, unverfügbaren Gerechtigkeit, einer Antwort auf die Frage Hiobs, wenn weder Religion noch Moral und Recht, und auch die wissenschaftliche Erklärung der Natur keine Antwort mehr zu geben wissen. Kunst nimmt das für den Menschen konstitutive, aber uneinlösbare Ideal einer absoluten Gerechtigkeit auf – als Ideal der Proportionalität. Es kommt in trivialer Weise zur Geltung in den Geschichten, die mit dem Sieg des Guten über das Böse enden. Doch auch in der reflektierten ästhetischen Form, auch noch in der Dissonanz, in der bewußten Durchbrechung des Ideals der Proportionalität, ist es zumindest in seiner Abwesenheit präsent. Die Kunst exekutiert dieses uneingelöste Ideal also nicht einfach, macht sich nicht zur Vollstreckerin von menschlichen Gerechtigkeitsprojektionen. Vielmehr führt sie durch die bloße Anordnung des Materials gleichzeitig zweierlei einander widerstreitende Aspekte vor: daß wir nicht umhin können, in der zeitlichen Abfolge von Kausalverläufen eine wie auch immer gebrochene und verborgene Gerechtigkeit am Werke zu sehen, und sie macht dem Rezipienten transparent, daß und wie er eine solche Gerechtigkeitsprojektion vollzieht. Sie hält gleichsam den Augenblick fest, in dem er zu einem Gerechtigkeitsurteil ansetzt. Das Herstellen und gleichzeitige Bewußtmachen einer absoluten Gerechtigkeit ist die poetische Gerechtigkeit.17 Als eine solche Platzhalterin wäre das literarische Kunstwerk dann auch nicht subsituierbar und auch nicht übersetzbar. Als solche ausgesprochen, klingt die Forderung nach einer absoluten Gerechtigkeit lächerlich – wir wissen es schließlich alle besser. In Max Frischs Roman ist es dieses Wissen, das unsere Sympathie mit Fabers Zurückweisung einer Schuld erzeugt. Es ist die ästhetische Form, die Ironie, die uns auf die andere Seite unseres Wissens, auf unser Verlangen nach Ge17 Wenn überhaupt, wäre allein darin auch die öffentliche Funktion des literarischen Kunstwerks zu sehen – anders als bei Martha Nussbaum, die diese Funktion allein auf die Schulung der Kontextsensibilität des moralischen Urteils bezieht: Martha Nussbaum: Poetic Justice – The Literary Imagination and the Public Life, Boston 1995.
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rechtigkeit lenkt. Der nüchterne, sachliche Bericht, den Faber allein zu dem Zweck verfaßt, das zum Tode seiner Tochter führende Geschehen als eine zwar unwahrscheinliche, aber nicht unmögliche Kette von Zufällen erscheinen zu lassen, mit dem er sich explizit gegen die Konstruktion einer Fügung, eines Verschuldungszusammenhangs wendet, indem er sie als Mystifi kationen und Spintisiererei verwirft, bewirkt das Gegenteil. Allein schon mit seinem Bericht selbst stellt er einen Zusammenhang zwischen Kausalität und Vergeltung her, der in der unbeantwortet bleibenden Frage »Was ist denn meine Schuld?« nur kulminiert. Es ist eine geniale Ironie, denjenigen, der als Techniker eine Weltsicht verkörpert, in der es keine objektive Gerechtigkeit gibt, allein durch die narrative Struktur seines Berichts an eben diese objektive Gerechtigkeit appellieren zu lassen. Ohne sie wäre der ganze Bericht sinnlos. Es scheint, als seien diese Zusammenhänge in die narrative Struktur selbst eingewoben – als könnten wir ein Leben gar nicht anders erzählen, als indem wir es so darstellen, daß Strafe auf Verfehlung, Ausgleich auf Übermaß, Lohn auf Verdienst folgt.18 Gleichzeitig hält Max Frischs Roman diese mythische Gerechtigkeitsprojektion jedoch in der Schwebe. Frisch erzählt ja an keiner Stelle eine mythische Geschichte – darin haben alle Kritiker Recht, die vor einer allzu schnellen Übersetzung des Stoffes in eine mythische Erzählung warnen. Es handelt sich nur um Anspielungen, Andeutungen und versteckte Zitate – von denen wir uns beim Lesen gefangennehmen lassen, um selbst, den Text rezipierend, jenen tragischen Verblendungs- und Verschuldungszusammenhang zu konstruieren, den es objektiv gar nicht gibt und den der Text so auch gar nicht exemplifi ziert. Damit erf ährt der Leser an sich selbst, kann selbst nachvollziehen, wie er einen tragischen Zusammenhang überhaupt erst herstellt. Auf diese Weise entzieht sich das literarische Kunstwerk sowohl der einfachen Deutung als bloßes Repetieren einer mythischen Gerechtigkeit – wie es zugleich auch ihre Konstruktion bloßlegt und transparent macht. Schließlich läßt Frisch seinen Roman in einem kurzen Absatz kulminieren, der die mythische Konstruktion einer absoluten Gerechtigkeit suspendiert. Es ist jener Absatz, von dem Max Frisch in Montauk sagt, daß er unabhängig vom Homo faber gültig bleibe19 : »Verfügung für den Todesfall: alle Zeugnisse von mir wie Berichte, Briefe, Ringheftchen, sollen vernichtet werden, es stimmt nichts. Auf der Welt sein: im Licht sein. Irgendwo (wie der Alte neulich in Korinth) Esel treiben, unser Beruf! – aber vor allem: standhalten dem Licht, der Freude (wie unser Kind, als es sang) im Wissen, daß ich erlösche im Licht über Ginster, Asphalt und Meer, standhalten der Zeit, beziehungsweise Ewigkeit im Augenblick. Ewig 18 Vgl. zu den internen Zusammenhängen zwischen narrativer Struktur und Gerechtigkeit Binder und Weisberg: Literary Criticisms [Anm. 3], 264 f.; sowie Steven L. Winter: The Cognitive Dimension of the Agon between Legal Power and Narrative Meaning, in: Michigan Law Review 87 (1989), 2225 ff. 19 Max Frisch: Montauk, Frankfurt/Main 1975, 199.
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sein: gewesen sein.« Liest man diese Sätze wie einen Kommentar zu dem Spruch des Anaximander, so könnte er sich als Aufforderung zur Befreiung von dem unablässigen Verlangen nach der Konstruktion eines Verschuldungszusammenhangs verstehen lassen.
Zeitphilosophie in Michael Endes »Momo« Von Gernot Böhme
I. Michael Endes Bücher gehören heute bereits zu den Klassikern der Kinderliteratur. Sie waren und sind ein Welterfolg. Dazu zählen außer Momo noch die Jim Knopf Bücher, und Die unendliche Geschichte.1 Endes fantasiereiche Erzählungen enthalten viel tieferen Sinn und geben häufig wegen ihrer paradoxen Struktur Anlaß zu philosophischem Nachdenken. Paradebeispiel dafür ist der Schein-Riese aus Jim Knopf und die Wilde 13, ein Mann der um so größer aussieht, je weiter man von ihm entfernt ist. Das ist natürlich eine satirische Figur der bekannten Erfahrung menschlicher Größe – beispielsweise im politischen Bereich. In der Geschichte leidet der Scheinriese sehr unter dieser Eigenschaft: Alle Leute, die nicht wissen, wie es sich mit ihm verhält, wagen nicht, sich ihm zu nähern – und deshalb ist er sehr einsam. Momo ist nun nicht nur eine wunderschöne und spannende Geschichte, sondern eine herbe Modernitätskritik. Der Roman ist sicher geeignet, Kindern ein Grundverständnis der Lebenswirklichkeit zu vermitteln, wie sie durch unsere kapitalistische Marktwirtschaft, durch Rationalisierungs- und Leistungsdruck bestimmt ist. Man mag einwenden, daß diese Kritik auf der Folie der guten alten Zeit geschieht und daß ein Kind, daß die Kinderwelt als die große Alternative erscheint und schließlich daß ein Kind, eben Momo, zum Retter der Welt wird. Endes Kritik jedoch ist zutreffend. Was sie von der üblichen Modernitätskritik unterscheidet, ist eben dies: Sie setzt bei dem in unserer Gesellschaft dominanten Umgang mit der Zeit an. Die Grundidee des Romans ist die Fiktion einer Zeitsparkasse. Ein Heer von grauen Agenten versucht alle Leute zum Zeitsparen zu bewegen. Es wird fi ngiert, daß man die gesparte Zeit auf der Zeitsparkasse einzahlen kann, – für irgendein künftiges Glück. Das Zeitsparen geschieht durch die bekannten Methoden: Rationalisierung, Taylorismus, Fordismus in Arbeit und Verkehr, McDonaldisierung der Alltagswelt 2 , kurz durch die Organisation der Leistungsgesellschaft und des Konsumkapitalismus. Diese Verhältnisse werden gespiegelt an dem Straßenkind Momo. 1 Michael Ende: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (1960); Jim Knopf und die Wilde 13 (1962); Die unendliche Geschichte (1979); Momo oder die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlenen Zeit zurückbrachte wird hier zitiert nach der Ausgabe Stuttgart 241973. Die Zahlen in den Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe. 2 George Ritzer: Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Konstanz 42006.
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Momo ist eine Waise, die in der Ruine eines Amphitheaters wohnt und die Kinder der Umgebung um sich schart und sie zu fantasievollen Spielen anregt. Momo hat für jeden Zeit, geht auf die Menschen individuell ein, sie ist einfallsreich und wortgewandt. Sie durchschaut die Methoden der Zeitsparagenten, organisiert die Kinder zum Widerstand und siegt – nach sehr dramatischen Zwischenf ällen – am Ende im Kampf gegen die Machenschaften der Zeitsparkasse.
II. Es sei zunächst eine charakteristische Szene vorgestellt, die zwar noch nicht mit dem Thema Zeit zu tun zu haben scheint, in der wir jedoch Momo in direkter Konfrontation mit einem Zeitagenten erleben. Er will Momo zu dem von der Zeitsparkasse forcierten Lebensstil verführen, indem er ihr eine automatische Puppe schenkt: Bibigirl. Die Puppe »bewegte den Mund und sagte mit einer Stimme, die etwas quäkend klang, als käme sie aus einem Telefon: ›Guten Tag. Ich bin Bibigirl, die vollkommene Puppe.‹ Momo fuhr erschrocken zurück, aber dann antwortete sie unwillkürlich: ›Guten Tag, ich heiße Momo.‹ Wieder bewegte die Puppe ihre Lippen und sagte: ›Ich gehöre dir. Alle beneiden dich um mich.‹ ›Ich glaub’ nicht, daß du mir gehörst‹, meinte Momo. ›Ich glaub’ eher, daß dich jemand hier vergessen hat.‹ Sie nahm die Puppe und hob sie hoch. Da bewegten sich deren Lippen wieder, und sie sagte: ›Ich möchte noch mehr Sachen haben.‹ ›So?‹ antwortete Momo und überlegte. ›Ich weiß nicht, ob ich was hab’, das zu dir paßt. Aber warte mal, ich zeig’ dir meine Sachen, dann kannst du ja sagen, was dir gefällt.‹ Sie nahm die Puppe und kletterte mit ihr durch das Loch in der Mauer in ihr Zimmer hinunter. Sie holte eine Schachtel mit allerlei Schätzen unter dem Bett hervor und stellte sie vor Bibigirl hin. ›Hier‹, sagte sie, ›das ist alles, was ich hab’. Wenn dir was gefällt, dann sag`s nur.‹ Und sie zeigte ihr eine hübsche bunte Vogelfeder, einen schön gemaserten Stein, einen goldenen Knopf, ein Stückchen buntes Glas. Die Puppe sagte nichts und Momo stieß sie an. ›Guten Tag‹, quäkte die Puppe, ›ich bin Bibigirl, die vollkommene Puppe.‹ ›Ja‹, sagte Momo, ›ich weiß schon. Aber du wolltest dir doch was aussuchen, Bibigirl. Hier hab’ ich zum Beispiel eine schöne rosa Muschel. Gefällt sie dir?‹ ›Ich gehöre dir‹, antwortete die Puppe, ›alle beneiden dich um mich.‹ ›Ja, das hast du schon gesagt‹, meinte Momo. ›Aber wenn du nichts von meinen Sachen magst, dann könnten wir vielleicht spielen, ja?‹ ›Ich möchte noch mehr Sachen haben‹, wiederholte die Puppe. […]
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Nach einer Weile überkam Momo ein Gefühl, das sie noch nie zuvor empfunden hatte. Und weil es ihr ganz neu war, dauerte es eine Weile, bis sie begriff, daß es die Langeweile war.« Die kommunikationsfreudige Momo geht in ihrer Naivität auf die automatischen Sprüche der Puppe ein, nur kann daraus kein Spiel entstehen und schon gar nicht ein Gespräch, weil das Satzrepertoire der Puppe situationsunspezifisch, festgelegt und endlich ist. Momo, die immer viel Zeit hat, gerät hier zum ersten Mal in eine Situation, in der sie mit ihrer Zeit nichts anzufangen weiß: Sie lernt die Langeweile kennen. Das ist ein erster Hinweis darauf, daß man durch Zeitsparen vielleicht nichts gewinnen könnte. Zugleich ist mit dem Unterschied von Zeit haben und sich langweilen ein Grundthema der Zeitphilosophie angesprochen. Die Langeweile könnte so etwas wie die Erfahrung der Zeit selbst sein, nämlich der abstrakten, der von jedem Inhalt und jeder Intention entleerten Zeit. Es sollte erwähnt werden, daß Martin Heidegger seine existential-analytischen Untersuchungen der Zeit an dem Phänomen der Langeweile ansetzte. Das geschah in seiner Vorlesung Grundbegriffe der Metaphysik 1929. Um das Gewicht des Phänomens Langeweile zu betonen, seien daraus nur zwei Sätze zitiert. »Wir wollen […] durch die Auslegung des Wesens der Langeweile zum Wesen der Zeit durchdringen […]. [W]eil das Wesen der Zeit auf einem anderen Wege gar nicht aufzuhellen ist.« 3 Der graue Herr gibt Momo dann Anweisungen, wie mit einer solchen Puppe zu spielen sei. Es sind zugleich Ratschläge, wie die durch eben diese Puppe erzeugte Langeweile bekämpft werden kann: durch Konsum und Zerstreuung. »›Du siehst‹, fuhr der graue Herr fort, ›es ist ganz einfach. Man muß nur immer mehr und mehr haben, dann langweilt man sich niemals.‹« Er suggeriert ihr zugleich, daß sie, so beschäftigt, auch ihre Freunde gar nicht mehr brauche: »›Du brauchst dann deine Freunde gar nicht mehr, verstehst du? Du hast ja nun genug Zerstreuung, wenn all diese schönen Sachen dir gehören und du immer noch mehr bekommst, nicht wahr?‹«
Martin Heidegger: Die Grundbegriff e der Metaphysik, Gesamtausgabe 29/30, Frankfurt/M. 1992, 201. 3
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III. Zeit ist Leben heißt es programmatisch im Buch Momo dort, wo die Geschichte richtig beginnt (57). Soll das eine Defi nition sein? Der Satz ist sichtlich gegen den landläufigen Satz Zeit ist Geld gerichtet, er ist also rhetorisch. Eine Defi nition kann er schon deshalb nicht sein, weil eine defi nitorische Gleichsetzung reziprok sein müßte. Doch daß Leben Zeit sei, wird Ende wohl nicht behaupten wollen. Gegen alles, was dann als das Treiben der grauen Herren entwickelt wird, gegen die universelle Verrechnung, soll der Satz die Bedeutung der Zeit für das Leben in Erinnerung rufen. Doch der Satz Zeit ist Leben bewegt sich ganz in der Nähe der ersten philosophischen Zeittheorie unseres Kulturkreises, nämlich der Platons. Nach Platon ist Zeit »ein nach Zahlen gehendes aionisches Bild des im Einen bleibenden aion« 4 . Aion heißt Lebenskraft, Lebensganzheit. Platon setzt also Zeit in engste Beziehung zum Leben. Man kann auch sagen: Die Lebenszeit ist ihm das Paradigma für Zeit überhaupt. Der Grund liegt darin, daß Platon sich den Kosmos als Ganzen als ein Lebewesen dachte. Die zyklische Ordnung am Himmel, das, was wir Zeit nennen – wie er sagt –, ist die Lebenszeit des Kosmos. Und als solche ist sie das Zeitganze, das alle anderen Zeiten umfaßt. Auch in Momo wird dann die Beziehung von Zeit und Leben explizit hergestellt. Sie wird für das Kind Momo in der Sternenpendel-Szene durch das Bild der Stundenblumen sinnfällig gemacht. Die Stundenblumen, die immer wieder im Herzen der Menschen aufgehen, sind so etwas wie Zeitgeber, der Zeit des Einzelnen allerdings, nicht der Zeit im Ganzen. Das sieht man gegen Ende der Geschichte, als Momo noch für die Zeit einer Stundenblume leben kann, während alles um sie erstarrt ist. Doch diese Lehre von der Lebenszeit erf ährt Momo von Meister Secundus Minutius Hora, dem Verwalter der Zeit, erst später. Zunächst wird sie in seinem Haus mit der Zeit qua Uhrzeit konfrontiert. Meister Hora hat eine Uhrensammlung. Das Ungewöhnliche dieser Sammlung stellt Momo sogleich fest: »von allen diesen Uhren zeigte jede eine andere Zeit an« (145). Jeder Besitzer eines Uhrengeschäftes würde Wert darauf legen, daß alle gezeigten Uhren gleich gehen, denn Uhren sollen ja die, die eine, verbindliche Zeit anzeigen. Hora spielt die Bedeutung der Uhren herunter: »[…] diese Uhren sind nur eine Liebhaberei von mir. Sie sind nur höchst unvollkommene Nachbildungen von etwas, das jeder Mensch in seiner Brust hat« (159). Damit weist er auf die Beziehung von Zeit und Leben voraus, die Momo mit dem Bild der Stundenblumen kennenlernen soll. Nun sind Uhren tatsächlich Platon: Timaios 37d. Zur Auslegung siehe mein Buch Platons theoretische Philosophie, Stuttgart 2000, insb. Kapitel IV.3.2: Zeit. 4
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höchst unvollkommene Nachbildungen der Zeit. Die ersten mechanischen Uhren sollten die Zeit am Himmel veranschaulichen und waren deshalb so etwas wie Planetarien. 5 Wir sind inzwischen gewohnt, im Alltag als Zeit anzusehen, was die Uhr zeigt: Zeitpunkt und Zeitquantum. Doch auch nach dieser funktionalen Auffassung von Uhren sind sie in der Regel höchst unvollkommen. Uhren haben zwei Funktionen: Einerseits sollen sie gestatten, Geschehnisse in ihrer zeitlichen Erstreckung zu messen, andererseits sollen sie über die Bestimmung von Zeitpunkten eine weltweite Koordination des menschlichen Geschehens gewährleisten. Für das erste ist es notwendig, daß alle Uhren im Takt sind, d.h. ihre Perioden dürfen sich nicht gegeneinander verschieben. Daß das überhaupt realisierbar ist, dürfte keineswegs selbstverständlich sein. Vielmehr ist es eine empirische Tatsache, daß es eine sehr große Klasse von periodischen Bewegungen gibt, die miteinander synchron laufen. Das heißt so viel, daß die Perioden von allen anderen sich als konstant erweisen, wenn man eine dieser periodischen Bewegungen als Maß wählt. Heute wählt man als Zeitstandard die Periode des schwingenden Cäsiumatoms. Die andere Funktion ist noch schwieriger zu realisieren: Es könnte ja sein, daß die Uhr, die man als Standard gewählt hat, konstant vor oder nachgeht. Wenn sie aber der weltweiten Koordination dienen soll, dann müßte sie irgendwie an das Ganze rückgekoppelt sein, d.h. mögliche Abweichungen müßten immer wieder justiert werden. Man erreicht dies neuerdings durch die Funkuhren. Nun hat man bei der Erforschung der biologischen Uhren, die wesentlich auf der Periodizität von Stoff wechselprozessen beruhen, gefunden, daß sie einen solchen Justierungsmechanismus haben – es ist die Korrektur, die die biologischen Uhren durch den Wechsel von Tag und Nacht erfahren. Die sog. circadianen Rhythmen, die als Stoff wechselrhythmen um die 24 Stunden spielen, werden immer wieder nach den äußeren Lichtverhältnissen korrigiert. 6 Auch in dieser Hinsicht sind mechanische Uhren nur höchst unvollkommene Nachbildungen der Zeit, die eigentlich durchs Leben vorgegeben wird. IV. Bei ihrem Lehrgang zum Wesen der Zeit wird Momo von der Uhrzeit zur Modalzeit geführt. Man nennt Modalzeit die Zeit als Einheit von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Momo soll darauf durch das Lösen eines Rätsels kommen, das ihr Hora in Form folgenden Gedichtes vorträgt:
Siehe die großen Uhren von Straßburg und Lund. Aber auch die vielleicht früheste mechanische Uhr, die Maschine von Kytera, war nach Analyse von Derek de Solla Price eine Art Planetarium. Vgl. Derek de Solla Price: On the Origin of Clockwork, Perpetual Motion Divices and the Compass, in: Paper 6. Contributions from the Museum of History and Technology, US National Museum, Bulletin 218, Washington 1959. 6 Arthur Winfra: Biologische Uhren. Zeitstrukturen des Lebendigen, Heidelberg 1988. 5
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»Drei Brüder wohnen in einem Haus, die sehen wahrhaftig verschieden aus, doch willst du sie unterscheiden, gleicht jeder den anderen beiden. Der erste ist nicht da, er kommt erst nach Haus. Der zweite ist nicht da, er ging schon hinaus. Nur der dritte ist da, der Kleinste der drei, denn ohne ihn gab’s nicht die anderen zwei. Und doch gibt’s den dritten, um den es sich handelt, nur weil sich der erst` in den zweiten verwandelt. Denn willst du ihn anschauen, so siehst du nur wieder immer einen der anderen Brüder! Nun sage mir: Sind die drei vielleicht einer? Oder sind es nur zwei? Oder ist es gar - keiner? Und kannst du, mein Kind, ihre Namen mir nennen, so wirst du drei mächtige Herrscher erkennen. Sie regieren gemeinsam ein großes Reich und sind es auch selbst! Darin sind sie gleich.« (154)
Dieses Rätselgedicht faßt in sehr schöner Form die Dialektik und die Paradoxien, die sich ergeben, wenn man nach dem Sein der Zeit fragt. Philosophisch sind sie vor allem von Augustinus in seinen Confessiones, Buch 11, expliziert worden und zwar so, daß sich ihre Fassung als Rätsel nahe legt. »Was also ist Zeit? Wenn mich niemand darnach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.« 7 Die Vergangenheit ist nicht mehr und die Zukunft noch nicht. »Wie können wir dann auch nur von der Gegenwart sagen, daß sie ist, da doch ihr Seinsgrund eben der ist, daß sie nicht sein wird?« 8 Augustinus löst die Paradoxien auf, indem er – gut parmenideisch – das Sein der Zeit im Jetzt verankert. Die Vergangenheit ist als Erinnerung, die Gegenwart als jeweiliges Aufmerken (attentio), die Zukunft als Erwartung. Freilich bringt er durch dieses Konzept die Zeit quasi zum Erstarren: Sie wird durch die gegenwärtigen Intentionen aufgespannt. Demgegenüber, also der ganzen Tradition von Parmenides bis Husserl und Heidegger gegenüber 9, bringt Ende mit dem Rätselgedicht die Dynamik in die Zeit zurück: Die Gegenwart – der dritte Bruder – ist nur im Durchgang von der Zukunft zur Vergangenheit: Wir werden sehn, daß sich damit ein eigener Beitrag Endes zur Zeitphilosophie anbahnt, deren unterschiedliche Konzepte er zu bündeln sucht.10 Augustinus: Confessiones, München 21960, 629. 8 Ebd. 9 Husserl spricht von Retentionen und Protentionen, Heidegger von Ekstasen. 10 Endes Buch hat deshalb auch im akademischen Bereich Beachtung gefunden. Siehe z. B.: Claudia Schmitt: Zeitvorstellungen und Kritik moderner Lebensformen in Michael Endes »Momo«, Darmstadt 1995. 7
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V. Die Philosophen haben sich mittlerweile mit der Mannigfaltigkeit von Zeiten und Zeitbegriffen abgefunden, die Frage nach der Einheit der Zeit wird vernachlässigt. Charakteristisch ist das analytische Vorgehen von McTaggart.11 Er unterscheidet eine A-Zeit von einer B-Zeit und läßt es damit bewenden. Dieser Unterschied erscheint bei Schmitz als der Unterschied von Lagezeit und Modalzeit.12 Auch bei Kant gibt es zwei unverbundene Zeitbegriffe. Einerseits die Zeit als Form der Anschauung, andererseits die Zeit als Geschichtszeit – wie etwa in der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755). Die Zeitbegriffe scheinen sich eher zu vermehren. Man redet nicht nur von subjektiver und objektiver Zeit, sondern auch von Eigenzeit 13 und Weltzeit, von biologischer Zeit, physikalischer Zeit, gar von quantenphysikalischer Zeit; von psychischer, gar psychoanalytischer Zeit. Demgegenüber ist Platon immer noch vorbildlich: Die eine Zeit ist die kosmische, alle anderen sind Teile der Zeit, und was wir Zeitmodi nennen: Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sind bloße Anblicke der Zeit, eidé chrónou. Doch diese schöne Einheit ist uns zerfallen, so wie uns der Glaube an einen ewig in sich kreisenden Kosmos verlorengegangen ist. Deshalb können die Zeitmodi auch nicht mehr als bloße Aspekte der Zeit verstanden werden: Die Zeit hat sich zur Geschichte geöff net. Michael Ende stellt sich nun auf seine Weise die Frage nach der Einheit der Zeit. Das ist für ihn um so notwendiger, als er mit den mannigfaltig verschieden gehenden Uhren des Meisters Hora und dann durch das Konzept der Eigenzeit, die jedem durch den Gang des Herzens gegeben wird, in besonders drastischer Weise die Einheit der Zeit verloren hat. Die erste Stelle, an der er auf die Einheit der Zeit eingeht, ist die Szene mit dem Sternenpendel (161-165). Meister Hora führt Momo quasi ins Innere der Zeit. Dort sieht sie über einem kreisrunden Teich mit schwarzem Wasser ein Pendel aus Licht hin und hergehen. Dieses Pendel bewegt sich wie das Foucaultsche Pendel langsam im Kreise fort. Immer wenn es sich dem Teichrand nähert, erblüht dort eine Blume, eine Stundenblume – und sie verwelkt jedes Mal, wenn sich das Pendel vom Rande wieder entfernt. Da diese Stundenblumen, wie wir schon gehört haben, die Eigenzeit für die einzelnen Menschen ausmachen, sind in dem Bild vom Sternenpendel die Eigenzeiten mit einem kosmischen Taktgeber verbunden. Dabei sind zugleich, was man sonst physikalische und biologische Zeit nennt, verbunden. John E. McTaggart, zuerst in: The Unreality of Time, in: Mind 68 (1908), 457-474. Ebenso im Kapitel 23 seines Werkes The Nature of Existence, Cambridge/Engl. 1921/27. 12 Hermann Schmitz: System der Philosophie II, Bonn 1964 ff . 13 Der Begriff Eigenzeit stammt aus der Relativitätstheorie. Der Terminus bezeichnet dort die Zeit gemessen von einer im bewegten Körper mitgeführten Uhr. Als Bezeichnung für die vom einzelnen Menschen selbstbestimmte Zeit wurde er durch Helga Nowotny populär gemacht. Helga Nowotny: Eigenzeit: Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt/M. 1989. 11
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Die zweite Stelle, an der die Einheit der Zeit deutlich wird, ist der Schluß des Romans: Meister Hora läßt, indem er einschläft, die Zeit aufhören. (244-247) Dieses Auf hören der Zeit bedeutet, daß – wie übrigens auch im Dornröschenschloß des Grimmschen Märchens – alles erstarrt, also in der Phase seiner Bewegung oder seines Lebens stehen bleibt, in der es sich gerade befunden hat. Nur Momo hat mit einer Stundenblume noch Zeit, sich um die Rettung der Menschheit zu kümmern. Das Entscheidende an diesem Bild ist, daß zwar jeder seine eigene Zeit hat, daß er dabei jedoch auf den großen Zusammenhang des Ganzen und dessen Fortgang angewiesen bleibt. Wenn, wie es aus dem Munde eines der grauen Herren heißt, Hora »die Zeit abgestellt hat« (250), dann bleibt dem Einzelnen zwar noch eine gewisse Spanne, doch er kann sich nicht mehr regenerieren, so daß er in Kürze der Todesstarre anheim fällt. Das ist natürlich ein hochspekulativer Gedanke. Man könnt ihn abstrakt so reformulieren: Zeit ist das rhythmisch geordnete Nacheinander von Prozessen; doch deren periodisch Wiederkehr gibt es nur in einem Energiegefälle, d. h. solange das Ganze noch fern vom Gleichgewicht ist. Anders gesagt: Der Wärmetod wäre das Ende der Zeit. Diese beiden Stellen hängen natürlich eng miteinander zusammen: Das Sternenpendel ist auch das Bild einer Energiezufuhr, die der Reproduktion der Stundenblumen ermöglicht. VI. Die Dritte Stelle, an der Ende nach der Einheit der Zeit fragt, ist diejenige im Buch, wo in geradezu klassischer Weise philosophiert wird: »›Sag mal‹, fragte sie schließlich, ›was ist denn die Zeit eigentlich?‹ ›Das hast du doch gerade selbst herausgefunden‹, antwortete Meister Hora. ›Nein, ich meine‹, erklärte Momo, ›die Zeit selbst – sie muß doch irgend etwas sein. Es gibt sie doch. Was ist sie denn wirklich?‹ ›Es wäre schön‹, sagte Meister Hora, ›wenn du auch das selbst beantworten könntest.‹ Momo überlegte lange. ›Sie ist da‹, murmelte sie gedankenverloren, ›das ist jedenfalls sicher. Aber anfassen kann man sie nicht. Und festhalten auch nicht. Vielleicht ist sie so was wie ein Duft? Aber sie ist auch etwas, das immerzu vorbeigeht. Also muß sie auch irgendwo herkommen. Viel leicht ist sie so was wie der Wind? Oder nein! Jetzt weiß ich’s! Vielleicht ist sie eine Art Musik, die man bloß nicht hört, weil sie immer da ist. Obwohl, ich glaub’, ich hab’ sie schon manchmal gehört, ganz leise.‹ ›Ich weiß‹, nickte Meister Hora, ›deswegen konnte ich dich ja zu mir rufen.‹ ›Aber es muß noch was anderes dabei sein‹, meinte Momo, die dem Gedanken noch weiter nachhing, ›die Musik ist nämlich von weither gekommen, aber geklungen hat sie ganz tief in mir drin. Vielleicht ist es mit der Zeit auch so.‹ Sie schwieg verwirrt und fügte dann hilflos hinzu: ›Ich meine, so wie die Wellen auf
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dem Wasser durch den Wind entstehen. Ach, das ist wahrscheinlich alles Unsinn, was ich rede!‹« (158 f.) Momo stellt in ihrem Gespräch mit Meister Hora schließlich die philosophische Grundfrage: tì estin auto o chrónos; was ist die Zeit? Es ist der Versuch, die Einheit der Zeit als ihr Wesen zu gewinnen: Man unterscheidet, was die Zeit selbst ist, von ihren Erscheinungsweisen, bzw. der Mannigfaltigkeit der Zeiten. Genau das betont Momo, als Hora sie auf das eben gelöste Rätsel, aus dem die Zeit als die Dreiheit von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft hervorging, zurückverweist. Sie will danach fragen, was »die Zeit selbst« ist: ao crónou autó äo pote estin. Dann schließt Momo in klassischer griechischer Weise weiter: Es gibt sie doch, also muß sie auch etwas sein. Was existiert, ist ein Seiendes und Seiendes ist etwas. Also muß sich die Frage nach ihrem Was beantworten lassen.14 Momo begibt sich nun jedoch nicht wie Sokrates auf den Weg der Logoi, sondern folgt ihren Intuitionen. Nachdem sie festgestellt hat, daß die Zeit kein Etwas von der Art der Dinge sein kann – »Sie ist da […]. Aber anfassen kann man sie nicht. Und festhalten kann man sie auch nicht« – kommt sie auf Vergleiche, die die Zeit in die Gattung der Halbdinge einordnen. Halbdinge sind nach Hermann Schmitz Entitäten, die einen wiedererkennbaren Charakter haben, nicht aber Substanzen sind, weil ihnen das Bleibende fehlt.15 Momo vergleicht die Zeit einem Duft, dem Wind und dann der Musik. Mit dem letzten Vergleich ist sie nun wieder ganz in der Näher einer klassischen Zeittheorie, nämlich der Henri Bergsons.16 Für Bergson ist die eigentliche Zeit Dauer, duré. Dauer ist ausgedehnte Gegenwart, die ihre Einheit nicht einer Identität verdankt, einem Bleibenden im Nacheinander.17 Ihre Einheit ist eine qualitative, nämlich die Einheit eines Themas. Aus diesem Grunde ist für Bergson die Musik allgemein und eine Melodie im besonderen das Beispiel, an dem er am liebsten Zeiterfahrung erläutert. Zeit kann nur im Mitvollzug erfahren werden, ihre Einheit ist die qualitative Einheit im Nacheinander. Das Hören ist die genuine Zeiterfahrung. Momo scheint die Zeit nun eine Art Musik zu sein. In dieser Bestimmung wird nun wieder der Zusammenhang von Eigenzeit und kosmischer Zeit gewahrt: »die Musik ist nämlich von weither gekommen, aber geklungen hat sie ganz tief in mir drin«. Damit wird die im Herzen gespürte Zeit, die Eigenzeit, als eine Art inneres Mitsingen verstanden: als ein Resonanzphänomen. Momo entwickelt gleich diesen
Für diese Schlußweise siehe besonders Platons Dialog Sophistes. Schmitz: System der Philosophie III.5 [Anm. 12], § 245. 16 Henri Bergson: Zeit und Freiheit, Frankfurt/M. 1989. 17 Dieser Gedanke einer qualitativen Einheit fi ndet sich bereits bei Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 114, dort wird die Einheit auch als »Einheit des Themas in einem Schauspiel, einer Rede, einer Fabel« erläutert. 14
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Gedanken noch ein Stück weiter, in dem sie auf den Vergleich der Zeit mit dem Wind zurückkommt. Nach diesem Bild braucht die Eigenzeit nicht ein Mitschwingen mit kosmischen Rhythmen zu sein – ein Gedanke, der ja seit Platons Timaios zur Zeitphilosophie gehört –, vielmehr kann die kosmische Zeit qua Wind auch einfach ein Anstoß, eine Energiequelle sein, die die Einzelwesen jeweils anregt, in ihrer Eigenfrequenz zu schwingen. »Ich meine, so wie die Wellen auf dem Wasser durch den Wind entstehen«, sagt Momo. Weiter kommt sie in ihren Überlegungen nicht, sie fi ndet sich, auch ganz klassisch, am Ende in einer Aporie: »Ach, das ist wahrscheinlich alles Unsinn, was ich rede!« Meister Hora meint auch, daß sie rational in der Erkenntnis nicht weiterkommen kann und nun reif ist für die Initiation. Diese Initiation erfolgt in dem goldenen Kuppelsaal, in dem das Sternenpendel schwingt. Wir haben diese Szene schon besprochen, doch nun muß noch etwas nachgetragen werden, das auch Momo quasi erst nachträglich erfährt. Die ganze Szene ist ja dominiert von optischen Eindrücken: die goldene Kuppel, der schwarze Teich, das leuchtende Sternenpendel und vor allem die prachtvollen Stundenblumen. Doch dann: »nach und nach wurde sie gewahr, daß hier immerwährend noch etwas anders vorging […]. Die Lichtsäule, die aus der Mitte der Kuppel herniederstrahlte, war nicht nur zu sehen – Momo begann sie nun auch zu hören!« (163 f.) Die Musik, die Momo in dem Sternpendel hört, erscheint ihr zunächst wie ein mächtiges Brausen, dann glaubt sie Stimmen zu unterscheiden, nicht menschliche, eher metallische, aber dann erkennt sie, daß es die kosmische Musik der Planeten ist, was sie hört – die harmonia mundi, die bekanntlich von Platon und den Pythagoreern bis hin zu Kepler mit der kosmischen Zeit verbunden wird. »Immer deutlicher wurden sie [die Stimmen], so daß Momo nun nach und nach Worte hörte, Worte einer Sprache, die sie noch nie vernommen hatte und die sie doch verstand. Es waren Sonne und Mond und die Planeten und alle Sterne, die ihre eigenen, ihre wirklichen Namen offenbarten. Und in diesen Namen lag beschlossen, was sie tun und wie sie alle zusammenwirken, um jede einzelne dieser Stunden-Blumen entstehen und wieder vergehen zu lassen.« (164) Damit schließt sich das Bild an Momos Überlegung zu Wind und Wasserwellen an. Die Eigenzeiten der Einzelwesen werden durch den kosmischen Wind, bzw. die kosmische Musik anregt. Die Einheit der Zeit ist ein Resonanzphänomen.18
Von den Zeittheoretikern hat sich am deutlichsten in dieser Richtung Friedrich Cramer geäußert, in: Symphonie des Lebendigen: Versuch einer allgemeinen Resonanztheorie, Frankfurt/M. 1996. Dieses Buch existierte noch nicht, als Ende seinen Roman Momo schrieb. 18
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VII. Michael Ende ist es gelungen, in erstaunlich plastischer Weise die wichtigsten Zeittheorien der europäischen Philosophie in seinem Buch präsent sein zu lassen. Darüber hinaus hat er mehr als die meisten Philosophen sich der Frage nach der Einheit der Zeit gestellt. Insbesondere ist es ihm gelungen, ein plausibles Konzept des Zusammenhanges von subjektiver und objektiver, von erlebter und physikalischer Zeit 19, von äußerer und innerer Zeit zu entwickeln. Dieses Konzept beruht wesentlich auf dem Resonanz-Gedanken: Die innere Zeit ist ein Mitvollzug der äußeren, und zwar so, daß die Rhythmen des Lebensvollzuges durch die Vorgänge der äußeren Natur angeregt und justiert werden. Ende gelingen diese Einsichten in das Wesen der Zeit, weil er radikal dem Problem auf den Grund geht, warum die Menschen in der Moderne trotz aller zeitsparenden Rationalisierungen keine Zeit haben und warum sie trotz der luxurierenden Konsumwelt nicht glücklich sind. Die Idee des Zeitsparens, die allen Rationalisierungsmaßnahmen zugrunde liegt, geht von der Zeit als einer Art Vorrat aus, den es möglichst ökonomisch zu nutzen gilt. Damit wird das Verhältnis des Menschen zur Zeit unter das Leistungsprinzip gestellt. Es kommt nicht darauf an, wie man lebt, sondern darauf, was dabei herauskommt. Die Zeit des Lebens wird dabei zu einer Art Rohstoff, aus dem es möglichst viel zu machen gilt. Für die ersparte Zeit bleibt damit nur die Leere, es sei denn, man nutzt sie zu weiterer Produktion. Die Alternative wäre, die Zeit selbst als Lebensvollzug zu leben. Das Spiel der Kinder, hingegeben an den Augenblick und ohne Hinsicht auf das Ende, steht dafür im Roman. Oder aber die Stammgäste von Nino, die er dann hinausdrängelt, als er seine Kneipe zum Schnellimbiss transformiert: Sie verzehren kaum etwas, sitzen nur da, sie verbringen ihr Leben in seinem Gasthaus. Das ist unspektakulär, es führt zu nichts. Doch darin, und das ist die Lehre, wird eben erfahren, was das menschliche Leben ausmacht. Es ist der mitgehende und antwortende Vollzug des kosmischen Geschehens im eigenen. Freilich, um das zu erfahren, dazu bedarf es der Gelassenheit und einer besonderen Aufmerksamkeit. Darin wird man die Zeit vernehmen als eine Art Musik, von der Momo sagt: »Die Musik ist nämlich von weither gekommen, aber geklungen hat sie ganz tief in mir drin.« (158)
Diesem Thema war übrigens mein erster wissenschaftlicher Aufsatz gewidmet: Physikalische und erlebte Zeit, in: Anstöße, Berichte aus der Arbeit der Evangelischen Akademie, Hofgeismar 1967, 101 ff. 19
Über einige Beziehungen der Vernunft zum Humor Eine Lektüre der »Korrektur« von Thomas Bernhard Von Martin Seel
I. In der Geschichte der Philosophie treten die Komik und ihr Lachen zumeist als Konkurrentin der Vernunft und ihres Sagens auf. Und obwohl eine lautstarke – von Diogenes angeführte, zuletzt durch Bataille und Foucault komplettierte – Minderheitspartei immer wieder das gegenteilige Votum ausgesprochen hat, haben sich die Leitfiguren von Platon bis Heidegger doch fast immer für die bürgerliche Tochter ihrer Namenspatronin entschieden. Daß die Mehrheit der Philosophen, wenn es zur Entscheidung kommt, diese Konkurrenz zugunsten der Vernunft (oder ihrer Schwester, der Wahrheit) und zuungunsten des Lachens entscheidet, liegt aber nicht nur daran, daß es da, wo es gilt, mit Alternativen Ernst zu machen, um die Aussichten der Komik nicht allzu gut bestellt ist. Der Sieg der Vernunft über die Komik hat wesentlich damit zu tun, daß es zur Komik die Richtmaße und Regelungen des Vernünftigen und Verständigen bereits braucht, an denen sich die exzentrische Lust und Not der Lachenden entzünden kann: daß zur Vernunft aber, nach überwiegender Meinung der Philosophen, die komische Disposition nicht unbedingt Voraussetzung ist. Wer sich um die Kultur der Wahrheit und der Vernunft sorgt, braucht für den Spott des Lachens nicht zu sorgen. Es darf daher nicht das Mitleidsmotiv übersehen werden, das die Philosophie dazu bewegt haben mag, nicht der Komik, sondern der Vernunft den Pokal ihrer höchsten Anerkennung zu verleihen. Die Unterlegene schlägt sich auch ohne das Preisgeld durch. Im Unterschied zu dem lachblinden Jorge von Burgos in Umberto Ecos Roman Der Name der Rose liegt den wahrheitsliebenden Juroren in der Regel nichts daran, das Lachen zu liquidieren. In der geschilderten Konkurrenz geht es ihnen vor allem darum, die Konkurrenzf ähigkeit der Komik gegenüber der Vernunft in Zweifel zu ziehen. Darum muß jene im philosophischen Wettstreit stets aufs neue unterliegen. Sobald diese Frage je wieder entschieden ist, ist die lachskeptische Phi losophie mit Freuden bereit, zwei Bezirke einzuräumen, in denen Vernunft und Komik einander zum beiderseitigen Vergnügen begegnen dürfen, ja sollen: den der Weisheit und den der (komischen) Kunst. Im Felde der Weisheit ist es die Ver nunft, die reif wird, auch das Komische zu empfangen; im Felde der komischen Kunst ist es die Spontaneität des Erlebens, die dazu getrieben wird, sich den Listen der Vernunft lachend zu ergeben. Spätestens seit Nietzsche aber ist dieses kontrollierte Szenarium auch philosophisch erschüttert. Nietzsche hat gewissermaßen eine Philosophie daraus gemacht, gegen die Vernunft und für das Lachen zu votieren.
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Es hilft nichts, zu bemerken, es sei ein ganz bestimmtes Lachen, das so geadelt werde (ein seltenes, ein ekstatisches, ein verzweifeltes); auch die Gegenpartei redet ja stets einer bestimmten Vernunft oder Wahrheit das Wort (nicht selten einer emphatischen, die nur zu oft eine recht seltene und nicht immer eine sehr fröhliche ist). Daß selbst im aufgeklärten Zeitalter, und zwar mit den Methoden einer radikalisierten Auf klärung, erneut anders votiert werden kann, daß die Komik und ihr Lachen im Ernst reicher, wirklicher und freier erscheinen kann als die Vernunft im Schmuck ihrer Gedanken, ist ein Skandal, der nicht einfach durch wiederhergestellte Vernunftmehrheiten auszuräumen war. Freilich ist Nietzsche nur ein Symptom. Die Sache des mit ihm öffentlich gewordenen Skandals hatte längst einen anderen, wenngleich oft vergessenen Namen: den des Humors. Nicht des praktischen, sondern des ästhetischen Humors, wie er in der romantischen und nachromantischen Diskussion, bei Friedrich Schlegel und Novalis, bei Jean Paul, Hegel und vielen Nachfolgern zum Thema wird. Am neuen philosophischen Thema des ästhetischen Humors kommt das Verhältnis der Vernunft mit der Komik auf eine Weise zur Diskussion, die die hergebrachte Domestizierung des Verhältnisses übersteigt. Die kritische Destruktion der metaphysischen Einheit des Guten, Wahren und Schönen zieht die Kluft zwischen der Vernunft und dem Lachen nunmehr in den Strudel der geteilten Gewalten des Rationalen hinein. Der ästhetische Humor – Paradigma ist die humoristische Epik – und seine Theorie entwickeln sich als das Bewußtsein einer Totalität, die nicht von einer umgreifenden Vernunft länger abgeschritten und umhegt werden kann. Indem dieser Humor die Formen des Tragischen und des Komischen, des Lyrischen und des Prosaischen, des Sentimentalen und des Naiven durcheinanderwirft, feiert und verflucht er die modernen Entzweiungen in einem Atemzug, ohne sich von einem versöhnenden Ausgang ein gutes Ende zu versprechen. Auf dem Schauplatz der humoristischen Kunst entsteht der Philosophie und ihrem bevorzugten Zögling eine gewitztere Konkurrentin, die sich an die Regeln der alten Rivalität nicht hält. Denn nicht der Protegé, die Vernunft, sondern ihre Protektorin, die in ihrem Namen operierende Vernunftkritik, sieht sich von der humoristisch reflektierten Komik zum Wettstreit gefordert. Die humoristische Literatur stellt die Phi losophie auf ihrem eigenen Terrain. Seitdem aber, seit dieser verwandelten Kon kurrenz, die nun bald zweihundert Jahre währt, ohne daß eine Entscheidung gefallen wäre, liegt ein Verdacht in der Luft, den die vernunftgläubige und den die vernunftskeptische Philosophie aus Angst um ihre Identität beide nicht auszusprechen wagen. Es könnten Vernunft und Komik – Gespielinnen sein. Nehmen wir an, die Zeit für eine Philosophie dieser Obszönität sei gekommen.
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II. Bevor die ästhetischen Zeichen gelesen werden können, muß eine philosophische Stimme zu Gehör gebracht werden, die die heimliche Komplizenschaft der Vernunft und der Komik nur bekanntgibt, um sie ein letztes Mal unter die Kontrolle einer grenzziehenden Ordnung zu bringen. Die subversive Energie des Komischen läßt sich nämlich auch so verstehen, daß die Vernunft diese ihre Unterwanderung doch auch bejahen muß, weil sie in den langen Jugendjahren einer überheblichen Selbststilisierung schmerzlich gelernt hat, daß mit ihr alleine keiner leben will und kann. In diesem Bild räumt sich nicht mehr die selbstherrliche Vernunft dem Komischen ihre unheiligen Bezirke ein. An den Phänomenen des Lachens wird jetzt die Provinzialität auch der rationalen Vermögen erfaßt. In der Komiktheorie Joachim Ritters tut sich die Vernunftkritik mit der profanen Erleuchtung des Lachens zusammen, um die entschleierte Vernunft in die Regionen des endlichen Verstandes einzuweisen. Odo Marquard hat diesen anzüglichen Kompromiß mit der Formel zu Protokoll gegeben, daß »[k]omisch ist und zum Lachen bringt, was im offiziell Geltenden das Nichtige und im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden läßt«1. Ritter und Marquard begreifen das Komische und seine Reaktionen als ein Komplement nicht einfach des Gültigen oder als geltend Akzeptierten, sie verstehen es als ein Komplement der in menschlichen Verhältnissen unvermeidlichen – und unvermeidlich instabilen – Polarität von Geltendem und Nichtigem, Relevantem und Irrelevantem, Gebotenem und Verbotenem. Das Lachen wird als eine Kompensation dieser Differenz verstanden, die es nicht tilgen kann und die es nicht tilgen will. Belehrt durch diesen Realismus des Lachens begnügt sich die Vernunft damit, auf der Seite des üblicherweise Geltenden und nicht auf der des üblicherweise Nichtigen zu stehen, ohne sich durch das prekäre Verhältnis dieser beiden Pole weiter beunruhigen zu lassen. Dieses Abkommen legt den Witz des Komischen darauf fest, die sittliche Ordnung des Lebens gerade dadurch zu bejahen, daß es sich um die Frage nach dem Sinn und dem Recht dieser Ordnung nicht weiter schert. Die komische Opposition gegen die Separierung von Geltendem und Nichtigem wird so zugleich zu einer Opposition gegen eine Vernunft, die genauer wissen will, wie es denn um die Gültigkeit der jeweils vorherrschenden Auslegung des Geltenden und des Nichtigen steht. Der Aufstand gegen diesen faulen Frieden läßt nicht lange auf sich warten. So leicht das kompensatorische Lachen, die (durchaus legitime) bürgerliche Tochter der Komik, sich mit den neuen Statuten abfi nden kann, ihre artistischen und satanischen Geschwister machen da nicht mit. Unter der Führung des ästhetischen Humors schließen sie den ungeheuerlichen Pakt mit den Mächten der Reflexion. Odo Marquard: Exile der Heiterkeit, in: ders. u. Wolfgang Preisendanz (Hg.): Das Komische, München 1976, 133-151, 141. Vgl. Joachim Ritter: Über das Lachen, in: ders.: Subjektivität, Frankfurt/M. 1974, 62-92. 1
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Der Wahlspruch dieser Revolte besagt, daß die Opposition gegen eine Aussöhnung mit der Aufteilung der geschichtlichen Welt in nun einmal Geltendes und nun einmal Nichtiges die wahre Bewegung der Vernunft sein könnte – einer Vernunft, die sich aus der idealistischen und geschichtsphilosophischen Hybris befreit, ohne sich am Katzenjammer ihrer Verfehlungen in Exilen der Entsagung ohnmächtig heiter zu weiden. Die Kunst des Humors verspricht mehr zu bieten als einen Balsamregen für die über die Kalamitäten ihrer Auf klärung aufgeklärte Seele.
III. Die soweit bloß annoncierte Angelegenheit der (Kritik der) Vernunft mit dem (ästhetischen) Humor ist keine Episode, die etwa, mit den Heroen Cervantes und Rabelais im Hintergrund, auf die Strecke zwischen Sterne und Heine eingrenzbar wäre. Diese Aff äre ist die Quelle einer starken literarischen Strömung, die sich im deutschen Sprachraum seit Jean Pauls Zeiten über Hoff mann und Keller bis weit ins zwanzigste Jahrhundert, über den Außenseiter Herzmanovsky bis zu Doderer und Albert Drach, bis zu Arno Schmidt und Günter Grass erstreckt. Diese Traditionslinie, mit ihren Verzweigungen und Kehren, ist das große Thema des Germanisten Wolfgang Preisendanz. 2 Die Brisanz dieses Themas wird vor allem dann ersichtlich, wenn man innerhalb der Kunstform des literarischen Humors die Zäsur ins Auge faßt, die eine neue heroische Epoche dieser Schreibweise eingeleitet hat. Diese Zäsur ist am genauesten markiert durch den Beckett der frühen und mittleren Prosa, vor allem durch Watt und den Namenlosen. Diese Zäsur ist weiterhin greif bar in manchen Erzählungen von Borges sowie in den Romanen Pynchons und Bernhards. Die Grenze zu diesem Einschnitt läßt sich beschreiben anhand der These von Preisendanz, im literarischen Humor werde die Rollendistanz zur konstitutiven Rolle einer schreibend imaginierten Subjektivität, die sich der Verpfl ichtung auf die Sichtweisen und Mitteilungsformen, aus denen sie operiert, gleichwohl hartnäckig widersetzt. 3 Doch auch dieser Fluchtpunkt einer gegen sinnig projektierten Subjektivität wird in den Erfi ndungen des neuesten Humors in den Strudel einer Rede gezogen, der es gegeben ist, das Extreme der Gegenwart extrem zu sagen, weil sie es darauf anlegt, in ihrer Rede mehr als ein Extrem zu behaupten. Die Rolle des klassischen Humoristen bleibt in dieser Prosa unbesetzt. Zwar legt es auch die Stimme des Beckettschen Namenlosen in ihrem Weltverlust darauf an, die Bedeutungsstruktur des ihr beengend verbliebenen sprachlichen Bewußtseins permanent zu zersetzen, um gegen alle Faktizität so etwas wie eine Wolfgang Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft, München 21976; ders.: Wege des Realismus, München 1977. 3 Wolfgang Preisendanz: Humor als Rolle, in: Odo Marquard u. Karlheinz Stierle (Hg.): Identität, München 1979, 423-434. 2
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unantastbare Souveränität zu erlangen. Aber die Konkurrenz mit allen vorgeprägten Sinn-Institutionen ist aus der Entzugsposition einer einsamen Welt-Erledigung hier nicht mehr zu gewinnen. Auf dieses »in sich selbst zurückgenommene Scheitern« einer autochthonen Sinnerwartung reflektiert der moderne Humor, indem er das von ihm in Gebrauch genommene Bedeutungsinventar methodisch »in Ordnung und innerhalb seiner Ordnung in Gegensatz zu seiner Ordnung« 4 bringt. Das Insistieren auf der Abwesenheit einer letzten Instanz ist ein generelles Merkmal der neueren humoristischen Kunst. Humoristisch, diesen Stichworten zufolge, ist eine Darbietungsweise, die die ideologischen und ästhetischen Ordnungssysteme, mit denen sie operiert, systematisch gegeneinander geltend macht, ohne diese Oppositionen sei es ideologisch, sei es ästhetisch in einer höherstufigen Konstruktion zu vermitteln. Diese ästhetische Methodik ist derjenigen einer post-rationalistischen Vernunftkritik, die im Namen einer vervielfältigten Vernunft antritt, im Herzen verwandt. Denn diese Vernunftkritik, die seit Kant gegen ihre eigenen Reduktionen und Überbietungen arbeitet, bringt den Zusammenhang der rationalen Orientierungsund Begründungsweisen zur Sprache, ohne diese in eine zusammenhängende Begründungssprache überführen zu wollen. Wenn diese Verwandtschaft sich belegen läßt, besteht Anlaß, an einer Prämisse zu zweifeln, die Preisendanz mit Ritter und Marquard teilt 5 : »Wenn Jean Paul den Humor als die ›Frucht einer langen Vernunft-Kultur‹ versteht, so kann das im Kontext seiner gesamten Humortheorie nur bedeuten, daß es das Repressive dieser Vernunft-Kultur ist, was den Humor als deren Widerspiel hervortreibt.« Daß das nur die halbe Wahrheit ist, und zwar auch bei Jean Paul, daß es nämlich das Repressive einer repressiven sei es unitarisch bornierten, sei es funktionalistisch verengten Vernunftkultur ist, das den Widerspruch des Humors provoziert, kann der Blick in eines der Hauptbücher der gegenwärtigen humoristischen Prosa zeigen.
IV. Der 1975 erschienene Roman Korrektur nimmt im Werk Thomas Bernhards eine Sonderstellung ein. Die Präsentation einer aus Not hybriden und darum in ihren erhabensten Konsequenzen stets absurd inkonsequenten Denkbewegung, Bernhards spezifi scher Beitrag zur Bewußtseinsliteratur der europäischen Moderne, hat hier einen Höhepunkt erreicht. Dieses Buch verfeinert und steigert die seit Frost mit einem zunehmenden Bewußtsein für ihr komisches Potential entwickelten Mittel und gibt sie für die geradlinigeren späteren Werke einer neuen Verwendung
4 5
Thomas Bernhard: Frost, Frankfurt/M. 21972, 297. Preisendanz: Humor als Rolle [Anm. 2], 432.
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frei. Die Zentralfigur des Romans ist der Biologe und philosophische Schriftsteller Roithamer, dessen »Denken und Widerdenken« sich stets »ausschließlich auf alles« bezieht. In der Figur des Roithamer kulminieren Bernhards auf desaströs unproduktive Weise überproduktiven Charaktere, die sich von ihren wissenschaftlichen und künstlerischen Gesamtkunstwerken die Erlösung von allen ihren Übeln erhoffen. Da sie andererseits aber um die Vergeblichkeit ihrer unerbittlichen Sehnsucht wissen, bemißt sich die Lebensenergie dieser denkenden Helden letztlich gerade an der Aussichtslosigkeit ihrer wahnhaften Projekte – bis diese, wie im Fall Roithamers, schließlich in der »eigentlichen Korrektur« des von ihnen besessenen Lebens tödlich zur Erfüllung kommen. Es ist ein Grundmotiv der fi ktiven Prosa Bernhards (das im Untergeher zum Hauptmotiv wird und das die Grunddifferenz zu den autobiographischen Schriften bezeichnet), daß das Scheitern seiner Helden immer wieder darin besteht, an der Kunst ihres Scheiterns zu scheitern. Dieses Motiv treibt die Korrektur auf die Spitze. Denn hier ist es gerade das unwahrscheinliche Gelingen, die Vollendung des Baukunstwerks, dem Roithamer seine ganze Kraft widmet, an dem der »fortwährende Auf klärungsprozeß, der alles betriff t«, sich in monumentaler Erstarrung erschöpft. Was diese tragische Konstellation zu einer abgrundtief komischen macht, ist genau das Bewußtsein, das Roithamer von der verheerenden Dialektik seiner Bemühungen gewinnt – und ist die Konsequenz der immer neuen Übersteigerung, die er aus seiner dilemmatischen Lage zieht. Im Gegensatz zu den rhetorischen Listen des verelendeten Namenlosen legt das kompromißlose Autonomiestreben des begüterten Roithamer es darauf an, sich aus den Schranken einer entfremdeten Wirklichkeit durch eine Taktik der ewigen Überbietung zu lösen. Der Unbedingte hadert mit allem Bedingten: mit dem Unverfügbaren der Natur, mit dem Fluch und der Begünstigung seiner Herkunft, mit der Angewiesenheit auf andere, mit den Voraussetzungen jeder kleinsten Überlegung, schließlich mit den banalsten Ordnungen seiner räumlichen Umgebung. Der Fluchtpunkt dieser Anstrengung ist es, all das nicht Hintergehbare durch einen ästhetischen Gesamtentwurf doch zu hintergehen. Aber auch die Kunstwelt, die Roithamer im Bau eines »Wohnkegels« für seine Schwester projektiert, vermag den totalisierenden – weil vollkommen »rücksichtslosen« – Denkzwang nicht zu lindern. Vielmehr bringt die gegen alle Widerstände vollbrachte Verwirklichung des ästhetischen Vorhabens den Wahn der Transparenz nur gesteigert zum Ausdruck, indem sie einem Glücksgebot Form und Gewalt verleiht, das die lebenslang bekämpfte Repression des im Haß geliebten Altensamer Elternhauses noch erheblich überbietet. »Die Idee ist gewesen, zu beweisen, daß eine solche Konstruktion, die vollkommenes Glück verursachen muß, möglich ist, so Roithamer.« Es ist gerade die wohlberechnete Vollkommenheit des Bauwerks, die bewirkt, daß etwas anderes sich beweist: daß selbst der »geliebte Mensch« des vollkommenen Glücks nicht fähig ist, das der für ihn geschaffene Kunstraum in Stein und Glas und Ziegel unkorrigierbar defi niert. Das Zwingende der Korrektur liegt nicht zuletzt in ihrer ästhetischen Korrektur der Idee
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einer ästhetisch erlösenden Korrektur – ein Revisionsverfahren, das in dem Roman Alte Meister wieder aufgenommen wird. Keineswegs also gibt die Korrektur eine verzauberte Apologie des Roithamerschen Denkens. Vielmehr wird dieses in mehrfacher und mehrfach gebrochener Perspektive extemporiert. Die erste Perspektive ist gegeben in der Wiedergabe der Gedanken, Schilderungen und Tiraden des Roithamer, wie sie im ersten Teil des Buchs vom Erzähler überliefert und im zweiten Teil aus Roithamers Aufzeichnungen (wiederum aus der Hand des Erzählers) zusammengestellt sind. Den zweiten Pol bilden die Berichte, Kommentare und Selbstcharakterisierungen des Erzählers, der mit Roithamer befreundet war und der ein kongenial ergebener Bewunderer der »Existenzbegabung« des überlegenen Freundes ist. Den dritten Pol bildet die Gegenwelt des Tierpräparators Höller. Durch den Bau eines Wohnhauses inmitten der »Engstelle« eines tosenden Bergbachs, das Roithamer zu seinem Kegelprojekt inspiriert hat, gelingt es Höller, in einer archaischen Welt des Schweigens »in seiner Idee« zu leben. Zum Verständnis der Korrektur ist es entscheidend, die Spannungen, Mißverständnisse und paradoxen Beziehungen zwischen den drei zentralen Figuren zu beachten. Es sind nicht allein die Effekte der Übertreibung und des Kurzschließens von Gedankengängen, die wahnwitzigen Organisationsprobleme einer intellektuellen Hochleistungspraxis und die peinigenden Intrigen auf der schaurigen Heimatbühne Altensam, die für die komische Konstitution des Romans verantwortlich sind. Verantwortlich hierfür ist eine Darstellungsweise, die den Exzeß des Roithamerschen Denkens zum Sprechen bringt, indem sie ihn aus der Warte der kontrastiven Welten doch zugleich hintergeht, nicht ohne Roithamer seinerseits gegenüber der Borniertheit des Epigonen und der Beschränktheit des Harmonisten ins Recht zu setzen. Mit den themenunabhängig wiederkehrenden Sequenzen einer durchaus unmittelbaren Sprach- und Situationskomik, die weder den Kalauer noch die Slapstickeinlage scheut; im unberechenbaren Rhythmus einer Syntax, die in ihren Dehnungen und Verkürzungen den panischen Duktus einer absoluten Reflexion imitiert und persifl iert; vermöge eines Stils, der, was Tempus und Modus betriff t, einen bleibenden Standpunkt nicht kennt; durch das fortwährende Ineinanderschieben der bei aller Verwandtschaft kraß differierenden Ideale eines rigoros authentischen Lebens: In der Verwendung dieser und weiterer Ausdrucksmittel ist der Gesamttext der Korrektur von einem Geist der ironischen Relativierung getragen, die jede Position und Perspektive fast augenblicklich in eine ihrer Kehrseiten umschlagen läßt, ohne diese Spannung am Ende ausgleichend zu relativieren.
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V. Gegen Ende des ersten Teils der Korrektur bereitet sich der Erzähler in der tosenden Stille der »Dachdenkkammer« des Höllerschen Hauses auf die Durchsicht von Roithamers schriftlichem Nachlaß vor. Mit Blick auf die Werkstatt Höllers, den er bei der Arbeit beobachtet und von dem er sich seinerseits beobachtet fühlt, räsoniert er voller Unruhe, wie diese Aufgabe zu bewältigen ist. Dabei kommt es zu einem zunehmend wahnhaften Agieren des Nachlaßverwalters, das seiner Rolle als Eckermann des genialen Freundes immer groteskere Züge verleiht 6 : »Die Hauptschrift Roithamers, nämlich jene über Altensam und alles, das mit Altensam zusammenhängt, unter besonderer Berücksichtigung des Kegels, in welcher schließlich, wie ich gleich bei der ersten Berührung mit dieser Schrift im Spital gesehen habe, alles, was Roithamer jemals gedacht hat, in der konzentriertesten und in der ihm entsprechendsten Weise niedergelegt und wie nichts anderes von ihm zur Veröffentlichung geeignet ist, werde ich so, wie sie ist, seinem Verleger zukommen lassen, die erste, also die achthundert Seiten lange Niederschrift, und die zweite dreihundert Seiten lange Fassung dieser Niederschrift und die dritte nurmehr noch achtzig Seiten lange Fassung der zweiten Niederschrift, alle diese drei Fassungen der Niederschrift Roithamers, denn alle diese Fassungen gehören zusammen, die eine jeweils aus der andern und sind ein Ganzes, ein über tausend Seiten umfassendes Ganzes, in welchem alles die gleiche Bedeutung hat und aus welchem man nicht das geringste herausnehmen darf, weil sonst alles nichts mehr ist, und ich dachte jetzt, wieder in der Höllerschen Dachkammer hin und her gehend, daß Roithamer, indem er nach vieljähriger Arbeit die erste Fassung fertig gehabt und daran gezweifelt und diese erste Fassung durch eine zweite ersetzt und an dieser zweiten Fassung ebenfalls gezweifelt hatte und eine dritte Fassung hergestellt hatte, eine Fassung jeweils aus der vorangegangenen, an welcher er zweifeln mußte, und indem er zuletzt, kurz vor seinem Tod, also genau genommen schon auf der Fahrt von London nach Altensam, im Zuge dann auch noch die letzte Fassung, die Achtzigseitenfassung, zu korrigieren und aufzulösen begonnen und dadurch, wie er glaubte, zu vernichten angefangen hatte und indem er, wie er glaubte, diese letzte kürzeste Fassung auch noch einmal kürzen und eine noch kürzere Fassung hatte herstellen wollen, man denke, aus einem über achthundert Seiten umfassenden Material schließlich ein solches nurmehr noch zwanzig oder dreißig Seiten umfassendes, wie ich weiß, und dadurch, wie er glaubte, überhaupt das ganze Produkt, das er immer als sein wichtigstes Geisteshauptprodukt bezeichnet hatte, dann aber angezweifelt und vernichtet hatte, wie er glaubte, gerade durch diesen Vorgang des immer wieder Umwerfens alles Denkens in dem Ganzen und Korrigierens und schließlich, wie er glaubte, vollkommenen Vernichtens auf der Reise zum Begräb6
Thomas Bernhard: Korrektur, Frankfurt/M. 1975, 178 ff.
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nis der Schwester schon außerhalb von London, über Dover, Brüssel etcetera, wie ich aus seinen Korrekturen ersehen kann, daß durch diesen Vorgang, aus dem über achthundert Seiten umfassenden Ganzen, ein solches von nur vierhundert und dann nurmehr noch hundertfünfzig und dann nurmehr noch achtzig und dann endlich ein solches von nicht einmal zwanzig Seiten, ja in letzter Konsequenz überhaupt nichts mehr von dem Ganzen übrig zu lassen, dadurch erst das Ganze entstanden ist, alles zusammen ist das Ganze, sagte ich mir, während ich auf die Höllerwerkstatt hinunterschaute und den Höller beobachtete und gleichzeitig dachte, daß ich dieses Ganze, das ich im Rucksack aus dem Spital in die höllersche Dachkammer geschleppt habe, dieses sogenannte Hauptwerk Roithamers mit dem ganzen übrigen Nachlaß Roithamers in dem mir von meiner Mutter ins Spital gebrachten Rucksack und es ist grotesk, dachte ich, daß ich gerade in diesem Rucksack Roithamers Nachlaß aus dem Spital geschleppt habe, in welchem sonst nur der Hochgebirgsproviant unserer Familie befördert wird, in dem sonst nur Wollsocken und Würste, Schmalz und Fußbinden, Ohrenschützer und Schuhbänder, Zucker und Brot, und alles vollkommen durcheinander, befördert wird, gerade in diesem Hochgebirgsrucksack habe ich also den Nachlaß Roithamers in die höllersche Dachkammer hereingeschleppt und ich muß sagen geschleppt, denn es handelt sich um Tausende von Seiten, aber, so dachte ich, wie ich weiß, um Hunderte und Tausende von Bruchstücken, zusammenhängenden einerseits, überhaupt nicht zusammenhängenden andererseits, und wieder dachte ich, am Fenster stehend, überlegend, ob ich mich auf den alten Sessel setzen solle oder nicht, ich werde diese Bruchstücke aber nicht bearbeiten, ich werde diesen Nachlaß nicht bearbeiten, ich werde alles ordnen oder wenigstens den Versuch machen, Ordnung in diesen riesigen Haufen von Geschriebenem hineinzubringen, aber nichts bearbeiten, allein das Wort bearbeiten oder Bearbeitung verursachte mir immer schon Übelkeit. Tatsächlich hatte ich bei meiner Ankunft lediglich das sogenannte Hauptwerk Roithamers, die Schrift, die sich mit Altensam und allem, das mit Altensam zusammenhängt, unter besonderer Berücksichtigung des Kegels, in die Schreibtischlade gelegt, während ich den übrigen Nachlaß noch im Rucksack hatte, weil mir nicht klar gewesen war, wie ich den Nachlaß aus dem Rucksack herausbringe, um ihn nicht noch mehr durcheinanderzubringen, ich hatte das sogenannte Hauptwerk herausgenommen und in die Lade gelegt und den Rucksack neben dem Schreibtisch auf den Diwan gelegt, da auf dem Diwan lag jetzt noch immer der Rucksack, der, wahrscheinlich von meinem Vater, mit jetzt eingetrocknetem Hasenblut beschmutzt worden war, wie ich sah und ich überlegte jetzt, ob ich den Rucksack auspacken, den Inhalt des Rucksacks, diese Hunderte und Tausende von Seiten sorgf ältig herausnehmen und im Schreibtisch unterbringen solle, ob sich nicht jetzt, in diesem doch schon beängstigenden Zustand, in welchem ich mich befand, in jeder Weise unschlüssig und in immer größerer Erregung über die Tatsache des hereingebrochenen Wetterumschwungs, die Gelegenheit böte, den Inhalt des Ruck sacks aus dem Rucksack herauszunehmen, nach und nach, so sorgfältig und
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mit Verstand und in aller mir möglichen Ruhe der Hände, daß ich die, wie mir scheint, große Unordnung der Blätter nicht noch in eine viel größere Unordnung bringe, diese Überlegung, den Rucksack auszupacken oder nicht, brachte mich an den Rand der Verzweiflung und ich dachte einmal so, einmal so, einmal, ich packe den Rucksack aus, dann, ich packe den Rucksack nicht aus, schließlich ging ich auf den Rucksack zu und packte den Rucksack und leerte den Inhalt des Rucksacks auf den Diwan, ich hatte den Rucksack plötzlich gepackt und umgestülpt und den Inhalt auf den Diwan geleert. Das hätte ich jetzt nicht tun sollen, sagte ich mir und ich trat einen Schritt zurück und noch einen Schritt und dann noch einen Schritt und beobachtete vom Fenster aus, mit dem Rücken also am Fenster, den Papierhaufen, der sich jetzt, wie ich ihn vom Fenster aus beobachtete, noch bewegte, nach und nach rutschten noch ein paar Blätter des Nachlasses Roithamers von oben nach unten, wo Hohlräume in dem Papierhaufen waren, gaben diese Hohlräume nach, sah ich, und wieder gingen Blätter zu Boden. Ich hielt mir mit der fl achen Hand den Mund zu, denn ich hatte aufschreien wollen und drehte mich, als ob ich Angst gehabt hätte, in dieser fürchterlichen, gleichzeitig fürchterlich-komischen Situation entdeckt zu sein, um. Aber tatsächlich und natürlich hatte mich niemand beobachtet. Der Höller hatte den riesigen schwarzen Vogel auf seinem Schoß und nähte ihn zu.« Im Anschluß an diese Szene steigert sich der Erzähler immer weiter in eine Panik hinein, aus der er schließlich vom Auftreten des Höller erlöst wird. Hatte dieser zuvor Unmengen an Zellstoff in den Körper des toten Vogels hineingestopft, so verstaut der Erzähler die durcheinanderfallenden Papiere wahllos in die Schubladen des Roithamerschen Schreibtischs. Die Bewegung, die er hiermit vollzieht, verhält sich freilich umgekehrt zu derjenigen des Präparators. Läßt dieser, in Roithamers Worten, »aus reinen Naturgeschöpfen reine Kunstgeschöpfe« entstehen, so verwandelt die verzweifelte Operation des Erzählers das literarische Werk seines Freundes in eine Art Naturzustand zurück – in jene »uns lebenslänglich unbegreifl iche und unverständliche Natur, in welcher alles Vernunft ist und in welcher gleichzeitig die Vernunft nichts zu suchen hat«, wie es in Roithamers Aufzeichnungen im zweiten Teil des Buchs heißt. Stringenz schlägt um in Kontingenz, höchste Konzentration in äußerste Panik, Ergebenheit in Aufsässigkeit, Pathos in Slapstick, Satz in direkten Gegensatz – und dies in permanenten Umschwüngen, die den Akteuren ein ums andere Mal die Kontrolle über die Natur ihres Daseins verwehren, nach der sie mit aller Macht streben.
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VI. »Korrektur der Korrektur der Korrektur der Korrektur«, vom »sichtenden und ordnenden« Erzähler mit dem devot verkündenden und leise ketzerischen »so Roithamer« versehen, lautet eine der letzten Eintragungen des der letzten Konsequenz zuneigenden Helden. Die von ihm selbst heroisch verlängerte Kette der Korrekturen und Selbstkorrekturen zu durchschlagen, ist Roithamer am Ende entschlossen. Nicht länger die unabschließbare Korrektur des Korrigierten, nicht diese »Korrektur der Korrektur«, die Korrektur des Korrigierens soll sich im Anwesen der Lichtung ereignen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, den Sprung in die Schlinge des Unverborgenen einer letzten Gewißheit zu wagen. Weil das Geschehen der Korrektur für Roithamer letztlich nur ein Mittel ist, um jenseits der Korrekturen anzukommen, muß der Ausbruch aus der Isolationshaft der »Korrekturzelle« mit der Liquidation ihres Gefangenen enden. Selbst in dieser Konsequenz, der sich Roithamer unterwirft, drückt sich noch ein Wissen aus, dem sich die wahlverwandten Freunde weiterhin angestrengt verweigern: Auch das konsequenteste Leben könnte nicht mehr als ein konsequent inkonsequentes sein. Wer aufs Ganze geht, dem muß es versagt bleiben, sich in ein Ganzes zu fügen. Gerade diese Einsicht aber ist es, die Roithamers versengendem Glücksverlangen unerträglich ist; aus diesem Begehren macht er dem falschen Frieden und den beschränkenden Ordnungen seiner Umgebung und macht er schließlich sich selbst den Prozeß. In der destruktiven Seite dieses Kampfs ist Bernhard hier wie andernorts mit seinem Helden durchaus solidarisch – nicht aber hinsichtlich der Strategien und Erwartungen, mit denen dieser ihn führt. Aufs Ganze gehen, ohne auf ein Ganzes zu gehen: Das ist das dissonante Echo, das die Korrektur der ersten Stimme ihres Texts verleiht. Ihr Humor ist Rettung des Pathos, ohne Pathos des Rettenden zu sein. Der Geist dieses Pathos entspringt der ästhetischen Kritik einer in sich selbst verliebten Rationalität, die sich in korrektiver Vollendung verzehrt.
VII. »Der Geist«, sagt Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, »gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit zu sich selbst fi ndet«. Unter den philosophischen Traditionsgütern, die in der Korrektur wachgerufen und verballhornt werden, steht dieser Gedanke an erster Stelle. Der fi ktive Fall Roithamers läßt erkennbar werden, daß der Geist seine Wahrheit in dem Augenblick verlieren kann, in dem er aus der Zerrissenheit absolut zu sich fi nden will. Bernhard nimmt die vernunftkritischen Theoreme, auf die er anspielt, auf hinterhältige Weise wörtlich. Kein Autor – ob Montaigne oder Schopenhauer, Kant oder Nietzsche, Wittgenstein oder Heidegger – wird im genauen Sinn seiner Lehre assoziiert. Um die Gestalt eines Helden, der sich als empirisches Subjekt den erhabensten der
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einander durchkreuzenden Ideale der Vernunftkritik auf einmal verschreibt, errichtet der Roman ein Spiegelkabinett philosophischer Parodien. Bernhards negative Phänomenologie des Denkens spielt die Korrektur der Vernunft und die Vernunft der Korrektur nicht gegeneinander aus, sondern ineinander ein. Durch die Mimikry der humoristischen Imagination wird der Irrwitz einer solipsistischen Seinsermächtigung scheinbar überboten, um befreiend unterboten zu werden. »Insofern ließe sich eine scheinbare Angrenzung des Humors an den Wahnsinn denken, welcher natürlich, wie der Philosoph künstlich, von Sinnen und Verstand kommt und doch wie dieser die Vernunft behält; der Humor ist, wie die Alten den Diogenes nannten, ein rasender Sokrates«, schreibt Jean Paul in § 35 seiner Vorschule der Ästhetik. Die Chiff re der Korrektur wird in der Korrektur durchaus als eine, nach Jean Pauls Worten, »vernichtende Idee« gegen die erstarrten Konstellationen der Welt des Romans mobilisiert. Gleichzeitig ist die Idee der Korrektur eine durch den Roman vernichtete Idee, da der Gesamttext gegen das überbietende Telos der »eigentlichen Korrektur« komponiert ist, auf die er im Gang des Erzählten unaufhaltsam zusteuert. Im Widerspiel der Korrekturbewegungen entspricht dieser ungeheure Humor der Jean Paulschen Defi nition eines »umgekehrt Erhabenen« auf eine Weise, die dieser Bestimmung eine neue Bedeutung verleiht. Der Schock der reflexiv umschlagenden Komik bewirkt hier nicht mehr nur eine vorübergehende Desorganisation des endlichen Verstandes. Er redet einer konstitutiven Irritation das Wort, die sich in der Organisation einer Intellektualität längst eingerichtet hat, die nicht mehr im Glauben an absolute Fundamente steht oder auf der unendlichen Suche nach ihnen ist. Bernhards modern zugespitzter Humor legt es nicht darauf an, den Verstand gewalttätig zu versetzen, »um vor der Idee fromm niederzufallen«, wie es bei Jean Paul heißt; es wird der versöhnenden Vernunft Gewalt angetan, um die Energie der Korrektur um den verheerenden Verstand der einen erlösenden Idee zu bringen. Gegen die Hoff nung auf eine defi nitive Korrektur der Freiheit – gegen den Glauben an ihre Vollendung – insistiert das polyphone humoristische Dementi auf der prekären Freiheit der Korrektur. Gegen ihre falschen Propheten paktiert dieser Humor mit dem befreienden Drang einer unverklemmten Vernunft. Das noch gegen die Borniertheit ihrer einzelnen komischen Effekte empfi ndliche Lächerliche der Korrektur tanzt nicht einfach und nicht länger, wie es bei Ritter heißt, »auf dem Kopfe der Vernunft«; dieser Tanz fi ndet jetzt in ihrem Haupt und ihren Gliedern statt. Eine lesende Wahrnehmung, die auf ein spekulatives Atemholen nicht verzichten will, kann hier die Lust einer korrektiven Vernunft erfahren, die insofern selbst humoristisch genannt werden kann, als die von ihr geleitete Praxis eine Form der Orientierung ist, die die verschiedenen Begründungsformen, die sie gegebenenfalls in Gebrauch nimmt, systematisch gegeneinander geltend macht, ohne diese Opposition sei es theoretisch, sei es moralisch, sei es ästhetisch in einen Begründungsgang integrieren zu können. Und ohne es zu wollen. Die Einheit dieser Vernunft ist nicht in die eine Perspektive des Vernünftigen zu bringen, weil die Rationalitätsformen, in die
Eine Lektüre der »Korrektur« von Thomas Bernhard
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sie sich teilt, nicht in einer diskursiven Prozedur versöhnbar sind. Der Wunsch nach solcher Aussöhnung übersieht, daß die theoretische Wahrheit über den Zustand der Welt, die praktische Wahrheit über die Angemessenheit des individuellen und kollektiven Handelns und die ästhetische Wahrheit über die Eminenz weltbildender Erfahrungen sich mit Notwendigkeit auf Voraussetzungen stützen, die nur jeweils anhand der alternativen Wahrheitsfragen geklärt werden können. Wie der Humor in seinen Verfahren können auch das vernünftige Überlegen und Handeln keine der Positionen, auf die sie sich gleichwohl stützen müssen, unantastbar für sich bestehen lassen. Wie die literarischen Gattungen unter dem Druck der humoristischen Detonation ihre wohlumrissenen Begrenzungen verlieren, löst sich die Festung der Vernunft in der selbstkritischen Moderne in ein nicht wieder synthetisierbares Feld mehrseitiger Kontrastierungen auf. Die Überschreitung der Vernunft, d.h. jetzt: der einzelnen Formen der Begründbarkeit, die in kritischer Abhängigkeit und daher nur relativer Autonomie ineinander verzahnt sind, wird erkennbar als Vernunft der Überschreitung. Denn vernünftig ist und befreiend wirkt, was im jeweils Geltenden das Nichtige und im jeweils Nichtigen das Geltende geltend macht, ohne ein angeblich Geltendes in Anspruch zu nehmen, das Gelten und Nichtigsein unendlich übergreift.
VIII. Ist der Streit zwischen der Vernunft in ihrem Sagen und der Komik mit ihrem Lachen nach dieser Verkündung ausgestanden? Nicht doch – er hat sich nur gewandelt. Diese Verwandlung hat die hergebrachten Parteien geschwächt und gestärkt. Die Vernunft hat ihren Panzer verloren und dafür ein reflektiert komisches Selbstbewußtsein gewonnen. Die Komik hat ihren Spielplatz verlassen müssen und dafür den Ernst einer Muse der Befreiung gewonnen. Wer von beiden die Schönere sei, interessiert die beiden nicht mehr. Um Schönheit, um Anmut, um Würde, so offenbart sich jetzt, ist es in der Konkurrenz, von der hier zu erzählen war, im Grunde nie gegangen. Darum ging es, wer von beiden, Vernunft und Komik, die Erhabenste im Lande des Menschlichen sei. Es ging also darum, welche von beiden nicht die schönste Wirklichkeit, sondern die ergreifendste Möglichkeit der Menschen repräsentiere. Darum aber geht es nicht mehr, seit die Agenten der beiden Konkurrentinnen ihr jüngstes Kommuniqué bekanntgegeben haben, das die empfi ndliche Kollaboration der beiden besiegelt. Erster Paragraph: Die Erhabenheit der Vernunft ist die Erhabenheit ihrer humoristischen Konstitution. Zweiter Paragraph: Die Erhabenheit der humoristischen Komik ist die Erhabenheit ihres vernünftigen Unglaubens gegenüber nur einer Vernunft. Was jetzt, was nach diesem Abkommen beginnen könnte, ist der Streit, ist das Gespräch einer Vernunft, die im Streit ihrer Sprachen die Wachheit des Lachens nicht länger verschmäht. Dieses unser Gespräch mit dem Fremden am Vertrauten und dem Vertrauten am Fremden
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sieht sich auf viele Stimmen verteilt und ins Gerede mehrgeschlechtlicher Beziehungen gebracht. Die vertrauten Paare sehen sich, lose gebunden, unter lose verbundene Paare gemischt. Hier verwirrt die Heiterkeit der ernsten Kunst die blasse Lässigkeit der Theorie; dort betört die rauhe Stimme der Moral die Reinheit einer müden Lust; im Schatten drüben erzürnt der Traum der Trägheit den kühnen Schwarm der Phantasie … Versagen wir es uns, das neuerwachte Leben ins kalte Licht der alten Übersichtlichkeit zu tauchen. Grüßen wir zum Abschied noch den guten praktischen Humor, der tapfer trotzdem mit uns lacht, wenn das Treiben manchmal doch zu bunt und allzu grausam wird. Auch dieser Humor ist ja auf seine Weise eine Kunst, mit der die Kunst des ästhetischen Humors ihre heiklen Händel treibt. Ist jener die Kunst, nicht mit dem zu hadern, wogegen alles Hadern und Nörgeln nicht hilft, ist dieser die Kunst, mit der Beschaulichkeit zu hadern, die alles scheinbar Unvermeidliche als Übermacht des stummen Schicksals nimmt. Und wie der ästhetische Humor verfl acht, wenn er sich mit der Befangenheit im Wirklichen versöhnt, so wird der praktische Humor zur falschen Praxis, wenn er sich im Trost seines Lachens von allem Prinzipiellen unbefangen wähnt. Auch mit bloß einem dieser feindlichen Gesellen wird die humoristisch verjüngte Vernunft sich nicht gemein machen wollen. Sie, die ja ihrerseits nur die Protektorin der Freiheit (nicht der ihren, der unseren!) ist, kann die Befreiung aus aller Befangenheit auf Dauer so wenig verlockend fi nden wie die Befangenheit in nur einer Form der Befreiung. Diese Weisheit hat die Erfahrung mit dem Humor der Korrektur sie gelehrt. Dieser Humor, mit einem Wort, verspricht eine Ethik der Rationalität, die keiner ihrer Temperamente und keiner ihrer Spielarten, nicht der moralischen und auch der ästhetischen nicht, allein anvertraut werden darf.7
Dieser Beitrag ist eine leicht überarbeitete und erweiterte Fassung eines Texts, der im Jahr 1986 in der Zeitschrift Akzente (H. 5, 420-432) erschienen ist. 7
Stimmen des Mythos, Stimmen der A nteilslosen Zur nomadischen Poetik von Mario Vargas Llosa Von Andreas Hetzel
Kann die zeitgenössische Literatur denjenigen eine Stimme verleihen, die an den Rändern der Weltgesellschaft um ihr Überleben kämpfen, die systematisch ihrer Existenzgrundlage, Kultur und Sprache beraubt werden und denen zugleich verwehrt wird, an den vermeintlichen Segnungen einer westlich geprägten Moderne teilzuhaben? Mario Vargas Llosa, 1936 in Arequipa/Peru geboren, widmet mehrere seiner Romane genau dieser Frage. Insbesondere der 1987 im spanischen Original erschienene Geschichtenerzähler (El hablador) 1 nimmt sich dem Schicksal der Marginalisierten an. Der Autor führt seine Leser an den oberen Marañón, einen Seitenarm des Amazonas, in das Gebiet der Urwaldindios vom Stamm der Machiguengas. In nüchtern-dokumentarischen Sätzen schildern die ersten Kapitel des Romans die Situation dieser Indios in den späten 1950er Jahren. Die Machiguengas geraten zunächst als Objekte verschiedener humanwissenschaftlicher, politischer und ökonomischer Bemühungen in den Blick. Das gemeinsame Ziel dieser Bemühungen besteht in der Integration der vermeintlich primitiven, nomadischen und aliteralen Stämme in die moderne peruanische Gesellschaft. Der Streit dreht sich nur noch darum, welcher Gesellschaft sie eingegliedert werden sollen: einer kapitalistischen oder sozialistischen, einer protestantischen oder katholischen. Angeführt wird das Rennen von einem Institut für Linguistik, das von nordamerikanischen protestantischen Kirchen fi nanziert wird. Unter dem Vorwand ethnologischer und linguistischer Forschung erfassen die Mitglieder dieses Instituts die Kulturen und Sprachen der Amazonasregion; das eigentliche Ziel dieser Sprachforschung besteht allerdings darin, die Menschen in ihrer jeweiligen Stammessprache zu missionieren. Diese Missionierung bildet wiederum den ersten Schritt zu ihrer festen Ansiedlung und ökonomischen Ausbeutung. Seine erste Begegnung mit den Machiguengas in den 1950er Jahren soll für den Romanerzähler, so führt dieser aus, äußerst bedeutsam werden. Das Schicksal der Indianer bewegt ihn Zeit seines Lebens. Während seiner gesamten schriftstellerischen Karriere schreibt er immer auch über die Indios oder besser: versucht er gerade nicht über sie zu schreiben, sondern ihnen seine Stimme zu leihen und sein Schreiben in ihren Dienst zu stellen. Der Romanerzähler, der hier zu uns spricht, trägt die Züge des Romanautors, Mario Vargas Llosa, der mit El hablador sein perMario Vargas Llosa: Der Geschichtenerzähler, übers. von Elke Wehr, Frankfurt/M. 1990. – Der Roman wird im folgenden im Text unter Nennung der Seitenzahl zitiert. 1
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sönlichstes Werk vorlegt. Persönlich ist der Roman nicht nur aufgrund der vielen biographischen Züge, die besonders dann deutlich werden, wenn man einige der nicht im engeren Sinne literarischen Texte des Autors hinzuzieht, so etwa seine 1958 erschienene Chronik einer Reise in den Urwald 2 sowie die Autobiographie El pez en el agua (zu deutsch: Der Fisch im Wasser) aus dem Jahr 1993. In der Autobiographie bezieht sich Vargas Llosa auf seine Reise im Jahr 1958, wenn er schreibt 3 : »Die Entdeckung der mächtigen, noch immer ungezähmten Landschaft der Amazonas-Region und der abenteuerlichen, primitiven, wilden Welt […] versetzte mich in maßloses Erstaunen. Sie klärte mich […] in unvergeßlicher Weise über die extreme Brutalität und völlige Straflosigkeit auf, die das Unrecht bestimmten Peruanern gegenüber annehmen konnte.« Sein persönlichster Roman ist Der Geschichtenerzähler auch deshalb, weil Vargas Llosa hier auf sein eigenes Erzählen reflektiert. Der Romanerzähler tritt in einen komplexen Dialog mit der indianischen Instanz des Geschichtenerzählers und fragt nach den Bedingungen und Möglichkeiten des Erzählens. In meiner Lektüre des Romans werde ich drei Fragen verfolgen, von denen ich denke, daß sie der Roman selbst aufwirft und an seine Leser adressiert. Ich weiß nicht, ob diese Fragen als genuin »philosophische« Fragen bezeichnet werden können; ich denke allerdings, daß sie sich mit Fragen der Philosophie berühren oder philosophische Fragen zumindest provozieren. Die erste Frage habe ich bereits eingangs angedeutet: Kann die moderne Literatur den Marginalisierten, Subalternen und Anteilslosen eine Stimme verleihen? Vermag sich in einer postkolonialen Welt, die nach Stuart Hall in »den Westen und den Rest« 4 zerfällt, auch dieser Rest vernehmbar zu machen, und wenn ja, kann er das durch das Medium der Literatur? Ist die Literatur eine durch und durch westliche Diskursformation, die an der Produktion des »Restes« Teil hat? Oder könnte es gerade literarischem Sprechen (eher als der Wissenschaft, der Geschichte und der Philosophie) gelingen, Zeugnis von postkolonialer Gewalt und Unterdrückung abzulegen, die uneingelösten Ansprüche der Opfer der Globalisierung vernehmbar zu machen? Eine zweite Frage richtet sich auf den Status und die Geschichtsphilosophie des Erzählens. In kanonischen philosophischen Erzähltheorien, wie sie etwa von Georg Lukács und Walter Benjamin ausformuliert wurden, verweist das Erzählen auf geschlossene kulturelle Formationen. Unter postkulturellen Bedingungen, so die These, erodiere die Praxis des Erzählens und verschwinde der Typus des Erzählers. Das Erzählen verweise auf einen ihm selbst vorgängigen, sinnhaften und zumindest teilweise geschlossenen Kosmos. Erzählungen bezögen sich mimetisch oder Erschienen in der Zeitschrift Cultura Peruana im September 1958; vgl. auch Mario Vargas Llosa: Geheime Geschichte eines Romans, Frankfurt/M. 1992. 3 Mario Vargas Llosa: Der Fisch im Wasser. Erinnerungen, übers. von Elke Wehr, Frankfurt/ M. 1996, 593. 4 Vgl. Stuart Hall: Der Westen und der Rest. Diskurs und Macht, in: ders., Rassismus und kulturelle Identität, Hamburg 1994, 137-179. 2
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repräsentierend auf eine primordiale, bereits an sich sinnhafte Welt. Macht Vargas Llosas Roman nicht vielleicht die Wette auf eine gegenteilige, nomadische Poetik? Erzählt würde im Rahmen dieser Poetik immer dort, wo Menschen nicht bereits schon in einer eindeutigen Weise vergemeinschaftet sind. Die gemeinsame Welt und Kultur, das gemeinsame Territorium und die gemeinsame Geschichte stellen sich demgegenüber erst performativ, im Vollzug des Erzählens, her und werden von der Erzählung zugleich daran gehindert, sich zu totalisieren und zu erstarren. Das Erzählen setzt mithin eine konstitutive Kluft zwischen seinen Autoren und Adressaten voraus, eine Situation der Versprengtheit, der Diaspora und des Nomadisierens. Die Bewegung des Erzählens selbst entspricht derjenigen des Nomaden: Es verändert das, was es erzählt, es überführt die erzählten Gehalte in eine nicht endende Bewegung. Die Selbstidentität einer Kultur, die für Lukács und Benjamin als Möglichkeitsbedingung des Erzählens gilt, würde die Praxis des Erzählens aus der Perspektive der im Roman angedeuteten Narratologie gerade unmöglich machen. Eng damit zusammen hängt die Frage nach dem Verhältnis von Mythos und Erzählung. Die okzidentale, von der Auf klärung geprägte Mythentheorie begreift den Mythos als Legitimationserzählung, die eine geschichtliche Ordnung in einem übergeschichtlichen Kosmos verankert und damit gesellschaftliche Verhältnisse naturalisiert. Der Roman, so meine Hypothese, bricht mit dieser Deutung außereuropäischer Mythen. Der Mythos begegnet uns bei Vargas Llosa weniger als Legitimations- denn als Transformationserzählung. Eine dritte Frage schließlich, die in gewisser Weise die beiden ersten Fragenkomplexe ineinander blendet, gilt der möglichen Widerständigkeit des Erzählens. Vermögen sich die Indianer mittels ihrer Erzählkultur den Zugriffen der Kolonisatoren, Missionare, Linguisten und Ethnologen zu entziehen? Müssen wir die Indianer notwendig als Opfer begreifen oder unterstützt diese Sicht nicht gerade die Mechanismen ihrer Marginalisierung? Drückt sich in ihren Praktiken des Nomadisierens und Erzählens nicht vielmehr eine eigensinnige Handlungsmächtigkeit aus, die es verbietet, sie auf die Seite der Verlierer und des »Restes« zu stellen? Die hier skizzierten Fragen werde ich nicht systematisch und der Reihenfolge nach abarbeiten; erst recht werde ich sie nicht erschöpfend beantworten. Ich werde vielmehr schauen, wie der Roman selbst diese Fragen ins Spiel bringt.
I. Vargas Llosa verstand sich in seinem Werk immer schon als ein Chronist der Gewalt und des Unrechts in der Neuen Welt. Sein erster, international erfolgreicher Roman, der 1965 unter dem Titel Das grüne Haus erscheint, erzählt, wie Ordensschwestern in der Amazonasregion Menschenhändler beauftragen, Indiomädchen einzufangen, um sie in ihren Missionsschulen zu christianisieren und zu zivilisieren. Nach der Missionierung sollen diese Mädchen als Hausangestellte in wohl-
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habende peruanische Familien vermittelt werden. Am Schicksal eines dieser Mädchen wird gezeigt, daß und wie dieser Prozeß der Zwangsassimilation scheitert. Die Mädchen werden traumatisiert, entwurzelt und sind damit schutzlos jeder Art von Willkür und Gewalt ausgeliefert; die meisten von ihnen landen über kurz oder lang in armseligen Bordellen wie dem grünen Haus, in dem sich mehrere Erzählstränge und Lebensfäden kreuzen. 1981 erscheint Der Krieg am Ende der Welt, ein Roman, den Salman Rushdie in einer Rezension »als eines der blutigsten und grausamsten Bücher« der Weltliteratur bezeichnet hat. Vargas Llosa schildert hier die Entstehung und das Ende einer historischen, zum Teil christlich und zum Teil kommunistisch motivierten Widerstandsbewegung der verarmten Landbevölkerung im Nordosten des brasilianischen Bundesstaates Bahía. Die von Ausbeutung, Hungersnöten und Seuchen an den Rand des Abgrunds gedrängten Menschen sammeln sich um den Prediger Antônio Conselheiro, rufen eine »Gesellschaft der Ärmsten« aus und erklären sich vom brasilianischen Staat unabhängig. Im Jahre 1897 wird ihre Siedlung Canudos, in der sie nach sozialistischen Prinzipien leben, von den Truppen der jungen brasilianischen Republik dem Erdboden gleichgemacht, wobei Tausende ein grausames Ende fi nden. Tod in den Anden aus dem Jahr 1993 schildert die Lage in einem abgelegenen Indiodorf, das unter dem Terror des Leuchtenden Pfades ebenso leidet wie unter dem Gegenterror des Peruanischen Militärs. Das Fest des Ziegenbocks, erschienen im Jahr 2000, rekonstruiert erzählerisch das Attentat auf den dominikanischen Diktator Rafael Leónidas Trujillo, der über Jahrzehnte eines der brutalsten lateinamerikanischen Regime anführte, und analysiert die subtilen psychologischen und soziologischen Mechanismen totaler Herrschaft. Das Selbstverständnis, das ihn in all diesen Romanen leitet, drückt Vargas Llosa in seiner Autobiographie wie folgt aus 5 : »Ich habe immer geglaubt, eine der wichtigsten Aufgaben […] der Literatur bestehe darin, eine Art Widerstand gegen die Macht zu sein, eine Tätigkeit, durch die alle Formen der Macht ständig in Frage gestellt werden konnten.« Diesem Impuls, Widerstand gegen die Macht zu leisten, folgt auch Der Geschichtenerzähler. Vargas Llosa widmet diesen Roman den Machiguengas, von denen (noch) etwa vier- bis fünftausend im Nordwesten Perus leben. Seit seiner ersten Begegnung mit den Machiguengas – in ihrer eigenen Sprache: die, die gehen – dreht sich das gesamte weitere Denken und Schreiben des Erzählers um diese Indios, auf die er immer wieder zurückkommt, denen er schon früh einen Roman zu widmen gedenkt, welchen zu schreiben ihm aber äußerst schwer fällt. Über die Machiguengas zu schreiben gilt ihm dabei nicht so sehr als ein Problem angemessener Repräsentation denn als ein ethisches Problem, ein Problem der Gerechtigkeit. Wie kann sich ein in der westlichen Literatur sozialisierter Schriftsteller diesen Fremden nähern, ohne in ein altbekanntes Dilemma zu verfallen: 5
Llosa: Der Fisch im Wasser [Anm. 3], 115.
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ohne entweder die »epistemische Gewalt« 6 eines kolonialistischen Blicks, der die Fremden marginalisiert und pathologisiert, narrativ zu verlängern oder andererseits den Fremden zu exotisieren, ihn zum edlen Wilden zu verklären, der als Korrektiv einer »entfremdeten« westlichen Kultur beansprucht und damit ebenso mißbraucht und genauso wenig in seinem Eigensinn anerkannt wird? Der Romanerzähler schildert in seinem Roman, wie er immer wieder neue Anläufe nimmt und immer wieder neu an seiner Aufgabe scheitert. Erst in größtmöglicher Distanz zu Peru, während einer Europa-Reise in den 1980er Jahren, platzt der Knoten. Genau an dieser Stelle setzt der Roman ein, er hebt mit der Erzählung seiner eigenen Entstehungskonstellation an. Der Romanerzähler reist nach Florenz um, wie er im ersten Satz ausführt, »Peru und die Peruaner eine Zeitlang zu vergessen«. Er möchte sich Dante und Machiavelli widmen, die Kunst der Renaissance studieren. Doch während er durch die engen Gassen der Florentiner Altstadt fl aniert, stößt er unvermutet auf eine kleine Galerie, in der Bilder ausgestellt sind, die der italienische Photograph Gabriele Malfatti während einer Expedition im peruanischen Urwald aufgenommen hat. Photographien der Machiguengas, wie sich sofort zeigt. Diese plötzlich über ihn hereinbrechenden Bilder führen zu einer Art Proust`schen mémoire involontaire, die es dem Erzähler ermöglicht, mit der Arbeit an seinem Roman über diejenige Instanz im Leben der Indianer, die ihn am stärksten beeindruckt hat, zu beginnen: den Geschichtenerzähler. Im Mittelpunkt der Abschnitte, die auf diese Eingangspassage folgen, steht Saúl Zuratas, Studienfreund des Erzählers, Sohn eines osteuropäischen jüdischen Immigranten und einer Kreolin, die kurz nach der Geburt von Saúl stirbt. Vater und Sohn werden weder in der katholischen peruanischen Gesellschaft noch in den jüdischen Zirkeln in Lima anerkannt; sie betreiben gemeinsam einen kleinen Kramladen, der es Saúl gerade eben ermöglicht, sein Jurastudium zu fi nanzieren. Als verschwiegener und unzugänglicher Exzentriker führt er das Leben eines Grenzgängers zwischen den Kulturen, ist aber gerade darin wiederum typisch für die peruanische Gesellschaft, in der sich verschiedenste ethnische und kulturelle Einflüsse mischen und hybridisieren. Dieser Mischungs- und Hybridisierungsprozeß verläuft allerdings keineswegs – etwa im Sinne der fröhlich-folkloristischen Hybridität des Karnevals in Rio – friedlich; die Gesellschaft wird vielmehr von ethischen Konfl ikten durchzogen. In seiner Autobiographie beschreibt Vargas Llosa das typisch peruanische Ressentiment, die Ursache für diese Konfl ikte, wie folgt 7 : »Immer ist man weiß oder ein cholo [ = Mestize, A. H.] in bezug auf jemanden, denn immer ist man besser oder schlechter gestellt als andere oder mehr oder weniger arm oder bedeutend oder hat man mehr oder weniger westliche oder Gayatri Spivak: Can the Subaltern Speak?, in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture, London 1988, 271-313, hier: 289. 7 Llosa: Der Fisch im Wasser [Anm. 3], 12. 6
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mestizische oder indianische oder afrikanische oder asiatische Gesichtszüge als andere, und diese ganze primitive Nomenklatur, die zu einem guten Teil das Schicksal der einzelnen bestimmt, hält sich Dank eines Gebäudes aus Vorurteilen und Gefühlen – Geringschätzung, Verachtung, Neid, Ressentiment, Bewunderung, Nachahmung –, das oftmals unter den Ideologien, Werten und Unwerten die tieferliegende Erklärung für die Konfl ikte und Enttäuschungen der peruanischen Gesellschaft liefert.« Saúls soziale Position, oder besser: sein sozialer Nicht-Ort, spiegelt sich in seinem Äußeren; er ist in nahezu obszöner Weise stigmatisiert. Die gesamte rechte Hälfte seines Gesichtes wird von einem Leberfleck bedeckt, der ihm den Spitznamen Mascarita, der Maskierte, einträgt. Saúl ist gerade dort entstellt, wo sich das Menschliche des Menschen am deutlichsten zeigt: im Antlitz. Sein Erscheinen flößt immer wieder Abscheu ein, doch er selbst reagiert darauf gelassen. Später wird sich zeigen, das seine Maske ihm auch nützlich ist; sie verhindert, daß er einer bestimmte Ethnie oder Gruppe zugerechnet werden kann und immunisiert ihn gegenüber der primitiven Nomenklatur objektivistischer Kultur- und Volkskonzepte. II. Saúl zeigt sich manisch besessen von Kaf kas Erzählung Die Verwandlung, einem Text, den er immer wieder liest und als einziges Stück abendländischer Literatur gelten läßt. Sein kleiner, sprechender Papagei, der ihn ständig begleitet, trägt den Namen Gregor Samsa. Neben seinem Jurastudium, das er vor allem deshalb aufgenommen hat, um den Erwartungen seines Vaters zu entsprechen, schreibt sich Saúl auch für Ethnologie ein, ein Fach, dem bald sein ganzes und ungeteiltes Interesse gelten soll. Im Rahmen dieses Studiums bereist er die Amazonasregion, um dort schon bald seine gesamten Semesterferien zu verbringen und mit »ausgezeichnetem Material« (39) zurückzukommen. Am Horizont von Saúls Leben zeichnet sich die Perspektive einer glänzenden Karriere als Ethnologe ab. Er lehnt sogar ein Stipendium nach Europa ab, um weiter bei den Machiguengas, denen seine besondere Aufmerksamkeit gilt, forschen zu dürfen. Doch zum Ende seines Studiums, in der Phase seiner Magisterarbeit, tritt er in eine für seine Freunde zunächst überraschende Distanz zur Ethnologie. Sein Professor, José Matos Mar, drückt das wie folgt aus: »›Saúl hat Zweifel bekommen an der Forschung und an der Feldarbeit. Ethische Zweifel.‹« (41) Die Zweifel, die Saúl in Gesprächen mit Freunden und Kollegen artikuliert, entsprechen denen, die die Ethnologie zu dieser Zeit gegenüber sich selbst zu artikulieren beginnt, am exemplarischsten in Claude Lévi-Strauss’ Traurige Tropen (1955), die erstmals umfassend dem Verdacht Ausdruck geben, daß der ethnologische Versuch, die Fremden verstehen zu wollen, mit zur Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen beitragen könne. Statt den Begriff des normalen westlichen Menschen
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auf sein Anderes hin zu öff nen und damit zu überschreiten – eine subversive Funktion, die Michel Foucault der Ethnologie in seiner Ordnung der Dinge 8 zuspricht – trägt sie zur Stabilisierung dieses Begriffes bei. Die Vielfalt der kulturellen Formen wird nur deshalb aufgeboten, um dahinter das Gemeinsame und Einheitliche des Menschen auszumachen, der immer dem westlichen, weißen, erwachsenen und männlichen Menschen entspricht. In diesem Sinne kritisiert auch Saúl die epistemische Gewalt der Ethnologie; er »hatte alle durch die Erklärung irritiert, daß die Arbeit der Ethnologen ähnliche Folgen zeitige wie das Vorgehen der Kautschuksammler, Holzhändler, Armeewerber und übrigen Mestizen und Weißen, die dabei waren, die Stämme zu dezimieren« (42). Die ethnographisch-linguistische Erfassung stellt den ersten Schritt in die Entfremdung dar. Über ihre Fragen infi zieren die Ethnologen ihre »Untersuchungsgegenstände« mit der Rationalität des Beobachters. Der ethnologische Blick führt zu einer Selbstethnisierung der Indigenen. Bereits Franz Kaf ka schreibt in diesem Sinne über den »Neger, der von der Weltausstellung nach Hause gebracht wird, und, irrsinnig geworden vom Heimweh, mitten in seinem Dorf unter dem Wehklagen des Stammes mit ernstestem Gesicht als Überlieferung und Pfl icht die Späße auff ührt, welche das europäische Publikum als Sitten und Gebräuche Afrikas entzückten« 9. Der Blick des Westens verwandelt Kulturen in ihre eigenen Simulakra. Saúl kritisiert das »hermeneutische« Selbstverständnis der Ethnologen, die Welt der Eingeborenen »in deren eigenen Kategorien« (43) begreifen zu wollen, als illusionär. Die Machiguengas werden »in der eigenen Sprache alphabetisiert« (90), um sie auf diesem Wege missionieren zu können. Die Einheit ihrer Kultur wird ihnen in der ethnologischen Beschreibung aufgezwungen. Für die Machiguengas bewahrheitet sich, was Jacques Derrida einmal als den »wesentlichen Kolonialcharakter der Kultur«10 bezeichnet hat. Als einheitliche wird Kultur einem heterogenen und differentiellen Feld auferlegt; sie strukturiert und reglementiert eine komplexe Mannigfaltigkeit und ist darin anderen identitätslogischen Formularen wie Geschlecht, Rasse oder Nation verwandt. Einer Kultur korrespondiert immer ein Machtdispositiv, das nicht zuletzt auf dem Feld der Sprache interveniert. In Derridas Worten11 : »Jede Kultur wird durch die einseitige Auferlegung irgendeiner ›Politik‹ der Sprache eingesetzt.« Saúl begreift die ethnologische Forschung als Speerspitze der Kolonialisierung und Globalisierung. Er versteht sich in den Diskussionen mit dem Erzähler, die einen Großteil des zweiten Kapitels ausmachen, als Anwalt jener Indianer, die von Vargas Llosa in seiner Autobiographie auch als die »Opfer dieses Landes der Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1974, 453. Franz Kaf ka: Das dritte Oktavheft, in: ders., Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, Frankfurt/M. 1983, 52-77, hier: 70. 10 Jacques Derrida: Einsprachigkeit, München 2003, 46. 11 Ebd., 67. 8 9
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Opfer«12 charakterisiert werden. Saúl »sprach von diesen Indianern, von ihren Gewohnheiten und ihren Mythen, von ihrer Landschaft und ihren Göttern mit dem nämlichen bewundernden Respekt wie ich von Sartre, Malraux und Faulkner, meinen Lieblingsautoren in jenem Jahr« (23). Die Indianer faszinieren ihn nicht länger als Erkenntnisobjekte, sondern als Objekte der Unterdrückung und Subjekte eines erfolgreichen Widerstands. Sie wurden seit Jahrhunderten verfolgt, zunächst von den Inkas, dann von den Konquistadoren, Kautschuksammlern, Holzfällern und Goldsuchern, die sie immer wieder auszurotten oder zu versklaven suchten; sie haben überlebt, haben sich allen Zugriffen entziehen können, geschützt durch ihre versprengte und nomadische Lebensweise in kleinen Familienverbänden sowie durch ihre Mythologie, die das Gehen zu einem zentralen Gebot erhebt und ihnen immer wieder erlaubt, aus der Sklaverei, die sie zur Seßhaftigkeit zwingt, zu entfl iehen. Doch jetzt, im Peru der 1950er Jahre, droht ihr Widerstand gebrochen zu werden. Die Missionare, Linguisten, Ethnologen und Regierungsbeamten verfügen über technische Mittel, um die Machiguengas überall aufspüren und im doppelten Sinne einholen zu können, sie in die Gesellschaft und Ökonomie des modernen Peru zu integrieren, ihnen ihre Lebensform und Mythologie zu nehmen. Was mit den Indianern passiert, wenn man sie in die moderne Gesellschaft »eingliedert«, können Saúl und der Erzähler in den Kneipen Limas, in denen sie ihre Gespräche führen, mit eigenen Augen sehen. Sie erledigen die niedrigsten Arbeiten, verwandeln sich in »Zombies« und »Karikaturen« (35), die mut- und sprachlos dahinvegetieren. Die Art, in der der Erzähler ihren Gesichtsausdruck cha rakterisiert, erinnert an Giorgio Agambens Beschreibung der »Muselmänner« in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern: derjenigen Lagerinsassen, die vollständig gebrochen wurden, in absolute Passivität verfallen sind und nur noch ausdruckslos vor sich hin starren.13 Die akkulturierten Indianer gehen in eine Assimilierungsfalle. Sie können nicht zu ihrer alten Lebensform zurückkehren, doch zugleich wird ihnen verweigert, in der modernen peruanischen Gesellschaft anzukommen, sich einen Anteil an dieser Gesellschaft zu verschaffen. Gegenüber Saúls Kritik an der Ethnologie und dem schleichenden Assimilierungsdruck vertritt der Erzähler zunächst die Stimme des rassistischen Common Sense, für den die Machiguengas als »pittoreske Scheußlichkeit« und als »Ausnahmefall« (37) gelten, als diejenigen, die am weitesten vom Ideal des Weißen entfernt sind: »Worauf wollte er [= Saúl, A. H.] eigentlich hinaus? Daß das restliche Peru davon absah, die Amazonas-Region auszubeuten, um nicht in die Lebensweisen und Glaubensvorstellungen einiger Stämme einzugreifen, von denen viele noch in der Steinzeit lebten? Sollten sechzehn Millionen Peruaner auf die natürlichen Ressourcen von drei Vierteln ihres Territoriums verzichten, damit sechzig- oder Llosa: Der Fisch im Wasser [Anm. 3], 595. Vgl. Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt/M. 2003, 36-75. 12 13
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achtzigtausend Indianer einander seelenruhig weiterhin mit Pfeilen abschießen, Schrumpf köpfe herstellen und die Boa constrictor anbeten konnten?« (29) Der Erzähler argumentiert hier aufgeklärt, utilitaristisch und rationalistisch: Nicht auf die Kulturform komme es an, sondern auf den größten gemeinsamen Nutzen der größten gemeinsamen Menge. Und im Zweifelsfall gilt das Leben eines einzelnen Menschen mehr als der Schutz irgendwelcher primitiven Glaubensvorstellungen und Riten. Genau diese Vorstellungen, die der Erzähler hier artikuliert, werden vom Roman selbst im weiteren kritisch befragt. Kann man das Leben wirklich von der Lebensform trennen und gegenüber der Lebensform privilegieren? Ist das nackte Leben und Überleben an sich schützenswert? Müssen die Indianer im Dienste ihres physischen Überlebens akkulturiert werden, um ihnen die Segnungen der westlichen Medizin, Hygiene und Ethik zukommen zu lassen oder kann die Zerstörung der Lebensform nicht sogar schlimmer sein, als ein direkter Mord? Saúl Zuratas gibt in seinen Diskussionen mit dem Erzähler zu erkennen, daß er die Indianer nicht idealisiert, sie nicht zu den edlen Wilden der Kulturkritik des 18. Jahrhunderts oder des Exotismus im 19. Jahrhundert stilisiert. Im Gegenteil: Die Indianer sind nicht nur auf einer folkloristischen Ebene anders, sondern in einer für das westliche Weltbild irritierenden Weise fremd: »Zum Beispiel rissen die Aguarunas und Huambisas […] das Hymen ihrer Töchter mit den Händen heraus und aßen es, wenn diese zum erstenmal bluteten. Bei vielen Stämmen existierte Sklaverei, und in manchen Gemeinschaften ließ man die Alten beim ersten Anzeichen von Schwäche sterben, mit der Begründung, ihre Seelen seien gerufen worden.« (33) Am schockierendsten erscheint aber ein gewisser »Perfektionismus« (34) der Machiguengas, die alle Kinder, welche mit körperlichen Defekten geboren werden, sofort töten. Saúls Anerkennung der Machiguengas motiviert sich nicht aus deren abstrakter Andersheit, die alle verstörenden Details ausblenden würde. Er erkennt sie vielmehr in ihrer Lebensform an, die mit westlichen Wertvorstellungen wenig kompatibel ist. Saúl stößt mit dieser Haltung auf die Ablehnung des Erzählers, der ihm einen ebenso fanatischen wie romantisierenden Indigenismus unterstellt: die Vision einer Rückkehr zum »reinen« Zustand vor der europäischen Entdeckung.
III. Die Gespräche zwischen Saúl und dem Erzähler enden unversöhnlich; sie brechen an dieser Stelle, auf diesem Stand der Diskussion, am Ende des zweiten Kapitels, ab und etwas ganz neues beginnt. »Danach brachen die Menschen der Erde auf, geradewegs auf die herabstürzende Sonne zu. Zuvor waren auch sie ruhig geblieben. Die Sonne, ihr Himmelsauge,
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stand unbeweglich. Wachsam, stets geöff net, betrachtete es uns und wärmte die Welt. Ihrem Licht konnte Tasurinchi standhalten, obwohl es sehr stark war. Es gab kein Unheil, es gab keinen Wind, es gab keinen Regen. Die Frauen brachten reine Kinder zur Welt. Wenn Tasurinchi essen wollte, tauchte er die Hand in den Fluß und holte eine zappelnde Alse heraus; oder er schoß den Pfeil aufs Geratewohl, tat ein paar Schritte durch den Wald und stieß plötzlich auf eine Truthenne, ein Rebhuhn oder einen Trompetero, die er getroffen hatte. Niemals fehlte es an Nahrung. Es gab keinen Krieg. Die Flüsse waren übervoll von Fischen und die Wälder von Tieren. Die Mashcos existierten nicht. Die Menschen der Erde waren stark, weise, gelassen und vereint. Ruhig und ohne Zorn. Vor dem Danach. Die fortgingen, kehrten zurück und schlüpften in den Geist der Besten. So starb gewöhnlich niemand. ›Es ist die Reihe an mir, fortzugehen‹, sagte Tasurinchi. Er ging um Flußufer hinunter und bereitete sich sein Lager mit Blättern und dürren Zweigen und einem Dach aus Ungurabi. Um sich herum errichtete er einen Pfahlzaun aus spitzem Rohr, damit das Wasserschwein nicht seinen Leichnam fräße, wenn es sich am Ufer herumtrieb. Er legte sich nieder, ging fort, und wenig später kehrte er zurück und nahm Wohnung in dem, der am meisten gejagt, am besten gekämpft oder die Sitten geachtet hatte. Die Menschen der Erde lebten zusammen. Ruhig. Der Tod war nicht der Tod. Er war ein Fortgehen und Wiederkehren. Statt sie zu schwächen, stärkte er sie, denn er fügte jenen, die blieben, die Weisheit und die Kraft der Fortgegangenen hinzu […]. Warum, wenn sie so rein waren, sind die Menschen der Erde dann aufgebrochen? Weil die Sonne eines Tages herabzustürzen begann. Damit sie nicht noch mehr stürzte, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Das sagt Tasurinchi. Das ist zumindest, was ich erfahren habe. Hatte die Sonne schon ihren Krieg mit Kashiri, dem Mond, ausgetragen? Vielleicht. Sie begann zu blinzeln, sich zu bewegen, ihr Licht erlosch, und man konnte sie kaum noch sehen. Die Menschen begannen sich zitternd den Körper zu reiben. Das war die Kälte. So begann sie danach, scheint es. Damals, im Halbdunkel, traten die Menschen, unwissend und voller Furcht, in ihre eigenen Fallen, aßen Fleisch vom Hirsch im Glauben, es sei Tapir, und fanden nicht mehr den Heimweg vom Yuccafeld zu ihrem Haus. […] Der Regen prasselte herab und löste Überschwemmungen aus. Man sah Scharen ertrunkener Nabelschweine, die mit den Füßen nach oben im Strom trieben. […] Die Seelen verloren die Gelassenheit. Das war kein Fortgehen mehr. Es war Sterben. Wir müssen etwas tun, sagten sie. Und sie schauten nach rechts und nach links, was, was sollen wir tun? sagten sie. ›Auf brechen‹, befahl Tasurinchi. Sie befanden sich in tiefer Finsternis, von Unheil umgeben. Die Yucca ging aus, das Wasser roch übel. […] Auf brechen? ›Ja‹, sagte der Seripigari, während er sich in seinem Rausch am Tabak verschluckte. ›Gehen, gehen. Und erinnert euch, an dem Tag, da ihr auf hört zu gehen, werdet ihr ganz fortgehen. Und ihr werdet die Sonne mit hinunternehmen.‹ So begann es. Die Bewegung, das Gehen. Vorankommen mit oder ohne Regen,
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zu Lande oder zu Wasser, den Berg hinauf oder die Schlucht hinunter. […] ›Die Sonne ist noch nicht herabgestürzt‹, ermutigte Tasurinchi sie. ›Sie stolpert und sie steht auf. Vorsicht, sie schläft ein. Wecken wir sie auf, helfen wir ihr.‹ Wir haben Schäden und Tote zu beklagen, aber wir gehen weiter. Würden alle Funken des Himmels ausreichen, die Monde zu zählen, die vergangen sind? Nein. Wir sind lebendig. Wir bewegen uns.« (47-49) In diesem zentralen Mythos, von dem ich nur den Anfang und damit einen kurzen Ausschnitt zitiere, berichten die Machiguengas von ihrer Herkunft. Vargas Llosa entlehnt den Mythos neben anderen, wie er in der Danksagung am Ende des Romans ausführt, einer von Padre Joaquín Barriales besorgten Sammlung und Übersetzung von Machiguenga-Erzählungen. Die Mythen machen in etwa die Hälfte des Romanumfangs aus, so daß es unangemessen wäre, von bloßen Zitaten zu sprechen. Es bleibt letztlich unbestimmbar, ob der Roman die Mythen integriert, oder ob die »realistische« Romanerzählung nach und nach von den Mythen absorbiert wird. Läßt sich der Mythos wirklich in den Roman einfügen und wird er durch den Roman literarisiert? Oder stellt er mit dem Roman etwas höchst unheimliches an? Erschüttert er nicht das Universum einer realistischen, dokumentarischen Erzählsprache des Romans? Unterscheidet sich die Integration des indianischen Erzählens in den Roman in diesem Sinne von der (scheiternden) Integration der Machiguengas in die peruanische Gesellschaft? Ausgehend vom Mythos fällt ein verfremdender Blick auf den westlichen Diskurs, dem sich der Roman selbst zurechnet. Die Bewegung des Gehens ist den Machiguengas, so erzählt es der Mythos, nicht äußerlich. Das Gehen hält ihre Welt zusammen, oder besser: Es stiftet sie. Die Bewegung der Sonne, ihre alltägliche Wiederkehr, hängt davon ab, daß die Menschen gehen, eine nomadische Existenz führen. Der Mythos bezeugt im weiteren eine Folge von Katastrophen, die immer dann über die Menschen hereinbrechen, wenn die Bewegung unterbrochen wird oder stockt. Eine erste Katastrophe ereignet sich, als die Machiguengas der Versuchung der Seßhaftigkeit nachgeben, sich niederlassen, Häuser bauen und Besitz horten; sie werden von einem feindlichen Stamm, den Mashcos, angegriffen, die etliche Männer töten und Frauen rauben. Angesichts dieser Katastrophe besinnen sie sich wieder auf ihre Bestimmung; sie lassen alles zurück, was nicht in Beuteln am Körper getragen werden kann und brechen erneut auf. Die zweite Katastrophe beginnt, als die Machiguengas einen Berg entdecken an dem sie Salz abbauen können. Dieser Berg gilt ihnen zunächst als heiliger Ort. Hier begegnen sich ansonsten verfeindete Stämme friedlich und nutzen das Salz gemeinsam. Doch plötzlich tauchen Fremde auf, Weiße und Mestizen, die die Indianer systematisch jagen und versklaven. Das Zeitalter des »Ausblutens der Bäume« beginnt; die Machiguengas umschreiben so den Kautschuk-Boom, der den Regenwald gegen Ende des 19. Jahrhunderts heimsucht. In dieser Zeit werden die Indianer als Arbeitskräfte begehrt; sie müssen die Bäume anschneiden, den Kautschuk gewinnen und forttragen. Diese Zeit wird im Rück-
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blick als die schlimmste gekennzeichnet. Eine Flucht wird durch die Feuerwaffen der Kautschukhändler immer schwieriger. Außerdem gelingt es den Händlern, die verschiedenen Stämme geschickt gegeneinander auszuspielen. Einzelnen Indianern wird die Freiheit angeboten, wenn sie die Angehörigen anderer Stämme aufspüren und gefangen setzen. Viele Machiguengas ziehen dieser Lage den Freitod vor, indem sie sich mit Pfl anzendornen vergiften. Der Tod stellt für sie keinen Schrecken dar; sie interpretieren ihn als ein Fortgehen – und jeder, der fortgeht, kommt wieder. Die dritte Katastrophe bricht über die Machiguengas herein, als Tasurinchi, ihr Gott, der sich immer wieder in den weisesten, mythenkundigsten und stärksten Männern inkarniert, von einem »weißen Vater« besucht wird, der bleibt und Fragen stellt. Im Gegenzug versorgt er Tasurinchi mit Nahrung, Angelhaken und Macheten. Der Mythos berichtet hier ganz offensichtlich von einem Ethnologen. Der weiße Vater entpuppt sich bald schon als Teufel, er zeigt plötzlich den »Schmutz seiner Seele«: er niest, ein Phänomen, das die Machiguengas nicht kennen. Und er infi ziert den gesamten Stamm; alle beginnen zu niesen, werden von Fieber heimgesucht, an dem viele sterben. Wieder hilft ihnen nur der Auf bruch, die Flucht, das Weiterziehen, das Gehen. Der Abfolge der Katastrophen entspricht eine Abfolge von unterschiedlichen Erzählperspektiven. Zunächst wird die Geschichte der Gehenden gleichsam objektiv, von außen erzählt. Nach der ersten Katastrophe taucht ein »wir« (55) auf, das von einer Erzählerinstanz zeugt. Nach der zweiten Katastrophe, der Zeit der blutenden Bäume, tritt ein »ich« (57) auf den Plan, ein Erzähler, der von einem »kleinen Papagei« (57) begeleitet wird. Am Ende der dritten Katastrophe schließlich gibt sich der Erzähler als der Geschichtenerzähler der Machiguengas zu erkennen; der Erzähler schreibt sich hier nach und nach in seine Erzählung ein; zugleich wird er von seinem kleinen Papagei, der ihn ständig begleitet, als »Tasurinchi« angeredet (68). »Tasurinchi« fungiert eher als eine Subjektposition denn als ein Subjekt. Die Machiguengas kennen keine Eigennamen: »Ihr Name war immer provisorisch, relativ und vorübergehend: der, der kommt, oder der, der geht, der Mann von der, die gerade gestorben ist, oder der, der aus dem Kanu steigt.« (100) Das Gehen wie das Fortgehen und Zurückkehren stehen nicht für eine Bewegung identischer Subjekte im Raum, sondern in einem stärkeren Sinne für einen Wechsel der Subjektpositionen, für Metamorphosen, für ein ständiges Anderswerden. Dem so verstandenen Gehen korrespondiert in der Vorstellung der Indianer das Erzählen: »›Wie elend muß das Leben der anderen sein, die nicht wie wir Menschen haben, die sprechen‹« (74). Gehen und Erzählen stiften eine Welt, die sich nicht als mythische Welt im Sinne klassisch-philosophischer Mythostheorien interpretieren läßt. Es handelt sich gerade nicht um eine naturalisierte, von unwandelbaren Gesetzen sanktionierte Welt, die dem Einzelnen fremd, undurchschaubar und übermächtig gegenübersteht. Der Mythos selbst ist vielmehr einer permanenten Transformation und Verschiebung ausgesetzt. Er existiert nicht einfach in einem
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kulturellen Archiv, sondern aktualisiert sich jeweils neu, vor Ort, überall dort, wo er erzählt wird. Der Geschichtenerzähler geht von Familie zu Familie. Er vermittelt die alten Mythen mit den neuesten Nachrichten, die er der einen Familie von den jeweils anderen überbringt; der Mythos wird so zum Gegenstand einer permanenten Konstruktion. IV. Der Geschichtenerzähler verkörpert die zentrale kulturelle Instanz der Machiguengas. Doch macht es Sinn, hier noch von einer Kultur oder auch nur von einer Kultur zu sprechen? Eine Kultur, so haben wir bereits weiter oben mit Derrida ausgeführt, ist immer das Produkt einer Kolonialisierung. Genau dem entziehen sich die Machiguengas, gehend und sprechend. Sie waren niemals seßhaft, kannten keine hierarchischen Strukturen, hatten keinen Häuptling. Sie lebten und leben teilweise immer noch in kleinen Familienverbänden, die sich fortwährend bewegen und ein Feld selten mehr als einmal bestellen. Die Eroberung des Urwalds durch Kautschukhändler, Goldsucher und Holzfäller hat diesen Nomadismus noch forciert. Im vierten Kapitel verläßt der Roman den Mythos und kehrt wieder in die 50er Jahre zurück. Gegen Ende seines Studiums unternimmt der Erzähler selbst eine Reise zu einer Forschungsstation im Amazonastiefl and und triff t dort zu seinem großen Erstaunen auf genau die Machiguengas, von denen Saúl ihm immer wieder berichtet hat. Die Machiguengas im Umkreis der Forschungsstation befi nden sich ganz offensichtlich im Stadium der Akkulturation und Auflösung. Ihre vortechnische Lebensweise macht sie, so der Erzähler, »zu Opfern der schlimmsten Ausplünderungen und Grausamkeiten«. Kautschuksammler, Holzfäller, Plantagenbesitzer, Militärs und Drogenhändler dringen immer tiefer in ihre Gebiete ein und zerstören, etwa durch Dynamitfi scherei und Brandrodung, ihren Lebensraum: »In diesem Erdenwinkel fand die Ausbeutung auf einem nachgerade untermenschlichen Niveau statt.« (91) So lernt der Erzähler etwa einen Indianer namens Jum kennen, der versucht hatte, eine Kooperative zu organisieren, um einen gerechteren Handel mit Produkten des Urwalds zu betreiben und die vielen Zwischenhändler zu umgehen, die die Preise eigenmächtig festlegen und die vermeintlich naiven Indianer massiv ausbeuten. Jums Initiative führt zur Aussendung einer Strafexpedition, die ihn gefangen nimmt und brutal foltert, um ein Exempel zu statuieren. (Auch diese Episode ist historisch und taucht ebenfalls in Vargas Llosas Autobiographie auf 14 ). Jums Schicksal ist typisch für das vieler seiner Stammesgenossen; die Missionierung und Akkulturation hat ihn von seinen Wurzeln entfremdet, aber gleichzeitig nicht ermöglicht, einen Ort in der modernen Gesellschaft zu fi nden. Die Machiguengas desintegrieren, sie verlieren jeden Überlebenswillen. Bei jeder kleineren 14
Vgl. Llosa: Der Fisch im Wasser [Anm. 3], 594.
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Krankheit legen sie sich zum Sterben hin, bei jedem belanglosen sozialen Konfl ikt nehmen sie sich das Leben. Das Ehepaar Schneil, zwei amerikanische Ethnologen, die in der Erforschung und Missionierung der Machiguengas ihre Lebensaufgabe sehen, berichtet dem Erzähler erstmals vom Geschichtenerzähler, einer Instanz, die ihn ungeheuer faszinieren sollte: »Die Vorstellung von der Existenz dieses Wesens, dieser Wesen in den ungesunden Wäldern im Osten von Cusco und Madre Dios, die in Tagen und Wochen gewaltige Regionen durchquerten, Geschichten von den einen Machiguengas zu den anderen trugen und mit sich nahmen und jeden Stammesangehörigen daran erinnerten, daß die anderen lebten, daß sie trotz der großen Entfernungen, die sie trennten, eine Gemeinschaft bildeten und eine Tradition, Glaubensvorstellungen, Vorfahren, Unglück und einige Freuden miteinander teilten, die flüchtige, vielleicht legendäre Gestalt dieser Erzähler, die mit dem einfachen und uralten menschlichen Mittel – Tätigkeit, Notwendigkeit und Wahn – des Geschichtenerzählens das Bindeglied darstellten, das aus den Machiguengas eine Gesellschaft, ein Volk von solidarischen und miteinander verbundene Wesen machte, bewegte mich zutiefst.« (112) Der Geschichtenerzähler bildet die zentrale und zugleich verborgenste Institution der Machiguengas; über ihm liegt ein gewisses Tabu, sie verbergen ihn vor den Missionaren und Ethnologen. Letztere wissen kaum mehr, als daß er existiert. Kurz nach dieser Reise kreuzen sich in Lima noch einmal zufällig die Wege Saúls und des Erzählers; dieser berichtet enthusiastisch von seinen Eindrücken. Saúl wirft ihm vor, daß seine plötzliche Begeisterung für die Machiguengas ausschließlich literarisch bedingt sei. Gleichzeitig zeigt er sich eigentümlich desinteressiert an der Instanz des Geschichtenerzählers, ein Desinteresse, das der Erzähler nicht verstehen kann. Saúl fordert noch einmal dazu auf, jeden Kontakt mit den Indianern zu unterbinden, da sich jede Berührung, insbesondere die durch Linguisten und Ethnologen, zerstörerisch auswirke. Er plädiert dafür, die Machiguengas zu schützen, ohne einen »guten« Grund dafür angeben zu können. Doch gerade diese Grundlosigkeit unterstützt und plausibilisiert seinen ethischen Anspruch. Gerade weil er sich, gemessen an unserer Vernunft, nicht sinnvoll begründen läßt, kommt ihm aus der Sicht des Romans eine rätselhafte Berechtigung zu. Saúl und der Erzähler verabschieden sich nun für immer voneinander. Der Erzähler erhält ein Stipendium in Europa und schlägt dort eine schriftstellerische Kariere ein. Doch auch in Europa lassen ihn die Machiguengas nicht los; neben seinen anderen Projekten nimmt er sich vor, eine Erzählung über die Machiguengas zu veröffentlichen; er recherchiert in Bibliotheken, macht Entwürfe. Er schreibt an Saúl, doch erhält keine Antwort. Später erfährt er von José Matos Mar, der zu einer Vortragsreise nach Europa kommt, daß Saúl mit seinem Vater nach Israel ausgewandert sei.
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V. Erneut wird der realistische, dokumentarische und autobiographische Erzählstrang des Romans durch einen längeren indianischen Mythos unterbrochen, der von verschiedenen Abenteuern verschiedener Tasurinchis handelt und zwei Varianten einer Kosmogonie liefert (Kapitel V). Beide Kosmogonien bedienen sich in prominenter Weise des Verbums »hauchen«. Tasurinchi und sein böser Gegenspieler Kientibakori »hauchten« im Anfang die Lebewesen und Dinge der Welt. Der erste Erzähler, Pachakamue, »dessen Worte Tiere, Bäume und Felsen zur Welt brachten« (156), erbt in gewisser Weise die performative Kraft des göttlichen Wortes. Pachakume bringt die Lebewesen sprechend hervor, indem er andere Lebewesen verwandelt. Der Mann, den er als »Tapir« anredet, wird zum Tapir. Auch sich selbst kann er auf diese Weise verwandeln, etwa in ein Schilfrohr oder eine Ameise. Im Erzählen erneuert sich das sprachliche Schöpfungsgeschehen. Der Erzähler benötigt allerdings nicht nur eine Fähigkeit der performativen Hervorbringung von Welt, sondern muß auch genau zuhören können: »Um zu verstehen, muß man zuhören können. Ich habe es gelernt. Sonst hätte ich schon lange aufgehört zu gehen.« (149) Und weiter: »Alle haben etwas zu erzählen. Das ist es vielleicht, was ich gelernt habe, als ich zuhörte. Auch der Käfer. Das Steinchen, das aus dem Schlamm hervorlugt und das man kaum sehen kann, nicht weniger. Sogar die Kopfl aus, die man mit einem Fingernagel zerdrückt, hat eine Geschichte zu erzählen. Hoffentlich erinnere ich mich an alles, was ich höre. Dann werdet ihr nicht müde, mir zuzuhören, vielleicht. Einige Dinge kennen ihre Geschichte und die Geschichten der anderen; andere nur die eigene. Wer alle Geschichten weiß, besäße gewiß die Weisheit. Ich habe die Geschichte einiger Tiere erfahren. Alle waren früher Menschen. Sie kamen sprechend auf die Welt, oder viel mehr aus dem Sprechen. Das Wort gab es vor ihnen. Danach, was das Wort sagte. Der Mensch sprach, und das, was er sagte, erschien. Das war vorher. Jetzt spricht nur der Geschichtenerzähler. Die Tiere und die Dinge gibt es schon. Das war danach.« (155 f.) Der Roman legt dem Mythos eine Theorie sprachlicher Performativität in den Mund. Das Davor und das Danach stehen für zwei Stufen der Sprachentwicklung. Im Danach verfügt nur noch der Geschichtenerzähler über die performative Kraft des Wortes. Im Roman, dessen Sprache Fakten wiederzugeben vorgibt, wird auch ein Mythos wiedergegeben, der von einer anderen Sprache erzählt, einem anderen Erzählen. Auf dieses andere, nicht-repräsentative Sprechen richtet sich die Sehnsucht des Romanerzählers ebenso wie die Sehnsucht seines alter ego Saúl Zuratas. Beide nähern sich diesem anderen Erzählen auf eine unterschiedliche Weise.
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VI. Der Romanerzähler kritisiert bestimmte Implikationen der traditionellen Erzähltheorie wie sie etwa, ohne daß diese Autoren erwähnt würden, von Lukács und Benjamin vorgetragen werden. Lukács bezieht das Erzählen in seiner Theorie des Romans 15 auf einen geordneten und geschlossenen Kosmos. Der Ursprung des Erzählens liegt für ihn im antiken Epos, das diesen Kosmos in seiner Geschlossenheit widerspiegelt. Mit dem Zerfall des geschlossenen Kosmos der Antike und des Mittelalters geht das Epos in den Roman über. Doch auch das Erzählen des neuzeitlichen Romans weist noch eine zirkuläre Struktur auf. Es folgt der Logik der Bildung. Es wird von einem Selbst strukturiert und getragen, das im Durchgang durch eine aus den Fugen geratene Welt zu sich selbst zurückkehrt, das die Ordnung in sich selbst wieder herstellt. Benjamins berühmte These von der Krisis des Bildungsromans16 und einem möglichen Ende des Erzählens unter den Bedingungen der Moderne17 bleibt dem Prämissensystem von Lukács verhaftet. Das Erzählen gehört, so Benjamin, deshalb der Vergangenheit an, weil Welten und Biographien unter Bedingungen einer entfesselten gesellschaftlichen Modernisierung zerfallen und insofern nicht mehr narrativ vergegenwärtigt werden können. Das Erzählen der Machiguengas lehrt uns dagegen etwas völlig anderes. Hier ist es gerade die Zerstreuung, die konstitutive Diaspora, die fehlende Identität des Selbst, die das Erzählen zugleich notwendig und möglich macht. Hier bildet das narrative Sprechen keine vorab existierende Ordnung ab, sondern konstituiert diese Ordnung performativ. Gesprochen werden kann nur dort, wo eine Welt nicht bereits fertig ist. Dieses anderen Erzählen, von dem der indianische Mythos im Roman berichtet, unterscheidet sich von den Legitimationsmythen der europäischen Antike; es berichtet eher von auf Dauer gestellten Übergängen und Transformationen als von einer letzten Erstarrung. »Wie der Hirsch, so wird jedes Tier seine Geschichte haben. Das kleine, das mittlere und das große. Das, das fl iegt wie der Kolibri. Das, das schwimmt wie der Boquichico. Das, das immer im Rudel läuft wie das Nabelschwein. Alle waren vorher etwas anderes, als sie jetzt sind. Allen muß etwas widerfahren sein, das man erzählen kann. Ihr würdet gerne ihre Geschichten kennen? Ich auch.« (230 f.) Als erzählbar figuriert hier nicht das ewig Gültige, das, was ein für alle mal so geworden ist wie es ist, sondern nur das, was anders wurde und weiterhin anders wird.
Vgl. Georg Lukács: Die Theorie des Romans, Darmstadt/Neuwied 1971. Vgl. Walter Benjamin: Die Krisis des Romans, in: ders., Gesammelte Schriften III, Frankfurt/ M. 1980, 230-236. 17 Vgl. Walter Benjamin: Der Erzähler, in: ders., Gesammelte Schriften II.2, Frankfurt/M. 1980, 438-465. 15 16
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VII. Um 1980 kehrt der Erzähler noch einmal, diesmal als Fernsehjournalist, in das Gebiet der Machiguengas zurück. Die Arbeit der Linguisten war allem Anschein nach erfolgreich; Teile der Machiguengas haben sich in Dörfern angesiedelt und zum christlichen Glauben bekannt. Sie sind seßhaft geworden und haben doch, so scheint es, ihre Zuversicht behalten bzw. zurückgewonnen. Auf die Frage, warum die Seßhaftigkeit nicht dazu führe, daß die Sonne sich absenke, sagen sie, daß Gott nun die Sonne halte. Auf Fragen nach dem Geschichtenerzähler reagieren sie allerdings ausweichend oder mit Unverständnis. Der Protagonist fragt das Ehepaar Schneil nach dem Geschichtenerzähler. Zunächst fällt auf, daß die Machiguengas ihr Schweigen in bezug auf den Geschichtenerzähler bewahrt und das Tabu noch verschärft haben. Auch aus der ethnologischen Literatur ist der Erzähler seit den 50er Jahren verschwunden. Der Protagonist vermutet schon, daß der Geschichtenerzähler vielleicht nur eine Projektion sein könnte, eine Wunschvorstellung, die sich mit seinen Erinnerungen vermischt hat. Doch dann berichtet Edwin Schneil davon, daß er einmal, vor etwa drei Jahren durch Zufall auf einen realen Geschichtenerzähler gestoßen sei, auf einen merkwürdigen Albino, dessen Gesicht durch einen riesigen Leberfleck entstellt wurde. Saúl vollzog, wie Gregor Samsa und wie Saulus, eine Wandlung. Der einzige Weg, der dem vormaligen Ethnologen bleibt, um sich der Zerstörung dessen zu entziehen, was er zu verstehen versuchte, ist die Konversion in die Ethnie – das also, was Ethnologen als going native beschreiben, ein Phänomen, das sich durch die gesamte Geschichte der neueren Ethnologie zieht. Saúl Zuratas scheint der Faszination des Geschichtenerzählers erlegen zu sein. Auf der Suche nach diesem Geschichtenerzähler, die ihn von Familie zu Familie geführt haben wird, wird er nach und nach selbst zu dem, was er als Ethnologe suchte, zum Geschichtenerzähler der Machiguengas. Er sammelt und erzählt Mythen; er berichtet den verstreut lebenden Familien von den anderen Familien. Nach und nach fl icht er sein gesamtes eigenes Schicksal mit in die Geschichten, die er erzählt, ein. Wie Gregor Samsa wird er eines Morgens wach und ist Geschichtenerzähler; wie Saulus wird er eines Tages auf seinem Weg angerufen: Seht, da kommt der Geschichtenerzähler! Er wird zu dem, was er sucht. Die Auflösung des eigenen Standpunktes in ein unbestimmtes Spiel von Geschichten befreit ihn von den Herrschaftszwängen einer identitätslogischen Rationalität. Doch nicht nur dem Romanhelden Saúl Zuratas, sondern auch den Machiguengas selbst gelingt es, sich den fatalen Folgen der Kolonialisierung teilweise zu entziehen. Der Erzähler bemerkt: »Mir ist klar geworden, daß es bloß äußerlich ist. Auch wenn sie begonnen haben, Handel zu treiben und mit Geld umzugehen, das Gewicht ihrer eigenen Tradition ist doch sehr viel stärker in ihnen als alles andere.« (203) Sie entwickeln Taktiken, sich der Missionierung zu widersetzen. So nehmen sie etwa den christlichen Glauben nicht nur in einem einfachen Sinne an, sondern
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beginnen, ihn zu gebrauchen, ihn für eigene Zwecke umzudefi nieren. In der Gestalt der Heiligen der christlichen Kirche werden nach wie vor alte Götter verehrt. Homi Bhabha spricht in solchen Fällen von »sly civility«18 , von einer verschlagenen Höfl ichkeit, die sich oberfl ächlich betrachtet dem missionarischen Gebot fügt, sich in ihrem Innersten aber nicht erreichen läßt. Die Assimilation der Machiguengas in die peruanische Gesellschaft gelingt nur äußerlich. Im Mythos, der in Kapitel VII wiedergegeben wird, gibt sich Saúl Zuratas dem Leser explizit als der Geschichtenerzähler zu erkennen. Angedeutet wurde das bereits vorher, etwa durch den Papagei, der eine Brücke zwischen dem Davor und dem Danach bildet. Zuratas überführt seine eigene Biographie in den Mythos. Er beginnt mit Kaf kas Verwandlung, die er als eine Geschichte beschreibt, welche er selbst in einem »schlechten Rausch« (238) erlebt habe. Und er erzählt von seiner zweiten Geburt, seiner Metamorphose zum Erzähler: »Ich bin zum Geschichtenerzähler geworden, nachdem ich war, was ihr in diesem Augenblick seid: Zuhörer. Das war ich: Zuhörer.« (246) Saúl integriert schließlich auch seine jüdische Herkunft in die Erzählung und berichtet von der Entstehung der jüdisch-christlichen Welt, von der Verfolgung und Diaspora der Juden, die als ein anderes Volk der Gehenden charakterisiert werden. Die Juden haben, und darauf kommt es Zuratas an, die Verfolgung durch übermächtige Gegner und die Diaspora überlebt. Sie sind ihrer Überlieferung durch die Jahrtausende hindurch treu geblieben. Am Ende des Romans befi ndet sich der Erzähler wieder in Florenz. Er beschreibt noch einmal die Situation der Machiguengas im zeitgenössischen Peru. Die Amazonasregion wird zum Schauplatz der Auseinandersetzungen rivalisierender Drogenbanden. Der Krieg von Terror und Gegenterror, den sich der Leuchtende Pfad und das peruanische Militär liefern, verlagert sich von den Anden in den Urwald. Die Luftwaffe beginnt, Teile der Urwaldregionen zu bombardieren. Der Roman endet mit Fragen: »Wie hat sich all das auf das Volk der Machiguengas ausgewirkt? Hat es seinen Zerfall und seine Auflösung beschleunigt? Existieren die Dörfer noch, in denen sie sich vor fünf oder sechs Jahren zusammenzufi nden begannen? Diese Weiler haben natürlich zwangsläufig den unauf haltsamen, störenden Einfluß jener widersprüchlichen Zivilisation erfahren, wie sie repräsentiert wird durch die guten Löhne von Shell oder von Petro Peru, durch die mit Dollar gefüllten Geldschränke des Kokahandels und die Risiken, in die Schlächtereien des Krieges zwischen den Drogenhändlern, Guerrilleros, Polizisten und Soldaten zu geraten, ohne ein Wort von dem zu verstehen, was auf dem Spiel steht. Nicht anders als zu der Zeit, da sie von den Heeren der Inkas heimgesucht wurden, von den spanischen Exploratoren, Eroberern und Missionaren, den Kautschuk- und Holzsammlern der Republik und den Goldsuchern und Einwanderern aus dem Hochland im 20. Jahrhundert. Für 18
Homi Bhabha: The Location of Culture, London/New York 1994, 99.
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die Machiguengas geht die Geschichte weder vor noch zurück: Sie kreist, wiederholt sich. Doch obwohl die Zerstörungen der Gemeinschaft infolge all dieser Entwicklungen sehr groß gewesen sind, ist anzunehmen, daß sich ein großer Teil von ihr angesichts der Wirren der letzten Jahre für den traditionellen Überlebensmechanismus entschieden hat: die Diaspora. Dafür, sich einmal mehr auf den Weg zu machen, wie in ihrem dauerhaftesten Mythos. »Geht in der Mitte – mit dem kurzen Schritt des Schwimmvogels, der immer die ganze Fußsohle auf den Boden setzt, eine Gangart, die typisch ist für die Menschen der amazonischen Stämme – mein ehemaliger Freund, der ehemalige Jude, ehemalige Weiße und ehemalige westliche Mensch Saúl Zuratas? Ich habe beschlossen, daß er der Geschichtenerzähler auf der Photographie von Malfatti ist. Denn objektiv gesehen kann ich es nicht wissen. Zwar läßt die stehende Gestalt im Gesicht einen dichteren Schatten erkennen – auf der rechten Seite, wo er den Leberflecken hatte –, das entscheidende Merkmal, anhand dessen man ihn identifizieren könnte. Aber auch auf diese Entfernung kann der Eindruck trügen […]. [Doch] [o]bwohl nur aus der Entfernung zu sehen, besteht kein Zweifel: Dies ist nicht der typische Körperbau eines Urwaldindianers, im allgemeinen ein kleinwüchsiger Mensch mit kurzen, krummen Beinen und breitem Brustkorb. Der da spricht, hat einen langgestreckten Körper und, ich könnte schwören, eine sehr viel hellere Haut – er ist nackt von der Taille aufwärts – als seine Zuhörer. […] Ich habe auch beschlossen, daß dieses unbestimmte Etwas auf der linken Schulter des Erzählers auf dem Foto ein Papagei ist. Wäre es nicht das natürlichste von der Welt, daß ein Erzähler die Wälder mit einem Papagei als Totem, Gefährten oder Meßdiener durchstreift?« (280 f.)
Scham vor der Metaph ysik Cees Nooteboom und »Die folgende Geschichte«* Von Josef Früchtl
In dem, was nun folgt, Gedanken zu einem Buch von Cees Nooteboom mit dem Titel Die folgende Geschichte, präsentiere ich ein großes Thema in kleiner Form. Und diese Präsentationsform ist nicht zufällig, sondern Teil eines philosophischen Programms. Denn es gibt kein größeres philosophisches, vielleicht auch ›menschliches‹ Thema als das der Metaphysik. Doch die Art, darüber zu sprechen, hat sich in den vergangenen zweihundert Jahren in das Kleinformat zurückgezogen. Warum das so ist, werde ich gleich exemplarisch ausführen. Und ebenfalls, welche Rolle in der Folge die Literatur dabei spielt. Meine Gedanken gliedern sich demnach in einen philosophischen und einen literarischen Teil. Ich werde zunächst über das Metaphysikverständnis eines Philosophen sprechen, der Nooteboom das Motto für seine Geschichte vorgibt: Theodor W. Adorno. Dieser Name steht auch für eine These, die zugleich in einem allgemeineren philosophischen Rahmen erläutert wird, die These, daß Metaphysik und ihre Kritik untrennbar zusammengehören. Im zweiten Teil werde ich sodann auf Nooteboom eingehen als einen Versuch, Metaphysik mit zeitgemäß kritischen, d.h. in diesem Fall literarischen Mitteln einzuholen. Denn Die folgende Geschichte ist eine in eine Geschichte verstrickte Verhandlung eines klassischen Themas der Metaphysik: die Unsterblichkeit.
I. »Scham sträubt sich dagegen, metaphysische Intentionen unmittelbar auszudrükken; wagte man es, so wäre man dem jubelnden Mißverständnis preisgegeben.« So lautet das Motto, das Nooteboom seiner Erzählung voranstellt. Es stammt aus dem Aufsatz: »Zur Schlußszene des Faust«, ausgeführten Notizen, mit denen Adorno den zweiten Band seiner Noten zur Literatur eröff net, und fi ndet sich dort fast unmittelbar am Beginn. Der Kontext, ein Abschnitt von der Länge einer Seite1, legt, für Adornos Sprachstil typisch, auf engstem Raum zentrale Elemente von dessen Metaphysikverständnis frei. * Dieser Beitrag ist in Niederländisch bereits unter dem Titel erschienen: Schaamte voor de metafysica. Cees Nooteboom en Het volgende verhaal, in: In het oog van de storm. De wereld van Cees Nooteboom, Amsterdam/Antwerpen 2006, 185-211. 1 Vgl. zu den folgenden Zitaten Theodor W. Adorno: Zur Schlußszene des Faust, in: ders., Gesammelte Schriften 11, Frankfurt/M. 1974, 129.
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Ausgangspunkt ist eine hermeneutische und geisteswissenschaftliche Legitimationsfrage: Was rechtfertigt »die auslegende Versenkung in überlieferte Schriften«? Sich rechtfertigen zu müssen dafür, daß man sich in die Deutung der Tradition, die Interpretation von Texten versenkt, ist in Zeiten üblich, die entweder der Tradition, der Bewahrung des Vergangenen, feindlich gesonnen sind oder der Sphäre des, wie man in der Philosophie seit dem deutschen Idealismus sagt, ›Geistes‹ verächtlich gegenüberstehen. Adorno kennt diese Einstellungen nur allzu gut und verwahrt sich, hier wie überhaupt, gegen einseitige Perspektiven, sei es die des Bürgertums aus dem 19. Jahrhundert, das Geistiges nur als Kompensation goutieren möchte, sei es die eines kruden politischen Marxismus, der, getreu der berühmten 11. Feuerbach-These, den Philosophen vorwirft, sie hätten die Welt nur verschieden interpretiert, daß es aber darauf ankomme, sie zu verändern. Im Kontext bezieht Adorno sich aber noch auf den speziellen Vorwurf, der unter dem Schlagwort des »Alexandrinismus« bekannt ist. Die Bibliotheken des antiken Alexandria werden dabei zum Symbol für jene unermeßliche Ansammlung und Ausweitung von Wissen, für die Friedrich Nietzsche, wiederum im (bürgerlichen und wissenschaftsgläubigen) 19. Jahrhundert, niederschmetternde und spöttische Worte fi ndet. Denn die »alexandrinische Cultur« hat zu ihrem Ideal den »theoretischen Menschen, dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist«, eine Kultur, die auch bei Nietzsche unter einem praktischen Defi zit leidet, da es ihr an »Kraft« fehlt, etwas Neues in die Welt zu setzen; statt dessen bringt sie nur noch den ›Kritiker‹ hervor, einen Typus von Mensch, »der im Grunde Bibliothekar und Corrector ist und an Bücherstaub und Druckfehlern elend erblindet« 2 . Aber nicht nur Bibliothekare, Korrektoren, Rezensenten und Texte sammelnde Wissenschaftler sind unter dem Primat des Praktischen schlecht angesehen, sondern auch jene, deren Wissen sich möglichst umstandslos praktischer Verwertbarkeit entzieht. Und das sind eben all jene, für die sich, noch einmal, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und im Sprachgebrauch des deutschen Idealismus, namentlich seit Wilhelm Diltheys Grundlegungsversuch, der Name ›Geisteswissenschaften‹ eingebürgert hat. Unter dem Diktat von ökonomischer Verwertbarkeit und Effi zienz wird den Geisteswissenschaften der altbackene und unzeitgemäße Geist ausgetrieben. Das ist, im Rückblick auf die vergangenen zweihundert Jahre, nicht neu. Daß »Entgeistung und Verwissenschaftlichung miteinander verwachsen« sind, konstatiert auch Adorno in einer »Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung« aus dem Jahre 1962. 3 Neu ist aber heute der erklärte Bruch mit dem Humboldt`schen Universitätsideal, der im Zeichen der Forcierung von Kurzstudiengängen defi nitiv Ausbildung an die Stelle 2 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden 1, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1988, 116 u. 120. 3 Theodor W. Adorno: Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung, in: ders., Gesammelte Schriften 10/2, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1977, 498.
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des wie immer auch prekären Ideals von Bildung setzt. Auch hier stehen wir zur Zeit, wie in Sachen des Sozialstaates, inmitten einer veritablen Kulturrevolution. Die hermeneutischen Geisteswissenschaften sind für Adorno also bereits auf dieser praktisch, politisch und ökonomisch grundierten Folie legitim. Ein Grund, der die Metaphysik mit ins Spiel bringt, kommt aber hinzu. Denn auch »metaphysische Intentionen« kann man Adorno zufolge »in der gegenwärtigen geschichtlichen Lage« (der Aufsatz erscheint 1959) nicht mehr »unmittelbar« ausdrücken. Würde man es dennoch tun, müßte man sich schämen. Scham ist hier nicht nur eine kulturelle, sondern auch eine moralische Emotion, eine Gefühlsreaktion, mit der wir nicht nur einen Selbstwertverlust, sondern auch die Übertretung moralischer Normen zum Ausdruck bringen können. Man schämt sich (gewöhnlich), wenn man einem Maßstab nicht nachkommen kann, der für einen selbst wichtig ist. Wer einen interessanten, anregenden, ja vielleicht sogar mitreißenden Vortrag halten will und dann mit ansehen muß, wie der Saal sich langsam leert, je länger der Vortrag dauert, muß darüber (eigentlich) Scham empfi nden. Und was für solche kulturellen Konventionen gilt, gilt auch für moralische. Dabei erwischt zu werden, daß man andere verbotener- oder ungehörigerweise (durch das berühmte Schlüsselloch) beobachtet hat, ruft (gewöhnlich) ebenso Scham hervor, wie beim Lügen oder einer ähnlichen unmoralischen Tat ertappt zu werden. Wovor schämt sich der Philosoph und Gesellschaftstheoretiker Adorno? Welches metaphysische Verbot darf man ihm zufolge nicht übertreten? Etwas zu tun, was nicht der gegenwärtigen geschichtlichen Lage entspricht, und diese Lage hört auf den Namen und steht ganz im Zeichen von »Auschwitz«. Nach dem fabrikmäßig organisierten Mord an Millionen, den sich allem Erklären und Verstehen letztlich verweigernden Untaten, ist die oder zumindest jene metaphysische Intention abgeblockt, die »dem Daseienden Sinn zuschriebe«. Die Sinnfrage, die Frage nach dem Sinn des Lebens und dem Sinn der Geschichte zu stellen, verbietet sich unter historischen Bedingungen, die ein (noch einmal: erklärungs- und verständnisresistentes) Ereignis wie Auschwitz hervorgebracht haben. Insofern ist Adornos Denken von vornherein nachmetaphysisch. Die Metaphysik unterliegt einem historisch induzierten Bedeutungsverlust, einem Signifi kanz- und Relevanzverlust. Wie vertrackt die Situation geworden ist, kann man daran erkennen, daß es, wie Adorno fortfährt, nicht genügt, die bloße Gegenposition einzunehmen. Noch wer nein sagt, sagt ja. Wer deklariert, es gebe keinen Sinn, begründet die Sinnlosigkeit, »rechtfertigt« also »die Verzweiflung in der Welt als deren Wesensgehalt«. Und als Beispiel zieht Adorno, zunächst überraschend, Karl Jaspers` Begriff der »Grenzsituation« heran. Jaspers beschreibt damit eine Situation, die mit dem ›Menschsein als solchem‹, mit dem ›endlichen Dasein unvermeidlich gegeben‹ ist, die Situation einer bestimmten Herkunft, des Leidens, des Todes, der Schuld, der Geschichtlichkeit. In der (wirklichen, nicht verschleierten, rationalisierten, verdrängten) Erfahrung dieser Grenzsituationen erf ährt der Mensch sich demnach
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selbst in seiner (wirklichen) Existenz. 4 Nun ist selbstverständlich Jaspers kein Nihilist, aber, das ist Adornos Argument, ein Nihilist könnte sich dieses existenzialistischen Begriff s bedienen und so noch Auschwitz als Grenzsituation adeln. Wenn es also nicht mehr möglich ist, den metaphysischen Intentionen, für die als pars pro toto zunächst einmal die großen Sinnfragen stehen, affi rmativ, d.h. direkt und unmittelbar, oder spiegelverkehrt negativ nachzugehen, bleibt, so Adorno, nur der »Schutz bei Texten«, der Alexandrinismus als hermeneutische (nicht, eines Sinnes mit Nietzsche, als sokratisch-epistemische, auf reine Wissensvermehrung ausgerichtete) Tugend. Philosophische, aber auch literarische Texte wie Goethes Faust zu interpretieren, ist keine müßige Angelegenheit. Texte zu interpretieren, so interpretiere ich Adornos Text, schützt davor, Wahrheiten entdecken und sie als Lehren in die Welt hinausposaunen zu wollen. Denn einen Text zu interpretieren heißt, einen Zwischenraum an Bedeutung zu eröff nen, einen Bereich zwischen (objektiver, unbezweifelbarer) Wahrheit und (privater, vorurteilsbehafteter) Meinung. Texte lassen nicht nur eine, aber auch nicht jede Interpretation zu. Auch auf sie triff t demnach, in abgewandelter, semantischer Form, die Sinnfrage zu und daher auch auf sie das »Lichtenbergische ›Weder leugnen noch glauben‹«: Man kann ihren Sinn weder relativistisch leugnen noch dogmatisch an ihn glauben. Was »der Philosophie als Lehre vor Augen steht«, ein System deduktiv abgeleiteter Lehrsätze etwa wie im Rationalismus, ist »unerreichbar«, ausgerichtet an der »Autorität der großen Texte«, wie sie paradigmatisch in der Bibel, also in einem religiösen Text, vorliegt. Adornos Schlußfolgerung daraus lautet: »Profane Texte wie heilige anzuschauen, das ist die Antwort darauf, daß alle Transzendenz in die Profanität einwanderte und nirgends überwintert als dort, wo sie sich verbirgt.« Adornos Begründung für den Zusammenhang von Metaphysik und Hermeneutik baut also auf das Auschwitz-Argument. Auschwitz ist sinnlos, letztlich nicht erklärbar, nicht verstehbar. Ein Zeitalter, das dieses Ausmaß an Widersinn hervorgebracht hat, entzieht auch einem Denken die Grundlage, das sich als metaphysisches per defi nitionem darauf versteht, die Grund lagen unseres Denkens und Handelns zu bedenken. Insofern richtet sich Adornos Kritik nun nicht nur gegen die große metaphysische Sinnfrage, sondern durchaus gegen das metaphysische Fundierungsunternehmen als ganzes. Wer in und nach diesem Zeitalter immer 4 Vgl. Hans Saner: Grenzsituation, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 3, G-H, hg. v. Joachim Ritter, Basel/Stuttgart 1974, 877 f. – Generell ist unverkennbar, daß Adorno in diesem Zusammenhang kritisch die Existentialontologie im Blick hat. Aber zur Ehrenrettung Heideggers müßte man doch zumindest anführen, daß dieser in Sein und Zeit nichts anderes unternimmt, als die von Adorno behauptete Auflösung der Transzendenz in der Profanität auf seine, Heideggers Weise zu demonstrieren. Denn das Transzendieren des Seienden, die Metaphysik ist, »das Grundgeschehen im Dasein« selber, sofern das Dasein in der »Grundstimmung« der Angst das Nichts, die vollständige Verneinung alles Seienden, und insofern wiederum das Sein erf ährt. Denn das Sein ist nicht ein (einzelnes, bestimmtes) Seiendes (vgl. Martin Heidegger: Was ist Metaphysik? Frankfurt/M.1969, 23, 29, 41).
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noch Grundlagen sucht, macht sich anheischig, auch das zu begründen, was jenseits aller Begründung verbleibt. Auschwitz ist dafür nur ein Name, der stalinistische Gulag, die killing fi elds der Roten Khmer, Ruanda sind andere Namen. Sie stehen für all die Morde, Gemetzel, Ausrottungen, die Anschläge, Genickschüsse und Vergewaltigungen, von denen das 20. Jahrhundert übervoll ist. Sie auf der metaphysischen Folie von ›Grundsituationen‹ zu erklären, wäre, moralisch gesehen, ein Hohn und, metaphysisch gesehen, nur noch peinlich, etwas, wofür man sich sozusagen als anständiger Metaphysiker schämen muß. Nicht schämen muß man sich dagegen, wenn man die Sache indirekt angeht, wenn man Texte liest, als wären sie heilige, ausgestattet mit der Autorität einer unverbrüchlichen Wahrheit, wohl wissend, daß sie profan sind, von Menschen geschrieben, mit mehr oder weniger gut begründeten Thesen, Irrtümer und krasse Fehler, Großartiges und Belangloses enthaltend. Diese intellektuelle Haltung des Als-ob hat in der Philosophie verschiedene prominente Befürworter. Kant führt sie als konstitutiv für Urteile im ästhetischen Kontext ein, Nietzsche ersetzt mit ihrer Hilfe den Begriff der Wahrheit durch den der Fiktion, Hans Vaihinger, weniger prominent, schreibt Ende des 19. Jahrhunderts eine ganze Philosophie des Als-ob und interessiert sich für die Funktion der Fiktion besonders in den Wissenschaften (auf ihn bezieht sich in unseren Tagen ausdrücklich Odo Marquard 5 ), Jürgen Habermas (und ähnlich Hilary Putnam) schließlich erklärt die Fiktion zur unvermeidlichen Bedingung aller Wahrheitsaussagen, da wir nicht umhin können, ›kontrafaktisch‹ immer wieder so zu tun, als ob die Bedingungen eines reinen ›Diskurses‹ wirklich seien; wahr ist, was unter idealen Bedingungen begründet werden kann. Und auch Adorno gibt der Einstellung des Als-ob eine erkenntnis- und wahrheitstheoretische Wendung: »In meinem Satz, A ist gleich B, steckt im Grunde bereits, ich mag es wollen oder nicht, ich mag es einschränken, selbst kritisieren, die Idee einer ganzen, einer absoluten Wahrheit.« Und dann biegt er dieses Theorem auf die Metaphysik zurück: Insofern »ist der Kantische Begriff Gottes als einer regulativen Idee erkenntnistheoretisch äußerst ernst zu nehmen« 6 . Wer ein A mit einem B, ein Subjekt mit einem Prädikat durch die Kopula ›ist‹ verbindet, tritt so auf, als ob es eine absolut gesicherte Wahrheit gäbe. Als Kantische Idee ist das Absolute von unseren Aussagen nicht wegzudenken. Eine Behauptung kann, wenn sie beansprucht, wahr zu sein, nicht heute wahr und morgen unwahr sein. Wahrheit ist insofern (für eine begrenzte Zeit, nämlich bis zum Zeitpunkt ihrer Widerlegung) zeitlos. Die Einstellung des Als-ob ist somit eine Variante des Sowohl-als-auch-Denkens. Beide sind nötig, wo es ein Entweder-Oder nicht gibt, wo das Heilige nicht dem Profanen, das MetaVgl. Odo Marquard: Kunst als Antifi ktion – Versuch über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive, in: ders., Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen, Paderborn 1989, 84. 6 Theodor W. Adorno: Philosophische Terminologie 1, Frankfurt/M. 1973, 113 f. 5
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physische nicht dem Alltäglichen, das Absolute nicht dem Relativen einfach gegenübersteht. Die Begründung für den indirekten Zugang zur Metaphysik baut bei Adorno also, noch einmal, auf einem historischen und einem, daran gekoppelten, gesellschaftstheoretischen Argument. Nachdem die europäisch-westliche Zivilisation dem Totalitarismus verfallen ist, läßt sich das Wahre, Gute und Schöne direkt nicht mehr bezeichnen. Adorno trägt dementsprechend seine Moralphilosophie unter dem Titel Minima Moralia vor, weil es unter den angegebenen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen nur noch darum gehen kann, das gute Leben aus seinem Widerpart, aus dem ›beschädigten Leben‹ zu erschließen. Mehr als dieses Minimum kann die Moralphilosophie nicht mehr bieten. Ihre angemessene literarische Form fi ndet sie konsequent im Aphorismus. Das eine, das beschädigte Leben, ist manifest, das andere, das gute Leben, nur noch im Irrealis und Konditionalis zu beschreiben; stets steht ein ›vielleicht‹ und ein ›wäre‹ in diesen Sätzen. Und dasselbe gilt auch für die Metaphysik. Die These, daß eine unmittelbar, ungebrochen vorgetragene, eine nicht-irrealisierte Metaphysik nicht mehr möglich ist, setzt dabei gewiß die Gültigkeit der gesellschaftstheoretischen Totalitätsthese Adornos voraus. Wenn die Gesellschaft, frei nach Hegel und Marx, ein alles durchdringender Funktions- oder Vermittlungszusammenhang ist, der dem Einzelnen keine Unabhängigkeit läßt, kann kein Einzelnes, auch nicht das Subsystem des Denkens, speziell des metaphysischen Denkens, mit dem Anspruch auftreten, ein Unmittelbares zu sein. Aber auch herausgelöst aus dieser alles überwölbenden, aus heutiger Sicht überstrapazierten These, kann man Adornos Plädoyer für eine indirekte Metaphysik nachvollziehen. Sein historisches Argument ist dazu ausreichend: Ereignisse wie Auschwitz im 20. und das Erdbeben von Lissabon im 18. Jahrhundert lassen die Metaphysik nicht unberührt. Das Erdbeben von Lissabon, so schreibt Adorno in den »Meditationen zur Metaphysik« aus der Negativen Dialektik, reichte aus, um Voltaire von der Leibnizschen Theodizee abzubringen.7 Gott als höchste Sinninstanz angesichts der von ihm zugelassenen Übel zu rechtfertigen, gelang nicht mehr. Wieviel mehr, so Adorno, muß dies angesichts der Zivilisationskatastrophe des 20. Jahrhunderts gelten. Versteht sich die Metaphysik traditionell als ein Wissen, das unabhängig von Raum und Zeit, unabhängig von aller Erfahrung Gültigkeit hat, muß sie doch zugeben, daß sie – zumindest in bestimmter Hinsicht – sehr wohl davon abhängig ist. In Adornos Augen haben die historischen Ereignisse dazu geführt, daß die Sphäre der Transzendenz sich in der der Profanität aufgelöst hat, daß sie dort ›eingewandert‹ ist wie jemand, der aus der Fremde kommt, ein Exilant. Diese Assoziation liegt nahe. Auch hier hört man deutlich noch einmal die gesellschaftstheoretische Totalisierungsthese heraus, wenn Adorno vom ›Überwintern‹ der Tran szendenz spricht, denn diese Vokabel gebraucht er gerne, um die soziale Exi7
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1966, 352.
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stenzweise all jener Individuen, Dinge und Vorstellungen zu bezeichnen, die dem gesellschaftlichen Ganzen kritisch gegenüber stehen; sie haben sich zurückgezogen, versteckt, vor der sozialen Kälte geschützt, sind aber nicht tot, sondern warten auf oder kämpfen im Untergrund für bessere Zeiten. Interessanter aber ist – und damit komme ich zu dem eingangs angesprochenen allgemeineren Rahmen, in dem sich Adornos Kritik der Metaphysik beschreiben lässt – das metaphysisch-theologische Motiv, das in Adornos metaphysikkritischer These wirksam ist, dasjenige nämlich des sich erniedrigenden christlichen Gottes. Auch insofern ist er ein Schüler Hegels. Kann man schon in Hegels ›spekulativer Grundfigur‹, in dem Gedanken, daß etwas es selbst ist und zugleich sein Gegenteil, daß es mit dem, was es nicht ist, identisch ist, den christlichen Gott wiedererkennen, der sich erst in der ›Entäußerung‹ und ›Entzweiung‹ im doppelten Sinn des Wortes ›verwirklicht‹ (wirklich wird und sein Wesen erfüllt) 8, treibt Adorno den materialistischen Aspekt dieser Verwirklichung noch weiter hervor. Metaphysik »überlebt«, wie er sagt, »allein im Geringsten und Schäbigsten«, so wie Christus nach dem Zeugnis der Evangelien durch seine Menschwerdung, sein Leiden und Sterben zu einem dieser Geringsten geworden ist. Die profanen Sachverhalte, in die Metaphysik zurückweicht, werden »immer kleiner«, »immer unscheinbarer«. Und wie Transzendenz in Profanität einwandert, wandert nun, Adorno gebraucht wieder dieselbe Metapher, Metaphysik als Denkweise in »Mikrologie« ein.9 So lautet der nunmehr nicht theologisch, sondern wissenschaftlich grundierte Begriff. Im Kleinen und Kleinsten fi ndet sich, wenn überhaupt, das Große und Ganze, auf das die Metaphysik seit Platon und Aristoteles bezogen ist. Aufs Ganze geht sie insofern, als es ihr um das Wesen jedes einzelnen Seienden sowie des Seins als des Zusammenhangs zwischen allem Seienden geht. Auf diesen umfassenden Erkenntnisanspruch verzichtet Adornos Metaphysik. Wie unter einem Mikroskop lösen sich ihm die Entitäten vielmehr auf, je genauer man sie betrachtet. Aber sie geben eben damit auch, so die neue Behauptung, ihren Bezug aufs unvermeidliche Ganze frei. Mit dieser Behauptung schließt Adorno, jenseits der impliziten Theologie, an die metaphysische Tradition an, die von Leibniz’ Monadologie zu Hegels Dialektik führt. So wie jede Monade, ein in sich geschlossenes Wesen, sozusagen ein metaphysisches Atom, ein Spiegel des Universums ist, zeigt die Dialektik, daß man ein Einzelnes nicht denken kann, ohne es in ein Verhältnis zu seinem Gegenteil, der Vielheit, zu bringen und schließlich über einen notwendigen, inneren Zusammenhang zwischen den vielen Einzelnen in eine Allheit zu integrieren. Auf keines der beiden Theoreme, weder dasjenige Leibniz’ noch dasjenige Hegels, aber kann Adorno sich kritiklos beziehen, denn die Folgelasten für eine dem 20. Jahrhundert gemäße philosophische Begründung sind viel zu groß. Begründen kann er den unvermeidlichen Bezug auf das metaphysische Ganze, indem er das moralisch Äu8
Vgl. Herbert Schnädelbach: Hegel zur Einführung, Hamburg 1999, 14 ff., 42 ff.
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ßerste, das Extrem von Auschwitz, erkenntnistheoretisch exemplarisch nimmt. Was für das einzelne historische Ereignis gilt, gilt dann auch allgemein. Adorno müßte in diesem Zusammenhang wenn nicht eine Theorie der exemplarischen Begriffsbildung, so doch eine Rechtfertigung des exemplarischen Denkens anbieten, was er aber nur ansatzweise und indirekt, etwa über den zentralen Begriff der Mimesis und der Ähnlichkeit, tut. In Beispielen zu erkennen heißt, zu erkennen, indem man etwas sieht, hört, schmeckt usw. Man weiß, was die Farbe Rot bedeutet, wenn man sie sieht. Man weiß, wie eine Pizza schmeckt, wenn man sie im Mund hat. In Beispielen zu erkennen heißt, Einzelnes als repräsentativ für ein Allgemeines anzusehen. Und diese Art von Erkenntnis arbeitet mit Ähnlichkeitsbeziehungen.10 Auch müßte Adorno seine Wahrheitstheorie offener als eine Evidenztheorie verteidigen, die mit ihren Metaphern des Sehens und des kontemplativen Blicks zu erkennen gibt, daß sie sich in die von Platon ausgehende Tradition stellt, nach der Argumente zwar Erkenntnisse ermöglichen, aber nicht damit identisch sind. Die Erkenntnis (der ›Ideen‹) ist bei Platon kein ›dianoetischer‹, sondern ein ›noetischer‹ Akt, ein Schauen der Dinge selbst, eine Einsicht im wörtlichen Sinn.11 Adorno übernimmt diese Theorie und stellt sie in einen neuen geschichtsphilosophischen Kontext. So wie Auschwitz (letztlich) jenseits der Begründbarkeit steht, entziehen sich (letztlich) alle Dinge und Sachverhalte dem Begriff. Metaphysisch, und d. h. hier: philosophisch angemessen zu denken, erfordert also, die Grenze des Argumentierens zu akzeptieren. Adornos Philosophie ist so, nun in der Tradition Kants, eine »grenzbewußte Philosophie, alias kritische Metaphysik. Sie erkennt kein Erstes und kein Letztes, sie anerkennt vielmehr ein ›Äußerstes‹« 12 . Sie erkennt keine allgemeinsten Prinzipien des Seins oder höchsten Zwecke der Vernunft, ist keine ›erste Philosophie‹ im Sinne des Aristoteles, keine Geschichtsteleologie im Sinne Hegels, keine Ontologie der Existenz im Sinne Heideggers und erst recht keine Wissenschaft, auch nicht im Sinne Kants. Sie anerkennt dagegen, daß sie zur Sache selbst nicht kommen kann, daß diese ihr insofern äußerlich bleiben muß, als sie eine Sphäre außerhalb des Denkens bezeichnet, die permanent vorausgesetzt werden muß, solange das Denken etwas, ein Etwas, zu denken haben will. Denken ist, in der Sprache Husserls, ›intentional‹. Es ist dies eine Sphäre, die also weder begriffl ich restlos eingeholt noch 9 Adorno: Negative Dialektik [Anm. 7 ], 392 u. 397; vgl. Michael Theunissen: Negativität bei Adorno, in: Ludwig von Friedeburg/Jürgen Habermas: Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt/M. 1983, 60. 10 Vgl. Gerhard Gamm: Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne, Frankfurt/M. 1994, 310 ff. 11 Vgl. Herbert Schnädelbach: Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion des Rationalen bei Adorno, in: von Friedeburg/Habermas, Adorno-Konferenz 1983 [Anm. 9], 72 ff. 12 Uwe Justus Wenzel: Statt einer Einleitung: Von metaphysischen Bedürfnissen, in: ders. (Hg.): Vom Ersten und Letzten. Positionen der Metaphysik in der Gegenwartsphilosophie, Frankfurt/M. 1998, 20.
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bloß begriffl ich erreicht werden kann. Das steht ganz in der Tradition des Materialismus, ist aber teilweise auch, wie angedeutet, ein Element der Platonischen Ideenschau und der Analytischen Philosophie im Sinne jenes Wittgenstein, der am Ende des Tractatus dazu auffordert, die ›Leiter‹ der Argumentation, nachdem man auf ihr nach oben, der Wahrheit entgegengestiegen ist, wegzuwerfen. Wie es auch ein Element jener von Georges Bataille entwickelten und postmodernistisch folgenreichen Philosophie ist, die, in der Tradition der Romantik, weiß, daß der ›Augenblick‹ der ›souveränen Überschreitung‹ sich dem Begreifen entzieht. Auch diese Metaphysik geht aufs Ganze, aber diesmal, indem sie, scheinbar paradox, die Gegenrichtung hin zum Einzelnen einschlägt. Interessant ist diese metaphysische Kritik an der Metaphysik, weil sie zeigt, daß die Kritik an der Metaphysik von dem zehrt, was sie kritisiert. Auch mit diesem gegenläufigen Zusammenhang steht Adorno nicht allein. In der Philosophie ist man sich vielmehr nahezu einig bezüglich der These, daß Metaphysik und ihre Kritik unauflösbar ineinander verflochten sind, daß, wer Metaphysik kritisieren will, dabei ohne sie nicht auskommt, daß man eine Metaphysik nur mit einer anderen Metaphysik bekämpfen kann.13 Das eindrucksvollste Zeugnis dafür bietet in unserer Zeit der Dekonstruktivismus Jacques Derridas, der spät, aber nicht zu spät eingestanden hat, daß Gerechtigkeit, eine Sphäre jenseits oder höher als die des Rechts, nicht dekonstruiert, nicht in kleinste, einander opponierende Elemente aufgelöst werden kann, von der Dekonstruktion vielmehr vorausgesetzt werden muß, ähnlich (aber nur ähnlich) einer Idee im Kantischen Sinn, etwas, das unerreichbar und dennoch gegenwärtig ist, etwas Unmögliches, das zugleich Bedingung der Möglichkeit (hier: der Dekonstruktion) ist.14 Und das gegenwärtig eindrucksvollste Zeugnis für den Versuch, sich von der Metaphysik doch zu befreien, bietet der (Neo-)Pragmatismus Richard Rortys, der in der Nachfolge des späten Wittgenstein und des späten Heidegger davon überzeugt ist, daß man das Sprachspiel der Metaphysik nicht kritisieren, nicht ›überwinden‹ kann, sondern einfach ›sich selbst überlassen‹ sollte, daß man es links oder vielmehr rechts liegen lassen und sich den politischen Tages- und Visionsaufgaben widmen sollte.15 So weit geht Adorno nicht. Er steht, zumindest in diesem Punkt, Derridas Aporetik näher als 13 Vgl. Wolfgang Stegmüller: Metaphysik. Skepsis. Wissenschaft, Berlin/New York 1969; Dieter Henrich: Was ist Metaphysik, was Moderne?, in: Merkur 448 (1986), 495-508; Volker Gerhardt: Metaphysik und ihre Kritik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 42 (1988), 45-70; Emil Angehrn: Der endlose Streit der Vernunft. Metaphysik im Spiegel ihrer Kritik, in: Wenzel (Hg.): Vom Ersten und Letzten [Anm. 12], 47-76; Marcus Willaschek: Was ist ›schlechte Metaphysik‹?, in: Wenzel (Hg.): Vom Ersten und Letzten [Anm. 12], 138 ff. 14 Vgl. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹, Frankfurt/M. 1991, 30; und ders., Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/M. 1995, 109 f. 15 Vgl. Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1989, 163, mit Anm. 1.
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Rortys therapeutischer Mißachtungsstrategie. Der historische Bedeutungsverlust der Metaphysik, den er konstatiert, ist also genauer ein Bedeutungswandel. Es geht auch bei Adorno nicht um ein Ja oder ein Nein zur Metaphysik überhaupt, sondern um die Alternative zwischen guter und schlechter Metaphysik (wobei es bemerkenswert ist, daß wir in diesem Zusammenhang evaluative Prädikate, ›gut‹ und ›schlecht‹, statt deskriptiver und epistemischer, ›richtig‹ oder ›wahr‹ und ›falsch‹, verwenden). Nachmetaphysisches Denken heißt bei Adorno somit ein indirektes metaphysisches Denken. Kritik der Metaphysik ist Adornos Philosophie demnach in einem dreifachen Sinne. Sie ist Kritik im Sinne der »Destruktion« (wie etwa, wohlgemerkt auf selbstwidersprüchliche oder explizit aporetische Weise, bei Nietzsche, Heidegger und Derrida) und »zersetzt« in diesem Falle die Metaphysik (wenn auch in konstruktiver, ›solidarischer‹16 Absicht). Es handelt sich bei Adorno auch, wie gesagt, kantianisch um ein Verhältnis der »Konstitution«; Kritik »ermöglicht« in diesem Sinne (gute, wahre) Metaphysik. Aber auch der dritten möglichen Verhältnisbestimmung, derjenigen der »Substitution«, läßt Adorno sich zuordnen; Kritik »ersetzt« demnach Metaphysik.17 Und diese Substitution fi ndet durch die Ästhetik statt. Schon das exemplarische Denken, das Adorno praktiziert, fi ndet sozusagen exemplarisch im Bereich des Schönen, des Erhabenen und der Kunst statt. Ästhetische Urteile können nämlich, so Kant in der Kritik der Urteilskraft (§ 18 und § 46), eine ›exemplarische Notwendigkeit‹ beanspruchen. Sie ist zwar nicht so stark wie eine wissenschaftlich-begriffl iche Notwendigkeit, erlaubt dem ästhetischen, subjektiven Urteil aber, mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit aufzutreten. Diese eigentümliche argumentationstheoretische Zwischenlage verbindet sich bei Adorno, wie oben dargestellt, mit der hermeneutischen These zur Interpretation als einem zwischen Wahrheit und Meinung sich bewegenden Bedeutungsbereich. Traditionell gesprochen, ist es ein Bereich des Scheins. Und so kann Adorno inmitten seiner Meditationen zur Metaphysik einen Lehrsatz zur Ästhetik formulieren: Die »Rettung des Scheins« ist »Gegenstand der Ästhetik« und diese Rettung hat eine »unvergleichliche metaphysische Relevanz«18 . »Kunst ist«, so Adorno auch in seiner Ästhetischen Theorie, »unter der Generalklausel ihres Scheinens, was Metaphysik, scheinlos, immer nur sein wollte« 19. Die folgende Geschichte – und nun bin ich endlich bei Nooteboom – macht darauf eine literarische Probe.
16 Vgl. das berühmte Schlußzitat aus der Negativen Dialektik, mit dem Adorno sich »solidarisch« erklärt mit Metaphysik »im Augenblick ihres Sturzes« [Anm. 7], 398. 17 Vgl. zu dieser dreifachen Relation Wenzel: Von metaphysischen Bedürfnissen, [Anm. 12], 8. 18 Adorno: Negative Dialetik [Anm. 7], 384. 19 Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften 7, Frankfurt/M. 1970, 511.
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II. Ein Mann wacht eines Morgens in einem Hotelzimmer in Lissabon auf, obwohl er am Abend zuvor »wie üblich« in Amsterdam zu Bett gegangen ist (10). 20 Das ist eine eigenartige Geschichte. Oder vielmehr: Die Geschichte, die dazu geführt hat, kennen wir noch nicht. Wir kennen am Anfang nur wenige Fakten: Wir haben es mit einem Mann zu tun, der in einer Stadt (Amsterdam) zu Bett geht und in einer anderen (Lissabon) wieder aufwacht, in einem Zimmer, das er »auf Anhieb« erkennt, da sich dort »eine der bedeutsamsten Episoden seines Lebens abgespielt« hat (10). Diese letzte Information stachelt die Erwartung des Lesers an, wird aber sofort gemindert, wie man interpretierend einschieben kann: auf Normalmaß reduziert. Denn der Mann, der Erzähler, zweifelt, ob in seinem Leben von Bedeutsamkeit überhaupt die Rede sein kann. »Ich« ist das erste Wort in dieser Erzählung (in der niederländischen Originalfassung). Aber dieses Ich hält offenbar (ich interpretiere wieder) keine großen Stücke auf sich. Auch »große Worte«, das ist wieder ein Faktum, kommen ihm nicht über die Lippen, Sätze wie: Dies ist «eine Sache von Leben und Tod«, in einer Stadt schlafen zu gehen und in einer anderen wach zu werden (9). »Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen«, lautet ein boshafter, manche würden auch sagen: unverschämter Aphorismus aus Adornos Minima Moralia (Aph. 29). Unser Mann, der Ich-Erzähler aus Nootebooms Erzählung, zählt sich zu eben diesen Menschen. Das macht ihn allerdings in Adornos Augen wieder zu etwas Besonderem, denn den meisten Menschen fällt es nicht im Traume ein (hier, im Reich der Wunscherfüllung, schon gar nicht), ihr permanentes Ich-Sagen als einen fortgesetzten Akt von Unverschämtheit zu empfi nden. Das Ich der Folgenden Geschichte dagegen empfi ndet so. Es ist, wie sich im weiteren tatsächlich zeigt, die inkarnierte Scham: ein bücherverliebter, etwas weltfremder und dazu noch häßlicher Mensch, von Beruf Lehrer. Noch ein Faktum ist aber von Anfang an gegeben: dasjenige des Nachdenkens. Worüber das Ich der Geschichte nachdenkt, ist alles andere als sicher. Sicher ist allerdings, daß es denkt. So sagt es jedenfalls, und wir, Leser und Leserinnen, werden von Beginn an in eine zwar gemächliche, aber doch unermüdliche Suada hineingezogen, als wollte der Ich-Erzähler eine literarische Variante des eigentümlichen Cartesianischen Selbstbewußtseinsbeweises liefern: ›Ich denke, also bin ich.‹ Ich denke, überlege, erinnere mich – ich erzähle, also bin ich. Wie Descartes, und lange vor ihm bereits Augustinus, den Skeptikern entgegenhält, daß ich mich zwar täuschen kann in dem, was ich denke, sehe, empfi nde, nicht aber darin, daß ich denke, sehe, empfi nde, wenn ich mich möglicherweise täusche, so scheint auch das Erzähler-Ich seine Sicherheit aus dem Daß, nicht aus dem Was seines Erzählens zu beziehen. Denn dieses Was bleibt unsicher. Wacht der Mann tatsächlich in einer Ich zitiere aus Die folgende Geschichte durch Angabe der Seitenzahlen in Klammern und beziehe mich auf die Ausgabe im Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1991. 20
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anderen Stadt auf als in der, in der er schlafengegangen ist? Oder träumt er (nur)? Oder leidet er an einer schizophrenen Spaltung? Oder ist er, wie der Hinweis auf die Sache von Leben und Tod zu verstehen geben könnte, gestorben, und seine Seele, sein körperloses Ich blickt auf sich selbst herab? Zwei dieser Optionen, die des Traums und der Schizophrenie, ließen sich gewiß (psychologisch) erklären. Aber die beiden anderen? Mit den Mitteln der naturwissenschaftlichen und kausalen Logik sicherlich nicht. »›Wir werden spüren, wie es durch die Ritzen des Kausalgebäudes zieht.‹« An diesen Satz erinnert sich der Mann, um schnoddrig anzufügen: »Nun, an jenem Morgen zog es bei mir ganz gehörig« (10). Die Option, tot zu sein, weist er jedenfalls zunächst von sich, und dies, indem er sich an dem festhält, was er gelernt hat: »Der Tod, so hatte ich gelernt, war nichts«, ein Name für das Nichts, könnte man im existentialontologischen Jargon sagen (der in diesem Falle wirklich ein Jargon ist), »und wenn man tot war, auch das hatte ich gelernt, dann hörte jegliches Nachdenken auf« (9). Man muß nicht Philosophie studiert haben, um zu diesem Lernerfolg zu gelangen. Aber von Epikur bis Heidegger fi ndet man für den ersteren und in der Tradition des Rationalismus, die von Descartes zu Kant reicht, für letzteren die genauesten Argumente. »Der Gedanke ich bin nicht kann gar nicht existieren«, so Kant, »denn bin ich nicht, so kann ich mir auch nicht bewußt werden, daß ich nicht bin.« 21 Bewußtsein ist demnach an Leben gebunden, und wenn ein lebendiger Organismus sagt, daß er nicht ist, ist das ein Widerspruch in sich. Wenn also jemand sagt: ›ich bin‹ oder ›ich bin nicht‹, zeigt dieser Jemand, daß er am Leben ist. Eine Erzählung zu schreiben, in der die Hauptperson, die die Geschichte in der Geschichte erzählt, tot ist, wäre von daher ein unsinniges Unterfangen. Und wenn jemand, wie Nooteboom, es dennoch tut? Will er dann, da er doch, wie wir unterstellen dürfen, keinen Unsinn schreiben will, beweisen, daß Bewußtsein nicht an das Leben gebunden ist? Will er beweisen? Kann ein literarischer Text Beweise führen? Will und kann er sich auf jenes phantastische (nicht wirkliche, verstiegene, etwas verrückte, merkwürdige und wunderbare) Feld wagen, auf dem die abendländische Metaphysik seit Platon unter dem Theorem der Unsterblichkeit der Seele so viele groß inszenierte Pseudo-Siege errungen und entzaubernde Niederlagen erlitten hat? Wie man sieht, ist man mitten in der Metaphysik, noch bevor man richtig angefangen hat, Die folgende Geschichte zu lesen. Doch kehren wir noch einmal zu den Fakten zurück. Der Ich-Erzähler ist Lehrer, und zwar Altphilologe, Lehrer für Latein und Griechisch, so genannte alte oder tote Sprachen. Er zählt sich nicht, wie er sagt, zu »den Sterblichen«, den »gewöhnlichen Menschen« (39 f.), denn er ist ein Mensch der Bücher, und d. h. der Einsamkeit. Wenn die anderen in Kneipen zusammenhocken (weil sie es alleine nicht aushalten), sitzt er in einem Wohnzimmerstuhl unter einer Stehlampe und liest. So unbeweglich sitzt er da, daß einige Nachbarn, wenn sie im Stundentakt zu ihm hinüberschauen, meinen, er sei tot 21
Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akademie-Ausgabe VII, 166.
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(vgl. 15). Auf vielfache Weise also bekommen wir als Leser Hinweise darauf, daß der, der uns seine Geschichte erzählt, in gewisser Weise tot und in gewisser Weise auch unsterblich ist. Aber eben nur in gewisser Weise. Um herauszubekommen, in welchem Zustand er sich an jenem Morgen in Lissabon eigentlich befi ndet, muß er versuchen, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, und daher ruft er sich, wenigstens zweimal, zur Ordnung und beginnt mit der »Arbeit des Erinnerns« (14, 37). Er denkt zurück an den Abend des vorherigen Tages, der wie nahezu jeder Abend seines Lebens nichts Aufregendes hat. Ein Junggeselle bereitet sich sein Dosen-Abendmahl: Campbells Mock Turtle, Heinz’ weiße Bohnen in Tomatensoße und Heinz` Frankfurter, danach eine Tasse Nescafé. Diese profanen Handlungen werden ununterbrochen begleitet von umherschweifenden Gedanken, die vor allem aber natürlich wieder um die griechisch-römische Antike kreisen, um die Unsterblichkeit der Götter und ihre Fähigkeit, sich selbst zu verwandeln. Die Verwandlung taucht hier, neben dem Tod, dem Traum, der Schizophrenie und dem völlig Unerklärlichen, als eine weitere Option in der Geschichte auf, unterstützt von der Information, daß der Ich-Erzähler an einer Übersetzung von Ovids Metamorphosen arbeitet. Doch das Objekt, das die Gedanken, d. h. die Erinnerung an die Gedanken des Erzählers in der Folge ganz in Anspruch nimmt, ist ein Foto der Weltraumsonde Voyager aus der Tageszeitung. Das verbindende Element zwischen dem sich erinnernden Erzähler und diesem Objekt ist das Motiv des Reisens. Der Voyager enthält es bereits im Namen, der Erzähler teilt uns in diesem Kontext mit, daß er unter einem Pseudonym Reiseführer verfaßt hat und in dieser Rolle auch in Nordamerika gewesen ist, wo er eines Tages in einer Art Kinosaal eines Weltrauminstituts einen Film zu sehen bekommt, in dem auch eben jenes Raumfahrzeug erscheint. Was dann passiert, erklärt die Psychoanalyse als restlose Identifi kation mit dem Objekt. Das Ich assimiliert die Eigenschaften des Objekts, wandelt sich in Gedanken vollständig nach dessen Vorbild um, wird mit ihm identisch. Und der Effekt dieser Identifi kation mit einem leblosen Objekt, einem technischen Apparat, ist im Falle des Ich-Erzählers, daß er seine ihm anhängende Selbstbeherrschung verliert und hemmungslos zu weinen beginnt, in Tränen zerfl ießt. Warum weint das Ich, das uns seine Geschichte erzählt? Weil es von einem Gefühl übermannt wird, das wir, einig mit dem Ich-Erzähler, Kitsch nennen. Und Kitsch, so lautet hier die implizite Defi nition, ist eine perverse Liaison aus Liebe und Musik. »Bei mir fl ießen die Tränen ausschließlich bei Kitsch, wenn Er Sie zum ersten Mal in Technicolor erblickt, bei allem, was der Schmalzplebs erdacht hat, und der entsprechenden Musik, pervertierter Honig, dazu bestimmt, der Seele keinerlei Ausweg zu gönnen, die Idee der Musik gegen sich selbst gewendet.« (22 f.) Das Ich erblickt das Objekt namens Voyager, wie ›Er‹ im Technicolorfi lm ›Sie‹ erblickt. Es ist ein Identifi kations-, also ein (zumindest rudimentäres) Liebesverhältnis. Ertönt dazu eine Musik, die ihre emotionale Macht totalisiert, d.h. den Hörern keinen Ausweg in der Phantasie beläßt, sondern diese diktatorisch lenkt, eine Musik, die uns also nicht nur formal, sondern auch inhaltlich lenkt, die uns nicht nur
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zwingt, wie alle Musik, ihr in der Zeit zu folgen, sondern uns auch Gedanken aufzwingt und damit etwas tut, was Musik eigentlich nicht kann: Mit Tönen eine bestimmte Bedeutung zu verknüpfen (Kitsch will bedeuten) – ertönt also eine solche bedeutungsforcierende Musik in Verbindung mit dem emotional aufgeladenen, ja seinerseits totalisierenden Verhältnis der Liebe (Liebe bezieht sich, wie oft bemerkt, auf den Anderen oder das Andere in seiner Ganzheit, nicht nur auf bestimmte Eigenschaften), dann ist nicht nur bei den gewöhnlichen, sondern auch den selbsternannten ungewöhnlichen Menschen, den Intellektuellen, kein Halten mehr. Ihre Identität zerfl ießt, für eine Weile.22 Warum identifi ziert der Ich-Erzähler sich so stark mit Voyager? Das Motiv des Reisens bietet nur den Einstieg. Was sich anschließt, ist ein Motivgeflecht aus Leblosigkeit, Tod, Trauer, Entschweben, Dunkelheit, Einsamkeit, Leere, Stille, Stimme, Körperlosigkeit, Asche, Metamorphose, ein Motivzusammenhang, der um dasjenige kreist, was den nicht philosophisch ausgebildeten Menschen ebenfalls vertraut ist, auch wenn sie darauf nicht philosophisch, sondern religiös reagieren: metaphysische Fragen. Aber es ist keineswegs nur die Religion und die Philosophie, die auf diese Fragen Antworten geben (oder, wenn sie vorsichtiger sind, Antworten zu geben versuchen). Auch die Natur- und Technikwissenschaften und die populäre Kultur tun dies, die einen zumindest implizit, die andere ausdrücklich. In der Kinosituation, in der der Erzähler sich wiederfi ndet (sich befi ndet und einen vergrabenen Teil seiner selbst wieder fi ndet), gehen beide Bereiche eine kitschabonnierte Verbindung ein. Die Stimme aus dem Off, die die Reise des Voyager kommentiert, eine »körperlose Stimme« (23), eine, die nur hörbar, deren Körper aber abwesend, nicht sichtbar ist, wirkt auf den durch Emotion und Musik aufgeweichten Zuhörer »tödlich« (24). Sie bringt das Faß aus Schmalz und Tränen zum Überlaufen, als sie (ich vermute, in schwerem Bedeutungstremolo) von sich gibt: »And then, maybe, we will know the answer to those eternal questions«, die Antwort auf die Fragen: »Is there anyone out there?«, »Are we alone?« (24). Es sind Fragen, die vom Gefühl einer existenziellen und damit metaphysischen Angst getragen werden, der Angst vor dem Alleinsein, der Einsamkeit im wörtlichen Sinne, und (wenn auch nicht ausschließlich) vor dem Fremden, dem alien, von dem wir nicht wissen, ob es als Freund oder als Feind kommen würde, und das wir daher unsicher zwischen beiden Polen einordnen. Diese Angst hat also nicht nur politische Konsequenzen, sondern auch eine epistemologische und metaphysische Relevanz. Argumentativ gesichertes Wissen, die Erkenntnis von Regeln, Gesetzen und apriorischen Prinzipien verschaff t uns Sicherheit. Die Angst kann daher als ein Und wenn diese Defi nition von Kitsch allgemein gelten soll, dann haben wir es auch beim Groschenroman und beim berühmt-berüchtigten Bild mit dem röhrenden Hirsch, das im kleinbürgerlichen Wohnzimmer hängt, mit einem in Gedanken musikalisch unterlegten Liebesverhältnis, genauer einer zweifachen Totalisierung zu tun: Wir meinen das Objekt ›ganz‹, d. h.: das Objekt als Ganzes triff t auf uns als Lebewesen, die sich emotional als Ganze erfahren. 22
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Grund dafür angesehen werden, weshalb sich die Metaphysik, trotz der Unsicherheit ihrer Erkenntnisse, so hartnäckig erhält. 23 Die kitschige Art aber, in der sie, die Angst wie die Metaphysik, in populär-naturwissenschaftlicher Form auf bereitet wird, ist, wie Nootebooms Ich-Erzähler wütend feststellt, nichts als »Verfälschung« und »Betrug« (25). Man hat ihm schamlos schlechte Metaphysik geboten. Wie Kitsch verspricht schlechte Metaphysik mehr, als sie halten kann; sie will, wie Kitsch, bedeuten und damit bedeutsam sein. Gute (wahre) Metaphysik will das nicht. Und darin triff t sie sich mit der Kunst. Es ist diese Übereinstimmung, die Nootebooms Erzählung beschreibt, und zwar nicht so sehr propositional als performativ, nicht so sehr ihrem Gehalt nach als in ihrer Durchführung. In einer Episode kommt Nooteboom einer entsprechenden philosophischen These besonders nahe. Es ist die Episode von der letzten Unterrichtsstunde des Ich-Erzählers, die sinnigerweise Platons Phaidon gewidmet ist, also jenem Dialog, in dem Sokrates seine Schüler zum letzten Mal um sich versammelt, bevor er den Becher mit dem tödlichen Gift trinkt. Der Lehrer, dessen Spitzname ebenfalls Sokrates ist, da er genauso häßlich aussieht wie jener historische Sokrates, den wir aus antiken Darstellungen kennen, »das gleiche klumpige Gesicht, bei dem keiner je an Philosophie denken würde«, »Specklippen unter der stumpfen Nase mit den breiten Nasenlöchern«, »Schlägerstirn« (31), ein »Neandertaler-Kopf« (145), spielt die Situation aus diesem Dialog so überzeugend, daß das Feixen und Kichern in der Klasse schnell ein Ende hat und sich statt dessen betroffenes Schweigen ausbreitet. Der Sokrates im Gefängnis zu Athen möchte seinen Freunden begreifl ich machen, weshalb der Tod nicht zu fürchten sei. Philosophie als solche sei ja schon, wie er in einer dann berühmt werdenden Defi nition sagt, Sterben lernen. Physisch zu sterben, heiße nur, das zu Ende zu führen, was man als richtiger Philosoph ohnehin sein Leben lang tun sollte: sich vom Sinnlichen abzuwenden. Einem sokratisch-platonischen Philosophen bedeuten daher in der Alltagspraxis materielle Güter wenig, und in der Theorie wendet er sich der Metaphysik zu, dem, was meta ta physika liegt. Daß es eine Seele ohne Körper geben könne, ist in dieser Tradition fast eine Denknotwendigkeit. Der Sokrates zu Amsterdam kommt als Büchermensch diesem Denk- und Lebensideal sehr nahe. Er hat zu sterben gelernt, aber dennoch glaubt er selber nicht an die Unsterblichkeit. Das hindert ihn aber wiederum nicht daran, überzeugend die Überzeugung der Unsterblichkeit zu spielen, zu tun, als ob er daran glaubte. Seine »Sokratesnummer« (110) ist berühmt, und bei der letzten Darbietung führt das dazu, daß seine Lieblingsschülerin, die den exotischen, in die Ferne lockenden Namen Lisa d’India trägt, wirklich weint. Lisa ist jene Schülerin, in die alle an der Schule, »Direktor, Lehrer, Lehrerinnen, Hilfskräfte inbegriffen« (37), verliebt sind, auch der Ich-Erzähler, doch nicht in der »vulgären Variante« (39), sondern in der platonischen, in der eines Lehrers, der seine Aufgabe ernst nimmt und einen jungen, intelligenten 23
Vgl. Angehrn: Der endlose Streit der Vernunft, [Anm. 13] ,75.
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Menschen dahin führt, sich nicht beim Denken führen zu lassen. Lisa verwandelt sich in den Augen des Amsterdamer Sokrates in Kriton, den Lieblingsschüler des Athener Sokrates. Ihre heftige emotionale Reaktion rührt den Lehrer um so mehr, als sie über etwas weint, worüber er, der begeisterte Altphilologe, nie weinen konnte: über Texte in toten Sprachen. Lisa wirft ihrem Lehrer vor, daß er die Begründung für Unsterblichkeit so gut vortrage, ohne an sie zu glauben. Er aber belehrt sie, daß es genau darum gehe (vgl. 117). Das ist das Entscheidende: Wir können (mit Gründen) über ein Thema wie die Un sterblichkeit der Seele nachdenken, ohne daran zu glauben. Eben dies ist das (begründete) Glaubensbekenntnis eines modernen Metaphysikers, eines philosophischen Fiktionalisten, eines Theoretikers des Als-ob. Ich kann eine Theorie überzeugend (so überzeugend wie möglich) vertreten, viele gute Gründe dafür bieten, sie für überzeugend zu halten, ohne selber (letztlich) davon überzeugt zu sein. Ich lasse mich dann auf ein Spiel mit (der Überzeugungskraft von) Argumenten ein, wie es in früherer Zeit in der Schule der philosophischen Skepsis und der Scholastik geübt worden ist, zumindest aber auf ein Argumentationsspiel, das unter dem kritisch-rationalistischen Vorbehalt von der Vorläufigkeit jeder Begründung steht. Auf diese letzte Variante ließen sich auch jene Philosophen verpfl ichten, die, wie Habermas, ein fi ktionales Element wahrheitstheoretisch verteidigen oder, in der angelsächsischen Nachfolge von Strawson, ›deskriptive‹ Metaphysik betreiben, also ›die tatsächliche Struktur des Denkens über die Welt‹ beschreiben. 24 Ein metaphysisches Thema wie das der Unsterblichkeit anzugehen, bedeutet freilich, einen eingeschränkteren Plausibilitätsgrad zu akzeptieren. Kant etwa, der am Beginn der Moderne auch noch einmal über die Unsterblichkeit nachgedacht hat, schränkt die Plausibilität auf ein ›Postulat‹, eine Forderung der moralisch-praktischen Vernunft ein. Eine Begründung dafür lautet, daß wir, um die dritte anthropologische, die eudämonistische Frage: ›Was dürfen wir hoffen?‹ zu beantworten, auf den Gedanken der unsterblichen Seele zurückgreifen müssen. Da in unserem tagtäglichen Leben der Wunsch nach Glück hinter dem Imperativ der Moral zurückstehen muß, kann dieser menschlich-allzumenschliche Wunsch nur dadurch erfüllt werden, daß wir einen göttlichen Richter annehmen, der uns nach unserem Tod das Glück, das wir uns durch moralisches Handeln verdient haben, zuteilt. Die Idee eines Gottes und der unsterblichen Seele muß Kant also postulieren, kohärenterweise fordern, wenn seine Begründung für die zweite anthropologische, die moralische Frage: ›Was soll ich tun?‹ überzeugend sein soll. 25 Für Adorno, und beileibe nicht nur für ihn, ist sie nicht mehr überzeugend. Das metaphysische Argumentationsspiel, die Logik des Begründens in metaphysischen Sachverhalten, muß demnach mehr unter die Kategorie des Als-ob und des Scheins gestellt werVgl. Peter F. Strawson: Einzelding und logisches Subjekt. Ein Beitrag zur deskriptiven Metaphysik, Stuttgart 1972, 9. 25 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Akademie-Ausgabe V,122 ff . 24
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den. Und da das Ästhetische, wiederum seit Platon, bevorzugt unter dieser Kategorie verhandelt wird, rücken beide Bereiche, Ästhetik und Metaphysik, nahe aneinander. Nootebooms Erzählung bietet hierfür einen ihrerseits ästhetischen, ja ich würde sagen einen schönen, sogar einen sehr schönen Beleg. Das zeigt sich spätestens, aber dann geradezu epiphanisch-aufleuchtend, am Ende der Geschichte. Nachdem der Autor ein sachte gleitendes Wechselspiel, ein feines Gewebe zwischen Gegenwart und Vergangenheit, der Beschreibung des Umherwanderns in Lissabon und der Erinnerung an vergangene Zeiten (und der Plural ist wichtig, denn die Vergangenheit faltet sich in unterschiedlichen Phasen auf und ineinander) vor uns, den Leserinnen und Lesern, entfaltet hat, eine literarische Technik, die Nooteboom meisterhaft beherrscht und auch in anderen Büchern praktiziert, etwa in Allerseelen, wo es wiederum um die Zeit geht, dieses Mal aber um die der ›großen‹, der kollektiven Geschichte und die Unmöglichkeit, sie, etwa in der Wissenschaft oder im Film (die Hauptfigur ist ein Kameramann), festzuhalten – nachdem er also ein Kontinuum aus Erinnerungen, einen Identität verbürgenden Bewußtseinsstrom ausgebreitet hat, setzt er etwa in der Hälfte des Buches neu an, indem er das Motiv der Reise, das bereits im ersten Teil des öfteren anklingt, zum Leitmotiv macht. Die Hauptperson der Geschichte befi ndet sich nun mit einer kleinen Gruppe von Menschen auf einem Schiff, das von Lissabon aus nach Brasilien fährt. Lissabon, die durch das Erdbeben von 1755 einst weitgehend zerstörte Stadt, ist Ausgangspunkt der Reise, weil es den Ich-Erzähler wieder an den Ort gezogen hat, an dem er vor Jahren eine, seine einzige leidenschaftliche Aff äre mit einer Frau hatte, die die Ehefrau eines Kollegen war, der seinerseits tatsächlich ein Verhältnis mit der jungen Lisa d’India hatte. In diese Frau war er nicht platonisch, sondern ganz und gar irdisch, vulgär, sterblich verliebt. Mit ihr hatte er in jener Stadt und in jenem Hotelzimmer, in dem er nun wieder aufgewacht ist, ›eine der bedeutsamsten Episoden‹ seines Lebens verlebt. Und Lissabon ist als Stadt ein Sinnbild des Abschieds: »der Rand Europas, das letzte Ufer der ersten Welt«, »träge Lieder, sanfter Verfall« (61). Und schließlich ist es die Stadt Pessoas, des Dichters, der sich in Gestalt seiner drei anderen Ich langsam zu Tode getrunken hat (vgl. 61, 77). Auf dem Schiff erzählt, als die Reise sich dem Ende nähert, jeder der Passagiere an aufeinander folgenden Abenden seine Geschichte, eine Konstellation, die ein klein wenig wieder an Platon, an sein Symposion erinnert. Während in diesem Dialog aber Lobreden auf die Liebe angestimmt werden, sind es bei Nooteboom Abschiedsreden. Freilich spielt auch hier die Liebe eine Rolle, die Liebe, die zugleich der Tod ist, personifi ziert (natürlich) in einer Frau. Schon als »Kenner der Klassik« müsse man, wie es heißt, schließlich wissen, »daß der Tod eine Frau ist« (143). Die Frauenfiguren in Nootebooms Erzählungen und Romanen sind gewiß ein Kapitel für sich. Hier jedenfalls bleibt die Frau zunächst gesichts- und identitätslos, übt auf jeden Einzelnen, der ihr und den anderen seine Geschichte erzählt, aber eine unwiderstehliche Anziehung aus. Jeder scheint in ihr etwas anderes oder vielmehr jemanden anderen zu sehen, jemanden, »der es ihm
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ermöglichte, die Worte zu fi nden, die der inneren Wirklichkeit seiner Geschichte so nahe wie möglich kamen« (132). Die Frau fi guriert hier als Muse, wie Beatrice für Dante und Diotima für Sokrates. Als der Ich-Erzähler schließlich als letzter an die Reihe kommt, verwundert es daher nicht, daß er in der Frau seine allerliebste Schülerin Lisa wiederzuerkennen glaubt, die er, wie bereits in der Sterbeszene aus dem Phaidon, mit Kriton, dem Lieblingsschüler des Sokrates, identifi ziert. »Und dann erzählte ich ihr, dann erzählte ich dir Die folgende Geschichte.« (147) Und mit diesem Satz endet Die folgende Geschichte. Nun also, am Ende, wird klar, daß die Geschichte, die wir soeben gelesen haben, die eines Toten ist, oder genauer: die eines Menschen, der gerade dabei ist zu sterben. Die »kleinste Zeiteinheit«, die der Übergang vom Leben zum Tod ausmachen mag, birgt noch »einen maßlosen Raum an Erinnerung« (146). Die Erzählung hat ihn gestaltet, den Augenblick, von dem man sagt, daß noch einmal das ganze Leben an einem vorbeiziehe. Im Film, vor allem im Film noir, ist diese Erzählweise beliebt. Wir hören dann aus dem Off eine Stimme, die anfängt, uns ihre Lebensgeschichte zu erzählen, während wir gleichzeitig den zu ihr gehörenden Körper als Leiche auf der Leinwand sehen. Die Literatur hat es diesbezüglich schwerer. Aber Nooteboom will die Situation und den ontologischen Status des Erzählers zu Beginn auch gar nicht festlegen. Beides in der Schwebe zu halten, ist vielmehr Programm. Denn just so erhält sich die erzählerische Spannung und die Thematik der Metaphysik. Erst am Ende erklärt sich jenes Du, das von Beginn an immer wieder verstreut in der Erzählung auftaucht, in metanarrativen Einschüben, die irritieren, weil man die dazugehörige Figur, die als Figur in der Geschichte bezeichnet wird, nicht recht identifi zieren kann. Der Tod, eine Frau, Lisa ist dieses Du; eine Identifi zierung, die noch dadurch verstärkt wird, daß Lisa innerhalb der Geschichte tatsächlich (durch einen Autounfall) zu Tode kommt. Aber schon in diesen Einschüben wird auch noch eine Bedeutung des Du angesprochen, die am Ende überdeutlich wird: Wir, jeder einzelne Leser und jede einzelne Leserin, sind ebenfalls dieses Du. Uns hat der Ich-Erzähler schließlich im Namen des Autors die Geschichte erzählt. Wir sorgen für ihr Weiterleben, indem wir sie weitererzählen oder weiterempfehlen. Wir sind auch die Richter über sie. Was Rousseau Mitte des 18. Jahrhunderts begonnen hat, nämlich mit seinen Bekenntnissen sich nicht mehr dem Jüngsten Gericht, sondern der Öffentlichkeit, der Gemeinschaft der Gleichen auszuliefern oder auch anzuvertrauen 26 , wird auch auf diese Weise fortgeführt. Die unendliche Interpretationsgemeinschaft der Lebenden tritt, wenigstens prinzipiell und so lange es Leben auf diesem oder anderen Planeten gibt, an die Stelle eines göttlichen Richters nach dem Tod. 26 Vgl. Hans Robert Jauss: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, München 1977, 200 ff.; Jürgen Habermas: Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu G. H. Meads Theorie der Subjektivität: in: ders., Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1988, 204 ff.
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Freilich streut Nooteboom auch hier noch einen Zweifel aus. Da die Erzählung sich an den Tod bzw. eine Tote richtet und wir als Leserschaft damit gleichgesetzt werden, und da die Erzählung durch einen möglicherweise bereits Toten erzählt wird, dem Ich-Erzähler, dessen Erfi nder, der Autor Nooteboom, aber nach wie vor lebt, drängt sich die Frage auf, ob wir, die Leser und Leserinnen, überhaupt am Leben sind. Philosophisch ist es die Frage nach der Erkennbarkeit der (eigenen und fremden) Existenz. Die Frage: ›Is there anyone out there?‹ erhält so eine erkenntnistheoretische, nicht nur eine kosmologische Bedeutung: Ist da jemand außerhalb meiner selbst? Existiere ich überhaupt? Der Ich-Erzähler kokettiert auch mit den Implikationen dieser skeptizistischen Fragestellung, läßt sich aber dann vom kurzbündigen Kommentar seiner Geliebten, die Biologie-Lehrerin ist, in die Parade fahren: »Ach so, der Schwachsinn« (67). So spricht der gesunde Menschenverstand im Bunde mit dem naturwissenschaftlichen Denken. Ziemlich rüde, wenn man bedenkt, wieviel argumentative Kraft Philosophen von Descartes bis Putnam aufgeboten haben, um die Position eines radikalen Skeptizismus zu widerlegen. Ziemlich unfair auch, wenn man mit bedenkt, wie sehr gerade das technisch-naturwissenschaftliche Denken im Computer-Zeitalter mit dieser Position sympathisiert (der Film Matrix belegt es nachdrücklich). Aber doch auch verständlich, denn eine Philosophie, die sich mit solchen Fragen herumschlägt, ist und bleibt scholastisch. So ist es gut, daß Nooteboom den Fundamentalzweifel an der Existenz des Ich nur streift, um die Suggestion aus Tod, Traum, Ich-Spaltung und Metamorphose im Strom der Denkmöglichkeiten auszubauen. Eine veritable These würde, wie ein Staudamm, dem Ganzen nur Abbruch tun. Eine Rundung und damit eine weitere suggestive Kraft erhält dieser Strom, indem er sich eines alten, mythologischen Erzählmusters bedient, nach dem das Ende der Anfang und der Anfang das Ende ist. Wenn wir anfangen, die Erzählung zu lesen, sind wir, ohne es zu wissen, schon am Ende; wenn wir am Ende angelangt sind, werden wir an den Anfang zurückverwiesen; die Geschichte, die wir eben gelesen haben, soll jetzt erst erzählt, also gelesen werden; jetzt nämlich kennen wir die Ausgangssituation, den Kontext im wörtlichen Sinne. Nootebooms Erzählung zeigt mit all dem auf, wie man heutzutage über das, was möglicherweise nach dem Tod kommt, über das, was man seit zweieinhalbtausend Jahren in Europa vornehm und schon daher unangemessen ›Unsterblichkeit der Seele‹ nennt, reden kann, ohne peinlich berührt sein zu müssen. Die Philosophie muß an diesem Punkt jedenfalls ihre argumentativen Waffen strecken. Was selbstverständlich nicht bedeutet, daß sie dies in allen Punkten gegenüber der Literatur und der Kunst tun müßte. Sie hat aber gewiß in diesem Fall ›unmittelbar‹ nichts mehr zu sagen, nur indirekt, durch die Interpretation eines Kunstwerks oder eines literarischen Textes, einer Geschichte wie Die folgende Geschichte.
Metaph ysik und Metapher Versuch über das Stehen. Zu Georges-Arthur Goldschmidt: »Die Absonderung« Von Gerhard Gamm
I’m still standing. Elton John In einem Zeitungsartikel aus dem Sommer 2005 über eine neue Heidegger-Debatte in Frankreich konnte man Folgendes lesen1 : »Die erste Phase seiner [Heideggers] Rezeption stand im Zeichen Sartres und der Existenzialisten. Ihnen folgten die Antihumanisten um Foucault und Althusser. Eine dritte Generation von französischen Heideggerianern verkörperte Jacques Derrida mit seinem Projekt der Dekonstruktion. Kein Philosoph hat das französische Nachkriegsdenken so sehr geprägt wie Martin Heidegger. Deshalb schlug Victor Farias’ Buch »Heidegger et le nazisme« in der französischen Kulturszene wie eine Bombe ein. Heideggers Anhänger der ersten Stunden stiegen auf die Barrikaden und verteidigten ihn: Philippe Lacoue-Labarthe, François Fédier […] und viele andere. Auf der Gegenseite standen Pierre Bourdieu und der aus Deutschland stammende Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt, der Heideggers Einfluß im Land seines eigenen Exils stets als moralischen Skandal und kulturelle Ungerechtigkeit empfunden hat.« Georges-Arthur Goldschmidt gehört vermutlich nicht zu den Autoren, deren Werk und Namen man getrost als bekannt voraussetzen kann, daher in stenographischer Verkürzung einige Notizen zum Leben und Werk dieses außerordentlich interessanten Schriftstellers, Essayisten, Übersetzers, Romanciers, der u. a. Peter Handke ins Französische übersetzt hat und umgekehrt auch von Handke ins Deutsche übertragen wurde. – 1928 in Hamburg geboren, muß er als Zehnjähriger vor den Nationalsozialisten nach Frankreich fl iehen, er überlebt in einem Internat in den Savoyer Alpen, davon handelt unsere Erzählung Die Absonderung 2 . Nach dem Krieg lebt er in Paris, u. a. als Gymnasiallehrer für deutsche Sprache; er hat sich zunächst als Übersetzer wichtiger deutschsprachiger Autoren ins Französische einen Namen gemacht: Goethe, Nietzsche, Kaf ka, Benjamin. Neben dem heute
Jürg Altwegg: Wirkt sein Gift bis heute?, in: FAZ , 21. Mai 2005, 31. Georges-Arthur Goldschmidt: Die Absonderung. Erzählung. Mit einem Vorwort von Peter Handke, Frankfurt/M. 1993. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe mit in Klammern nachgestellten Seitenzahlen zitiert. 1 2
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vorgestellten Buch sind auf deutsch mittlerweile eine ganze Reihe von Erzählungen und Essays erschienen. 3 Sein Essay In Gegenwart des abwesenden Gottes 4 bildet den Ausgang meiner Überlegungen, er stellt die Frage, warum wir immer noch darauf bestehen, einen inexistenten Gott zu suchen; seine Antwort: Die Suche nach Gott ist die verkannte Suche nach uns selbst, danach, wer oder was wir sind. Die Literatur spielt dabei eine entscheidende Rolle, sie sei, wie es in den Poetik-Vorlesungen Der Stoff des Schreibens aus dem Jahre 2005 heißt, »ein für allemal ausgerichtet auf all das, was zur ›Urszene‹ der Entdeckung des Selbst zurückführt«. 5 Diese Urszene der Selbstentdeckung ist der Gegenstand meiner Vorlesung, unter zwei Blickwinkeln. Der erste sucht zu verstehen, was uns die Literatur über uns selbst zu sehen lehrt, wie dabei die Philosophie ins Spiel kommt und beide in der Frage danach, wer oder was wir sind, sehr bald in den Bannkreis metaphysischer Fragen geraten. Der zweite nähert sich jener Urszene des entdeckten und erzählten Selbst stärker von Seiten einer Reflexion auf die Sprache: ob und wie sich Philosophie und Literatur in ihrem Gebrauch von Metaphern unterscheiden. In der Betrachtung der Rätselhaftigkeit des Selbst haben beide dasselbe Thema, schlagen aber in den Medien seiner Darstellung verschiedene Wege ein. Die Vortragsregie führt ein kleines unscheinbares Wörtchen, das sich wie ein roter Faden durch den Text der Erzählung zieht; es lautet stehen. Seine Prosa und Poesie leuchten wie nur wenige andere in den Untergrund und die Genese des Selbst. Auch in seiner sprachlichen Gestalt als Bild oder Symbol demonstriert es, wie schwer es ist, der Metaphysik zu entkommen. – Eine methodische Kautele zuletzt. Unser Thema, Philosophie und Literatur, verlangt eine Rede auf (mindestens) drei unterschiedlichen Ebenen. Die erste besteht in der Interpretation, d.h. in meinem Fall in wenigen Beobachtungen zur Erzählung selbst, die zweite im Herausstellen ihrer philosophischen Elemente und eine dritte im Vergleich der unterschiedlichen sprachlichen Darstellungsformen bzw. Intentionen von Philosophie und Literatur. I. »Überall, wo er stand, konnte er nach Hause zeigen. Zehnjährig war er von Hamburg aus nach Süden gefahren worden, und seitdem kam das Heimweh in ihm wie ein Ersticken wieder auf. Zu Hause, es war 1938 gewesen, hatte er nicht bleiben dürfen: er war schuldig, von ihm hatte man etwas gewußt, was er selber noch nicht 3 Um wenige zu nennen: Ein Garten in Deutschland (1988), Der unterbrochene Wald (1992), Die Aussetzung (1996), Über die Flüsse (Autobiographie) (2001), Freud wartet auf das Wort (2006). 4 Georges-Arthur Goldschmidt: In Gegenwart des abwesenden Gottes, aus dem Franz. übers. von Brigitte Große, Zürich 2003. 5 Georges-Arthur Goldschmidt: Der Stoff des Schreibens, Berlin 2005, S. 95.
Zu Georges-Arthur Goldschmidt: »Die Absonderung«
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wußte: eine Lähmung von innen her, alle Bewegungen wie in Gips gegossen; von nun an hatte er sich immer wieder beim Er-selbst-Sein überrascht. Schuldig war er, erwiesen schuldig. Er gehörte weggeschaff t, das hatte er immer schon gewußt. Die Eltern schwiegen, wenn er eintrat, saßen steif da, als wollten sie zeigen, daß sie gar nicht von ihm redeten. […] Sie flüsterten sich ununterbrochen zu, als hätten sie die im Nebenzimmer begonnene Unterhaltung gar nicht abgebrochen. Das Wort ›Jude‹ kam immer wieder vor, ein Wort aus der Bibel, er hatte nicht verstanden, warum sie so unruhig waren, wo sie doch von der Bibel sprachen. Aber dann war ihm plötzlich eingefallen, daß in der Sonntagsschule, wenn das Wort Jude fiel, der Pastor ihn immer angeschaut hatte, und das Wort hatte ihm angst gemacht. […] Als Zehnjährigen hatte man ihn von Hamburg nach Florenz über München gefahren. […] Dann waren Berge gekommen, so hoch, daß man die Gipfel vom Abteilfenster aus nicht sehen konnte, und Tunnels so lang, daß man bis über tausend zählen konnte. Es war lächerlich gewesen, so winzig unter der Bergmasse durchgefahren zu werden, im tosenden Gerassel des Zuges: man saß dabei einander gegenüber, eingeschachtelt, im Getäfel, in einem länglichen Kubus. Man war im Berg, und saß dabei im Abteil, so grotesk war das, daß man sich am liebsten selber durchs Fenster geschossen hätte. […] Dann wieder ein sehr langer Tunnel, durch den man abermals minutenlang durchdröhnte. […] Nach dem Tunnel würde es Frankreich sein. Auf einmal hatten sich die Lebensrichtungen verlegt: er konnte mit der Hand auf Paris hin zeigen. Nun lag alles Zukünftige in Nachmittagsrichtung. Vor dem Tunnel hatte noch alles hinter ihm gelegen. In Chambéry waren sie ausgestiegen, den Namen hatten sie auswendig gelernt. Der Chauffeur hatte sie sofort erkannt. Er war von einer mit ihnen verwandten Gräfi n geschickt worden, sie abzuholen. Sie hatte sich der Kinder angenommen und nach Frankreich hinübergerettet: es war März 1939.« (14 ff.; 20 f.; 25 f. ) In der Absonderung geht es um den Aufenthalt eines Jungens in einem Internat in den französischen Alpen, in Hochsavoyen, und die Erfahrungen, die der Zögling dort macht. Es handelt sich um lose verbundene Episoden, in denen der Autor vom Schicksal des Jungen erzählt – in der Perspektive der dritten Person Singular, »er«, und in einer Sprache voller Poesie; ein »Traumbuch« hat Peter Handke es in seinem Vorwort genannt. Eigentlich ist es eine Geschichte der Torturen, die der Junge erleidet, in dem man unschwer den Erzähler wieder erkennt, es sind Autofi ktionalisierungen, also Geschichten darüber, wie er jene Zeit erlebt, in welchen Bildern und Erfahrungen er sie verarbeitet hat. 6 Der Zeitraum der Erzählung umfaßt Was gerade nicht heißt, die literarische Erzählung sei intentional der Ausdruck von Einsichten und Emotionen des Autors. Vgl. Georges-Arthur Goldschmidt u. Hans-Jürgen Hein6
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wenige Jahre, ohne daß die Chronologie von großer Bedeutung wäre, sie konzentriert sich eher auf die Einblicke in das Innenleben des Jungen und die äußeren Umstände, die zu diesem gewöhnlich-außergewöhnlichen Schicksal geführt haben – alles vor der Kulisse einer grandiosen Landschaft, in die dieses Drama von der Geburt unseres Helden eingebettet ist. Wenn man die Geschichte auf den Begriff bringen sollte – was man ja nicht darf – könnte man sagen, die Erzählung handle von der Entdeckung des Selbst aus der Wollust und dem Schmerz der Bestrafung. »Dennoch ließen sie nicht von ihm ab, sie drängten ihn immer wieder von seinen Sehplätzen weg: sein regloses Stehen war ihnen aufgefallen, und das störte sie, sie brauchten sein ständiges Fuchteln, sein stets sich Verhaspeln. Sie brauchten seine Wutanfälle, sein Steinewerfen nach ihnen, wie er versuchte, die greif baren Gegenstände gegen sie zu werfen. So konnte man ihn im Schwitzkasten halten und dabei die Waden peitschen, und trotz seines Schluchzens, er versuchte damit, heimtückisch die anderen zu erweichen, hörte er sich hinter sich selber hinterherlaufen: Unter dem Arm, gegen die Hüfte des anderen war er wie geborgen: als wäre es nur noch der gehende Hinterteil des anderen Jungen. Es erregte ihn, geleitet, gedreht, umgewendet, weitergeführt zu werden. Geschleudert, geschleift wünschte er sich, mit gefesselten Händen und Knöcheln, ganz den Entscheidungen der anderen ausgeliefert. Wenn sie ihm die Arme an einen waagerechten Stock im Rücken festbanden und ihn zwangen, hinter ihnen her zu laufen, war der Schmerz, das Zerren in den Armen ein willkommenes Vergessen: man konnte sich auf die kleine Folter konzentrieren und stolz sein, daß sich die Passanten wunderten. Er tat als spiele er und ging trällernd an ihnen vorbei, was zeigen sollte, wie gut er sich mit seinen Mitschülern vertrug. […] Oder sie banden ihn an eine Tanne fest, zogen ihm den Stuhl weg, hielten ihn beim Waschen fest und setzen ihm Wäscheklammern auf die Brustwarzen; und immer wieder waren jene kleinen Folterungen ein Heimwehschutz, er wand sich um den Schmerz herum und entdeckte sich selber dahinter: Er stellte sich ihre Schädel vor, wie sie unter seinen Schuhabsätzen auf barsten. […] Seltsam, aber zugleich dieser Stolz in ihm, daß er es war, den man da züchtigte, daß er es war, der sich wand und der heulte, daß ihn alle anderen dabei sehen konnten. Als man ihn endlich losließ, kollerte er vor Schmerz, klappte auf und zu, messerartig, wälzte sich auf den Fliesen herum, die Beine in der Hose verfangen, und er sah das alles wie die anderen mit, sah sich auch die Unterhose von den Knöcheln wegstrampeln, um mehr Platz zum Ausschlagen zu haben. […] Es überkam ihn das Bild von ihm selbst […] und es flossen ihm die Tränen des Selbstmitleids über die Wangen: den Unglücklichen spielte er nur als Lügner seiner selbst. Es war eine plötzliche, unverständliche Freude in ihm, so deutlich, als habe richs: Sprachgeheimnisse. Schreiben, ohne zu wissen, was auf einen zukommt, in: Lettre International, Heft 70, Herbst 2005.
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der Schädel Innenseiten, ein Selbstgefühl, wie er es noch nicht gehabt hatte. Und jenes Gefühl würde sich bis an sein Lebensende nicht mehr verlieren. So wie gerade jetzt würde er für immer in sich selbst stehen.« (45 f., 68 f., 83) »So wie gerade jetzt würde er für immer in sich selbst stehen.« Auf diese Erfahrung kommt der Erzähler immer wieder zurück, wir können gleichsam zusehen, wie bei dem jugendlichen Helden sein Selbstgefühl und sein Selbstbewußtsein daran erwacht, daß er sich, sein Stehen fühlt, daß er sich in seinem Stehen erfährt, ganz gleich, in welchem Umfang seine Umgebung ihn sozial vernichtet, stigmatisiert, degradiert, vor allen anderen bloßstellt, ihn demütigt, absondert oder der Lächerlichkeit preisgibt, wie sehr die Leiterin des Internats ihn dadurch verhöhnt, daß er, bevor er zum allabendlichen Prügelstrafenritual antritt, auch noch die Gerten oder die Haselnußstöcke schneiden muß, deren Wucht und die Schärfe der Schläge er später – vor den Augen seiner Mitschüler – auf dem blanken Hintern spürt. Und wie er all dem und sich dabei zusieht, wie er zu schauspielern lernt und alles gleichsam in doppelter Buchführung aufzeichnet: in der Kenntnis desjenigen, der es erlebt und sich dabei beobachtet und zuweilen kommentiert. Der Junge erfährt das Stehen als ein Stehen in sich oder als das, was er ist, woran oder worin er fühlt, daß er lebt, wovon er glaubt, daß keiner es ihm rauben kann, er ist darin bei sich selber – allerdings auf eine ungewöhnliche Weise. Denn dieser Zustand spiegelt zugleich eine unendliche Distanz zur Außenwelt und eine Nahdistanz zu sich, die intimer und anonymer nicht sein könnte. In dem erwähnten Essay In Gegenwart des abwesenden Gottes schreibt Goldschmidt 7 : »Irgendwann stößt jeder Mensch auf den unerforschlichen, unendlichen Punkt, der er selbst ist, und diese Erkenntnis ist so unvermeidlich wie schwindelerregend […]. Wieviel rätselhafter und erhabener als Gott ist doch für jedes Denken dieses unüberschreitbare, intime und anonyme Selbst, das jemand und niemand zugleich ist.« »Stehen« ist zunächst ein Wort, eine Metapher, oder besser, das sprachliche Bild für diese elementare Selbsterfahrung, für ein Beisichselbersein, das ihm niemand rauben kann, bei dem er zugleich in einer unendlichen Entfernung zur Außenwelt steht, die Außenwelt ihm geradezu eine Traumwelt ist – nur wie durch einen traumverhangenen Schleier kann er sie wahrnehmen bzw. den ihn bedrängenden Schmerz aushalten und bewältigen, er kann sich gleichsam in sich zurückziehen und sich an einem körperlich bestimmten Gefühl, dem Selbstgefühl des Stehens aufrichten, in einer Erfahrung, die nicht nur das Sich-selbst-Fühlen beinhaltet, sondern auch ein Hochgefühl entwickelt, in dem er zuletzt über die anderen triumphiert: ›was immer auch ihr mit mir anstellt, ihr werdet mich damit nicht unterkriegen, I’m still standing, ihr könnt mich, wenn ihr wollt, bis aufs Blut prügeln – und dennoch oder gerade dadurch fühle ich mich in mir stehen‹, ein Widerstehen, ein Standhalten und Stand gewinnen, das ebenso eine Distanz spiegelt, einen 7
Goldschmidt: In Gegenwart des abwesenden Gottes [Anm. 4], 50 f.
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Abstand wie ein Herausstehen, eine Ex-stasis, eine Sonderstellung, aber eine im Abseits, was in der Erzählung auch dazu führt, daß der Junge einen Zug ins Hochmütige entwickelt, ja, eine gewisse Arroganz ihm nicht fremd ist. Kurz, es ist als ob uns in den Episoden dieser Erzählung genealogisch wie logisch-strukturell jener Nullpunkt unserer paradoxen Existenz vor Augen geführt wird – in jener eigentümlichen Dialektik, bei der aus dem Abgrund tiefster Verlassenheit und körperlicher Pein im In-sich-Stehen eine geradezu körperliche Stärke und Ich-Identität erwacht, die als Selbstgefühl ein Leben lang zu überdauern scheint. Hegel hatte in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften dieses Selbstgefühl auf der Grenze zwischen dem Natürlichen des Gefühls und dem Geistigen der Selbstbe(ob)achtung angesiedelt und gezeigt, wie im leiblichen Empfi nden das Bewußtsein eines jeden Menschen, »sich in sich selbst zu unterscheiden und zum Urteil in sich zu erwachen« 8 beginnt. In dem, was Goldschmidt über die Psychologie des Jungen erzählt, können wir ahnen, wie die einander widerstreitenden Bestimmungen, die jedes Selbst zu zerreißen drohen, niemand und jemand, ich selbst und man selbst zu sein, dennoch zusammenstehen können. Schelling hat mit dem ihm eigenen existentiellen Pathos diese Urszene dramatisiert. Alles, »also selbst Gott, muß der lassen, der sich in den Anfangspunkt der wahrhaft freien Philosophie stellen will. […] Nur derjenige ist auf den Grund seiner selbst gekommen und hat die ganze Tiefe des Lebens erkannt, der einmal alles verlassen hatte, und selbst von allem verlassen war, dem alles versank, und der mit dem Unendlichen sich allein gesehen: ein großer Schritt, den Platon mit dem Tode verglich« 9. Diese Hinweise berühren nur eine Bedeutungsschicht der Präsenz des Philosophischen in der Literatur – mögliche andere bieten sich an dieser Stelle in schier unendlicher Zahl an. Man könnte und müßte sprechen über das schuldlose Sichschuldig-Fühlen des jungen Helden, im Blick auf sein Jude-sein nicht weniger als auf sein Tun »schlimmer Dinge«; vor allem aber darüber, wie alles in der Schwebe bleibt, mit Andeutungen und Auslassungen auskommt, mit welchen Mitteln des Stils und der Bildwahl sowie der losen Verknüpfung von Szenen jene Poesie des Diaphanen und Durchsichtigen erzeugt wird, die der dunklen Seite und dem Opaken dieser Erzählung keinen Abbruch tut; das von der Leichtigkeit des Seins zeugt, ohne auch nur für einen Augenblick die Schwere des Stoff s, die Bedrängnis und Beklommenheit, die von ihm ausgeht, vergessen zu machen, zumal dieses Sich-inder-Schwebe-Halten, das die Literatur als Kunst einer indirekten Mitteilung zeigt, mit von der Scheu lebt – gleichsam aus Achtung vor ihrem Gegenstand –, diesen direkt anzusprechen: eine Art zu schreiben, die den Leser von seinem Gegenstand entfernt, ihn auf ästhetische Distanz hält, ohne eine erregte und entsetzte Anteil8 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Frankfurt/M. 1971, § 407, 160. 9 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Erlanger Vorlesungen, in: ders., Ausgewählte Werke, Schriften von 1813-1830, Darmstadt 1966 ff., 239 f.
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nahme am Schicksal des Jungen unmöglich zu machen. Kunst ist, über die literarischen Mittel zu verfügen, diese Balance zu halten, unter ihr verwandelt sich die Darstellung des Negativen in ästhetische Lust, ohne daß seine Fraglichkeit klanglos verschwände. Goldschmidts Erzählung legt – wie die überwältigende Mehrheit der großen fi ktionalen Literatur – Zeugnis ab. Sie bezeugt nicht zuletzt durch ihre schöpferische Erinnerung, in der die Schrecken des Jungen künstlerisch verwandelt erscheinen, daß das, was solcherart ist, nicht alles ist. Sie ist keine politische, erziehungskritische oder sonstwie engagierte Literatur, eher müßte man in der Sprache des Neuplatonismus sagen, sie (er)fi nde eine Sprache des Mehr-als-Engagements – eine der dringlich-unaufdringlichen Form. Sie bezeuge, daß es das Unrecht gibt, aber so, wie Kaf ka es seinem Tagebuch anvertraut hat: Unter den Trümmern sehe der Schriftsteller »anderes und mehr als die anderen […] das Herausspringen aus der Totschlägerreihe, Tat-Beobachtung«10 . Anders gesagt, die Erzählung entwickelt mit allen Mitteln der Kunst eine implizite Philosophie durch ihre Reflexion auf die richtige Entfernung zum Sujet, auf eine Notwendigkeit, wie sie uns auch durch pointillistische Bilder nachdrücklich vor Augen gestellt wird – »richtig« in allen relevanten Weisen seiner Bedeutung genommen. Spätestens mit Kierkegaard und Nietzsche ist es auch der Philosophie geläufig, daß man den besonderen Verhältnissen der einzelmenschlichen Existenz mit ihnen ganz eigenen philosophischen und literarischen Ausdrucksmitteln begegnen müsse. Auch an ihnen könnte man sich vergreifen. So kann, wenn die (sprachliche) Distanz wegf ällt, die Entfremdung wachsen. Nicht die geringste ihrer Innovationen ist es ja gewesen, philosophische Probleme als Darstellungsprobleme aufgeworfen zu haben. So liegt in jeder (sozialen) Abstandsbildung zu sich selbst und den anderen, wie weit entfernt sie auch sein mögen, eine Scham, die immer auch Gegenstand einer Inszenierung ist, sie spiegelt sich in der Wortwahl wie in der Darstellung insgesamt. »Ist es das, was dieses Verb ›stehen‹ im Deutschen, das ›to stand‹ der englischen Sprache ausdrückt, diese Vertikalität des Selbst, welche das metaphysische Schamgefühl des Französischen gar zu deutlich auszusprechen verhindert? Denn es wäre auch ratsam, sich über das zu befragen, was eine Sprache sagt und das, was eine andere verschweigt.«11 Man könnte, ja man müßte jenen Gedanken weiter verfolgen, bei dem in Folge der körperlichen und seelischen Mißhandlung ein lustvolles Verlangen danach sich einstellt und also die traumatische Geburt des Selbst aus dem Schmerz (und der Wollust) verfolgen, einem Schmerz, der sowohl zum Einlaß wird für das Sexuelle Franz Kaf ka: Tagebücher 1910-1923, Frankfurt/M. 1986. Goldschmidt: Der Stoff des Schreibens [Anm. 5], 99. Über seine lebensgeschichtlichen Hintergründe sagt Goldschmidt: »Ich stehe Gombrowicz näher als Bataille. Gombrowicz [und Karl Phillip Moritz, G. G.], das ist meine Welt, die Welt der Kinderhaftigkeit, des Lächerlichwerdens. Als Jüngling habe ich mich irrsinnig geschämt. Aus dieser Scham ist alles entstanden.« In: Lettre-Interview [Anm. 6], 104 f. 10 11
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als auch zum Ort, um sich in ihm geborgen zu fühlen; man muß aber auch darüber nachdenken, wie die unterschiedlichen Sprachen des Französischen und des Deutschen diesen Vorgang spiegeln. In einem Interview, das vor einiger Zeit im Lettre International erschienen ist, äußert sich Goldschmidt wie folgt dazu12 : »Ich war mit meinem älteren Bruder im März 1939 im Internat angekommen. Ich konnte kein Wort französisch. Ich kam aus Italien, auch mein Italienisch vergaß ich allmählich […], rückläufig merkte ich, daß ich französisch konnte, wahrscheinlich schon seit Monaten, aber nicht verstand, daß ich verstand. Auf einmal grenzenlos, war alles da. In diesem verrückten Internat hörte die Literatur mit Lamartine, also 1848, auf. Man durfte nur die französischen Klassiker des 17. Jahrhunderts lesen. Zu meiner größten Verblüff ung verstand ich sofort jedes Wort. Ich habe die Sprache nie gelernt. Das hat mich immer gewundert. Ich wurde immer wieder gefragt, wie ich das gemacht hätte. Ich wußte es nicht. Vor einigen Jahren löste sich das Rätsel: Man erlernt eine Sprache durch die Sexualität, durch die Kindererotik, die Kindersprache. Das ist ganz banal. Der Psychoanalytiker Ferenczi hat einen ungewöhnlichen Text über obszöne Wörter geschrieben. Man lernt eine Sprache, man erfährt eine Sprache durch die Obszönität und dann dreht sich alles. Wenn meine Kameraden onanierten, sagte einer zum anderen T › u jouis?‹, was ich sofort verstand und automatisch deutsch zu formulieren versuchte – was es im Deutschen nicht gibt, komischer Weise können Sie das überhaupt nicht übersetzen. Und die Sprache baute sich um diesen erotischen Moment herum auf. Das hat Freud genial verstanden. Es gab zu meiner Zeit in den französischen Privatschulen, den Jesuitenschulen, noch die Körperstrafen. La fessée, die Prügelstrafe. Dieses erotische Wort les fesses, der Hintern, ist ein wollüstiges Wort, das war irgendwie ein verrucht perverses Unternehmen, es tat natürlich weh, aber es war nicht unerträglich, das war etwas Heikles, Sexuelles. Dafür haben Sie im Deutschen das entsetzliche Wort Züchtigung oder Prügel. Das Brutalste, Verwegenste, Mörderischste, was es gibt; im Französischen ist la fessée etwas wunderbar Heiteres.« Folgt man dem sprachlichen Bild des Stehens in seinem alltäglichen wie philosophischen Gebrauch, bemerkt man alsbald, daß es ganz unterschiedliche (und bedeutsame) Dimensionen sind, die es anspricht, über die es die Struktur und Dynamik der Selbstwerdung entfaltet. So kann es als ein ausgezeichneter Leitfaden dienen, jene »Urszene der Entdeckung des Selbst« auszuleuchten, von der Goldschmidt spricht. Natürlich wäre es schön – analog zu Honoré de Balzacs Theorie des Gehens – eine kleine Phänomenologie des Stehens vorzutragen, das geht leider nicht; gleichwohl 12
Ebd.
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einige Stichworte.13 – Stehen heißt, sich in der Senkrechten halten, heißt Standhalten in des Wortes mehrfacher Bedeutung, nach der Seite der Sensomotorik eines ständig ausbalancierten körperlichen Gleichgewichts wie nach der seiner psycho- und soziostrukturellen Balance, kurz, einer Selbsterfahrung, die ebenso die Sprache der Anthropologie wie die der Sozialphilosophie und der Ethik spricht. Über diese darf aber auch der andere überragende Gesichtspunkt nicht übersehen werden, der sich mit dem Stehen und Standhalten als Symbol und Chiff re einer Elementarform des menschlichen In-der-Welt-Seins verbindet. Um stehen zu bleiben, bedarf es immer einer – mal stärkeren oder schwächeren – Kraftanstrengung. Um einen Roboter mit der Fähigkeit zu gehen und zu stehen auszustatten, ist ein immenser Rechenaufwand nötig. Nur die Stars unter den Robotern wie Asimov, und noch mehr Johnnie 2, können dank ausgefeilter Technik und eines komplizierten Regelsystems Bewegungsabläufe koordinieren und dafür sorgen, daß sie beim Gehen und Stehen nicht umfallen. Stehen braucht Kraft plus Balance, es muß mit der Erdanziehungskraft fertig werden, aber auch mit Kräften, die jederzeit lateral auf es einwirken können. Es verwundert daher nicht, daß Kant in seinen Reflexionen auf den Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte das Stehen, neben dem Gehen und Denken, in einem Atem zu den basalen »Geschicklichkeiten« gezählt hat, die der erste Mensch erwerben mußte. »Der erste Mensch konnte also stehen und gehen; er konnte sprechen (1. B. Mose Kap. II, V. 20), ja reden, d.i. nach zusammenhängenden Begriffen sprechen (V. 23), mithin denken.«14 Wenn etwas feststeht – im Raum der Ursachen wie der Gründe –, dann überdauert es die Zeit, dann tropft die Zeit, die vergeht, von ihm ab, derart, daß etwas gleich bleibt und sich nicht verändert, allenfalls in einigen äußeren oder unwesentlichen Aspekten, die Zeit kann dem, was Bestand hat, wenig anhaben, bedroht es aber ständig. Diese Bedrohung zu fallen oder fortgerissen zu werden, verweist auf ein latent gehaltenes Dramatisierungspotential, das leicht zu nutzen ist. Vergleichbares läßt sich auch für die sozialen Raum- und Zeitverhältnisse anmerken: Etwas durchstehen, eine soziale Situation bestehen, heißt soviel wie sich zu bewähren, sowohl nach der Seite eines technisch-instrumentell bestimmten Herstellens wie im Sinne eines Handelns, das praktisch und, nach Kants Defi nition, nur »durch Freiheit möglich« ist. Für Kant ist das »stehende und bleibende Ich« der höchste Punkt, an den man allen Verstandesgebrauch, ja seine ganze Philosophie heften muß. Stehen ist eine Art performativen Handelns, das nur gelingt, wenn es zugleich mit dem, was es tut oder äußert, sich selbst hervorbringt, sich selbst ins Leben ruft, stabilisiert und auch eine für Andere erkennbare, äußere, das ist gegen13 Fragmente zu einer Begriff s- und Metapherngeschichte des Stehens vgl. Gerhard Gamm: Stehen, in: Lexikon philosophischer Metaphern, hg. von Ralf Konersmann, Darmstadt 2007, 420-432. 14 Immanuel Kant: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: Kants Werke, Akademie Ausgabe VIII, Berlin 1968 ff., 110.
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ständliche Gestalt annimmt. Man muß Kraft aufwenden, um stehen zu bleiben, man muß sich bewegen, um nicht umzufallen. »Stehen ist Nichtumfallen« hat Hans Blumenberg lapidar in seiner Essaysammlung Die Sorge geht über den Fluß geschrieben. Von daher kann man Stehen auch als Grenzfall einer körperlichen Bewegung betrachten, über die die jeweiligen räumlichen und zeitlichen Verhältnisse mitentscheiden. Nach der Auffassung Arnold Gehlens rufen Bewegungen in Räumen ein »Antwortverhalten« hervor, das als deren »Umgangsqualitäten« in der Erfahrung gesammelt wird.15 Den Bewegungen entspricht eine »Sprachmäßigkeit«, sie unterreden sich mit Dingen und Räumen. Sie sind symbolische Formen des Umgangs mit diesen, sie verkörpern zugleich einen bestimmten Ausdruck. Sie bilden auf der motorischen Ebene »einen Schatz stummer Erfahrungen«16 . Stehen demonstriert Halt, Festigkeit, Bodenhaftung, nicht ohne ständig um Stabilität zu ringen. Selbst-ständig ist der, der frei steht, der unabhängig von anderen auf eigenen Füßen steht. Das gilt für das Kind, das sich anzuziehen lernt, nicht weniger als für den Unternehmer, der sich ökonomisch selbständig macht. Immer ist das Prozessuale des Selbständigwerdens und -bleibens mit im Spiel und ungemein wichtig. Von hier aus ist es nur ein kurzer (Bedeutungs)Schritt, um von der Senkrechten des körperlichen Stehens zum Aufrechten einer sozialen Haltung, vom lebenspraktisch befestigten Sinn des Wortes mit einer geradezu gegenständlichen Basis (der sogenannten buchstäblichen Bedeutung) zu einem übertragenen, z. B. existentiellen Sinn zu gelangen: In sozialen Situationen – der Versuchung wie der Anfeindung – zu widerstehen, d. h., standhaft zu sein. ›Standhalten im Dasein‹ könnte geradezu als ständige Aufgabe der Menschen begriffen werden; es spiegelt den Heroismus unseres In-der-Welt-Seins, den viele Existentialisten mit ihrer Ethik eines authentischen Lebens verbunden haben. »Stehen« jedenfalls spiegelt in der Erzählung jenen besonderen Zustand, bei dem unser Held eine letzte Zuflucht nimmt – »stehen« ist ihm Substanz und symbolischer Ausdruck: In sich selber stehen, nicht von anderen abhängig, das ist selbständig zu sein. Mit diesem »Stehen in sich« aber, so sicher er sich in ihm fühlt, steht er im buchstäblichen wie übertragenen Sinn »im Nichts«, dem unwirklichen Ort sozialer Absonderung: nicht akzeptiert und nicht ausgeschlossen zu sein. »Nichtssein« ist die psychologische Erfahrung des Selbstvernichtetwerdens und der symbolische Ausdruck für einen Prozeß, in dem der »unendliche Punkt, der er selbst ist«, sich herausbildet. Goldschmidt spricht in anderem Zusammenhang auch von »Leere« oder »Spaltung«. Der doppelte Doppelsinn – wie man sagen muß – des Abständigseins in der Nah- und Ferndistanz zu sich und zu den anderen, hilft zu verstehen, was es mit jener unendlichen Leere oder dem »Stehen im Nichts« philosophisch auf 15 16
Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Neuwied 1978, 170. Ebd.
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sich hat, einer Leere, die zuletzt durch keine Bestimmung des Menschen ausgefüllt, aber ständig mit imaginären Wunschbildern und sinnstiftenden Geschichten, mit Träumereien nach vorwärts und rückwärts überschrieben wird, die wir unser Ich nennen. »Leere« oder »Nichts« sind sprachliche Zeichen für die Unmöglichkeit, den Bestimmungsprozeß dessen, was der Mensch ist und wie er sich erfährt, abzuschließen. Auch zu seiner Innenwelt hat er nur Zugang durch eine imaginäre Öff nung, eine, die sich nicht ohne das Wirken der Einbildungskraft vollzieht. In Goldschmidts Erzählung wird das Selbst des jugendlichen Helden in den langen Interaktionsreihen zwischen ihm selbst und den signifi kanten anderen seiner (strafenden) Umgebung gebildet, zwischen seinem Schmerz-Ich und dem Reflexions-Ich, zwischen seinem Gefühl und seiner Selbst- und Gefühlsdarstellung, zwischen dem Sich-schuldig-Fühlen und dem bedingten Genuß der Erniedrigung, zwischen seinem Retro-Ich (Heimweh) und seiner flüchtigen Gegenwart, zwischen dem Ich, das sich an bevorzugten »Sehplätzen« durch minuten- oder stundenlanges Betrachten der Landschaft entlastet und einer ständigen Not im Voraussehen der Strafe – einem körperlichen Schmerz, der ersehnt wird und einer Strafe, die befreit und in das Sich-schuldig-Fühlen zurückführt. Was natürlich nicht besagt, daß die Straf- und Demütigungsrituale und der zu Unrecht erlittene physische und psychische Schmerz die notwendigen Bedingungen darstellen, um, wie es bei Schelling geheißen hat, auf den grundlosen Grund seiner selbst zu gelangen. In einem späteren Text hat Goldschmidt davon gesprochen, daß es eigentlich das Selbst- und Weltgefühl des Waisen(kindes) sei, dem er literarisch zum Ausdruck verholfen habe – was auch einen bezeichnenden Blick auf die Philosophie wirft, die über vergleichbare Verständnisschemata die diesbezüglichen Ich- und Weltverhältnisse aufzuklären versucht. Im französischen l’étrangeté de l’existence laufen alle diese Bedeutungsfäden auf bewundernswerte Weise zusammen. Goldschmidt berührt hier eine tiefe, unverlierbare Einsicht der philosophischen Anthropologie. Sie erschließt das Verständnis des Menschen über die Struktur eines Waisen(kindes) der Natur. Bereits Herder hatte den Menschen »das verwaiseste Kind der Natur«17 genannt. Das Stehenkönnen im Nichts reproduziert sich in einer und über eine es fundierende Leere hinweg. Das, womit wir provisorisch auf uns selbst verweisen, verkörpert sich zeitweilig im Stehen, es ist Vollzug und Manifest, Substanz und Symbol, niemand und jemand, sprachlich wie bildlich, leidend und handelnd. »[O]rtlos, zeitlos im Nichts stehend«, »Stehen im Nirgendwo« sind natürlich die großartigen Formeln aus Helmuth Plessners philosophischer Anthropologie, mit der er die »ex-zentrische Positionalität« des Ich zum Deutungsmittelpunkt menschlicher Subjektivität gemacht hat.18 Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), in: ders., Werke 1, hg. von Ulrich Gaier, München 1985, 175 f. 18 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/New York 1975, 310. 17
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II. »Die Matratze unter ihm verdarb, das Roßhaar verfaulte darin. Knäuel entstanden, die eine schwammige, ätzende Masse bildeten. Man entschloß sich zur äußersten Strafe: er sollte als bald Fünfzehnjähriger mit der Rute gezüchtigt werden. Es war schon öfters geschehen, und er hatte es immer wieder sofort vergessen. ›Je veux une bonne badine de coudrier‹, war ihm gesagt worden: Ich brauche eine gute Haselgerte. Das Wort ›coudrier‹ hörte er zum erstenmal, und doch wußte er sofort, welche Baumart gemeint war, als hätte sein Auge im Voraus schon alles um ihn selber gewußt. Es wurde ihm befohlen, sich selber die Gerte zu brechen, sie solle ›ziehen‹, wurde ihm dazu bedeutet. […] Sofort erkannte er den ›coudrier‹, dünne Zweige, die ihm entgegen wuchsen. Jeder Zweig schoß gerade hervor, speichenartig, dünn. […] Unter allen anderen erkannte er den geeigneten Zweig, der ihm entgegenleuchtete. Sorgfältig brach er die Haselgerte – sie hatte die passende Länge, damit konnte man ausholen, sie würde sich um seine Hüften winden, und er würde sich unter ihr vor Schmerz auf bäumen. Er versuchte das faserige Holz so glatt abzubekommen wie nur möglich; er freute sich, daß es so zäh war. Es war ihm beim Abbrechen, als gäbe es ihn selber doppelt. Er fühlte sich durch sich hindurch stehen: stehen, das war er. […] Noch nie hatte er sich mit solcher Deutlichkeit stehen fühlen, und er ließ sich stehen, unbeweglich, in sich selber hineinhorchend: eine atemberaubende Bange überkam ich. Alles war von einer noch nie erlebten Genauigkeit: im Voraus spielte sich alles schon ab, wie es sein würde: was werden würde, war jetzt. […] Am Abend dann im Bett schloß er die Augen und wurde dieser Jüngling, er ließ das so lange angeschaute Bild in ihm wieder erscheinen, er lag da, das Gesicht dem Zuschauer zugewandt, damit man ihm die Strafe aus den Augen lesen könne. Er überließ sich der leisen Berührung der eigenen Finger, das Nachthemd hatte er sich vom Leib gerissen, um der Strafe nackt ausgeliefert zu sein, er war der junge Römer. Ganz langsam ließ er die Finger die Vorhaut hinauf- und hinuntergleiten, bis er sich vor Wollust auf bäumte. Aber genau wie unter der Rute hatte er sich zu beherrschen gelernt. Zehnmal ließ er sich bis zum äußersten Punkt kommen, ließ aber doch jedes Mal von sich ab, ließ sich mit ausgestreckten Armen minutenlang liegen. Er wand sich unter der Strafe, wie der junge Römer. Noch nie hatte er eine derartige gotthafte Schärfe empfunden, er schrie auf, jubelte in sich hinein. Das würde man ihm nicht nehmen könne, er wußte nun, er hatte die größte Freude entdeckt, die ihn über alles hinwegretten würde, allabendlich.« (124-127, 138 f.) Im Folgenden soll es weniger um die Psychologie oder die philosophische Anthropologie dieser mit Stehen bezeichneten (männlichen) Selbsterfahrung gehen als um die Sprache, das Wort Stehen oder den Begriff, das sprachliche Bild und seine Symbolik (das Sinnbild), vor allem aber darum, welche Rolle Metaphern im philosophischen und literarischen Sprachgebrauch spielen. Wenn es also zutriff t, wie
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Georg Christoph Lichtenberg bemerkt, daß – von uns unbeachtet – die Sprache philosophiert, dann auf das Wort Stehen/Stand und seine Komposita und seine unerhörte Präsenz in der deutschen (und lateinischen) Sprache. Es gehört, wie Goldschmidt in seinem Essay über Freud und die deutsche Sprache schreibt, zu den Verben, um die herum die deutsche Sprache aufgebaut ist. »Diese Grundwörter [wie stehen, G. G.], zu denen noch viele andere kommen, haben im Französischen kein Äquivalent, kommen aber praktisch in jedem dritten deutschen Satz vor und lassen sich unbegrenzt mit einer Vielzahl von Partikeln kombinieren«: anstehen, abstehen, aufstehen … beistehen … einstehen, entstehen … überstehen, unterstehen … zustehen. »Das Wort Stehen ist eine der Hauptstützen der deutschen Sprache, einer der im Meer des Sinns aufragenden Pfähle, an denen sie ihre Pontons baut.«19 Und nicht nur die deutsche Sprache insgesamt, mehr noch die philosophische entnimmt tragende Elemente ihrer Diskurspraxis (die Grundbausteine ihres Denkens) in schier unendlich großer Zahl diesem Steinbruch – einem Steinbruch aus Verben und Substantiven, die ihre Bedeutung mit oder um Stehen und Stand gebildet haben – von Distanz (mit »Abstand« aus dem Lateinischen übersetzt) über Substanz und Instanz bis Gegenstand und Standpunkt; vom Geständnis zum Verständnis, vom Entstehungszusammenhang bis zum Widerstand, sie fallen allesamt in den Zuständigkeitsbereich des Stehens. – Wenn ich hier stehe und nicht anders kann, muß ich zwar gestehen, daß der Satz von Martin Luther stammt, einstehen muß dennoch ich für das, was ich sage, darauf bestehen Sie, daher muß ich die Sache durchstehen, das gebietet der Anstand und die ständige Aufgabe des Menschen, die der Volksmund in Anlehnung an die Bibel in die stehende Redewendung: Wer steht, sehe zu, daß er nicht falle, gebracht hat. 20 Und – als wäre es damit noch nicht genug, wird auch der berühmteste Satz der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts über »Stehen« (und seinen unmöglichen Ort) gebildet: »Vor dem Gesetz steht ein Türhüter.« Wie dem auch sei, die philosophische Sprache, insbesondere die der deutschen Philosophie, ist eine ausgesprochen leib- und körpernahe Sprache. Sie verankert in einem kaum bewußten Maße ihre Wort- und Denkbilder in einem Vorstellungsraum, der dem Körper und dem Leib entlehnt ist. »Im Deutschen geht alles vom Körper aus, kehrt zu ihm zurück […]. Es gibt wirklich keine größere Dummheit, als vom abstrakten Charakter des Deutschen zu reden: keine andere Sprache ist so konkret, so räumlich; das Deutsche ist, genau genommen, unfähig zu jeder Abstraktion.« 21 Das gilt auch oder insbesondere für die Hegelsche Philosophie, die im
Georges-Arthur Goldschmidt: Als Freud das Meer sah. Freud und die deutsche Sprache, Zürich 1999, 19. 20 Vgl. dazu Gerhard Gamm: Standhalten. Motive einer kritischen Pädagogik, in: Bildung und gesellschaftlicher Widerspruch. Hans-Jochen Gamm und die deutsche Pädagogik seit dem Zweiten Weltkrieg, hg. von Wolfgang Keim u. a., Frankfurt/M. u. a. 2006, 45-63. 21 Goldschmidt: Als Freud das Meer sah [Anm. 20], 17 f. 19
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ersten Kapitel der Phänomenologie des Geistes, über die sinnliche Gewißheit, keine Wörter verwendet, die, wie Goldschmidt schreibt, nicht ein fünfjähriges Kind beherrscht (mit Ausnahme vielleicht der Begriffe Vermittlung und Unmittelbarkeit). Für die Philosophie hat sich lange Zeit der Konfl ikt mit der Literatur (und auch der Rhetorik) am Verhältnis von Begriff und Metapher entzündet. Von romantischen Strömungen einmal abgesehen, stand und steht die metaphorische Rede in einem denkbar schlechten Ruf. Für sich selbst glaubte das philosophische Denken ein mit klaren und deutlichen Begriffen operierendes Rechnen reklamieren zu können: Der Gebrauch von Metaphern erlaube eben dies nicht. Weil keiner Definition gehorchend, wurde von ihrem Gebrauch im philosophischen Diskurs dringend abgeraten. Thomas Hobbes hat die unklare Sprache vieler Philosophen nachdrücklich beklagt und auf die Notwendigkeit unmißverständlicher Bedeutungsfestlegungen hingewiesen 22 : »Klare Wörter sind das Licht des menschlichen Geistes, aber nur, wenn sie durch exakte Defi nitionen geputzt und von Zweideutigkeiten gereinigt sind. Die Vernunft ist der Schritt, die Mehrung der Wissenschaft der Weg und die Wohlfahrt der Menschheit das Ziel. Und im Gegensatz dazu sind Metaphern und sinnlose und zweideutige Wörter wie Irrlichter, und sie dem Denken zu Grunde legen heißt durch eine Unzahl von Widersinnigkeiten wandern, und an ihrem Ende stehen Streit und Aufruhr oder Ungehorsam.« Auch glaubte man an der Differenz von Begriff und Metapher ein Kriterium zu besitzen, um zwischen den Literaturgattungen bzw. Textsorten von Philosophie und Literatur im Prinzip unterscheiden zu können. Die Sprache der Dichtung, der Romane und Erzählungen sei eine des übertragenen Sinns. Sie spiele mit mehrdeutigen Zeichen und Welten, wo die Sprache der Philosophie auf bestimmte Begriffe bzw. Bedeutungen festgelegt sei. Begriffe erheben Anspruch auf eine Einheit der Bedeutung, Metaphern geben sie einer immanenten Tendenz nach an eine Multiplizität frei. Ob es sich bei der Interpretation unserer selbst nach den sprachlichen Vorgaben von Stehen/Stand und seinen Komposita um Metaphern oder um Begriffe handelt, läßt sich womöglich nicht auf der Ebene der Wörter und Tropen und auch nicht der Sätze entscheiden. Viel wahrscheinlicher ist es, daß, wenn wir über Stehen gebildete Wörter im philosophischen Kontext benutzen, unser Gebrauch zwischen begriffl icher und metaphorischer Verwendung oszilliert; daß wir hin und her springen und dabei stets die Möglichkeit beider im Sinn behalten; daß das Denken in begriffl ichen Ketten vor dem Hintergrund seiner imaginären bildhaften Elemente sich expliziert und erst bei Befragung uns zu dieser oder jener bestimmten Bedeutung veranlaßt, bei fi xen Bedeutungen Zuflucht zu suchen; daß wir den Begriff vor dem unbestimmten Hintergrund der Metapher zu verdeutlichen und zu beleben versuchen und die Metapher vor der Folie des Begriff s interpretieren. 22
Thomas Hobbes: Leviathan, Neuwied/Berlin 1966, 37.
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Die Sprache scheint ein Scharnier zwischen beiden zu sein, nicht nur zwischen Wort und Begriff, zwischen dem Kognitiven der Bedeutung (ihren Merkmalen) und der Lautgestalt der Wörter, dem Endlichen und Unendlichen, sondern auch zwischen Bild und Begriff. Es scheint, als sei das sprachliche Bild das Substitut für die Anschauung im Bereich linguistischer Operationen, als erfülle es eine ähnliche Funktion, als antworte es mit seinen Mitteln auf die immer schon deutlich geführte Klage, daß man den je im Bild oder der Anschauung sich bietenden Totaleindruck nicht recht zu fassen bekomme. Es sind die bildlichen Elemente, die verhindern, daß sich Metaphern durch die Angabe »normalsprachlicher« Bedeutungen erschöpfen oder hinreichend auf klären lassen. Ein kurzer Blick auf die kanonischen Texte der Philosophie von Platon bis Hegel – und eben auch auf den zitierten Text von Hobbes – würde genügen, um sich davon zu überzeugen, daß »Begriff hier und Metapher dort« das Verhältnis von Philosophie und Dichtung nicht hinreichend deutlich beschreibt. Vielmehr kommt es auf die Konstellationen an, in denen Begriff und Metapher in Philosophie und Literatur aufeinander Bezug nehmen. Von daher könnte ein Schatten der Erkenntnis am ehesten auf unser Problem fallen, wenn man danach fragt, wie die Stehensmetapher in beiderlei Kontexten funktioniert oder was sie uns über die möglichen Unterschiede im philosophischen und literarischen Metapherngebrauch zu verstehen gibt – vorausgesetzt es gibt sie überhaupt. In Goldschmidts Erzählung hatte es geheißen: »[…] ein Selbstgefühl, wie er es noch nicht gehabt hatte. Und jenes Gefühl würde sich bis an sein Lebensende nicht mehr verlieren. So wie gerade jetzt würde er für immer in sich selbst stehen.« Plessners Formel über das menschliche Selbst lautete: »Ortlos, zeitlos im Nichts stehend« und: »Stehen im Nirgendwo«. Was zunächst ins Auge fällt, ist, daß der literarische Bildgebrauch gleichsam an der Oberfl äche verbleibt und eine Vielzahl von Assoziationen und Impressionen anstößt, daß er offen und mehrdeutig ist, daß der Grad an Bestimmtheit und damit an begriffl icher Reflexion deutlich geringer ausfällt als im Einsatz der philosophischen Metapher. Von ihr könnte man sagen, sie sei begriffl ich instruiert, stärker abgestimmt auf Zwecke, die sich aus der diskursiven Ordnung eines Gedankens herschreiben. Sie stelle bewußt auf den Versuch ab, begriffliche Gegensätze über den Bildgebrauch kompatibel zu machen und zeige dies auch in problematisierender Weise durch seine Verwendung. Sie zielt eher auf die Explikation des propositionalen Gehalts als auf einen Erzählfluß und seine Performance. Der philosophische Metapherngebrauch enthält eine Reflexivität des sprachlichen Bildes, auf das der literarische weithin verzichtet. Die Sprache des letzteren bewegt sich in der Form von Andeutungen, die in ganz unterschiedliche Richtungen verweisen, er nutzt sprachliche Bilder, aber so, daß sie den Sprachsinn in einer Weise offen- oder loslassen, daß ihm produktiv neue und ungewöhnliche Seiten abgewonnen werden können. »So wie gerade jetzt würde er für immer in sich selbst stehen« läßt an ein Selbst nach Art ineinander gestellter russischer Puppen (Matroschka) ebenso den-
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ken wie an etwas Unerschütterliches, an ein fundamentum inconcussum veritatis; nicht ohne Grund hat man zur Übersetzung von Substanz aus dem Lateinischen immer wieder das In-sich-selbst-stehen-können herangezogen. Substanz heißt das, was beständig da ist. Die Vorstellung ›in sich zu stehen‹, ist zu komisch, um nicht zum Lachen zu reizen. In sich selbst steht auch der, der autonom ist, der nicht nur selbstständig und unabhängig von den anderen ist, sondern selbstbestimmt, d.h. moralisch, rechtlich und politisch legitim sich über die mannigfachen Formen von Arbeit und Kommunikation mit anderen zu individuieren weiß. In sich selbst steht, wer nicht außerhalb seiner, nicht neben sich steht, nicht außer sich ist, der sich im Schnittpunkt von körperlicher Empfi ndung und seiner über sie vermittelten Selbstwahrnehmung sich durch sein Stehen hindurch fühlt usf. Keine dieser Deutungen, die um etliche sich vermehren ließen, wird durch das erwähnte Bild vorgeschrieben, aber mit allen gespielt, sie verbleiben in der Schwebe, in geradezu souveräner Unbestimmtheit spielt das sprachliche Bild mit ihnen allen und dem Leser, und fast beiläufig gelingt es ihm dennoch, eine andere Art Deutlichkeit hervorzurufen, sein Rätselcharakter steht dem überhaupt nicht entgegen. Sprachliche Bilder sind geradezu Musterbeispiele von unbestimmter Bestimmtheit, ihre Bestimmtheit erhalten sie durch das, was die philosophische Tradition »ästhetische Deutlichkeit« genannt hat, durch ihre Prägnanz und Genauigkeit sind sie einer Sprache, die mittels festgelegter Begriffe operiert, weit überlegen. Zugleich haftet ihnen ein Moment unbestimmbarer Offenheit an, ein Changieren im Hin und Her einer Vielfalt von Bedeutungen. Sie können nicht mit der gleichen Klarheit und Deutlichkeit expliziert werden, wie ein Denken in Begriffen es vermag. Die Vieldeutigkeit der poetisch-metaphorischen Sprache vermittelt ein Bewußtsein ästhetischer Freiheit, daß der philosophische Metapherngebrauch so nicht kennt. Vielleicht kann man daher mit Blumenberg von einer »kontrollierten Mehrdeutigkeit« sprechen. Das Bild einer ›Zeit- und Ortlosigkeit des Stehens im Nichts‹ ist in weit höherem Maße in begriffl iche Oppositionen (und Koalitionen) verstrickt als das literarische, seine Reflexivität entstammt zu einem Teil aus der Not und Notwendigkeit des Umgangs mit Paradoxien, die die Beschreibung seiner ex-zentrischen Natur nahelegen. »Als Ich […] steht der Mensch nicht mehr im Hier-Jetzt, sondern ›hinter‹ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts […], im raumzeithaften NirgendwoNirgendwann. Ortlos-zeitlos ermöglicht er das Erlebnis seiner selbst und zugleich das Erlebnis seiner Ort- und Zeitlosigkeit als des außerhalb seiner Stehens, weil der Mensch ein lebendiges Ding ist, das nicht mehr nur in sich selber steht, sondern dessen ›Stehen in sich‹ Fundament seines Stehens bedeutet […]. Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben.« 23 Natürlich ist es unsinnig, ja falsch, im buchstäblichen Sinn zu sagen, man stünde im Nichts, leicht könnte man dem, der so spricht, sagen, er wüßte das Wort stehen 23
Plessner: Die Stufen des Organischen [Anm. 18], 362 u. 364.
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nicht recht zu gebrauchen, stehen verweise auf den Raum, auf etwas, das stehen könne und zwar auf einem Grund und Boden. Wie es einen Raum voraussetze, so auch eine Zeit, während der man steht; gerade, weil Beständigkeit relativ sei, könne man sich selbst nicht denken, ohne einen Eintrag auf dem Zeitpfeil. In seiner philosophischen Exponiertheit ist es nur Millimeter von der Lächerlichkeit, in seiner Dramaturgie nur einen Moment vom Slapstick entfernt. Plessner entwickelt seine Pointe vor allem aus der Spannung zwischen den statischen, ganz und gar räumlich und körperlich gefaßten Vorstellungsbildern des Stehens und seinen Negationen, deren auff älligste eben seine Formel vom »Stehen im Nirgendwo« ist. Um die paradoxe Problemlage des menschlichen In-der-WeltSeins auf den Begriff zu bringen und zu dramatisieren, werden unterschiedliche, logisch wie sachlich unvereinbare Vorstellungswelten aufgerufen. Dabei legt jene Formel sowohl eine im engeren Sinn fundamentalanthropologische wie im weiteren existentialistische Deutung nahe: »Ortlos, zeitlos, im Nichts stehend« erweckt sowohl das leise Schaudern einer heroischen Existenz, »ein Zigeuner am Rande des Universums« zu sein, wie Jacques Monod gesagt hat, 24 es verbindet sich auch mit jener ex-zentrischen Position, die kraft der »totalen Reflexivität des Lebenssystems« es jenem Lebewesen unmöglich macht, sich nicht in seinem Sich-selberVorwegsein immer schon vorweg zu sein. Wie in der Leere des Weltraums, so stehen Menschen verloren im Nichts einer Welt, die keine Orientierung bietet. Es scheint, als rufe selbst das Nichts räumlich konnotierte Bilder hervor, obwohl es keine Abmessungen, keinen Anfang und kein Ende kennt, nur Dunkelheit mit einigen Lichtflecken, um Dunkelheit überhaupt wahrnehmen zu können, kein telos, kein kairos, verloren in einer Welt, von der der christliche Schöpfungsbericht gesagt hatte, sie sei »öd und leer«. »Stehen« und »Nichts« sind Spiegel füreinander, es ist, als ob sich wie unter dem Einfluß der Imagination »eine Art von Phänomenen von einer anderen Art von Phänomenen« 25 her wahrnehmen läßt. Sie rahmen gleichsam die Welt mittels weit voneinander entfernter Bilder, deren Inkompatibilität sie festhalten und überbrücken. Metaphern übersetzen Sprache in bildliche Vorstellungen, sie verdichten sie derart, daß sie Wahrnehmungen gleichen. Es ist, als drängten sie über das linguistische Zeichensystem hinaus, um in ihrer Anschaulichkeit an einem anderen Medium zu partizipieren. Die Metapher (wie die Sprache überhaupt) ist eine, wenn nicht die ausgezeichnete Bedingung einer Artikulation dessen, was sie nicht artikulieren kann. Metaphern verdichten Elemente aus zwei Sphären zu einem Sprachbild (weshalb Freuds Begriff der Verdichtung dem der Metapher entspricht und die Verschiebung, wie Lacan später gezeigt hat, der Metonymie). Metaphern sind ausgezeichnete Orte, die logisch um Welten getrennten Sphären von Geistigem und Sinnli24 25
Jacques Monod: Zufall und Notwendigkeit, München 1975, 151. George Lakoff, Mark Johnson: Leben in Metaphern, Heildelberg 2004, 220.
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chem, Symbolischem und Begriffl ichem, von Bild und Sprache zu überbrücken, in jeder Metapher bedarf es einer, wie Nietzsche sagt, »frei dichtenden Mittelkraft« 26 . »Stehen im Nichts« vermittelt ganz unterschiedliche Bereiche, es ruft unvermittelt Zusammenhänge auf, in der die dichte Beschreibung der Metapher die (begriffl iche) Einheit ersetzt. So gilt es vor allem eine Brücke zu schlagen zwischen einer räumlich (und körperlich) bestimmten Anschauung und dem Bewußtsein, im Nichts überhaupt keinen Ort zu haben, wohin man seinen Fuß setzen könnte, aber auch zwischen dem Gegenständlichen und dem Symbolischen, zwischen Grund und Abgrund und anderem mehr. »Stehen im Nirgendwo« setzt getrennte Denkund Vorstellungsfabriken in Gang. So nah oder so dicht die Metapher die beiden Reihen auch aneinander zu binden versucht, in keiner Verdichtung gelingt es, sukzessive von der einen Seite zur anderen überzugehen, statt dessen, wie Nietzsche sagt: jedes Mal vollständiges Überspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue. Was aber nichts anderes bedeutet als die irreduzible Kluft anzuerkennen, die nur durch einen in jeder Anspannung ungesicherten Sprung überwunden werden kann. Man hat nicht ohne Grund die Metapher einen Sprungtropus genannt, dessen Witz darin liegt, daß man mit der rhetorischen Brücke, die man installiert, sogleich die Unmöglichkeit erfährt, sie als Brücke gebrauchen zu können – man muß springen, aber in ihre Bildung ist ein Mechanismus, sie augenblicklich in die Luft zu sprengen, eingebaut. Ohne Transfer in eine ganz fremde Sprache keine Metapher. Es bedarf daher keiner langen Geschichte, um daran zu erinnern, daß dieser Sprung ohne Netz und doppelten Boden das vielleicht prominenteste Einfallstor der Metaphysik ist. Entsprechend muß Nietzsches Satz über den grammatikbedingten Glauben an die Existenz Gottes nun lauten: Ich fürchte, wir werden die Metaphysik nicht los, solange wir an die Metapher glauben. »Stehen« zeigt diese ambivalenten Züge auf geradezu exemplarische Weise, es wird als schwach reflexives Selbstgefühl räumlich und körperlich vorgestellt; als solches bringt es Vorstellungen ins Spiel, die gerade nicht oder nur zum Teil räumlich gedacht werden können, es kann unser Denken auf eine völlig falsche Fährte setzen. Bei Gefühlen kennen wir allenfalls Grade der Intensität, bei Gedanken und Sprechakten nicht mal diese, und von unseren Selbstverhältnissen glauben wir schon gar nicht, daß sie räumlicher Natur sind, daß sie Höhe, Breite und Länge besitzen. Auch die Vorstellung eines unverlierbaren (beharrlichen) Selbstgefühls, einer Substanz, die die Zeit überdauert, könnte in die Irre gehen oder nur schlecht beschreiben, was das Besondere einer durch den Zeitsinn erheblich tangierten menschlichen Identität und Beständigkeit ist. Was uns selbst betriff t, scheint jenes Zu Nietzsches Verständnis der Metapher vgl.: Gerhard Gamm, Die Macht der Metapher, Stuttgart 1992, 76 ff. 26
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selbst im sprachlichen Bild des Stehens vollständig verfehlt zu werden. Karl Jaspers schreibt 27 : »Nie kann ich von mir selbst, als ob ich ein Bestand wäre, sagen, was ich sei.« Darüber hinaus kann man sich das Bewußtsein eines Unwirklichwerdens dieses Bildes, des Verlusts seiner Attraktivität kaum verhehlen, obwohl man, seiner Körperhaftigkeit wegen, heute großen Anklang vermuten sollte. Wie die Moden haben auch Metaphern ihre Zeit, vielleicht ist das Bild einfach zu männlich. Das Bodenständige und Urwüchsige, das Feste und Gediegene, das Kontinuierliche und Aufrechte, das in der normalen wie in der philosophischen Sprache aus ihm spricht, zeigt alle Anzeichen eines Veraltens. In einer Welt der Plastikwörter hat es nichts mehr verloren, in seiner Körperlichkeit wirkt es wie ein Fremdkörper, es versteht es nicht (mehr), sich unter die technisch optimierten Prozesse einer ständig sich überholenden Zeit zu schalten. Zwischen seiner sensomotorischen Basis und der Virtualität unserer technischen Welt klaff t eine Verständnislücke – so als ob es noch Gegen-Stände gäbe, Dinge, denen man ihr Gewicht, das ist ihre Bedeutung noch ansähe: gesellschaftlich ein Relikt aus der Welt der Handwerker und der frühen Industrieproduktion, epistemologisch aus einer, die anstatt System, Medium und Prozeß noch das Schema von Subjekt und Objekt benutzte, um die Widerstände von dem, »was es gibt«, zu durchdringen. In Goldschmidts Erzählung fällt das alles seiner literarischen Einbettung wegen nicht ins Gewicht. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu bemerken, daß die Semantik des Stehens zur Explikation menschlicher Selbstverhältnisse keineswegs zwingend ist. 28 Heute ist das Vergleichsmedium die Sprache (im Verein mit der Technik). Sie scheinen Metapher und Modelle nahe zu legen, die sie treffl icher zum Ausdruck zu bringen wissen. Sagt man vom Ich, es sei ›ein Indexwort, mit dem ein Sprecher auf sich selbst verweist‹, hat man das Bildfeld gewechselt. Ob es bessere Artikulationen des menschlichen In-der-Welt-Seins veranlaßt, ist nicht vorab zu entscheiden.
III. Vielleicht gibt das Ende der Erzählung eine Antwort, dort erscheint stehen – das einzige Wort im ganzen Text, das in Kapitälchen gesetzt ist – in Sätzen, die an Lakonie und Gleichmut schwer zu übertreffen sind und jenen unerhörten Ton anschlagen, der in Albert Camus’ la tendre indifférence du monde mitschwingt. »Den älteren Kameraden sah er ohne Erstaunen am Waldrand stehen, er hatte ihn nicht herauf kommen sehen, er stand einfach da, und man sah sein stehen,
Karl Jaspers: Existenzerhellung. Philosophie II, Berlin/Heidelberg/New York 1973, 5. Sie fi ndet auch in späteren Schriften Plessners kaum mehr Verwendung, seine Einsicht in die Unbestimmtheitsrelation des Menschen zu sich ändert das freilich nicht. 27
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noch ehe man ihn stehen sah: vielleicht war das die Angst. Er sah ihn, ehe er ihn erkannte, und doch war beides ein einziger Augenblick. Schweigend gingen sie nebeneinander den Abhang hinunter, durch die kleine Ortschaft, als wären sie verspätete Spaziergänger.« (175)
A bgrund des Unverständnisses W. G. Sebalds »Austerlitz« Von Alfred Nordmann
I. Am 29. April 1951 starb der Philosoph Ludwig Wittgenstein in Cambridge, im Haus seines Freundes und Arztes Edward Bevan. Obwohl er schon vor dem ersten Weltkrieg und dann wieder seit den späten 20er Jahren in England lebte, schrieb er fast ausschließlich auf Deutsch. Wittgenstein war ein ungläubiger Katholik jüdischer Abstammung, großbürgerlich aufgezogener Sohn und Erbe eines Wiener Industriellen, der ein Ingenieur wurde, dann Philosoph, einfacher Soldat, Gärtner, Volksschullehrer, wieder Philosoph, zuletzt noch Krankenpfleger, der zwar immer wieder nach Wien zurückkehrte, sich aber auch eine abgelegene Hütte in Norwegen baute, in Berlin, Manchester und vor allem Cambridge lebte, in die Sowjetunion emigrieren wollte. In den posthum erschienenen Philosophischen Untersuchungen dieses österreichisch-englischen Philosophen heißt es1 : »Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und einförmigen Häusern.« Auf die Gewinkel der Sprache scheint auch seine Bemerkung über Philosophie gemünzt: »Ein philosophisches Problem hat die Form: ›Ich kenne mich nicht aus‹.« (PU 123) Philosophieren – nach Wittgenstein bedeutet dies, die Übersicht zurück zu gewinnen, einen Ausweg zu fi nden. »Was ist dein Ziel in der Philosophie?« fragt er sich selbst und antwortet: »Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen« und somit, wie es auch heißt, »das Philosophieren abzubrechen, wann ich will« (PU 309, 133). Inzwischen jedoch und auf der Suche nach diesem Ausweg erkundet Wittgenstein vor allem die Ecken und Winkel und die Sackgassen, in die uns die Sprache führt – er fängt immer wieder damit an, daß er sich nicht auskennt. Gegen Ende des Romans Austerlitz von W. G. Sebald erscheint dessen namensgebender Protagonist Jacques Austerlitz wie eine Maschine, deren Mechanismus man nicht kennt. Seine Freunde kennen sich mit ihm nicht aus: »Am letzten Tag unseres Aufenthalts, fuhr Austerlitz schließlich fort, sind wir gegen Abend, zum Abschied gewissermaßen, durch den Park zu den sogenannten AuLudwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1971, Bemerkung 18. Dieses Werk wird im Folgenden mit in Klammern nachgestellter Numerierung zitiert. 1
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schowitzer Quellen hinuntergegangen. Es gibt dort ein zierlich gebautes, rundum verglastes Brunnenhaus, das inwendig weiß ausgemalt ist. In diesem Brunnenhaus, das durchleuchtet war von den Strahlen der untergehenden Sonne und in dem eine vollkommene Stille herrschte, bis auf das gleichmäßige Plätschern des Wassers, fragte mich Marie, indem sie herantrat zu mir, ob ich wüßte, daß morgen mein Geburtstag sei. Morgen, sagte sie, gleich beim Erwachen, werde ich dir alles Liebe wünschen, und das wird dann so sein, als wünschte ich einer Maschine, deren Mechanismus man nicht kennt, einen guten Gang. Kannst du mir nicht sagen, sagte sie, sagte Austerlitz, was der Grund deiner Unnahbarkeit ist? Warum, sagte sie, bist du, seit wir hierher gekommen sind, wie ein zugefrorener Teich? Warum sehe ich, wie deine Lippen sich öff nen, wie du etwas sagen, vielleicht sogar ausrufen willst, und dann höre ich nichts?« (310 f.) II. 1944 im bayerischen Wertach geboren, lebte W. G. Sebald seit 1966 in England und zwar, wie Wittgenstein, zunächst in Manchester. 2 Die hier und auf seinen Buchtiteln allein verwendeten Initialen »W. G.« erinnern daran, daß er seine Vornamen ablehnte. Er starb im Dezember 2001, dem Erscheinungsjahr von Austerlitz. 412 Druckseiten in vier, nicht weiter in Absätze unterteilten Abschnitten 3 – ein unablässiger, unangestrengter Redefluß, der sich überall hin ausbreitet, ein Teppich erinnerter Rede, wo das Eine dem Anderen, der eine Erzähler dem nächsten Erzähler das Wort gibt und das zentrierende Ich eben kein Zentrum ist, sondern sich permanent verschiebt und immer wieder sanft eingeholt werden muß. »Kannst du mir nicht sagen, sagte sie, sagte Austerlitz, was der Grund deiner Unnahbarkeit ist« hieß es eben und an einer anderen Stelle: »Maximilian erzählte gelegentlich, so erinnerte sich Veˇra, sagte Austerlitz.« (245) Dabei wird uns das, was Austerlitz sagte, natürlich von einem weiteren namenlosen Erzähler berichtet, vielleicht von Sebald selbst oder einem fi ktiven weiteren Erzähler, dessen Geschichte und Person aber weitgehend im Dunkel bleiben. Daß wir uns für diesen, den gewissermaßen »eigentlichen« Erzähler kaum interessieren, daß er vor unseren Augen verschwindet, mag bedeuten, daß er sich hinter der Rede seines Protagonisten Austerlitz versteckt, aber auch, daß er sich der Rede von Austerlitz überläßt 4 – wie auch der Leser vom Erzählfluß des Romans einfach fortgetragen wird. In einem Interview bemerkt Sebald: »And of course Wittgenstein went to Manchester as a young man, as I did, although I didn`t know about that at the time. I have this thing about feeling close to people who have passed through the same streets I have.« Kenneth Baker: W. G. Sebald: Up against historical amnesia, in: San Francisco Chronicle, 7. Oktober 2001. 3 W. G. Sebald: Austerlitz, Frankfurt/M. 2003. Der Roman wird hier nur mit Angabe der Seitenzahl zitiert. Die neuen Abschnitte beginnen auf den Seiten 9, 173, 362, 409. 4 Sebald hebt in einem Gespräch hervor, daß seine (fi ktiven) Erzähler niemals mehr über ihre Protagonisten zu wissen vorgeben, als was sie von ihnen gehört haben: »I intimate that the 2
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Hineingestellt in diesen Fluß sind allerdings Bilder, dokumentarische Zeichnungen und Fotografien. Sie bezeugen, wovon erzählt wird, von ihnen sucht umgekehrt die Erzählung Zeugnis zu geben – und doch stehen sie starr, fremd, kunstlos da, vermögen den Redefluß nicht wirklich zu unterbrechen 5 , werden von ihm nicht aufgenommen und mitgetragen, allenfalls umspült. So eng der inhaltliche Bezug auch sein mag, insbesondere die fast immer menschenleeren Fotos bleiben unerfüllte Forderungen. Ihrer geradezu unbeholfen schmucklosen Faktizität und konkreten Gegebenheit nähert sich das erinnernde Erzählen nicht an, es kann sie nur erwähnen oder beschreiben. 6 Was ist der Grund deiner Unnahbarkeit, fragt Marie Austerlitz, und was ist der Grund der Unnahbarkeit von dokumentarischem Beleg und erinnernder Rede, über was für einen Abgrund schauen sie einander an? Marie stellt ihre Frage in Marienbad. Dort steht das erwähnte, zierlich gebaute, rundum verglaste Gartenhaus – der Leser sieht dazu ein Foto, das eben dieses Gartenhaus darstellen könnte. Was führt nun Jacques Austerlitz in dieses Gartenhaus nach Marienbad? Offenbar ist es Marie, eine einstmalige Freundin aus Paris im Jahr 1958, die ihn viele Jahre später dorthin einlädt. Mit Ausnahme seiner tschechischen Mutter Agáta, die der fünfjährige Austerlitz zuletzt 1939 sah, mit Ausnahme seines ehemaligen Kinderfräuleins Veˇra, mit Ausnahme schließlich seiner walisischen Adoptivmutter Gwendolyn, ist Marie offenbar die einzige Frau in seinem Leben und somit auch in Sebalds Roman. Was führt nun aber Austerlitz’ erinnernde Rede nach Marienbad und seinem dortigen Aufenthalt mit Marie im Jahr 1972? Eines Tages im Jahr 1993 macht sich
narrator doesn’t know more about the lives of other characters than they’ve told him. So you have this periscopic point of view through layers of hearsay.« Baker: W. G. Sebald: Up against historical amnesia [Anm. 2]. 5 Siehe die Aufsätze von Carolin Duttlinger: Traumatic Photographs: Remembrance and the Technical Media in W. G. Sebald’s Austerlitz, 155-171 und Russell J.A. Kilbourn: Architecture and Cinema: The Representation of Memory in W. G. Sebald’s Austerlitz, in: Jonathan J. Long u. Anne Whitehead W. G. Sebald: A Critical Companion, Edinburgh 2004, 140-154 und Alexandra Tischel: Aus der Dunkelkammer der Geschichte: Zum Zusammenhang von Photographie und Erinnerung in W. G. Sebalds Austerlitz, in: Michael Niehaus u. Claudia Öhlschläger (Hg.): W. G. Sebald: Politische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin 2006, 31-45. In einem Interview äußert sich Sebald hierzu: »I’ve always liked image-text relationships. In the ’70s there were very interesting things written about photography by Susan Sontag, Roland Barthes, John Berger. I felt a direct rapport with things said in these essay […] what the image always does is arrest the text. The narrative moves in time and slides toward its own ending. The visual arts have the capacity to lift you out of time, and since all disasters happen in time, they offer some consolation in lifting you out of it.« Baker: W. G. Sebald: Up against historical amnesia [Anm. 2]. 6 Vgl. Wittgensteins Vorrede zu den Philosophischen Untersuchungen: seine Rede von einem Album, auch von seinen eigenen Fotoalben. Hierher gehört natürlich auch die Praxis Alexander Kluges, Erzählung mit dokumentarischem Material zu verknüpfen.
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der nunmehr fast 60jährige Austerlitz auf den Weg nach Prag, das er 1939 mit einem Kindertransport verlassen mußte. Er macht sich auf die Suche nach den Orten seiner Kindheit, er versucht, sich an seine Kindheit zu erinnern – und fi ndet dabei sein ehemaliges Kinderfräulein Veˇra. »Und dann erzählte mir Veˇra, sagte Austerlitz, wie wir im Herbst oft von der oberen Umgrenzungsmauer des Schönborngartens den Eichhörnchen zugesehen hätten beim Vergraben ihrer Schätze. Immer, wenn wir danach wieder nach Hause kamen, mußte ich dir, trotzdem du es von der ersten bis zur letzten Zeile auswendig kanntest, vorlesen aus deinem Lieblingsbuch, das vom Wechsel der Jahreszeiten handelte, sagte Veˇra und fügte hinzu, daß ich besonders an den Winterbildern, an den Hasen, Rehböcken und Rebhühnern, die reglos vor Staunen in der frisch verschneiten Landschaft standen, mich nie hätte sattsehen können, und immer, wenn wir zu der Seite kamen, sagte Veˇra, sagte Austerlitz, auf der davon die Rede war, daß der Schnee durch das Gezweig der Bäume herabrieselt und bald den ganzen Waldboden bedeckt, hätte ich zu ihr aufgeblickt und gefragt: Aber wenn alles weiß sein wird, wie wissen dann die Eichhörnchen, wo sie ihren Vorrat verborgen haben? Genau so, sagte Veˇra, habe die von mir immer wieder wiederholte, stets von neuem mich beunruhigende Frage gelautet. Ja, wie wissen die Eichhörnchen das, und was wissen wir überhaupt, und wie erinnern wir uns, und was entdecken wir nicht am Ende? […] Gegen Abend, als ich mich verabschiedete von Veˇra und dabei ihre gewichtlosen Hände in den meinen hielt, da kam ihr auf einmal wieder in den Sinn, wie Agáta am Tag meiner Abreise vom Wilson-Bahnhof, als der Zug ihnen aus den Augen entschwunden war, sich ihr zugewandt und gesagt hatte: Noch im vergangenen Sommer sind wir von hier aus nach Marienbad gefahren. Und jetzt, wohin fahren wir jetzt?« (294-297) Wie fi nden die Eichhörnchen ihre Nüsse, wie erinnern sie sich? Wie können wir glauben, daß alles tatsächlich so gewesen war? Und letztes Jahr in Marienbad, was führt uns dorthin? Vielleicht haben all diese Fragen die gleiche Antwort. Letztes Jahr in Marienbad – so heißt ein Roman von Alain Robbe-Grillet und seine noch berühmtere Verfi lmung von Alain Resnais aus dem Jahr 19617. In diesem Film, seinen weitläufigen Korridoren, Gärten, die immer wieder an den gleichen Ort, auf die gleiche Zeit zurückzuführen scheinen, versucht ein Mann eine Frau davon zu überzeugen, daß sie sich letztes Jahr bereits in Marienbad getroffen und auf das nächste Jahr verabredet hätten. Da der Film, einschließlich seiner Rückblenden, aber auch die Erzählung, einschließlich der beschwörend erinnernden Erzählung immer nur über die eigene Gegenwart verfügt, hat der Held des Films auch letztes Jahr in Marienbad – falls es die Begegnung seinerzeit überhaupt Alain Resnais: Last Year in Marienbad (1961) und Toute la mémoire du monde (1956), Studiocanal, DVD vertrieben von Optimum Releasing 2005. 7
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gab – die geliebte Frau auf ihr Treffen in Marienbad eingeschworen. Und da eine andere Vergangenheit gar nicht vorstellbar ist, hebt sie sich von der Gegenwart nicht ab, verschwindet somit als Vergangenheit. Dies bedarf einer genaueren, auf die Schnelle nicht leicht nachvollziehbaren Reflektion. Zum Beispiel: Wie unterscheide ich die Rückblende von einer Wiederholung, die Wiederholung von einer Behauptung? Oder grundsätzlicher: Wenn wir historische Evidenz produzieren wollen und sagen »erinnerst du dich nicht hieran – das beweist es doch …!«, dann besteht diese Evidenz nicht unabhängig davon, wofür sie Evidenz sein soll. Das erinnerst du dich nicht hieran – das beweist doch, daß wir schon einmal zusammen waren wird somit ununterscheidbar von erinnerst du dich nicht an diesen Beweis dafür, daß wir schon einmal zusammen waren und ununterscheidbar wiederum von erinnerst du dich nicht an dies, das von der Sache her, also damals schon, Beweis für unser Beisammensein war. Demnach würde jeder Versuch, die Vergangenheit als Grundlage, Beleg, Ursprung, Vorgeschichte der Gegenwart zu verstehen, die Vergangenheit zur Gegenwart machen. Wer Resnais’ Film gesehen hat, wird sich vor allem an die hieraus entstehende Verwirrung erinnern, an die Frage nach der Zeit, in der wir uns befi nden, an die Weise, wie die Gegenwart und sinnliche Gegebenheit der gefi lmten Szene die Behauptung einer Vergangenheit übertrumpft, also an den überwältigenden Eindruck des »wir kennen uns nicht aus«. An dieser Stelle bietet sich eine literaturwissenschaftliche Untersuchung an, die auf den Einfluß von Alain Resnais und Alain Robbe-Grillet, einschließlich seiner Theorie des Romans eingeht. 8 So überaus fruchtbar dies sein mag, so falsch wäre es doch, nach einer ästhetischen Theorie zu suchen, die hinter Sebalds Roman steht. Dies ergibt sich schon daraus, daß dieser Roman keine Tiefe hat, daß gar nichts hinter ihm steht und er sich statt dessen ganz und gar an der Oberfl äche und in der Gegenwart seines Erzählteppichs, seines Redeflusses abspielt.9 »Letztes Jahr in Marienbad« – das ist keine Anspielung auf einen Film, von dem her etwas zu entschlüsseln, verstanden oder zu erklären wäre, sondern öff net die Tür in eine Vorstadt oder dem Roman benachbarte Provinz, in der sich die Irrwege des Erinnerns verwinkelt fortsetzen, wie wir sie von Austerlitz, von Veˇra, vom Eichhörnchen her kennen. 8 »In all of the fi lms and novels that I have talked about, it seems to me that, indeed, time is absent.« Alain Robbe-Grillet: Images and Texts: A Dialogue, in: ders. u.a. Generative Literature and Generative Art: New Essays, Fredericton 1983, 38-47, hier: 45. 9 Diese Beschränkung auf die Oberfl äche teilt Sebald mit Robbe-Grillet und Wittgenstein: »Robbe-Grillet’s purpose […] is to establish the novel on the surface: once you can set its inner nature, its ›interiority‹ between parentheses, then objects in space, and the circulation of men among them, are promoted to the rank of subjects« (Roland Barthes: Objective Literature: Alain Robbe-Grillet, in: Alain Robbe-Grillet: Two Novels: Jealousy and In the Labyrinth, New York 1965, 11-25, hier: 25, vgl. auch Robbe-Grillets eigene Bemerkungen in Pour un nouveau roman, Paris 1967). Wittgenstein bemerkt: »Da alles offen daliegt, ist auch nichts zu erklären. Denn, was etwa verborgen ist, interessiert uns nicht.« (PU 126)
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III. Statt also zu fragen, was der Film von Resnais bedeutet und was Sebalds Anspielung auf ihn, sollten wir vielleicht lieber fragen, wie sich das Eichhörnchen erinnert. Kann beispielsweise die Frage nach dem Eichhörnchen so beantwortet werden, daß sich das Eichhörnchen erst erinnere und dann zum erinnerten Platz eile? Dies würde dem Eichhörnchen ein Zeitbewußtsein zutrauen, wie wir es auch uns selbst vermutlich nur zuschreiben. Ad absurdum wird diese Vorstellung von Wittgenstein geführt, wenn er bemerkt, ein Hund könne zwar fürchten, sein Herr werde ihn schlagen, »aber nicht: er fürchte, sein Herr werde ihn morgen schlagen« (PU 650). Vielleicht sollten wir also fürs Eichhörnchen sagen: Es ist nicht so, daß das Erinnern eine Bedingung für das Finden der Nüsse im Winter ist, sondern vielmehr so, daß eine bestimmte, eichhörnchenhafte Weise des Aufsuchens von Nüssen eine Form des Erinnerns ist. Daß es sucht und wo es fündig wird, konstituiert eine offenbar vorgängige Wirklichkeit, daß hier nämlich etwas hinterlegt ist, was nunmehr und hiermit erinnert wurde.10 Der Übergang von Eichhörnchen zu Menschen ergibt sich schnell, wenn wir uns beispielsweise Bibliotheken und Museen als Orte vorstellen, in denen das Aufsuchen die Form des Erinnerns ist. Hier ist allerlei in einem zeitlosen Nebeneinander hinterlegt. Wir suchen es auf und konstituieren mit unseren Bestellzetteln, Karteikärtchen und Bibliographien ein Archiv, das somit zum Erinnerungsspeicher wird. »Irgendwann später, sagte Austerlitz, habe ich einmal in einem kurzen Schwarzweißfi lm über das Innenleben der Bibliothèque Nationale gesehen, wie die Rohrpostnachrichten aus den Lesesälen in die Magazine sausten, entlang der Nervenbahnen sozusagen, und wie die in ihrer Gesamtheit mit dem Bibliotheksapparat verbundenen Forscher ein höchst kompliziertes, ständig sich fortentwickelndes Wesen bilden, das als Futter Myriaden von Wörtern braucht, um seinerseits Myriaden von Wörtern hervorbringen zu können. Ich glaube, daß dieser von mir nur ein einziges Mal gesehene, in meiner Vorstellung aber immer phantastischer und ungeheuerlicher gewordene Film den Titel Toute la mémoire du monde trug und daß er gemacht war von Alain Resnais. Nicht selten beschäftigte mich damals die Frage, ob ich mich in dem von einem leisen Summen, Rascheln und Räuspern erfüllten Bibliothekssaal auf der Insel der Seligen oder, im Gegenteil, in einer Straf kolonie befand, eine Frage, die mir auch im Kopf herumging an jenem mir besonders in Erinnerung gebliebenen Tag, an dem ich von meinem zeitweiligen Arbeitsplatz in der Manuskripten- und Dokumentensammlung im ersten Stock eine Stunde vielleicht hinüberblickte auf die hohen Fensterreihen des jenseitigen Jan-Henrik Witthaus zeigt wie Sebald mit verschiedenen Gedächtnismodellen spielt, in: Fehlleistung und Fiktion: Sebaldsche Gedächtnismodelle zwischen Freud und Borges, in: Niehaus u.a.: W. G. Sebald: Politische Archäologie und melancholische Bastelei [Anm. 5], 157-172. 10
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Traktes, in denen die dunklen Schieferplatten des Daches sich spiegelten, die schmalen ziegelroten Kamine, der strahlende eisblaue Himmel und die blecherne schneeweiße Wetterfahne mit der aus ihr ausgeschnittenen, blau wie der Himmel selbst aufwärts segelnden Schwalbe. Die Spiegelbilder in den alten Glasscheiben waren etwas gewellt oder gekräuselt, und ich weiß noch, sagte Austerlitz, daß mir bei ihrem Anblick aus irgendeinem mir unbegreifl ichen Grund die Tränen gekommen sind.« (371 f., vgl. 404) 11 Jacques Austerlitz ist Bauhistoriker und widmet seine besondere Aufmerksamkeit den Bibliotheken, Museen, Bahnhöfen, Zoos, vor allem sternförmigen Festungen aller Art. Eine ganz auf seinen eigenen Anschauungen beruhende Studie wollte er schreiben über die »Familienähnlichkeiten, die zwischen all diesen Gebäuden bestünden« (52).12 Diese Studie liefert Sebalds Roman nach, denn Bibliotheken, Museen, Bahnhöfe, Zoos, vor allem sternförmige Festungen aller Art sind die Orte, an denen sich Austerlitz und der Erzähler treffen, über die Austerlitz spricht, auch und gerade wenn er über sich und seine Vergangenheit spricht. Wer nun wie Austerlitz nach Familienähnlichkeiten sucht, der will Übersicht über eine Reihe von Phänomenen, die gleichzeitig existieren und aufeinander bezogen werden können. Und wer darüber hinaus die Familienähnlichkeit zwischen einer Bibliothek und einer Festung zu sehen vermag, dem wird die Bibliothek zu einer Festung, einem Ort der Erinnerungen, die sicher auf bewahrt und nicht erinnert werden müssen. In schöner Gleichzeitigkeit koexistieren hier alle Erinnerungen dieser Welt, harren jedweder, diachron auf Abfolgen, synchron auf Muster angelegten Erinnerungsarbeit, bedürfen ihrer aber nicht.
IV. Alle Erinnerungen dieser Welt sind somit für Austerlitz wie die Nüsse des Eichhörnchens im Raum organisiert. Zitadellen und andere Festungen leisten diese Organisation mit infam-bewundernswerter Effi zienz, sie bieten Übersicht und schützen Austerlitz zugleich vor dem »Auf kommen der Erinnerung« (308). Sind es 11 Anne Fuchs würdigt Resnais’ Film im Zusammenhang ihrer Diskussion des »Archivs als Fantom«, das in Sebalds »topografi sche Netzwerke« führt (»Die Schmerzensspuren der Geschichte«: Zur Poetik der Erinnerung in W. G. Sebalds Prosa, Köln 2004, 43-54). In dem kurzen Dokumentarfi lm von Resnais heißt es, daß in Paris jedes Wort in der Nationalbibliothek eingesperrt sei. Aus Furcht davor, von der Wörterflut fortgerissen zu werden, baue der Mensch sich so eine Festung: »Devant ces soutes pleines à craquer les hommes prennent peur, peur d’être submerger par cette multitude d’écrits, par cette armada des mots Alors pour garder leur liberté ils construissent des forteresses.« 12 Natürlich hören wir auch im Begriff der Familienähnlichkeit den Bezug auf Wittgenstein.
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Tränen der Rührung oder Ergriffenheit, ist es ein Gefühl absoluter Sicherheit, das Austerlitz bewegt, wenn er sieht, wie sich Innen und Außen der Erinnerungsfestung Nationalbibliothek spiegeln? Wir wissen es nicht, wohl aber, daß Austerlitz ein Geschichtswissenschaftler ist, der sich an die Gleichzeitigkeit des Überlieferten hält, ein Historiker ohne Vergangenheits- und Gegenwarts-, ohne Zeitgefühl. »Ich merkte jetzt, wie wenig Übung ich in der Erinnerung hatte und wie sehr ich, im Gegenteil, immer bemüht gewesen sein mußte, mich an möglichst gar nichts zu erinnern und allem aus dem Weg zu gehen, was sich auf die eine oder andere Weise auf meine mir unbekannte Herkunft bezog. So wußte ich, so unvorstellbar mir dies heute selber ist, nichts von der Eroberung Europas durch die Deutschen, von dem Sklavenstaat, den sie aufgerichtet hatten, und nichts von der Verfolgung, der ich entgangen war, oder wenn ich etwas wußte, so war es nicht mehr, als ein Ladenmädchen weiß beispielsweise von der Pest oder der Cholera. Für mich war die Welt mit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts zu Ende. Darüber wagte ich mich nicht hinaus, trotzdem ja eigentlich die ganze Bau- und Zivilisationsgeschichte des bürgerlichen Zeitalters, die ich erforschte, in die Richtung der damals bereits sich abzeichnenden Katastrophe drängte.« (205, vgl. 286 f. und 321) Als Austerlitz ein Kinderbild von sich selbst zu Gesicht bekommt, die Fotografie nämlich, die sich auch auf dem Schutzumschlag des Romans befi ndet, erkennt er sich zwar darin, fi ndet aber, daß alles in ihm ausgelöscht sei von »einem überwältigenden Gefühl der Vergangenheit« (267). Diese Fotografie bedeutet einen Einbruch der Erinnerung in seine Festung gegen die Zeit. Diesem Einbruch ist er hilflos ausgeliefert, obwohl er schon von seinen sternförmigen Zitadellen des 17. Jahrhunderts weiß, daß sie mit ihrer »paranoiden Elaboration« (28) als Embleme der absoluten Gewalt ihren Zweck keineswegs erfüllen konnten. Während sich in ihnen Waffen und Truppen konzentrierten, machte der Feind einfach einen großen Bogen um sie. Austerlitz’ Befestigung gegen die Zeit sucht ihren Ausdruck oder fi ndet ihre Plattform und Bühne in einem oktagonalen Raum, der so etwas wie kosmische Übersicht gewährleisten sollte, nämlich im Observatorium und Ausstellungsraum ausgerechnet der Sternwarte Greenwich, die für die moderne Welt gewissermaßen den Ausgangspunkt der Zeit markiert, wie sich ja etwa unsere mitteleuropäische Zeit von der Greenwich Mean Time ableitet. Inmitten einer Ausstellung von raumzeitlichen Messinstrumenten, von Quadranten und Sextanten, Chronometern und Regulatoren hält Austerlitz eine längere Disquisition über die Zeit. »Die Zeit, so sagte Austerlitz in der Sternkammer von Greenwich, sei von allen unseren Erfi ndungen weitaus die künstlichste und, in ihrer Gebundenheit an den um die eigene Achse sich drehenden Planeten, nicht weniger willkürlich als etwa eine Kalkulation es wäre, die ausginge vom Wachstum der Bäume oder von der
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Dauer, in der ein Kalkstein zerfällt […] Das Außer-der-Zeit-Sein, sagte Austerlitz, das für die zurückgebliebenen und vergessenen Gegenden im eigenen Land bis vor kurzem beinahe genauso wie für die unentdeckten überseeischen Kontinente dereinst gegolten habe, gelte nach wie vor, selbst in einer Zeitmetropole wie London. Die Toten seien ja außer der Zeit, die Sterbenden und die vielen bei sich zu Hause oder in den Spitälern liegenden Kranken, und nicht nur diese allein, genüge doch schon ein Quantum persönlichen Unglücks, um uns abzuschneiden von jeder Vergangenheit und jeder Zukunft. Tatsächlich, sagte Austerlitz, habe ich nie eine Uhr besessen, weder einen Regulator, noch einen Wecker, noch eine Taschenuhr, und eine Armbanduhr schon gar nicht. Eine Uhr ist mir immer wie etwas Lachhaftes vorgekommen, wie etwas von Grund auf Verlogenes, vielleicht weil ich mich, aus einem mir selber nie verständlichen inneren Antrieb heraus, gegen die Macht der Zeit stets gesträubt und von dem sogenannten Zeitgeschehen mich ausgeschlossen habe, in der Hoff nung, wie ich heute denke, sagte Austerlitz, daß die Zeit nicht verginge, nicht vergangen sei, daß ich hinter sie zurücklaufen könne, daß dort alles so wäre wie vordem oder, genauer gesagt, daß sämtliche Zeitmomente gleichzeitig nebeneinander existierten, beziehungsweise daß nichts von dem, was die Geschichte erzählt, wahr wäre, das Geschehene noch gar nicht geschehen ist, sondern eben erst geschieht, in dem Augenblick, in dem wir an es denken, was natürlich andererseits den trostlosen Prospekt eröff ne eines immerwährenden Elends und einer niemals zu Ende gehenden Pein.« (149-152) 13
V. Mit ihrer Tendenz zur paranoiden Elaboration, so Austerlitz über die Zitadellen des 17. Jahrhunderts, öff neten sie dem Feind Tür und Tor. Mit der Aussicht auf immer währendes Elend und nie zu Ende gehende Pein bricht schließlich auch der von Austerlitz elaborierte Schutzwall gegen die Zeit – vor der Vergangenheit und dem Erinnern scheinbar gesichert, fi ndet sich Austerlitz auf ewig eingemauert mit einem unbestimmten Schmerz. Daß er die Orte seiner Kindheit, Spuren von Vater und Mutter und seiner Herkunft aufsucht, mag darum zunächst als ein Akt der Befreiung erscheinen. Tatsächlich werden Sebalds Schriften gerne so gelesen: Das historische Trauma des Vertriebenen, Ausgewanderten, Heimat losen verlange eiVgl. Ludwig Wittgenstein: Denkbewegungen, Tagebücher 1930-33, 1936-37, hg. von Ilse Somavilla, Innsbruck 1997, 79: »Man stellt sich die Ewigkeit (des Lohnes oder der Strafe) für gewöhnlich als eine endlose Zeitdauer vor. Aber man könnte sie sich geradeso gut als einen Augenblick vorstellen. Denn in einem Augenblick kann man alle Schrecken erfahren & alle Glückseligkeit. Wenn Du Dir die Hölle vorstellen willst, so brauchst du nicht an nie endende Qualen zu denken. Vielmehr würde ich sagen: Weißt Du welches unsagbaren Grauens ein Mensch f ähig ist? Denk daran & Du weißt was die Hölle ist, obwohl es sich da gar nicht um Dauer handelt.« 13
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nen Durchbruch gegen die Geschichtsvergessenheit und die verdrängten Katastrophen von Judenverfolgung, Luftkrieg, des ausgeklügelten Ordnungs-, Sauberkeitsund Tötungswahns (vgl. 287).14 Austerlitz aber führt die neue aufgenommene Erinnerungsarbeit ausgerechnet in eine weitere sternförmige Festung 15 , nämlich das Konzentrationslager Theresienstadt. Spuren der Mutter fi ndet Austerlitz dort nicht, wohl aber ein Extrem in der Reihung seiner baugeschichtlicher Anschauungen. Mit dem scheinbaren Durchbruch gegen die Geschichtsvergessenheit fängt die von Sebald dramatisierte Schwierigkeit überhaupt erst an. Es genüge doch schon »ein Quantum persönlichen Unglücks« – hieß es gerade –, »um uns abzuschneiden von jeder Vergangenheit und jeder Zukunft«. Ein Quantum ist eine kleinste Einheit und solch persönliches Unglück erfaßt nicht nur das jüdische Kind, das fünfjährig von Prag zu unbekannten Stiefeltern in Wales verschickt wird und dessen Mutter in Theresienstadt stirbt, sondern beispielsweise auch einen wohl behüteten Jungen namens Ashman, den seinen Eltern ins Internat geschickt haben.16 Nur wenige Seiten nach seiner Disquisition in der Sternwarte von Greenwich berichtet Austerlitz in Sebalds Roman über eine Besichtigung gemeinsam mit seinem Geschichtslehrer Hilary von Ashmans Familiensitz. Der Kampf gegen die Vergangenheit, gegen die Zeit fi ndet hier seine groteske, handgreifl iche Zuspitzung. »[A]ls man diese Paravents, vor die man große Kleiderkästen geschoben hatte, im Herbst 1951 oder 1952 entfernte und er zum erstenmal seit zehn Jahren das Kinderzimmer wieder betrat, da, sagte Ashman, hätte nicht viel gefehlt, und er wäre um seinen Verstand gekommen. Beim bloßen Anblick des Eisenbahnzugs mit den Waggons der Great Western Railway und der Arche, aus der paarweise die braven,
14 Siehe etwa die Arbeiten von Christopher Bigsby: Remembering and Imagining the Holocaust: The Chain of Memory, Cambridge 2006, insb. 25-114 und 377-383, Ruth Florack: Spur, Metonymie und Lücke – W. G. Sebald und G. Perec im Kontext der Gedenkkultur, Vortrag beim Symposium Geschichte, Autobiografi e und Fiktion in Kunst und Literatur, Institut Mathildenhöhe Darmstadt, 20. Januar 2007, und Katja Garloff: The Emigrant as Witness: W. G. Sebald’s Die Ausgewanderten, in: The German Quarterly, Winter 2004, 76-93, oder Marianna Torgovnick: The War Complex: World War II in Our Time, Chicago 2005, 115-131. 15 Ihre Sternförmigkeit wird immer wieder betont, siehe: 272, 288, 336 f. 16 Von der Familienähnlichkeit zwischen traumatischen Ereignissen handelt somit Sebalds Roman. Im Gegensatz vielleicht zu seinem Buch Die Ausgewanderten und nach der von Sebald ausgelösten Debatte um Luftkrieg und Literatur geht es ihm in Austerlitz nicht um eine Form des Erinnerns, die der Spezifi zität der Judenverfolgung gerecht wird, ohne Opfer oder Täter unangemessen zu psychologisieren, ohne ihnen zu nahe zu treten. Was angesichts der hohen ästhetischen Standards eines angemessenen Umgangs mit dem Holocaust wie kitschige Einfühlung in die Zerrissenheit von Austerlitz wirken mag (vgl. Mark McCulloh: Understanding W. G. Sebald, Columbia 2003, 108-151, hier: 133 zur Rezeption von Austerlitz in Deutschland), ist statt dessen die kühle Dramatisierung einer Struktur, die vom Leser nachvollzogen wird. (Diese Bemerkung verdankt sich einem Gespräch mit Ruth Florack und Fotis Jannidis.)
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aus der Flut geretteten Tiere herausschauten, sei es ihm gewesen, als öff ne sich vor ihm der Abgrund der Zeit, und wie er mit dem Finger die lange Reihe der Kerben entlanggefahren sei, die er im Alter von acht Jahren am Vorabend seiner Verschikkung in die Preparatory School in stummer Wut, erinnerte sich Ashman, in den Rand des Beistelltischchens neben seiner Bettstatt geschnitzt hatte, da sei eben dieselbe Wut wieder in ihm aufgestiegen, und ehe er auch nur wußte, was er tat, habe er draußen auf dem hinteren Hof gestanden und mehrmals mit seiner Flinte auf das Uhrtürmchen der Remise geschossen, an dessen Zifferblatt man die Einschläge heute noch sehen könne.« (160 f.) Die komische Verzweiflungstat Ashmans, aber auch die ernsthaft bemühte Disquisition von Austerlitz drückt eine doppelte Unmöglichkeit aus, die Unmöglichkeit des Vergessens und die Unmöglichkeit des Erinnerns. In dieser doppelten Unmöglichkeit sind wir verfangen, die Philosophie kann sie bestätigen oder auflösen, Sebalds Roman kann sie dramatisieren, zuspitzen, eindringlich verschärfen. Die Unmöglichkeit des Vergessens ergibt sich aus der Tatsache, daß die Kleiderschränke beiseite geschoben und die Türen des Kinderzimmers geöff net werden, daß im Museum Dokumente der systematischen Menschenvernichtung ausgestellt sind – angesichts der Tatsache also, daß sich die Vergangenheit in den Raum eingeschrieben hat und uns überall mit ihren Spuren konfrontiert. Auf diese Unmöglichkeit des Vergessens triff t nun eine Unmöglichkeit des Erinnerns. Sie erweist sich zunächst darin, daß der Versuch das Fassungsvermögen übersteigt 17, also in einer Art des Scheiterns in der Annäherung, ein Scheitern der Bemühung um Verstehen, Ergreifen, womöglich Empfi nden der Vergangenheit. »Aber weder Agáta, noch Veˇra, noch ich selber kamen aus der Vergangenheit hervor. Manchmal schien es, als ob sich die Schleier teilen wollten; glaubte ich, für den Bruchteil vielleicht einer Sekunde, die Schulter Agátas zu spüren oder die Titelzeichnung des Chaplin-Heftchens zu sehen, das Veˇra mir gekauft hatte für die Reise, doch sowie ich eines dieser Fragmente festhalten oder, wenn man so sagen kann, schärfer einstellen wollte, verschwand es in der über mir sich drehenden Leere.« (316) Diese Unmöglichkeit des Erinnerns ergibt sich aus systematischen und nicht aus psychologischen oder historisch-spezifi schen Gründen, auch wenn sich psychologische Motive in spezifi schen historischen Konstellationen mit diesen systematischen Gegebenheiten verbinden können. Die Ausgewanderten und Heimatlosen 17 Aus Theresienstadt berichtet Austerlitz: »Das alles begriff ich nun und begriff es auch nicht, denn jede Einzelheit, die sich mir, dem, wie ich fürchtete, aus eigener Schuld unwissend Gewesenen, eröff nete auf meinem Weg durch das Museum, aus einem Raum in den nächsten und wieder zurück, überstieg bei weitem meinem Fassungsvermögen.« (287)
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wie Sebald, sein Protagonist Austerlitz oder der Philosoph Wittgenstein befi nden sich in einer gewissermaßen privilegierten Position, um dieser Unmöglichkeit gewahr und nicht in illusionäre gesellschaftliche Erinnerungsrituale aufgesogen zu werden. Was diese Unmöglichkeit des Erinnerns erkenntnistheoretisch ausmacht, das untersucht Sebald in Austerlitz nicht systematisch, bietet aber zahlreiche Anhaltspunkte: Vielleicht halten wir nicht aus, wie die Vergangenheit uns anschaut, vielleicht auch wird unser Blick auf die Vergangenheit von der Gegenwart permanent abgelenkt. Gut möglich auch – und darüber war angesichts des Films von Resnais, der Praxis des Eichhörnchens usw. bereits die Rede – daß unsere Sprache, somit vielleicht auch unser Bewußtsein zur Darstellung von Vergangenem nicht taugt, weil immer nur in der Gegenwart gegeben. Vielleicht ist aber auch die räumliche Differenziertheit der Gegenwart dafür verantwortlich, daß es endloser Zeit bedürfte, auch nur einen Tag zu beschreiben.18 Sebalds Roman legt all dies Möglichkeiten nahe. Sie spielen hinein in das von ihm dramatisierte unauflösliche Wechselspiel von Erinnern und Vergessen, von Erinnern als Vergessen.
VI. Wie ein Eichhörnchen sammelt Jaques Austerlitz hier und da Stücke aus der Vergangenheit. Am Ufer der Gegenwart ordnet er sie – wie die Bauten und Festungen seiner geplanten Studie – nicht chronologisch oder narrativ, sondern nach Familienähnlichkeit. Hier spiegelt sich eines im anderen, verschwimmt vor seinen Augen wie seinerzeit der Blick aus dem Bibliotheksfenster, der ihn zu Tränen rührte, der ihm ein unbeschreibliches Gefühl von Verlorenheit, Selbstvergessenheit oder Sicherheit bot. Was in Austerlitz’ Form des Erinnerns beharrt, ist so ein unbestimmter Eindruck, in dem das Erinnerte schon wieder vergessen ist. Einmal besucht Sebalds Erzähler Austerlitz in seiner Wohnung und bemerkt dort die Vielfalt seiner Fotografien. »Austerlitz sagte mir, daß er hier manchmal stundenlang sitze und diese Photographien, oder andere, die er aus seinen Beständen hervorhole, mit der rückwärtigen Seite nach oben auslege, ähnlich wie bei einer Partie Patience, und daß er sie dann, jedesmal von neuem erstaunt über das, was er sehe, nach und nach umwende, die Bilder hin und her und übereinanderschiebe, in eine aus Familienähnlichkeiten 18 »[S]ollte man wirklich, so habe er mehrfach gesagt, in irgendeiner gar nicht denkbaren systematischen Form, berichten, was an so einem Tag geschehen war, wer genau wo und wie zugrunde ging oder mit dem Leben davonkam, oder auch nur wie es auf dem Schlachtfeld aussah bei Einbruch der Nacht, wie die Verwundeten und Sterbenden schrien und stöhnten, so brauchte es dazu eine endlose Zeit.« (108)
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sich ergebende Ordnung, oder auch aus dem Spiel ziehe, bis nichts mehr übrig sei als die graue Fläche des Tischs, oder bis er sich, erschöpft von der Denk- und Erinnerungsarbeit, niederlegen müsse auf der Ottomane. Bis in den Abend hinein liege ich hier nicht selten und spüre, wie die Zeit sich zurückbiegt in mir, sagte Austerlitz. […] Als Austerlitz mit dem Teetablett hereingekommen war und angefangen hatte, mit einer sogenannten Toasting-fork Weißbrotscheiben an den blauen Gasfl ammen zu rösten, machte ich eine Bemerkung über die Unbegreiflichkeit von Spiegelbildern, worauf er erwiderte, daß auch er oft nach dem Einbruch der Nacht hier in diesem Zimmer sitze und hineinstarre in den draußen in der Dunkelheit reflektierten, anscheinend bewegungslosen Lichtpunkt, und daß er dabei unweigerlich daran denken müsse, wie er vor vielen Jahren einmal, in einer Rembrandt-Ausstellung im Rijksmuseum von Amsterdam, wo er sich vor keinem der großformatigen, unzählige Male reproduzierten Meisterwerke habe auf halten mögen, statt dessen lange vor einem kleinen, etwa zwanzig auf dreißig Zentimeter messenden und, soweit er sich entsinne, aus der Dubliner Sammlung stammenden Gemälde gestanden sei, das, der Beschriftung zufolge, die Flucht nach Ägypten darstellte, auf dem er aber weder das hochheilige Paar noch das Jesuskind, noch das Saumtier habe erkennen können, sondern nur, mitten in dem schwarzglänzenden Firnis der Finsternis, einen winzigen, vor meinen Augen, so sagte Austerlitz, bis heute nicht vergangenen Feuerfleck.« (175-177) Im Akt des Erinnerns verzehrt sich das Erinnern bereits und löscht die historische Darstellung geradezu aus. Was als ungestillt bohrende Anforderung stehen bleibt, gerinnt nicht zu einem Bild der Vergangenheit. Für Austerlitz, bemerkt der Erzähler einmal, gebe es Augenblicke ohne Anfang und Ende, dabei sei Austerlitz andererseits sein ganzes Leben wie ein blinder Punkt ohne Dauer erschienen (173).19 Sebalds Erzählung, seine Erzählweise und die von ihm frei gesetzte Dynamik der Worte und der Bilder dramatisiert diese doppelte Unmöglichkeit von Erinnern und Vergessen. »Es war für mich von Anfang an erstaunlich, wie Austerlitz seine Gedanken beim Reden verfertigte, wie er sozusagen aus der Zerstreutheit heraus die ausgewogensten Sätze entwickeln konnte, und wie für ihn die erzählerische Vermittlung seiner Sachkenntnisse die schrittweise Annäherung an eine Art Metaphysik der Geschichte gewesen ist, in der das Erinnerte noch einmal lebendig wurde.« (22 f.)
Siehe hierzu Jonathan J. Longs Analyse von Austerlitz: »Statt die Subjektivität des Gestehenden zu produzieren, bewirkt das Geständnis-Ablegen vielmehr eine Entleerung oder Aushöhlung des Subjekts. Trotz der von allen Figuren geleisteten Geständnisarbeit kommt es nie zu einer Verkündigung der Wahrheit in Foucaultschem Sinne.« In: Disziplin und Geständnis: Ansätze zu einer Foucaultschen Sebald-Lektüre, in: Michael Niehaus u. Claudia Öhlschläger (Hg.): W. G. Sebald: Politische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin 2006, 219-239, hier: 237. 19
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Was hier über Austerlitz gesagt wird, gilt für Sebalds Roman selbst. Das Erinnerte wird lebendig im Redefluß, der ein immer gegenwärtiger Fortschritt der Zeit und eine Form der Zerstreuung, Ablenkung von der Zeit ist, der mit seinem »alles ist im Fluß« auch vom Erzähler weg zur Zerstreuung des erzählenden Ich führt. Ein Redefluß, der die Welt nicht statisch beschreibt, sondern die Statik der Bilder in die Bewegung des Beschreibens aufnimmt, die Bilder und Dokumente der Vergangenheit somit aus ihrer Verankerung löst und zueinander in Ähnlichkeitsbeziehungen setzt, der darum aus der Vergangenheit höchstens die Beharrlichkeit eines Gefühls, eines immerwährenden Elends, eines ins Bewußtsein gebrannten Feuerflecks mit sich führt.20 Aufgehalten wird dieser zerstreut zerstreuende Sprachfluß etwa von den eingefügten Bildern, er konzentriert sich in unbegreifl ich unbegriffenen Momenten der Spiegelung, den Tränen hier, der schwarzglänzenden Firnis der Finsternis dort, oder im Angesicht einer gußeisernen Säule im Bahnhof von Pilsen. 21 »Von Pilsen, wo wir eine Zeitlang Aufenthalt hatten, erinnere ich nur, sagte Austerlitz, daß ich dort auf den Bahnsteig hinausgegangen bin und das Kapitell einer gußeisernen Tragsäule photographiert habe, weil sie einen Reflex des Wiedererkennens ausgelöst hatte in mir. Was mich beunruhigte bei ihrem Anblick war jedoch nicht die Frage, ob sich die von einem leberfarbenen Schorf überzogenen komplizierten Formen des Kapitells tatsächlich meinem Gedächtnis eingeprägt hatten, als ich seinerzeit, im Sommer 1939, mit dem Kindertransport durch Pilsen gekommen war, sondern die an sich unsinnige Vorstellung, daß diese durch die Verschuppung ihrer Oberfl äche gewissermaßen ans Lebendige heranreichende gußeiserne Säule sich erinnerte an mich und, wenn man so sagen kann, sagte Austerlitz, Zeugnis ablegte von dem, was ich selbst nicht mehr wußte.« (319 f.) An seine Mutter kann er sich nicht wirklich erinnern, auch nicht an sich selbst als Kind. Aber ein Bahnhof kann ihm sagen, daß er als Kind schon einmal hier war. Was es für den Bahnhof heißt, früher hier schon gestanden zu haben und die Zeit zu überdauern, das kann Austerlitz aus der Baugeschichte nicht lernen. Aber er kann gewahr werden, daß der Bahnhof ihn im Blick behalten hat, seine Vergangenheit und Gegenwart koordiniert. Wo die eigene Erinnerungsarbeit scheitert, kann der Bahnhof für sie einstehen, hat der Bahnhof diese Arbeit übernommen. Hier steht wiederum Wittgenstein im Hintergrund. Während der Tractatus die beschreibende Kraft der Sprache auf die Gegenwart beschränkt, ist es insbesondere Wittgensteins Reflektion auf die Vorstellung »alles ist im Fluß«, die im Übergang zu den Philosophischen Untersuchungen die Begrenztheit seiner Bildtheorie der Sprache verdeutlicht (siehe David Stern: Wittgenstein on Mind and Language, Oxford 1995 und mein: The Present as the Only Reality: Picture Theory and Critique of Causality by Hertz and Wittgenstein, in: Time and History: Papers Contributed to the 28th Wittgenstein Symposium, Kirchberg 2005, 223-225). 21 Siehe Anm. 9 und Roland Barthes über Robbe-Grillet: »The classical concept of time thus inevitably encounters the classical object as its catastrophe or its deliquescence.« 20
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VII. Plötzlich erscheint die von Sebald erzählte Geschichte des Jacques Austerlitz ganz einfach. Hier ist einer, der sich sein Leben lang gegen das Auf kommen der Erinnerung gewehrt hat. Nachdem er sich der Unmöglichkeit des Vergessens gewahr wurde, sucht Austerlitz die Orte seiner Kindheit auf, und wird so der Unmöglichkeit des Erinnerns gewahr. Seine laterale Bewegung von Ort zu Ort im Raum führt ihn nicht aus der Gegenwart hinaus in eine ihr zugrundeliegende Tiefenstruktur oder Vergangenheit. Aber gerade da, wo er an der Sprache verzweifelt, an ihren ihrerseits immer nur lateralen Bewegungen, in der ein Wort zum anderen führt, kein Wort jedoch die Vergangenheit als Vergangenheit repräsentieren kann, gerade an diesem Punkt entdeckt Austerlitz eine Sprache der Dinge, eine Sprache der Steine, die natürlich keine Sprache, sondern ein bloßes Beharren gegen den Fluß der Zeit, ein Zeugnis des Überdauerns ist. So wenig laut Austerlitz die Toten, die Sterbenden in der Zeit sind, so wenig es die Eichhörnchen und andere Tiere sind, so wenig sind es die Tragsäulen des Bahnhofs von Pilsen, deren Blicken wir nicht wirklich zu entgegnen wissen – so wenig in der Zeit ist vielleicht auch, was wir früher einmal sagten und schrieben und was uns jetzt dinghaft fremd, unverbunden gegenüber steht. In der Tat stürzt der immer souverän beschreibende und erzählende Austerlitz in eine Sprachkrise, die der des von Hugo von Hofmannsthal beschriebenen Lord Chandos zu gleichen scheint – und zwar in dem Moment, da er sein baugeschichtliches Anschauungs-, Lese- und Erfahrungswissen zu Papier bringen will, vergegenwärtigen, also verdinglichen soll. 22 »Wenn man die Sprache ansehen kann als eine alte Stadt, mit einem Gewinkel von Gassen und Plätzen, mit Quartieren, die weit zurückreichen in die Zeit, mit abgerissenen, assanierten und neuerbauten Vierteln und immer weiter ins Vorfeld hinauswachsenden Außenbezirken, so glich ich selbst einem Menschen, der sich, aufgrund einer langen Abwesenheit, in dieser Agglomeration nicht mehr zurechtfi ndet, der nicht mehr weiß, wozu eine Haltestelle dient, was ein Hinterhof, eine Straßenkreuzung, ein Boulevard oder eine Brücke ist. Das gesamte Gliederwerk der Sprache, die syntaktische Anordnung der einzelnen Teile, die Zeichensetzung, Im »Brief des Lord Chandos an Francis Bacon« heißt es: »Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte ›Geist‹, ›Seele‹ oder ›Körper‹ nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urtheil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.« (Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa II, hg. von Herbert Steiner, Frankfurt/ M. 1976, 7-20) 22
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die Konjunktionen und zuletzt sogar die Namen der gewöhnlichen Dinge, alles war eingehüllt in einen undurchdringlichen Nebel. Auch was ich selber in der Vergangenheit geschrieben hatte, ja insbesondere dieses, verstand ich nicht mehr. Immerzu dachte ich nur, so ein Satz, das ist etwas nur vorgeblich Sinnvolles, in Wahrheit allenfalls Behelfsmäßiges, eine Art Auswuchs unserer Ignoranz, mit dem wir, so wie manche Meerespfl anzen und -tiere mit ihren Fangarmen, blindlings das Dunkel durchtasten, das uns umgibt. Gerade das, was sonst den Eindruck einer zielgerichteten Klugheit erwecken mag, die Hervorbringung einer Idee vermittels einer gewissen stilistischen Fertigkeit, schien mir nun nichts als ein völlig beliebiges oder wahnhaftes Unternehmen. Nirgends sah ich mehr einen Zusammenhang, die Sätze lösten sich auf in lauter einzelne Worte, die Worte in eine willkürliche Folge von Buchstaben, die Buchstaben in zerbrochene Zeichen und diese in eine bleigraue, da und dort silbrig glänzende Spur, die irgendein kriechendes Wesen abgesondert und hinter sich hergezogen hatte und deren Anblick mich in zunehmendem Maße erfüllte mit Gefühlen des Grauens und der Scham.« (183 f.) Daß wir die Sprache als eine Stadt ansehen können, in der wir uns manchmal nicht mehr auskennen, das hörten wir anfangs von Wittgenstein, den Sebald hier offenbar aufnimmt. Zunächst fiel uns nicht auf, ist uns dank Austerlitz nun aber bewußt geworden, daß Wittgenstein die Sprache als alte Stadt bezeichnet, die in der Zeit zwar weit zurück reicht und dabei doch aus dem gleichzeitigen Miteinander des Gewesenen, Erhaltenen und Neuzeitigen besteht. Wie aufgrund einer langen Abwesenheit kennt sich Austerlitz in dieser Stadt nicht mehr aus. Solange wir anwesend sind, solange wir reden und erzählen, sind wir in der Zeit, einer immerwährenden, im Fluß befi ndlichen Gegenwart. Wollen wir aus dieser Gegenwart hinaus und etwas überzeitlich ewig Gültiges sagen, eine Idee fi xieren oder die Vergangenheit erfahrbar machen, steigen wir aus der Erzählung aus und verlieren uns prompt in der alten Sprachstadt, kennen uns nicht mehr aus. Das Sprachspiel muß gespielt werden, wo es abbricht, bricht auch unser sprachlich vermittelter Welt- und Selbstbezug ab, fallen wir aus unserer Sprachgemeinschaft und Lebensform heraus. 23 Dies ist nicht der Ort, um das Verhältnis von Sprache und Zeit bei Wittgenstein zu untersuchen, wohl aber, um auf die Nähe von Wittgenstein und Austerlitz einzugehen. Eben hörten wir, wie Austerlitz Wittgenstein fast wörtlich zitiert, und zweimal, wie wir sahen, ist im Roman von der Suche nach Familienähnlichkeiten die Rede, die auch Wittgensteins Methode wesentlich prägt. Darüber hinaus dürfen wir die Ähnlichkeit von Austerlitz und Wittgenstein auch biographisch und physiognomisch beim Wort nehmen: Dieses anhaltende sprachliche Schwindelgefühl im Werk Sebalds wird von Massimo Leone thematisiert: Textual Wanderings: A Vertiginous Reading of W. G. Sebald, in: Long: W. G. Sebald: A Critical Companion [Anm. 5], 89-101. 23
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»Jedenfalls ist mir erinnerlich, daß ich, ehe ich hinübergegangen bin zu ihm, mir länger Gedanken machte über die mir jetzt zum erstenmal aufgefallene Ähnlichkeit seiner Person mit der Ludwig Wittgensteins, Über den entsetzten Ausdruck, den sie beide trugen in ihrem Gesicht. Ich glaube, es war vor allem der Rucksack, von dem Austerlitz mir später erzählte, daß er ihn kurz vor Aufnahme seines Studiums in einem Surplus-Store in der Charing Cross Road für zehn Shilling aus ehemaligen schwedischen Heeresbeständen gekauft hatte, und von dem er behauptete, daß er das einzige wahrhaft Zuverlässige in seinem Leben gewesen sei, dieser Rucksack, glaube ich, war es, der mich auf die an sich eher abwegige Idee einer gewissermaßen körperlichen Verwandtschaft zwischen ihm, Austerlitz, und dem 1951 in Cambridge an der Krebskrankheit gestorbenen Philosophen brachte. Auch Wittgenstein hat ja ständig seinen Rucksack dabei gehabt. […] Mehr und mehr dünkt es mich darum jetzt, sobald ich irgendwo auf eine Photographie von Wittgenstein stoße, als blicke mir Austerlitz aus ihr entgegen, oder, wenn ich Austerlitz anschaue, als sehe ich in ihm den unglücklichen, in der Klarheit seiner logischen Überlegungen ebenso wie in der Verwirrung seiner Gefühle eingesperrten Denker, dermaßen auff ällig sind die Ähnlichkeiten zwischen den beiden, in der Statur, in der Art, wie sie einen über eine unsichtbare Grenze hinweg studieren, in ihrem nur provisorisch eingerichteten Leben, in dem Wunsch, mit möglichst wenig auslangen zu können, und in der für Austerlitz nicht anders als für Wittgenstein bezeichnenden Unf ähigkeit, mit irgendwelchen Präliminarien sich aufzuhalten.« (62-64) Was vorhin über Resnais gesagt wurde, gilt ebenso für den Bezug auf Wittgenstein: das ist keine Anspielung auf eine philosophische Theorie – und eine Theorie vertreten wollte Wittgenstein ohnehin nie – , die hinter Sebalds Roman stünde und ihn entschlüsselt, sondern öff net die Tür vom Roman in eine weitläufige philosophische Provinz, in der sich die Orientierungsschwierigkeiten von Austerlitz wiederholen, somit auch verallgemeinern.
VIII. Austerlitz und Wittgenstein gleichen sich, so heißt es, in der Art, wie sie einen über eine unsichtbare Grenze hinweg studieren. Dies heißt für Sebalds Erzähler vielleicht etwas anderes als für den Leser seines Romans oder der Schriften Wittgensteins. Austerlitz und Wittgenstein schauen uns an, etwa so wie die Tragsäule im Bahnhof von Pilsen Austerlitz anschaut – sie legen Zeugnis ab von dem, was wir selbst nicht mehr wissen. Dieser Blick aus der Fremde ist das Faszinosum der Philosophie-, aber auch der Wissenschafts- und Literaturgeschichte. Ob eine Verständigung mit den Texten Wittgensteins, Kants oder Platons möglich ist, wissen wir nicht, wohl aber, daß
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diese Texte unsere Selbstverständigung aufzuhalten vermögen. Natürlich können wir sie unseren Selbstgesprächen ansatzweise einverleiben, ohne ihrer Ferne und Vergangenheit wirklich gerecht zu werden, aber auch ohne das Fremde und Unnahbare auszulöschen, insbesondere wie es sich im Wortlaut erhält. Wenn uns ein Buch wie Austerlitz anblickt, so tut es dies über einen Abgrund des Unverständnisses hinweg – wie Austerlitz es mit Marie in einem Pariser Zoo erlebt. 24 »Ich selber entsinne mich nur mehr, in einer graslosen, staubigen Einfriedung eine Damwildfamilie in schöner Eintracht und zugleich verängstigt unter einer Heuraufe beieinander gesehen zu haben und daß Marie mich eigens bat, eine Aufnahme von dieser Gruppe zu machen. Sie sagte damals, was mir unvergeßlich geblieben ist, sagte Austerlitz, daß die eingesperrten Tiere und wir, ihr menschliches Publikum, einander anblickten à travers une brèche d’incomprehension.« (375 f.) Diesen Blick über eine Grenze, über einen Abgrund des Unverständnisses hinweg thematisiert nicht nur die Romanfigur Austerlitz, sondern auch Sebalds Erzähler, der dem Roman einen Rahmen gibt, indem er ganz zu Beginn und ganz am Schluß das Nocturama im Antwerpener Zoo besucht. 25 Hier ist es also der ansonsten so verhaltene Erzähler und nicht Austerlitz, der die Leser auf Familienähnlichkeiten führt, zunächst auf die Ähnlichkeit, ja den unmittelbaren Übergang vom Nocturama zu einer Wartehalle im Bahnhof von Antwerpen. Fotografi sch belegt wird weiterhin die Ähnlichkeit zwischen den auffallend großen, unverwandt forschenden Augen der nächtlichen Tiere und den Augenpaaren des Malers Rembrandt und des Philosophen Ludwig Wittgenstein. Vor allem jedoch entsteht der beklemmende Eindruck einer Ähnlichkeit zwischen dem in einer falschen Welt vorfi ndlichen Waschbären oder Uhu einerseits und andererseits dem eines beinahe untergegangen Volkes angehörigen Austerlitz. 26 So begegnet der Erzähler erstmals Austerlitz, und so blickt uns Austerlitz aus Sebalds Roman an. Die weit geöff neten Augen versuchen forschend das Dunkel zu durchdringen, aus ihnen blicke, wie es hieß, der in der Verwirrung seiner Gefühle eingesperrte Denker. Als Angstfigur wird Austerlitz somit eingeführt, einsam in den Grenzen seiner Sprache, ausgesetzt dem sprachlos wissenden Blick der Tiere und Dinge, verlassen angesichts der Unmöglichkeit des Erinnerns und Vergessens, virtuos in der Annäherung durch erzählerische Vermittlung an eine Art Metaphysik der Geschichte. Mit dieser subtil gezeichneten Angstfigur beginnt der Roman und soll die Literatur der Philosophie das letzte Wort geben. Immer wieder öff net sie den Abgrund Daß Sebald die Unüberbrückbarkeit des Verhältnisses von Tier und Mensch zum Modell auch zwischenmenschlicher Verständigung macht, verdeutlicht laut Eric Santner das irreduzibel Kreatürliche des Menschen, das sich philosophischen Versöhnungsversuchen entzieht, in: On Creaturely Life: Rilke, Benjamin, Sebald, Chicago 2006, insb. 125-164. 25 Siehe 10 bis 14 und 416. 26 Daß er sich womöglich im falschen Leben befi nde oder nicht weiß, in welcher Zeit seines Lebens er ist, sagt Austerlitz auf 306 und 326. 24
W. G. Sebalds »Austerlitz«
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des Unverständnisses, den das Denken gerade noch zu schließen oder zu bewältigen suchte. 27 »Ich weiß nicht mehr genau, was für Tiere ich seinerzeit in dem Antwerpener Nocturama gesehen habe. […] Wirklich gegenwärtig geblieben ist mir eigentlich nur der Waschbär, den ich lange beobachtete, wie er mit ernstem Gesicht bei einem Bächlein saß und immer wieder denselben Apfelschnitz wusch, als hoffe er, durch dieses, weit über jede vernünftige Gründlichkeit hinausgehende Waschen entkommen zu können aus der falschen Welt, in die er gewissermaßen ohne sein eigenes Zutun geraten war. Von den in dem Nocturama behausten Tieren ist mir sonst nur in Erinnerung geblieben, daß etliche von ihnen auffallend große Augen hatten und jenen unverwandt forschenden Blick, wie man ihn fi ndet bei bestimmten Malern und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt. […] – Die Bilder aus dem Inneren des Nocturamas sind in meinem Gedächtnis im Laufe der Jahre durcheinandergeraten mit denjenigen, die ich bewahrt habe von der sogenannten Salle des pas perdus in der Antwerpener Centraal Station. […] Noch war der Gold- und Silberglanz auf den riesigen halbblinden Wandspiegeln gegenüber der Fensterfront nicht vollends erloschen, da erfüllte ein unterweltliches Dämmer den Saal, in dem weit auseinander, reglos und stumm, ein paar Reisende saßen. Ähnlich wie die Tiere in dem Nocturama, unter denen es auff ällig viele Zwergrassen gegeben hatte, winzige Fennekfüchse, Springhasen und Hamster, schienen auch diese Reisenden mir irgendwie verkleinert, sei es wegen der außergewöhnlichen Höhe der Saaldecke, sei es wegen der dichter werdenden Düsternis, und ich nehme an, daß ich darum gestreift worden bin von dem an sich unsinnigen Gedanken, es handle sich bei ihnen um die letzten Angehörigen eines reduzierten, aus seiner Heimat ausgewiesenen oder untergegangenen Volks, um solche, die, weil nur sie von allen noch überlebten, die gleichen gramvollen Mienen trugen wie die Tiere im Zoo. – Eine der in der Salle des pas perdus wartenden Personen war Austerlitz.« (10-14) Nur so viel Grundsätzliches also zum Verhältnis von Literatur und Philosophie. Was Philosophie und Literatur gemeinsam haben, das ist natürlich die Sprache als Medium und Material. Als Medium kann die Sprache etwa eine Geschichte transportieren, vielleicht sogar einen philosophischen Gedanken zum Ausdruck bringen. In der Sprache als Material könnte einerseits eine zu entbergende Weisheit verborgen sein, andererseits stellt sie dem Denken ein Hindernis entgegen durch den in ihr sedimentierten historischen Ballast, die in ihr niedergelegten Vorurteile, Stereotypen, Klischees. Obwohl derart in der Sprache verfangen, beharrt die Philosophie auf der Notwendigkeit, Gedanken auszudrücken, Probleme zu begreifen, Epochen zu charakterisieren. Die Literatur dagegen entlarvt und erweist als hinf ällig diese Obsession, mit aller Macht über einen Abgrund des Unverständnisses hinwegkommen oder aus der Gegenwart der Erzählzeit hinauskommen zu wollen – sie mobilisiert die Ausuferungen der Sprache gegen alle Versuche, sie zum Gedanken hin zu transzendieren. So bleiben sich die Insistenz des Philosophischen, der Überschuß des Literarischen ein gegenseitiger Stein des Anstoßes oder unauflösliches Problem. 27
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